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German Pages 379 [384] Year 2004
Peter Burschel Sterben und Unsterblichkeit
Ancien Regime Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer Band 35
R. Oldenbourg Verlag München 2004
Sterben und Unsterblichkeit Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit
Von Peter Burschel
R. Oldenbourg Verlag München 2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Gefördert durch ein einjähriges Stipendium der FAZIT-Stiftung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main Gefördert durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt am Historischen Kolleg in München. Träger des Historischen Kollegs ist die Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs; es wird finanziert aus Mitteln des Freistaates Bayern und privater Zuwendungsgeber (im Kollegjahr 2000/2001 DaimlerChrysler Fonds, Fritz Thyssen Stiftung und Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft).
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Umschlagbild: Die drei Jesuiten-Märtyrer, die 1597 in Nagasaki gekreuzigt wurden, wie sie das 1675 in Prag erschienene Martyrologium Matthias Tanners sterben läßt. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56815-9
Inhalt Dank
Einleitung
1. Schöne Passionen. Wort und Blut
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Die Protagonisten: sechs Tote der evangelischen Bewegung - die Quellen: Märtyrerflugschriften der frühen Reformation - Zeiterfahrung und Zeitdeutung - Martin Luthers „Brief an die Christen im Niederland": die Gegenwart als Schlußakt eines eschatologischen Dramas - „schöne Passionen" - Wort und Blut - die römischen Mächte des Chaos: Antichrist-Obsessionen? - die Zeichen der Zeit und der Sinn des Leidens: Gemeinschaft und Wahrheit - das Ritual - „Artikelverhöre" - der theologische Fundamentalkonsens der evangelischen Bewegung - Inszenierungsprobleme: die „revocatio revocationis" des Kaspar Tauber - Verurteilung und Degradierung - die Hinrichtung - „Ereignis" und „Erzählung" - Gattungsbestimmungen - die Darstellung der Protagonisten - „Mirakel" - Wahmehmungsdissonanzen - die Wirklichkeit der Flugschriften.
2. Lebendige Predigten. Gnade und Zorn
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Das erste protestantische Martyrologium: Ludwig Rabus' „Historien" - der Markt und die Konkurrenz - konfessionelle Traditionsbildung und Erinnerungspolitik kommunikatives und kulturelles Gedächtnis - die heroische Bücherwelt der zweiten Reformatorengeneration - ein Forschungsdesiderat: die Genese der protestantischen Erinnerungskultur - die „Vorreden" - „glaubwürdige Exempel", „lebendige Predigten", „leuchtende Bilder" - Trost, Verfolgung, „letzte Zeiten" - die Geschichte der wahren Kirche - Himmel und Hölle, Gnade und Zorn - der Gedanke der Sukzession - oder: wo war Deine Kirche vor tausend Jahren? - Widersprüche „geregelte Erinnerung" und Chronologie - „Historisierung" der „Historien"? Inkarnationen der „reinen Lehre" - Evangelisierungsstrategien und Integrationsprozesse - dogmatische Fehltritte - „Historizität" und „Exemplarität" - das Publikum - Worttreue und Genealogie: die Konstitution einer heroischen Traditions- und Bekenntnisgemeinschaft - die Konfessionalisierung der protestantischen Erinnerungskultur - kollektive Verfolgungserfahrungen und die Gesetze des Marktes.
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil Die Zeit des protestantischen Märtyrerdramas - das Modell: „Catharina von Georgien" von Andreas Gryphius - warum ein Drama? - Alternativen: Glaubenshelden und Erinnerungsorte des 17. Jahrhunderts - „Krieg aller Kriege" - das heroische Welttheater als Instanz der Weltdeutung - ein zeitgeschichtliches Ereignis: die Hinrichtung der Königin Catharina von Georgien - Geschichte schreiben, Geschichte dichten - die Handlung - der Prolog der „Ewigkeit" - die Leiche als emblematisches Requisit - „vanitas"-Meditation, „memento raori", „contemptus mundi" „consolatio tragoediae" - „Zeit" und „Ewigkeit" - erzählte Geschichte - Greuel-
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VI
Inhalt
kataloge - das „theatrum mundi" als „arena martyrum" - fürstliche Gipfelstürze „prudentia politica" - tiefste „Angst" und höchste „Lust" - die Metamorphose einer Fürstin - „Die Erden stinckt vns an" - wahnhafte Ordnung, falsche Sorge - das Heilsprinzip der „Bewährung" - der Kult der Vernunft und das Chaos der Welt Leiden als Leidensüberwindung in der „constantia" - „Krisen"-Erfahrungen Kunst und Kultur des Leidens - das Publikum - „kleine Botschaften" - Georgien und Schlesien - das Ende des protestantischen Märtyrerdramas.
4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
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Der „Ausbund": das Gesangbuch der süddeutschen Täufer und seine „Märtyrerlieder" - die „Schafe Christi" - Verfolgungserfahrungen und ihre Quellen - „martyrological mentality" - warum Märtyrerlieder? - die Popularität der Märtyrerlieder Liedflugschriften - Märtyrerlieder sind Bekenntnislieder - das gewaltsame Sterben als Medium der Katechese - „Differenzerfahrungen" - oder: warum ist der Teufel so erfolgreich? - warum die Märtyrerlieder des „Ausbund"? - Alternativen - „Het Offer des Heeren" - die Märtyrerlieder der Hutterer - Liedmetamorphosen - das Martyrium als flexibles Medium von Integrations- und Desintegrationsstrategien die Inszenierung des Märtyrerschicksals - die Frauen und die Männer - was zu tun ist, wenn Heilige leiden und sterben - eine eschatologisch gedeutete und dramatisierte Welt - das Quälen des Körpers: die Inszenierung der Folter und ihre Gründe das Prinzip der „Leidsamkeit" - Taufe und Kreuz - wohin lenken die Märtyrerlieder des „Ausbund" jene, die sie singen, hören oder lesen „dogmatisch"? - und wie? die Verdrängung des „melchioritischen" Täufertums - oder: die poetische Organisation des Vergessens - noch einmal: „geregelte Erinnerung" - die Tauflehre - Sündenstreit - Mennoniten und Schweizer Brüder - noch ein theologisches Konfliktfeld: die monophysitische Christologie - der „Ausbund" und der Prozeß der Mikrokonfessionalisierung im Täufertum - Abendmahlslehre, Abendmahlseuphorie - das „Frankenthaler Gespräch" 1571 - Täufer und Calvinisten - Absonderung von der „Welt" - der „falsche Schein" der Lutheraner - die Martyrien der Märtyrerlieder als Medien der inner- und interkonfessionellen Integration - der „Bann" - der „Eid" die „Gütergemeinschaft" - das Abendmahl und die Verpflichtung zur Liebe - Opfer und Gericht.
5. Blutige Spiegel. Geist und Zeit Totenkult „ambulant": das Taschen-Martyrologium des Täufermissionars Julius Lober - Täufer-Gruppen als heroische „memory communities" - und die Professionalisierung ihrer Erinnerungsmedien - Märtyrergemeinschaften am Ende von Märtyrerzeiten - zwei Täufer-Martyrologien: das „Geschichtbuech" der Hutterer und der „Bloedig Tooneel" der Mennoniten - und der Versuch, sie „geschichtstheologisch" zu entziffern - die Hutterer und ihr „Geschichtbuech" - „ein schöner Spiegel" - sieben Weltalter bis zur Entstehung der „Gemain" - die „Konstantinische Wende" und der „Fall" der Kirche - der Geist Gottes und die Ketzer - der Schein der Wahrheit - Luther, Zwingli und ihr „Neues Babylon" - das letzte und beste Weltalter: die „Gemain" entsteht gegen die Geschichte - das Fehlen des „restitutio"-Gedankens - eine Geschichte von Martyrium zu Martyrium als kollektiver Läuterungsprozeß - Grenzziehungen - die Mennoniten und ihr „Bloedig Toonel" Hans de Ries, Tieleman Jansz van Braght und die Fraktionen der Mennoniten - von Christus bis Savonarola - von den Anfängen der Täuferbewegung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts - die Gefahren des schönen Scheins - „call to reform": das
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Inhalt
VII
Martyrologium als Instrument asketischer Seelen- und Lebensführung - das niederländische Babylon - „von Christi Zeit an": der Ursprung der Täufer - die wahre Sukzession der Kirche Gottes - „ohne die wahre Folge": die Kirche des Teufels Täufer-Gemeinden in Zeiten des schönen Scheins: die geschichtstheologischen Reformstrategien von Hutterern und Mennoniten im Vergleich - oder: Exklusivität vs. Kontinuität.
6. Stumme Bücher. Auge und Herz
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Paradiese der Gewalt: die Märtyrerfresken von Santo Stefano Rotondo, San Apollinare und San Tommaso da Canterbury in Rom - das „archäologische Theater" der „libri muti" und die Wiederentdeckung heroischer Heiligkeit - die Kritik der Reformation - die „Krise der Kanonisation" und die Stagnation der Himmelsbevölkerung - „De invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum, et sacris imaginibus" - die „intercessio sanctorum" als Wesensmerkmal katholischer Heiligenverehrung - die Reanimierung der „alten" Heiligen - Verwandte, Freunde, Schüler und Jünger des Herrn - mystisch begabte Imitationsvirtuosen - die Verehrungsinflation des heiligen Sebastian - Viten- und Historiensammlungen - Martyrologien - die Katakombenheiligen - das Martyrium als Erneuerung des Opfers Christi - Euphorie des Kreuzes, Euphorie der Tradition - „Imitatio Romae" - der Export der Katakombenheiligen - die Konfessionalisierung und Militarisierung der nachtridentinischen Himmelsbevölkerung - Maria - „Bavaria sancta" - bayerische Märtyrerknaben, die als Opfer jüdischer Ritualmorde zu sakralen Ehren gekommen waren - die Märtyrerinnen und Märtyrer der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts - Kartäuser und Barfüßer - Missionare - das Martyrologium des Jesuiten Matthias Tanner - handschriftliche Märtyrerverzeichnisse - „Litterae annuae" - Memoria und Kommunikation - die komplexe Dialektik von europäischer und außereuropäischer Mission die Riten der Gewalt - Taufparodien und Abendmahlsscharaden - Martyrienkonkurrenz - die Märtyrer von Nagasaki - die Märtyrerinnen und Märtyrer, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Europa starben - Richard Verstegans „Theatrum Crudelitatum Haereticorum" - Fidelis von Sigmaringen u.a. - Heiligsprechungen die Attraktivität des Martyriums - Martyrienvisionen, Martyrienbitten, Martyrieneuphorien, Martyrienkampagnen - die römischen Märtyrerfresken und ihr anthropologischer Entstehungszusammenhang - Jeronimo Nadais „Evangelicae historiae imagines" - die „Exercitia spiritualia" - themengebundene asketische Meditationen - „innere Bilder" - „applicatio sensuum" - Sehen und Seele - die Märtyrerfresken als Katalysatoren gelenkter und kontrollierter Meditation - Seele und Herz Memoria und Repräsentation - die Wiederentdeckung heroischer Heiligkeit als gegenreformatorischer Blut- und Opfer-Atavismus? - innerweltliche Aktivistinnen und Aktivisten: der jüngere Teil des nachtridentinischen Heiligenhimmels - Selbstdisziplin und Affektkontrolle - das „Bilderbogen-Theater" der Märtyrerfresken als Schule zweckrationaler Disziplinierung von Phantasie.
7. Heilige Taten. Askese und Triumph „Äußerste Schmerzen" - die heroische Wende in der katholischen Welt und die Bühne der Jesuiten - die Dominanz des Jesuitentheaters - Theater als performatives Ereignis und Experiment - Theater als Predigt - Aufführungsanlässe - die Darsteller - „eloquentia sacra" - die frühe Phase - Plautus, Terenz und die niederländischen Humanisten - Textproduktion - „Wir sind wir" - die Theatralisierung des Jesuitentheaters - das Theater als Ort strikter Latinität - die Versinnlichung der Welt -
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VIII
Inhalt
theatralisches Imaginieren als Methode meditativer Sinnerfahrung - die Zahl der Aufführungen und die Überlieferung der Textvorlagen - die Periochen - Modelldramen - die heilige Katharina, der heilige Michael und der Spielmann Philemon die Periochensammlung des Franciscus Lang - die große Zeit des Bühnenmartyriums - Phasen der heroischen Konjunktur - „personae tragoediae" - das Monopol der römischen Märtyrerinnen und Märtyrer - Nicolaus Causinus und sein „Hermenigildus"-Drama - Thomas Becket und Thomas Morus - Wenzeslaus und Stanislaus - Johannes von Nepomuk - Andreas von Rinn - Maria Stuart - die japanischen Märtyrer - dramen- und affekttheoretische Hintergründe der heroischen Aufrüstung des Jesuitentheaters - „misericordia" und „horror" - das Quälen des Körpers - noch einmal: der Sinn der Bühnengewalt - die asketische Verinnerlichung des Martyriums - „Gegenleiden" - das Martyrium wird zur Tat - Leiden als Leidenschaft - das Martyrium als Triumph über die Welt und in der Welt.
Schluß
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Literatur
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Register
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Die Fähigkeit des Menschen, seinesgleichen umzubringen, konstituiert vielleicht mehr noch menschliche Geschichte als seine Grundbestimmung, sterben zu müssen. Reinhart Koselleck Und da hat mein Jahrhundert erst angefangen. Schinden auf jede denkbare Weise. Das Martyrium und der Untergang der Leiber, mein Leib mitten unter ihnen. Christa Wolf
FÜR BARBARA
Dank Viele haben zu diesem Buch beigetragen. Mein Dank für Rat und Hilfe gilt neben meiner Familie und Wolfgang Reinhard vor allem Achim Aurnhammer, Andreas Bähr, Paul Bormann 1\ Wolfgang Brückner, Götz Distelrath, Heinold Fast, Wolfgang Hardtwig, Elvira und Vasiii Jakovina, Caren Janssen, Georg Kalmer, Christian Kreuzer, Sven Lembke, Jochen Martin, Hans Medick, Gabriele Mühlenhoff, Elisabeth Müller-Luckner, Adriaan Plak, Waltraud Pulz, Rolf Reichardt, Jürgen Reulecke, Gabriele Roser, Julia Schreiner, Ernst Schubert, Heribert Smolinsky, Hans-Ulrich Thamer, Matthias Wergin, Conrad Wiedemann und Cornel Zwierlein. Ich widme dieses Buch meiner Frau. Bielefeld im April 2004
Peter Burschel
Einleitung Der Scherge holt weit aus. Das Schwert scheint ihm leicht in der Hand zu liegen. Vor dem Schergen kniet ein halbnackter Mann mit gefesselten Händen und verbundenen Augen. Gleich wird der Scherge den Kopf des Mannes abschlagen. Der Mann ist nicht sein erstes Opfer; der Boden ist übersät mit blutigen Rümpfen und abgeschlagenen Köpfen. Rechts neben dem Schergen mit dem Schwert hat ein zweiter Scherge seinen Fuß auf den Brustkorb eines Mannes gestellt, der wie tot auf dem Boden liegt; einen hölzernen Hammer in den erhobenen Händen wird er ihm im nächsten Moment den Schädel zertrümmern. Hinter den beiden treiben und zerren weitere Henkersknechte entblößte Menschengruppen, in denen auch Frauen zu erkennen sind, einen schmalen und steilen Pfad hinauf. Die Knechte kennen kein Erbarmen: Wer stolpert oder nicht mehr Schritt halten kann, wird von ihnen mit Peitschen- und Rutenschlägen angetrieben. Der Pfad endet auf einem kleinen Hochplateau, das von weiteren Knechten umstellt ist. Ein Abgrund tut sich auf, eine Flucht ist unmöglich. Die Knechte jagen die Angekommenen mit Hilfe von langen Spießen über einen zerklüfteten Felsvorsprung, an dessen Fuß sich bereits ein Leichenberg auftürmt. Wer den Sturz in die Tiefe, in der Dornengestrüpp üppig wuchert, überlebt zu haben scheint, wird erstochen oder erschlagen. Blut fließt einen Hang herab; ein Hund stillt in einem der roten Rinnsale seinen Durst; immer neue Menschengruppen werden für den Todesmarsch formiert. Zwei Kreuze sind aufgerichtet; die beiden Männer, die an sie gefesselt sind, scheinen bereits tot zu sein; ein drittes Kreuz liegt noch am Boden; ein Mann mit Dornenkrone wird herangeführt. Das Altarbild „Marter der Zehntausend", das Albrecht Dürer 1507/1508 im Auftrag Friedrichs des Weisen von Sachsen malte - der Kurfürst besaß Reliquien der Gemarterten - , stand am Anfang der vorliegenden Untersuchung, die sich als anthropologisch orientierte Kulturgeschichte des Martyriums in der frühen Neuzeit versteht1. Denn nicht nur, daß die Darstellung der Legende des 1
Das Bild, das bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Leinwand übertragen wurde, befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien. Hans Tietze und Erika Tietze-Conrat, Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers, Bd. 2: Der reife Dürer, 1. Halbbd.: Von der venezianischen Reise im Jahre 1505 bis zur niederländischen Reise im Jahre 1520 nebst Nachträgen aus den Jahren 1492-1505, Basel und Leipzig 1937, Nr. 355, S. 41 f., S. 192. - Zur Ikonographie des Bildes, das kompositorisch einem Holzschnitt Dürers folgt, der wohl bereits 1495/1496 entstanden war: Peter Strieder, Dürer, Königstein a.T. 1981, S. 296ff.; vor allem aber: Fedja Anzelewsky, Albrecht Dürer. Das malerische Werk: Textbd., Berlin 2 1991, S. 75ff., 216ff., der auch hochwertige Reproduktionen bzw. Detailreproduktionen des Bildes bietet: ebd., Tafelbd., Berlin 2 1991, Tafel 111-114, Nr. 125-128. Abdruck des Holzschnitts: Albrecht Dürer, Woodcuts and Wood Blocks, hg. v. Walter L. Strauss, New York 1980, Nr. 35, S. 137-140, hier S. 139; Albrecht Dürer, Das gesamte graphische Werk,
Abb. 1 Albrecht Dürer, Marter der Zehntausend, Wien, Kunsthistorisches Museum, 99 cm χ 57 cm.
Einleitung
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Martyriums von 10000 christlichen Soldaten am Berg Ararat die kollektive Erfahrung konfessionalisierter physischer Gewalt der folgenden beiden Jahrhunderte zu prophezeien schien 2 . Das Blutbad, das persische Fürsten auf Geheiß des römischen Kaisers Hadrian anrichten lassen und das Albrecht Dürer und Konrad Celtis zu auffällig unbeteiligten Zeugen hat 3 , ließ auch erahnen, daß das gewaltsame Sterben, daß vor allem das Martyrium zu kulturanthropologischer Spurensuche herausfordert 4 . Denn werden da nicht Zugänge zu jenen oft genug verdeckten Selbst- und Weltdeutungen eröffnet, die soziale Gemeinschaften konstituieren und zusammenhalten? Werden da nicht Grenzen gezogen, erprobt, verletzt, außer Kraft gesetzt und neu ausgehandelt, die darüber bestimmen, was menschlich ist und was unmenschlich, was heilig und was unheilig, was Recht und was Unrecht, was Schuld und was Unschuld? Werden da nicht religiöse Ordnungen auf den Prüfstand gestellt? Vor allem aber: Werden da nicht immer auch Orte der „Wahrheit" und der „Unwahrheit" geschaffen, an denen von Menschen erzählt wird? Nachdem vor dem Hintergrund dieser Überlegungen immer neue Szenarien extremer physischer Gewalt in der frühen Neuzeit aufgespürt und genauer untersucht werden konnten, stand rasch fest, daß das Martyrium auch deshalb ein exponiertes Feld kulturanthropologischer Observation ist, weil es den Blick auf die Kollektivierung von Toten freigibt. Denn nicht nur, daß diese Kollektivierung erkennen läßt, nach welchen Entwürfen, Plänen und Modellen Märtyrerinnen und Märtyrer geschaffen werden - und das oft genug nachhaltig. Sie offenbart auch den kulturellen Sinn heroischen Sterbens und weist damit auf die
Bd. 2: Druckgraphik, München 2 1988, S. 1688; Detail der Marter des heiligen Achatius oder des heiligen Leodegar: ebd., S. 1689. - Zur Interpretation vgl. immer noch Erwin Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, Hamburg 2 1995, S. 162 f. (als „The Life and Art of Albrecht Dürer" erstmals Princeton 1943), der die „Marter der Zehntausend" in erster Linie als „Schola Crucis" versteht. 2 In diesem Sinne bereits: Philipp P. Fehl, Mass Murder, or Humanity in Death, in: Theology Today 28 (1971), S. 52-71, hier S. 67f. - sowie: Natalie Zemon Davis, Die Riten der Gewalt, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a.M. 1987, S. 171-209, hier S. 172 (als „The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth-Century France" erstmals in: Ρ & Ρ 59 [1973], S. 51-91). 3 Schwarzgewandet inmitten der orientalischen Farbenpracht scheinen sie ganz ins Gespräch versunken zu sein. - Zur Identifizierung von Celtis, der kurz vor der Fertigstellung des Bildes gestorben war, zusammenfassend: Dieter Wuttke, Dürer und Celtis: Von der Bedeutung des Jahres 1500 für den deutschen Humanismus: „Jahrhundertfeier als symbolische Form", in: JMedRenSt 10 (1980), S. 73-129, hier insbesondere S. 116ff. 4 Vgl. dazu auch Peter Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 50 (1999), S. 75-97, hier S. 75f.; sowie allgemeiner: Burkhard Gladigow, Homo publice necans. Kulturelle Bedingungen kollektiven Tötens, in: ebd. 37 (1986), S. 150-165; und: Eva Horn, Der Krieg als Ort anthropologischer Erkenntnis, in: Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. newsletter 7 (1998), S. 14-16.
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Einleitung
Funktionen physischer Gewalt in sozialen Gemeinschaften und ihren mentalen Haushalten zurück 5 . In anderen Worten: Wenn man Kulturanthropologie als historisch-anthropologisch ausgerichtete Kulturwissenschaft versteht, die nach Wahrnehmungs- und Deutungsmustern elementarer Erfahrungen menschlichen Lebens in den handlungs- und verhaltensleitenden kulturspezifischen Ordnungen fragt, die dieses Leben formen 6 - dann ist das Martyrium eine kulturanthropologische Herausforderung par excellence 7 . Ausgehend von dieser These, versucht die vorliegende Untersuchung die Bedeutung des Martyriums - und damit die Bedeutung von Märtyrerinnen und Märtyrern - für die frühneuzeitlichen christlichen Glaubensgemeinschaften zu
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Zum Problem der „Identifizierung" dieser Funktionen hier nur am Beispiel der Folter: Peter Burschel, Götz Distelrath und Sven Lembke, Eine historische Anthropologie der Folter. Thesen, Perspektiven, Befunde, in: Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, hg. v. Peter Burschel u.a., Köln u.a. 2000, S. 1-26, insbesondere S. 5f.; vgl. darüber hinaus: Martin Dinges, Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, hg. v. Rolf Peter Sieferle und Helga Breuninger, Frankfurt a.M. und New York 1998, S. 171-194, hier pointiert S. 188; Lutz Ellrich, Folter als Modell. Diskurse und Differenzen, in: Das Quälen des Körpers, S. 27-66 - vor allem aber: Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996. 6 So der Verfasser in modifizierender Fortführung der Ansätze von Jochen Martin, Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie, in: Freiburger Universitätsblätter 33 (1994), S. 35-46; Otto Gerhard Oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Kulturgeschichte Heute, hg. v. Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1996, S. 14—40; Ute Daniel, Geschichte als historische Kulturwissenschaft. Konturen eines Wiedergängers, in: Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis, hg. v. Heide Appelsmeyer und Elfriede Billmann-Mahecha, Weilerswist 2001, S. 195-214; und nicht zuletzt Hans Medick, Quo vadis Historische Anthropologie? Geschichtsforschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und MikroHistorie, in: HA 9 (2001), S. 78-92. 7 Vgl. zu diesem Verständnis von Kulturanthropologie auch Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. v. Alexander Koller, Tübingen 1998, S. 260-271 - und im weiteren Zusammenhang: Richard van Dülmen, Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit. Entwicklung - Probleme - Aufgaben, in: GG 21 (1995), S. 403^129; Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, hg. v. Hartmut Lehmann, Göttingen 1995, S. 5-28; Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. Historische Anthropologie von Patronage-Klientel-Beziehungen, in: Freiburger Universitätsblätter 37 (1998), S. 127-141; dens., „Staat machen". Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, S. 99-118; Kaspar v. Greyerz, Religion und Kultur. Europa 15001800, Göttingen 2000, insbesondere S. 9ff.; Wolfgang Reinhard, Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in: GG 27 (2001), S. 593-616 - und schließlich: Rudolf Schlögl, Von der gesellschaftlichen Dimension religiösen Erlebens (Einleitung zur Sektion „Religiöse Erfahrung in der Frühen Neuzeit"), in: „Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, hg. v. Paul Münch,
chen 2001, S. 271-280.
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Einleitung
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bestimmen: vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, vor allem i m deutschsprachigen Raum 8 , um auf diese Weise Einblick in den Prozeß der Konfessionalisierung dieser Gemeinschaften zu gewinnen und damit in den Prozeß der Genese und der Profilierung konfessioneller Kulturen 9 . Legt es doch die kulturanthropologische Perspektive dieser Untersuchung nahe, das Martyrium als M e dium kollektiver Leidenserfahrungen zu verstehen und damit als Medium kollektiver Erinnerung und kollektiver Selbstvergewisserung, das dazu beitrug, aus Glaubensgemeinschaften Bekenntnisgemeinschaften und aus Bekenntnisgemeinschaften Bekenntniskulturen werden zu lassen - welcher Couleur auch immer. Denn soviel wird man bereits an dieser Stelle festhalten dürfen: D a s Martyrium, vor allem das konfessionalisierte Martyrium radikalisierte die tradierten kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, indem es nicht nur die Seelen-, sondern auch die Lebensführung disziplinierte und damit die soziale Orientierung, ja, das Profil innerweltlicher Aktivität veränderte 10 . Hinzu kommt, daß das Martyrium als Medium kollektiver Leidenserfahrung in besonderer Weise dazu geeignet ist, „konfessionelle Kultur" nicht nur als symbolisches „Bedeutungsgewebe" zu erfassen, das Kollektive zusammenhält 1 1 , sondern auch als System von Grenzen und permanenten Grenzziehungen, das Kollektive miteinander konfrontiert 12 . Das aber bedeutet: Wer nach
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Zur Bedeutungsspannbreite des Begriffs „Martyrium", das hier durchgängig als „Blutzeugnis" verstanden wird, und zur Theologie des Martyriums im interkulturellen Vergleich zusammenfassend: Peter Gertitz, Martyrium I: Religionsgeschichte, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, Berlin und New York 1992, S. 197-202; vgl. darüber hinaus: Ephraim Kanarfogel, Martyrium II: Judentum, in: ebd., S. 203-207; Michael Slusser, Martyrium III: Christentum/1. Neues Testament/Alte Kirche, in: ebd., S. 207-212; Eduard Christen, Martyrium III: Christentum/2. Systematisch-theologisch, in: ebd., S. 2 1 2 - 2 2 0 - sowie: Theofried Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, Münster 1980; Dorothea Wendebourg, Das Martyrium in der Alten Kirche als ethisches Problem, in: ZKiG 98 (1987), S. 295-320; Anna Maria Schwemer, Prophet, Zeuge und Märtyrer. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühesten Christentum, in: ZTheolKi 96 (1999), S. 320-350; Wiebke Bähnk, Von der Notwendigkeit des Leidens. Die Theologie des Martyriums bei Tertullian, Göttingen 2001. 9 Vgl. zu diesem Begriff an dieser Stelle nur: Heinz Schilling, Nochmals „Zweite Reformation" in Deutschland. Der Fall Brandenburg in mehrperspektivischer Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte, in: ZHF 23 (1996), S. 501-524; Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998, S. 7 f f ; Andreas Holzem, Die Konfessionsgesellschaft. Christenleben zwischen staatlichem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: ZKiG 110 (1999), S. 53-85. 10 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Befunde, die Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode, bietet. 11 Kultur als symbolisches Bedeutungsgewebe hier ganz im Sinne des „Erfinders": Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 3 1994, S. 9. 12 Ausführlich zu den theoretischen Hintergründen einer solchen Vorstellung von Kultur, die der Verfasser in einer eigenen Untersuchung weiterentwickeln zu können hofft: Burk-
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dem Martyrium fragt, fragt nicht nur, wie Kollektive ihrer Welt Sinn verleihen und wie sie Konsens erzeugen13, sondern auch, inwieweit die Genese von kollektiven Selbstbildern, von „konfessionellen Identitäten", die hier als normative kulturelle Programme verstanden werden sollen, als „offene Ideale"14, mit der Konstruktion, Imagination und Präsentation von „konfessionellen Alteritäten" einhergeht15. Was aber heißt das in eine Forschungsanordnung übersetzt? Das heißt, daß die vorliegende Untersuchung versucht, Modelle konfessioneller Vollkommenheit zu rekonstruieren; daß sie nach den Konjunkturen und Metamorphosen solcher Modelle fragt, die man in aller Regel als „Heiligkeitsmodelle" bezeichnen kann; und daß sie immer auch nach „Gegenmodellen" fahndet - all das bekenntnisübergreifend, vergleichend und interdisziplinär16. Das heißt, daß sie
hard Gladigow, Kulturen in der Kultur, in: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, hg. v. Horst Walter Blanke u.a., Köln u.a. 1998, S. 53-66; vgl. auch Frauke Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung. Bikonfessionelle Gemeinden in der Gemeinen Vogtei Thurgau (CH) des 17. Jahrhunderts, in: HA 5 (1997), S. 370-387; sowie: Peter Burschel, Grenzgang als Entzauberung. Die Inszenierungen des Ikonoklasten Klaus Hottinger (t 1524), in: Grenzgänger zwischen Kulturen, hg. v. Monika Fludernik und HansJoachim Gehrke, Würzburg 1999, S. 213-226. 13 Pointiert zu diesen beiden „klassischen" Fragen der Kultursoziologie: Christoph Conrad und Martina Kessel, Blickwechsel: Moderne, Kultur, Geschichte, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, hg. v. Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1998, S. 9-40, hier S. 10. 14 Konrad Thomas, Zugehörigkeit und Abgrenzung. Über Identitäten, Frankfurt a. M. 1997, S. 70 und passim. 15 Vgl. zu diesem zweiten Fragekomplex der vorliegenden Untersuchung vor allem die theoretischen und methodischen Grundlagen des Freiburger Sonderforschungsbereiches 541 „Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität": Grenzgänger zwischen Kulturen; vor allem aber: wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, hg. v. Wolf gang Eßbach, Würzburg 2000. - Instruktiv in diesem Zusammenhang darüber hinaus - mit einer Fülle weiterer Literatur: Identität, hg. v. Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979; Lutz Niethammer, Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte, in: Identität und Geschichte, hg. v. Matthias Werner, Weimar 1997, S. 175-203; Rogers Brubaker und Frederick Cooper, Beyond "identity", in: Τ & S 29 (2000), S. 1—47; sowie: Lutz Niethammer (unter Mitarbeit von Axel Doßmann), Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000. 16 Zum Begriff des „Heiligkeitsmodells" oder „religiösen Lebensmodells": Peter Burschel, Einleitung, in: Vorbild - Inbild - Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, hg. v. Peter Burschel und Anne Conrad, Freiburg i.Br. 2003, S. 9 - 2 1 (mit weiterführenden Literaturhinweisen); vgl. auch Jochen Martin, Die Macht der Heiligen, in: Christentum und antike Gesellschaft, hg. v. Jochen Martin und Barbara Quint, Darmstadt 1990, S. 440-474; Gdbor Klaniczay, Legenden als Lebensstrategien: Mitteleuropäische weibliche Heilige im Spätmittelalter, in: ders., Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen, Berlin 1991, S. 13-28; und Peter Brown, Aufstieg und Funktion des Heiligen in der Spätantike, in: ders., Die Gesellschaft und das Übernatürliche.
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Medien der Darstellung und Verbreitung heroischen Sterbens in den Blick nimmt, bis hin zur performativen Inszenierung des Martyriums auf der Bühne; und daß sie das Martyrium auf diese Weise durchgängig auch als Instrument der Katechese bestimmt. Das heißt, daß sie individuelle und kollektive Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen des Martyriums kulturanthropologisch zu entziffern versucht 1 7 . Das heißt, daß sie darum bemüht ist, das Martyrium als Katalysator von Integrations- und Desintegrationsprozessen zu identifizieren; daß sie Strategien der „Erfindung" heroischer Traditionen freilegt 1 8 ; und daß sie nicht zuletzt auch hagiographische Erinnerungstechniken und Erinnerungskonflikte analysiert 1 9 , bis hin zur literarischen Organisation des Vergessens 2 0 . Und das heißt schließlich auch, daß die vorliegende Untersuchung jene methodischen Orientierungsmuster nutzt, die das von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling entwickelte system- und konflikttheoretisch grundierte
Vier Studien zum frühen Christentum, Berlin 1993, S. 21-47 (als „The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity" erstmals in: JRS 61 [1971], S. 80-101). 17 Vgl. allgemein zu den Problemen der „kulturanthropologischen Entzifferung" von Selbstzeugnissen hier nur einen Sammelband, dessen Beiträge die einschlägigen Versuche der vorliegenden Untersuchung methodisch zum Teil erheblich beeinflußt haben: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hg. v. Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt a.M. 1987. 18 Zu den begrifflichen Hintergründen: Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Kultur & Geschichte, S. 97-118 - zuerst als „Introduction: Inventing Traditions", in: The Invention of Tradition, hg. v. Eric Hobsbawn und Terence Ranger, Cambridge u.a. 1983, S. 1-14; vgl. darüber hinaus bereits an dieser Stelle: Wolfgang Brückner, Erneuerung als selektive Tradition. Kontinuitätsfragen im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Bereich der konfessionellen Kultur, in: Der Übergang zur Neuzeit und die Wirkung von Traditionen, Göttingen 1978, S. 55-78; zusammenfassend (und weiterführend) zum Traditionsbegriff: Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln u.a. 1996, S. Iff. 19 Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß hinter dieser Absicht die Vorstellung vom Martyrium als „lieu de memoire", als „Gedächtnisort" im Sinne Pierre Noras steht: Les lieux de memoire, 7 Bde., hg. v. Pierre Nora, Paris 1984-1992. - Die programmatische Einleitung zu diesem Großprojekt (dem inzwischen ein „deutsches" Pendant zur Seite steht: Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., hg. v. Etienne Franqois und Hagen Schulze, München 2001) liegt auch in deutscher Übersetzung vor: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2 1998, S. 11-31; vgl. darüber hinaus: Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. v. Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1991, S. 289-304 (als „History as Social Memory" erstmals in: Memory. History, Culture and the Mind, hg. v. Thomas Butler, Oxford 1989, S. 97-113); Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Erlebnis Gedächtnis - Sinn. Authentische und Konstruierte Erinnerung, hg. v. Hanno Loewy und Bernhard Möllmann, Frankfurt a.M. und New York 1996, S. 13-29; Klaus Große-Kracht, Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs - Pierre Nora, in: GWU 47 (1996), S. 21-31. 20 „Vergessen" hier ganz im Sinne von Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.
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Konfessionalisierungsparadigma bietet21, dessen historisch-anthropologischen Potentiale bislang noch kaum ausgeschöpft wurden22. Angesichts der Tatsache, daß Religion und Religiosität in der frühen Neuzeit in den vergangenen zehn Jahren besonderes historisches Interesse fanden, ja, eine geradezu unheimliche historische Euphorie erlebten23, überrascht es nicht, daß auch die mehr oder weniger exklusive Gesellschaft himmlischer Intervenienten - oder protestantisch gesprochen: himmlischer Vorbilder - zu den Profiteuren dieser Konjunktur gehörte24, und sei es nur, weil die immer wieder ge21
Nachdem Wolfgang Reinhard bereits 1977 nach dem Beitrag der sogenannten „Gegenreformation" zur Entstehung der europäischen Moderne gefragt hatte (Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ARG 68 [1977], S. 226-252), legten er und Heinz Schilling 1981 unabhängig voneinander ihre Konfessionalisierungsüberlegungen vor. Angeregt von Systemtheorie und Identitätspsychologie, verbanden Reinhard und Schilling die Konzepte „Konfessionsbildung" (Ernst Walter Zeeden) und „Sozialdisziplinierung" (Gerhard Oestreich) zu einem Gesamtmodell, das die Entstehung der Konfessionen im westeuropäischen Christentum seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstmals als fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß zu identifizieren erlaubte und die strukturellen Parallelen der konfessionellen Differenzierung ins Blickfeld rückte. Wolfgang Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, hg. v. Wolfgang Reinhard, München 1981, S. 165-189; Heinz Schilling, Konfessionspolitik und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981; zusammenfassend: ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft - Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, hg. v. Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling, Gütersloh 1995, S. 1-49; Wolfgang Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: ebd., S. 419-452; sowie ders., Konfessionalisierung, in: Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Frühe Neuzeit, hg. v. Anette Völker-Rasor, München 2000, S. 299-303. 22 Vgl. Peter Burschel, Einführung: Konfessionalisierung, in: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, hg. v. Peter Burschel u.a., Berlin 2002, S. 56-59 - und kritischer: Martin Dinges, „Historische Anthropologie" und „Gesellschaftsgeschichte". Mit dem Lebensstilkonzept zu einer „Alltagskulturgeschichte" der frühen Neuzeit?, in: ZHF 24 (1997), S. 179-214. 23 Um nur einen Sammelband zu nennen, der diese Konjunktur dokumentiert: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. v. Dieter Breuer, 2 Tie., Wiesbaden 1995. 24 Als methodisch einflußreichste Untersuchung ist hervorzuheben: Jean-Michel Sallmann, Naples et ses saints ä l'äge baroque (1540-1750), Paris 1994; vgl. darüber hinaus - jeweils exemplarisch: Personenkult und Heiligenverehrung, hg. v. Walter Kerber, München 1997; Peter Burschel, Der Himmel und die Disziplin. Die nachtridentinische Heiligengesellschaft und ihre Lebensmodelle in modemisierungstheoretischer Perspektive, in: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. v. Hartmut Lehmann und AnneCharlott Trepp, Göttingen 1999, S. 575-595; Gabriela Signori, Humanisten, heilige Gebeine, Kirchenbücher und Legenden erzählende Bauern. Zur Geschichte der vorreformatorischen Heiligen- und Reliquienverehrung, in: ZHF 26 (1999), S. 203-244; sowie: II santo patrono e la cittä. San Benedetto il Moro: culti, devozioni, Strategie di etä modema, hg. v. Giovanna Fiume, Venedig 2000 - und zur Forschungsentwicklung: John Bossy, Holiness
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stellte Frage nach der Frömmigkeit des „konfessionellen Volkes" und seiner potentiellen elitären Pendants 2 5 in vielen Fällen auch eine Frage nach den Himmelsfavoritinnen und -favoriten von „Volk" und „Elite" war 2 6 . Im Unterschied aber zu Ausnahmeheiligen w i e Maria 2 7 oder Organisationsvirtuosen w i e Carlo Borromeo 2 8 oder den Patriarchen aus Wittenberg 2 9 geriet das heroische Fußvolk erst spät in den Blick der historischen Forschung, obwohl die vielfältigen Eskalationen konfessioneller Gewalt im 16. und 17. Jahrhundert durchaus wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregten 3 0 . Hinzu kommt, daß das frühneuzeitliche Martyrium in erster Linie für den westeuropäischen Raum historisch untersucht wurde - und das auch nur selten methodisch elaboriert und in größerem Umfang: so vor allem von David El Kenz für Frankreich 31 und von Brad Stephan Gregory für Frankreich, England und die Niederlande 3 2 , wobei El Kenz ausschließlich das protestantische Martyrium und seine Protagonistinnen und Protagonisten in den Blick nimmt, während Gregory eine konsequent bekenntnisübergreifende Perspektive verfolgt, ohne allerdings das 16. Jahrhundert zu verlassen 3 3 . Kurz, wenn im folgenden nach der Bedeutung des Mar-
and Society, in: Ρ & Ρ 75 (1977), S. 119-137; Marina Caffiero, Sacro/santo. Una nuova collana di storia religiosa, in: Rivista di Storia e Letteratura Religiosa 27 (1991), S. 465-474; und Lawrence S. Cunningham, A Decade of Research on the Saints: 1980-1990, in: Theological Studies 53 (1992), S. 517-533. 25 Einen Überblick ermöglichen die beiden folgenden Sammelbände: Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, hg. v. Wolf gang Schieder, Göttingen 1986 - und: Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, hg. v. Hansgeorg Molitor und Heribert Smolinsky, Münster 1994. 26 Beispiele: Peter Burschel, Verwandlungen des Heiligen (Einführung in die Sektion VI „Verwandlungen des Heiligen"), in: Im Zeichen der Krise, S. 537-541. 27 Vgl. über die in Kapitel 6 genannte Literatur hinaus vor allem: David Blackboum, Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Hamburg 1997. 28 Um aus der Fülle der Borromeo-Literatur nur ein Beispiel anzuführen: Angelo Turchini, La fabbrica di un santo. II processo di canonizzazione di Carlo Borromeo e la Controriforma, Casale Monferrato 1984. 29 Vgl. etwa: Protestant History and Identity in Sixteenth-Century Europe, hg. ν. Bruce Gordon, 2 Bde. (Bd. 1: The Medieval Inheritance; Bd. 2: The Later Reformation), Aldershot 1996 - sowie die in Kapitel 2 genannten einschlägigen Arbeiten. 30 Grundlegend: Denis Crouzet, Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525 - vers 1610), 2 Bde., Seyssel 1990; eine deutsche Zusammenfassung dieser Untersuchung: ders.. Die Gewalt zur Zeit der Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts, in: Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, hg. v. Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke, Frankfurt a.M. 1995, S. 78-105. 31 Les buchers du roi. La culture protestante des martyrs (1523-1572), Seyssel 1997. 32 Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, London u.a. 1999. Von besonderer Bedeutung (vor allem in methodischer Hinsicht) sind darüber hinaus die folgenden beiden Sammelbände, die eine Reihe von Beiträgen zum Martyrium im frühneuzeitlichen Europa enthalten: Saintete et martyre dans les religions du livre, hg. v. Jacques Marx, Brüssel 1989 - und: Martyrs and Martyrologies, hg. v. Diana Wood, Oxford 1993. 33 Ausführlich zu dieser Arbeit, die auf eine Dissertation zurückgeht: Peter Burschel, Das
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tyriums für die frühneuzeitlichen christlichen Glaubensgemeinschaften im deutschsprachigen Raum gefragt wird, kann nicht auf vergleichend angelegte oder umfassende historische Untersuchungen zurückgegriffen werden. Was bleibt, sind neben einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten „en detail"34 und solchen, die in erster Linie methodisch weiterführen, wie zum Beispiel die neueren Studien zum politischen Totenkult seit dem 18. Jahrhundert35, vor allem Untersuchungen der sogenannten Nachbardisziplinen, insbesondere der Kirchen- und Kunstgeschichte, der Volkskunde und der Germanistik. Denn zum einen fehlt es in keiner dieser Disziplinen an „fachspezifischen" Versuchen, in den Präsentationen des Martyriums nach Wegen zu fahnden, die den elitären Diskurs mit der kollektiven Erfahrung verbinden, und damit nach dem politischen, sozialen und kulturellen Sinn der Inszenierung des Martyriums: ob in Märtyrerliedern, Märtyrerdramen oder Märtyrerbildern36. Und zum anderen erlauben es die Annäherungen der Nachbardisziplinen, auf dem weiten Feld der heroischen Kommunikation kulturanthropologisch zusammenzuführen, was bislang isoliert betrachtet wurde, und dabei nach jenen verlorenen Berührungspunkten zu suchen, in denen sich trifft, was wissenschaftlicher Eigen-Sinn als weit voneinander entfernt liegend erscheinen läßt37. Was aber unterscheidet die vorliegende Untersuchung jenseits ihres räumlichen und zeitlichen Rahmens von den historischen und nicht-historischen Annäherungen an das frühneuzeitliche Martyrium, die kulturwissenschaftlichen Deutungsmustern verpflichtet sind, wie etwa die Arbeiten von El Kenz und Gregory? Sieht man einmal davon ab, daß sie schon als bekenntnisübergreifende Untersuchung kulturanthropologische Perspektiven eröffnen kann, die den meisten ihrer Pendants verschlossen bleiben, versteht sie das Martyrium in stärkerem Maße als andere Annäherungen kulturwissenschaftlichen Zuschnitts als Medium der Selbst- und Fremdauslegung, als spezifisches Zei-
Schreckliche ist nichts als des Schönen Abglanz. Eine passionierte Geschichte frühneuzeitlicher Passionen: Brad Stephan Gregory schildert Martern aller Art, in: FAZ 177 (2. August 2000), S. 50. 34 So zum Beispiel Untersuchungen, die rechtliche Fragen berühren oder die einzelnen Märtyrerinnen und Märytrern gewidmet sind. 35 Beispiele: Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Identität, S. 255-276; Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich (1715-1794), Stuttgart 1992; Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, hg. v. Reinhart Koselleck und Michael Jeismann, München 1994; Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996; Manfred Hettling, Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt a.M. 1998. 36 Vgl. vor allem die Kapitel 3,4, 6 und 7. 37 Dazu methodisch wegweisend: Conrad Wiedemann, Himmelsbilder des Barock, in: Jahrbuch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 1994, Berlin 1995, S. 247270.
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chensystem, dessen Dechiffrierung nicht zuletzt tiefe Einblicke in die Baupläne symbolischer Kommunikation erlaubt38. Das aber heißt auch: Die vorliegende Untersuchung nimmt ihre Quellen, die in erster Linie Texte, hagiographische Texte sind39, als Formen kultureller Darstellung40, ja, als Formen von „autoethnography" in den Blick41 - und unterscheidet sich auch darin von ihren Pendants, von ihren historischen Pendants vor allem, deren Textanalysen mehr oder weniger durchgängig eher „neohistoristischen" als „kulturpoetischen" Interpretationsmustern folgen 42 und im Falle der Arbeit von Gregory sogar explizit folgen sollen43. Und schließlich: Die vorliegende Untersuchung bewegt sich auf einem Quellenterrain, das deutlich ausgedehnter ist als das aller anderen einschlägigen Arbeiten und das schon deshalb als unübersichtlich bezeichnet werden darf, weil die Gattungen, die es umfaßt, so disparat sind, daß ihre Analyse ein je spezifisches methodisches Instrumentarium voraussetzt44. So basiert das erste Kapitel weitgehend auf den frühreformatorischen Flugschriften, die das Sterben der ersten Märtyrer der evangelischen Bewegung dramatisierten; das zweite auf den protestantischen Martyrologien, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen, vornehmlich auf den heroischen Historien des Luther-Schülers Ludwig Rabus; das dritte auf den protestantischen Trauerspielen, die nach dem Dreißigjährigen Krieg die Welt deuteten, allen voran Gryphius' „Catharina von Georgien"; das vierte auf den Märtyrerliedern, die vor allem die süddeutschen Täufer sangen, um sich ihrer Toten zu vergewissern, und die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im sogenannten „Ausbund" in immer neuen Auflagen gedruckt wurden; das fünfte
38 Zum Begriff der „symbolischen Kommunikation" vgl. hier nur: Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27 (2000), S. 389^405. 39 ,.Hagiographische Texte" hier im Sinne von Hans Ulrich Gumbrecht, Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. v. Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 37-84; vgl. aber auch: Hagiographies. Histoire internationale de la litterature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines ä 1550, hg. v. Guy Philippart, 3 Bde., Turnhout 1994, 1996 und 2001. 40 Grundlegend zu dieser „literaturanthropologischen" Perspektive: Doris Bachmann-Medick, Einleitung, in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, hg. v. Doris Bachmann-Medick, Frankfurt a.M. 2 1998, S. 7-64; und dies., Literaturein Vernetzungswerk. Kulturwissenschaftliche Analysen in den Literaturwissenschaften, in: Kulturwissenschaft, S. 215-239. 41 George E. Marcus und Michael M. J. Fischer, Anthropology as Cultural Critique. An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago und London 2 1992 ( Ί 9 8 6 ) , S. 74. 42 Zum Begriff der „Poetik der Kultur", der „Poetics of culture": Stephen Greenblatt, Grundzüge einer Poetik der Kultur, in: ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Berlin 1991, S. 107-122. 43 Gregory, Salvation at Stake, S. 16ff. 44 Es wird deshalb auch darauf verzichtet, bereits in der Einleitung einzelne Gattungen ausführlich zu kommentieren.
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auf dem „Geschichtsbuch" der Hutterer, das seit etwa 1570 in Mähren entstand, und dem Martyrologium des Mennoniten Tieleman Jansz van Braght aus Dordrecht, das erstmals 1660 erschien; das sechste zumindest streckenweise auf den gemalten, radierten und gestochenen Inszenierungen des Martyriums in der katholischen Welt seit dem späten 16. Jahrhundert; und das siebte und letzte schließlich auf den Märtyrerstücken der Jesuiten, die noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergleichsweise regelmäßig gespielt wurden, als es zumindest in Europa kaum noch Gelegenheit gab, als Glaubensheldin oder Glaubensheld zu sterben. Welche Quellen aber sind es, die diese „Quellenkunde" umfaßt - in der im übrigen all jene Quellen unerwähnt bleiben, die lediglich Nebenrollen spielen45 - , die aber in den Pendants der vorliegenden Untersuchung, die vor allem in der umfassenden kulturgeschichtlichen Arbeit von Gregory keine Aufmerksamkeit finden? Die Antwort kann angesichts der bisherigen Befunde nicht überraschen: Es sind die literarischen Quellen im engeren Sinne, es sind die Märtyrerdramen, es sind jene Texte verdichteter und verschlüsselter kultureller Selbst- und Fremdbestimmung, die sich „neohistoristischen" Zugriffen entziehen. Versucht man vor diesem Hintergrund das Profil der vorliegenden Untersuchung noch einmal pointiert zu bestimmen, so ist festzuhalten: Sie versteht das Martyrium als kulturanthropologische Herausforderung, weil sie es für einen Schauplatz hält, an dem Gemeinschaften sich offenbaren, ja, offenbaren müssen; für einen Schauplatz, an dem entschieden wird, was wahr ist und was unwahr; und an dem sich vielleicht sogar zeigt, was Menschen zu Menschen macht oder besser wohl: was Menschen zu Menschen machen soll.
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Hinzuweisen wäre etwa auf Beatifikations- und Kanonisationsprozeßakten, auf Ego-Dokumente im engeren Sinne, auf Legenden, Kalender und Predigten.
1. Schöne Passionen. Wort und Blut Die Protagonisten: sechs Tote der evangelischen Bewegung - die Quellen: Märtyrerflugschriften der frühen Reformation - Zeiterfahrung und Zeitdeutung - Martin Luthers „Brief an die Christen im Niederland": die Gegenwart als Schlußakt eines eschatologischen Dramas - „schöne Passionen" - Wort und Blut - die römischen Mächte des Chaos: AntichristObsessionen? - die Zeichen der Zeit und der Sinn des Leidens: Gemeinschaft und Wahrheit - das Ritual - „Artikelverhöre" - der theologische Fundamentalkonsens der evangelischen Bewegung - Inszenierungsprobleme: die „revocatio revocationis" des Kaspar Tauber - Verurteilung und Degradierung - die Hinrichtung - „Ereignis" und „Erzählung" - Gattungsbestimmungen - die Darstellung der Protagonisten - „Mirakel" - Wahrnehmungsdissonanzen - die Wirklichkeit der Flugschriften. A m 1. Juli 1523 starben Heinrich Voes und Johann van den Eschen in Brüssel auf d e m Scheiterhaufen 1 . Beide waren M ö n c h e des Klosters der AugustinerEremiten in Antwerpen gewesen; beide hatten sich w i e viele ihrer Mitbrüder rasch der evangelischen B e w e g u n g angeschlossen 2 , die nach Etablierung der Inquisition in den habsburgischen Niederlanden mehr und mehr unter Druck geriet 3 . A m 6. Oktober 1522 griff die Obrigkeit schließlich auch in Antwerpen zu. D a s Kloster der Augustiner-Eremiten wurde zerstört, die M ö n c h e verhaftet, eingekerkert und vor die Wahl gestellt, entweder zu widerrufen oder als Ketzer im Feuer zu sterben. Einigen gelang die Flucht, andere leisteten Abbitte, einer bat um Bedenkzeit 4 , allein Voes und van den Eschen ließen keinen Zweifel daran, es auch künftig mit Martin Luther halten zu wollen. D a s Inquisitionsverfahren wurde eröffnet, die beiden Mönche verurteilt und hingerichtet 5 .
1 Beide Namen erscheinen vorsichtig modernisiert. Einen Überblick über ihre Schreibweisen in den Quellen erlaubt: Julius Boehmer, Die Beschaffenheit der Quellenschriften zu Heinrich Voes und Johann van den Esschen, in: ARG 28 (1931), S. 112-133, vor allem S. 127 f. Vgl. auch Theodor Knolle, Die ersten Blutzeugen der Reformation, in: Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft [5] (1923), S. 1-12. 2 Zusammenfassend: Alastair Duke, The Face of Popular Religious Dissent in the Low Countries, 1520-1530, in: JEcclH 26 (1975), S. 41-67, hier vor allem S. 42. 3 Alphonsus De Decker, Les Augustins d'Anvers et la Reforme, Antwerpen 1884, S. 5ff.; Paul Kalkoff, Die Anfange der Gegenreformation in den Niederlanden, Τ. 2, Halle 1903, S. 73 ff.; Alastair Duke, The Origins of Evangelical Dissent in the Low Countries, 1520-30, in: Reformation and Revolt in the Low Countries, London und Ronceverte 1990, S. 1-28, hier vor allem 15 f.; James D. Tracy, Holland under Habsburg Rule, 1506-1566. The Formation of a Body Politic, Berkeley u.a. 1990, S. 147 ff.; William Monter, Heresy Executions in Reformation Europe, 1520-1565, in: Tolerance and Intolerance in the European Reformation, hg. v. Ole Peter Grell und Robert W. Scribner, Cambridge 1996, S. 48-64, hier S. 52. 4 Lambert (van) Thom. Auch er entschied sich schließlich gegen einen Widerruf, scheint aber nicht hingerichtet worden zu sein. Wahrscheinlicher ist, daß er 1528 im Gefängnis starb. Kalkoff, Gegenreformation, S. 80; Boehmer, Quellenschriften, S. 131. 5 Corpus documentorum Inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae. Verzameling van stukken betreffende de pauselijke en bisschoppelijke Inquisitie in de Nederlanden, hg. v.
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1. Schöne Passionen. Wort und Blut Ihr Sterben erregte Aufsehen und fand vor allem in Flugschriften 6 Verbrei-
tung, die noch im Juli an vielen Orten in Deutschland zu kursieren begannen, ausnahmslos und unmißverständlich zu erkennen gaben, auf welcher Seite ihre Verfasser standen - zwei stammten von Luther selbst - , und publizistisch alles in allem überaus erfolgreich waren. S o brachte es der erste Bericht, der das Ereignis darstellte, in deutscher Sprache und prägnanter Kürze 7 , auf insgesamt 16 Auflagen, die alle 1523 erschienen 8 ; Martin Luthers „Brief an die Christen i m Niederland", Ende Juli oder Anfang August verfaßt 9 und nur wenig umfänglicher 1 0 , auf elf Drucke 1 1 ; und selbst die lateinische und sehr viel ausführlichere „Historia de duobus Augustinensibus, ob evangelii doctrinam exustis Bruxellae" noch auf z w e i 1 2 . Hinzu kamen eine deutsche Übersetzung der „Historia",
Paul Fredericq, Bd. 4: Tijdvak der hervorming in de 16. eeuw (1514-1525), Gent und Den Haag 1900, S. 191 ff. 6 Zur Definition hier nur: Bernd Moeller, Flugschriften der Reformationszeit, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, Berlin und New York 1983, S. 240-246; Wolfgang Hanns, Flugschrift, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, hg. v. Severin Corsten u. a., Bd. 2, Stuttgart 2 1989, S. 623. 7 Je nach Größe der Drucktypen zwischen zwei und vier Blatt in Quart. 8 Da der Verfasser davon ausging, daß jener Mönch, der um Bedenkzeit bat, nur drei Tage nach seinen Mitbrüdern verbrannt wurde, lautet der Titel: „Der actus vnd handlung der degradation vnd verprenung der Christlichen dreyen Ritter vnd merterer Augistiner [sie] Ordens geschehen zu Brüssel", der hier nach der Ausgabe in der „Bibliotheca Reformatoria Neerlandica" zitiert wird. Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, hg. v. Samuel Cramer und Fredrik Pijper, Bd. 8, bearb. v. Fredrik Pijper, Den Haag 1911, S. 13-19. - Eine vollständige Übersicht über die 16 Drucke bietet: Hildegard Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, hg. v. Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981, S. 397^446, hier S. 432-436. - Druckorte waren: Augsburg, Bamberg, Erfurt, Leipzig, Nürnberg, Speyer und Wittenberg. - Einen Teilüberblick ermöglicht: Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Τ. I: Das frühe 16. Jahrhundert (1501-1530), Bd. 1, Tübingen 1991, S. 10-12, Nr. 20-25. 9 WA (im folgenden für: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesam[m]tausgabe [Weimarer Ausgabe], Bd. Iff., Weimar 1883 ff.), Bd. 12, 1891, S. 75; WA, Bd. 35, 1923, S. 93. 10 Zumeist vier Blatt in Quart. 11 Zehn davon in hochdeutscher, einer in niederdeutscher Sprache und ebenfalls alle 1523. WA, Bd. 12, 1891, S. 75-77. - Nachweise: Josef Benzing, Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, Baden-Baden 1966, S. 194 f., Nr. 1658-1668 (vollständig); Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 436f.; Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 376f., Nr. 2368-2371; Bernd Moeller, Inquisition und Martyrium in Flugschriften der frühen Reformation in Deutschland, in: Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert, hg. v. Silvana Seidel Menchi, Wiesbaden 1992, S. 21-^8, hier S. 46. (Zu beachten ist, daß die beiden Wittenberger Ausgaben von Nickel Schirlentz Nachträge umfassen, die in den übrigen Drucken fehlen.) - Druck: WA, Bd. 12, 1891, S. 77-80. - Vgl. darüber hinaus: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 115-137. 12 16 Blatt in Oktav (ein vierseitiger Augenzeugenbericht, eine Epistel, 62 „Articuli asserti per fratrem Henricum" sowie ein sechzehnseitiges Mahnschreiben); beide Drucke 1523. Titel normalisiert. - Druckbeschreibungen und Nachweis: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrer-
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von der allerdings nur eine Auflage erschien 1 3 , s o w i e ein Lied Luthers, das erste, das er überhaupt dichtete: „Ein neues Lied wir heben an" 14 . Etwa zur gleichen Zeit wie sein Trostbrief entstanden 15 und an die Form historischer Ereignisbzw. Erzähllieder anknüpfend 1 6 , ist es als Einzeldruck zwar erst 1530 nachweisbar 1 7 , doch bereits 1524 in das erste Wittenberger Gesangbuch und die Erfurter Enchiridien aufgenommen worden 1 8 . Kurz: Vier oder fünf Flugschriften verbreiteten in wenigen Monaten und mindestens 3 0 Auflagen das Ende von Heinrich Voes und Johann van den Eschen - und man darf schon an dieser Stelle hinzufügen: Sie schufen dabei die ersten Märtyrer der evangelischen Bewegung. D i e ersten Märtyrer blieben nicht die letzten der frühen Reformation. Obwohl im Reich mit Ausnahme der habsburgischen Niederlande 1 9 kaum Inquisi-
flugschriften der Reformationszeit, S. 437 f.; Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, Tübingen 1996, S. 302, Nr. 3834. - Druck: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 33-54. 13 [Martin Reckenhofer] Dye histori, so zwen Augustiner Ordens gemartert seyn tzü Bruxel jn Probant, von wegen des Euangelij [Erfurt: Wolfgang Stürmer 1523]. Titelaufnahme nach: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 65 (hier auch Nachweis). Druck: ebd., S. 66-114. 14 So die erste Zeile, die häufig auch als Liedtitel erscheint. Titel nach WA, Bd. 35, 1923, S. 411: Eynn hübsch Lyed von denn zcweyen Marterern Christi, zu Brüssel von den Sophisten zcu louen verbrandt. - Druck: ebd., S. 411-415; modernisiert: Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge, bearb. v. Markus Jenny, Köln und Wien 1985, S. 217-222. 15 WA, Bd. 35, 1923, S. 93. 16 Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bd. 1: Abhandlung, Baden-Baden 1974, S. 86f.; Martin Rössler, Ein neues Lied wir heben an. Ein Protestsong Martin Luthers, in: Reformation und Praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter zum siebzigsten Geburtstag, hg. v. Hans Martin Müller und Dietrich Rössler, Göttingen 1983, S. 216-232, hier vor allem S. 230f.; vgl. auch Hans-Georg Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts, in: Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. Text-, musik- und theologiegeschichtliche Probleme, hg. v. Alfred Dürr und Walther Killy, Wiesbaden 1986, S. 87-108, hier S. 89. 17 Nürnberg: Georg Wächter. Titelaufnahme und Nachweis: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 439; Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 46. 18 Zehnstrophig in die Enchiridien, zwölfstrophig in das Gesangbuch. Dazu ausführlich: WA, Bd. 35, 1923, S. 5-25, 94. Vgl. zusammenfassend auch Patrice Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung, Stuttgart 1986, S. 75 (mit Anm. 70). 19 Man wird für die habsburgischen Niederlande in den zwanziger Jahren sogar von Inquisitionskampagnen sprechen dürfen, die zwar nicht mehr Hunderte von Ketzem das Leben kosteten wie in manchen Gegenden des Reiches noch im 15. Jahrhundert, die aber deutlich mehr Todesopfer forderten als alle übrigen Ketzerprozesse in Deutschland zu Beginn der Reformation zusammen. Duke, The Face of Popular Religious Dissent, insbesondere S. 66 (mit Anm. 2 und 3); Cornells Augustijn, Die Ketzerverfolgungen in den Niederlanden von 1520 bis 1545, in: Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert, S. 49-63. - Beispiele für Inquisitionskampagnen des 15. Jahrhunderts: Drei Inquisitions-Verfahren aus dem Jahre 1425. Akten der Prozesse gegen die deutschen Hussiten Johannes Drändorf und Peter Tumau sowie gegen Drändorfs Diener Martin Borchard, hg. und erläutert v. Hermann Heim-
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Abb. 2 Wer die 16 Drucke der ersten und erfolgreichsten Rugschrift in den Blick nimmt, die das Sterben von Heinrich Voes und Johann van den Eschen dokumentiert, stößt in einem Fall auf den abgebildeten Titelholzschnitt - und erstaunt. Denn nicht zwei Mönche brennen da, sondern vier. Wie ist diese Differenz zu erklären? Schon eine kurze Durchsicht einschlägiger Flugschriftensammlungen gibt Antwort. Was der Holzschnitt zeigt, ist nicht etwa das Martyrium von Luther-Anhängern, sondern die Hinrichtung jener vier Dominikaner, die seit 1507 in Bern Wunder fingiert hatten, um die Richtigkeit ihrer Lehre von der Empfängnis Marias in der Erbsünde unter Beweis zu stellen, und dafür am 31. Mai 1509 verbrannt worden waren. Der Holzschnitt diente ursprünglich als Titelillustration von Flugschriften über diesen sogenannten , Jetzerhandel". Obwohl die Berner Wunder-Inszenierungen der Reformation als Paradigma für die dubiosen Praktiken des Mönchtums galten, scheint es zumindest den Drucker nicht sonderlich beunruhigt zu haben, betrügerische Dominikaner als aufrechte Martinianer zu präsentieren.
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tionsprozesse gegen Luther-Anhänger stattfanden und auch die Urteile in aller Regel vergleichsweise glimpflich ausfielen 2 0 , lassen sich bis zum Einsetzen der Täuferverfolgungen 1527 noch vier Verfahren nachweisen, die mit dem Tod des Angeklagten endeten und ein reichsweites publizistisches Echo fanden: das g e g e n den Wiener Bürger Kaspar Tauber, den weder Ansehen noch Wohlstand vor der Hinrichtung am 17. September 1524 schützten 2 1 ; das g e g e n den Prediger Heinrich von Zütphen, der w i e Heinrich Voes und Johann van den Eschen M ö n c h des Klosters der Augustiner-Eremiten in Antwerpen g e w e s e n war und am 10. Dezember 1524 in Heide in Dithmarschen auf dem Scheiterhaufen starb 22 ; das gegen den Frühmesser von Sernatingen am Bodensee Johannes Heuglin, der am 10. Mai 1527 in Meersburg verbrannt wurde 2 3 ; und schließlich das Verfahren gegen den Vikar von Weizenkirchen bei Eferding im Innviertel Leonhard Käser, den Herzog Wilhelm IV. von Bayern nach seiner Verurteilung in Passau am 10. Juli 1527 in Schärding hinrichten ließ 2 4 . pel, Göttingen 1969; Dietrich Kurze, Märkische Waldenser und Böhmische Brüder. Zur brandenburgischen Ketzergeschichte und ihrer Nachwirkung im 15. und 16. Jahrhundert, in: Festschrift für Walter Schlesinger, hg. v. Helmut Beumann, Bd. 2, Köln und Wien 1974, S. 456-502; Quellen zur Ketzergeschichte Brandenburgs und Pommerns, hg. v. Dietrich Kurze, Berlin und New York 1975; Ivan Hlaväcek, Zur böhmischen Inquisition und Häresiebekämpfung um das Jahr 1400, in: Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, hg. v. Frantisek Smahel, München 1998, S. 109-131. - Nach Paul Flade, Das römische Inquisitionsverfahren in Deutschland bis zu den Hexenprozessen, Leipzig 1902, S. 116, starben im spätmittelalterlichen Deutschland - ohne Hexen und Hexer! - über 500 Ketzer auf dem Scheiterhaufen. 20 Dazu ausführlich: Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 29 ff., der auch Erklärungsansätze bietet. Allgemeiner: Gregory, Salvation at Stake, S. 90 ff. 21 Hintergründe: Georg Loesche, Kaspar Tauber. Der erste Märtyrer der Reformation in Oesterreich im Rahmen der Märtyrergeschichte des Donaureiches. 117. September 1524, Berlin 1924; Richard Perger, Neues über Caspar Tauber, in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 97 (1981), S. 90-97 (hier auch die übrige ältere Literatur). 22 Zur rechtlichen Problematik dieses Verfahrens: Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 22f.; vgl. auch: Ortwin Rudioff, Häretische Sätze aus den Bremer Predigten Heinrichs von Zütphen. Januar und Februar 1523, in: Hospitium Ecclesiae. Forschungen zur bremischen Kirchengeschichte 15 (1987), S. 71-76, sowie von demselben Verfasser: Quod dictus assertus frater Henricus de ambone publice praedicabat. Zu Heinrich von Zütphens Bremer Predigten im Januar und Februar 1523, in: ebd., S. 77-116. - Heinrich von Zütphen und seine Mission in Dithmarschen: J. Friedrich Iken, Heinrich von Zütphen, Halle 1886; Otto Erhard, Heinrich von Zütphen. Ein Lebensbild, Berlin 1924; Reimer Hansen, Die geschichtliche Bedeutung Heinrichs von Zütphen, des Märtyrers der Reformation in Dithmarschen, in: Dithmarschen. Zeitschrift für Landeskunde und Landschaftspflege NF 1 (1990), S. 1-16; Wolfgang Seegrün, Heinrich von Zütphen - seine Ideen, sein Feuertod und Dithmarschens Weg einer Gemeindereformation, in: Verein für katholische Kirchengeschichte in Hamburg und Schleswig-Holstein e.V. Beiträge und Mitteilungen 3 (1990), S. 105-123. 23 Häufig auch „Hüglin". Ausführlich zu diesem Fall: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 417ff. 24 Die Schreibweise des Namens folgt hier und im folgenden Käsers eigener Unterschrift. Zum Fall selbst: Wilhelm Sebastian Schmerl, Leonhard Kaiser, ein Blutzeuge für Gottes Wort und Luthers Lehre, Berlin 1924; Friedrich Leeb, Leonhard Käser (t 1527). Ein Beitrag
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Wie schon nach den Ereignissen in Brüssel waren es in erster Linie Flugschriften, die über Prozeß und Sterben der vier Luther-Anhänger berichteten; und obwohl keine von ihnen mehr über zehn Auflagen kam, blieb ihr publizistischer Erfolg doch beträchtlich. So kursierten fünf Flugschriften über den Fall Kaspar Tauber, eine davon in sieben Auflagen 25 ; vier Flugschriften über den Fall Heinrich von Zütphen, auch hier eine in sieben Auflagen 26 ; zwei über den Fall Johannes Heuglin, davon eine in immerhin vier Auflagen 27 ; und schließlich drei über den Fall Leonhard Käser, von denen eine neun Auflagen erreichte28. Alles in allem sind 14 Flugschriften in 42 Auflagen über die vier Fälle nachzuweisen, wobei auffallt, daß sich unter jenen sechs Flugschriften, die ohne Nachdruck blieben, nicht nur der einzige Bericht in lateinischer Sprache findet29, sondern auch die beiden „Gegenschriften" katholischer Herkunft^. zur bayerischen Reformationsgeschichte (mit einem Anhang von Friedrich Zoepfl), Münster 1928; Alfred Eckert, Leonhard Keysser (Käser) in neuer Betrachtung, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde NF 7 (1964/1965), S. 301-309; Brigitte K a f f , Volksreligion und Landeskirche. Die evangelische Bewegung im bayerischen Teil der Diözese Passau, München 1977, S. 15ff.; Friedrich Hausmann, Leonhard Käser. Ein oberösterreichischer Blutzeuge für Martin Luther, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 14 (1984), S. 47-76. 25 Alle sieben Auflagen 1524. - Übersichten: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 439-443 (mit Nachweisen); Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 46 f. 26 Alle Flugschriften und Nachdrucke 1525. Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 47. 27 Alle Flugschriften und Nachdrucke 1527. - Übersichten: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 444-446 (mit Nachweisen); Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 47. 28 Alle neun Auflagen 1527. Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 47f. 29 Die „Sententia lata contra Casparü Thauber" [Wien: Johann Singriener 1524], Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 459, Nr. 4193 f. Zum größeren publizistischen Erfolg deutschsprachiger Flugschriften in der frühen Reformation vgl. an dieser Stelle nur die Entwicklungsphasen der Luther-Rezeption: Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: ZHF 15 (1988), S. 65-92, hier vor allem S. 86 f. - Zusammenfassend: ders., Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Berndt Hamm u. a., Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 9-29, hier S. 15 f. 30 Die „Warhafft verantwurttung" von Peter Speyser und Christoph Goiter [Tübingen: Ulrich Morhart d.Ä. 1527?], die im Fall Johannes Heuglin Stellung bezog (Nachweis: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 446; Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 487, Nr. 4260), sowie die „warhafftige handlung" von Johannes Eck [Ingolstadt: Peter und Georg Apianus 1527], die dem Verfahren gegen Leonhard Käser galt. Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 371 f., Nr. 863f.; vgl. auch Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 48. Angesichts der gängigen Auffassung, daß es in der frühen Reformation „kein Anzeichen für eine breitere Popularität antilutherischer Positionen" gebe, ist auch dieser Befund alles andere als überraschend. Bernd Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Hartmut Boockmann, Göttingen 1994, S. 148-164, hier S. 160.
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Obwohl in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts in Deutschland auch Flugschriften Verbreitung fanden, die auf die Ermordung von Sympathisanten der evangelischen Bewegung reagierten - wie zum Beispiel im Fall des Kemptener Predigers Matthias Waibel, der am 7. September 1525 ohne Prozeß erhängt wurde31 - , und obwohl auch nach 1527 noch Inquisitionsprozesse gegen Luther-Anhänger stattfanden, die tödlich endeten und Aufsehen erregten, allen voran jene gegen Adolf Ciarenbach und Peter Fliesteden 1528-1529 in Köln 32 , 31
Ain new lied von dem bewainlichen tode Mathias Waibels. Druck: Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd. 3, Hildesheim 1964 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1870), Nr. 495, S. 433-436. Vgl. darüber hinaus: Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bd. 1,S. 108 f. sowie Bd. 2: Katalog der Liedflugblätter des 15. und 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 1975, S. 45, Nr. 111.- Ausführlich zu diesem Fall: Otto Erhard, Der Bauernkrieg in der gefürsteten Grafschaft Kempten, Kempten und München 1908, S. 78 ff.; ders., Matthias Weibel, Berlin 1925; Justus Maurer, Prediger im Bauernkrieg, Stuttgart 1979, S. 384ff., 580f. - Weitere Mordfälle - u. a. die rätselhafte Ermordung des Hallenser Predigers Georg Winkler am 23. April 1527, der Luther eine Flugschrift widmete (WA, Bd. 23, 1901, S. 403 - 431) - bei Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 24, 30. - Zwei spätere Beispiele für Flugschriften, die Morde an Luther-Anhängern dokumentieren: Der Gloub vn leer / ouch läben vnnd tod des hochgeleerte gottfäligen Doctor Johann Dietzen [Zürich: Christoph Froschauer d.Ä. 1546]. Nachweis: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16), hg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, I. Abt., Bd. 5, Stuttgart 1985, S. 322, D 1379; Microfiche-Edition: Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Serie III (1992), Nr. 730-1084, hg. v. Hans-Joachim Köhler, Leiden 1992, S. 11, Nr. 838. - Enturlaubung / Hinfürung vnd errettung des Ehrwürdigen vnd Hochgelehrten Herrn / Georgij Müller [Augsburg?: ohne Drucker 1585]. Nachweis: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke, I. Abt., Bd. 6, Stuttgart 1986, S. 41, Ε 1381; Microfiche-Edition: Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Serie III (1992), S. 15 f., Nr. 917. - Die Titelaufnahme von Flugschriften, die nicht ediert vorliegen, folgt hier und im folgenden: Christoph Weismann, Die Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie von Druckschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, S. 447-614, hier vor allem S. 539 ff. 32
Die gemeinsame Hinrichtung folgte am 28. September 1529. Alle Acta Adolphi Clarenbach [Straßburg: Jacob Cammerlander 1531?]. Nachweis: Michael A. Pegg, A Catalogue of German Reformation Pamphlets (1516-1550) in Swiss Libraries, Baden-Baden 1983, S. 926, Nr. 915; Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, I. Abt., Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 265, A 1885. - [Theodor Fabritius] Warhafftige Historia von dem wolgelarten vnd bestendigen mennem / Adolpho Ciarenbach / vnd Petra Fleisteden [Wittenberg: Georg Rhau 1560]. Nachweis: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, I. Abt., Bd. 6, S. 593, F 497. Wilhelm Rotscheidt, Ein Martyrium in Köln im Jahre 1529, Köln 1904; Heinrich Forsthoff, Rheinische Kirchen-Geschichte, Bd. 1: Die Reformation am Niederrhein, Essen 1929, S. 59ff.; J. F. Gerhard Goeters u.a., Bekenner und Zeugen. Zum Gedenken an den 450. Todestag der Märtyrer Adolf Ciarenbach und Peter Fliesteden, Düsseldorf 1979. - Das nächste Verfahren war das gegen Wilhelm von Zwolle (Willem van Zwolle), der am 20. Oktober 1529 in Mecheln (Mechelen) auf dem Scheiterhaufen endete. Ein Jahr später brachte kein Geringerer als Johannes Bugenhagen das Bekenntnis, das der Niederländer im Gefängnis
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konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die genannten fünf Verfahren und ihre Überlieferung - und das heißt: auf 19 Flugschriften in 73 A u f lagen 3 3 . Denn zum einen steht außer Frage, daß die Dramaturgie dieser Verfahren all jenen, die da beobachteten, aufschrieben und erzählten, literarische Strategien und Darstellungstechniken nahelegte, die es erlauben, Prinzipien und Komponenten der Konstruktion frühreformatorischer Märtyrer sehr viel genauer zu erfassen, als das in Fällen ohne ritualisierte Handlungsabläufe - also ohne ausgeprägte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungsvorgaben
-
möglich wäre 3 4 . Und zum anderen ist festzuhalten, daß sich das Jahr 1527 schon deshalb als Zäsur anbietet, weil es mit d e m Beginn der Täuferverfolgungen zugleich markiert, was man das Ende der „reformatorischen B e w e g u n g " nennen könnte 3 5 , die durch eine „evangelische Engführung" charakterisiert war 3 6 und spätestens jetzt in eine „Vielzahl reformatorischer B e w e g u n g e n " zu zerfallen begann 3 7 . Eine Beobachtung, die auch dadurch bestätigt wird, daß zwischen der Hinrichtung Leonhard Käsers und dem Abschluß der nächsten Inquisitionsverfahren gegen Luther-Anhänger, der bereits erwähnten Verfahren gegen Adolf Ciarenbach und Peter Fliesteden, über zwei Jahre lagen 3 8 .
abgelegt hatte, zum Druck: Artickel der Doctorn von Louen, zu welchen, Wilhelm von Zwollen, Königs Christiernen Forirer, Christlich hat geantwort. Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 151-176. 33 Folgt man der Buch- und Flugschriftenforschung, entspricht diese Auflagenzahl etwa 70000 Exemplaren. Vgl. dazu hier nur zusammenfassend: Mark U. Edwards, Statistics on Sixteenth-Century Printing, in: The Process of Change in Early Modem Europe. Essays in Honor of Miriam Usher Chrisman, hg. v. Phillip N. Bepp und Sherrin Marshall, Athens 1988, S. 149-163. 34 Dazu grundlegend: Hubert Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus als Ereignis und Erzählung. Zur Wirklichkeitserfahrung und Hermeneutik des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. v. Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 114-146; sowie: David Nicholls, The Theatre of Martyrdom in the French Reformation, in: Ρ & Ρ 121 (1988), S. 49-73. 35 In diesem Sinne schon Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 45 - oder auch aus anderer Perspektive: Heinz Schilling, Alternative Konzepte der Reformation und Zwang zur lutherischen Identität. Möglichkeiten und Grenzen religiöser und gesellschaftlicher Differenzierung zu Beginn der Neuzeit, in: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Günter Vogler, Weimar 1994, S. 277-308, hier etwa S. 289. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Die frühe Reformation als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, hg. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1998. 36 Moeller, Die Rezeption Luthers, S. 21 (Anm. 22). 37 Konturiert: Hans-Jürgen Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517-1529, München 1997, S. 15 und passim; vorsichtiger: Moeller, Die Rezeption Luthers, S. 21 f. 38 Hinzuweisen ist dabei allerdings auch darauf, daß die Verfahren gegen Ciarenbach und Fliesteden die letzten Inquisitionsprozesse gewesen zu sein scheinen, die im Reich - mit Ausnahme der habsburgischen Niederlande - bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gegen
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Abb. 3 Hinrichtung des Schuhmachers, Zwingli-Anhängers und Ikonoklasten Klaus Hottinger 1524 in Luzern. Aquarellierte Federzeichnung (8,5 cm χ 15 cm) aus der 1605/1606 entstandenen Abschrift der Reformationschronik Heinrich Bullingers. Zentralbibliothek Zürich. Handschriftenabteilung, Ms. Β 316, Bl. 116v.
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1. Schöne Passionen. Wort und Blut Obwohl sich das Quellencorpus dieses Kapitels angesichts des Gesamtbe-
standes an
frühreformatorischen
Flugschriften eher bescheiden ausnimmt 3 9 ,
und obwohl selbst thematisch verwandte Flugschriftengruppen deutlich umfänglicher zu sein scheinen, wie zum Beispiel die Gruppe jener „Märtyrerschriften", die in den ersten Jahren der Reformation das Sterben des Jan Hus vergegenwärtigten 4 0 , besteht doch Einigkeit darüber, daß dieses Corpus in besonderer Weise dazu geeignet ist, kollektive Selbstbilder der frühen Reformation zu rekonstruieren 41 . S o hat Hildegard Hebenstreit-Wilfert schon 1981 in einer ersten Annäherung an die Inhaltsstrukturen und Erzählformen von Märtyrerflugschriften die Modellfunktion hervorgehoben, die den ersten Märtyrern
„Lutheraner" geführt wurden, für die diese Bezeichnung noch uneingeschränkt zutrifft. Dazu mehr in den Kapiteln 2 und 3. - Völlig unberücksichtigt bleiben im folgenden Prozesse gegen Sympathisanten der Reformation in der Schweiz, wie zum Beispiel jene gegen den Schuhmacher und Ikonoklasten Klaus Hottinger, der 1524 in Luzern hingerichtet wurde. Burschel, Grenzgang als Entzauberung. - Vgl. auch den Fall des Papiermachers Hans Sigmund von Aug, der bereits 1523 in Ensisheim im Elsaß als „Märtyrer" starb. Hans B. Käliti, Hans Sigmund von Aug. Basler Papierer und erster Märtyrer der Basier Reformation, in: Yearbook of Paper History 3 (1982), S. 27-45. 39 Hans-Joachim Köhler geht davon aus, daß im deutschen Sprachgebiet zwischen 1501 und 1530 etwa zehn Millionen Flugschriftenexemplare verbreitet worden sind: Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Martin Luther. Probleme seiner Zeit, hg. v. Volker Press und Dieter Stievermann, Stuttgart 1986, S. 244-281, hier S. 249 f. 40 Siegfried Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten Jahrzehnts der Reformation, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, S. 291-307, hier etwa 306; instruktiv in diesem Zusammenhang auch: Robert Kolb, "Saint John Hus" and "Jerome Savonarola, Confessor of God" . The Lutheran "Canonization" of Late Medieval Martyrs, in: Concordia Journal 17 (1991), S. 404—418. - Kaum weniger Verbreitung scheint das Martyrium des Hieronymus von Prag gefunden zu haben, der ein knappes Jahr nach Hus in Konstanz verbrannt wurde. Hinzuweisen ist dabei vor allem auf einen Augenzeugenbericht Giovanni Francesco Poggio Bracciolinis, der spätestens seit Beginn der Reformation auch in deutscher Übersetzung kursierte. Hier nur zwei Ausgaben: Eyn sendt brieff wie Hieronimus eyn Junger Joannis huß Jm concilio czu Costentz für ein ketzer vorbrandt" (o.O. o.Dr. o.J.) sowie: Wie Hieronymus von Prag ain anhänger Johannis Huß durch das conciliü zu Costentz fur ain ketzer verurtailt vn veipränt worden ist (o.O. o.Dr. o.J.). Nachweise: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 273f., Nr. 3767-3769; Microfiche-Edition: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, hg. v. HansJoachim Köhler u.a., Bd. 6 (Microfiche Serie 1983. Register), Zug 1983, S. 38f., Nr. 2511 und Nr. 2619. - Hintergründe: Renee Neu Watkins, The Death of Jerome of Prague: Divergent Views, in: Speculum 42 (1967), S. 104-129. - Vgl. darüber hinaus auch ein Corpus, das Flugschriften umfaßt, in denen sich evangelische Prediger an Gemeinden wenden, die sie hatten verlassen müssen: Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Flugschriften evangelischer Prediger an eine frühere Gemeinde, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 186-206. 41 So ist es denn auch keineswegs erstaunlich, daß in einer jüngst erschienenen Auswahl von Flugschriften der Reformationszeit nicht weniger als sechs Märtyrerflugschriften abgedruckt sind: Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526-1535), Bd. 2, hg. v. Adolf Laube, Berlin 1992.
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Abb. 4 Wohl keine andere frühreformatorische Flugschrift, die das Leiden und Sterben des Jan Hus verbreitete, inszeniert seinen Tod so sinnfällig als eschatologisches Drama wie der anonyme „PROCESSVS CONSISTORIALIS Martyrij 10. HVSS" von 1524, dem ein Jahr später auch eine deutsche Ausgabe folgte, die wie der „Processus" bei Johann Schott in Straßburg erschien: „Geistlicher Bluthandel Johannis Hussz / zu Costentz verbrannt Anno Domini M.CCCC.xv. am sechsten tag Julij" (beide ο. O. o. Dr. o. J.). Der abgebildete Holzschnitt, der die lateinische wie die deutsche Fassung beschließt (Bl. d ijr bzw. Bl. d r ), zeigt, wie die Seele des im Feuer betenden tschechischen Reformators von einem Engel in den Himmel aufgenommen wird. - Nachweise: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 530f., Nr. 1242; Bd. 3, S. 286, Nr. 3800; Microfiche-Edition: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, hg. v. Hans-Joachim Köhler u.a., Bd. 2 (Microfiche Serie 1979. Register), Zug 1979, S. 31, Nr. 973; Bd. 6 (Microfiche Serie 1983. Register), Zug 1983, S. 19, Nr. 2971.
der Reformation als kollektiven Toten zukomme 4 2 . Und Bernd Moeller hat 1992 sogar die These vertreten, die frühreformatorischen Flugschriften, die Martyrien dokumentieren und die er als „Märtyrerakten" bezeichnet 4 3 , seien nicht nur wichtige Katalysatoren im Prozeß der Entstehung einer reformatorischer Öffentlichkeit g e w e s e n 4 4 , sondern auch „Hauptfaktoren der konfessionellen Scheidung" 4 5 . In anderen Worten: Wer nach den sinn- und konsensstiftenden Funktionen der Darstellung und Verbreitung frühneuzeitlicher Marty42
Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, zusammenfassend S. 427. 43 Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 33. 44 Ebd., S. 21 und passim. 45 Ebd., S. 45.
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rien fragt, und das bedeutet hier ja immer auch nach der Genese konfessioneller Identität i m Medium der Konstruktion konfessioneller Alterität, scheint in den 19 ermittelten Flugschriften und ihren Nachdrucken, die zwischen 1523 und 1527 das Ende von sechs Luther-Anhängern verbreiteten, auf seine Kosten k o m m e n zu können. Schon ein kurzer Blick in die benannten Flugschriften läßt keinen Zweifel daran, daß es vor allem zwei Aspekte lohnend erscheinen lassen, hier nach Antworten auf die Ausgangsfragen der vorliegenden Studien zu suchen, Aspekte, die zwar auch in früheren Annäherungen schon Beachtung fanden, dort aber nicht systematisch und vergleichend in ein übergreifend ausgerichtetes Konzept eingebunden wurden 4 6 : (1.) die Zeiterfahrungen und Zeitdeutungen, die den Märtyrerflugschriften eingeschrieben sind 4 7 ; und (2.) die Dramaturgie der Ereignisse, über die sie berichten, das Martyrium als Ritual und Inszenierung 4 8 , als jenes „Theater des Schreckens" 4 9 , das nicht zuletzt deshalb Aufmerksamkeit verdient, weil es den Blick auf die Kompositionsprinzipien freigibt, denen die Darstellung der Protagonisten folgt 5 0 . Als Martin Luther wenige Wochen nach dem Tod von Heinrich Voes und Johann van den Eschen seinen „Brief an die Christen im Niederland" verfaßte, ließ er keinen Z w e i f e l daran, w i e die Ereignisse in Brüssel zu verstehen seien: „LOb und danck sey dem vatter aller barmhertzickeyt, der uns zu dißer zeyt widderumb sehen lesst seyn wunderbare liecht, wilchs bis her umb unser sund willen verborgen gewest, uns der grewlichen gewallt der finstemis hat lassen unterworffen seyn und so schmelichen yrren und dem Antichrist dienen. Aber nu ist die zeyt widder komen, das wir der dordel tauben stym hören und die blumen auffgehen ynn unserm land. Wilcher freud, meyn liebsten, yhr nicht alleyne teylhafftig, sondern die furnemsten worden seyt, an wilchen wyr solche freude und wonne erlebt haben. Denn euch ists fur aller wellt geben, das Evangeli nicht alleyne zu hören und Christum zurkennen, sondern auch die ersten zu seyn, die umb Christus willen itzt schand und schaden, angst und nott, gefengnis und ferlickeyt leyden, und nu so voller frücht und sterck worden, das yhrs auch mit eygenem blutt begossen und bekrefftigt habt, da bey euch die zwey edle kleynod Christi, Hinricus und Johannes zu Brüssel yhr leben 46
So ging es etwa Hildegard Hebenstreit-Wilfert zuerst einmal um eine Bestandsaufnahme und das „genaue Nachzeichnen der Märtyrerdarstellungen". Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 397. 47 Zum Begriff der „Zeiterfahrung" an der Schwelle zur frühen Neuzeit: Klaus Schreiner, „Diversitas Temporum". Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwellen und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 381^128. 48 Allgemein zur Inszenierung frühneuzeitlicher Exekutionen hier nur: Pieter Spierenburg, The Spectacle of Suffering. Executions and the Evolution of Repression: From a Preindustrial Metropolis to the European Experience, Cambridge u.a. 1984. 49 Bezeichnung nach Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985. - Vgl. auch Nicholls, The Theatre of Martyrdom. 50 Dazu methodisch wegweisend: Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus, dessen erkenntnistheoretisch grundierten Ansatz Gregory, Salvation at Stake, S. 16ff., in seinen methodischen Überlegungen völlig außer Acht läßt.
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geringe geacht haben, auff das Christus mit seinem wortt gepreyßet wurde. Ο wie verächtlich sint die zwo seelen hyngericht. Aber wie herlich und ynn ewiger freuden werden sie mit Christo widder komen und recht richten die ienigen, von den sie itzt mit unrecht gericht sind. Ach wie gar eyn geringe ding ists, von der wellt geschendet und getodtet werden denen, so do wissen, das yhr blut kostlich und yhr todt theur ist fur gottis äugen, wie die psalmen singen. Was ist die weit gegen gott? [...] Gott gelobt und in ewikeyt gebenedeyet, das wyr erlebt haben, rechte heyligen und warhafftige merterer zu sehen und zu hören, die wyr bißher so viel falscher heyligen erhebt und angebetet haben. Wyr hieroben sind noch bißher nicht wirdig geweßen, Christo eyn solchs theures werdes opffer zu werden, wie wol unser gelider viel nicht on Verfolgung gewesen und noch sind. Darumb ... seyt getrost und frolich ynn Christo, und last uns dancken seynen grossen zeichen und wundern, so er angefangen hat unter uns zu thun. Er hat uns da frissch newe exempel seyns lebens fur gebildet. Nu ists zeyt, das das reych gotts nicht ynn wortten sondern ynn der krafft stehe." 51
Versucht man, Luthers Wahrnehmungs- und Deutungsangebot zusammenzufassen, ergibt sich ein eschatologisch grundiertes Interpretationsmuster, das erheblich zum Publikumserfolg der Trostschrift beigetragen haben dürfte: Heinrich Voes und Johann van den Eschen sterben auf dem Scheiterhaufen. Die Inquisition scheint zu triumphieren. Gott aber hat die Geschichte nicht sich selbst überlassen. Im Gegenteil, er offenbart sich im Sterben der beiden Mönche, um die Gegenwart als Anbrach der letzten Zeit auszuzeichnen, die als Zeit der Prüfungen auch eine Zeit der Hoffnung und der Gnade ist. Denn es ist sein Wort, das wieder gepredigt wird und das Heinrich Voes und Johann van den Eschen als gegenwärtige Exempel des Lebens Christi mit ihrem Blutopfer beglaubigen. Mehr noch: Wer die Zeichen der Zeit zu deuten weiß, kann sicher sein, daß die Ereignisse in Brüssel - und das heißt auch: die eigenen Leidenserfahrungen in einer Welt voller Angst, Trübsal und Verfolgung - eine Heilsgeschichte verifizieren, an deren Ende jene, die heute Unrecht erleiden, Richter sein werden. Grund genug also, zuversichtlich zu sein und Gott zu danken, wie Luther dann in den Strophen 10 und 12 seines Liedes über die Märtyrer von Brüssel noch einmal in Erinnerung ruft und auch dabei wieder (man wird sagen dürfen: virtuos) auf die tradierten Bestände eschatologischer Bilder zurückgreift52: „Die aschen will nicht lassen ab, sie steubt ynn allen landen, Die 53 hilfft keyn bach, loch, grub noch grab, sie macht den feynd zu schänden. Die er ym leben durch den mord zu schweygen hat gedrungen, Die mus er tod an allem ort
51
WA, Bd. 12, 1891, S. 77 f. Zur Einordnung: Erhard Kunz, Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung, Freiburg i. Br. u. a. 1980, vor allem S. 3ff., und: Robin Bruce Barnes, Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988. 53 Später: „hie" (Anmerkung des Verfassers). 52
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1. Schöne Passionen. Wort und Blut mit aller stym und zungen Gar frolich lassen singen. Dye laß man lyegen ymmer hyn, sie habens kleynen frommen. Wyr sollen dancken Gott daryn, seyn wort ist wyder kommen, der Sommer ist hardt fur der thur, der Wynter ist vergangen, die zarten blumen gehen herfur, der das hat angefangen, der wirdt es woll volenden." 54
Wie Luther, der auch in seinen späteren Märtyrerflugschriften das Sterben von Heinrich von Zütphen 5 5 und Leonhard Käser 5 6 eschatologisch deutete und entsprechend zu dramatisieren wußte 5 7 , so seine Anhänger. Der anonyme Verfasser des Vorworts zur „WArhafft Hystori von dem frommen zügen vnd martrer Johänes hüglin von Lindow" zum Beispiel 5 8 ruft es angesichts der Exempel der „fromen ritter Gottes" geradezu heraus: „die zeyt ist hie / diß ist jr stund" „eüer erlosung ist and thür" 59 . Kaum weniger eindringlich versichert der ebenfalls anonyme Verfasser der „warhaftig geschieht des leydens vnd sterbens Lienhart Keysers seligen" 6 0 sein Publikum, daß die Märtyrer der evangelischen B e w e g u n g den Anbrach der letzten Zeit bezeugen, die eine „gnadenreiche zeit" sei, „darin vns Got gnedigklich durch sein heyliges gottliches wort heimgesucht hat" 61 , eine Zeit der „schönen Passionen", des gottgefälligen Leidens also, der „schönen Tode" und „schönen Toten" 6 2 , w i e es in anderen Mär-
54
WA, Bd. 35, 1923, S.414f. Von Bruder Henrico in Ditmar verbrannt samt dem zehnten Psalmen ausgelegt (1525). Druck: WA, Bd. 18,1908, S. 224-250. 56 Von Er Lenhard keiser ynn Beyern, umb des Euangelii willen verbrandt, Eine selige geschieht (1528). Druck: WA, Bd. 23, 1901, S. 452-176. 57 Vgl. zusammenfassend: Robert Kolb, God's Gift of Martyrdom: The Early Reformation Understanding of Dying for the Faith, in: ChurchH 64(1995), S. 399^111 - und in größerem Zusammenhang: Bernd Moeller und Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529, Göttingen 1996, S. 306 und passim. 58 Möglicherweise Ambrosius Blarer. Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 444 (mit Nachweis der Flugschrift). - Abdruck der Ausgabe Konstanz: Johann Schäffler 1527 - sprachlich modernisiert: Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, S. 1531-1542. 59 WArhafft Hystori, Bl. A l v . 60 Nachweise: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 51-53, Nr. 1583-1586; vgl. auch Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 47 f. - Abdruck der Ausgabe Nürnberg: Friedrich Peypus 1527: Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, S. 1509-1514. 61 Das warhaftig geschieht, Bl. A l v . 62 Zum Begriff des „schönen Todes", des „schönen Toten" im späten Mittelalter: Valentin Groebner, „Abbild" und „Marter". Das Bild des Gekreuzigten und die städtische Strafge55
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Abb. 5 Die ersten Strophen von Martin Luthers Lied über die Märtyrer von Brüssel, wie sie das geistliche Handbuch Friedrich Kasimirs von Pfalz-Zweibrücken-Landsberg präsentiert, das seit 1608 entstand. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5277. - Nachweis: Die deutschen Handschriften der bayerischen Staatsbibliothek München. Die neuzeitlichen Handschriften Cgm 5155-5500, beschrieben v. Dieter Kudorfer, Wiesbaden 2000, S. 59.
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tyrerflugschriften i m m e r w i e d e r heißt 6 3 . D e n n e s ist das Blut der Märtyrer Christi 6 4 , mit d e m Gott sein Wort versiegelt, das Papsttum ersäuft 6 5 und zug l e i c h den B o d e n düngt, damit er Christen hervorbringt 6 6 . Nur konsequent also, w e n n Martin R e c k e n h o f e r den Titel seiner Übersetzung der „Historia d e duobus Augustinensibus" mit „Frew dich s e l i g e Germania" schließt 6 7 . D i e g e s c h i c h t s t h e o l o g i s c h e D e u t u n g der e i g e n e n G e g e n w a r t als A n b r a c h der letzten Zeit geht in den untersuchten Märtyrerflugschriften e v a n g e l i s c h e r Herkunft mit der Vorstellung einher, daß die Martyrien der Luther-Anhänger sichere Z e i c h e n für „das grausam furnemen des Entchrists wider got" s e i e n 6 8 . D e r „Endchrist" aber, der „Widerchrist" 6 9 , der „Antichrist" 7 0 ist der Papst 7 1 ,
wait, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600, hg. v. Bernhard Jussen und Craig Koslofsky, Göttingen 1999, S. 209-238, hier S. 222f. 63 So auch in Martin Luthers Trostschrift an seine Anhänger in Bremen nach der Hinrichtung Heinrichs von Zütphen: WA, Bd. 18, 1908, S. 224 und passim. - Instruktiv ist in diesem Zusammenhang darüber hinaus ein Blick in die zahlreichen „Passionen" Martin Luthers. Beispiele in: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 20-22, Nr. 3203-3208; Microfiche-Edition: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, hg. v. Hans-Joachim Köhler u. a„ Bd. 7 (Microfiche Serie 1984. Register), Zug 1984, S. 36, Nr. 3043 und Nr. 3220; Bd. 9 (Microfiche Serie 1986. Register), Zug 1986, S. 40, Nr. 4061. - Vgl. auch Johannes Schilling, Passio Doctoris Martini Lutheri, Gütersloh 1989. 64 Diese Bezeichnung („selig marterer Jesu Christi") nach der „warhaftig geschieht des leydens vnd sterbens Lienhart Keysers", die aber auch von „Exempeln der Apostel Christi" spricht. 65 Bilder, die sich in fast allen untersuchten Märtyrerflugschriften reformatorischer Provenienz finden. 66 So heißt es zum Beispiel in Johann Lang(e)s „Historie odder geschieht wie eyn Christlicher Euangelischer prediger von wegen des Euägelions / gemartert vnnd getödtet worden ist im Land Dittmars": „Gottes wort bleybe in ewigkeit / wen auch alle teuffeie dawidder stehen. Mit disem blut hat got das Dittmars land gethunget / das es vil Christe tragen wirt" (Bl. A 4 r ). Nachweis der Flugschrift: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 287, Nr. 2142; vgl. auch Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 47. 67 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 65. 68 So Martin Reckenhofer in seiner „histori, so zwen Augustiner Ordens gemartert seyn tzü Bruxel". Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 66. 69 Eine Bezeichnung, die sich in den Märtyrerflugschriften alles in allem etwa ebenso häufig findet wie „Endchrist". - Vgl. auch die Nachweise bei Moeller und Stackmann, Städtische Predigt, S. 303 f. 70 „Antichrist" insbesondere bei Luther - so etwa in seinem „Brief an die Christen im Niederland": WA, Bd. 12, 1891, S. 77. 71 Beispiele: [Jacob Probst] Ain erschrockliche geschieht wie etliche Ditmarschen den Christlichen prediger Haynrich von Zutfeld newlich so jemerlich vmb gebracht haben, Bl. A 2' und passim [Augsburg: Heinrich Steiner 1525] (Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 287f., Nr. 3803f.) sowie: Das warhaftig geschieht, passim. - Zusammenfassend zum Prozeß der Gleichsetzung von Papst und Antichrist: Gottfried Seebaß, Antichrist IV: Reformations- und Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 3, Berlin und New York 1978, S. 2 8 ^ 3 , hier S. 28 ff. - Ausführlich zum Papst als Antichrist: Hans Preuß, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur
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und alle, die in seinem Namen verleumden, verfolgen und richten, gehören zu seinem Reich: „... sie aber erkennet / als die / zu dem Reich des widerchrists gehören / ja selbs der widerchrist sein. Sie sein auß dem Teuffei / darumb sie jres vaters werck vnauff horlich volbringe müssen"72. Trotz ihrer Präsenz aber, ihrer Stärke und Macht gilt einmal mehr: „Das wort wirt durch jr toben bestetiget"73. Denn: „Christus hat die weit vberwunden / Vnd weyl wir / die in jn glauben / all sein leyb sein / vfi er vnser haubt ist / haben wir schon mit vnd in jm / sündt / todt / teüffel / vn hell vberwunden / Darumb laßt sie herein draben sie mügen vns nit schaden / sunder mit jrer verdamnuß bringen die eilenden leut vns nutz"74. Die Gleichsetzung des Papsttums mit dem Antichristen und seinem höllischen Personal korrespondiert also mit der Gewißheit, daß die evangelische Bewegung auf der Seite Gottes steht, denn er allein ist es, dem sie das Heil zuschreibt75. Ihre Blutzeugen sind damit Märtyrer Christi - und nicht etwa Märtyrer des Teufels, wie Thomas Murner schon 1520 behauptet hatte76 und Johann Eck sieben Jahre später nach der Verbrennung Leonhard Käsers noch einmal mit großem Nachdruck in seiner „warhafftigen handlung" hervorhob 77 . Versucht man zusammenzufassen und dabei vor allem die sinn- und konsensstiftenden Funktionen der Zeiterfahrungen und Zeitdeutungen in den untersuchten Märtyrerflugschriften freizulegen, so fällt zuerst einmal auf, daß die
Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Leipzig 1906, insbesondere S. 83 ff.; vor allem aber: Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford 2 1994, S. 148 ff. - Vgl. darüber hinaus: Gosbert Schüssler, Studien zur Ikonographie des Antichrist, Diss. Phil. Heidelberg, München 1975, S. 395 und passim; sowie: Richard Kenneth Emmerson, Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art, and Literature, Seattle 1981, S. 206 ff. 72 Eyn warhafftig geschieht wie Caspar Tawber / Burger zü Wien in Osterreich für ein Ketzer / vnnd zu dem todt verurtaylt vnd auß gefurt worden ist, Bl. C 2 r (insgesamt sieben Drucke). Nachweis: Hebenstreit- Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 439-442; Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, I. Abt., Bd. 21, Stuttgart 1994, S. 511, W 293-295. 73 Eyn warhafftig geschieht, Bl. C 2r. - Vgl. auch Luthers „Brief an die Christen im Niederland". WA, Bd. 12, 1891, S. 79. 74 Eyn warhafftig geschieht, Bl. C 2r. 75 Dazu hier auch: Moeller und Stackmann, Städtische Predigt, S. 307. 76 In seiner Flugschrift „Von Doktor Martin Luthers Lehren und Predigen" mit Blick auf Jan Hus und Hieronymus von Prag. Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 114f., Nr. 3415. Druck: Flugschriften gegen die Reformation (1518-1524), hg. und bearb. v. Adolf Laube, Berlin 1997, S. 142-164, hier S. 153. 77 warhafftige handlung / wei (!) es mit herr Lenhart Käser zu Schärding verbrent / ergangen ist: Wider ain falsch / erdicht vnnd erlogen büchlin vormals dar von / on namen des dichters außgangen [Ingolstadt: Peter und Georg Apianus 1527]. Nachweis wie Anm. 30 dieses Kapitels. - Grundlegend zur Unterscheidungsproblematik von „Märtyrern Christi" und „Märtyrern des Teufels", von „wahren" und „falschen" Märtyrern und zu den einschlägigen zeitgenössischen Diskursen: Gregory, Salvation at Stake, S. 315 ff. („The Conflict of Interpretations").
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Deutung der eigenen Gegenwart als Schlußakt eines eschatologischen Dramas - wie auch in den frühreformatorischen Predigten78 und Flugblättern79 - eng an die antithetische Vorstellung gebunden ist, einer teuflischen Macht gegenüberzustehen, die alles unternimmt, um die evangelische Wahrheit zu vernichten, und deshalb nur als Antichrist identifiziert werden kann80. Mit dieser Identifizierung aber knüpfen die Märtyrerflugschriften an ein kulturelles Wissen an, das mit dem Antichristen gemäß 1. Joh. 2, 18 die Endzeit verbinden mußte: „Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, daß der Antichrist kommt; jetzt sind tatsächlich viele Antichriste gekommen, und daran erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist"81. Indem die Flugschriften das Papsttum mit dem Antichristen gleichsetzen, qualifizieren sie die Gegenwart als letzte Zeit, was die biblische bzw. mythologische Verortung des Papstes und seiner Helfershelfer zu einem Mittel der Zeitdiagnose werden läßt82. Gleichzeitig konstituieren sie auf diese Weise ein Deutungsmuster, das es ihrem Publikum erlaubt, das Leiden der Inquisitionsopfer als „sinn-voll" zu erfahren, ja, das eigene Leiden als apokalyptisches Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu verste-
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Nachdrücklich: Moeller und Stackmann, Städtische Predigt, S. 301 ff. Grundlegend - mit Exkurs „Antithetik als mittelalterliche Denkform": Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter, Berlin und New York 1992, S. 224 ff. - Vgl. darüber hinaus auch Hans-Jürgen Goertz, „Bannwerfer des Antichrist" und „Hetzhunde des Teufels". Die antiklerikale Spitze der Bildpropaganda in der Reformation, in: ARG 82 (1991), S. 5-38. 80 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das „Passional Christi und Antichristi" von Lukas Cranach, das 1521 in Wittenberg erschien und in 26 kommentierten Holzschnitten das Leben Christi dem Leben des Antichristen gegenüberstellt, der als Papst in Erscheinung tritt. Karin Groll, Das „Passional Christi und Antichristi" von Lucas Cranach d. Ä., Diss. Phil. Freiburg i.Br., Frankfurt a.M. u.a. 1990 (mit Abbildungsanhang). - Zu Luther als Gegenspieler des Antichristen in frühreformatorischen Flugschriften, als Apostel, Prophet und Endzeit-Bote: Andrea Körsgen-Wiedeburg, Das Bild Martin Luthers in den Flugschriften der frühen Reformationszeit, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden, hg. v. Horst Rabe u.a., Münster 1976, S. 153-177, hierS. 156ff.; sowie: Robert W. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, S. 65-76, hier etwa S. 72 f. 81 Zu den vielfältigen Konnotationen des Antichristmotivs in der reformatorischen Propaganda - und seiner Nähe zum populären Motiv der „Verkehrten Welt": Scribner, For the Sake of Simple Folk, S. 163ff.; komprimiert: Groebner, „Abbild" und „Marter", S. 233. Zitat nach der vorläufigen Endfassung der Einheitsübersetzung der katholischen Bibelanstalt in Stuttgart von 1975. 82 Zum Antichristen als Mythos mit diagnostischer Funktion aus alttestamentlicher Perspektive: Michael Wolter, Der Gegner als endzeitlicher Widersacher. Die Darstellung des Feindes in der jüdischen und christlichen Apokalyptik, in: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hg. v. Franz Bosbach, Köln u.a. 1992, S. 23-40, hier vor allem S. 25. - Zusammenfassend zum aktuellen Mythos-Begriff in Religionswissenschaft und Theologie: Hans-Dieter Schmid, Der LutherMythos im Spiegel hannoverscher Reformationsjubiläen, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 46 (1992), S. 71-80, hier S. 71 f. 79
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hen, die sich als Leidensgemeinschaft der evangelischen Wahrheit sicher sein darf 83 . Mehr noch: Die Gleichsetzung des Papsttums mit dem Antichristen erklärt die Übermacht des Feindes und verleiht der eigenen Ohnmacht Sinn, indem sie das Leiden auf metahistorische Kräfte zurückführt und damit der eigenen Leidenserfahrung die innergeschichtliche Kausalität nimmt, was es gerechtfertigt erscheinen läßt, ihr eine „entlastende Funktion" zuzuschreiben84. Die Übermacht des Feindes aber verweist zugleich auf seine Ohnmacht. Denn niemand kann daran zweifeln, daß Gott imstande ist, diese Übermacht zu brechen: Ganz so, wie er in seinem Schöpfungswerk die Macht des Chaos zu überwinden vermochte85, wird er jetzt die Macht des Antichristen überwinden, so daß die Gleichsetzung des Papsttums mit dem Antichristen in den untersuchten Märtyrerflugschriften auch als Medium des Trostes verstanden werden kann86. Führt man sich darüber hinaus vor Augen, daß die Zuversicht, die auf diese Weise vermittelt wird, mit der Gewißheit einhergeht, am Ende der Zeit zu leben, dann müssen dieser Gleichsetzung überdies konstitutive Funktionen zugekommen sein87, Funktionen, die eine Bewegung stabilisierten, deren Gegner ihr bald schon spöttisch Antichrist-Obsessionen nachsagen sollten88. Der publizistische Erfolg, den Luther und seine Anhänger mit ihrem Deutungsangebot hatten, läßt leicht in Vergessenheit geraten, daß die Märtyrerflugschriften ein Ritual beschrieben, dessen Sinn es war, den Häretiker vollständig zu vernichten. Denn, so David Nicholls in seiner Untersuchung von Exekutionen französischer Protestanten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: „heresy had to be driven out of society like disease from the body and the social body completely cleansed of all impurities"89. Anders ausgedrückt: Die kirchlichen und weltlichen Autoritäten mußten daran interessiert sein, daß die Ver-
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So zum Beispiel auch Johannes Drach, der im Spätherbst 1523 nach heftigen Konflikten mit der altgläubigen Geistlichkeit und dem Erzbischof von Mainz seine Gemeinde in Miltenberg verlassen mußte und ihr in den folgenden Monaten drei Trostschriften widmete. Nachweise und Textausgaben: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 1,S. 325 f., Nr. 759-764. 84 Dieser Begriff nach Wolter, Der Gegner als endzeitlicher Widersacher, S. 30. 85 Vgl. nur Otto Kaiser, Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel, Diss. Phil. Tübingen, Berlin 1959, insbesondere S. 140ff.; Carola Kloos, Yhwh's Combat with the Sea. A Canaanite Tradition in the Religion of Ancient Israel, Amsterdam und Leiden 1986. 86 Eine These, die auch in frühreformatorischen Predigten Bestätigung findet. Moeller und Stackmann, Städtische Predigt, S. 307 f. und passim. 87 In diesem Sinne zum Beispiel auch Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation, passim. 88 Georges Minois, Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf und Zürich 1998, S. 363. 89 Nicholls, The Theatre of Martyrdom, S. 50.
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nichtung des Häretikers - Nicholls spricht von „total obliteration" und „complete extinction"90 genau jene Deutung unglaubwürdig erscheinen ließ, die das Gros der Märtyrerflugschriften dem Publikum nahelegte: „This was, indeed, one reason for the theatre of martyrdom - to present the death of the heretic as a suitable ,Catholic' ritual in which the victim would be a degraded non-person and not a hero" 91 . Angesichts des publizistischen Erfolgs aber, den diese Deutung hatte, wird man davon ausgehen dürfen, daß sie Akzeptanz fand oder doch zumindest in Erwägung gezogen wurde, und selbst dort, wo man skeptisch blieb, Verunsicherung hervorrief, was wiederum die Frage nach der sozialen und kulturellen Kraft eines Rituals aufwirft, das jenen Widerspruch aus der Welt schaffen sollte, der bereits große Teile dieser Welt zusammenhielt92. Wenn im folgenden wie angekündigt die Vernichtung von Luther-Anhängern als „Theater des Schreckens" in den Blick genommen wird, dann geht es also nicht nur um die Rekonstruktion eines bewährten Rituals, sondern auch um Inszenierungsprobleme und Wahrnehmungsdissonanzen, um konkurrierende Bedeutungszuweisungen und die Ambivalenz des Sichtbaren93. Obwohl die Prozeßakten in keinem der untersuchten Fälle erhalten sind und die Autoren der Flugschriften zudem wenig Interesse an Rechtsfragen erkennen lassen, ja, mehr als einmal schlichte juristische Unkenntnis an den Tag legen94, erlauben die Martyriumsberichte doch eine vergleichsweise genaue Rekonstruktion der Verfahren95. Am Anfang stand das „Artikelverhör"96, das keine Flugschrift so eindringlich dokumentiert wie Luthers „Von Er Lenhard keiser ynn Beyern" 97 . Denn nicht nur, daß der Reformator über Hintergründe und Verlauf des Verhörs ausnehmend gut informiert gewesen zu sein scheint98. Die Flugschrift umfaßt auch zwei aufschlußreiche „Sendbriefe", die Leonhard Käser seinen „lieben Bruedern ynn Christo" aus dem Gefängnis in Passau zukommen lassen konnte99. Nachdem der Vikar bereits zehn Wochen in Haft verbracht hatte - in einem „loch, darynnen ich meus und gestancks genug" 100 - , wurde er im Beisein eines Notars und mehrerer Vertreter des Diözesanklerus 90
Ebd. und passim. Ebd., S. 51. 92 Zu diesem Problem bereits ebd., S. 65 ff., 71. 93 Dazu auch Groebner, „Abbild" und „Marter", S. 225 ff. (mit einer Reihe weiterführender Überlegungen). 94 Vgl. Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 24. 95 Allgemein: Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 5, Berlin 1895, S. 481 ff. 96 Zu diesem Begriff: Flade, Das römische Inquisitionsverfahren, S. 78. 97 Entstehung und Datierung: WA, Bd. 23, 1901, S. 447. 98 Ebd., S. 445 f. 99 Ebd., S. 454—462. 100 Ebd., S. 460. - Johannes Heuglin scheint es da in Meersburg besser ergangen zu sein: Er bedankt sich ausdrücklich dafür, daß er im Gefängnis genug zu essen und zu trinken erhalten habe. WArhafft Hystori, Bl. Β 3r. 91
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vom Offizial 101 und einmal sogar vom Administrator des Bistums Passau selbst102 verhört: „es wer wissent, wie sie mit yhme gehandelt, yhn lassen ligen bey zehen wochen, ehe man yhn gefragt, was er verprochen ..., darnach gehling yhn angetast und er als ein schwacher mensch auff vil und gros Artikel müssen antworten, Nach dem yhn widder ynn gefenckgnis gelegt, dar nach widder heraus unversehens gezogen, widder hinein, widder heraus, er wust selbst nicht wie, Und ynn solchem het er wol geantwort, wust aber nicht, wie sich all sein Verantwortung zusamen reymet und schicket"103. Jeder Versuch, seine „not auszusprechen", so Käser selbst, sei sofort unterbunden, jeder Verweis auf Gottes Wort als „Ketzerische teuflische verfurische Lutherische leer" zurückgewiesen worden: „Ich auch der von yhn fur einen yrrenden, verfurten, mit falscher leer verplenten menschen gehalten worden bin, auch wo schon schrifften angezeigt, unansehelig und durchaus von yhnen verworffen" 104 . Nach den Sendbriefen läßt Luther die 21 Glaubenssätze folgen, denen Leonhard Käser zugestimmt hatte. Einsetzend mit dem Artikel „der Glawb rechtfertigt allein für Gott an zuthuen der werck" 105 , dokumentieren sie jenen theologischen Fundamentalkonsens der evangelischen Bewegung, der sich bekanntlich weitgehend mit den theologischen Grundaussagen des Reformators deckt 106 . Die anonyme „warhaftig geschieht des leydens vnd sterbens Lienhart Keysers seligen" bestätigt diesen Befund 107 . Und auch Johann Eck hebt in seiner Gegenschrift immer wieder hervor, daß es vor allem die Rechtfertigungslehre des Wittenbergers gewesen sei, die Käser verführt habe, und läßt darüber hinaus keinen Zweifel daran, in welchem Maße sich der Vikar dem „solus Christus" und dem „sola scriptum" Martin Luthers verpflichtet gefühlt haben muß 108 . Kirchen- bzw. Papst- und Kleruskritik im engeren Sinne, all das, was gemeinhin als Antiklerikalismus bezeichnet wird 109 , sucht man in den Glaubenssätzen Käsers vergeblich110. Wirft man einen Blick in die „evangelischen
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WA, Bd. 23, 1901, S. 460. Herzog Emst von Bayern. Ebd., S. 454. >°3 Ebd., S. 463. 104 Ebd., S. 454f. 105 Ebd., S. 463. 106 Neben der Rechtfertigungs- und Sakramentslehre kommt vor allem Luthers Christologie zu ihrem Recht. Die Autorität der Schrift wird mehrfach betont, die Messe als Opfer abgelehnt. Eine ausführliche Analyse der Artikel präsentiert: Eckert, Leonhard Keysser. Zusammenfassend zum theologischen Fundamentalkonsens der frühen Reformation: Moeller, Die Rezeption Luthers, S. 21 und passim. 107 Das warhaftig geschieht, Bl. A 2V und A 3r. 108 warhafftige handlung, passim. 109 vgl. etwa: Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, hg. v. Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman, Leiden u. a. 1994. 110 Auch für sie gilt, was Bernd Moeller „die Verankerung der Kirchenkritik in der Rechtfertigungslehre" genannt hat: „Daß die Kirchenkritik in der Reformation eine neue Qualität erhielt, gab ihr erst... die durchschlagende Kraft." Bernd Moeller, Was wurde in der Früh102
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Artikel" 1 1 1 , die für Heinrich Voes, Johann van den Eschen, Kaspar Tauber und Johannes Heuglin Uberliefert sind - Heinrich von Zütphen scheinen keine Artikel vorgelegt worden zu sein - , so läßt sich zwar beobachten, daß die Verfasser der Flugschriften durchaus zu variieren wußten 1 1 2 und keineswegs immer um Vollständigkeit bemüht waren 1 1 3 , ganz davon abgesehen, daß die Artikelreihen der einzelnen Fälle ohnehin voneinander abwichen 1 1 4 . Alles in allem aber sind es auch hier die theologischen Grundaussagen Luthers, auf die sich die A n g e klagten festlegen ließen 1 1 5 . Wie auch immer man diesen Befund deuten mag - ob als weiteren B e l e g für die Einheit der evangelischen B e w e g u n g , für jene „Partei-Gesinnung", jene „lutherische Engführung", die nach Bernd Moeller die frühe Reformation charakterisiert habe 1 1 6 , oder als Resultat von restriktiven Fragestrategien und Deutungsmustern 1 1 7
fest steht, daß die untersuchten Märtyrerflugschriften ver-
breiteten, w a s mit der Vernichtung des Häretikers aus der Welt geschafft wer-
zeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?, in: ARG 75 (1984), S. 176-193, hierS. 191. 111 So eine häufige Bezeichnung der Glaubenssätze in den Märtyrerflugschriften. Ein Beispiel: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 15. 112 Abgesehen von begrifflichen Variationen sind hier neben Kürzungen innerhalb einzelner Artikel vor allem Umstellungen in der Reihenfolge der Glaubenssätze zu nennen. 113 Während zum Beispiel die erste Flugschrift, die den Prozeß gegen Heinrich Voes und Johann van den Eschen verbreitete, „Der actus vnd handlung der degradation vnd verprennung der Christlichen dreyen Ritter vnd merterer Augistiner ordens", lediglich zwei Artikel erwähnt, „die sy widerruffen sollen" (Bl. A 2V), erscheinen in der „Historia de duobus Augustinensibus" und ihrer deutschen Übersetzung jeweils 62 Glaubenssätze. Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 39-43 und S. 69-114. - Es ist allerdings zu betonen, daß für alle Prozesse zumindest eine vollständige Artikelreihe vorzuliegen scheint. 114 Lediglich Heinrich Voes und Johann van den Eschen wurden - aus naheliegenden Gründen - auf ein und dieselbe Artikelreihe verpflichtet. 115 Die Tatsache, daß hier und da auch Artikel erscheinen, deren Verständnis und Einordnung erhebliche Probleme aufwirft - wie etwa der siebte Artikel Kaspar Taubers: „Zum sibenden / sol er seinen irsal offenlich bekennen / in dem / das er die schlüssel der kirchen / gemain / auff man vnd weyb gleich geurtaylt hat" - , nimmt dieser Beobachtung nichts von ihrer Eindeutigkeit. Eyn warhafftig geschieht, Bl. A 3V; vgl. darüber hinaus Bl. Β l v . Zu diesem Artikel auch: Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 407 (mit Anm. 49). 116 Moeller, Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?, S. 193; vgl. auch die vorsichtige terminologische Modifikation, die Moeller zuletzt 1995 vorlegte: Die Rezeption Luthers, S. 21 (mit Anm. 21). - Kritisch zu dieser These etwa: Susan C. Karant-Nunn, What Was Preached in German Cities in the Early Years of the Reformation? Wildwuchs Versus Lutheran Unity, in: The Process of Change in Early Modern Europe, S. 81-96; instruktiv in diesem Kontext auch Robert W. Scribner, Oral Culture and the Transmission of Reformation Ideas, in: The Transmission of Ideas in the Lutheran Reformation, hg. v. Helga Robinson-Hammerstein, Dublin 1989, S. 83-104. 117 Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß sich die Fragestrategien und Deutungsmuster der Inquisitoren ohne die Prozeßakten nicht oder nur sehr unzureichend rekonstruieren lassen. Die Artikelreihen allein geben - wenn Uberhaupt - nur Anhaltspunkte.
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den sollte118. Da die Flugschriften das Bekenntnis zu den theologischen Grundaussagen des Reformators appellativ mit dem Martyrium als Leiden und Sterben für dieses Bekenntnis verbanden, spricht darüber hinaus viel dafür, daß sie in besonderer Weise dazu beigetragen haben, die Luther-Rezeption der frühen Reformation als Rezeption einer Neuinterpretation der christlichen Grundwahrheiten zu intensivieren und dieser Rezeption jene Kohärenz zu geben, die ihren Erfolg erst ermöglichte119. Nachdem die Artikel standen, waren die kirchlichen Amtsträger darum bemüht, ihre Gefangenen zum Widerruf zu bewegen, um sie in den Schoß der Kirche zurückführen zu können und auf diese Weise den Triumph Uber die Häresie zu vollenden120. Nur in einem Fall aber hatten ihre Bemühungen Erfolg so zumindest schien es: Der Wiener Bürger Kaspar Tauber, der einzige Laie unter den Märtyrern der frühen Reformation 121 , widerrief, unterschrieb die „revocatio", die gleich darauf im Druck erschien122, und wurde dazu verurteilt, seine Umkehr an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen vor dem Stephansdom zu bekennen: „mit einem strick vmb den halß gebunden / mit vnuerdecktem haubt / vnd parfuß / mit einer brinnenden kertzen in seiner handt" 123 . Doch es kam anders. Folgt man der anonymen „warhafftig geschieht", verlas Tauber am ersten der drei festgelegten Sonntage nicht etwa seinen Widerruf, sondern bat die versammelte Gemeinde von einem hohen Predigtstuhl aus, ein Vaterunser mit ihm zu beten, um diejenigen zu stärken, „so in dem warhafftige Christlichen glauben sein", und all jene zu erleuchten, denen es noch an Erleuchtung fehle. Er hatte seine Bitte kaum ausgesprochen, als ihn der Chormeister zornig unterbrach: „Tawber / jr seyt nit zu predige sunder zu widerruffen da her gestellet ... redet vnd leßt herab / was euch furgelegt ist" 124 . Tauber aber ließ sich nicht beirren, predigte weiter, kritisierte die Formulierung der Artikel, die er zu widerrufen hatte, ja, das ganze Verfahren, verwies immer wieder auf die Schrift, dachte nicht an Widerruf und wählte schließlich einen Abgang, der die 118
So auch schon Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 41. Dezidiert zu diesem Prozeß: Moeller, Die Rezeption Luthers, vor allem S. 17, 25, 27 und darüber hinaus: ders., Das Berühmtwerden Luthers, S. 73, 85 und passim; sowie: ders., Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, S. 162. 120 Kein ungewöhnlicher Anspruch. Der Widerruf war schon im Mittelalter das höchste Ziel der Inquisitionsprozesse gewesen. Flade, Das römische Inquisitionsverfahren, S. 80. Fälle lutherischer Geistlicher, die im Bistum Würzburg widerriefen, dokumentiert: HansChristoph Rublack, Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen, Stuttgart 1978, S. 37. 121 Zu diesem Tatbestand: Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 26 (Anm. 23), der zusammenfaßt: „Die Inquisition richtete sich in der frühen Reformationszeit vor allem gegen Priester und Mönche. Das dürfte rechtliche Gründe gehabt haben, aber auch auf Taktik beruhen - man traf in ihnen die maßgeblichen Multiplikatoren." 122 Es handelt sich um die bereits erwähnte lateinische „Sententia lata contra Casparü Thauber", die den Widerruf selbst allerdings in deutscher Sprache präsentiert. 123 Eyn warhafftig geschieht, Bl. A 4r. 124 Ebd., Bl. Β 2V. 119
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vereinbarte Inszenierung endgültig platzen ließ: „Ich bezeug hie vor menigklich / das ich durchauß nichts widerruff / dan wie jr mich vor gehört habt / zeich mich des fur das heylig Romisch Reich / darzu ich Appellier vnd zu Recht steen will. Nach dem stig er vom predigstul / vnd sagt. Meine feindt haben mich allenthalben vmbgeben / vnd ich mag nymer reden" 125 . Tauber wurde ins Gefängnis zurückgebracht und ein paar Tage später zum Tode verurteilt, der Chormeister versuchte zu retten, was noch zu retten war, und begann, den Widerruf selbst zu verlesen, die Menge aber folgte mehrheitlich dem Ketzer, der auf dem Weg zum Gefängnis noch „vil schöner red" hielt 126 . Was der Kirche zum Triumph geraten sollte, geriet ihr zum Fiasko 127 . Die erste Möglichkeit, die sich allen geständigen und standhaften LutherAnhängern bot, das Prozeßritual publikumswirksam für ihre Zwecke zu nutzen, war die Verurteilung. Denn verurteilt wurde - vorschriftsgemäß128 - an einem feierlichen Rechtstag 129 und in aller Öffentlichkeit: in Brüssel „ante Basilicam, quam uulgo senatoriam domum uocant" 130 , in Wien zwar im Augustinerkloster, aber unter Einschluß des „gemainen volcks" 131 , in Meersburg „vff offnem marckt" 132 und in Passau schließlich auf dem „hoff vor de Capitelhauß bey S. Steffan" 133 . Das Publikumsinteresse scheint groß gewesen zu sein. Dicht gedrängte Menschenmengen wohl muß man sich vorstellen134. Die Flugschriften erwähnen Sicherheitsmaßnahmen135. Von Zwischenrufen ist die Rede, von Raunen, Gemurmel 136 - und von Obrigkeiten, denen es gar nicht genug Zuschauer sein konnten. Schließlich ging es um die öffentliche Inszenierung ihrer Ordnungsmacht, wie zum Beispiel in Passau: „Zu morgen hat man yhn gebunden und gefangen mit grossem pracht, der Fürst viel vom land herein erfoddert mit gewaffenter hand ym hämisch vast geputzt, den dan der Fürst dargelihen"137.
125
Ebd., Bl. Β 3V. Ebd., Bl. Β 3V und Β 4'. 127 Kein Einzelfall - wie etwa die Geschichte der „revocatio" und „revocatio revocationis" des Antwerpener Augustiner-Priors und späteren ersten lutherischen Superintendenten der Stadt Bremen Jakob Propst (Praepositus) zeigt, die sich 1522 zutrug. Zusammenfassend: Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 44; ausführlich zuletzt: Ortwin Rudioff, Bonae litterae et Lutherus. Texte und Untersuchungen zu den Anfängen der Theologie des Bremer Reformators Jacob Propst, Bremen 1985. 126
128 129 130 131 132 133 134 135 136 137
Flade, Das römische Inquisitionsverfahren, S. 103 ff. WA, Bd. 23, 1901, S. 462. Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 35. Eyn warhafftig geschieht, Bl. Β 4r. WArhafft Hystori, Bl. A 2V. Das warhaftig geschieht, Bl. A 2r. Vgl. auch WA, Bd. 23, 1901, S. 464. Ein Beispiel: Das warhaftig geschieht, Bl. A 3r. WA, Bd. 23, 1901, S. 464 und passim. Eyn warhafftig geschieht, Bl. Β 4r; Das warhaftig geschieht, Bl. A 31. WA, Bd. 23, 1901, S. 464.
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Bevor die geistlichen Richter ihre Urteile sprachen - in Brüssel war es der Inquisitor Franciscus van der Hülst, der dem Gericht vorsaß138, in Wien und Passau der Bischof, in Meersburg der Weihbischof139 - , ließen sie Artikel für Artikel in lateinischer Sprache verlesen und die Angeklagten auffordern, nach jedem Artikel mit „Credo vel non credo" 140 zu antworten, „ich gloubs oder ich gloubs nit" 141 , „Ja odder Nein" 142 . Die Bitte Leonhard Käsers, die Artikel doch in deutsch vorzulesen, wurde zurückgewiesen143, jeder Versuch der Angeklagten, das Wort zu ergreifen, schroff unterbunden. Tauber konnte nicht einmal ansetzen144. Käser mußte sich fragen lassen: „Herr Lenhart, wie thut yhr? Wolt yhr predigen?" 145 . Und auch Heuglin fand keine Nachsicht, als er sich anschickte, seine Artikel weitläufig zu kommentieren: „Als nun Joafles Hüglin sich anfieng vantworten / un sagen / er redte gern tütsch / damit in yederman verston mog / Sagt d vicari / es gebüre sich nit vil vor den laye davon züreden oder disputieren, sy werind nit darumb da / sonder solte kurtzlich vff yeden Artickel antworten" 146 . Da alle Angeklagten geständig waren und die Bulle „Exsurge Domine" sowie das Wormser Edikt eine Rechtsgrundlage geschaffen hatten, die an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig ließ 147 , folgte das Todesurteil und daran anschließend im Falle der Mönche und Priester als nächster Akt die Degradierung 148 , deren Ablauf die Flugschriften ausführlich beschreiben149. Zunächst legte man den Verurteilten (in Brüssel mußten sie vor einem Altar knien, der eigens für diesen Zweck aufgebaut worden war 150 ) feierlich Meßgewänder an, die ihnen aber gleich darauf wieder ausgezogen wurden151: im Fall Heuglin
138
Zu van der Hülst, dem ersten Laien in diesem Amt: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 8; Kalkoff, Die Anfänge der Gegenreformation in den Niederlanden, T. 2, S. 73f., 79. 139 Eyn warhafftig geschieht, Bl. A 2 r ; WA, Bd. 23,1901, S. 464; WArhafft Hystori, Bl. A 2V. WArhafft Hystori, Bl. A 3r. 141 Ebd., Bl. Α 3 r und Α 4r. WA, Bd. 23, 1901, S. 465. 143 Ebd., S. 465 f. 144 Eyn warhafftig geschieht, Bl. Β 4r. 145 Ebd., S. 466. "«> WArhafft Hystori, Bl. A 3'. 147 Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 28 (mit Anm. 39). 148 Grundlegend zur Geschichte der Degradierung Geistlicher - nicht nur im Rahmen von Inquisitionsprozessen: Elphege Vacandard, Deposition et degradation des clercs, in: Dictionnaire de theologie catholique, hg. v. Alfred Vacant u.a., Bd. 4, Paris 1924, S. 451-521. Vgl. auch Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts, Bd. 5, S. 563 ff. - Allgemein: Harold Garfinkel, Conditions of Successful Degradation Ceremonies, in: AJSoc 61 (1955), S. 420-424. 149 Einen Vergleich mit der Degradierung französischer Geistlicher in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts ermöglicht: Nicholls, The Theatre of Martyrdom, S. 55 ff. 150 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 16. 151 Dazu auch das Beispiel bei Nicholls, The Theatre of Martyrdom, S. 56.
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mit „so scharpffen Worten / als war kain Christenlicher blütstropff in disem haiige fründ gotes" 152 , im Fall Käser „mit besondern gebetten und Collecten" 153 . Dann begann man, sie zu scheren - Heuglin mit besonderer Härte: „ouch hat man ym das houpt gar beschorn / vnd den Chrism 154 mit aim messer ab den fingern geschähe" 155 - und schließlich neu einzukleiden: Johann van den Eschen etwa mußte einen gelben Rock anziehen 156 und Leonhard Käser sogar „ein schwartz zurschnittens paret" aufsetzen, einen Ketzerhut157, womit die Degradierung perfekt, die angestrebte Metamorphose vollzogen war. Mehr noch: Indem die Verurteilten zu Parodien ihrer einstigen Existenz gemacht wurden158, fand eine Inszenierung ihr Ende, die der französische Drucker und Martyrologe Jean Crespin, der seit 1545 als Glaubensflüchtling in Genf lebte und wußte, wovon er sprach159, treffsicher als „farce" bezeichnet hat 160 . Denn soviel scheint festzustehen: Der kulturelle Sinn dieser Travestie weist weit über die sakrale Degradierung hinaus: „The farce had developed relatively recently as a precisely defined genre of purely profane comic theatre in which fous were portrayed as malignant fools, personifying the evils of the time, as opposed to the benign foolishness of the sots. In this context degradation appears as a farce moralisee in which the heretic as fol is made responsible for the upsetting of social and moral order. Alongside its religious significance - the spiritual death of the heretic prefiguring his real death - is a profane meaning in the theatre of life. The heretic is to be feared and extinguished, but also laughed at" 161 . Was folgte, war die Übergabe der Verurteilten an die weltliche Obrigkeit, die von den geistlichen Richtern in allen Fällen mit der Bitte um Milde verbunden wurde 162 . In Meersburg scheint sich (ganz ordnungsgemäß) eine erneute Verhandlung angeschlossen zu haben 163 . In Brüssel und Wien beließen es die Verantwortlichen bei einer bloßen Bestätigung des Urteils164. Und in Passau schließlich wies der bayerische Landesherr seinen Richter in Schärding kurzer152 WArhafft Hystori, Bl. Β 3r. - Dagegen aus katholischer Perspektive: Warhafft verantwurttung, Bl. Β 3r. !53 WA, Bd. 23, 1901, S. 466. 154 Chrisam, Chrisma. 155 WArhafft Hystori, Bl. Β 3r. - Daß dieser Akt der Degradierung durchaus noch schonungsloser hätte ausfallen können, zeigen die Beispiele bei Vacandard, Deposition et degradation des clercs, S. 464. 156 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 16. 157 WA, Bd. 23, 1901, S. 466. 158 Nicholls, The Theatre of Martyrdom, S. 57. 159 Jean-Frangois Gilmont, Jean Crespin. Un editeur reforme du XVI e siecle, Genf 1981. 160 Jean Crespin, Histoire des martyrs persecutez et mis ä mort pour la verite de l'Evangile, depuis le temps des Apostres jusques ä present, hg. v. Daniel Benott, Bd. 2, Toulouse 1887, S. 374. 161 Nicholls, The Theatre of Martyrdom, S. 57 f. 162 Ein Beispiel: WArhafft Hystori, Bl. Β 3r. '63 Ebd. 164 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 16; Eyn warhafftig geschieht, Bl. Β 3 r+v .
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hand an, „er solle Herr Lenharten an alle urtel und recht mit dem prant richten lassen"165. Johannes Heuglin bat um die Gnade einer Leibesstrafe, die ihm nicht das Leben kostete 166 . Doch blieb seine Bitte ebenso vergeblich167 wie die Intervention der Verwandtschaft Leonhard Käsers beim Herzog von Bayern 168 . Bevor abschließend die Hinrichtung der Verurteilten als Höhepunkt der Inszenierung in den Blick genommen wird, ist es notwendig, eine Frage anzusprechen, die man mit Hubert Herkommer als Frage nach dem Verhältnis von „Ereignis" und „Erzählung" bezeichnen kann169. Wie muß deijenige, der einen Martyriumsbericht verfaßt, das Sterben eines Luther-Anhängers darstellen, um darstellen zu können, was er darstellen will? 170 Versucht man, diese Frage zu beantworten, liegt es zuerst einmal nahe, die Märtyrerflugschriften der frühen Reformation literarisch zu verorten, was Bernd Moeller bereits 1992 getan hat: „Ich nenne diese Flugschriften ,Märtyrerakten'. Damit weise ich sie einem literarischen Genus zu, das für entsprechende kirchliche Texte der Antike, des vorkonstantinischen Zeitalters, seit langem gebräuchlich ist und sich bewährt hat."171 Was aber rechtfertigt diese Zuweisung? Ausgehend von der gängigen Bestimmung der spätantiken „Märtyrerakten" als „Aufzeichnungen und Berichte über Verhör und Tod der christlichen Märtyrer"172, hebt Moeller das „Aktenhafte" der frühreformatorischen Märtyrerflugschriften hervor, das gegenüber den Berichten der alten Kirche sogar noch gesteigert sei: „Im Falle unserer Flugschriften sind einige ganz oder teilweise geradezu als Dokumen165
WA, Bd. 23, 1901, S. 467 sowie Hausmann, Leonhard Käser, S. 69. Sojedenfalls die „Warhafft verantwurttung", Bl. Β 3V. 167 Vgl. dazu auch einen Brief zugunsten Heuglins, den die Stadt Baden im Aargau im Namen von Verwandten des Frühmessers an den Bischof von Konstanz schrieb. Abdruck: Christian Roder, Zur Lebensgeschichte des Pfarrers Dr. Johannes Schlupf in Überlingen, gestorben 1527, in: Freiburger Diözesan-Archiv NF 16 (1915), S. 257-289, hier S. 288 f. 168 WA, Bd. 23, 1901, S. 466f. - Vgl. auch Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 29 (mit Anm. 47). 169 Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus, S. 117 und passim. 170 Dazu methodisch wegweisend: Arnold Esch, Drei Heilige und ihr soziales Umfeld in Rom: die Hl. Francesca Romana, die Hl. Birgitte von Schweden, die Hl. Katharina von Schweden, in: ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 134-157, hier etwa 134; vgl. darüber hinaus: Burschel, Das Eigene und das Fremde, insbesondere S. 270. 171 Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 33. 172 Hans Freiherr von Campenhausen, Märtyrerakten, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4, Tübingen 3 1960, Sp. 592f.; so auch Adalbert Hamman, Martyrerakten, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i.Br. 2 1962, Sp. 133f. -Grundlegend zu den Märtyrerakten als literarischer Gattung: Hippolyte Delehaye, Les passions des martyrs et les genres litteraires, Brüssel 2 1966; vgl. auch dens., Les legendes hagiographiques, Brüssel 4 1955 (deutsch: Die hagiographischen Legenden, Kempten und München 1907). - Kritisch zum Gattungsbegriff „Märtyrerakten": Theofried Baumeister, Märtyrer, Martyrien, II. Literarisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg i.Br. u.a. 3 1997, Sp. 1436-1441, hier Sp. 1437f. 166
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tensammlungen gestaltet, in anderen sind Dokumente in die Erzählung eingearbeitet, nur in wenigen fehlt dieses Element gänzlich. Das ist keine zufällige, sondern für die literarische Absicht offenbar wesentliche Form, die sich den Autoren übrigens, wie es scheint, vom Sujet... her nahegelegt hat. Denn sie begegnet nicht nur in solchen Schriften, die von Freunden, sondern auch solchen, die von Gegnern der Lutheraner abgefaßt sind" 173 . So naheliegend die Zuweisung ist, die Moeller hier begründet und die er gleich darauf noch verstärkt, indem er betont, daß die Märtyrerflugschriften der frühen Reformation wie die Märtyrerakten der Spätantike im Unterschied zu den mittelalterlichen Heiligenlegenden eine Todesgeschichte erzählen und dokumentieren, in der das Leben der Märtyrer keinen Platz hat 174 , so naheliegend ist auch seine Antwort auf die Frage, welches Motiv für die Wahl dieser Form der literarischen Gestaltung maßgeblich gewesen sein dürfte: das „Bemühen, den Lesern authentische Kunde von den Geschehnissen zu vermitteln"175. Denn nicht nur, daß einige Verfasser der Martyriumsberichte nachdrücklich betonen, Augenzeugen des Dramas gewesen zu sein: der Anonymus der „WArhafft Hystori" zum Beispiel tritt als „warhaffter Christenlicher bruder" in Erscheinung, „So selbs alles gesehen vnd gehört" hat 176 . Sie korrigieren sich auch gegenseitig, ohne dabei konfessionelle Rücksichten zu nehmen 177 . Luther etwa reagierte gleich zweimal auf Flugschriften seiner Anhänger, indem er ihnen wohlrecherchierte Dokumentationen folgen ließ, die er für glaubwürdiger hielt 178 , „auff das nicht yemand sagen könne, wir hetten lugen teydinge an tag geben" 179 .
173
Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 33. (Moeller exemplifiziert seine Aussage an der anonymen „Historia de duobus Augustinensibus" und Johann Ecks ,,warhafftige[r] handlung".) 174 Ebd., S. 37. - Zu den Bauformen der mittelalterlichen Märtyrer- und Bekennerlegenden: Dieter von der Nahmer, Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie, Darmstadt 1994, S. 57ff.; vor allem aber: Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995, S. 26ff. 175
Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 34. WArhafft Hystori, Bl. A 2r. - Der ebenfalls unbekannte Verfasser der „warhaftig geschieht" erklärt Lücken in seiner Reihe der Ketzerartikel Leonhard Käsers damit, daß er „vö wegen des behenden lesens / vn von de getümel des volcks / dz da was", nicht jeden Glaubenssatz habe notieren können (Bl. Α 3r)· 177 Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 34. 178 So 1525 mit „Von Bruder Henrico in Ditmar verbrannt" (WA, Bd. 18, 1908, S. 218 und S. 224: „... ich hab die geschieht und marter des seligen bruder Henrichs von Sudphen ewers Euangelisten, so ich durch glaubwirdige frome leut habe lassen erkunden und eygentlich erfaren, nicht mögen also lassen ym finstern odder zweyffel verborgen liegen ...") und zwei Jahre später dann mit „Von Er Lenhard keiser" (WA, Bd. 23, 1901, S. 446 und S. 452: „Der halben, nach dem ich mich der sachen allenthalben mit vleys erkundet, bis ich die gewisse warheit uberkomen, hab ich die selbigen geschieht von newen lassen ausgehen ..."). 179 WA, Bd. 23, 1901, S. 474. - Vgl. dazu einen Brief, den Johann Eck vier Monate nach der Hinrichtung Leonhard Käsers an Georg von Sachsen schrieb, um den Herzog u. a. dar176
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Was aber bedeutet das für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von „Ereignis" und „Erzählung" in den Märtyrerflugschriften? Führt man sich vor dem Hintergrund dieser Frage noch einmal die Darstellung der Protagonisten bis zu ihrer Verurteilung vor Augen, ihren ausnahmslos obsessiven (zuweilen geradezu grotesken) Hang zum Wort e t w a 1 8 0 oder ihre ausgeprägte Neigung, Christus zu imitieren 1 8 1 , so stellen sich Zweifel ein: wenn nicht an den Bemühungen der Erzähler um Authentizität, so doch am Erfolg dieser Bemühungen - Zweifel, die ein Blick auf die Darstellung der Hinrichtung der Verurteilten noch erheblich verstärkt. Sieht man einmal davon ab, daß die Verurteilten, die in den Flugschriften evangelischer Herkunft ja durchgängig als „Märtyrer" bezeichnet werden, „Ritter vnd merterer" 182 , „neüwe marterer" 183 , „gude Marteler Christi" 1 8 4 , „selig marterer Jesu Christi" 1 8 5 , und in einigen sogar als „Heilige" erscheinen 1 8 6 , den
über zu informieren, daß er beabsichtige, auf Luthers „Von Er Lenhard keiser" zu antworten: „Nun mag ich den böswichten die lugen nit schenken und will ichs selbs verantwurten." Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, hg. v. Felician Gess, Bd. 2: 1525-1527, Leipzig und Berlin 1917, Nr. 1504, S. 813. 180 Einen Hang, den die altgläubigen Gegenschriften immer wieder persiflieren. 181 Ein Beispiel: Folgt man Luthers „Brief an die Christen im Niederland", antwortete einer der beiden verurteilten Augustiner-Eremiten, als der Inquisitor Jacob van Hoogstraten ihnen eröffnete, „wo sie obgemelte Christliche warheyt widderruffen, hab er gewallt odder macht, sie ledig zü lassen", mit Joh. 19, 10f.: ,„das sind die wort Pylati, und du hettest keynen gewallt über mich, wer er dyr nicht von oben herab gegeben', unnd beyde öffentlich gesagt, Sie dancken Gott, das sie umb seynes wortts willen sterben sollen". WA, Bd. 12, 1891, S. 80. 182 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 13. 183 Ain erschreckliche geschieht, Bl. A 2r. 184 WA, Bd. 18, 1908, S. 249. 185 Das warhaftig geschieht, Bl. A 4V. 186 So auch bei Luther selbst. Beispiele: WA, Bd. 12, 1891, S. 78: „Gott gelobt und in ewikeyt gebenedeyet, das wyr erlebt haben rechte heyligen und warhafftige merterer zu sehen vnd zu hören, die wyr bißher so viel falscher heyligen erhebt und angebetet haben"; S. 80: „... Gott gelobt... der solche grosse gnad diesen unnd allen andern seynen heyligen Merterern verleyhet"; WA, Bd. 18, 1908, S. 225, an die Zeit der ersten christlichen Märtyrer anknüpfend: „Denn Gott aus gnaden on zweyffel sie darumb so lesst sterben und yhr blut vergiessen, zu dieser zeyt, da sich so mancherley yrrthum und rotten erheben, das er uns warne, und durch sie bezeuge, das das die rechte lere sey, da der rechte geyst ynnen geben wird, wilche sie geleret, gehalten und drüber gestorben, und mit yhrer marter bezeuget haben, wie vorzeyten auch die heyligen Merterer umb des Euangelij willen stürben, und uns dasselbige mit yhrem blut versigelten und gewis machten" - oder auch WA, Bd. 15, 1899, S. 184, wo Luther spöttisch anmerkt, Papst Hadrian VI. habe mit der Einsetzung des Inquisitors Franciscus van der Hülst in Brüssel „Christo zween merterer gemacht und die selben on seinen wissen und willen recht zu heyligen erhaben" („Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden", 1524, S. 170-198). - Zur Entwicklung von Luthers Heiligenverständnis: Lennart Pinomaa, Die Heiligen in Luthers Frühtheologie, in: Studia theologica 13 (1959), S. 1-50; ders., Die Heiligen bei Luther, Helsinki 1977; Peter Manns, Luther und die Heiligen, in: Reformatio ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühun-
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Weg zur Hinrichtung nutzen, um das Wort zu ergreifen 1 8 7 und ihre Fröhlichkeit unter B e w e i s zu stellen 1 8 8 , so begegnen durchgängig zwei Erzählmotive, die sich schon in der Darstellung der Steinigung des Erzmärytrers Stephanus in der Apostelgeschichte finden189: Alle Verurteilten richten ihre Augen in den Himmel, einige sogar mehrfach 1 9 0 . Alle Verurteilten bitten Gott, ihren Henkern zu vergeben 1 9 1 . Damit aber nicht genug. Denn es folgen noch die letzten Worte, die keinen Zweifel daran lassen, wer da stirbt, die sich hinziehen können, wiederholt werden - und noch einmal unter B e w e i s stellen, daß es eine Wortbewegung, eine Predigtbewegung ist, die da auf dem Prüfstand steht 1 9 2 . Jetzt erst erreicht die
gen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh, hg. v. Remigius Bäumer, Paderborn u.a. 1980, S. 535-580; Gerhard Knodt, Leitbilder des Glaubens. Die Geschichte des Heiligengedenkens in der evangelischen Kirche, Stuttgart 1998, S. 125 ff. - Zusammenfassend: Bernard Vogler, Le concept de saintete chez les reformateurs et dans la piete protestante, in: Histoire et saintete, Angers 1982, S. 47-52; Frider Schulz, Heilige/Heiligenverehrung VII: Die protestantischen Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 14, Berlin und New York 1985, 664-672; Marc Lienhard, La saintete protestante, in: Histoire des saints et de la saintete chretienne, Bd. 8: Les saintetes chretiennes 1546-1714, hg. v. Jean Delumeau, Paris 1987, S. 16-21; Ulrich Köpf, Protestantismus und Heiligenverehrung, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Ostfildern 1990, S. 320-344. - Immer noch unverzichtbar: Robert Lansemann, Die Heiligentage, besonders die Marien-, Apostel- und Engeltage in der Reformationszeit, betrachtet im Zusammenhang der reformatorischen Anschauungen von den Zeremonien, von den Festen, von den Heiligen und von den Engeln, Diss. Phil. Münster, Göttingen 1938 sowie Max Lackmann, Verehrung der Heiligen. Versuch einer lutherischen Lehre von den Heiligen, Stuttgart 1958. >87 Allen voran Leonhard Käser. WA, Bd. 23, 1901, S. 467. 188 WA, Bd. 35, 1923, S. 412; Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l r + v ; Das warhaftig geSchicht, Bl. A 4r. - Zur Fröhlichkeit des Todeskandidaten als Gattungsmerkmal der Märtyrerlegende: Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus, S. 119 f. 189 Apg. 7, 54-60. - Ausführlich zu diesen Motiven und ihrer Tradition: Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, S. 123 ff. - Vgl. in diesem Kontext auch Detlev Dormeyer, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell. Literarische und theologische Analyse der Traditions- und Redaktionsgeschichte der Markuspassion, Münster 1974, passim. 190 Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l v ; WA, Bd. 18,1908, S. 240; WArhafft Hystori, Bl. Β 3r. 191 Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l r ; Eynn Historie odder geschieht, Bl. Α 4 r ; WA, Bd. 18, 1908, S. 249 - in den Worten Jesu (Lk. 23, 34): „Here vorgyff ydt en, wente se weten nicht, wat se don"; WArhafft Hystori, Bl. Β 3 r+v - auch hier: „Ach verzych eüch gott / ir wissendt doch nit was ir thünd"; Das warhaftig geschieht, Bl. A 4r. - Folgt man der „warhaftig geschieht", ging Leonhard Käser allerdings trotz dieser Bitte davon aus, daß Gott „alles vnschuldig blüt zü seiner zeyt gar ernstlich rechen" werde - „vnd vrteyln die es vergossen hette" (Bl. A 4V). 192 Allgemein zur evangelischen Bewegung als „Predigtbewegung": Robert W. Scribner, Oral Culture and the Diffusion of Reformation Ideas, in: History of European Ideas 5 (1984), S. 237-256, sowie ders., Practice and Principle in the German Towns: Preachers and People, in: Reformation. Principle and Practice. Essays in Honour of Arthur Geoffrey Dickens, hg. v. Peter Newman Brooks, London 1980, S. 97-117.
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Abb. 6 Die einzige Märtyrerflugschrift der evangelischen Bewegung, die ihre Protagonisten nicht nur als „Heilige" bezeichnet, sondern auf ihrem Titelholzschnitt auch bildlich unzweideutig so darstellt, ist die bereits mehrfach erwähnte „histori, so zwen Augustiner Ordens gemartert seyn tzü Bruxel" von Martin Reckenhofer. Deutlich erkennbar sind zwei Mönche mit Nimbus, die betend im Feuer knien - und über ihren Köpfen außerhalb des Rahmens als „S. Heynricus" und „S. Johannes" bezeichnet werden: Heinrich Voes und Johann van den Eschen. Blickt man in die rechte obere Ecke des Holzschnitts, ist wolkenumfangen Christus selbst zu sehen, der die beiden segnet und dabei das Wundmal seiner rechten Hand zu erkennen gibt. Links neben dem Holzschnitt heißt es: „Sancti quia fide mundati" und gleich darunter passend dazu: „fide purificans corda eorum" (Apg. 15, 9). Die Abbildung zeigt das Titelblatt des Exemplars der Flugschrift im Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber, Konsistorial- und Ratsbibliothek, Th 752, XIX, 17. Die „Bibliotheca Reformatoria Neerlandica" bietet nur den Text des Titelblatts. Hildegard Hebenstreit-Wilfert nimmt an, daß der Holzschnitt ursprünglich nicht für die „histori" angefertigt wurde. Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, S. 403 (Anm. 32).
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Kraft des Glaubens ihren Höhepunkt. Denn sie ist es, mit der die Luther-Anhänger den Tod besiegen 193 . Sie spenden Trost194, sie lachen 195 , sie singen 196 , sie beten 197 , immer wieder heißt es: sie schreien198 - das Glaubensbekenntnis 199 , Psalmen 200 , den Namen des Herrn201. Kurz: Sie tun, was zu tun ist, wenn Heilige leiden und sterben202.
193
Zum theologischen Hintergrund: Gerhard Ebeling, Des Todes Tod. Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode, in: ZTheolKi 84 (1987), S. 162-194; Otto Hermann Pesch, Theologie des Todes bei Martin Luther, in: Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, hg. v. Hansjacob Becker u. a„ Bd. 2, St. Ottilien 1987, S. 709-789. 194 Besonders ausgiebig Leonhard Käser: Das warhaftig geschieht, Bl. A 4r. 195 Wie zum Beispiel in Brüssel: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 16, 68. 196 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 68; WA, Bd. 35, 1923, S. 413; WArhafft Hystori, Bl. Β 3V; vor allem aber Leonhard Käser unter Einbeziehung des Publikums: Das warhaftig geschieht, Bl. A 4V; WA, Bd. 23,1901, S. 468: „Da die weil man bandt, bat er das volck, das man solt singen: ,Kum heiliger geist'". 197 Im Wortlaut: Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l v ; vgl. auch: Das warhaftig geschieht, Bl. A 4V. 198 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 17; Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l v ; WA, Bd. 23, 1901, S. 468. 199 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 16f., 68; WA, Bd. 18, 1908, S. 240. 200 i n rascher Folge zum Beispiel Johannes Heuglin: WArhafft Hystori, Bl. Β 3V. 201 In Brüssel etwa: „Domine, domine. Ο ein son David erbarm dich vnnser ...". Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 17; in Wien: „Herr Jesu Christe / in dein hendt befilh ich mein geyst". Eyn warhafftig geschieht, Bl. C l v ; in Schärding: „Jhesus, ich bin dein, mach mich selig". WA, Bd. 23,1901, S. 468. - Vgl. darüber hinaus: WArhafft Hystori, Bl. Β 3V. - Zum Vergleich: Wolfgang Schuch, der Leutpriester von St. Hippolyte (St. Pilt) zwischen Straßburg und Colmar, der am 21. Juni 1525 auf dem Marktplatz von Nancy als Ketzer verbrannt wurde, soll elfmal ausgerufen haben: „Iesu fili david miserere mei". Moeller, Inquisition und Martyrium, S. 37 (Anm. 87). Zu diesem Fall: Johann Adam, Evangelische Kirchengeschichte der elsässischen Territorien bis zur französischen Revolution, Straßburg 1928, S. 577 f.; James K. Farge, Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985, S. 183. 202 Vgl. allgemein: Bardo Weiss, „Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Heiligen". Vom Sterben und vom Trost der Heiligen, in: Im Angesicht des Todes, Bd. 2, S. 1321-1361; instruktiv in diesem Zusammenhang auch: Andre Vauchez, La saintete en Occident aux derniers siecles du Moyen Age d'apres les proces de canonisation et les documents hagiographiques, Rom 2 1988, S. 187 ff. und passim; sowie: Donald Weinstein und Rudolph M. Bell, Saints & Society. The Two Worlds of Western Christendom, 1000-1700, Chicago und London 1982, S. 141 ff. - Zum Vergleich die drei „schönen Tode" von Jan Hus (t 1415) in der „Relatio" des Augenzeugen Peter von Mladoniowitz (Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus, S. 115, 119f.), von Klaus Hottinger (t 1524) in der Reformationsgeschichte Heinrich Bullingers von 1567 (Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte, hg. v. Johann Jacob Hottinger und Hans Heinrich Vögeli, Bd. 1, Frauenfeld 1838, Nr. 88, S. 149-151) und von Jean de Breboeuf (t 1649) in einem Bericht seines Mitbruders Christophe Regnaut (Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610-1791, hg. v. Reuben Gold Thwaites, Bd. 34: Lower Canada, Hurons: 1649, New York 1959, S. 24-37; Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode, S. 83).
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Mehrfach wird hervorgehoben, daß erst das Feuer ihre Stimmen erstickt habe 203 . Leicht aber hatte es das Feuer - wie schon zu früheren Zeiten 204 nicht mit den neuen Heiligen. In Brüssel mußten die Henker ihr ganzes Knowhow unter Beweis stellen, um den Scheiterhaufen überhaupt zu entfachen; und als er dann brannte, rief einer der beiden Augustiner fröhlich heraus: „Mich geduncktt man strewe mir rosen vnder" 205 . In Heide erlosch das Feuer gleich zweimal 206 , was die umstehenden Dithmarscher (verstockt, wie sie waren) allerdings nicht als „grosses mirakel" zu deuten wußten 207 , sondern für Zauberei hielten 208 , so daß sie Heinrich von Zütphen mit Hieben und Stichen zum Schweigen brachten209, auf Kohlen legten 210 und am Ende - als der gewünschte Erfolg weiterhin ausblieb - zerhackten, um Kopf, Hände und Füße „yns vierde fewr" zu werfen, den „stumpff" aber umtanzten und unter Hohngelächter vergruben211. In Schärding schließlich - für Wien und Meersburg erwähnen die Flugschriften keine „Mirakel" 212 - brannte zwar das Feuer, nicht aber Leonhard Käser, der sich immer wieder aus den lodernden Flammen wälzte. Schier verzweifelt, wußten sich auch seine Henker nach einiger Zeit nicht mehr anders zu helfen, als ihn lebendig „zü stucken zü hawen", die allerdings auch nicht verbrannten und deshalb von den überforderten Henkern in den Inn geworfen wurden: „Aber etlich namen die brendt vnd der aschen / vnd trfigens mit in wegck" 213 . Obwohl dieser Befund keinen Zweifel daran zu lassen scheint, daß sich die Verfasser der reformatorischen Märtyrerflugschriften an den Passionsgeschichten des Neuen Testaments, der frühchristlichen Überlieferung und den mittelalterlichen Heiligenlegenden orientierten214, wird man mit Bernd Moeller fragen dürfen, ob das nicht auch für die Verurteilten selbst zutraf: „Vielleicht zwang ja 203
Besonders nachdrücklich für Heinrich Voes und Johann van den Eschen: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 17, 68. 204 Hingewiesen sei hier nur auf das Martyrium des Polykarp: Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, S. 304; vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in: Gerd Buschmann, Das Martyrium des Polykarp, Göttingen 1998, vor allem S. 291 ff. 205 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, S. 68. 206 Eynn Historie odder geschieht, Bl. A 4 r ; Ain erschrockliche geschieht, Bl. A 3V. 207 Wie Johann Lang in seiner „Historie odder geschieht", Bl. Α 4r. 208 Eynn Historie odder geschieht, Bl. A 4r; Ain erschrockliche geschieht, Bl. A 3V. 209 Ain erschrockliche geschieht, Bl. A 3V: „Als er auch von jnen etlich wunden entpfangen / der man vnder zwaintzig nicht an jme gezelet hat"; WA, Bd. 18, 1908, S. 240, 249f. 210 WA, Bd. 18, 1908, S. 240, 250. 211 Eynn Historie odder geschieht, Bl. A 4 r+v ; Ain erschrockliche geschieht, Bl. A 3V. 212 Caspar Tauber wurde enthauptet. 213 Das warhaftig geschieht, Bl. A 4V. - Vgl. vor diesem Hintergrund auch Robert W. Scribner, "Incombustible Luther": The Image of the Reformer in Early Modern Germany, in: Ρ & Ρ 110 (1986), S. 38-68. 214 Vgl. auch Herkommer, Die Geschichte vom Leiden und Sterben des Jan Hus, S. 119, 122 und passim; sowie: Christel Butterweck, „Martyriumssucht" in der Alten Kirche? Studien zur Darstellung und Deutung frühchristlicher Martyrien, Tübingen 1995, S. 228 ff.
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AM?. 7 So emsig die Henker auch arbeiten - das Feuer, das Heinrich von Zütphen verbrennen soll, wird immer wieder erlöschen. Wie seine Mitbrüder Heinrich Voes und Johann van den Eschen auf dem Titelholzschnitt der „histori" von Martin Reckenhofer kniet auch Heinrich von Zütphen gefaßt und betend in den Flammen. Einen Nimbus allerdings sucht man vergeblich. Die Abbildung zeigt den Titelholzschnitt der Ausgabe der „erschrecklichen geschieht" von Jacob Propst, die 1525 bei Heinrich Steiner in Augsburg gedruckt wurde. Die beiden anderen nachgewiesenen Ausgaben erschienen ohne Titelholzschnitt.
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
die vieldiskutierte Frage, w i e Menschen dieses Leid erfahren, ertragen, verstanden und vielleicht sogar bewältigt haben 2 6 . Nachdem Gryphius zwischen 1634 und 1644 bereits die Märtyrertragödie „Felicitas" des Jesuiten Nicolaus Causinus übersetzt 2 7 und spätestens 1647 in Straßburg auch sein erstes Trauerspiel abgeschlossen hatte, den „Leo Armenius" 2 8 , dramatisierte er möglicherweise noch vor seiner Rückkehr nach Schlesien im selben Jahr ein zeitgeschichtliches Ereignis, auf das er in den „Histoires tragiques de nostre temps" 2 9 des französischen Historikers Claude Malingre gestoßen war 3 0 : die Hinrichtung der Königin Catharina von Georgien im Jahre 1624 3 1 . Wobei auch hier gilt, was Albrecht Schöne bereits 1968 über Gryphius' „Carolus Stuardus" schrieb: „Ein Stück Geschichte wird dichterisch gestaltet, das heißt: in die richtige, dem wahren Wesen der Ereignisse entsprechende und sie offenbar machende Form gebracht. D i e historiographische und die dichterische . . . Stoffbehandlung bleiben so voneinander ungeschieden." 3 2
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Um nur zwei Positionen in dieser Kontroverse zu nennen: Arthur E. Imhof, Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren - und weshalb wir uns heute so schwer damit tun, München 1984, S. 91 ff.; sowie: Roeck, Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich, zusammenfassend S. 278 f. 27 Beständige Mutter / Oder Die Heilige Felicitas, Auß dem Lateinischen Nicolai Causini. Abdruck: Gryphius, Trauerspiele, Bd. 3, S. 1-70. - Die „Felicitas" des französischen Jesuitendichters erschien 1620 in Paris mit weiteren Dramen aus seiner Feder unter dem Titel „Tragoediae Sacrae". - Zu Causinus (Caussin, Causin) (1583-1651) immer noch empfehlenswert: Camille de Rochemonteix, Nicolas Caussin, confesseur de Louis XIII et du Cardinal de Richelieu, Paris 1911.- Vgl. darüber hinaus Willi Harring, Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten, Halle 1907, insbesondere S. 28ff.; Max Wehrli, Andreas Gryphius und die Dichtung der Jesuiten, in: Stimmen der Zeit 175 (1964), S. 25-39; James A. Parente, Andreas Gryphius and Jesuit Theatre, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 13 (1984), S. 525-551. 28 „Leo Armenius, Oder Fursten=Mord". Abdruck: Andreas Gryphius, Trauerspiele, Bd. 2, hg. v. Hugh Powell, Tübingen 1965, S. 1-96 - und: Andreas Gryphius, Dramen, S. 9-116. 29 Paris 1635. 30 Sieur de Saint-Lazare (1580-1653). 31 Als 16. Historie der Sammlung: „Histoire de Catherine Reyne de Georgie et des Princes Georgiques mis ä mort par commandement de Cha-Abas Roy de Perse" (S. 469-533). Dazu ausführlich: Eugene Susini, Claude Malingre, Sieur de Saint-Lazare, et son Histoire de Catherine de Georgie, in: Etudes Germaniques 23 (1968), S. 37-53; vgl. darüber hinaus Ludwig Pariser, Quellenstudien zu Andreas Gryphius' Trauerspiel „Catharina von Georgien", in: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte NF 5 (1892), S. 207-213; Zdzislaw Zygulski, Andreas Gryphius' „Catharina von Georgien" nach ihrer französischen Quelle untersucht, Lwow 1932 und Keith Leopold, Andreas Gryphius and the Sieur de Saint-Lazare. Α Study of the Tragedy Catharina von Georgien in Relation to its French Source, in: Keith Leopold. Selected Writings, hg. v. Manfred Jurgensen, New York u.a. 1985, S. 175— 202. - Einen detaillierten und zuverlässigen Überblick über Leben und Werk des Dichters ermöglicht: Blake Lee Spahr, Andreas Gryphius: Α Modern Perspective, Columbia 1993, insbesondere S. Iff.; wegweisend bleibt weiterhin: Wiedemann, Andreas Gryphius. 32 Schöne, Ermordete Majestät, S. 161.
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Die Handlung, die am Tag des Martyriums spielt, ist rasch wiedergegeben. Seit Jahren schon hält der persische Chach Abas die georgische Königin Catharina an seinem Hof gefangen. Er liebt die christliche Herrin des unterworfenen Nachbarlandes leidenschaftlich, wird allerdings von ihr zurückgewiesen. Als der Zar um die Freilassung Catharinas bittet, sagt Abas zu, gilt es doch, einen Friedensvertrag zu bekräftigen, der eben erst zwischen Rußland und Persien abgeschlossen wurde. Schon bald jedoch bereut er sein Versprechen und bricht es schließlich. Der Despot stellt die Gefangene vor die Wahl, seine Frau zu werden - oder in den Tod zu gehen: „Diß schlegt dir Abas vor: sein Ehbett oder Tod"33. Catharina aber bleibt standhaft und wählt das Martyrium, aus Treue zu ihrem ermordeten Ehemann, aus Treue zu ihrem Volk, vor allem aber aus Treue zu ihrem Glauben: „Wir ehren Persens Haupt; doch hoher vnsern Gott" 34 . Sie wird gefoltert und am Ende bei lebendigem Leib verbrannt. Abas kommen inzwischen Bedenken; schließlich widerruft er sein Todesurteil. Als er erfährt, daß es zu spät, daß Catharina tot ist, beginnt er zu klagen und sinkt in Verzweiflung; die verklärte Catharina erscheint und prophezeit ihm die Strafe Gottes: „Tyrann! der Himmel ists! der dein Verterben sucht / Gott läst vnschuldig Blut nicht raffen sonder Frucht. Dein Lorberkrantz verwelckt! dein sigen hat ein Ende. Dein hoher Ruhm verschwindt! der Tod streckt schon die Hände Nach dem verdamten Kopff. Doch eh'r du wirst vergehn; Must du dein Persen sehn in Kriges Flammen stehn / Dein hauß durch schwartze Gifft der Zweytracht angestecket / Biß du durch Kinder=Mord vnd Nächstes Blut beflecket Feind / Freunden vnd dir selbst vnträglich / wirst das Leben Nach grauser Seuchen Angst dem Richter vbergeben."35
Soweit die Handlung, deren apokalyptisches Ende 36 zugleich auf den Beginn des Trauerspiels zurückweist, der auch der Beginn dieser Annäherung sein soll, auf den Prolog der „Ewigkeit", die über Leichen und andere emblematische Requisiten37 steigen muß - so jedenfalls will es die Bühnenanweisung38 - , um mahnend vor ihr Publikum treten zu können: 33
Gryphius, Catharina von Georgien, S. 189, III, 408. Ebd., S. 198, IV, 212. 35 Ebd., S. 221, V, 4 3 1 ^ 4 0 . 36 „So gipfelt die Märtyrertragödie vollkommen folgerichtig in den apokalyptischen Motiven von Verklärung und Rache der Märtyrerin, denen im Gegenbild das eschatologische Gericht über den Chach entspricht". Hans-Jürgen Schings, Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit, in: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 35-72, hier S. 72. 37 Zur „Leiche als Emblem" immer noch grundlegend: Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 7 1996, S. 192ff.; vgl. auch Schöne, Emblematik und Drama, S. 217f.; Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Der triumphierende und der besiegte Tod in der Wort- und Bildkunst des Barock, Berlin und New York 1975, S. 70 ff. 38 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 139,1: „Der Schauplatz lieget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc." 34
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil „O DIE Ihr auff der kummerreichen Welt Verschrenckt mit Weh' vnd Ach vnd dörren Todtenbeinen Mich sucht wo alles bricht vnd feit / Wo sich Eu'r ichts 39 / in nichts verkehrt / vnd eure Lust in herbes Weinen!
Was dieser baut bricht jener Morgen ein / Wo jtzt Paläste stehn Wird künfftig nichts als Gras vnd Wiese seyn Auff der ein Schifers Kind wird nach der Herde gehn / Euch selbst / den grosse Schlosser noch zu enge Wird / wenn jhr bald von hier entweichen werdet müssen Ein enges Hauß ein schmaler Sarg beschlissen. Ein Sarg der recht entdeckt wie kurtz der Menschen Länge.
Schaut Arme! Schaut was ist diß Threnenthal Ein FolterHauß / da man mit Strang vnd Pfahl Vnd Tode schertzt." 40 N a c h d e m die „Ewigkeit" das „vanitas"-Thema virtuos durchgespielt hat, von der „vanitas"-Meditation bis zum „memento mori" 4 1 , und diese Demonstration in den topischen Gestus der Weltverachtung münden ließ 4 2 , des „contemptus mundi", stellt sie ihr Publikum schließlich vor die Wahl: e w i g e s Heil oder e w i ges Verderben: „Hir über euch ist diß waß ewig lacht! Hir vnter euch was ewig brennt vnd kracht. Diß ist mein Reich / wehlt / was jhr wundtschet zu besitzen. Wer allhier fählt dem wird nichts auff der Erden nutzen. Schaut deß Himmels Wollust an! Hir ist nichts denn Trost vnd Wonne Schaut den Kercker deß Verterbens / hir ist nichts denn Ach vnd Klage! Schaut das Erbschloß höchster Lust; hir ist nichts denn Freud vnd Sonne Schaut den Pfui der schwartzen Geister; hir ist nichts denn Nacht vnd Plage Was steht euch an? Diß ist was Ewig euch ergetzen vnd verletzen kann." 43 Nach der bilderreichen Demonstration der „vanitas mundi" und dem nachdrücklichen Appell, zwischen Diesseits und Jenseits zu wählen, bringt die „Ewigkeit", die sich bereits anschickt, den Schauplatz der Sterblichkeit wieder in Richtung Himmel zu verlassen, ihre Rede erstmals auf Catharina, deren Martyrium unmißverständlich zur Nachahmung empfohlen wird: „Schauplatz der Sterbligkeit / Ade! ich werd auff meinen Thron entrücket Die werthe Fürstin folget mir die schon ein hoher Reich erblicket /
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„ichts": etwas. Gryphius, Catharina von Georgien, S. 139,1, 1-4; S. 140,1, 27-34; S. 141,1, 65-67. Dazu ausführlich: Schings, Catharina von Georgien, S. 36 ff. Gryphius, Catharina von Georgien, S. 141,1, 68-70. Ebd., 71-80.
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Die in den Banden frey / nicht irrdisch auff der Erd / Die stritt vnd lid fur Kirch vnd Thron vnd Herd. Ihr / wo nach gleicher Ehr der hohe Sinn euch steht; Verlacht mit jhr / was hir vergeht. Last so wie Sie das werthe Blut zu Pfand: Vnd lebt vnd sterbt getrost fur Gott vnd Ehr vnd Land."44
Soweit der Prolog, den Hans-Jürgen Schings als „sinnbildliche Manifestation der Gryphschen Theorie des Trauerspiels" bezeichnet hat45, führe er doch, die kosmische Topographie von Himmel und Hölle beschwörend, in aller Deutlichkeit vor Augen, daß die „Catharina von Georgien" wie schon der „Leo Armenius" und später dann der „Carolus Stuardus" 46 und der „Papinian"47 heilsgeschichtlich zu deuten sei48, was wiederum auf eine heilspädagogische und damit konsolatorische Absicht schließen lasse49: „Der Entwurf des Märtyrerdramas erwächst aus einem paränetischen Argumentations- und Demonstrationssystem, das Vanitas-Darstellung und Memento mori, Contemptus mundi und Verweisung auf die Eschata seinem pathetischen Willen verfügbar macht. Der Prolog der ,Ewigkeit' muß unter solchen Gesichtspunkten als das höchst aufschlußreiche Bindeglied zwischen dem Trauerspiel und einem weitverzweigten literarischen Komplex verstanden werden, den man unter der ... Bezeichnung Erbauungsliteratur' kennt. Genauer besehen handelt es sich um die Literatur des Contemptus mundi, der Konsolatorien und der Ars moriendi, die seit patristischer Zeit mit einem Motivschatz operiert, der allenthalben in das Gryphsche Werk und auch in die Trauerspiele eingedrungen ist." 50 In anderen Worten: Der Prolog der „Ewigkeit" offenbart die Deutungskategorien und Sinnlinien, die es ermöglichen, das „Trauerspiel der irdischen Fakten" als exemplarisches Spiel um das höchste Heil zu verstehen51, und damit nicht zuletzt auch als Spiel, das mentale und soziale Orientierung vermitteln kann und soll52. Ganz so, wie der Doppeltitel „Catharina von Georgien. Oder Beweh-
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Ebd., 81-88. Schings, Catharina von Georgien, S. 36. 46 Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus Konig von Groß Brittannien. Abdruck der ersten Fassung von 1657: Andreas Gryphius, Trauerspiele, Bd. 1, hg. v. Hugh Powell, Tübingen 1964, S. 1-52; Abdruck der zweiten Fassung von 1663: ebd., S. 53-159; sowie in: Andreas Gryphius, Carolus Stuardus, hg. v. Hugh Powell, Leicester 2 1963, S. 3-104; Andreas Gryphius, Dramen, S. 443-575 (Kommentar: S. 1072-1137). 47 Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender /Emilius Paulus Papinianus. Abdruck der Erstausgabe von 1659: Andreas Gryphius, Trauerspiele, Bd. 1, S. 161-269; und Andreas Gryphius, Dramen, S. 307^141 (Kommentar: S. 999-1071). 48 Schings, Catharina von Georgien, S. 36, 64 ff. und passim. 49 Grundlegend zur konsolatorischen Funktion des barocken Trauerspiels - weit über die „Catharina von Georgien" hinaus: ders., Consolatio Tragoediae. 50 Ders., Catharina von Georgien, S. 38f. 51 Ebd., S. 44. 52 Ebd., S. 40. 45
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Abb. 26 Die Abbildung zeigt das Titelblatt einer Szenenstichserie von Gregor Bieber und Johann Using, die insgesamt acht Blätter umfaßt und eine Aufführung von Gryphius' Catharina-Tragödie dokumentiert, die wahrscheinlich 1655 am Hof des calvinistischen Piastenherzogs Christian in Ohlau stattfand: Chach Abas bietet der gefangenen Catharina die Krone an, Catharina jedoch - ebenso entschlossen wie entspannt auf den Symbolen der irdischen Herrschaft stehend, die Tulpe als Sinnbild des Martyriums in der linken Hand - zeigt sich wenig beeindruckt, während der Himmel aufreißt und den Blick auf einen Engel freigibt, der bereits auf dem Weg zur Fürstin ist, um sie mit Märtyrerkrone und Palmzweig auszuzeichnen. Als Vorlage für die Abbildung diente das Exemplar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel (Signatur: A l : 2710 a-h). Ein zweites Exemplar ist in der Universitätsbibliothek Wroclaw nachweisbar. - Abdruck aller acht Blätter: Andreas Gryphius, Trauerspiele, Bd. 3, Abb. 5 - 1 2 (Tafelteil).
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Abb. 27 Wie es die Regieanweisung will, so zeigt es das zweite Blatt der Szenenstichserie, das Bühnenbild und Bühnendekoration des Prologs dokumentiert: „Der Schauplatz lieget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau=Platz öffnet sich der Himmel / vnter dem Schau=Platz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel / vnd bleibet auff dem Schau=Platz stehen."
rete Beständigkeit" die emblematische Struktur des Trauerspiels formuliert53, indem er das historisch-politische Geschehen und seine Deutung „sub specie aeternitatis" zusammenschließt54, bringt der Prolog den inneren Konflikt des Dramas auf den Punkt: den Konflikt zwischen „Zeit" und „Ewigkeit"55. Was aber heißt das konkret? Was wird wie in die dramatische Gegenwart des Trauerspiels überführt? Schon ein kurzer Blick in die fünf Akte läßt erkennen, daß Gryphius die „eigentliche" Handlung immer wieder unterbricht, ja, an drei Stellen geradezu aussetzt, um auf der Quellengrundlage der erwähnten 16. „Histoire" des Sieur de Saint-Lazare56 ausführlich erzählen zu lassen, was pas53
Schöne, Emblematik und Drama, S. 196 f. Schings, Catharina von Georgien, S. 44. 55 Wegweisend zu diesem Konflikt: Wilhelm Voßkamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967, S. 120ff. 56 Gerhard Spellerberg ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, daß Gryphius dieser Quelle, „soweit er ihr folgt, sehr genau folgt". Gerhard Spellerberg, Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines „Märtyrerstückes". Zur Catharina von Georgien des Andreas Gry54
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sierte, bis Catharina in Gefangenschaft geriet, historisch vor allem, dynastisch und politisch; und was schließlich in den acht Jahren geschah, die seitdem vergingen: so im ersten Gebetsmonolog der Königin, der fast 70 Verse umfaßt 57 ; im Bericht des georgischen Gesandten Demetrius über die Ereignisse während ihrer Gefangenschaft, der auch die Geschichte des Reichsrats Meurab enthält58 - über 300 Verse59; und nicht zuletzt in jener Familien- und Lebensschilderung, die Catharina ebenso bereitwillig wie minutiös ausbreitet, als der russische Gesandte sie darum bittet, und die fast den gesamten dritten Akt füllt wieder über 300 Verse60. So „monströs ausführlich" und „sonderbar piaziert", so reich an Überschneidungen diese Passagen erzählter Geschichte auch sein mögen 61 , Gryphius hat sie bewußt und gezielt in sein Drama eingestaltet62, demonstrieren sie doch, in pathetischer Häufung Greuel an Greuel reihend, jenes Chaos der geschichtlichen Welt, das schon die „Ewigkeit" in ihren „vanitas"-Meditationen enthüllt hatte. So berichtet etwa der Gesandte Demetrius über „frembde Trauerspill", indem er summiert: „Man schaute nichts als Mord / als Jammer Weh vnd Thränen / Als Leichen / Kercker / Beil' / als hochbestürtzte Sehnen .. ."63.
Wie die Greuel gibt Demetrius auch die Laster und Verbrechen des Chach Abas reihend wieder: „Die Vntrew damit er die treuen Dinste zahlte / List / Grim / Verrätherey / Trug / Meineyd / Trotz vnd Gifft / Die Morde so von jhm begangen als gestifft Das vngerechte Recht / die duppel=falsche Zungen Die Sinnen / die durchauß nach eigen Nutz gerungen. Den Greuel damit er sein Weib vnd Kind betrübt; Als er ins Vätern Aug' vnmenschlich hat verübt Was man nicht nennen darff.. ,"64.
Greuelkataloge enthalten auch die Reyen. Die gefangenen Jungfrauen klagen: „Wir von Eltern vnd Bekandten Wir von Rath vnd Trost entblost
phius, in: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, hg. v. Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli, Bem u.a. 1996, S. 4 3 7 ^ 6 1 , hierS. 447 (Anm. 31). 57 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 146-148,1, 227-296. 58 Ebd., S. 153-169, I, 479-716. - Zusammenfassend etwa: Speilerberg, Narratio im Drama, S. 450ff.; pointiert zur politischen Rolle des Meurab: Elida Maria Szarota, Gryphius als politischer Dichter, in: dies., Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, Bern und München 1976, S. 127-141, hier S. 130. 59 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 151-160,1, 409-721. 60 Ebd., S. 179-188, III, 56-380. 61 Schings, Catharina von Georgien, S. 45. 62 Speilerberg, Narratio im Drama, S. 448 f. 63 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 155,1, 557 f. Μ Ebd., S. 159,1, 678-685.
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Lissen Blut= vnd Bund=Verwandten Auff der Häuser Brand gestost. Ach! Man riß vns durch Gebeine Glider / Corper / Graus vnd Stanck. Vnd zu stückte Marmelsteine / Fessel / Spisse / Trotz vnd Zwang / Zwischen angepfählten Leichen Jn der rauhen Parthen Land .. ." 65 . Und die „erwürgeten Fürsten" stehen ihnen darin in nichts nach: „Doch sterben war vns leicht / er kont vns erst den Tod vergällen / Durch aller Folter Art. Sein Grim entbrand als Glut der Hellen. Pfahl / Morsel / Spiß / Bley / Beil vnd Stangen / Rohr / Säge / Flamm / zuschlitzte Wangen / Entdeckte Lung' / entbloste Hertzen / Das lange zappeln in den schmertzen / Wenn man vns Darm vnd Zung entrückte! Das war was Abas Aug' erquickte." 66 Nur konsequent, wenn auch Catharina ihren Lebensbericht in Form eines Greuelkatalogs eröffnet: „Diß Auge stelt euch vor / ob schon die Lippe schweig't Daß nichts als lauter Weh / als Ach vnd grimme Schmertzen Als Mord / Verläumbdung / Haß / Verräther=tolles schertzen / Vnd eine Rut von Blut / vnd höchster Tyranney / Vnd Hencker / Brand vnd Pfahl euch vorzustellen sey l" 61 Obwohl die Folterung Catharinas nicht auf offener Bühne dargestellt wird - ein Tatbestand, der k e i n e s w e g s selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, was andere barocke Trauerspiele an Marterpraktiken und Hinrichtungsritualen in Szene setzen 6 8 - , schildert die Augenzeugin Serena das Quälen der Königin 65
Ebd., S. 164,1, 849-858. Ebd., S. 177, II, 393-400. 67 Ebd., S. 179, III, 56-60. 68 Peter J. Brenner geht - in Auseinandersetzung mit Hans-Jürgen Schings - sogar soweit, in dieser „Abdämpfung" einen Beleg für die These zu sehen, daß es Gryphius in seiner „Catharina" keineswegs in erster Linie darum gegangen sei, „Affekte auszulösen und damit eine konsolatorische Wirkung zu erzielen", was wiederum gegen eine vornehmlich heilsgeschichtliche Deutung des Dramas spreche: Der Tod des Märytrers. „Macht" und „Moral" in den Trauerspielen von Andreas Gryphius, in: DVjs 62 (1988), S. 246-265, hier S. 249f. Daß Gryphius auch anders konnte, zeigt die bereits erwähnte recht selbständige Übersetzung des Trauerspiels „Felicitas" des Jesuiten Nicolaus Causinus, die in der Darstellung von Martern aller Art, von anatomischen Details und rasenden Affekten noch über ihre Vorlage hinausgeht und dabei das „Greuelreservoir" des Barock voll ausschöpft. Ein Beispiel: Gryphius, Trauerspiele, Bd. 3, S. 62ff., V, 440-481. - Ausführlich zu diesem „Reservoir": Ludwig Fischer, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968, S. 99; und als kommentierte Sammlung von Belegstellen: Jürg Kaufmann, Die Greuelszene im deutschen Barockdrama, Zürich 1968, etwa S. 90ff. - Grundlegend: Reinhart Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von .Agrippina', Göttingen 66
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doch so genau, daß ihr Bericht alle vorangegangenen „vanitas"-Demonstrationen in den Schatten stellt69: „Die Stucker hingen nu von beyden Schenckeln ab; Als man jhr auff die Brust zwey grimme Zuge gab. Das Blut sprützt vmb vnd vmb vnd leschte Brand vnd Eisen / Die Lunge ward entdeckt. Der Geist fing an zu reisen Durch die / von scharffem Grimm new auffgemachte Thor." 7 0
Doch auch damit nicht genug. Nach der Folterung führen die Henker das zerrissene, aber immer noch lebende, ja, sogar sprechende Opfer über die Bühne, um es den Flammen auszuliefern: „Willkommen süsser Tod! ... Wir haben uberwunden / Wir haben durch den Tod das Leben selbst gefunden. Ach JEsu kom!"71 Vor allem aber: Nachdem der Priester, der Catharina zum Scheiterhaufen begleitet hatte, zurückgekehrt ist, stellt er, das „theatrum mundi" endgültig zur „arena martyrum" verengend72, das verbrannte Haupt der Königin zur Schau73, das damit zum letzten und höchsten Requisit der „Vergänglichkeit menschlicher Sachen"74, der „Folter Menschliches Lebens"75 wird, zum beklemmenden Emblem einer Welt, die als „Folter=Kammer"76 gar nicht anders kann, als Märtyrerinnen und Märtyrer zu produzieren, und die auf diese Weise immer wieder auch den Blick auf die „Ewigkeit" freigibt77. Das verbrannte Haupt der Königin wird nicht zuletzt zum eschatologischen „Schaubild" eines exemplarischen fürstlichen Gipfelsturzes78, der als weiteres beweiskräftiges
1986, insbesondere S. 213ff.; vgl. dazu auch Arnd Beise, Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, in: Ein Schauplatz herber Angst, S. 105-124; Bassler, Zur Sprache der Gewalt in der Lyrik des deutschen Barock; Susanne Bauer-Roesch, „Zerknirschen / zerschmeissen / zermalmen / zerreissen". Gewalt auf der Opembühne des 17. Jahrhunderts, in: Ein Schauplatz herber Angst, S. 145-169. 69
So auch Settings, Catharina von Georgien, S. 47, der die Funktion dieser „Demonstrationen" auf den Punkt gebracht hat: „Nicht Illusion, sondern Demonstration ist der Grundgestus des Trauerspiels" (S. 46). 70 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 210, V, 91-95. 7 > Ebd., S. 211, V, 119-123. 72 Schings, Catharina von Georgien, S. 42. 73 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 214, V, 210-220. 74 Ders., Trauerspiele, Bd. 2, S. 3 (Vorrede zum „Leo Armenius" - an den „Großgünstige Leser"). 75 So der Titel einer „Leich=Abdanckung" von 1648, die das Catharina-Exempel eröffnet. Andreas Gryphius, Dissertationes funebres, Oder Leich=Abdanckungen ..., Leipzig 1667, S. 344f.; vgl. auch Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 124 ff. 76 Gryphius, Dissertationes funebres, S. 260 (Leichabdankung: „Uberdruß Menschlichen Lebens"). 77 In diesem Sinne auch: Will Hasty, The Order of Chaos: On Vanitas in the Work of Andreas Gryphius, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 18 (1989), S. 145157. 78 Paradigmatisch zum Fürstensturz im barocken Trauerspiel als ,,all-irdische[m] Katastrophenereignis in seiner schärfsten Profilierung": Schöne, Ermordete Majestät, S. 128ff.
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Abb. 28 Das siebte Blatt der Szenenstichserie zeigt die Folterung Catharinas, die in der ersten Szene der fünften Abhandlung der Tragödie beschrieben, aber nicht dargestellt wird.
„vanitas"-Prinzip auch im „Leo Armenius"79, im „Papinian"80 und vor allem im „Carolus Stuardus" das Gesetz des Daseins vor Augen führt: „Der Fürst ist höchster Repräsentant der Kreatur auch im Hinblick auf ihre Vergänglichkeit. Da es im Leben kein Verweilen gibt, muß selbst er stürzen, und sein Sturz ist beispielhaft, weil er vom Gipfel des Daseins aus erfolgt, weil er tiefer führt und darum schrecklicher, erschütternder ist als der jedes anderen."81 So bereitwillig, standhaft und frei Catharina am Ende des Trauerspiels das Martyrium auf sich nimmt, um dem Ruf der „Ewigkeit" zu folgen - das Chaos der historisch-politischen Welt, das die Passagen erzählter Geschichte demonstrieren, zeigt sie keineswegs als Verächterin dieser Welt. Im Gegenteil: Die 79
Gerhard Kaiser, Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, in: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 3-34, hier etwa S. 12f. 80 Herbert Heckmann, Elemente des barocken Trauerspiels. Am Beispiel des „Papinian" von Andreas Gryphius, Darmstadt 1959, S. 94ff.; Karl-Heinz Habersetzer, Politische Typologie und dramatisches Exemplum. Studien zum historisch-ästhetischen Horizont das barokken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius' Carolus Stuardus und Papinianus, Stuttgart 1985, S. 82 ff. und passim. 81 Schöne, Ermordete Majestät, S. 130f.
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Catharina, die da agiert, agiert als Machtpolitikerin von hohen Graden. Wie Chach Abas, der Tyrann82 und Christenverfolger83, der „Bluthund"84 und radikale Exponent der „vanitas mundi"85, weiß auch die „werthe Fürstin"86 Catharina, was „prudentia politica", was „ratio status" heißt87. List und Hinterlist sind ihr ebensowenig fremd wie militärische Präventivschläge, wie Verrat und sogar Meuchelmord88. Und in den Jahren Ihrer Gefangenschaft? Obwohl man sie viel und lange beten sieht, um Erlösung im Jenseits geht es da nicht: „... Ach wie lang zih ich in disem Joch. Wie fern von meinem Hoff! vnd weggeraubter Crone! Vnd vmbgekehrten Reich! vnd dem verjagten Sohne!" 89
Als sie träumt, wie sich ihre „besteinte Cron" - die Krone des georgischen Teilkönigreichs Gurgistan - in einen Dornenkranz verwandelt90, ahnt sie zwar, was dieser Traum bedeutet. Von der Konsequenz eines radikalen „contemptus mundi" aber ist sie noch immer weit entfernt. Noch immer kreisen ihre Gedanken um die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre, um die mörderischen Machtkämpfe innerhalb der eigenen Dynastie, um das Schicksal ihres Sohnes Tamaras nicht zuletzt91. Als sie wenig später erfährt, daß ihr Sohn lebt und noch dazu den Thron bestiegen hat, reagiert sie denn auch keineswegs als designierte Märytrerin, die eben noch bangend nach Zeichen der Nähe Gottes gefragt hat92, sondern als triumphierende Fürstin, die „vor Lust" kaum spre-
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Gryphius, Catharina von Georgien, S. 147,1, 279. Ebd., S. 154,1,517-528. 84 Ebd., S. 177, II, 403. 85 Schings, Catharina von Georgien, S. 55. 86 Eine Bezeichnung, die selbst die „Ewigkeit" im Prolog verwendet: Gryphius, Catharina von Georgien, S. 141,1, 82. 87 Dazu ausführlich Speilerberg, Narratio im Drama, S. 449 ff. 88 Beispiele: Gryphius, Catharina von Georgien, S. 157-159, I, 604-673; S. 182f., III, 168-212. - Zusammenfassend: Spellerberg, Narratio im Drama, S. 449ff. - Zur Quellennähe dieser Passagen vgl. insbesondere Gerald Gillespie, Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, in: Geschichtsdrama, hg. v. Elfriede Neubuhr, Darmstadt 1980, S. 85-107, hier S. 94 ff., den Peter J. Brenner allerdings präzisiert: „Um Catharina am Ende dennoch als Märtyrerin darstellen zu können, muß Gryphius zu einer literarischen Camouflage greifen: Er folgt in der Darstellung der Vorgeschichte der Quelle zwar genau; aber er verwirrt sie - auch durch eine chronologische Umstellung - so, daß die Handlungen Catharinas und ihrer Anhänger nur sehr schwer rekonstruierbar sind - ein Umstand, vor dem auch die germanistische Forschung oft kapituliert hat." Brenner, Der Tod des Märtyrers, S. 257. 83
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Gryphius, Catharina von Georgien, S. 147,1, 284-286. Zur „Rosa-vita-Metaphorik" dieses Traums: Alois M. Haas, Nachwort, in: Andreas Gryphius, Catharina von Georgien, hg. v. Alois M. Haas, Stuttgart 1977, S. 135-157, hier S. 147. 91 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 148 f., I, 324-350. 92 Ebd., S. 146,1, 227-230. - Vgl. auch ebd., S. 144,1, 185-193. 90
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
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Abb. 29 Das achte Blatt der Szenenstichserie führt schließlich vor Augen, wie die verklärte Catharina, die einen Palmzweig trägt, in der letzten Szene der fünften Abhandlung Chach Abas erscheint, um ihm die Strafe Gottes zu prophezeien: „Tyrann! der Himmel ists! der dein Verterben sucht / Gott läst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht."
chen kann: „Sie zittert! sie bestirbt!"93, und damit allzu offensichtlich zeigt, was die neostoisch grundierte Anthropologie der Zeit als Quelle aller Unbeständigkeit lokalisierte: Affekt, Leidenschaft, „perturbatio"94: „Der Sturm der Angst vergeht! die Last von meinem Hertzen Verfällt auff diese Stund! Ach / Ketten / Noth vnd Stein Sind mir ein Kinderspiel / mein Sohn! wenn dich allein 93
Ebd., S. 150,1, 363. Dazu konkret: Schings, Catharina von Georgien, S. 56 ff., der vor allem auf die entsprechenden Passagen in Justus Lipsius' „Constantia"-Schrift verweist, die seit kurzem in einer neuen Ausgabe vorliegt: De Constantia - Von der Standhaftigkeit (Lateinisch-Deutsch), übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort v. Florian Neumann, Mainz 1998 - hier etwa das fünfte Kapitel des ersten Buches: S. 31-41; Stefan Kiedron, Andreas Gryphius und die Niederlande. Niederländische Einflüsse auf sein Leben und Schaffen, Wroclaw 1993, S. 106ff.; Jean-Louis Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, in: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, S. 189-206; und: Bornscheuer, Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 210ff. - Allgemeiner zum Beispiel: Erwin Rotermund, Der Affekt als literarischer Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Pas94
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
Abb. 30 Die Abbildung zeigt das doppelseitige Titelkupfer der lateinischen Übersetzung einer erstmals 1648 in England erschienenen und bald schon in zahlreichen Auflagen kursierenden Schrift über Karl I., die Gryphius für seinen „Carolus Stuardus" benutzt hat - in dem Glauben übrigens, sie stamme vom König selbst: die ,,Είκών βασιλική vel Imago Regis Caroli" von 1649. Auf der linken Seite des Kupfers erscheinen der von Wind und Wellen umtoste Felsen, „IMMOTA TRIUMPHANS", und die mit Gewichten belastete Palme, „CRESCIT SUB PONDERE VIRTUS", die beide ihren festen Platz in den Emblembüchern des 17. Jahrhunderts haben. Auf der rechten Seite kniet Karl I. Vor seinen Füßen liegt eine Königskrone, über der die Inscriptio „Splendidam et gravem" [coronam] erscheint - und in deren Reif das Wort „Vanitas" zu lesen ist. In seiner rechten Hand hält Karl die Dornenkrone des Märtyrers. Über ihr steht „Asperam et levem", in ihr „Gratia". Der Blick des Königs ist in den Himmel gerichtet, wo über den Wolken die sternengeschmückte Krone des ewigen Lebens schwebt: die Worte „Beatam et jEternam" über ihr, „Gloria" in ihrem Reif. Folgt man Albrecht Schöne, so hat Gryphius die Kronen-Trias aus dieser bildlichen Darstellung in die Bildersprache seines Dramas übertragen: „... unter dem dreigestuften Sinnbild vollzieht sich die figurale Gleichung des Carolus mit dem leidenden Christus, die das Trauerspiel verkündet." Schöne, Emblematik und Drama, S. 221; vgl. auch dens., Ermordete Majestät, S. 128 ff.
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
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Abb. 31 Nach der Hinrichtung Karls I. am 30. Januar 1649 in London begannen Flugblätter, die das Ende des Königs als Martyrium, ja, als Passion Christi in Szene setzten, Europa regelrecht zu überschwemmen. Obwohl es keinen Beleg dafür gibt, daß Gryphius das abgebildete Blatt kannte, entspricht die Verbindung von Ehrenrettung und Racheappell in der fingierten Rede Karls, die sämtliche Alexandriner umfaßt, doch recht genau der Haltung des Dichters im „Carolus Stuardus", wenn man das angesichts einer figuralen „historia"-Deutung überhaupt sagen kann. Druck und Kommentar: Die Sammlungen der hessischen Landes· und Hochschulbibliothek in Darmstadt, S. 350f., Nr. 261 (Signatur des Flugblatts: Günd. 8045, fol. 90a).
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil Der Blitz nicht hat berührt! mein Sohn nu du entgangen! Mein Sohn! nu du regirst nun bin ich nicht Gefangen!" 95
N a c h d e m schließlich alle Z w e i f e l an der Wahrheit der Nachricht ausgeschlossen sind, wendet sich Catharina an Gott: „... Ο höchster Fürst du schiigst vnd heilst die Wunde / Du senckest vns in Pein / doch beutest du die Hand Wenn aller Menschen Rath vnd hoffen sich gewand. Wolan! ich will das Joch der Plagen Daß du auff meinen Hals gelegt Mit vnverzagtem Mutt' ertragen Nach dem mein Weinen dich bewegt. Nun du / in dem ich hir verstricket Mein Reich vnd Kind hast angeblicket. Nu klag ich nicht was ich verlohren / Weil du diß Pfand erhalten hast. Mir ist als wenn ich Neu gebohren Ich fühle keiner Kummer Last. Ich will diß Sorgen volle Leben Für Reich vnd Sohn dir willig geben." 96 Catharina versteht die politische Erfolgsnachricht als göttlichen Gnadenerweis 9 7 . Der Umschlag ihres Affektzustandes von tiefster Angst zu höchster Lust kulminiert in einer regelrechten „conversio": „Mir ist als wenn ich N e u gebohren". Obwohl auch dieser Gebetsanruf noch keine weltverachtende Catharina in Szene setzt 9 8 , neigen doch alle Interpreten dazu, die Reaktion der Königin als den Beginn ihrer Wandlung von der engagierten - oder besser vielleicht: moderat skrupellosen - Machtpolitikerin in die opferbereite, diesseitsüberwindende christliche Märtyrerin zu deuten 9 9 . Gewiß, die Exponenten der radikal-religiösen Lesart des Dramas lassen keinen Zweifel daran, „daß Cathasiones im 17. Jahrhundert, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1968, S. 239-269; Hans-Jürgen Schings, Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, hg. v. Walter MüllerSeidel, München 1974, S. 521-537; Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 221 ff.; Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit, S. 34ff.; Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock, hg. v. Ulrich Heinen und Andreas Thielemann, Göttingen 2001. - Zum Eindringen der stoischen - peiorativen - Bedeutung der Leidenschaft als „perturbatio" in die christliche Tradition: Albrecht Dihle, Ethik, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt, hg. v. Theodor Klauser, Bd. 6, Stuttgart 1966, Sp. 646-796, hier Sp. 771 f. 95
Gryphius, Catharina von Georgien, S. 150,1, 366-370. Ebd., S. 151,1, 394-408. 97 Pointiert: Schings, Catharina von Georgien, S. 65. 98 Vgl. Speilerberg, Narratio im Drama, S. 455. 99 So dezidiert auch Interpreten, die Gryphius' Trauerspiele nicht vornehmlich oder ausschließlich als „Dramen der Transzendenz" verstehen - wie etwa Lothar Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 211. 96
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
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rinas Leben in der Gefangenschaft von allem Anfang an auf das Martyrium hin, das in Christi Leiden seine Sinnvorgabe hat, unmißverständlich bezogen ist" 1 0 0 . D i e Zäsur aber, die diese „conversio" markiert, stellen auch sie nicht in Frage 1 0 1 . Als Chach Abas seine Gefangene wenig später vor die Wahl stellt, ihn zu heiraten und damit ihren Glauben aufzugeben oder zu sterben, reagiert Catharina immer noch als Fürstin, die weiß, was sie ihren Untertanen schuldig ist: „Wer würd in Gurgistan / da jhn die Angst erwischt / Durch vnser Beyspil nicht zum Abfall angefrischt? Was? Würd ein schwaches Kind / ein zartes Frauulein dencken / Sol mich die grimme Pein biß zu dem Mord=Pfahl krencken? Wenn Catharine selbst den Thron furs Creutz erkohr Vnd eh'r deß Glaubens Krantz' als jhren Leib verlohr?" 102 Gleichzeitig aber läßt sie keinen Z w e i f e l daran, daß ihre Metamorphose bereits weit fortgeschritten ist, wenn sie ihnen empfiehlt: „... da euch ja die Angst solt' vberfallen; Sucht eurer Konigin standhafftig nachzuwallen / Nemt Kercker fur Paläst / fur Freyheit; Ketten an / Für Reichthumb / kiest Verlust vnd was ergetzen kan Verwächselt mit der Qual. Wagt Freund vnd Fleisch vnd Jahre! Erschreckt für keiner Flamm! springt auff die Todtenbare! Küst Schwerdter die man euch durch Brust vnd Gurgel treibt! Wenn euch der eine Schatz deß heiigen Glaubens bleibt!" 103 N a c h d e m schließlich alle Befreiungsversuche fehlgeschlagen sind: „Der Purpur ist entzwey / der Zepter gantz zustücket" 1 0 4 , nimmt Catharina die blutige Prüfung als Gottes Willen an, als providentielle Bewährungsprobe und B e w ä h rungschance in einer heillosen Welt, deren Ordnung anderen Gesetzen folgt als den Gesetzen Gottes: „Wir haben satt gelebt / vnd können nichts begehren Das vns die grosse Welt noch mächtig zu gewehren. Wir haben Kirch vnd Cron beschützt mit Rath vnd Schwerdt Armenien beherscht. Der Persen Land verhert / Deß Schwehers trüben Fall / deß Libsten Blut gerochen / Der blinden libe Joch des Todes Pfeil zubrochen. Vnd steigen in der Blütt deß Alters auff die Bar Doch mehr als im Triumph zu vnserm Schlacht=Altar. Wo wir diß vnser Fleisch zum Opffer vbergeben Dem der sich selbst für vns liß in ein Holtz erheben. 100
Haas, Nachwort, S. 147. - Vgl. auch Krummacher, Das deutsche barocke Trauerspiel, S. 265. 101 Schings, Catharina von Georgien, S. 61: „Von nun an ist Catharina über alle irdische Furcht und Hoffnung hinaus ...". 102 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 197, IV, 167-172. 103 Ebd., S. 197 f., IV, 173-180. 104 Ebd., S. 203, IV, 361; dazu auch Speilerberg, Narratio im Drama, S. 452f.
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil Die Erden stinckt vns an / wir gehn in Himmel ein. Betrübt euch Libste nicht! die Pein ist sonder Pein!"105
Erst jetzt ist die Metamorphose abgeschlossen. Erst jetzt erkennt Catharina, daß die Ordnung, die sie als Fürstin geschaffen hat, eine wahnhafte Ordnung ist. Erst jetzt versteht sie, daß „prudentia politica" und „ratio status" jenes Chaos der geschichtlichen Welt, das sie überwinden sollen, erst erzeugen und perpetuieren 106 . Erst jetzt ist sie in der Lage, die Sorge um Krone und Thron, um Herrschaft und Familie als falsche Sorge zu entlarven, als Sorge, die den Regungen des menschlichen Herzens und den Ratschlägen der menschlichen Vernunft entspringt 107 . Erst jetzt vermag sie, ihre Einsicht in die „vanitas mundi" als Gnadenerweis und Heilszeichen zu deuten 108 und „gott-verlobt" in den Tod zu gehen 109 . So, wie vor ihr schon „skandalös unverdient"110 und geradezu „blitzartig"111 der byzantinische Kaiser Leo Armenius, als er im Augenblick seiner Ermordung das Kreuz küßt, an dem Christus starb112: „Ich hab es selbst gesehn / wie Er das Creutze kußte: Auff das sein Corper sanck / vnd mit dem kuß verschied" 113 , so daß sich sein Blut mit dem des Erlösers mischt 114 ;
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Gryphius, Catharina von Georgien, S. 204f., IV, 417^28. In diesem Sinne auch Speilerberg, Narratio im Drama, S. 459. 107 Zusammenfassend zur lutherischen bzw. protestantischen „vanitas"-Vorstellung, die ihre mehr oder weniger verbindliche Exegese in Luthers Vorlesung über den „Prediger Salomo" von 1526 bzw. in seinen „Annotationes in Ecclesiasten" von 1532 gefunden hat: ebd., S. 457f. - Druck von Vorlesung und „Annotationes": WA, Bd. 20, 1904, S. 7-203. - Vgl. darüber hinaus Luthers Vorreden in seiner Bibelübersetzung „auff die Spruche Salomo": WA, Bd. 10, 2. Abt. (Die Deutsche Bibel), 1957, S. 2-4 (Das Alte Testament 1524); „auff die Bucher Salomonis": ebd., S. 6-11 (Bibel 1534/1545); und „auff den prediger Salomo": ebd., S. 104-106 (Das Alte Testament 1524). 108 Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 199ff. 109 Ausführlich zum „Imitatio"-Charakter von Catharinas Martyrium: Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 264 ff. 110 Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 195. 111 Ebd., S. 197. 112 Vgl. dazu Kaiser, Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, S. 23f.: „Mit den plötzlich geöffneten Augen des Glaubens erkennt Leo in dem ihm verkündeten Gericht Gottes, das er bisher zu fliehen versucht hatte, seine Erlösung ..." - sowie: Peter Rusterholz, Nachwort, in: Andreas Gryphius, Leo Armenius, hg. v. Peter Rusterholz, Stuttgart 21996, S. 127-146, hier S. 139ff.; Speilerberg, Narratio im Drama, S. 459f.; weiterführend in diesem Zusammenhang auch M. S. South, Leo Armenius oder die Häresie des Andreas Gryphius. Überlegungen zur figuralen Parallelstruktur, in: ZdtPhil 94 (1975), S. 162-183, hier etwa S. 182; Jürgen Zimmerer, Innerweltlicher Triumph oder transzendentale Erlösung? Über den Einfluß der Theologie Martin Luthers auf Andreas Gryphius' Drama Leo Armenius, in: Aus der Vielfalt des Vergänglichen. Festschrift für Wilhelm Blum, hg. v. Thomas Goppel, Regensburg 1993, S. 53-68; sowie Peter J. Burgard, König der Doppeldeutigkeit: Gryphius' Leo Armenius, in: Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, hg. v. Peter J. Burgard, Wien u. a. 2001, S. 121-141. 113 Gryphius, Leo Armenius, S. 82, V, 164 f. 114 Ebd., 166-170: 106
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
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und wie später dann Karl 1 1 5 und Papinian 1 1 6 , die allerdings bereits als Gerechte in das „theatrum mundi" eingeführt werden: Karl als geläuterter Schmerzensmann 1 1 7 , Papinian als gesetzestreuer und kompetenter Staatsdiener 1 1 8 , beide als christomimetische Figuralzeugen der Heilswahrheit 1 1 9 , die von Anfang an „das E w i g e im Vergänglichen selber aufleuchten" sehen 1 2 0 . Angesichts einer Protagonistin, die das Heilsprinzip der „Bewährung" als Gesetz ihres Schicksals begreift: „Wir ehren Persens Haupt; doch hoher vnsern Gott
Der durch das Creutz bewehrt die Seelen die er übet" 1 2 1 , liegt es nahe,
die Ausgangsthesen dieses Kapitels in Erinnerung zu rufen, um die „Botschaft" oder besser vielleicht die „Botschaften" des Trauerspiels noch einmal präzise und „kontextbezogen" zu bestimmen - vereint doch dieses Prinzip die beiden elementaren Motive von Gryphius' „consolatio": die permanente Folter-Situation des Menschen in der Welt und die heilbringende Gegenwart Gottes 1 2 2 . S o groß die Zahl der Catharina-Kontroversen ist 1 2 3 : Es spricht viel dafür, die Tragödie der georgischen Königin in erster Linie als lutherische „Eitelkeits-
„Wie man die Leich vmbriß / wie man durch jedes glied Die stumpfen Dolchen zwang / wie JESUS letzte gaben / Sein thewres fleisch vnd blutt / die matte Seelen laben / Die ein verschmachtend Hertz in letzter angst erfrischt: Mit Keyserlichem Blutt / (O grewell) sind vermischt." 115
Spellerberg, Narratio im Drama, S. 460; Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 199f. 116 Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 200ff. 117 Gryphius, Ermordete Majestät, S. 81,1, 274-284 (Fassung von 1663): „Er helffe wie Er wil! reicht uns den Sterbe=Kittel. Ο letztes Ehren=Kleid / das Carl mit aus der Welt Von so vil Schätzen nimmt / mit dem die Pracht verfält Die uns vor disem zirt. der Purpur muß verderben. Doch wird der Adern Brunn die reine Leinwand färben. So weiß wir angethan vom Läger uns erheben / So sauber wird der Geist vor Gottes Richt=Stul schweben / Und zeugen wider die / die mit geschmincktem Schein Auff ihres Königs Hals selbst Part und Richter seyn." 118 Prägnant: Wiedemann, Andreas Gryphius, S. 463 ff. 119 Zu Karl: Schöne, Ermordete Majestät, S. 154ff., 166 und passim, der zu Recht betont, daß vor allem die zweite Fassung des Stuart-Dramas von 1663 die „Carolus-Christus-Gleichung" erweitert und verstärkt habe. - Zu Papinian: Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 201. 120 Schöne, Ermordete Majestät, S. 160. 121 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 198, IV, 212 und 214. 122 Zum transzendenten, providentiellen Prinzip der „Bewährung" als Trostargument: Schings, Catharina von Georgien, S. 65 f., der hervorhebt, daß dieses Prinzip „nichts mit einem innerweltlichen Heroismus zu tun" habe, „der sich vor sich selbst bewährt". 123 Wichtige Entwicklungslinien und die „einschlägigen" Positionen markiert zum Beispiel Spellerberg, Narratio im Drama, S. 437 ff.
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
erklärung an die Adresse der kurrenten Souveränitätstheorien und deren Apotheose der Staatsklugheit"124 zu lesen und zu verstehen125. Ein Befund, der im übrigen auch auf den „Carolus Stuardus"'26 und unter veränderten Vorzeichen auf den „Papinian" zutrifft127. Die große Mehrzahl der Catharina-Interpreten geht davon aus, daß die „vanitas"-Demonstration des Dramas, die in der Weltabsage Catharinas ihren Höhepunkt erreicht, als eschatologische Warnung gedeutet werden muß, den irdischen Spielplatz nicht zu überschätzen128, und damit zugleich als Heilmittel gegen die neostoisch grundierte Wahnvorstellung, 124
So Conrad Wiedemann schon 1984: Andreas Gryphius, S. 460. Beispiele: Brenner, Der Tod des Märtyrers, S. 259ff.; Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 197f.; Bornscheuer, Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 212 ff.; Speilerberg, Narratio im Drama, S. 449f., 457ff. 126 In diesem Sinne bereits Elida Maria Szarota, Gryphius' Carolus Stuardus, in: dies., Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern und München 1967, S. 234-266. - Zusammenfassend zur neueren Forschung: Raffy, Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 199 f. 127 Gerhard Speilerberg, Recht und Politik. Andreas Gryphius' „Papinian", in: Der Deutschunterricht 37 (1985), S. 57-68; Jean-Louis Raffy, Le «Papinianus» d'Andreas Gryphius (1616-1664). Drame de martyr et sicularisation du theatre en Allemagne au XVII si£cle, Bern u.a. 1992; Wilfried Barner, Der Jurist als Märtyrer. Andreas Gryphius' „Papinianus", in: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart, hg. v. Ulrich Mölk, Göttingen 1996, S. 229-242; Okko Behrends, Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen, in: ebd., S. 243-291; Peter Michelsen, Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius' Aemilius Paulus Papinianus, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 17 (1995), S. 45-70. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch die wegweisende Weiterentwicklung dieser „Papinian"-Lesart von Conrad Wiedemann: „Gryphs Abbildung des absolutistischen Paradoxes, daß die zum .sterblichen Gott' stilisierte Institution des Staates durch keineswegs göttliche Individuen repräsentiert und perpetuiert werden muß, wird durch diese Kontrastierung zu einer unerwartet kritischen Denkfigur, einer Denkfigur, die im Kern auf die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentation und Verantwortung im absoluten Staat hinausläuft. Der Gedanke ist ebenso einleuchtend wie konkret: Wenn der absolute Fürst, in der Regel politischer, juristischer und theologischer Laie, eben dadurch verstärkt gefährdet erscheinen muß, die religiöse oder naturrechtliche Legitimation seiner provozierenden Machtfülle zu verkennen, dann muß der Instanz, die diesen theoretisch einkalkulierten Mangel durchschaut, eine erhöhte Verantwortung zukommen. Diese Instanz ist natürlich die neue Kaste der politisch gebildeten Juristen, gelegentlich auch Theologen." Wiedemann, Andreas Gryphius, S. 465 f. - Instruktiv darüber hinaus: ders., Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners „Barockrhetorik", in: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 27. bis 31. August 1973: Vorträge und Berichte, Hamburg 2 1976, S. 21-51; ders., Heroisch - Schäferlich - Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung, in: Schäferdichtung, hg. v. Wilhelm Voßkamp, Hamburg 1977, S. 96-122; sowie ders., Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie, in: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 574-591, hier vor allem S. 588 f. 128 Grundlegend zur Eschatologie bei Gryphius - auch über seine Dramen hinaus: Voßkamp, Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 99 ff. 125
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die „ratio politica" könne das Leid der Welt lindern und damit die christliche Weltunsicherheit verringern129. Die Catharina-Tragödie entlarvt also die Versprechungen der politischen Vernunft als Zeichen menschlicher Überheblichkeit, was sie wie den „Carolus Stuardus" und den „Papinian" zu einer „politisch-theologischen Tragödie" werden läßt, zu einer. Tragödie, die beides ist: eine Tragödie der „Transzendenz" und eine Tragödie der „Immanenz" 130 . Was aber bedeutet diese Entlarvung für das schwierige Verhältnis von göttlicher und menschlicher Dramaturgie? Ein vergleichender Blick in die zeitgenössische Kirchenlieddichtung131 und „consolatio"-Literatur132 läßt keinen Zweifel daran, daß diese Frage, die in der Catharina-Forschung bislang nicht oder doch zumindest nicht explizit gestellt wurde, nur eine Antwort erlaubt, sprechen doch beide Gattungen offen aus, was die Tragödie verschlüsselt: Indem die göttliche Dramaturgie das Leiden als bewußte Tat der Leidensüberwindung in der „constantia" konkretisiert, überführt sie das menschliche Handeln, das als Leid sinnvoll gemacht wurde, in das göttliche Heilshandeln, das wiederum im Leid - und nur im Leid - exemplifiziert wird 133 . Oder - explizit protestantisch gesprochen: Indem die Catharina-Tragödie den Menschen davor warnt, seinen Vernunftkult zu übertreiben, warnt sie ihn zugleich davor, seine Erlösungsvoraussetzung aufs Spiel zu setzen. Denn: Wer auf die „theologia cruris" verpflichtet ist, muß jede Einschränkung seiner Bewährungs- und Leidensfähigkeit als bedrohlich empfinden 134 . Wenn die protestantische Märyrertragödie eine Antwort auf die „Krisen"Erfahrungen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gegeben hat oder doch zu-
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Pointiert: Wiedemann, Andreas Gryphius, S. 460ff. Bornscheuer, Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 219f. 131 Zusammenfassend: Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts, S. 96f. 132 Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, insbesondere S. 152ff., der auch auf das einschlägige katholische Schrifttum verweist. - Einen Überblick über die Formen, Inhalte und Rezeptionskonjunkturen erbaulicher Literatur in der frühen Neuzeit in Europa ermöglicht: Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 114 ff.; vgl. auch dens., Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert, T. 2, S. 683-700. 133 Zur Demonstration der „constantia" in der Literatur des 17. Jahrhunderts - neben den Arbeiten von Hans-Jürgen Schings - immer noch wegweisend: Werner Welzig, Constantia und barocke Beständigkeit, in: DVjs 35 (1961), S. 416-432. 134 Ausführlich zu den theologischen und politischen Implikationen der lutherischen „Leiden-Heil-Argumentation": Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 163 ff.; instruktiv auch Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts, S. 97, der mit Blick auf Johann Arndt und Philipp Nicolai vor allem auf das Problem des Heilserwerbs im Leid hinweist - etwa als Demonstration der „wahren Demuth", der „christlichen Ritterschaft" und der „heiligen Gedult" als Früchte des wahren Glaubens. 130
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
mindest geben wollte 1 3 5 , dann war es diese Antwort. Welche spirituellen Folgen sie hatte, welche frömmigkeitsgeschichtlichen, w e l c h e innerweltlichen, inwieweit sie dazu beitrug, die Selbstwahrnehmung des Menschen zu verändern 1 3 6 oder jene komplexe protestantische Kultur - um nicht zu sagen Kunst des Leidens zu intensivieren, die seit dem frühen 17. Jahrhundert immer konturiertere Formen annahm 1 3 7 - all das ist schwer zu ermessen 1 3 8 . Ja, man muß sogar fragen, ob diese Antwort ihr Publikum überhaupt erreichte oder ob nicht zum Beispiel j e n e Zeitgenossen, überwiegend Lutheraner wohl, die das Catharina-Drama
1655 am Hof des calvinistischen Piastenherzogs Christian in Oh-
lau verfolgen konnten 1 3 9 , oder jene, die ein paar Jahre später die Aufführung des Breslauer Schultheaters besuchten 1 4 0 , eher die „kleinen Botschaften", die „Nebenbotschaften" der Tragödie empfingen oder empfangen wollten, die konkreten konfessionellen und politischen Signale vor allem, die der Syndikus der schlesischen Landstände in seinen Alexandrinern gut sichtbar verborgen
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Zusammenfassend zu den „Krisen" des 17. Jahrhunderts und ihrer Wahrnehmung: Hartmut Lehmann, Die Krisen des 17. Jahrhunderts als Problem der Forschung, in: Krisen des 17. Jahrhunderts, S. 13-24; und grundlegend: Im Zeichen der Krise. - Speziell zum Problemzusammenhang von „Krisenerfahrung" und „Trostsuche" in der Erbauungsliteratur: Udo Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995; und am Beispiel der Lieddichtung: Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, S. 100ff.; vgl. jetzt auch: Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen und Hartmut Lehmann, Göttingen 2003. 136 Eine Wahrnehmung, die sich im lutherischen Kirchenlied bis zum Selbsthaß steigern konnte. Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des 17. Jahrhunderts, S. 96. 137 Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 151 ff.; Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des 17. Jahrhunderts, S. 96ff.; Thomas Borgstedt, Konfessionelle Strukturen in Lohensteins Arminiusroman, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, T. 2, S. 683-691, hier vor allem S. 685 ff.; Sven Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, Göttingen 2001. 138 Zu den methodischen Problemen solcher Bestimmungsversuche vgl. hier nur Roeck, Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich; und - aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Braungart, Poetische Selbstbehauptung. 139 Jene Aufführung, deren Bühnenbilder und -dekorationen die abgebildeten Szenenstiche dokumentieren. - Ausführlich zu dieser Aufführung: Harald Zielske, Andreas Gryphius' „Catharina von Georgien" auf der Bühne. Zur Aufführungspraxis des schlesischen Kunstdramas, in: Maske und Kothurn 17 (1971), S. 1-17; ders., Andreas Gryphius' Trauerspiel „Catharina von Georgien" als politische „Festa Teatrale" des Barock-Absolutismus, in: Funde und Befunde zur schlesischen Theatergeschichte, hg. v. Bärbel Rudin, Bd. 1: Theaterarbeit im gesellschaftlichen Wandel dreier Jahrhunderte, Dortmund 1983, S. 1-32. 140 Eine Aufführung, die Gryphius in seiner Vorrede zum „Papinian" bezeugt, die also vor 1659 stattgefunden haben muß. Andreas Gryphius, Trauerspiele, Bd. 1, S. 164; Bd. 3, S. XIII. - Vgl. darüber hinaus Gerhard Spellerberg, Das schlesische Barockdrama und das Breslauer Schultheater, in: Die Welt des Daniel Caspar von Lohenstein, hg. v. Peter Kleinschmidt u.a., Köln 1978, S. 58-69; sowie: dens., Szenare zu den Breslauer Aufführungen Gryphischer Trauerspiele, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 7 (1978), S. 235-265.
3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
115
hatte 1 4 1 . War da nicht von der Niederschlagung des böhmischen und damit doch auch schlesischen Aufstandes die Rede 1 4 2 : „ . . . In w e n i g Zeit verfill D e ß Adels schönste Blum / durch frembde Trauerspill" 1 4 3 ? Oder von der Rekatholisierungspolitik der Habsburger, die in Schlesien seit Erlaß des Restitutionsedikts 1629 immer spürbarer wurde und nach dem Krieg keineswegs nachließ 1 4 4 ? Und sogar von Zwangskonversionen: „ . . . heiß alles binden Was noch von Christen ist in Gurgistan zu finden" - oder: „ . . . Wer nicht das Creutz abschwert Der werde von der Glut in Leich' vnd Staub verkehrt" 145 ? Ja, war da nicht überhaupt von Schlesien die Rede, wenn von Georgien gesprochen wurde 1 4 6 ? Welche Bedeutung man diesen konkreten konfessionellen und politischen Signalen auch immer zumißt 1 4 7 , soviel wird man sagen dürfen: D i e CatharinaTragödie hatte als „consolatio" ihren „Sitz im Leben" - wie das protestantische
141
In diesem Sinne schon Herbert Schöffler, Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff, Frankfurt a.M. 2 1956, S. 14ff.; vor allem aber: Elida Maria Szarota, Gryphius' Catharina von Georgien, in: dies., Künstler, Grübler und Rebellen, S. 190-215; und dies., Gryphius als politischer Dichter, die davon ausgeht, daß Gryphius die Catharina-Tragödie nach dem Krieg bis zu ihrem Erscheinen 1657 angesichts der forcierten habsburgischen Rekatholisierungspolitik noch mehrfach „aktualisiert" hat. 142 Christine van Eickels, Schlesien im böhmischen Ständestaat. Voraussetzungen und Verlauf der böhmischen Revolution von 1618 in Schlesien, Köln u.a. 1994; vgl. auch Ewa Pietrzak, Andreas Gryphius und die schlesischen Piasten, in: Weltgeschick und Lebenszeit. Andreas Gryphius - ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht, hg. v. der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus, Düsseldorf 1993, S. 229-242. 143 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 155,1, 555 f. 144 Dorothee von Velsen, Die Gegenreformation in den Fürstentümern Liegnitz-Brieg-Wohlau. Ihre Vorgeschichte und ihre staatsrechtlichen Grundlagen, Leipzig 1932; Georg Jaeckel, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Kampfes der evangelischen Schlesier um ihre Religionsfreiheit, T. 7: Der Generalangriff der Gegenreformation, in: Jahrbuch für schlesiche Kirchengeschichte 47 (1968), S. 7-40; Jan Harasinowicz, Evangelische Heilige? Die Heiligen in Lehre, Frömmigkeit und Kunst in der evangelischen Kirche Schlesiens, in: Heilige und Heiligenverehrung in Schlesien, hg. v. Joachim Köhler, Sigmaringen 1997, S. 171-216, hier S. 198 f.; zusammenfassend aus mikrogeschichtlicher Perspektive: Jörg Deventer, Die chronikalischen Aufzeichnungen des Bäckermeisters Balthasar Isler aus Schweidnitz. Eine Quelle zu Konfessionalisierung und Gegenreformation in schlesischen Städten, in: Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag, Würzburg 1998, S. 501-512, hier S. 503ff. - Zum Vergleich: Arno Herzig, Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz, Hamburg 1996 - sowie: ders., Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, insbesondere S. 68 ff. 145 Gryphius, Catharina von Georgien, S. 154,1, 517 f., 527 f. 146 So vor allem Elida Maria Szarota, aber zum Beispiel auch: Pierre Behar, La tragedie silesienne, miroir du drame politico-confessionel de l'Empire, in: XVIIe Siecle 47 (1995), S. 585-601. 147 Skeptisch etwa Speilerberg, Narratio im Drama, S. 450 und passim.
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3. Fremde Trauerspiele. Leid und Heil
Märtyrerdrama des Barock überhaupt 1 4 8 . Und wenn es schon bald nach Gryphius zur literarischen Leiche wurde 1 4 9 , dann zweifellos auch deshalb, weil es in der postkonfessionellen Welt jene konsolatorische Relevanz verlieren mußte, die es hervorgebracht hatte.
148
Schings, Consolatio Tragoediae, S. 36. 149 vgl. hier nur Walther Rehm, Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland, in: GRM 22 (1934), S. 81-106 und S. 213-239; dens., Schiller und das Barockdrama, in: ders., Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, München 1951, S. 62-100; insbesondere aber: Neuß, Tugend und Toleranz - und jetzt auch: Martin Disselkamp, Barockheroismus. Konzeptionen „politischer" Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002, vor allem S. 403 ff.
4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht Der „Ausbund": das Gesangbuch der süddeutschen Täufer und seine „Märtyrerlieder" die „Schafe Christi" - Verfolgungserfahrungen und ihre Quellen - „martyrological mentality" - warum Märtyrerlieder? - die Popularität der Märtyrerlieder - Liedflugschriften Märtyrerlieder sind Bekenntnislieder - das gewaltsame Sterben als Medium der Katechese - „Differenzerfahrungen" - oder: warum ist der Teufel so erfolgreich? - warum die Märtyrerlieder des „Ausbund"?-Alternativen - „Het Offer des Heeren" - die Märtyrerlieder der Hutterer - Liedmetamorphosen - das Martyrium als flexibles Medium von Integrations- und Desintegrationsstrategien - die Inszenierung des Märtyrerschicksals - die Frauen und die Männer - was zu tun ist, wenn Heilige leiden und sterben - eine eschatologisch gedeutete und dramatisierte Welt - das Quälen des Körpers: die Inszenierung der Folter und ihre Gründe - das Prinzip der „Leidsamkeit" - Taufe und Kreuz - wohin lenken die Märtyrerlieder des „Ausbund" jene, die sie singen, hören oder lesen „dogmatisch"? - und wie? - die Verdrängung des „melchioritischen" Täufertums - oder: die poetische Organisation des Vergessens - noch einmal: „ geregelte Erinnerung " - die Tauflehre - Sündenstreit - Mennoniten und Schweizer Brüder - noch ein theologisches Konfliktfeld: die monophysitische Christologie - der „Ausbund" und der Prozeß der Mikrokonfessionalisierung im Täufertum - Abendmahlslehre, Abendmahlseuphorie - das „Frankenthaler Gespräch" 1571 - Täufer und Calvinisten - Absonderung von der „ Welt" - der „falsche Schein " der Lutheraner - die Martyrien der Märtyrerlieder als Medien der inner- und interkonfessionellen Integration der „Bann" -der „Eid" -die „Gütergemeinschaft" - das Abendmahl und die Verpflichtung zur Liebe - Opfer und Gericht. Anläßlich einer Visitation am 30. Mai 1598 kam es ans Tageslicht. Hans Ankelin, der Sohn des Bürgermeisters von Urbach bei Stuttgart, hatte in einem „wiedertäuferischen Liederbuch" gelesen, das aus dem Besitz eines „ausgetretenen" Täufers und auch sonst überaus zweifelhaften Menschen
stammte.
Schlimmer noch, er hatte ein Lied - den „Jörg Wagner" - auswendig gelernt. Und er hatte dieses Lied schließlich sogar lauthals gesungen, und das noch dazu bei Nacht. Darüber hinaus aber sei er „nicht sektisch", vermerkt das Visitationsprotokoll abschließend 1 . Obwohl das Protokoll offen läßt, aus w e l c h e m Liederbuch die Strophen stammten, die Hans Ankelin verbotenerweise angestimmt hatte - ein seltenes Beispiel für die Liedrezeption vergleichsweise „kleiner Leute" in der frühen Neuzeit übrigens 2
wird man davon ausgehen
können, daß es der sogenannte „Ausbund" war, der in Urbach für Unruhe
1
Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer, Bd. 1, T. 2: Herzogtum Württemberg, bearb. v. Gustav Bessert, Leipzig 1930, Nr. 990, S. 708; Nr. 991, S. 725. - Allgemein zur Problematik („öffentlichen") nächtlichen Singens in der frühen Neuzeit: Norbert Schindler, Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1992, S. 215258; vgl. auch Kim SiebenhUner, „Zechen", „Zücken", „Lärmen". Studenten vor dem Freiburger Universitätsgericht 1561-1577, Freiburg i.Br. 1999, etwa S. 77 ff. 2 Vgl. hier nur Robert W. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, S. 65-76, hier S. 69 f.
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
sorgte. Kursierte doch das Lied, das die Geschichte Georg Wagners erzählt, der 1527 in München als Ketzer auf dem Scheiterhaufen starb und schon bald darauf als Täufer-Märtyrer Karriere machte3, zum Zeitpunkt der Visitation in gedruckter Form wohl ausschließlich in diesem Liederbuch, dessen „MarterGesenge" im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen sollen4. Obwohl kein Exemplar der frühesten Ausgabe der Sammlung erhalten geblieben ist, dürfte außer Frage stehen, daß der „Ausbund" erstmals im Laufe des Jahres 1570 oder zu Beginn des Jahres 1571 erschien. Denn zum einen fand die jüngste Hinrichtung, die alle späteren und nach Ausweis der Vorreden in ihrem heroischen Grundbestand weitgehend unveränderten Drucke dokumentieren, am 24. Januar 1570 statt5; und zum anderen wurde der „Ausbund" erstmals während des „Frankenthaler Gesprächs" erwähnt, das die reformierten Theologen des Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz vom 28. Mai bis zum 19. Juni 1571 mit fünfzehn oberdeutschen Täufern führten6. Die älteste bisher bekannte erhaltene Ausgabe stammt aus dem Jahre 15837 - aus ihr wird im folgenden zitiert - , wurde vermutlich in Köln gedruckt8 - in handlichem Sedezformat9 - und trägt den Titel „Außbund Etlicher schöner Christlicher Geseng / wie die in der Gefengnuß zu Passaw im Schloss von den Schweitzern / vnd auch von andern rechtgläubigen Christen hin vnd her gedieht worden. Allen
3 Daß Georg Wagner aller Wahrscheinlichkeit nach gar kein Täufer war und auch in die lutherischen Kalender und Martyrologien Aufname fand, tat dieser Karriere keinen Abbruch. Dazu: Georg Müller, Zur Geschichte des Wiedertäufers Georg Wagner, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 2 (1896), S. 296-301 - und vor allem: Johann Loserth und Harold S. Bender, Wagner, Georg, in: The Mennonite Encyclopedia, hg. v. Harold S. Bender und C. Henry Smith, Bd. 4, Scottdale/Pennsylvania 1959, S. 869. 4
Rosella Reimer Duerksen, Anabaptist Hymnody of the Sixteenth Century. Α Study of Its Marked Individuality Coupled with a Dependence upon Contemporary Secular and Sacred Musical Style and Form, Diss, theol. Union Theological' Seminary (masch.), New York 1956, S. 38. 5 Es handelt sich um die Verbrennung von „Arndt" und „Ursel" (van Essen), „Ermgen" und „Treingen" in Maastricht. 6 Das „Protocoll" des Gesprächs, das 1571 in Heidelberg erschien, verzeichnet folgende Stellungnahme des Wortführers der Reformierten Petrus Dathenus: „Dann in dem außbund, oder geistlichem Liederbuch seind gar vil gefährlicher reden, da durch die einfeltigen auff dem wohn vnd Opinion von der gerechtmachung der Werck leichtlich kondten geführet werden, Deren man jhnen darnach etlich wirdt lesen lassen vnd anzeigen" (S. 575). 7 So verbreitet der „Ausbund" von 1583 in süddeutschen Täuferkreisen in der frühen Neuzeit gewesen zu sein scheint - seine „Überlebenschancen" waren gering. In Deutschland lassen sich nur noch zwei Exemplare nachweisen: das eine in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart und das andere in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (Signatur: P.o.germ. 59 m). 8 Rudolf Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer. Ein Beitrag zur deutschen und niederländischen Litteratur- und Kirchengeschichte, Nieuwkoop 1965 (Nachdruck der Ausgabe: Berlin 1903), S. 153. 9 Seine Höhe beträgt lediglich 15 cm, seine Tiefe 10 cm und seine Rückenbreite 6 cm.
4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
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vnd jeden Christen / welcher Religion sie auch seien / vnparteilich vnd fast nützlich zu brauchen." 1 0 Sie erschien in Europa bis 1838 in 14 A u f l a g e n " und in Nordamerika zwischen 1742 und 1949 in mehr als 20, ohne daß sich größere Veränderungen feststellen lassen 1 2 : „It is undoubtedly the oldest hymnbook in continuous use in any Christian church anywhere in the world" 1 3 . Der „Ausbund" besteht aus zwei Teilen. Der zweite (ältere) Teil umfaßt 51 Lieder, die ursprünglich ein eigenes Gesangbuch gebildet hatten 14 . Zwischen 1535 und 1540 im Gefängnis des Passauer Schlosses von etwa 6 0 eingekerkerten süddeutschen Täufern, „Schweizer Brüdern", w i e sie sich selbst nannten, „gedieht vnd gesungen" 1 5 , wird man diese Lieder alles in allem als Bitt-, Klage-, Trost- und Loblieder klassifizieren dürfen 1 6 . Lieder hingegen, die hier in Anlehnung an Ursula Lieseberg als „Märtyrerlieder" bezeichnet werden sollen: Lieder von Täufern über biblische, frühchristliche oder eben zeitgenössische
10 Abdruck des .Jörg Wagner", der zugleich das erste „Märtyrerlied" der Täufer ist: S. 59-65. - Abdruck des Liedes über das Martyrium von „Arndt", „Ursel", „Ermgen" und „Treingen" am 24. Januar 1570 in Maastricht: S. 165-178. - Vgl. darüber hinaus das Verzeichnis der Märtyrerlieder des „Ausbund" in diesem Kapitel. 11 Die Ausgabe von 1838 bezeichnenderweise in Basel (Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek München: P.o.germ. 59 n). 12 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 118ff.; Christian Hege, Ausbund, in: Mennonitisches Lexikon, hg. v. Christian Hege und Christian Nejf, Bd. 1, Frankfurt a.M. und Weierhof/Pfalz 1913, S. 97f.; die ältere Forschung vorsichtig korrigierend, vor allem aber ergänzend: Nelson P. Springer, The Editions of the Ausbund, in: Four Hundred Years with the Ausbund, hg. v. Paul M. Yoder u. a., Scottdale/Pennsylvania 1964, S. 32-37. - Bei den „Old Order Amish" und den „Hutterischen Brüdern" dient der „Ausbund" bis in die Gegenwart als Gesangbuch. William I. Schreiber, The Hymns of the Amish Ausbund in Philological and Literary Perspective, in: The Mennonite Quarterly Review 36 (1962), S. 36-60; Rolf Wilhelm Brednich, Beharrung und Wandel im Liedgut der hutterischen Brüder. Ein Beitrag zur empirischen Hymnologie, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 26 (1981), S. 44-60, hier S. 58. 13 Robert Friedmann, Ausbund, in: The Mennonite Encyclopedia, Bd. 1, hg. v. Cornelius Krahn und Melvin Gingerich, Scottdale/Pennsylvania 2 1969, S. 191 f., hier S. 191. 14 Da die Bezeichnung „Ausbund" im Titel dieses Gesangbuches fehlt, von dem nur noch ein Exemplar existiert, in der Mennoniten-Bibliothek des Goshen College in Indiana, kann man davon ausgehen, daß es nicht das Gesangbuch war, das auf dem Frankenthaler Gespräch erwähnt wurde. 15 So der Titel dieses - 345 Seiten umfassenden - Teils, der vollständig lautet: ETLICHE SEHR SCHONE Christliche Gesenge / wie die selbigen zu Passaw / von den Schweitzerbrüdern / in der Gefengnuß im Schloß / durch Gottes gnad gedieht vnd gesungen worden. - Zu den „Schweizer Brüdern" an dieser Stelle nur: James M. Stayer, Die Schweizer Brüder. Versuch einer historischen Definition, in: Mennonitische Geschichtsblätter 34 (NF 29) (1977), S. 7-34. 16 Eine erste „definitorische" Orientierung ermöglichen: Harolds. Bender, The Hymnology of the Anabaptists, in: The Mennonite Quarterly Review 31 (1957), S. 5-10; Ν. van der Zijpp, The Hymnology of the Mennonites in the Netherlands, in: ebd., S. 11-15; Victor G. Doerksen, The Anabaptist Martyr Ballad, in: ebd. 51 (1977), S. 5-21.
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
Glaubensheldinnen oder -helden 17 , finden sich nicht unter ihnen18 - im Unterschied zum ersten (jüngeren) Teil, der insgesamt 80 Lieder präsentiert19, von denen 23 Märtyrerlieder im eben skizzierten Sinne sind20.
Verzeichnis der Märtyrerlieder des „Ausbund" Das folgende Verzeichnis präsentiert die (leicht gekürzten) Liedüberschriften der Märtyrerlieder des „Ausbund" von 1583 in der Reihenfolge des Abdrucks der Lieder mit den dazugehörigen Seitenzahlen, so daß Nachweise künftig auf die Angabe von Seite und Strophe beschränkt werden können. Da in deutschen Bibliotheken lediglich zwei Exemplare des „Ausbund" von 1583 nachgewiesen sind, verweist das Verzeichnis darüber hinaus auf den jeweiligen Abdruck in Bd. 3 bzw. Bd. 5 von Philipp Wackernagels „Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts" (Bd. 3: Hildesheim 1964 Nachdruck der Ausgabe: Leipzig 1870; Bd. 5: Hildesheim 1964 - Nachdruck der Ausgabe: Leipzig 1877). Weitere Angaben zu den Liedern und ihren Protagonistinnen und Protagonisten erscheinen jeweils „vor Ort" - also dort, wo es der Gang der Untersuchung nahe legt oder sinnvoll erscheinen läßt. „Ein sehr schon vnd trostlich Lied / von beständigkeyt der lieben Christgläublaen / so sie in allerley marter vmb Christi willen bewiesen haben", S. 9-26 (35 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Nr. 189, S. 150-154. „Ein Lobwirdige wunderthätige History / auß dem andern Buch Machabeorum am 7 Cap", S. 27-34 (15 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1067, S. 781-783. „Ein schone History / die sich vnder Keyser Valerio hat zugetragen / von einer Jungfrawen Pura genant / vnd einem Jüngling", S. 51-56 (17 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1044, S. 737 f. „Ein trostlich Lied von fünff frommen / zu Anttorff auff einen tag verbrendt", S. 56-59 (13 Str.). Abdruck nur hier oder in anderen Ausgaben des „Ausbund".
17 In anderen Worten: Lieder von Täufer-Märtyrern werden hier und im folgenden - im Unterschied zur älteren Forschung - nur dann als Märtyrerlieder bezeichnet, wenn sie einMartyrium präsentieren. Ursula Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 15ff; vgl. auch dies., Die primären Märtyrerlieder der Schweizer Brüder, Mennoniten und Hutterer im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Ostdeutsche Volkskunde 36 (1993), S. 107-131, hier S. 107 ff. 18 So auch Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 24. 19 Außbund - im folgenden ausschließlich Kürzel für den ersten Teil des Liederbuches - , S. 1-432. 20 Vgl. über das folgende Verzeichnis hinaus auch Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 273-299, die auch weiterführende Literaturhinweise zu den einzelnen Liedern und den Martyrien, die sie dokumentieren, bietet - hier Nr. 1, S. 273; Nr. 3, S. 274; Nr. 6, S. 275; Nr. 7, S. 275; Nr. 9, S. 276; Nr. 11, S. 276; Nr. 12, S. 277; Nr. 14, S. 277; Nr. 15, S. 277; Nr. 20, S. 279; Nr. 25, S. 281; Nr. 30, S. 283; Nr. 33, S. 285; Nr. 39, S. 288; Nr. 45, S. 291; Nr. 48, S. 292; Nr. 50, S. 293; Nr. 52, S. 294; Nr. 56, S. 296; Nr. 59, S. 297; Nr. 63, S. 298; Nr. 64, S. 299; Nr. 65, S. 299.
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„Ein schon Lied von Jorg Wagner / zu Mönchen verbrant / An 1527", S. 59-65 (27 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Nr. 517, S. 455 f. „Deise [sie!] nachfolgende geschieht hat sich im jar 1550. zu Gendt vnd Louen begeben", S. 65-69 (13 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1078, S. 799 f. „Ein schone Histori von einer Jungfrawen", S. 69-76 (38 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1077, S. 797-799. „Ein ander Lied von einem der wirt Jost genät zu Cortrick verbrandt / Ann. 1553", S. 76-80 (20 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1084, S. 806f. „Diß hernachgetrfickte Marterlied / ist von Hansen von Ambsterdam / welcher mit vil andern verraten / gefangen / vnd vmbracht worden", S. 81-87 (21 Str.). Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1079, S. 800-802. „Ein ander Marterlied von einem alten mann von 87 jaren / vnd einem jungen / welche die warheit zu Amsterdam bezeugt", S. 88-93 (27 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1076, S. 796 f. „Ein ander schon lied vnd wunderwirdige geschieht von zweyen Weibsbildern / bey welche Gottes liebe über alle ding stärcker dan der todt gewesen", S. 93-108 (43 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1075, S. 792-796. „Ein ander Marterlied / von einem genandt Peter / zu Gendt verbrandt / Ann. 1552", S. 114-118 (13 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1081, S. 803f. „Ein ander Marterlied / von siben Brödem / auff einen tag zu Gmönd in Schwabenland bezeugt/Ann. 1529", S. 118-123 (17 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Nr. 542, S. 490 f. „Ein ander Marterlied von Gothart von Nunenberg vnd Peter Krämer", S. 123-129 (25 Str.). Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1089, S. 816f. „Ein ander Marterlied von Jorg Ladenmacher vnd Wilhelm von Kepfel", S. 130-138 (44 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1090, S. 811 f. „Ein ander Marterlied von einem Thomas Drucker genandt / zu Collen am Rhein bezeugt / Ann. 1557", S. 138-146 (25 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1086, S. 809f. „Ein ander Marterlied / von einem / genandt Mattheiß Zerfaß / zu Collen gefangen / mit der gemein verrhaten", S. 146-153 (22 Str.). Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1095, S. 832f. „Ein ander Marterlied / von einer / genandt Maria", S. 154-157 (21 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1083, S. 805 f. „Ein ander Marterlied von zwolff personen / auf einen tag zu Bruck an der Mawren gericht", S. 158-162 (17 Str.). Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Nr. 525, S. 467f. „Ein ander marterlied von achtzehen personen / auff einen tag zu Saltzburg verbrendt", S. 163-165 (8 Str.). Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1072, S. 788.
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
„Ein ander Marterlied von vier Personen zu Mastricht Ann. 1570 getodt", S. 165-178 (40 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1099, S. 841-844. „Ein ander Marterlied von einem christlichen Ritter Algerius genandt / zu Rom jämerlich verbrendt / Anno 1557", S. 179-185 (20 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1045, S. 738-740. „Ein ander Liedt von Adrian vnd Cornells zu Leyden in Niderland gericht / Ann. 1552", S. 238-241 (6 Str.). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, Nr. 1080, S. 802 f.
Angesichts der Tatsache, daß jene radikal-evangelischen Gruppen, die man gemeinhin als „Täufer" zusammenfaßt21, seit ihrer Entstehung - und das heißt vereinfacht gesagt: seit Beginn der Bauernunruhen22 - vehement verfolgt und in großer Zahl hingerichtet wurden23: in der Schweiz allein zwischen 1525 und 1539 über 70 Frauen und Männer24, im Reich ohne die verfolgungsintensiven nordwestdeutschen und niederländischen Territorien25 im selben Zeitraum über 700 26 , erstaunt es nicht, in den Selbstzeugnissen dieser „Schafe Christi" durchgängig auf ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu stoßen, das Brad 21
Zur Problematik der typologischen Verwendung dieser Selbstbezeichnung vgl. hier nur in aller Kürze: Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, München 1993, S. 85 f.; instruktiv in diesem Zusammenhang auch: Klaus Deppermann, Werner O. Packull und James M. Stayer, From Monogenesis to Polygenesis. The Historical Discussion of Anabaptist Origins, in: The Mennonite Quarterly Review 49 (1975), S. 83-122. 22 Grundlegend: James M. Stayer, The German Peasants' War and Anabaptist Community of Goods, Montreal 1991. 23 Zusammenfassend zu den politischen, rechtlichen und theologischen Hintergründen der Täufer-Verfolgungen: Hans-Jürgen Goertz, Ketzer, Aufrührer und Märtyrer. Der Zweite Speyerer Reichstag und die Täufer, in: Mennonitische Geschichtsblätter 36 (NF 31) (1979), S. 7-26; sowie ders., Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 2 1988, S. 121 ff. - Vgl. darüber hinaus Gottfried Seebaß, Luthers Stellung zur Verfolgung der Täufer und ihre Bedeutung für den deutschen Protestantismus, in: Mennonitische Geschichtsblätter 40 (NF 35) (1983), S. 7-24; Marc Lienhard, Religiöse Toleranz in Straßburg im 16. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 39 ff.; dens., Die Grenzen der Toleranz. Martin Luther und die Dissidenten seiner Zeit, in: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hg. v. Norbert Fischer und Marion Kobelt-Groch, Leiden u. a. 1997, S. 127-134. 24 Claus-Peter Clasen, Anabaptism. Α Social History, 1525-1618. Switzerland, Austria, Moravia, South and Central Germany, Ithaca und London 1972, S. 370, 437 (Appendix D: Statistics on the Execution of Anabaptists), der immer wieder auf das Problem hoher „Dunkelziffern" hinweist. 25 Hier fehlt es bislang noch an Untersuchungen, die präzise Aussagen erlauben würden, vgl. aber: Gary K. Waite, Staying Alive: The Methods of Survival as Practiced by an Anabaptist Fugitive, David Joris, in: The Mennonite Quarterly Review 61 (1987), S. 46-57; dens., From Apocalyptic Crusaders to Anabaptist Terrorists: Anabaptist Radicalism after Münster, 1535-1544, in: ARG 80 (1989), S. 173-192; sowie: Monier, Heresy Executions in Reformation Europe. 26 Clasen, Anabaptism, S. 370,437.
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S. Gregory als „martyrological mentality" bezeichnet hat27. Flucht, Verfolgung, Gefangenschaft, Verhör, Folter, die Hinrichtung von Angehörigen, Freunden und Gemeindemitgliedern - diese Erfahrungen sind also nicht nur jenen „Marter-Gesengen" eingeschrieben, um die es im folgenden vorzugsweise geht, sondern auch allen anderen Liedern der Täufer28; von ihren Aussagen vor Gericht29, ihren Testamenten, Gefängnisbriefen, Bekenntnissen und „Vermahnungen" an die Gemeinden ganz zu schweigen 30 . Anders formuliert: Wer die Martyrienkultur der Täufer in den Blick nimmt, nimmt die Kultur der Täufer in den Blick 31 und hat es dabei keineswegs nur mit Märtyrerliedern zu tun, so daß sich zuerst einmal die Frage stellt, warum gerade sie hier im Mittelpunkt stehen sollen. Sieht man einmal davon ab, daß die Märtyrerlieder bislang vergleichsweise wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden haben, die über traditionell ausgerichtete hymnologische Annäherungen hinausgehen würde32, ist zu27
Gregory, Salvation at Stake, S. 207. Dazu immer noch grundlegend: Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer; pointiert: HansGeorg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit, Tübingen 1987, S. 236. - Um hier nur ein besonders eindrückliches Beispiel zu nennen: „Ein schon lied von Lenhart Schoner / zu Rotenburg am Jhn verbrendt / An. 1528". Außbund, S. 189-193 (11 Str.), dessen fünfte Strophe (S. 191) lautet: 28
„Wir schleichen in den Wäldern vmb / Man sucht vns mit den Hunden / Man fuhrt vns als die Lemlein stum / Gefangen vnd gebunden / Man zeigt vns an / vor jederman / Als weren wir Auffrorer / Wir sind geacht / wie Schaf zur Schlacht / Als Ketzer vnd verfuhrer." 29
Beispiele: Elsa Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre, Münster 1967, insbesondere S. 146 ff. 30 Vgl. hier nur: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, hg. v. Lydia Müller, Leipzig 1938; Brad S. Gregory, Weisen die Todesvorbereitungen von Täufermärtyrern geschlechtsspezifische Merkmale auf?, in: Mennonitische Geschichtsblätter 54 (1997), S. 5 2 - 6 0 - sowie: Nicole Grochowina, Von Opfern zu Heiligen. Martyrien von täuferischen Männern und Frauen im 16. Jahrhundert, in: Vorbild - Inbild - Abbild, S. 121-150. 31 Dazu nach wie vor auch Ethelbert Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, in: ZKiG 52 (1933) (Dritte Folge III), S. 545-598. 32 Ein Tatbestand, der alles in allem auch auf die akribische und vor allem gattungstheoretisch weiterführende Dissertation von Ursula Lieseberg zutrifft. - Vgl. darüber hinaus: Bender, The Hymnology of the Anabaptists; van der Zijpp, The Hymnology of the Mennonites in the Netherlands; Schreiber, The Hymns of the Amish Ausbund; Helen Martens, Hutterite Songs: The Origins and Aural Transmission of Their Melodies from the Sixteenth Century, Diss. phil. Columbia University (masch.), New York 1969; dies., Die Lieder der Hutterer und ihre Verbindung zum Meistersang im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 26 (1981), S. 31—43; Colleen Anne Johnston, The Hymns of David Joris: A Preliminary Study, in: The Mennonite Quarterly Review 64 (1990), S. 113-134. - Unter den wenigen einschlägigen Arbeiten, die kommunikations- oder konfessionsgeschichtliche
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erst einmal auf die unzweifelhaft erhebliche Popularität dieser Lieder hinzuweisen. So kursierten zum Beispiel vor allem die Märtyrerlieder auch als Liedflugschriften, die überdies in vielen Fällen illustriert waren33, wie etwa jene, die das Martyrium von Maria und Ursula van Beckum 1544 in Delden verbreiteten34. Gleichzeitig läßt sich festhalten, daß überproportional viele Märtyrerlieder handschriftlich überliefert sind35. Vergleicht man diese Lieder miteinander und schließlich mit jenen handschriftlich überlieferten Gesängen, die keine Martyrien dokumentieren, kann man darüber hinaus beobachten, daß die Märtyrerlieder fast durchgängig deutlich stärker „zersungen" wurden als die übrigen Täuferlieder36. Während die Bitt-, Klage-, Trost- oder Loblieder in den handschriftlichen Liedersammlungen der Täufer immer wieder weitgehend unverändert erscheinen, variieren die Märtyrerlieder von Handschrift zu Handschrift zumeist erheblich, etwa in der Zahl ihrer Strophen, was nach Ausweis der Hymnologie als vergleichsweise untrügliches Indiz dafür gelten darf, daß die Täufer sie häufiger sangen als ihre weniger blutigen Pendants37. Mehr noch: Wenn Hans Ankelin gerade den „Jörg Wagner" sang, dann mag das Zufall gewesen sein; dann mag der eingängige „Ton" des Liedes den Ausschlag gegeben haben, der „Jörg-Wagner-Ton"; oder der hohe Bekanntheitsgrad des Märtyrers38. Wenn aber der katholische Pfarrer Christoph Erhard in seiner „Historia" von 1588 verwundert betont, daß die Täufer-Gruppe der „Hutterer"39 „jhre versenckte vnnd geprennte / jhre gestockte vnnd geplockte Perspektiven eröffnen, sind hervorzuheben: Rosella Reimer Duerksen, Doctrinal Implications in Sixteenth Century Anabaptist Hymnody, in: The Mennonite Quarterly Review 35 (1961), S. 38-49; Doerksen, The Anabaptist Martyr Ballad; Rolf Wilhelm Brednich, Erziehung durch Gesang. Zur Funktion von Zeitungsliedern bei den Hutterem, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28 (1982/1983) (Festschrift für Lutz Röhrich zum 60. Geburtstag), S. 109-133; ders., Hutterische Liedtraditionen des 17. Jahrhunderts, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert, T. 2, S. 589-600. 33
Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 77, 91 und passim. 34 Vgl. Abb. 37. - Zu den beiden Märtyrerinnen selbst John S. Oyer, Maria and Ursula van Beckum, in: Profiles of Anabaptist Women, S. 352-358; und weiterhin: Friedrich Ritter, Zur Geschichte der Häuptlinge von Werdum und der taufgesinnten Märtyrerinnen Maria v. Beckum und Ursula v. Werdum (1538-1552), in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 15 (1905), S. 390-410. 35 Zusammenfassend: Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 22, 28 ff. und passim. 36 Dazu am Beispiel des „Jörg Wagner": ebd., S. 69ff. - und darüber hinaus etwa S. 75, 107 ff. und passim. 37 Reimer Duerksen, Anabaptist Hymnody, S. 38. 38 Ausführlich zum , Jörg-Wagner-Ton": Ernst Sommer, Die Melodien der alten deutschen Täufer-Lieder I, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 17 (1972), S. 100-164, hier S. 141. 39 Zu diesen Täufern, die - zumeist aus Oberdeutschland und Österreich stammend - seit den späten zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts unter dem Druck der zunehmenden Täufer· Verfolgungen vor allem in Tirol nach Mähren geflohen waren, wo sie auf „Bruderhöfen"
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vermeinte Märtyrer / allzeit in ein Liedlein setzen / welches weder von heiligen Aposteln noch andern heiligen / Christlichen / Catholischen vnnd Romischen rechten Märtyrern / nit beschehen"40, dann bestätigt er, wenn auch polemisch, was wenige Jahre später auch der katholische Theologe und Täufer-Hasser Christoph Andreas Fischer nicht weniger polemisch über den gesungenen Totenkult in dieser Märtyrergemeinschaft festhielt. In seinem „Hutterischen Widertauffer Taubenkobel: Jn welchem all jhr Wust / Mist / Kott vnnd Vnflat... werden erzählet" heißt es: „Obschon Dauid hat befohlen den Herrn zuloben mit gesang vnd allerley Instrumenten; ob schon Paulus hat vermanet den Herrn zuloben in Lobgesangern, ob schon die gantze Christenheit je vnd allzeit hat Psalmen vnd andere Gottseelige Lieder in der Kirchen hat gesungen, so verwerffen doch die Widertauffer solche Gesanger vnd singen lieber von jhren halßstarrigen Spießgesellen, die ändtweder seyn gehenckt oder ertrenckt oder verbrent worden, Liedlein inn gar bulerischen Gesangen thonen" 41 . Wenn es Märtyrerlieder sind, die hier im Mittelpunkt stehen, dann aber auch noch aus einem anderen Grund: Märtyrerlieder sind - mehr als andere Täuferlieder - Bekenntnislieder. Gewiß, schon ein kurzer Blick in die verschiedenen Liedersammlungen der Täufer läßt erkennen, daß dieser Grundzug keineswegs gleichmäßig stark in Erscheinung tritt42. Ein Grundzug aber ist es 43 . Die Frauen und Männer, die in den Märtyrerliedern besungen werden, lassen normalerweise keine Gelegenheit ungenutzt, ihren Glauben zu bekennen, und stehen damit ihren lutherischen Leidensgefährten in den frühreformatorischen Flugschriften in nichts nach. Hier wie dort scheinen jene, die aufschrieben, dramatisierten, kürzten, erweiterten und vertonten, was sie gesehen, in aller Regel aber wohl eher, was sie gehört oder gelesen hatten, davon überzeugt gewesen
in strenger Gütergemeinschaft lebten und sich nach dem Tod ihres ersten Führers Jacob Hutter bzw. Huter 1536 in aller Regel als „Hut(t)erer" oder „Hut(t)erische Brüder" bezeichneten, an dieser Stelle nur: Lydia Müller, Der Kommunismus der mährischen Wiedertäufer, Leipzig 1927; John Horsch, The Hutterian Brethren 1528-1931. Α Story of Martyrdom and Loyalty, Goshen/Indiana 1931; Victor John Peters, A History of the Hutterian Brethren 1528-1958, Diss. phil. Göttingen, Göttingen 1960 (masch.); John W. Bennett, Hutterian Brethren. The Agricultural Economy and Social Organization of a Communal People, Stanford 1967; Bodo Hildebrand, Erziehung zur Gemeinschaft. Geschichte und Gegenwart des Erziehungswesens der Hutterer, Pfaffenweiler 1993; Werner O. Packull, Hutterite Beginnings. Communitarian Experiments during the Reformation, Baltimore und London 1995. (Weitere Literatur zu den „Hutterern" in Kapitel 5.) 40 Grundliche kurtz verfaste Historia. Von Münsterischen Widertauffern: vnd wie die Hutterischen Bruder so auch billich Widertauffer genent werden / im Loblichen Marggraffthumb Mähren / deren vber die sibentzehen tausent sein sollen / gedachten Munsterischen in vilen änhlich / gleichförmig vnd mit zustimet sein, München: Adam Berg 1588, Bl. 34 r+v . 41 Ingolstadt: Andreas Angermaier 1607. - Zitiert nach: Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. III. 42 Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 163, 165. 43 In diesem Sinne bereits Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, vor allem S. 130f.; vgl. auch Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 53 ff.
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zu sein, daß sich kaum ein geeigneteres Medium der Katechese finden lasse als das Sterben, das gewaltsame Sterben zumal. Wenn es Märtyrerlieder sind, die hier im Mittelpunkt stehen, dann also auch deshalb, weil diese Lieder in besonderer Weise dazu geeignet zu sein scheinen, in den Blick zu bekommen, wie die Täufer (oder vorsichtiger: wie bestimmte Täufergruppen) versuchten, ihren extremen, ihren nicht zuletzt auch andauernden, immer wieder sich erneuernden kollektiven „Differenzerfahrungen" 44 - dem augenscheinlich erfolgreichen Wirken des Teufels in der Welt - einen Sinn zu geben, um sie auf diese Weise verstehbar zu machen. Da bereits darauf hingewiesen wurde, daß es keineswegs nur die süddeutschen Täufer waren, die „Schweizer Brüder", die ihre Märtyrer besangen, also jene Täufer, die den „Ausbund" benutzten, schließt sich eine zweite Frage an: Warum sollen gerade die 23 „Marter-Gesenge" dieses Liederbuches die folgende Annäherung tragen? In der Tat, Alternativen hätte es gegeben. 1562 und 1563 erschien in zwei Teilen das erste Martyrologium der Täufer: das mennonitische „Het Offer des Heeren" 45 , das in den Niederlanden, aber auch im angrenzenden niederdeutschen Raum weite Verbreitung fand 46 , „a living book" 47 , das bis 1599 elf Auflagen erreichte, die immer wieder verändert, zumeist ergänzt wurden 48 . Während der erste Teil vorwiegend Briefe von 32 gefangenen Täuferinnen und Täufern an ihre Familien, Freunde und Gemeinden enthält, in aller Regel Bekenntnisse, Testamente und „Vermahnungen" 49 , und erst seit der vierten Auflage von 1570 auch 29 Lieder, die sich jeweils an die Briefe anschließen 50 , diente der
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Zu diesem Begriff: Lutz Niethammer, Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität, S. 195 f. 45 Eine erste Einordnung dieser Schrift ermöglicht: T. Alberda-van der Zijpp, 'Het Offer des Heeren'. Geloof en getuigenis van de martelaren, in: Wederdopers, menisten, doopsgezinden in Nederland 1530-1980, hg. v. Simon Groenveld u.a., Zutphen 2 1981, S. 46-61; sowie Nicole Grochowina, „Het Offer des Heeren". Das Martyrium als Heiligenideal niederdeutscher Täufer um 1570, in: Confessional Sanctity (c. 1500-1800), hg. v. Jürgen Beyer u.a., Mainz 2003, S. 65-80. - Zur Täufergruppe der „Mennoniten" vgl. hier nur: Die Mennoniten, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, Stuttgart 1971; Calvin Redekop, Mennonite Society, Baltimore und London 1989; und Hans-Jürgen Goertz, Menno Simons/Mennoniten, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, Berlin und New York 1992, S. 444—457; zu Menno Simons - dem „Namengeber" - darüber hinaus: Christoph Bomhäuser, Leben und Lehre Menno Simons'. Ein Kampf um das Fundament des Glaubens (etwa 1496-1561), Neukirchen-Vluyn 1973. 46
Bert Hofman, Liedekens vol gheestich confoort. Een bijdrage tot de kennis van de zestiende-eeuwse schriftuurlijke lyriek, Hilversum 1993, insbesondere Kapitel VII. 47 Gregory, Salvation at Stake, S. 232. 48 Dazu ausführlich: ebd., S. 219ff. - mit einem Überblick über die Auflagen (S. 236). 49 Grochowina, Von Opfern zu Heiligen. 50 Ein Tatbestand, der dazu beitrug, daß gerade diese Auflage kritisch ediert wurde, die darüber hinaus erstmals beide Teile in einem Band präsentierte: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, hg. v. Samuel Cramer und Fredrik Pijper, Bd. 2: Het Offer des Heeren (de
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zweite Teil von Anfang an ausschließlich als „Een Lietboecxken". Er umfaßt 25 Lieder, von denen 2 4 Märtyrerlieder sind 5 1 . Im selben Jahr w i e das „Lietboecxken" der niederländischen Mennoniten (möglicherweise auch ein oder zwei Jahre später) erschien das erste Liederbuch der Mennoniten in Deutschland: „Ein schon gesangbuchlein Geistlicher lieder" 5 2 , dessen drei Auflagen alles in allem 12 Märtyrerlieder präsentieren 53 . Und seit den späten siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstanden dann auch die ersten Liederhandschriften der Hutterer, in denen allein 37 Märtyrerlieder überliefert sind, die in Mähren verfaßt wurden 5 4 , also nicht aus den Sammlungen der Mennoniten oder Schweizer Brüder stammen wie viele andere „Marter-Gesenge" dieser Gemeinschaft 5 5 . Wobei sich bei den besonders sangesfreudigen Hutterern beobachten läßt, was auch für die anderen Täufergruppen gilt: Seit der Wende v o m 16. zum 17. Jahrhundert brachten sie kaum noch neue Märtyrerlieder hervor und übernahmen auch keine fremden mehr in ihr Repertoire 5 6 . D i e Zeit der blutigen Verfolgungen war endgültig vorbei 5 7 . Wenn die Wahl trotz der Alternativen, die ohnehin immer wieder vergleichend herangezogen werden, auf die 23 Märtyrerlieder des „Ausbund" fiel alle Märtyrerlieder zu untersuchen, hätte das vorliegende Kapitel schon rein quantitativ überfordert 58 - , dann vor allem aus einem Grund: Der „Ausbund" oudste verzameling doopsgezinde martelaarsbrieven en offerliederen), bearb. v. Samuel Cramer, Den Haag 1904 (Het Offer des Heeren: S. 5 1 ^ 8 6 ) . 51 Ebd., S. 499-663. - Vgl. auch: Lieder der niederländischen Reformierten aus der Zeit der Verfolgung im 16. Jahrhundert, hg. v. Philipp Wackernagel, Nieuwkoop 1965 (Nachdruck der Ausgabe: Frankfurt a. M. 1867). 52 Ausführlich zu diesem - allem Anschein nach vergleichsweise wenig benutzten - Liederbuch, dessen drei bislang bekannte Auflagen allesamt ohne Ort und Jahr erschienen: Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 25 ff. 53 Ebd., S. 95 ff. - Während die erste Auflage mit einiger Sicherheit zwischen 1563 und 1565 erschien, kann die zweite nicht früher als 1570 gedruckt worden sein. Für das Erscheinen der dritten Auflage läßt sich der Zeitraum von 1589 bis 1593 wahrscheinlich machen. Ebd., S. 26. 54 Ebd., S. 107ff. (Kurzüberblick: S. 273-299); vgl. auch Robert Friedmann (unter Mitarbeit von Adolf Mais), Die Schriften der Huterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkatalog ihrer Manuskriptbücher, ihrer Schreiber und ihrer Literatur 1529-1667, Wien 1965, S. 62; Robert Friedmann, Peter Riedemann: Early Anabaptist Leader, in: The Mennonite Quarterly Review 44 (1970), S. 5-44, hier S. 14ff. 55 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 43f.; Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 107 ff. 56 Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 11, 248 ff. 57 Clasen, Anabaptism, S. 437 (Appendix D). - Daß das Ende der Märtyrerlieddichtung nicht das Ende des Neudrucks oder des Singens von Märtyrerliedern bedeutete, ist in diesem Kapitel bereits mehrfach hervorgehoben worden. Unerwähnt blieb bisher, daß „Marter-Gesenge" auch weiterhin gesammelt, übersetzt und in ganz neuen Sammlungen verbreitet wurden, deren bekannteste „Het Bloedig Tooneel, of Martelaers Spiegel der Doops-Gesinde of Weereloose Christenen" des niederländischen Mennoniten Tieleman Jansz van Braght ist, die erstmals 1660 in Dordrecht erschien. 58 Vgl. dazu Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 12.
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enthält neun Märtyrerlieder, die aus „Het Offer des Heeren" stammen und allesamt sehr freie, vielfach veränderte, zumeist ergänzte „Übertragungen" aus dem Niederländischen von ein und derselben anonymen Hand sind, möglicherweise der Hand des ebenfalls anonymen Kompilators 59 . Das aber bedeutet: Im Unterschied zu den anderen Liederbüchern der Täufer erlaubt es der „Ausbund", der überdies vier Märtyrerlieder aus der Feder von Schweizer Brüdern präsentiert, die in die Sammlungen der Hutterer eingingen 60 , und schließlich auch zumindest zwei „Marter-Gesänge" hutterischer Provenienz umfaßt 61 , Lied-Metamorphosen in den Blick zu nehmen, die das Martyrium einmal mehr als höchst flexibles Medium von Integrations- und Desintegrationsstrategien zu erkennen geben.
Abb. 32-35 Die folgenden vier aquarellierten Federzeichnungen stammen aus einer Abschrift der Reformationsgeschichte des Zürcher Reformators und Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger (1504-1575). Während die Reformationsgeschichte selbst bereits 1567 abgeschlossen wurde, entstand die illustrierte Abschrift, die in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich zu benutzen ist, erst in den Jahren 1605 und 1606.
Abb. 32 Die nächtliche Flucht gefangener Täufer aus dem Hexenturm in Zürich am 21. März 1526. Ms. Β 316, Bl. 198v. 59
Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 130f. Frühe Lieder aus den Jahren 1527, 1528 und 1529. Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 69, 107 f. 61 Ebd., S. 80, 95. 60
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Abb. 33 Die beiden ersten und - wie es scheint - unbesungenen Täufer-Märtyrer: Verbrennung des Schiffers Eberli Bolt und eines ehemaligen Priesters in Schwyz am 29. Mai 1525. Bl. 218 v .
Abb. 34 Täufeijagd im Wald Herrliberg bei Zürich im Mai 1526. Bl. 245 v . Vgl. dazu auch Heinold Fast, Die Aushebung einer nächtlichen Täuferversammlung 1574, in: Mennonitische Geschichtsblätter 31 (NF 26) (1974), S. 103-106.
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Abb. 35 Am 6. März 1526 erließ der Zürcher Rat das erste Mandat, das die „Wiedertaufe" unter Todesstrafe stellte. Am 5. Januar 1527 wurde der Täufer Felix Mantz, einst Gefährte Zwingiis und Mitglied in Andreas Castelbergers Bibelkreis, in der Limmat ertränkt. Auch Mantz scheint unbesungen geblieben zu sein. Bl. 284 v .
Wie schon Martin Luthers „Ein neues Lied wir heben an", der Prototyp evangelischer Märtyrerlieddichtung, ja, ihr zukunftsweisendes Modell 62 , sind auch die „Marter-Gesenge" des „Ausbund" und der anderen Liedersammlungen der Täufer unmittelbar oder zumindest kurz nach den Ereignissen entstanden, die sie dramatisieren 63 . Auch sie haben als „geistliche Lieder" 64 den didaktischen Stil und die Baustruktur der erzählenden, historisch-dokumentarischen Ereignis- und Zeitungslieder übernommen 65 , was ihren alles in allem 62
Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 81 ff., 108; Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, S. 72ff. 63 Reimer Duerksen, Anabaptist Hymnody, S. 199; Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 14f. und passim. 64 Zu diesem Gattungsbegriff: Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 99. 65 Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 53 ff. - Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den Tatbestand, daß es nicht an Märtyrerliedern fehlt, die auf Flugschriften zurückgehen - wie zum Beispiel der „Jörg Wagner". Ebd., S. 70 ff. - Die Flugschrift, die dem Lieddichter aller Wahrscheinlichkeit nach vorlag, ist die anonyme „new warhafftig vnd wunderbarlich geschieht oder hystori / von Jörgen wagner zu München in Bayern als eyn Ketzer verbrandt im Jar Μ. D. xxvij" [Nürnberg: Hans Hergot 1527], Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Τ. I, Bd. 3, Nr. 3456, S. 135. - Abdruck: Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526-1535), Bd. 2, S. 1523-1526.
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Abb. 36 Gleich zwei Lieder dramatisieren das Martyrium der hutterischen Sendboten Jacob Männdl und Heinrich Summer, die am 9. Oktober 1582 bei Baden in der Limmat ertränkt wurden: „Merkt auf, ihr gliebten Gotteskind, die ihr in dem Jammertale sind" und „Wir haben Lust, ein Liedlein zu singen, künnen's nit underlan". Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, Nr. 36, S. 286 und Nr. 60, S. 297. Die farbige Illustration, die kurz nach der Hinrichtung der beiden Missionare entstanden sein muß, stammt aus dem 19. Band von Johann Jakob Wieks (1522-1588) „Sammlung von Nachrichten zur Zeitgeschichte aus den Jahren 1560-87", die wie Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte in der Zentralbibliothek Zürich liegt: Ms. F 30, hier Bl. 272 r . Nachweis für Reformationsgeschichte und „Wickiana": Ernst Gagliardi und Ludwig Forrer, Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich, Bd. 2: Neuere Handschriften seit 1500, Zürich 1982, Sp. 351 sowie Sp. 507 und 512.
recht stereotypen A u f b a u erklärt. N a c h A n f a n g s s t r o p h e n , d i e z u m e i s t v o l k s l i e d h a f t e Z ü g e a u f w e i s e n 6 6 , f o l g t das Märtyrerschicksal, das sich in i m m e r g l e i c h e n Stationen d e s L e i d e n s v o l l z i e h t : in G e f a n g e n n a h m e und Haft; in Verhör u n d Disputation; in der Folter dann z u m e i s t ; in der G e r i c h t s v e r h a n d l u n g ; i m Urteil; i m G a n g z u m Schafott; s c h l i e ß l i c h in der Hinrichtung s e l b s t 6 7 . W u n der - vor, w ä h r e n d u n d vor a l l e m n a c h der Hinrichtung - e r e i g n e n sich nur in
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Beispiele: Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 108, 150f., 253 ff. und passim. Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 152ff.
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Abb. 37 Ein „Marter-Gesang", der gleich in mindestens drei Flugschriften verbreitet wurde, war das Lied „NV last vns frolich heben an", das die Verbrennung der beiden adeligen „Jückfrawen wolgethan" Maria und Ursula van Beckum in Delden bei Deventer im November 1544 dokumentiert und das als einziges Märtyrerlied der Täufer „Jm thon" von Luthers „Ein newes Lied wir heben an" gesungen werden sollte. Obwohl das Lied den Schweizer Brüdern und den deutschen Mennoniten gemeinsam war, fand es keine Aufnahme in den „Ausbund", wo allerdings das 43-strophige „Ein ander schon lied vnd wunderwirdige geschieht von zweyen weibsbildern / bey welche Gottes liebe über alle ding stärcker dan der todt gewesen" abgedruckt wurde. Zu den anderen beiden Flugschriften und ihren Holzschnitten: Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 75 ff. Der abgebildete Titelholzschnitt eröffnet eine undatierte Liedflugschrift, die vier Blatt umfaßt und die Christoph Gutknecht in Nürnberg gedruckt hat: „Ein schön new Lied / von zweien Junckfrawen vom Adel", und zeigt die beiden verschwägerten Protagonistinnen als bekränzte und betende Bekennerinnen. Das einzige erhaltene Original der Flugschrift befindet sich im British Museum: 11522. de. 5. Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg i.Br. verfügt über eine Mikrofilm-Kopie: DVA B1 6046. Am Rande nur: Obwohl beide Frauen auf dem Scheiterhaufen starben, blieben ihre Körper unversehrt (Bl. 4r, Str. 11): „Nu schawet an das wunder gros / das Gott hie hat beweiset / An den Jungfrawe stunden blos / Welches niemandt thet preisen. Doch sind jhr C0rper zugedeckt / Bey nacht durch forme [sie!] Christen / Die Gott da zu auch hat erweckt / Wider Tyrannisch listen / Vnd auch ihr grosses wüten".
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den Märtyrerliedern der Hutterer, dafür aber in vielfältigen Variationen 68 . Nur die Lieder der Hutterer präsentieren darüber hinaus regelmäßig doxologische Schlußformeln 6 9 . D i e Lieder der Schweizer Brüder und Mennoniten dagegen schließen zumeist uneinheitlich. Ein Gotteslob ist selten 7 0 . Wie die lutherischen Glaubenshelden der frühreformatorischen Flugschriften lassen auch die Täuferinnen und Täufer der untersuchten Märtyrerlieder obwohl allesamt theologische Autodidakten 7 1 , ohne höhere Ämter oder größere Prominenz 7 2 - keine Gelegenheit aus, das Wort zu ergreifen 7 3 , zu predig e n 7 4 (oder es zumindest zu versuchen 7 5 ) und nicht zuletzt auch ihren Glauben
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Von „Naturwundern" über „Verwandlungswunder" bis hin zu „Immunitätswundern", „Befreiungswundern" und „Strafwundern". Ebd., S. 192 ff. 69 Reimer Duerksen, Anabaptist Hymnody, S. 183 f. 70 Zusammenfassend: Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 210f. 71 Vergeblich etwa sucht man unter ihnen theologische „Schwergewichte" wie Michael Sattler, Balthasar Hubmaier oder Ludwig Hätzer, deren Prozesse und Hinrichtungen (Sattler am 20. Mai 1527 in Rottenburg am Neckar, Hubmaier am 10. März 1528 in Wien, Hätzer am 04. Februar 1529 in Konstanz) durchaus in Flugschriften verbreitet wurden. Zu Sattler: Ayn newes wunderbarlichs geschieht von Michel Sattler zu Rottenburg am Necker / sampt andern. 9. mannen / seiner lere vnd glaubens halbe verbrant / vnnd. 10. weybern ertrenckt [Nürnberg: Hans Eichenauer 1527], Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Τ. I, Bd. 3, Nr. 3497, S. 152; dazu auch Gustav Bossen, Michael Sattler's Trial and Martyrdom in 1527, in: The Mennonite Quarterly Review 25 (1951), S. 201-218. - Zu Hubmaier: [Johannes Fabri] Vrsach warumb der widerteuffer Patron vnnd erster Anfenger Doctor Balthasar Hubmayer zu Wienn auff dem zehendten tag Martij. Anno. M.D. xxviij. verbrennet sey [Landshut: Johann Weißenberger 1528], Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Τ. I, Bd. 1, Nr. 1119, S. 479; vgl. auch ebd., Nr. 1118, S. 478f. [Dresden: Wolfgang Stockei 1528]; grundlegend zur Theologie: Torsten Bergsten, Balthasar Hubmaier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum 1521-1528, Kassel 1961; insbesondere aber: Christof Windhorst, Täuferisches Taufverständnis. Balthasar Hubmaiers Lehre zwischen traditioneller und reformatorischer Theologie, Leiden 1976. - Zu Hätzer: [Thomas Blarer] Wie Ludwig Hetzer zu Costentz mit dem schwert gericht vß disem zyt abgescheyden ist [Straßburg: Balthasar Beck 1529], Nachweis: Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Τ. I, Bd. 1, Nr. 297, S. 128; vgl. darüber hinaus J. F. Gerhard Goeters, Ludwig Hätzer (ca. 1500 bis 1529). Spiritualist und Antitrinitarier. Eine Randfigur der frühen Täuferbewegung, Gütersloh 1957, etwa S. 147 ff. 72 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 26ff.; Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 67. 73 Allen voran Jörg Wagner, von dem es etwa in der 24. Strophe seines Liedes heißt: „Er redt daß manchen wundert". Außbund, S. 64. 74 Wie zum Beispiel Gotthard von Nonnenberg, der 1558 gemeinsam mit Peter Kremer in Winneck hingerichtet wurde: ebd., S. 127 (Str. 10): „Da fieng Gothard zu sprechen an ...". 75 Wie die Täuferin Treingen 1570 in Maastricht. Ebd., S. 177 (Str. 36): „Vnd weil sie nun der massen So sprechen solt vnd rieff / Wolt mans jhr nicht zulassen / Darumb der Hencker lieff /
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zu bekennen76. Wie ihre Vorgänger stellen sie das geistliche und weltliche Personal, das da anklagt, höhnt, droht, erpreßt und nichts lieber als einen Widerruf hören würde, theologisch immer wieder bloß77, wobei die Frauen den Männern in nichts nachstehen, wenn man einmal von ihrer Zahl absieht78, ja, diese sogar noch übertreffen, allen voran Elisabeth Dirks79 und Maria und Ursula van Beckum80.
Daß er jr solchs verletzet / Sein handt auff jren mundt Mit allem fleiß er setzet / Wieß sie ins Heußlein rundt." 76
Besonders publikumswirksam einmal mehr Jörg Wagner. Ebd., S. 64 (Str. 23): „Zween Hencker stunden beyder seit / Den ring vmb jn sie machten weit / Jorg Wagner sprach den glauben. Zugegen stund ein grosse schar / Von Minnern vnd von Frawen."
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Zusammenfassend: Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 159ff., 212ff. 78 In den 20 „aktuellen" Märtyrerliedern stehen 10 Märtyrerinnen - neben den bereits erwähnten fünf Frauen noch drei namenlose Täuferinnen, die 1528 in Bruck an der Mur ertränkt wurden (Außbund, S. 158-162), Elisabeth Dirks, die 1549 in Leeuwarden das gleiche Schicksal erlitt (ebd., S. 69-76), und Maria, die 1552 in Montjoie starb (ebd., S. 154-157) 54 Märtyrern gegenüber, was einem Anteil von nicht einmal 16% entspricht und damit kaum mehr als der Hälfte jenes Anteils, den zum Beispiel Tieleman Jansz van Braghts (bereits erwähntes und weitgehend vollständiges) Martyrologium von 1660 aufweist. John Klassen, Women and the Family among Dutch Anabaptist Martyrs, in: The Mennonite Quarterly Review 60 (1986), S. 548-571, hier S. 549; vgl. in diesem Zusammenhang auch Wayne Plenert, The Martyr's Mirror and Anabaptist Women, in: Mennonite Life 30 (1975), S. 13-18; Jenifer Hiett Umble, Spiritual Companions: Women and Wives in the Martyrs' Mirror, in: Mennonite Life 45 (1990), S. 32-35; dies., Women and Choice: An Examination of the Martyrs' Mirror, in: The Mennonite Quarterly Review 64 (1990), S. 135-145; sowie: Auke Jelsma, Women Martyrs in a Revolutionary Age: A Comparison of Books of Martyrs, in: dies., Frontiers of the Reformation. Dissidence and Orthodoxy in Sixteenth-Century Europe, Aldershot u.a. 1998, S. 75-90. - Wie gezielte „hagiographische" Selektion die Hierarchie der Geschlechter wiederherzustellen und festzuschreiben vermochte, die in der Verfolgungssituation, im Untergrund und nicht zuletzt im Martyrium der Täuferinnen und Täufer schon einmal außer Kontrolle geraten konnte, demonstriert Grochowina, Von Opfern zu Heiligen. 79 Außbund, insbesondere S. 73 (Str. 11 f.), wo die niederländische Mennonitin ihr Abendmahlsverständnis darlegt. 80 Zur Taufe etwa: ebd., S. 99 (Str. 17); zum Abendmahl: ebd., S. 99f. (Str. 19-22). - Vgl. darüber hinaus: ebd., S. 93 (Str. 2): „Das weibliche geschlechte Hat Gott so hoch begabt Mit seinem geist vnd rechte / Daß sie haben geglaubt Seim wort gar festigleichen / Wie sie worden gelehrt /
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Denn daran wollen die Märtyrerlieder keinen Zweifel lassen: Jene „einfeltigen stim"81, die sich in ihnen Gehör verschaffen, sind die Stimmen der „fromen heiigen Christen"82, der „Heilgen Gottes"83, der „Heilgen schar"84, der „schar / Die Christo ist verwante"85, der „Schaflein"86 und „Schlachtschaffe" 87 , Stimmen der Sanftmut, der Liebe und der Wahrheit88. Wie ihre Vor-
Vnd thun dauon nit weichen / Die armen sampt den reichen / So sich zu Gott bekehrt". Zur Einordnung dieses Befundes: M. Lucille Marr, Anabaptist Women of the North: Peers in the Faith, Subordinates in Marriage, in: The Mennonite Quarterly Review 61 (1987), S. 347-362; Werner O. Packull, Anna Jansz of Rotterdam, a Historical Investigation of an Early Anabaptist Heroine, in: ARG 78 (1987), S. 147-173; Ellen Macek, The Emergence of a Feminine Spirituality in The Book of Martyrs, in: The Sixteenth Century Journal 19 (1988), S. 63-80; Marion Kobelt-Groch, Frauen in Ketten. „Von widertauferischen weibern, wie gegen selbigen zu handien.", in: Mennonitische Geschichtsblätter 47/48 (1990/1991), S. 49-70; Wes Harrison, The Role of Women in Anabaptist Thought and Practice: The Hutterite Experience of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: The Sixteenth Century Journal 23 (1992), S. 49-70; Linda Huebert Hecht, An Extraordinary Lay Leader: The Life and Work of Helene of Freyberg, Sixteenth Century Noblewoman and Anabaptist from the Tirol, in: Mennonite Quarterly Review 66 (1992), S. 312-341; Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt a.M. und New York 1993, S. 147 ff.; Marlies Mattern, Leben im Abseits. Frauen und Männer im Täufertum (1525-1550). Eine Studie zur Alltagsgeschichte, Frankfurt a.M. u.a. 1998; Gerhild Scholz Williams, Blutzeugen: Autorität und Ehre in de Braghts 'Bloody Theatre or Martyrs Mirror', in: Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, hg. v. Sibylle Backmann u.a., Berlin 1998, S. 270-287; zusammenfassend: Nicole Grochowina, Zwischen Gleichheit im Martyrium und Unterordnung in der Ehe. Aktionsräume von Frauen in der täuferischen Bewegung, in: „In Christo ist weder man noch weyb". Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform, hg. v. Anne Conrad, Münster 1999, S. 95-113. 81
Außbund, S. 117 (Str. 10). - Zur Forderung und Praxis der Täufer, den Sinn der Schrift (durch einen Vergleich der „dunklen" mit den „klaren" Stellen) „einfältig" zu erfassen und „einfältig" wiederzugeben, vgl. etwa John C. Wenger, Der Biblizismus der Täufer, in: Das Täufertum. Erbe und Verpflichtung, hg. v. Guy F. Hershberger, Stuttgart 1963, S. 161-172; vor allem aber: Walter Klaassen, Speaking in Simplicity: Balthasar Hubmaier, in: The Mennonite Quarterly Review 40 (1966), S. 139-147; zusammenfassend: Goertz, Die Täufer, S. 55ff. 82 Außbund, S. 15 (Str. 13). - Zum Heiligkeitsbegriff der Täufer, der - wie es scheint - ausschließlich als Kollektivbezeichnung verwendet wurde, im Unterschied zu den Lutheranern also nicht als Bezeichnung einzelner Glaubensheldinnen und -helden diente: Gary K. Waite, Dopers anticlericalisme en lekenheiligheid. Doperse heiligen en de status van heiligheid in de Nederlanden, in: Doopsgezinde Bijdragen 25 (1999), S. 65-85. » Außbund, S. 137 (Str. 41). 84 Ebd., S. 140 (Str. 5). 85 Ebd., S. 181 (Str. 8). 86 Ebd., S. 76 (Str. 37) - um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. 87 Ebd., S. 117 (Str. 9). - Weitere Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: ebd., S. 151 (Str. 16) („Schlachtschaf') sowie: S. 174 (Str. 27) („Schlachtsch&flein").
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gänger gehen auch die Täuferinnen und Täufer häufig singend 89 , zumeist fröhlich 90 , immer wieder lachend91, auf jeden Fall aber „ritterlich"92, „mennlich"93, „keck"94, „dapffer"95, „gehertzt"96, „stark"97, „feste"98 und betend99 in den Tod 100 . Wie ihre Vorgänger vergeben auch sie ihren Spöttern, Folterern und Richtern101. Auch sie finden noch die Kraft, ihren Familien, Freunden, ja, selbst ihren Peinigern Trost zu spenden 102 . Kurz: Wie ihre Vorgänger wissen auch sie, was zu tun ist, wenn Heilige leiden und sterben. Wie die Welt der Märtyrerflugschriften ist auch die Welt der Märtyrerlieder eine eschatologisch gedeutete und dramatisierte Welt, in der das „Apostolisch heer"103, das „Himmels heer"104 dem „bösen hauff' 105 gegenübersteht, „Deß Widerchristen hauffen"106. Eine Welt, in der die „schar Der ausserwehlten frommen"107 und die „grosse rott"108, die „geistloß rott"109 miteinander um die Vormacht kämpfen. Eine Welt also, in der es ums Ganze geht. Drastischer aber als die Märtyrerflugschriften der Lutheraner demonstrieren die Märtyrerlieder
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Vgl. auch Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 212ff. Außbund, S. 58 (Str. 10); S. 156 (Str. 12); S. 238 (Str. 2). 90 Eine Auswahl: ebd., S. 88 (Str. 4); S. 89 (Str. 6 und 8); S. 172 (Str. 22); S. 175 (Str. 30); S. 176 (Str. 32). 91 Etwa: ebd., S. 86 (Str. 18); S. 90 (Str. 11); S. 161 (Str. 13). 92 Aus der Fülle der Beispiele: ebd., S. 127 (Str. 10); S. 185 (Str. 19 und Str. 20). - Zum Zusammenhang von „Ritter"-Metaphorik und Wahrheitsanspruch in der Reformationszeit: Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, S. 577; Andreas Wang, Der „Miles Christianus" im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit, Bem und Frankfurt a.M. 1975; vgl. auch Uwe Schellinger, Sigmund Bosch, Täuferpoet von Friesenheim: Zur Lebens- und Gedankenwelt eines Unbekannten, in: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 1993, S. 220-260, hier S. 247 ff. 93 Außbund, S. 174 (Str. 26) - hier als Attribut für Ursula van Essen; vgl. darüber hinaus auch ebd., S. 32 (Str. 11). - Zu dieser Zuschreibung aus der Perspektive der weltlichen und kirchlichen Autoritäten: Scholz Williams, Blutzeugen, S. 274, 278 und passim. 94 Außbund, S. 65 (Str. 2). 95 Ebd., S. 76 (Str. 38). 96 Ebd., S. 238 (Str. 2). 97 Ebd., S. 129 (Str. 25). 98 Ebd., S. 115 (Str. 3). 99 Ebd., S. 74 (Str. 28). 100 wie ihre Vorgänger richten auch sie im Moment ihres Todes auffallend häufig die Augen in den Himmel. Ein Beispiel: ebd., S. 151 (Str. 16). 101 Vgl. nur ebd., S. 120 (Str. 7). 102 Ein Beispiel: ebd., S. 161 (Str. 11). 103 Ebd., S. 12 (Str. 7). 104 Ebd., S. 180 (Str. 4). 105 Ebd., S. 65 (Str. 1). 106 Ebd., S. 165 (Str. 7). 107 Ebd., S. 185 (Str. 20); vgl. auch ebd., S. 240 (Str. 5) und S. 241 (Str. 6). 108 Ebd., S. 178 (Str. 39). 109 Ebd., S. 184 (Str. 16). 89
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der Täufer, was es heißt, in dieser Welt zu den „Schafen" zu gehören, indem sie immer wieder die Qualen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten vor Augen führen, ihre körperlichen Qualen zumal, indem sie vor allem immer wieder (und in dichten Nahaufnahmen) beschreiben, wie die Gefangenen gefoltert werden, um sie zu zwingen, einen Widemif zu leisten oder auch die Namen von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern preiszugeben110. Das Lied über das Ende der niederländischen Mennonitin Elisabeth Dirks zum Beispiel räumt der Folter ein Drittel seines Textes ein und läßt dabei keine Phase der Tortur unerwähnt. Nachdem das „Mägdelein von glidern zart / lieblich / schon / vnd von guter art"111 einen Widerruf verweigert hat und allen Drohungen zum Trotz auch nicht dazu zu bewegen ist, dem Rat von Leeuwarden weitere Täuferinnen und Täufer zu nennen, die in der Stadt leben, werden ihr Daumenschrauben angelegt: „Elisabet find gar kein gnad / Wirt wider bald geführt vorn Rhat / Bald auch in den Peinkeller kam / Peinlich zu fragen man vornam. Dem Hencker kam sie vnder dhendt / Sprachen zu jhr an disem end / Wir haben bißher gütig / sich / Mit euch geredt / vnd freundtelich:
110 Ygi etwa die Darstellung der Marter des Mennoniten Adrian 1552 in Leiden. Ebd., S. 239f. (Str. 4): „Ob er schon peinlich ward gefragt / Blieb er bestendig vnuerzagt / Hat jn kein antwort geben / Der Adrian insonderheit Mit grosser vnbarmhertzigkeit Gemartert ward gar eben / Allein daß er nit reden wolt Nach jrem falschen willen. Die seinen er verrhaten solt / Daß sie mochten erfüllen An jnen auch jr tyranney / Volbringen jhrn lust vnd boßheit / Als ob kein Gott im Himmel sey." Daß die Lieder hier durchaus die gängige Praxis inszenieren, zeigt exemplarisch Gottfried Seebass, Der Prozeß gegen den Täuferführer Hans Hut in Augsburg 1527, in: Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert, S. 213-230, hier vor allem S. 222, 226 ff. - Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch: Peter Schmidt, Tortur als Routine. Zur Theorie und Praxis der römischen Inquisition in der frühen Neuzeit, in: Das Quälen des Körpers, S. 201-215. 111 Außbund, S. 69 (Str. 1).
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht Nun wolln wir desto strenger seyn / Vnd mit euch handien durch die pein / Die euch der Richter ietzt zuricht / Wo jr euch noch bekehret nicht. Die Finger man jr klemmen thet / Daß sie dran solchen schmertzen hett / Daß jr durch disen grossen zwang Das blut zun Negeln ausser sprang" 112 .
Als die Mennonitin glaubt, den Schmerz nicht länger ertragen zu können, wendet sie sich an Gott: „Sie thet es Gott im Himmel klagn / Die pein kann ich nit länger tragen / Thu mir Ο Herr hilff vnd beistand / Behüte mich vor schmach vnd schand" 113 . D i e Ratsherren sehen sich am Ziel und fordern die Täuferin rasch noch einmal nachdrücklich auf, ihren „fehl" zu bekennen: „Sie sprachen / Nun bekent ewr fehl / So sol man euch wol helffen schnell / Jr dorfft drumb nit ruffen zu Gott / Bekent / so helfft jr euch auß not" 114 . Elisabeth Dirks aber verharrt im Gebet und spürt, w i e ihr neue Kraft zuwächst. Der Schmerz der Folter läßt nach: „Sie blieb inbrünstig im Gebet / Deß ward sie auch von jm erret / Der jr krafft gab im schmertzen / Daß sie mit gedult im hertzen Die pein vnd schaden kund ertragn / An Gottes gute nit verzagn / Sie sprach / die pein nimpt bey mir ab Wie ich vmb Gott erbetten hab" 115 . D i e Ratsherren lassen die Folter noch einmal verschärfen. D i e Henker legen Elisabeth Dirks Beinschrauben an. Ihre Bitte, sie nicht zu entblößen, bleibt ungehört 1 1 6 . Sie wird ohnmächtig 1 1 7 , kommt aber schon bald wieder zu sich. 112
Ebd., S. 73 f. (Str. 22-25). Ebd., S. 74 (Str. 26). 114 Ebd., S. 74 (Str. 27). 115 Ebd., S. 74 (Str. 28f.). 116 Zur erzwungenen und öffentlich bzw. halb-öffentlich inszenierten Entblößung als Verletzung der Integrität des weiblichen Körpers und damit der weiblichen Ehre: Scholz Williams, Blutzeugen, S. 279; vgl. auch Wolfgang Schild, Der gefolterte weibliche Körper, in: Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision, hg. v. Klaus Garber und Jutta Held, Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion - Geschlechter Natur und Kultur, hg. v. Klaus Garber u.a., München 2001, S. 4 6 3 ^ 9 4 . 117 Wie auch „Treingen" 1570 in Maastricht: Außbund, S. 171 (Str. 18). 113
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N o c h einmal versuchen die Ratsherren, sie zu einem Widerruf zu bewegen. Sie aber bleibt standhaft: „Jhr mögt mich fragen was jr wolt / Mein hoffnung ist zu Gott gesteh / Zwo Schrauben an jhr beyn man setzt / Daß sie noch schwerer würd verletzt. Sie sprach / schendet mich nit so sehr / Dan euch bringt solches ding kein ehr / Daß jr entbloset meinen leib / Gedenckt an ewre kindt vnd weib / Daß sie nit werden so geschendt. Jn dem hat sie jhnn frey bekendt / Es hat mit seiner hand kein man Jhrn leib jhe bloß gerüret an. Jn dem sie zu der Erden sanck / Vnd ward von Onmacht also kranck / Daß sie gehalten ward vor todt / Noch half jr auff der trewe Gott / Daß sie noch kam zu jrer krafft / Vnd sprach zu jnen vnzaghafft / Jch lebe noch vnd bin nit todt. Sie sprachen / nun bekendt vor Gott / Daß jr gejrrt / vnd widersprecht / Weil jr noch gnad erlengen mögt. Da sprach sie / Jch beger durch Gott Das zu versieglen mit dem Todt" 118 . Fragt man, warum die Märtyrerlieder das Quälen des Körpers - und das bedeutet auch hier keineswegs zuletzt: das Quälen der S e e l e 1 1 9 - so raumgreifend w i e detailversessen darstellen, liegt es zuerst einmal nahe, diese Lieder als Medien der Imagination und damit auch der meditativen Antizipation von Schmerz zu verstehen 1 2 0 , die letztlich seiner asketisch-spirituellen Überwin-
"8 Ebd., S.74f. (Str. 30-35). 119 So heißt es zum Beispiel in der zwölften Strophe jenes Liedes, das die Leidensgeschichte von „Arndt", „Ursel", „Ermgen" und „Treingen" erzählt (ebd., S. 169): „Erstmals sie da begunnen Mit Arndt dem lieben mann / Der noch hat uberwunnen / Dennoch sagt man dauon / Daß er gepeinigt worden Sechs oder siben mal. Vmb sein Seel zu ermorden Thet man solchs principal." 120
In diesem Sinne auch Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 1, S. 242f.
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dung dient 121 . Hinzu kommt, daß die Inszenierung der Folter in besonderer Weise dazu geeignet ist, einmal mehr die Perfidie der Welt vor Augen zu führen 122 , was im Falle der Marter Ursulas van Essen in der Entlarvung des geistlichen Drahtziehers übermäßiger Grausamkeit kulminiert: „Knüpffen sach man jr hände Zusamen binden fest / Dahinden an dem ende Der Hencker hielt das letzt / Vnd hat sie von daniden Der Erden auffgetost / Jr das Hembd auffgeschnitten / Vnd jhren Rück entblößt. Vnd geisselt sie vnmessig / Jst das nit grosse klag? Mit Ruten uberflüssig / Zweimal auff einen tag. Man sagt von disem speite / Der disen rhat so gab / Das war ein Jesuite / Der sie wolt führen ab" 123 .
Gleichzeitig aber fällt auf, daß die Täuferinnen und Täufer, die doch ausnahmslos freudig und erwartungsvoll in den Tod gehen, das Quälen ihrer Körper im Unterschied zu vielen Legendenheiligen124 keineswegs verzückt oder selbstvergessen, ja, nicht einmal gelassen ertragen, so standhaft sie auch letztlich bleiben 125 . Im Gegenteil. Wie Elisabeth Dirks: „Sie thet es Gott im Himmel klagn / Die pein kann ich nit länger tragen / Thu mir Ο Herr hilff vnd beistand / Behüte mich vor schmach vnd schand" 126 , zweifeln auch Ursula van Essen: „Es wer schwerlich zu tragen" 127 , ihre Leidensgenossin „Treingen": „Da rieff sie offenbarlich / Ο Herr wolst mir beystahn" 128 und selbst Adrian: „Als ob kein Gott im Himmel sey" 129 , ganz offensichtlich daran, ob sie durchstehen können, was ihnen angetan wird, und legen damit die Vermutung nahe, daß die ausgedehnte Dramatisierung von physischer Gewalt in den Märtyrerliedern noch eine weitere Funktion hat. Indem die Lieder keinen Zweifel daran 121
Zu diesem Problemkomplex ausführlich in Kapitel 6 der vorliegenden Untersuchung. Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 172. 123 Außbund, S. 170 (Str. 15 f.). 124 Beispiele: Albert Schirrmeister, Folter und Heiligung in der Legenda Aurea. Frühchristliche Martern und spätmittelalterliche Körperkonzepte, in: Das Quälen des Körpers, S. 133— 149. 125 Vgl. dazu auch David B. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt a. M. und Leipzig 1994, S. 176ff. - sowie: Sofsky, Traktat über die Gewalt, S. 68f. (mit Anm. 3). 126 Außbund, S. 74 (Str. 26). 127 Ebd., S. 169 (Str. 13). 128 Ebd., S. 171 (Str. 19). 129 Ebd., S. 240 (Str. 4). 122
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lassen, daß die Folter ihre Opfer körperlich und seelisch erreicht, daß die Märtyrerinnen und Märtyrer in spe ihren W e g in den Tod also z u m i n d e s t z e i t w e i l i g diesseits m e n s c h l i c h e r Schmerzerfahrung g e h e n , demonstrieren sie j e n e s Prinzip der „Leidsamkeit" - der „lijdzaamheid" der niederländischen Täuferakt e n 1 3 0 - , das als n o t w e n d i g e B e d i n g u n g für die „imitatio Christi" die Ethik aller Täufergruppen seit der z w e i t e n Hälfte d e s 16. Jahrhunderts b e s t i m m t e und damit z u g l e i c h auch die Praxis der Wehr- und G e w a l t l o s i g k e i t der G e m e i n d e n begründete 1 3 1 . M e h r noch: Indem die Märtyrerlieder keinen Z w e i f e l an den Qualen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten lassen und damit unmißverständlich zu erkennen g e b e n , daß Taufe und Kreuz z u s a m m e n g e h ö r e n 1 3 2 - ein D e u t u n g s m u ster, das die A u s s a g e n g e f a n g e n e r Täuferinnen und Täufer beherrscht 1 3 3 und
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Häufige Schreibweisen sind auch „lijdsamkeit" und „lydsaemkeit". Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, S. 592f.; Bornhäuser, Leben und Lehre Menno Simons', S. 140ff.; Grochowina, Von Opfem zu Heiligen, S. 136; vgl. auch Hans Adolf Hertzler, Nachfolge Jesu, in: Mennonitische Geschichtsblätter 28 (NF 23) (1971), S. 19-27; James M. Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence/Kansas 2 1976, S. 309 ff. - und: Stephen B. Boyd, Pilgram Marpeck. His Life and Social Theology, Durham 1992, S. 25 ff. 132 Vgl. hier nur zusammenfassend: John Η. Yoder, Sendung und Auftrag der Gemeinde, in: Die Mennoniten, S. 109-127, hier S. 121 ff. 133 So heißt es etwa in der Aussage von Adam Angersbach vom 11. November 1531 in Vacha über den Führer der hessischen Täufer Melchior Rinck: „So habe bruder Melchior sich erboten, vor allen brudere zu merhe mal, das mit sein blut zu beweren, und das gegen aller weit mit hundert und aber hundert Schriften zu beweren, und habe sich solchs mit Baltazar Reiden zu disputiren erboten und derhalben ine zu sich uf ein zeit uf die Sorge bei Hersfelt bescheiden, aber Baltazar sei nit kommen. Daruf ine sein gewiessen nit anders bericht, dan solchs der bevel Christi und die rechte, warhaftige laer, und taufen lassen. Dan der rechten tauf volgt das creuz nach, wie man dan sehen, das dieser tauf tue und derhalben vil bruder getodt und vervolget werden und von solcher tauf mit irem blut zeuchen." Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 4: Wiedertäuferakten 1527-1626, bearb. v. Günther Franz, Marburg 1951, Nr. 17 B, S. 42-47, hier S. 44. - Und in einem „Bekenntnis"-Brief des Täufers Endres Keller von 1536 an die Stadtherren der Reichsstadt Rothenburg schreibt der Gefangene: „Doch lieben hern ich verhoff, ier wird mich nit ubereilen, dan ich sags für war in kainem argen, sunderlich, das ier eich nit in dem nomen gottes vergreift on mir. Dan was hilft es eich an mir, das ier mich also jemerlich hapt zugericht, das ich enlender dan enlend nun dallet bin, dan ich uberwintz mein leptag nimer mer und bin meines hanckwercz beraibt mit samt meiner gelider und bin verhungert, das ich ietz weder essen noch drinken mach. Dan wie maint ier, fünf wuchen nur wasser und brotsupen ungeschmelts, nur das wasser blos gesotten und in der finsternus nur auf dem stro gelegen, das es nit müchlich ist, wan mir gott nit als grosse lieb het geben, das ich nit unsinich wer worden oder gar dapp, dan ich müest doch erfrorn sein, wo mich gott nit het gesterkt, dan ier könnt wol aichten, was ain ein schlegt wasser mocht erwermen. Und solge grosse marter darzu leiten, dan der henker hot mir zwien griff geben und mir meine hend verderpt, wo mirs der herr nit heilt, das ich bis on mein end genug haw. Aber ich wais, das mich gott nit verlest ewichlich, so igs von seines worts wegen leit. Dan ich wais alles wol, das mich der feint ser gegen eich verleigt, als ich mit grossem schmerzen erfaren haw. Gott wol es eich verzeigen und allen lieben menschen, die es don, die mich also feischlich versach gegen euch; dan alles das 131
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bezeichnenderweise immer wieder auch polemische Reaktionen evangelischer wie katholischer Theologen provozierte134 - , verbürgen, ja, garantieren sie die Wahrheit der Lehre, die in ihnen bekannt wird. Die radikale Demonstration des ethischen Imperativs der „Leidsamkeit" offenbart allen, die diese Lieder auswendig lernen, die sie singen oder die ihnen zuhören, einen fundamentalen Sinnzusammenhang, den nur der Tod beglaubigen kann. Welche Lehre aber ist es, die in den „Marter-Gesengen" des „Ausbund" bekannt und unwiderlegbar beglaubigt wird? Was heißt es, wenn der anonyme Kompilator in seiner Vorrede betont, daß die Lieder, die er präsentiert, „nit einerley Religion" seien, „ist doch hierin einem jeden nach seiner Religion sein gedieht vngeschmecht gelassen" 135 ? Kurz: Wohin lenkt der „Ausbund" jene, die ihn benutzen - und wie? Ruft man sich in Erinnerung, daß der „Ausbund" das Gesangbuch der schon traditionell „stillen" süddeutschen Täufer war, und führt man sich zudem die Entwicklung des niederdeutschen und niederländischen Täufertums seit der mennonitischen Wende in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts vor Augen 136 , kann es nicht erstaunen, daß die Protagonistinnen und Protagonisten der Märtyrerlieder ausschließlich rigoros leidenswillige „Schafe Christi" sind, die nichts bekennen, was den Boden separatistischer Heiligungsvorstellungen verlassen würde. Denn daran besteht kein Zweifel: Mit dieser Wende wurden alle aggressiven, alle chiliastischen, alle radikalen sozialen und politischen Visionen und Utopien des „melchioritischen" Täufertums137 fast vollständig lang darvor ist geschegen, das mues ich erst don hawen. Doch ich wais, das mirs gott zum besten duet und mich dardurch lieb hot, wie der Davit sagt: wol dem, den du, herr, zügtigest, du lerest in dein gesatz, so du im gedult gibst am 94. (12) psalm, und der weis man sagt: wen der her lieb hat, den stroft und zügtiget (Hebr. 12, 6) er fluchs, dan es hot ein wolgefallen dron, wie ain fater on seinem kind." Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 5: Bayern, II. Abt., bearb. v. Karl Schornbaum, Gütersloh 1951, Nr. 19, S. 193-209, hier S. 200. - Eine Fülle entsprechender weiterer Aussagen verzeichnet: Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen und Lebensformen, S. 152f. 134 Beispiele: Die Schriften der münsterischen Täufer und ihrer Gegner, Bd. 2: Schriften von katholischer Seite gegen die Täufer, bearb. v. Robert Stupperich, Münster 1980; sowie: Die Schriften der münsterischen Täufer und ihrer Gegner, Bd. 3: Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer, bearb. v. Robert Stupperich, Münster 1983 (jeweils passim). Vgl. darüber hinaus John S. Oyer, Lutheran Reformers against Anabaptists. Luther, Melanchthon and Menius and the Anabaptists of Central Germany, Den Haag 1964. 135
Außbund, S. 2 r (Bleistiftpaginierung). 136 Prägnant: Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, S. 32 f. 137 Ygi z u dieser Variante des Täufertums, die auf den Kürschner Melchior Hoffman (um 1500-1543) zurückgeht, neben der grundlegenden Arbeit von Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Vision im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979: Albert F. Mellink, De Wederdopers in de Noordelijke Nederlanden 1531-1544, Groningen und Djakarta 1954; William Echard Keeney, The Development of Dutch Anabaptist Thought and Practice from 1539-1564, Nieuwkoop 1968; vor allem aber: Cornelius Krahn, Dutch Anabaptism. Origin, Spread, Life, and Thought 1450-1600, Den Haag 1968 (Scottdale/Pennsylvania und Kitchener/Ontario 2 1981); und: Günther List, Chiliastische
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verdrängt 1 3 8 , die 1534/1535 das Täuferreich in Münster ermöglicht, begleitet und schließlich bestimmt hatten 1 3 9 . Gewiß, wirft man einen Blick auf die übrigen „Gesenge" des „Ausbund", so ist ein Lied auszumachen, das vorgibt, das Testament jener Anna Jansz für ihren Sohn zu sein 1 4 0 , die wohl im März 1534 (zu Beginn der rasch ausstrahlenden Täuferherrschaft in Münster also 1 4 1 ) in Brielle in den Niederlanden getauft und am 24. Januar 1539 in Rottderdam ertränkt wurde 1 4 2 - und die nicht nur Anhängerin des charismatischen MennoKonkurrenten David Joris g e w e s e n ist 1 4 3 , sondern gemeinhin auch als Verfasserin des rachedurstigen „Posaunenliedes" gilt 1 4 4 . D o c h sucht man in j e n e m gereimten Testament des „Ausbund", das eine poetische Entschärfung des ohnehin schon moderaten, erstmals in „Het Offer des Heeren" abgedruckten 1 4 5
Utopie und radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee vom „Tausendjährigen Reich" im 16. Jahrhundert, München 1973, S. 187 ff.; Karl-Heinz Kirchhoff, Die Endzeiterwartung der Täufergemeinde zu Münster 1534/35. Gemeindebildung unter dem Eindruck biblischer Verheißungen, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 78 (1985), S. 19-42; Walter Klaassen, Living at the End of the Ages. Apocalyptic Expectation in the Radical Reformation, Lanham u.a. 1992, S. 45ff. und passim; sowie pointiert: Frank Staeck und Caroline Welsch, Ketzer, Täufer, Utopisten, Pfaffenweiler 1991, S. 270ff. 138 Karl-Heinz Kirchhoff, Die Täufer im Münsterland. Verbreitung und Verfolgung des Täufertums im Stift Münster 1533-1550, in: WestfZ 113 (1963), S. 1-109; Albert F. Mellink, Das niederländisch-westfälische Täufertum im 16. Jahrhundert, in: Umstrittenes Täufertum 1525-1975. Neue Forschungen, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, Göttingen 2 1977, S. 206-222, hier S. 214ff.; James M. Stayer, Davidite vs. Mennonite, in: The Mennonite Quarterly Review 58 (1984), S. 459-476; Waite, From Apocalyptic Crusaders to Anabaptist Terrorists; John D. Derksen, Melchiorites after Melchior Hoffman in Strasbourg, in: The Mennonite Quarterly Review 68 (1994), S. 336-350; ders., Reasons for Dissent Among Strasbourg's Religious Nonconformists, 1536-1569, in: ARG 90 (1999), S. 188-210. 139 Die wichtigste Literatur zu dieser Entwicklung verzeichnet jetzt: Das Königreich der Täufer, 2 Bde., hg. v. Barbara Romme, Münster 2000, hier Bd. 2: Die münsterischen Täufer im Spiegel der Nachwelt, S. 212 ff. - Vgl. in diesem Kontext auch Volker Reinhardt, Florenz 1527/30 - Münster 1534/35. Überlegungen zur Genese radikaler Reformation und zur Vergleichbarkeit des scheinbar Inkomparablen, in: Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Ernst Schulin zum 65. Geburtstag, hg. v. Gangolf Hübinger u.a., Freiburg i.Br. 1994, S. 117-136. - Nur am Rande sei vermerkt, daß die Täufer in Münster von einer Ausnahme abgesehen keine eigenen Lieder hervorgebracht haben. Martin Brecht, Die Lieder der Täufer in Münster und ihr Gesangbuch, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 78 (1985), S. 43-48; als „The Songs of the Anabaptists in Münster and their Hymnbook" wieder in: The Mennonite Quarterly Review 59 (1985), S. 362-366. 140 „Ein ander Marterlied von einem weibe sampt jrem Sohn / welche zu Roterdam jhren Abscheid gethan". Außbund, S. 108-114 (22 Str.). 141 Albert F. Mellink, The Mutual Relations between the Munster Anabaptists and the Netherlands, in: ARG 50 (1959), S. 16-33. 142 Packull, Anna Jansz of Rotterdam, S. 149f. 143 Grundlegend zu David Joris (1501-1556): Gary Κ. Waite, David Joris and Dutch Anabaptism 1524-1543, Waterloo/Ontario 1990. 144 Packull, Anna Jansz of Rotterdam, S. 151 ff. 145 Het Offer des Heeren, S. 70-75.
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Testaments der einstigen Radikalen von anderer Hand darstellt 1 4 6 , militantapokalyptische Züge vergeblich 1 4 7 , so daß festgehalten werden kann: Wer die Märtyrerlieder des „Ausbund" in den Blick nimmt, hat es auch mit einer Variante der literarischen Organisation des Vergessens zu tun 1 4 8 , mit dem Versuch „geregelter Erinnerung" 1 4 9 . Was aber wird nun in den Verhör-Inszenierungen der „Marter-Gesenge" konkret „dogmatisch" zur Sprache gebracht? Wie nicht anders zu erwarten, fragen die Inquisitoren ihre Opfer fast durchgängig zuerst einmal, ob sie sich hätten „wiedertaufen" lassen 1 5 0 , was jene nicht weniger durchgängig und entschieden verneinen, um im selben Atemzug die Glaubens- bzw. Bekenntnistaufe als einzig „rechte" Taufe zu verteidigen 1 5 1 . S o heißt es etwa in d e m Lied über Elisabeth Dirks: „Sie fragten / ob der Kindertauff / So man jetzt nach gemeinem lauff Notwendig hielt / nit mache from? Das sol sie kurtz in einer sum Anzeygen / vnd bekennen rondt / Warumb sie noch zu diser stund Jn jhrem alter wider tauff / Wie vil sie darumb würd gestrafft? Sie sprach / ich bin nach Christi lehr Ein mal getaufft / nit weiter mehr / Auff meinn bekandten Glauben fein / Wie es nach Gottes wort soll sein". 152 Oder in jenem, das Maria und Ursula van B e c k u m gewidmet ist: „Zu Delden auff das hause Fuhrt man sie schnei behend / Sie litten manchen strause / Worden doch nit abgwendt / Ein Commissari thet kommen Auß deß Burgunders Hof / Der redet an die frommen / 146
Packull, Anna Jansz of Rotterdam, S. 169. Zusammenfassend zu dieser Metamorphose auch ders., Anna Jansz of Rotterdam, in: Profiles of Anabaptist Women, S. 336-351. 14 8 Dazu immer noch grundlegend: Weinrich, Lethe, S. 11 ff. - Vgl. auch Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 299ff.; und Burschel, Das Schreckliche ist nichts als des Schönen Abglanz. 149 Um noch einmal Jens Kulenkampff zu zitieren: Notiz über die Begriffe „Monument" und „Lebenswelt", S. 28. 150 Eine Frage, die zumeist mit einer zweiten korrespondiert - der Frage nach dem „wann". Ein Beispiel: Außbund, S. 66 (Str. 3). 151 Zusammenfassend zur Tauf-Lehre oder genauer zu den Tauf-Lehren der Täufer: Goertz, Die Täufer, S. 76 ff. 152 Außbund, S. 72 (Str. 15-17). 147
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Wie ich es hab vernommen / Obs hielten die Widertauff? Ο nein / ein Tauff wir kennen / Sprachen sie alle beyd / Thut man jn anders nennen / Jst vns gewißlich leyd / Der gläubig leßt sich wäschen Ein mal nach Christi wort / Hellt sich vor kat vnd Eschen 153 Sein licht wirt nit erleschen / Ob er schon würd ermort. Die nun hond angezogen Christum nach seiner lehr / Ob sie vor hond betrogen / Thun sie es nimmermehr / Die hond einn Tauff entpfangen / Der jn vor Christo gilt / Wie hoch der feind thut brangen / Jst es allso ergangen / Wie fast man es jetzt schildt". 154
Oder auch in dem „Marterlied" über Thomas von Imbroich, nach seinem Beruf „Drucker" genannt, der im März 1558 in Köln enthauptet wurde155: „Zween Gierten habens zu mir bracht / Daß sie mich vnderwiesen / Die waren vneins jhrer sach / Sie fiengen an zu kifen. Es traff die vngetauffte Kinder an / Ob sie sehlig weren zu nennen. Der eine wolt sie im Himmel han / Der ander wolts nit kennen. Da habens mich gesprochen an / Daß ich mich solt bekehren. Jhr veracht vnß gmein bey jederman / Kompt nit zu vnser lehre / Laßt ewre Kinder vngetaufft / Das können wir nit preisen / Darumb jr mit den Ketzem laufft / Das kundten sie nit beweisen. Daß ich ewr Kirch solt han veracht / Nit kommen in ewr gmeyne / Das ist die vrsach seid bedacht / Jhr halt ewr Kirch nit reyne.
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Kot und Asche. Außbund, S. 98 f. (Str. 16-18). 155 Ausführlich zu Thomas von Imbroich: Hans H. Th. Stiasny, Die strafrechtliche Verfolgung der Täufer in der Freien Reichsstadt Köln 1529 bis 1618, Münster 1962, S. 36 ff. 154
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht Ehbrecher / Wuchrer / Fuller vil Halt j r bey euch f u r frommen / Jhr seid die grosten in dem spil / Wer wolt dann zu euch k o m m e n ? Jch achts vor keinen irthmb [sie!] nicht / Wie wir leben vnd lehren / Jch wird dan mit de Schrifft bericht / Den wil ich mich bekehren. Die Schrifft sagt nichts vom Kindertauff / H a b nichst dauon gelesen / Die im tauff werden gnommen auff / Die sind gläubig gewesen" 1 5 6 .
So fest der Schweizer Bruder Thomas von Imbroich bis zu dieser Aussage auf jenem dogmatischen Boden steht, der allen Täufern gemein war - denn selbstverständlich wird man getauft, weil man glaubt, und nicht umgekehrt157 - , so unzweideutig verläßt er diesen Boden in der folgenden Strophe: „Es ist ein Bad der widergeburt / Ein Bund eins guten gwissens / Der alt mensch gantz ernewert würd / Dauon die Kindt nichts wissen / Er wascht die sünd nit ab im fleisch / Die wir von Adam erben. Wer gtaufft wirt wies die Schrifft erheyscht / Der m u ß der Sund absterben" 1 5 8 .
Was Thomas von Imbroich hier zu Protokoll gibt, ist ein Bekenntnis zur Wirksamkeit der Erbsünde. Die Existenz der Erbsünde aber wurde von den süddeutschen Täufern im Unterschied zu den Mennoniten vehement bestritten159, so daß sich die Frage stellt, warum ein Schweizer Bruder so nachdrücklich von der Sünde spricht, die „wir von Adam erben"160. Angesichts der Tatsache, daß der „Marter-Gesang" über Thomas von Imbroich eine Übersetzung aus dem Niederländischen ist, scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: weil der
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Außbund, S. 142f. (Str. 13-16). Pointiert: Christof Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi und Pflichtzeichen brüderlicher Liebe. Z u m Verständnis des Abendmahls bei Balthasar Hubmaier, in: Umstrittenes Täufertum 1525-1975, S. 111-137, hier S. 129. 157
158
Außbund, S. 143 (Str. 17). Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 54, 104; Deppermann, Melchior H o f f m a n , S. 197 ff. 160 Vgl. dagegen Jörg Wagners Taufverständnis. Außbund, S. 61 (Str. 9): 159
„Der Tauff ist recht wie Christus lehrt / Wenn die Ordnung nit wirt verkehrt / Bedeut sein bitter sterben. Jst ein abwäschung vnser Sünd / Dardurch wir gnad erwerben."
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mennonitische Verfasser des Liedes es so wollte 161 . Warum aber hat der Übersetzer nicht wieder rückgängig gemacht, was der Verfasser bekennen ließ? Warum hat der verantwortliche Kompilator nicht eingegriffen? Führt man sich vor Augen, daß der gesamte „Ausbund" lediglich ein Lied des virtuosen Täuferpoeten Sigmund Bosch enthält162 - und zwar noch nicht einmal ein blutbeglaubigtes Märtyrerlied - , in welchem mehr oder weniger nebenbei die monophysitische Christologie der Mennoniten kritisiert wird 163 , das theologische Konfliktfeld zwischen den niederländischen Täufern und den Schweizer Brüdern par exellence 164 , dann wird man festhalten dürfen: weil der „Ausbund" ein Buch des Ausgleichs sein sollte, oder doch zumindest ein Buch, das die mikrokonfessionellen Gräben im Täufertum der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht noch vertieft165. Nimmt man das zweite Sakrament in den Blick, nach welchem die Inquisitoren in den Verhör-Inszenierungen der Märtyrerlieder des „Ausbund" fast durchgängig fragen, das Abendmahl166, so lassen sich nicht weniger als drei 161
Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 99, 103 f. „Ein ander schon geistlich Lied", S. 384-392 (28 Str.). - Grundlegend zu Bosch ( t n a c h 1553) und seinem „Werk": Schellinger, Sigmund Bosch. 163 Außbund, S. 390 (Str. 22): 162
, J m hertzen sol man glauben / Bekennen mit dem mund / Vil Widerchristi vor äugen / Jn diser letzten stundt. Wer Christum nit im fleisch bekendt / Von Dauids gschlecht vnd arte / Der ist furwar verblendt." 164
Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 46, 52ff., 84; Reimer Duerksen, Doctrinal Implications in Sixteenth Century Anabaptist Hymnody, S. 47; J. A. Oosterbaan, The Reformation of the Reformation. Fundamentals of Anabaptist Theology, in: The Mennonite Quarterly Review 51 (1977), S. 171-195, hier S. 181; vor allem aber: Keeney, The Development of Dutch Anabaptist Thought and Practice, S. 89ff., 207ff.; und Deppermann, Melchior Hoffman, S. 199ff. 165 Zu Begriff und Prozeß der „Microconfessionalization" im Täufertum seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Gregory, Salvation at Stake, S. 231 ff.; vgl. in diesem Kontext auch dens., Particuliere martelaarsbundels uit de late zestiende eeuw, in: Doopsgezinde Bijdragen 1993, S. 81-106. 166 Vgl. etwa über die folgenden drei Beispiele im Haupttext hinaus: Außbund, S. 61 (Str. 10 f.), wo Jörg Wagner sein Abendmahlsverständnis zu Protokoll gibt: „Vons Herren Christi Sacrament Jorg Wagner jnn auch frey bekendt / Jch halt es vor ein Zeychen / Vor Christi hin gegebnen leib / Redt er ohn alles schmeychlen. Zum vierdten wolt nit glauben thun / Daß sich Gott solte zwingen lohn / Auff erd herab zu kommen /
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„übertragene" Lieder ausmachen, in denen die Abendmahlslehre dogmatisch im Zentrum steht und auch quantitativ vor der Taufe rangiert, obwohl sie in den niederländischen „Originalen" nur am Rande erwähnt wird. Während Maria und Ursula van Beckum in „Het Offer des Heeren" auf die Frage der Inquisitoren, „oft sy int Sacrament Oock eten Godt geheele", lediglich antworten: „Vant Auontmael houden wy vele" 167 , ziehen sie im „Ausbund" in sechs Strophen alle theologischen Register, die zu ziehen sind, wenn es gilt, den Opfercharakter der Messe, die Lehre von der Transsubstantiation und die Realpräsenz Christi in den Elementen Brot und Wein unmißverständlich zurückzuweisen und gleichzeitig das Abendmahl als reines Gedächtnismahl zu konstituieren, das der Vergewisserung des Glaubens dienen soll 168 : „Ein ander frag auch ware / Ob sie im Sacrament Auch Christum essen gare? Darauff habens bekendt/ Wir können Gott nit essen / Er ist ins Himmels thron / Wir sind nit so vermessen / Daß wir sein gottlich wesen Sölten vor ein spott hon. Als ob wir Gott selbst haben Jn vnserm eygnen gwalt /
Biß er werd halten sein gericht / Den bösen mit den frommen." Sowie: Außbund, S. 66f. (Str. 5 und 7), wo der verhörte Mennonit zusammenfaßt: „Wie kan die speiß sein Gotte / Die der verzehren thut / Der selbst ist staub vnd kote? Mich dunckt in meinem muth / Gott werd nit leiblich gessen / Nach seiner Maiestat Er kein leibliches wesen Auff diser weit mehr hat. Man ißt Gott nit wie Brote / Leibhafftig wie ein speiß / Sein Todt hilfft vns auß note / Jm sey allein der preiß. Den sollen wir groß machen Bey diser speiß allein / Vnd die geistliche Sachen Dabey machen gemeyn." 167
Het Offer des Heeren, S. 509-516, hier S. 512. 168 Vgl. Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi.
4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht Richten nach dem Buchstaben / Obs schon Gott nit gefalt / Vnd wider sein wort flehtet / Noch muß es anders sein. Vil ding man darzu dichtet / Wie vns Christus berichtet / So ist is nur ein schein. S. Paulus nennts ein Brote / Christus ein Testament / Damit des Herren Todte Von vns werde bekendt / Durch dise ding eingraben Jn unsers Hertzen grund Mit geistlichen Buchstaben / Daß wir den leib schon haben Durch den glauben all stundt. Es ist ein geistlich speisen Vnd ein geistlich geschrifft / Die vns thut vnderweisen / Vnd vnser Hertzen trifft. Gleich wie ein testamente / Allein zeugt von dem gut / Das dem Erben ernente / Darzu er dan bekendte / Vnd jm benugen thut. Ob er schon noch thut warten Auff das versprochen gut / Thut er nach glaubens arte / Vnd hat einn guten muth Als hett ers schon empfangen / So wol frewt jn die gab / Er wartet mit verlangen Biß die zeit ist vergangen / Daß auffhöret der Glaub. Aber die liebe bleibet / Vnd herschet auch allein / Die Hoffnung auch vertreibet / So jetzt kompt überein Mit den geistlichen krlfften / So stets vns wohnen bey / Vnd vns zusamen hefften Jn geistlichen geschefften / Auff daß es ein leib sey" 169 .
Außbund, S. 99-101 (Str. 19-24).
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4. Einfältige Stimmen. Opfer und Gericht
D i e fünf Täufer, die 1551 in Antwerpen verbrannt wurden, haben in „Het Offer des Heeren" zwei Zeilen, um ihre Vorstellungen v o m Abendmahl zu artikulieren 1 7 0 , im „Ausbund" zwei Strophen: „Was halt jhr von dem Brodte Wol in deß Priesters handt? Jsts nicht vnser Herr Gotte / Sein Bluth vnd Fleisch genandt? Ο nein sprachens mit gir / Wir haltens nit dafür. Christus wir[t/d] leiblich kommen Mit gar herrlicher zier. Sein leiblich wesen iste Auff Erdt zu suchen nit / Spricht der Euangeliste / Jm Himmel vns vertrit. Darinnen wirt er seyn / Vnd vnser warten fein / Biß er wirt widerkommen Jn gar herrlichem schein" 171 . Und Elisabeth Dirks schließlich erhält statt ursprünglich einer Strophe 1 7 2 drei Strophen zum Thema „Meß vnd Sacrament": „Sie antwort jhnen zu der stundt / Sie hett darinnen keinen grnnd [sie!] / Die Schrifft dauon kein meidung thut / Darumb dunckts michs zwar gar nit gut. Das Nachtmahl aber ist genent Von Christn selbst ein Testament / Das ist / ein zeugnuß vnd geschrifft / Die das ewige Erb antrifft. Gott schreibts vns in das hertz hinein / Mit geistlichen Buchstaben fein / Weichs durch die stiffung [sie!] figuriert / Vnd vnsichtbar bezeygnet wirt" 173 . Wie ist diese Abendmahlseuphorie des „Ausbund" zu erklären? D a sich Schweizer Brüder und Mennoniten in der Frage des Abendmahls einig waren 1 7 4 und auch die Hutterer, deren Märytrerlieder dogmatisch alles in allem
>™ Het Offer des Heeren, S. 184-186, hier S. 185. 171 Außbund, S. 57 (Str. 7 f.). 172 Het Offer des Heeren, S. 95-97, hier S. 95. 173 Außbund, S. 71 (Str. 10-12). 174 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 104; Reimer Duerksen, Doctrinal Implications in Sixteenth Century Anabaptist Hymnody, S. 46f.; Gerhard J. Neumann, The Anabaptist Position on Baptism and the Lord's Supper, in: The Mennonite Quarterly Review 35 (1961), S. 140-148, hier S. 147f.; John S. Oyer, The Strasbourg Conferences of the Anabaptists,
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wenig zu bieten haben 175 , die Eucharistie wie ihre süd- und niederdeutschen Brüder und Schwestern feierten 176 , wird man davon ausgehen dürfen, daß die angeführten Erweiterungen des Übersetzers, die „frei" sind, also keineswegs auf Quellenrecherchen zurückgehen177, nicht oder doch zumindest nicht in erster Linie auf eine innerkonfessionelle Harmonisierung abzielten. Näherliegend scheint es vielmehr zu sein, daß die Abendmahlslehre deshalb so stark akzentuiert wurde, weil die Reformierten sie akzeptieren konnten, erschien doch der „Ausbund" genau zu einem Zeitpunkt, als die Zeichen wieder einmal auf Verständigung standen178, möglicherweise sogar kurz nach dem 10. April 1571, als sich fünfzehn Schweizer Brüder anschickten, einem Ausschreiben Friedrichs III. von der Pfalz nachzukommen, um an jenem bereits erwähnten „Frankenthaler Gespräch" teilzunehmen179, dessen „Protokoll" die Übereinstimmung zwischen Calvinisten und Täufern in der Frage des Abendmahls unmißverständlich dokumentiert180. Daß es dem Kurfürsten und seinen Theologen in dieser bis auf die Abendmahlsfrage vollständig gescheiterten Disputation mehr um Bekehrung als um Verständigung ging 181 und daß weder Mennoniten noch Hutterer der Einladung Folge leisteten, die u. a. freies Geleit garantierte, nimmt dieser Vermutung nichts von ihrer Wahrscheinlichkeit182. Kurz, die Martyrien der „Marter-Gesenge" des „Ausbund" waren nicht nur Medien der radikalen Absonderung von der Welt, in der nebenbei bemerkt die Perfidie, der „falsche Schein" der Lutheraner längst ebenso erfolgreich wütete wie die
1554-1607, in: ebd. 58 (1984), S. 218-229; Leonard Gross, H. Schnell, Second-Generation Anabaptist, in: ebd. 68 (1994), S. 351-377. 175 Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, S. 164 f. 176 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 134; Friedmann, Peter Riedemann, S. 36 und passim; Leonard Gross, Dialogue between a Hutterite and a Swiss Brother, 1573, in: The Mennonite Quarterly Review 44 (1970), S. 45-58. 177 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 132. 178 Vgl. dazu an dieser Stelle nur Gerhard Hein, Die Täuferbewegung im mittelrheinischen Raum von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 40 (1973) (Ebernburg-Hefte, 6./7. Folge, 1972/ 73), S. 288-306, hier vor allem S. 297 ff. 179 Ausführlich zu dieser Disputation Jesse Yoder, The Frankenthal Debate with the Anabaptists in 1571: Purpose, Procedure, Participants, in: The Mennonite Quarterly Review 36 (1962), S. 14-35; Heinold Fast, Die Frage nach der Autorität der Bibel auf dem Frankenthaler Täufergespräch 1571, in: Mennonitische Geschichtsblätter 28 (NF 23) (1971), S. 28-38; ders., Die Täuferbewegung im Lichte des Frankenthaler Gespräches, 1571, in: ebd. 30 (NF 25) (1973), S. 7-23; und Martin Schmidt, Das Frankenthaler Religionsgespräch 1571 und die Gegenwart, in: ZRelGG 25 (1973), S. 58-64. 180 Hein, Die Täuferbewegung im mittelrheinischen Raum, S. 303. 181 Ebd., S. 301; in diesem Zusammenhang auch Werner Seeling, Johannes Sylvan, neue Erkenntnisse über die Hinrichtung eines kurpfälzischen Theologen im Jahre 1572, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 40 (1973), S. 86-99. 182 Fast, Die Täuferbewegung im Lichte des Frankenthaler Gespräches, S. 9; Hein, Die Täuferbewegung im mittelrheinischen Raum, S. 302.
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Perfidie der Katholiken183, nicht nur Medien der innerkonfessionellen Strukturierung sozialer Amnesie, Medien der „geregelten Erinnerung", sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie Medien der inner- und interkonfessionellen Integration. Sicherlich, die konfessionalisierte und sich weiterhin und zunehmend konfessionalisierende Welt der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte radikal-biblizistischen Gruppen wie den Täufern besonders enge Grenzen religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Kooperation: nach innen wie nach außen. Doch wirft der Blick in die Märtyrerlieder des „Ausbund", in ein Katecheseinstrument, das ja gerade auch die einfachen Täuferinnen und Täufer erreichen sollte, einmal mehr die Frage auf, ob diese Grenzen nicht zumindest partiell doch flexibler, durchlässiger und damit „praxisorientierter" gewesen sein könnten, als es die Ergebnisse einer Täuferforschung nahe legen, die alles in allem immer noch recht „kopflastig" ist und theologische Grenzziehungen gemeinhin deutlicher zu markieren pflegt als theologische Grenzgänge184. Angesichts der starken Akzentuierung des Abendmahls in den Märtyrerliedern des „Ausbund" könnte es verwundern, daß der „Bann" 185 in ihnen kaum eine Rolle spielt186, der ja dazu dienen sollte, die Reinheit der Mahlgemeinschaft und damit der Kirchengemeinschaft zu garantieren187. Da die Bannpraxis in den einzelnen Täufergruppen aber unterschiedlich strikt gehandhabt wurde und immer wieder Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen gab, bis hin zu Spaltungen188, wird man auch hier davon ausgehen können, daß dieses kon-
183 So heißt es etwa in Strophe 3 des Liedes über die Hinrichtung von sieben Täufern 1529 in Schwäbisch Gmünd (Außbund, S. 119):
„Das wort theten bekennen Vil leut in Teutschem land / Liessen sich Christen nennen / Vermieten Sund vnd schand / Die sollen vnuerwisen sein / Meynen es sey gnug mit Worten / Sie führen falschen schein." 184
Vgl. zu diesem Problemkomplex (prägnant) auch Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 88. Zusammenfassend zum „Bann" im Täufertum ders., Die Täufer, insbesondere S. 101 ff. 186 Einzige Ausnahme: Außbund, S. 78f. (Str. 12), wo der Mennonit Joos Kint, der 1553 in Kortrijk hingerichtet wurde, einem Priester auf dessen Frage nach der Bannpraxis der Täufer antwortet: 185
„Wir verkünden jm Gottes straff Wo es verharr in solchem lauff / Sey er des Sathans eygen: So aber er thu ware Büß / Werd jm Gott gnad erzeygen". Vgl. darüber hinaus allerdings auch Bl. 3V und 4 r in der Vorrede des „Ausbund". 187 Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi, S. 135. 188 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 47; Frank C. Peters, The Ban in the Writings of
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Thema bewußt vermieden werden sollte; ganz davon abgesehen,
daß sich das Interesse der Inquisitoren am sozialen Innenleben der Täufergemeinden in Grenzen gehalten haben dürfte. Daß auch der „Eid" in den Märtyrerliedern des „Ausbund" keine große Rolle spielt 1 8 9 , wird ebenfalls auf seine traditionelle Konfliktträchtigkeit zwischen den Täufergruppen zurückzuführen sein 1 9 0 . Und daß die Lehre von der „Gütergemeinschaft" 1 9 1 , die aus den Märtyrerliedern der Hutterer nicht wegzudenken ist 1 9 2 , in den „Marter-Gesengen" der durch und durch „eigentumsorientierten" Schweizer Brüder überhaupt keine Erwähnung findet, liegt ohnehin auf der Hand 1 9 3 . Im Unterschied zum „Bann", der w i e gesagt die Reinheit der Abendmahlsgemeinschaft sicherstellen sollte und nebenbei bemerkt das wohl radikalste Disziplinierungs- und damit Verchristlichungsinstrument war, das den Täufergruppen zur Verfügung stand, hat jene Verpflichtung, die der glaubende und getaufte Christ in der Abendmahlsgemeinschaft immer wieder eingeht, ja, im Gedenken an das Leiden Christi geradezu zwanghaft annimmt 1 9 4 , in den Märtyrerliedern des „Ausbund" ihren festen Platz: die Verpflichtung zur Liebe 1 9 5 , Menno Simons, in: The Mennonite Quarterly Review 29 (1955), S. 16-33; Gregory, Salvation at Stake, S. 241 f. 189 Auch der Eid findet lediglich einmal Erwähnung, als Elisabeth Dirks es ablehnt, ihre Aussage zu beschwören (Außbund, S. 70, Str. 4 f.): „Sie gab antwort als sie das hört / Zu schweren wirt an mich begert / Das steht gar nicht in meinem gwalt / Ja vnd auch Nein / dauon ich halt. Weiter ich zwar nit schweren sol / Die warheit kann ich sagen wol / Wer seinen Nechsten triegen wil / Dem ist falsch schweren nicht zu vil." 190 Vgl. etwa Heinold Fast, Die Eidesverweigerung bei den Mennoniten, in: Eid, Gewissen, Treuepflicht, hg. v. Hildburg Bethke, Frankfurt a. M. 1965, S. 136-151; Hans Adolf Hertzler, Die Verweigerung des Eides, in: Die Mennoniten, S. 100-108; Elfriede Lichdi, Die Täufer in Heilbronn 1528-1559. Bürgereid und christliche Lebenshaltung, in: Mennonitische Geschichtsblätter 35 (NF 30) (1978), S. 7-61, hier S. 24 ff.; C. Arnold Snyder, The Sword and the Oath in Swiss and South German/Austrian Anabaptism, in: ders., Anabaptism History and Theology: An Introduction, Kitchener/Ontario 1995, S. 185-200; dens., Melchior Hoffman and Bernhard Rothmann: Sword and Oath, in: ebd., S. 201-209; dens., After Münster: The Sword and the Oath in the Melchiorite Tradition, in: ebd., S. 211-224. 191 Zur ersten Orientierung immer noch geeignet: Robert Friedmann, Die hutterischen Brüder und die Gütergemeinschaft, in: Das Täufertum, S. 81-88. 192 Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 174 ff. 193 Zusammenfassend: ebd., S. 47. - Auch die Vorstellung der Täuferinnen und Täufer von der Ehe wird nur einmal erwähnt: Außbund, S. 138 (Str. 2). 194 Vg] dazu a u c h Christoph Bornhäuser, Die Gemeinde als Versammlung der Gottesfürchtigen bei Menno Simons, in: Mennonitische Geschichtsblätter 27 (NF 22) (1970), S. 19-36, hier vor allem S. 23; und: Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi, S. 133. 195 Besonders prägnant: Außbund, S. 115 (Str. 4) und S. 178 (Str. 38).
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zur Nächstenliebe, zur Feindesliebe zumal 196 . Denn es ist die Liebe, die „alle ding auff Erdt" überwindet, die „Hell vnd todt" weichen läßt197, die noch über dem Glauben steht 198 , ja, die selbst dann bleibt, wenn der Glaube „auffhoret", wie es in dem Lied über Maria und Ursula van Beckum heißt 199 , das fortfährt: „Aber die liebe bleibet / Vnd herschet auch allein / Die Hoffnung auch vertreibet / So jetzt kompt fiberein Mit den geistlichen krifften / So stets vns wohnen bey / Vnd vns zusamen hefften Jn geistlichen geschefften / Auff daß es ein leib sey" 200 .
Indem das Abendmahl den Christen aber in die Pflicht der Liebe nimmt, nimmt es ihn, sobald „die prob" ansteht201, auch in die Pflicht der Leidensnachfolge, in die Pflicht, aus dem Kelch des Herrn zu trinken und sein Leben wie ein Lamm 202 hinzugeben: zu „opfern", wie es in fast allen Märtyrerliedern des „Ausbund" heißt 203 . Ob jene christlichen Heiligen, die in den großen spätantiken Verfolgungen ihr Ende fanden - nach Ausweis der Lieder mehr oder weniger durchgängig Prototäuferinnen und Prototäufer - , oder jene, die eben erst hingerichtet worden waren: sie alle „opfferten ... jren leib" 204 , um den „Himmel zu ererben"205; „Opfferten Gott / in jrer not / Jhr Seel vnd leiblichs le-
196 Ein Befund, der auch für die mennonitischen „Marter-Gesenge" gilt, die keine Aufnahme in den „Ausbund" fanden - und für die Märytrerlieder der Hutterer. Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 148f., 206, 251. 197 Außbund, S.95f. (Str. 8):
„Vrsel das edel weibe Gibt in gefahr vnd not Auß liebe jhren leibe / Biß in den bittern Todt. Dann liebe stircker iste Als alle ding auff Erdt. Hell vnd todt müssen weichen / Auch ander ding dergleichen / Die liebe kompt von Gott." 198
Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer, S. 104 f. Außbund, S. 101 (Str. 23). 200 Ebd., S. 101 (Str. 24). 201 Ebd., S. 108 (Str. 43). 202 Ebd., S. 14 (Str. 11). 203 Vgl. über die folgenden Beispiele hinaus: ebd., S. 23 (Str. 28); S. 134 (Str. 27); und S. 155 (Str. 7). 204 Ebd., S. 17 (Str. 17). 205 Ebd., S. 20 (Str. 23). 199
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ben"206; opferten ihr unschuldiges Blut 207 ; gaben „Zweyfache opffer": „Das sind geistlich vnd weltlich werck"208; verließen „weib kindt vnd gut / Zu letzt jr eygen fleisch vnd bluth Jn die schantz haben geben", um dem Herrn ein Opfer zu werden: „Jhr Namen man geschähen findt wol in dem buch deß lebens"209; waren „zum Opffer ... breit": „Dem Herren wir lob sangen"210; wurden „recht Priester": „Vnd bringen das recht opffer dir / Vnd komen von der Erden"211; wurden „Brandtopffer"212; wurden - „Wie Moses thut beschreiben" - zum „Reuchwerck vnsers Herren"213. Denn die Liebe, die das Abendmahl als Gedächtnis des Leidens Christi hervorbringt und immer wieder erneuert, treibt den Christen zum Opfer214, zum reinen Verherrlichungsopfer215, in dessen Vollzug eine gemeinschaftsstiftende Kraft freigesetzt und verfügbar wird 216 , deren Träger die vergossenen Tränen sind, die zum Samen werden 217 , deren Träger aber vor allem das Blut ist, das, „außgeseet ins land", Frucht bringt „guter massen"218. Das aber heißt: Die Gemeinschaft, die der „Ausbund" konstitu-
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Ebd., S. 87 (Str. 20). Ebd., S. 87 (Str. 21); vgl. auch S. 159 (Str. 6). 208 Ebd., S. 113 (Str. 19). 209 Ebd., S. 125 (Str. 4). 210 Ebd., S. 132 (Str. 14). 211 Ebd., S. 134 (Str. 25). 212 Ebd., S. 175 (Str. 29). 213 Ebd., S. 175 (Str. 31). 214 So heißt es etwa in Strophe 2 des Liedes, das ein gewisses „Henslein von Stotzingen" auf dem Weg zu seiner Hinrichtung in Zabern gesungen haben soll (Außbund, S. 234-237, 11 Str., hier S. 235), ohne allerdings ein „Märtyrerlied" im Sinne dieses Kapitels zu sein: 207
„Daß Opffer das ich meyne / Das ist gar vnser leib / Das leben / haut vnd beyne / Darzu auch kind vnd weib / Auch all vnser gelider Wollen wir opffem wider / Darzu vns liebe treibt." 215
Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, S. 576; vgl. auch: A. Schimmel, Opfer. I. Religionsgeschichtlich, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4, hg. v. Kurt Galling, Tübingen 3 1960, Sp. 1637-1641. 216 Zur Einordnung: Horst Bürkle, Die religionsphänomenologische Sicht des Opfers und ihre theologische Relevanz, in: Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch, hg. v. Richard Schenk, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 153-171, hier insbesondere S. 165 ff. (9. Der gemeinschaftsstiftende Charakter des Opfers) - vor allem aber: Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M. 1994, S. 9-61 (I. Das Opfer) (ursprünglich französisch als „La violence et le sacre": Paris 1972); zusammenfassend: Hettling, Totenkult statt Revolution, S. lOff. 217 Außbund, S. 153 (Str. 21). 218 Ebd., S. 129 (Str. 25).
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iert, die Gemeinschaft, die in der Taufe „versiegelt"219 und im Abendmahl stets aufs Neue als „communio sanctorum" formiert wird 220 , ist eine „Opfergemeinschaft" par excellence, eine Gemeinschaft, die jedem einzelnen, um mit Max Weber zu sprechen, die „Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes" bietet221. Der Tod seiner Heiligen aber ist bekanntlich nicht das letzte Wort Gottes, auch daran lassen die Märtyrerlieder des „Ausbund" keinen Zweifel: Dem Opfer der Frommen wird das Gericht Gottes folgen 222 . Die Täuferinnen und Täufer mögen ihren Peinigern vergeben: „Für jhre feind sie bitten thund / Das hat man wol gesehen Jn jhrer todes stundt" 223 . Sie mögen auf Rache verzichten: „Begeren wir gar keiner Räch" 224 . Sie mögen Gott bitten: „Wolst jnn kein strenger Richter seyn" 225 . Christus aber wird am Jüngsten Tag, wenn „er das gricht einführt" 226 und die „Schaf wol von den Bocken" trennt 227 , keine Rücksicht nehmen. Er wird alle verfluchen, die ihm seine Ehre stahlen228. Er wird unbarmherzig Rache üben 229 und jene, die seine Gnadenzeit trotz aller Warnungen 230 ungenutzt verstreichen ließen, mit großer Gewalt strafen, ja, mit
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'9 Ebd., S. llOf. (Str. 8 und Str. 10). Bornhäuser, Die Gemeinde als Versammlung der Gottesfürchtigen, S. 23ff.; Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi, S. 135. 221 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 5 1963 ( Ί 9 2 0 ) , S. 237-573, hier S. 548 (in: Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, S. 5 3 6 573). 222 Außbund, S. 61 (Str. 11). 223 Ebd., S. 120 (Str. 7). 224 Ebd., S. 91 (Str. 18). 225 Ebd., S. 91 (Str. 19). 226 Ebd., S. 58 (Str. 12). 227 Ebd., S. 59 (Str. 13). 228 Ebd., S. 67 (Str. 6). 229 Ebd., S. 61 (Str. 11); und S. 159 (Str. 6). 230 So lauten etwa die beiden letzten Stropen des Liedes über die Hinrichtung von „Arndt", „Ursel", „Ermgen" und „Treingen" 1570 in Maastricht (Außbund, S. 178, Str. 39f.): 220
„O weh den Potentaten / Ο weh der grossen rott / Weh denen die da rhaten Zu diser missethat / Vnd sich doch Christen rhfimen / Ο weh der grossen schandt / Euch sol nicht wunder nehmen / Warumb straff kompt ins landt. Werdt jr die ding nit bussen / So werdt jr allesampt Jn kurtzem sterben müssen / Das merck Ο Niderlandt /
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aller Macht in die Hölle stoßen231. Seine „Haußgenossen" aber dürfen sich freuen. Denn auch das verheißen die Märtyrerlieder des „Ausbund": So gnadenlos Christus ihre Feinde verdammt - die Täufer wird er aus „grossem leyd / in ewig frewd" führen 232 . Damit schließt sich der Kreis. Führen die Märtyrerlieder mit dieser Verheißung doch zum Ausgangspunkt des Kapitels zurück, indem sie unmißverständlich zu verstehen geben, worin der letzte Sinn von Verfolgung, Folter und Hinrichtung der „Schafe Christi" liegt: Wer sich im Gedächtnis des Leidens Christi in die Pflicht der Liebe und damit in die Pflicht der Leidensnachfolge nimmt, kann sicher sein, daß seine eigenen „Differenzerfahrungen" Zeichen der Gewißheit sind, am Ende zu den Außerwählten zu gehören. Das Wirken des Teufels in der Welt mag erfolgreich scheinen. Doch auch der Teufel tut nur die Arbeit des Herrn.
Jhr Fürsten vnd jhr Herren / Reich / arm / fraw oder man. Was jhr nit habet gerne / Solt jhr keim andern thun." 231 232
Ebd., S. 59 (Str. 13). Ebd., S. 87 (Str. 21): „Also wirt das vnschuldig Blut Verdampt vnd auch vergossen / Biß Christus widerkommen thut / Der wirt sein Haußgenossen Erlösen all / auß vil trübsal / Vnd fuhren sie zusamen Auß grossem leyd / in ewig frewd / Durch Jesum Christum Amen."
5. Blutige Spiegel. Geist und Zeit Totenkult „ambulant": das Taschen-Martyrologium des Täufermissionars Julius Lober Täufer-Gruppen als heroische „memory communities" - die Professionalisierung ihrer Erinnerungsmedien - Märtyrergemeinschaften am Ende von Märtyrerzeiten - zwei TäuferMartyrologien: das „ Geschichtbuech " der Hutterer und der „ Bloedig Tooneel" der Mennoniten - und der Versuch, sie „geschichtstheologisch" zu entziffern - die Hutterer und ihr „Geschichtbuech" - „ein schöner Spiegel" - sieben Weltalter bis zur Entstehung der „Gemain " -die „ Konstantinische Wende " und der „ Fall" der Kirche -der Geist Gottes und die Ketzer - der Schein der Wahrheit - Luther, Zwingli und ihr „Neues Babylon" - das letzte und beste Weltalter: die „ Gemain " entsteht gegen die Geschichte - das Fehlen des „ restitutio "-Gedankens - eine Geschichte von Martyrium zu Martyrium als kollektiver Läuterungsprozeß - Grenzziehungen - die Mennoniten und ihr „Bloedig Toonel" - Hans de Ries, Tieleman Jansz van Braght und die Fraktionen der Mennoniten - von Christus bis Savonarola von den Anfängen der Täuferbewegung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts - die Gefahren des schönen Scheins - „call to reform": das Martyrologium als Instrument asketischer Seelen· und Lebensßhrung - das niederländische Babylon - „von Christi Zeit an": der Ursprung der Täufer - die wahre Sukzession der Kirche Gottes - „ ohne die wahre Folge ": die Kirche des Teufels - Täufer-Gemeinden in Zeiten des schönen Scheins: die geschichtstheologischen Reformstrategien von Hutterern und Mennoniten im Vergleich - oder: Exklusivität vs. Kontinuität. Als der Täufer-Missionar Julius Lober aus Zürich am 10. April 1531 von den Knechten des Amtmanns zu Hoheneck bei Ansbach aufgegriffen wurde, trug er einen „Zettel" bei sich, auf dem er oder vielleicht auch ein anderer Täufer notiert hatte, an welchen Orten wie viele Glaubensbrüder hingerichtet bzw. körperlich schwer bestraft worden waren und auf w e l c h e Weise. Der Zettel ist in der stereotypen Kombination der Informationen gleichsam eine Chiffre für 4 1 0 unbekannte oder verlorene oder bereits in Vergessenheit geratene, jedenfalls nicht verzeichnete N a m e n von Täufern, die zu Märtyrern geworden waren: „Die brüder, die bezieht habent mit irem blut, daß ir got worhaft sei und ihr glub gerecht. Die stet an der tunow zu ulm 1 us gehauen zu lawinen 1 mit dem schwert zu augspürg 12 mit waser, feir und schwert zu lanspürg 6 mit schert [sie] zu nienburg an der tunau 6 mit waser und schwert zu ingelstat 2 mit schwert zu rgenspürg 1 mit dem schwert zu minchen 3 mit feir unt schert [sie] zu deckendorf 1 mit schwert zu basow 14 mit feir, mit waser und schwert zu linz 25 mit waser und schwert zu krems 2 mit dem schwert zu wein 2 mit feir und schwert zu ulmitz 3 mit feir verbrent zu brin 2 mit dem schwert Die stet am rin, was bezieht hat um des glubens willen zu kur 1 mit dem schwert
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zu konstanz 1 mit waser zu walse 14 mit waser und schwert zu zirich 4 mit waser und schwert zu schoffhüsen 1 mit schwert zu lüzem 2 mit wasser zu bern 2 mit waser zu schwiz 1 mit waser zu Ury 1 mit waser zu Zug 2 mit waser zu Underwalden 1 mit wasser zu baden 3 mit waser zu basal 1 mit waser zu eisen 8 mit waser und feir und schwert zu amerschwil 1 mit schwert zu lohr 14 durch backen brent und die finger abgehawen zu margroffenbaden 3 mit schwert zu brusal 5 mit schwert zu zabren 1 mit schwert zu heidelberg 3 mit schwert zu alzew 14 mit waser und schwert zu eslingen 7 mit feir und schwert uf dem mandelhof 23 verbrent zu landau 3 mit schwert zu rotenberg im indal 66 waser, feir, schwert zu kiczbiel 66 mit feir, waser und schwert zu kopstein 22 mit feir und waser und schwert zu rottenberg am neckar 5 mit feir und waser schwert zu wurzburg 15 mit feir waser schwert zu haßfurt 1 mit feir verbrent zu bambürg 10 mit feir waser und schwert zu nerremberg 1 mit schwert zu stüegart 2 mit schert [sie] zu nyenstat am kocker 4 mit feier schwert zu langenzen 1 mit schwert zu bariß in frankreich 12 mit feir zu brach 4 mit schwert zu kinspürg 4 mit schwert" 1 . 1 Druck - mit der „Auflösung" einer Reihe von Ortsnamen: Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 5: Bayern, II. Abt., Nr. 241, S. 278f. - Zu Julius Lober, einem ehemaligen Priester, der in Straßburg von Wilhelm Reublin getauft worden war und seitdem als Schneider und Missionar von Ort zu Ort zog, darüber hinaus: ebd., Nr. 15, S. 185-188 (Schreiben von Bürgermeister und Rat von Windsheim an Stadtmeister und Rat von Straßburg vom 5. Juni 1533); Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer, Bd. 2: Markgraftum Brandenburg (Bayern I. Abt.), bearb. v. Karl Schornbaum, Leipzig 1934, Nr. 241, S. 216f. (Schreiben des Amtmanns zu Hoheneck Albrecht Galling an Markgraf Georg vom 10. April 1531); Nr. 242, S. 217-219 (Verhör vom 16. April 1531); Nr. 261, S. 237-240 (Verhör vom 6. Mai 1531); Nr. 266, S. 241-243 (Verhör vom 6. Mai 1531); Nr. 267, S. 243-247 (Urgicht vom 12. Mai 1531); Nr. 282, S. 259-262, hier S. 261 (Beratung über die „Windsheimer Träumer" in Nürnberg vom 30. Mai 1531) - sowie: Hans Guderian, Die Täufer in Augsburg. Ihre Geschichte und ihr Erbe. Ein Beitrag zur 2000-Jahr-Feier der Stadt Augsburg, Pfaffenhofen 1984, S. 95 f.
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Obwohl die Verhörprotokolle keinen Aufschluß darüber geben, warum Julius Lober eine so verräterische Liste in der Tasche hatte, liegt es doch nahe, davon auszugehen, daß er glaubte, diese Form der Märtyrer-Buchhaltung könne eine dauerhafte „soziale" Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten sicherstellen, eine Beziehung, die man gemeinhin „memoria" nennt2, und müsse deshalb von Ort zu Ort und über die Zeiten gerettet werden. Soviel jedenfalls steht fest: Julius Lober ging das Risiko ein und verbrachte über neun Monate in Haft, bevor er mit Ruten ausgehauen und schließlich entlassen wurde3. Danach zog er wahrscheinlich weiter nach Mähren in das „verheißene Land" der Täufer 4 , heißt es doch in einer seiner Aussagen: „Sie werden allenthalb vervolgt und vertrieben, darumb müssen sie hin und herwider ziehen, und sagt, das er in willens gewest, wo er nit gefangen worden, in Mererland zu ziehen."5 Obwohl es gewiß nicht leicht fallen dürfte, weitere Taschen-Martyrologien des beschriebenen Typs ausfindig zu machen, steht doch außer Frage, daß es nicht an Täuferinnen und Täufern fehlte, die Briefe, Testamente, Vermahnungen und Bekenntnisse ihrer gefangenen Brüder und Schwestern heimlich aus den Gefängnissen schafften und in den Familien und Gemeinden kursieren ließen, die Märtyrerlieder abschrieben und verbreiteten und Augenzeugenberichte von Hinrichtungen in Umlauf brachten6 und die auf diese Weise ermöglichten, was man einen „ambulanten" Totenkult nennen könnte: einen Totenkult von Versteck zu Versteck7. Indem es den einzelnen Täufer-Gruppen schon sehr früh gelang, ihre Toten trotz aller Gefahren und Probleme in den genannten noch vergleichsweise bescheidenen hagiographischen Formen zu kollektivieren, entwickelten sie sich erstaunlich rasch zu heroischen „Erinnerungsge-
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Grundlegend zum Begriff der „memoria" in diesem Sinne: Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugnisweit des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. v. Karl Schmid und Joachim Wollasch (Bestandteil des Quellenwerkes „Societas et Fraternitas"), München 1984, S. 384—440; ders., Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria, in: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, hg. v. Karl Schmid, München und Zürich 1985, S. 74-107 - sowie: ders., Memoria als Kultur. 3 Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 5: Bayern, II. Abt., Nr. 15, S. 186 f. 4 Ausführlich zur Täufermigration nach Mähren seit 1527: Packull, Hutterite Beginnings, S. 54 ff. („In Search of the Promised Land"). 5 Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer, Bd. 2: Markgraftum Brandenburg, Nr. 261, S. 238. 6 Schon ein kurzer Blick in die „Vorreden" der Täufer-Martyrologien, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen und die im folgenden noch genannt bzw. genauer in den Blick genommen werden, läßt erkennen, wie groß das Quellenreservoir gewesen ist, das auf diese Weise entstand. 7 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung von „tendenziell seßhafter" „etablierter" und „tendenziell Uberlokaler" „nonkonformistischer" Konfessionskultur und ihrer jeweiligen Medien bei Hartmut Lehmann, Zur Bedeutung von Religion und Religiosität im Barockzeitalter, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Τ. 1, S. 3-22, hier S. 21.
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i s Julius Lobers -Zettel" im Original. Staatsarchiv Nürnberg, Ansbacher Religionsakten 39, 103.
meinschaften"8, die in dem Maße, wie der unmittelbare Verfolgungsdruck nachließ, auch ihre Erinnerungsmedien professionalisierten. Ein Prozeß, der allem Anschein nach erheblich zur Entstehung jenes bereits erwähnten ausge8
Zur Bezeichnung „Erinnerungsgemeinschaften"/„memory communities", die Peter Burke in Anlehnung an den Begriff „Interpretationsgemeinschaften"/„interpretative communities" des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stanley Fish geprägt hat: Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 298 - bzw.: History as Social Memory, S. 107.
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Abb. 39 Sehr viel elaborierter als Julius Lobers Zettel, aber mit 15 cm Höhe und 10 cm Breite immer noch taschentauglich ist das anonyme handschriftliche Martyrologium, dessen Titelseite die Abbildung zeigt: „Von den Marterern in Teütschen landen, so von der Römischen Kürchen ertödt sein worden, vom 15.25. Jar bis auff das 15.58. Jar." Wohl im österreichischen oder bayerischen Raum entstanden, setzt das Verzeichnis mit Thomas Müntzer ein, um dann in immer neuen Nachträgen bis 1588 vor allem Täuferschicksale zu verzeichnen. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5353. Nachweis: Die deutschen Handschriften der bayerischen Staatsbibliothek München, S. 102.
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5. Blutige Spiegel. Geist und Zeit
prägten Wahrnehmungs- und Deutungsmusters der „martyrological mentality" beitrug9. Was in den Verfolgungen hatte bewahrt werden können, wurde seit Mitte des 16. Jahrhunderts systematisch kompiliert und oft auch hagiographisch überarbeitet und ergänzt. Es wurde mit Vorreden und Einführungen versehen und an universalgeschichtlich dimensionierte Leidenschroniken gehängt, so daß Martyrologien entstanden, die wie ihre lutherischen und reformierten Pendants immer auch Entwürfe der Vergangenheit enthalten und damit zu erkennen geben, inwieweit auch die Täufer glaubten, eine Geschichte gehabt zu haben, ja, inwieweit auch sie hofften, werden zu können, wie sie meinten, gewesen zu sein. Wer die Martyrienkultur der Täufer in den Blick nimmt, hat es also seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit Sammlungen zu tun, die den TäuferGruppen je eigene heroische Vergangenheiten zumaßen, um sie als Märtyrergemeinschaften in Zeiten zusammenzuhalten, die keine Märtyrerzeiten mehr waren, in Zeiten nicht zuletzt des Übergangs dieser Gemeinschaften vom „kommunikativen" zum „kulturellen" Gedächtnis10. Sie scheinen deshalb in besonderer Weise geeignet zu sein, geschichtstheologisch entziffert zu werden. Das soll im folgenden am Beispiel der beiden wichtigsten Texte geschehen: des „Geschichtbuechs" der Hutterer, das seit etwa 1570 in Mähren entstand, und des „Bloedigh Tooneel Der Doops-Gesinde, En Weereloose Christenen" des Mennoniten Tieleman Jansz van Braght aus Dordrecht, der erstmals 1660 erschien11. Als Caspar Braitmichel, der ursprünglich aus Schlesien kam und als „Diener des Wortes" 1573 in Austerlitz starb, gegen Ende seines Lebens damit begann, unter der Aufsicht des „Vorstehers" Peter Walpot (1565-1578) 12 sein „Geschichtbuech" zu verfassen, lebten schon seit fast zwei Generationen Täufer in Mähren, die sich nach dem Martyrium ihres ersten Führers Jacob Huter 1536 in aller Regel als „Huterer" oder „Hutterer" bezeichneten13. Zumeist aus Oberdeutschland und Österreich stammend14, waren sie seit den späten zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts in die vergleichsweise sicheren Adelsherrschaften 9
Gregory, Salvation at Stake, S. 212ff. Vgl. dazu die in Kapitel 4 genannte Literatur. 11 Eine rasche Übersicht über diese und die anderen Märtyrerbücher der Täufer, auf die später noch eingegangen werden wird, ermöglicht: Christian Neff, Märtyrerbücher, in: Mennonitisches Lexikon, hg. v. Christian Hege und Christian Neff, fortgeführt von Harold S. Bender und Emst Crous, Bd. 3, Karlsruhe 1958, S. 49-53. 12 Zu Walpot, der 1521 in Klausen geboren wurde, hier nur Hildebrand, Erziehung zur Gemeinschaft, S. 38 ff. und passim. 13 Oder auch als „Hut(t)erische Brüder". - Vgl. zu den Hutterern die in Kapitel 4 genannte Literatur und zu Jacob Huter zusammenfassend darüber hinaus: Leonard Gross, Jacob Huter. Ein christlicher Kommunist, in: Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, München 1978, S. 137-145. 14 Robert Friedmann, The Philippite Brethren. A Chapter in Anabaptist History, in: The Mennonite Quarterly Review 32 (1958), S. 272-297; Packull, Hutterite Beginnings, S. 54ff. 10
5. Blutige Spiegel. Geist und Zeit
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der Markgrafschaft geflohen, um den zunehmenden Täufer-Verfolgungen im Reich zu entkommen15. In Mähren lebten sie auf „Bruderhöfen" in strenger Gütergemeinschaft16 und brachten es rasch auch zu einigem Wohlstand17, am Ende des Jahrhunderts wohl über 20000 Erwachsene18. Als das „Geschichtbuech" entstand, lagen die unmittelbaren Verfolgungserfahrungen vieler Hutterer also bereits lange zurück - und nicht wenige hatten solche Erfahrungen nie gemacht 19 . Caspar Braitmichel verfaßte eine Vorrede und führte das „Geschichtbuech" von der Schöpfung bis ins Jahr 1542. Hauprecht Zapff, der Schreiber des Walpot-Nachfolgers Hans Kräl (1578-1583), kopierte das heute verlorene handschriftliche Manuskript Braitmichels 1581 und trieb die Chronik bis 1591 voran. Sechs weitere, allesamt anonyme Schreiber setzten das Projekt bis einschließlich 1665 fort: wie schon Braitmichel und Zapff unter Aufsicht der jeweiligen Vorsteher und seit 1622, dem Jahr der Ausweisung der Hutterer aus Mähren, im slowakischen Sobotiste (Sabatisch), wo in den folgenden Jahrzehnten die hutterische Hauptgemeinde entstand20. Als die habsburgischen Rekatholisierungsmaßnahmen seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch in der Slowakei immer spürbarer wurden - so bevollmächtigte Maria Theresia die Jesuiten, Häuser und Wohnungen der Täufer zu durchsuchen und ihre Schriften zu konfiszieren21 - , flohen viele Hutterer nach Siebenbürgen, wohin auch das „Geschichtbuech" gelangte 22 . Sicher aber waren die Hutterer auch hier nicht. 15
Vor allem jenen in Tirol: Clasen, Anabaptism, S. 361 f., 392 und passim. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Henry A. DeWind, Italian Hutterite Martyrs, in: The Mennonite Quarterly Review 28 (1954), S. 163-185; dens., A Sixteenth Century Description of Religious Sects in Austerlitz, Moravia, in: ebd. 29 (1955), S. 44-53; sowie: Roberl Friedmann, Leonhard Schiemer and Hans Schlaffer. Two Tyrolean Anabaptist Martyr-Apostles of 1528, in: ebd. 33 (1959), S. 31-41. 16 Vgl. neben der in Kapitel 4 genannten Literatur zur Gütergemeinschaft der Hutterer: Victor Peters, All Things Common. The Hutterian Way of Live, Minneapolis 2 1967 (Ί965); Hans-Dieter Plumper, Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts, Göppingen 1972; und Richard van Dülmen, Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, Frankfurt a.M. 1987, S. 199ff. 17 John Andrew Hostetier, Hutterite Society, Baltimore und London 2 1975 (' 1974), S. 29ff. 18 Hildebrand, Erziehung zur Gemeinschaft, S. 26. 19 Grundlegend zu diesen „Goldenen Jahren" in Mähren: Leonard Gross, The Golden Years of the Hutterites. The Witness and Thought of the Communal Moravian Anabaptists During the Walpot Era, 1565-1578, Scottdale/Pennsylvania und Kitchener/Ontario 1980. 20 Zusammenfassend: Peters, All Things Common, S. 20ff.; und Hostetier, Hutterite Society, S. 67 ff. 21 Ausführlich zu den Aktivitäten der Jesuiten und den Versuchen der Hutterer, ihre Bücher und Manuskripte in Sicherheit zu bringen: Friedmann und Mais, Die Schriften der Huterischen Täufergemeinschaften, S. 35 ff. („Der Depotfund von Sobotiste"), S. 94 ff. („Berichte über die Konfiskationen der Bücher und Schriften der Brüder 1757-1763 und 1782-1784 durch Jesuitenmissionare in der Slowakei") und S. 96 ff. („Zusätzliche Bemerkungen zum Depotfund von Sobotiste"). 22 Peters, All Things Common, S. 28ff.; Hostetier, Hutterite Society, S. 75 ff.
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Schon nach wenigen Jahren ging die Flucht weiter, wieder mit „Geschichtbuech": zuerst in die Walachei, die zum Osmanischen Reich gehörte (1767), dann in die Ukraine (1770) und schließlich nach Süddakota (1874), w o die Chronik bis heute auf einem Bruderhof in der Nähe von Tabor aufbewahrt wird 2 3 . N a c h d e m ihre Einwanderung bereits über vierzig Jahre zurücklag - in europäischen Fachkreisen galt das „Geschichtbuech" längst als verloren 2 4 beauftragten die nordamerikanischen Hutterer den Wiener Germanisten und Täuferforscher Rudolf Wolkan damit, ihre Geschichte als sprachlich modernisiertes „Hausbuch" herauszugeben, um sie allen Gemeinden zugänglich machen zu können. 1923 war das Projekt abgeschlossen 2 5 . Seit 1943 liegt das „Geschichtbuech" darüber hinaus in einer kritischen Ausgabe vor: in der „buchstabengetreuen" Edition des amerikanischen Germanisten A. J. F. Zieglschmid 2 6 , aus der im folgenden zitiert wird 2 7 . Obwohl es nicht möglich ist, genau zu bestimmen, w e l c h e Rolle das „Geschichtbuech" im Gemeindeleben der Hutterer spielte - ob zum Beispiel regelmäßig aus ihm vorgelesen wurde - , steht außer Frage, daß die Aufzeichnungen Caspar Braitmichels und seiner Nachfolger autoritativen Charakter hatten 2 8 , folgten doch alle anderen Chronisten und Kompilatoren der „Gemeinde Gottes" dem „Dicken Buch", w i e die Hutterer ihre Chronik nannten 2 9 , das im aus-
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Nur am Rande sei vermerkt, daß noch ein weiteres - allerdings sehr schlecht erhaltenes Chronik-Exemplar den Exodus der Hutterer überstanden hat, dessen Geschichte im Dunkeln zu liegen scheint. Es enthält eine Abschrift von Caspar Braitmichels Manuskript von 1580 und befindet sich auf einem Bruderhof in Montana, der „Miller-Ranch". Friedmann und Mais, Die Schriften der Huterischen Täufergemeinschaften, S. 66. 24 So spricht zum Beispiel Josef Beck in seiner Edition der „Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Oesterreich-Ungarn ... in der Zeit von 1526 bis 1785", die 1883 erschien, von „dem leider verloren gegangenen .Gemeinde-Geschichtsbuche'", aus dem „sämmtliche Verfasser der Denkbüchlein oder Geschichtsbücher... geschöpft haben" (Nieuwkoop 1967, S. XXXV. Nachdruck der Ausgabe: Wien 1883). 25 Geschicht=Buch der Hutterischen Brüder, hg. v. den Hutterischen Brüdern in Amerika, Canada, bearb. v. Rudolf Wolkan, Macleod/Alberta (Canada) 1923. 26 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder. Ein Sprachdenkmal aus frühneuhochdeutscher Zeit, hg. v. A. J. F. Zieglschmid, Ithaca/New York 1943, der auch die Geschichte der Chronik rekonstruiert hat: The Hutterian Chronicle, in: The American-German Review 8 (1942) (April), S. 18-25. (Soweit er die Chronik betrifft, folgt der vorangegangene Abschnitt Zieglschmids Rekonstruktionsversuch.) - Eine englische Übersetzung des Buches liegt bezeichnenderweise erst seit 1987 vor: The Chronicle of the Hutterian Brethren, Bd. 1: Das große Geschichtbuch der Hutterischen Brüder, übersetzt und hg. v. den Hutterischen Brüdern, Rifton/New York u. a. 27 Sonderdrucktypen werden dabei allerdings grundsätzlich aufgelöst. 28 In diesem Sinne bereits Josef Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit. Vorbemerkungen zur sog. .ältesten' hutterischen Chronik, in: ZdtPhil 82 (1963), S. 338362. 29 Hartmut Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes. Zur literarischen Selbstdarstellung der Huterischen Täufergemeinschaft, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, S. 152-172.
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gehenden 16. Jahrhundert bereits fast zwei Drittel seines späteren Gesamtumfangs erreicht hatte, in Zieglschmids Edition 562 von 898 Druckseiten30, und überdies in zahlreichen Teilabschriften kursierte31. Wer nach der Geschichtstheologie der Hutterer fragt, kann sich also auf das „Geschichtbuech" konzentrieren, in das vielleicht auch die Ergebnisse der Märtyrer-Buchhaltung von Julius Lober hätten eingehen können, wären sie nicht frühzeitig in falsche Hände gelangt. Nach einem Verzeichnis der Gemeindevorsteher, die das Schreiben der Chronik begleitet und beaufsichtigt haben 32 , und einem Register, das im ersten Teil „Allerley Sachen vnnd Hänndel was ergangen ist" präsentiert33 und im zweiten „Welche inn Gfencknus gelegen / oder mit irem Bluet bezeugt haben vnnd hingericht sein worden / vmb des Glaubens Göttlicher Warheit willen"34, begründet Caspar Braitmichel sein Projekt. Während er einen „durchlauff von anfang aller Creaturen" bis zu Christi Geburt verfaßte, sei ihm bewußt geworden, daß bislang noch niemand den Mut und den Eifer aufgebracht habe, „den gantzen auffgang der gnaden / auch den Vrsprung seiner Gemaind / zu diser vnser letzten zeit / deßgleichen was sich in der gmain hat verloffen / zu beschreiben", und das, obwohl es nicht an gottesfürchtigen Menschen fehle, die seit langem schon dafür plädierten, die Geschichte der Hutterer zu verfassen. Das habe ihn schließlich davon überzeugt, sein Projekt in Angriff zu nehmen: „Weil aber solches bißher nit ist beschehen / habe Ich mich aus hertzlicher lieb / keiner eitlen Eer darinnen begierig / dises werckh / der ich doch der ainfaltigest vnd aller vnbreüchlichest bin / mit grosser müe vnd arbeit / wie auch die zur Machabeer zeit / vilen darinnen zu gfallen / vnderstanden."35 Braitmichel läßt keinen Zweifel daran, daß große Teile seines Martyrologiums auf mündlichen Informationen beruhen, die er bei glaubhaften Menschen 30
Das „Geschichtbuech" besteht aus Titelblatt, 36 unpaginierten Blatt folio Register und 576 paginierten Blatt folio Text. 31 Beck, Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Oesterreich-Ungarn, S. XXXV und passim; Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 170 (Anm. 31); vgl. auch Robert Friedmann, The Oldest Known Hutterite Codex of 1566. A Chapter in Anabaptist Intellectual History, in: The Mennonite Quarterly Review 33 (1959), S. 96-107. - Die „Autorität" (und „Popularität") des „Dicken Buches" scheint das bislang noch kaum untersuchte „Klein-Geschichtsbuch" der Gemeinde, das um 1800 begonnen wurde, nicht erreicht zu haben. Einzige gedruckte „Gesamt"-Ausgabe: Das Klein-Geschichtsbuch der Hutterischen Brüder, hg. v. A. J. F. Zieglschmid, Philadelphia 1947. - Auszüge präsentiert etwa: Auszug und kurzer Durchgang unserer Gemein Geschichtsbuch ..., Falher/Alberta (Canada) und Bassano/Alberta (Canada) 1992. - Dazu auch Brednich, Hutterische Liedtraditionen des 17. Jahrhunderts, S. 591 - sowie: Robert Friedmann, Hutterites Revisit European Homesteads. Excerpts from the Travel Diary of David Hofer, in: The Mennonite Quarterly Review 33 (1959), S. 305-322 und 346. 32 33 34 35
Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. Vllf. Ebd., S. XI-XLIX. Ebd., S. LIII-LXIV. Ebd., S. LXVII.
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5. Blutige Spiegel. Geist und Zeit
eingeholt und gewissenhaft zusammengetragen habe: „vnnd das Inn aller ainfaltigkait / on alle hochprächtige wort". Er weist darauf hin, daß er die Chronik „wegen blödigkait des gesichts / und des leibs Schwachheit... nur bißher auff das zway vnd viertzigst Jar" habe führen können. Er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, „Gott werde andern durch diesen anfang vrsach geben / solches noch vil fleissiger zum vollkummesten außzufüeren / welches nun wie gegenwertig / beschehen nach müglichestem fleiß". Er hebt hervor, was er sich von seiner Arbeit verspricht: „DENN Nach meiner erkandtnus acht Ich es darfür / dises schreiben werde vil Gottgläubigen ein schöner Spiegel sein / sich darinnen zu besehen / vor aller zertrennung / Irthumb / vnd waz nit zu der Eer Gottes diennet / sich zu hüeten. [...] Es ist auch mein Bitt / das ein yeder / welcher dises Buech liset / es mit auffmercken in Gottesforcht lese / Nit zum Anstoß / sonder zur besserung vnd erbawung / Im selbst vnd seinem Nägsten"36. Und er fügt abschließend hinzu, daß die Beständigkeit ganzer Täufergenerationen in der Verfolgung, wie sie von seiner Chronik vor Augen geführt werde, ohne Zweifel dazu animiere, es den Vorgängern gleich zu tun: „Auch da wir finden vnd hören wie unsere Vorgennger / Inn leer vnd leben / biß in zeitlich todt / als sonderlich offt in langer schwerer gefencknus / auch in fewer wasser vnd schwert / so eiffrig / fraidig / hertzhafft vnd mannlich inn Gott gwesen sein / das ein yeder frumer daraus Vrsach / Exempel vnd raitzung zu der Nachuolgung vnd bestendigkait biß an sein enndt / nemmen möge: wie vns der apostel leernet / dz wir Iren außgang sollen anschawen / vnnd Irem glauben volgen."37 Nach der Vorrede folgt eine „Geschichtbeschreibung", die vom Anfang der Welt bis zur Entstehung des Täufertums sieben Zeiten unterscheidet. Die erste reicht bis zum Ende der Sintflut38, die zweite bis Abraham" 39 , die dritte bis zum Auszug aus Ägypten40, die vierte bis zur Regierung Sauls41, die fünfte bis zum Ende der Babylonischen Gefangenschaft 42 , die sechste bis zur Geburt Christi43 und die siebte schließlich wie gesagt bis zur Entstehung der „Gemain", bis zu jenem Zeitpunkt, als Luther und Zwingli begannen, ihre Lehre mit dem Schwert zu verfechten und zu verteidigen, „dz sie denn aigentlich von dem vater vnd haupt AnteChiste empfangen vnd gleernt haben / wol wissend das d Cristen Ritter waaffen nit fleischlich / sonder mechtig vor Gott sind / zuuerstören alle menschliche Anschleg." 44
36 37 38 39 40 41 42 43 44
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S. S. S. S. S. S. S. S. S.
LXVIII. LXVIII f. 5. 7. 10. 15. 24. 26. 44.
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Oi^-s Xt~fi*v*"—> ψ . 40 Die Vorrede Caspar Braitmichels. Druck: Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. LXVII-LXIX. Die Chronik ist im Original 28,5 cm hoch und 19,5 cm breit.
Obwohl Augustin den Auszug des Gottesvolkes aus Ägypten in seiner „Civitas Dei" nicht als Epochengrenze markiert 45 und obwohl er den letzten seiner sechs „articuli temporum" ohne nennenswerte Zwischenspiele von der Geburt Christi bis zum Ende der Zeiten reichen läßt 4 6 , steht doch außer Frage, daß es sein Schema der Weltalter ist und damit alles in allem auch das Schema der mittelalterlichen Universalgeschichtsschreibung 4 7 , das die Vorgeschichte der 45
Augustin unterscheidet eine erste Epoche von Adam bis zur Sintflut, eine zweite bis Abraham, eine dritte bis David, eine vierte bis zur Babylonischen Gefangenschaft, eine fünfte bis zu Christi Geburt und eine sechste bis zum Ende der Welt. - Hartmut Kugler vermutet, daß das „Geschichtbuech" den Auszug des Gottesvolkes aus Ägypten deshalb als Zäsur konstituiert, weil sich die Hutterer selbst als das „Volk Gottes" verstanden. Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 157. 46 Ausführlich zu den augustinischen „aetates": Heinrich Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustins De Civitate Dei, Leipzig 1911, S. 154ff.; zum letzten Weltalter darüber hinaus: Alfred Schindler, Augustin/Augustinismus. I. Augustin, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin und New York 1979, S. 646-698, hier S. 680f. 47 Dazu immer noch grundlegend: Roderich Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: ZKiG 67 (1955/1956), S. 288-317; zusammenfas-
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Gemeinde Gottes heilsgeschichtlich strukturiert 48 . Gleichzeitig aber fällt auf, daß diese Vorgeschichte im siebten Weltalter ihren universalen Zuschnitt verliert, um zu einer reinen Verfolgungsgeschichte, ja, zu einer „Ketzergeschichte" zu mutieren, wobei die Konstantinische Wende als entscheidende Zäsur auszumachen ist 4 9 : „ D A R N A C H aber / Als Siluester / der vierund dreissigst Babst / Constantinum den grossen / welcher der drey vnnd viertzigst Kaiser war / mitt vil glatten hailschleichenden Worten bezeuget vnd gewann / zu einem Christen im tauff annamb / Verschueff der Kaiser aus gueter mainung / Gott einen dienst daran zu thuen / dem Babst als dem Römischen Bischoff / vnd allen so sich Christen rüemeten / in seinem gantzen reich / grossen friden / D o ist die Pestilentz der lisstigkait / die im finsteren schleicht / vnd die sucht die im mittag verderbt / mit gwalt eindrangen / das Creütz auffgehebt / vnd an das schwert geschmidet worden / Das alles durch lisst der alten schlangen ist gschehen." 5 0 Wie vor ihm bereits mancher radikale hoch- und spätmittelalterliche Kirchenkritiker 51 , aber auch Täufer wie Oswald Glaidt 5 2 , Melchior H o f f m a n 5 3 ,
send: Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin 1999, vor allem S. 177 ff. und S. 193 ff.; spezieller: Herbert Grundmann, Studien über Joachim von Fiore, Darmstadt 1966, S. 88ff. (Nachdruck der Ausgabe: Leipzig und Berlin 1927). - Zum Problem der „Universalgeschichtsschreibung" im Mittelalter hier nur in aller Kürze: Arno Borst, Weltgeschichten im Mittelalter?, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, hg. v. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 452456. 48 Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 157; vgl. in diesem Zusammenhang auch allgemein: Wolfhart Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, S. 307-323. 49 Bis zu dieser Zäsur folgt das „Geschichtbuech" (wie nicht anders zu erwarten) zuerst einmal dem Neuen Testament, um anschließend (auf der Grundlage von Eusebius' Kirchengeschichte) die großen Christenverfolgungen der römischen Kaiser zu skizzieren. Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 26-34. 50 Ebd., S. 34. 51 Wie etwa der „Apostel-Bruder" Dolcino (t 1307). Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin 1964, S. 296. - Vgl. darüber hinaus (u.a. zu den Waldensern): Gordon Leff, The Making of the Myth of a True Church in the Later Middle Ages, in: JMedRenSt 1 (1971), S. 1-15 - und dens., The Apostolic Ideal in Later Medieval Ecclesiology, in: JTheolSt NF 18 (1967), S. 58-82. 52 In seinem Lied „Wacht auff jr völcker alle" von 1528. Druck: Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Leipzig 1870, Nr. 528, S. 471-473 (31 Str.), hier S. 472 (vor allem Str. 18). - Dazu auch Daniel Liechty, Andreas Fischer and the Sabbatarian Anabaptists. An Early Reformation Episode in East Central Europe, Scottdale/Pennsylvania und Kitchener/ Ontario 1988, S. 49; zu Leben und Schriften Oswald Glaidts: Wilhelm Wiswedel, Oswald Glait von Jamnitz, in: ZKiG 56 (1937), S. 550-564. 53 Außlegung der heimlichen Offenbarung Joannis des heyligen Apostels vnnd Euangelisten, Straßburg: Balthasar Beck 1530, Bl. Pvijr-Pviijv. Auszug: Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, hg. v. Heinold Fast, Bremen 1962, S. 308-318. - Grundlegend zur Geschichtstheologie Hoff-
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Pilgram Marpeck54 und vorsichtiger Menno Simons 55 oder etwas später dann der Schweizer Bruder Hans Schnell 56 , geht auch Caspar Braitmichel davon
mans: Deppermann, Melchior Hoffman, S. 212ff.; zu seinen „Epochen der Geschichte": S.217ff. 54 Aufdeckung der Babylonischen Hürn / vnd Antichrists alten vnnd newen gehaimnuß vnnd grewel... [wohl Augsburg: wohl Philipp Ulhart, wohl 1532, 1533 oder 1534], Bl. Cij v Ciijr. Faksimile: Hans Hillerbrand, An Early Anabaptist Treatise on the Christian and the State, in: The Mennonite Quarterly Review 32 (1958), S. 28-17, hier S. 34-47 („Kaiser Constantinum": S. 44). - Identifizierung des Verfassers und Datierung der anonymen Flugschrift: Walter Klaassen, Investigation into the Authorship and the Historical Background of the Anabaptist Tract Aufdeckung der babylonischen Hum, in: ebd. 61 (1987), S. 251-261. Vgl. in diesem Kontext auch William Klassen, Pilgram Marpeck's Two Books of 1531, in: ebd. 33 (1959), S. 18-30. 55 Menno Simons glaubte, daß der „Fall" der Kirche bereits vor der Konstantinischen Wende eingesetzt habe, durch die Konstantinische Wende aber erheblich beschleunigt worden sei. - Da sich Simons in fast allen seiner Schriften zur Geschichte der Kirche geäußert hat - vor allem, um seine Abendmahls- und Tauflehre zu rechtfertigen - , an keiner Stelle jedoch systematisch oder „geschlossen", und da keine kritische niederländische Gesamtausgabe vorliegt, sei hier auf die einschlägigen Passagen der englischen Übersetzung ohne Nennung der jeweiligen Titel verwiesen: The Complete Writings of Menno Simons c. 14961561, übersetzt v. Leonard Verduin und hg. v. John C. Wenger (mit einer Biographie von Harold S. Bender), Scottdale/Pennsylvania und Kitchener/Ontario 5 1986 (Scottdale/Pennsylvania Ί956), S. 137f„ 175, 199, 248, 258f„ 276, 278-280, 287, 304, 515, 520, 525f„ 544f., 570f.„ 595, 695, 730, 743f„ 751, 755, 760f., 775. Zusammenfassend: Cornelius Krahn, Menno Simons (1496-1561). Ein Beitrag zur Geschichte und Theologie der Taufgesinnten, Karlsruhe 1936, S. 119ff., 135f. und passim. - Wie Menno Simons datiert auch Peter Walpot in seinem „schön lustig büechlein ettlicher haubt-artickel unsers christlichen glaubens" von 1577 den Beginn des „Falls" der Kirche vor und zwar erheblich: „Es seindt auch zu der apostel zeit villerley irrthumb eingerissen worden in der kirchen". Druck: Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 12: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter II, hg. v. Robert Friedmann, Gütersloh 1967, S. 59-317, hier S. 102. 56
In einer Handschrift, die um 1575 entstand und nur im sogenannten „Codex Geiser" vollständig überliefert ist. Ausführlich zu dieser Schrift: Gross, H. Schnell, der auch eine ausführlich kommentierte englische Übersetzung bietet: S. 358-377; zur Konstantinischen Wende: S. 375f.; vgl. darüber hinaus Samuel Geiser, An Ancient Anabaptist Witness for Nonresistance, in: Mennonite Quarterly Review 25 (1951), S. 66-69, 72. - Weitere (auch nicht täuferische) Stimmen des 16. Jahrhunderts zur Konstantinischen Wende nennen zum Beispiel: Franklin Hamlin Litteil, The Anabaptist View of the Church. A Study in the Origins of Sectarian Protestantism, Boston 2 1958 (Ί952), insbesondere S. 62ff. (deutsch: Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966, S. lOOff.); Frank J. Wray, Bernhard Rothmann's Views on the Early Church, in: Reformation Studies. Essays in Honor of Roland H. Bainton, hg. v. Franklin Hamlin Littell, Richmond/Virginia 1962, S. 229-238 und S. 281-283; Geoffrey L. Dipple, Humanists, Reformers, and Anabaptists on Scholasticism and the Deterioration of the Church, in: The Mennonite Quarterly Review 68 (1994), S. 4 6 1 ^ 8 2 - und Barbara Heme, Aus Liebe zur Kirche Reform. Die Bemühungen Georg Witzeis (1501-1573) um die Kircheneinheit, Münster 1995, S. 141 ff. - Um darüber hinaus auch noch eine weniger prominente Stimme zu präsentieren, sei auf das Bekenntnis des Täufers Endres Keller („Kentlein") von 1536 in Rothenburg hingewiesen, in welchem es heißt: „dan ier werd ie darinen finden das der frum keiser Konstandinus dem bobst Silfester erst Rom ubergeben
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aus, daß diese Verbindung ebenso weitreichende wie katastrophale Folgen hatte. Denn erst seit Konstantin seien die römischen Bischöfe „in Sattel kommen / vollen gwalt vber die Kaiser vnd König zu wegen bracht / vnd ist die Babilonisch huer mit gwalt auff dz Sibenköpffig thier gesessen / zu herschen vber alle menschen / Aus Ire Kelch sie zu trencken / Zeit vnd recht zuuerännderen sich vnderstanden." 57 Jetzt erst sei das Geheimnis der Bosheit der Päpste vollständig offenbar geworden: „Vnnd haben dise wol mit dem mund den namen Cristj bekenndt / Aber warhafftig mit all Iren wercken verlaugnet" 58 . Jetzt erst sei die Glaubenstaufe in Verruf gekommen: „Inn solcher argen vnd gantz verfüerischer Zeit / hat die Bäbstlich heiligkait ye lenger ye mer gantz Newe Ceremonien erdacht / wider alle helle götliche Zeucknus / mit Priester weihen / plattenscheren / verbiettung der Ee / Item auff frembd glauben den Tauff der Kinder gestellt.. ," 59 - und mit der Glaubenstaufe die Gütergemeinschaft 60 . Jetzt erst sei die „Grundtsupp alles Greüels" entstanden: die „Secten", „Rotten" und „Orden" der Mönche und Nonnen 61 . Jetzt erst sei das Papsttum in die Lage versetzt worden, die weltlichen Obrigkeiten nach und nach seiner Macht zu unterwerfen und damit nicht zuletzt auch „seine Apostel in völligem gwalt Kaiserlicher hilff / in alle lanndt auß zu sennden / mit seinem bluetgierige Euangelij / vil leüt / auch gwaltige Künigreich vnd großmechtige völcker / durch grosse Krieg vnd bluetuergiessen zum glauben zu bekeren", was das Reich des Bösen rasch habe wachsen lassen: „vnd sein reich vnd Kirch so häfftig sich meeret / als ein Versammlung der boßhafftigen / das sich gleich niemand mer darwider darfft aufflainen. Also hat Gott der Allmechtig dise vermainten Christen in solchen Irthumb vnnd verkerten sinn vbergeben / dem geschöpff mer denn dem
hot, welger doch lank noch der apostel zeit, welges ich aicht über dreihundert ior darnoch." Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 5: Bayern, II. Abt., Nr. 19, S. 195-209, hier S. 200. 57 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 34. 58 Ebd., S. 34 f. 59 Ebd., S. 37 - und darüber hinaus: „... Glocken vnd püschen gsegnet vnd getaufft / Das Abentmal Christj verfelscht / Inn ein Abgötterej geänndert / vnd vil seltzamer breüch darzu geordnet. Auch die mesß für die Poldergeist der gestorbnen Seelen / das Fegfeur damit außzuleschen / Deßgleichen Besingnus / der Sibend / den dreissigsten / vnnd ist des Affenspils wuests vnd greuels der Zerstörung vil / das alles vmb gelts vnnd des bauchs willen ist auffgericht." - Pointiert zur Kritik der Täufer an der Konstantinischen Wende als Kritik an der Einführung der Kindertaufe: Walter Klaassen, The Anabaptist Critique of Constantinian Christendom, in: The Mennonite Quarterly Review 55 (1981), S. 218-230, hier vor allem S. 223f. - Vgl. dazu auch die Aussage des Täufers Erhard Pilraust in Allstedt vom 15. November 1532: Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526-1584, bearb. v. Paul Wappler, Jena 1913, Nr. 42, S. 344-347, hier S. 347 - und das Gutachten einer Straßburger Synodalkommission über ein „büchlin" Melchior Hoffmans vom Oktober 1533: Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 8: Elsaß, Τ. II: Stadt Straßburg 1533-1535, bearb. v. Manfred Krebs und Hans Georg Rott, Gütersloh 1960, Nr. 444, S. 182-193, hier S. 184. 60 61
Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 38 f. Ebd., S. 37.
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Schöpffer zu diennen." 6 2 Kurz, Caspar Braitmichel läßt keinen Zweifel daran, daß mit der Konstantinischen Wende die freiwillige Gemeinschaft der Gläubigen der Apostelzeit verloren gegangen sei und der Geist Gottes begonnen habe, die Kirche zu verlassen 6 3 . Wohin aber hat sich der Geist Gottes nach d e m „Fall" der Kirche gewandt? D i e Antwort, die das „Geschichtbuech" auf diese Frage gibt, ist die Antwort der „Chronica der Rhomischen ketzer" des erstmals 1531 in Straßburg erschienenen „Zeytbüchs" von Sebastian Franck 6 4 , welcher Braitmichel in seiner Darstellung des siebten Weltalters weitgehend folgt 6 5 . D a jeder, der gegen den Papst gelehrt oder geschrieben habe, verketzert und verfolgt worden sei: „mit schwert / brandt / vnd allerley Tiranney", müsse der Geist Gottes bei den Ketzern gesucht werden, in der Geschichte w i e in der Gegenwart 6 6 . Nicht, daß Braitmichel alle Ketzer des siebten Weltalters zu wahren Nachfolgern Christi erklären würde, was ihn angesichts der hutterischen Kriterien Gewaltlosigkeit, Glaubenstaufe und Gütergemeinschaft hagiographisch wohl auch überfordert
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Ebd., S. 38. - Zu den Konjunkturen und Metamorphosen dieses Argumentationsmusters im Täufertum: Hans J. Hillerbrand, The Anabaptist View of the State, in: The Mennonite Quarterly Review 32 (1958), S. 83-110 - und Klaus Deppermann, The Anabaptists and the State Churches, in: Religion and Society in Early Modem Europe 1500-1800, hg. v. Kaspar von Greyerz, London u.a. 1984, S. 95-106. 63 Vgl. dazu hier auch die immer noch vieldiskutierte These Franklin Littells von der Konstruktion des „Sündenfalls der Kirche" (,.Fall of the Church") im Täufertum als Ausdruck von „christlichem Primitivismus" („Christian Primitivism") oder („moderner" übersetzt): als Ausdruck von „christlichem Fundamentalismus". Littell, The Anabaptist View of the Church, vor allem S. 48 ff. („Religious Primitivism as a Pattern of Thought"). 64 Chronica, Zeytbüch vnd geschijchtbibel von anbegyn biß inn diß gegenwertig A. D. xxxj. jar, Bl. xxxiiij v -cccxxxvij r („Vorred Sebastiani Franci" der „Chronica der Rhomischen ketzer"); Bl. cccxxxvij v -cccclxj v („Chronica der Rhomischen ketzer"). - Benutzt wurde das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München: 2°, L. impr. c. n. mss. 42. 65 Dazu ausführlich Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit, S. 359 f. 66 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 34. - In der Vorrede der „Ketzerchronik", in der Sebastian Franck seine „Theorie der Häresie" entwirft, heißt es entsprechend: „DV solt nit darfür haben mein leser / das ich alle die für ketzer achte / die ich hie erzölt / in das zalbüch der ketzer gschriben hab / das vrteil durch die chronick hinauß vö dem glaube ist nit mein sunder des bapsts der concilien / vnnd seins anhangs / die ich hie fur richter einfür / dafi solt ich vrtheilen / ich würd villeicht das spil vmbkoren / vnd deren vil canonisieren / vnd in der heiligen zal setzen / die hie für ketzer außgerfifft von Gott auß gemustert / verstürtzt / vn dem teüfel überliuert werden / dann gar vil theür leüt / seind hie mitt dem Romigen kessel des bapsts beschmeißt / die ich der vntodtlichkeit wirdig acht" (Bl. cccxxxiiijv). Grundlegend zu Francks „Theorie der Häresie": Christoph Dejung, Wahrheit und Häresie. Eine Untersuchung zur Geschichtsphilosophie bei Sebastian Franck, Diss. phil. Zürich, Zürich 1979; zusammenfassend: ders., Geschichte lehrt Gelassenheit. Über den Historiker Sebastian Franck, in: Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck (1499-1542), hg. v. Siegfried Wollgast, Berlin 1999, S. 89-126, hier vor allem S. 104ff.; instruktiv in diesem Zusammenhang darüber hinaus: Albrecht Hagenlocher, Sebastian Francks .Kriegbüchlin des Friedes', in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissance-Humanismus, hg. v. Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1986, S. 45-67, hier S. 63 ff.
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hätte 67 . Auch ist er im Einklang mit Franck, im bezeichnenden Unterschied aber zu den protestantischen Martyrologen des 16. Jahrhunderts weit davon entfernt, die Geschichte bestimmter Ketzer und Ketzergruppen als Geschichte der wahren Kirche zu entwerfen und damit nicht zuletzt auch als Geschichte einer beständigen heroischen Sukzession 68 . Andererseits aber gesteht Braitmichel bestimmten Ketzern - Jan Hus zum Beispiel oder Hieronymus von Prag 69 - oder Ketzergruppen wie den „Fraticelj" 7 0 durchaus „einen klainen schein der warheit" zu 71 , den er auch Martin Luther und Huldrych Zwingli nicht vollständig verweigert, sei doch ihr „anfang" durchaus „schön" gewesen 72 . Denn: „Diese beede / Luther vnd Zwingel / haben alle tück vnd Büeberej der Bäbstlichen heiligkeit eröffnet vnd an tag herfür gebracht / gleich alls wenn sies mit Donnderschlegen alles zu boden wolten schlagen" 73 . Schon bald allerdings seien auch Luther und Zwingli - auf die weltlichen Obrigkeiten setzend und damit den Sündenfall der alten Kirche wiederholend - auf den falschen Weg geraten: „... alsbalt sie sich an den weltlichen gwalt gehencket / auff menschen hilff vertröstet / Ist es mit Inen nit änderst gwesen /als ob einer ainen alten kessel flicket / das loch nur erger wirt", was auch in ihrem Fall nicht übersehen werden könne 74 . Denn nicht nur, daß die beiden nach Braitmichel weit davon entfernt gewesen waren, ihr Leben zu bessern, vom Leben ihrer Anhänger, „die ir leer als für die warhait auffnamen" 75 , ganz zu schweigen: „Denn kein besserung des lebens war bey Inen gar nit gespüeret / sonder ein stoltz auffgeblasen wissen / andere zuuerachten" 76 . Sie hielten, wie Braitmichel besonders nachdrücklich betont, auch an der Kindertaufe fest, „vnd Hessen den rechten tauf Cristj faren", und begannen damit, ihre Lehre unerbittlich mit dem Schwert zu
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So betont er zum Beispiel, daß Arius zwar „ein fürtrefflicher gleerter man" gewesen sei: „Straffende die Römisch Kirch Ires Irrthums halb / Das sie Gott vnd Christum nit recht vnderschaideten", muß aber gleichzeitig eingestehen, daß die „Arianischen" - nicht anders als die Päpste - „das schwert mit vil Krieg" geführt haben: „wider alle so Ires glaubens nit waren". Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 35. 68 Ein Tatbestand, der in der Täuferforschung bislang völlig übersehen wurde. Ein Beispiel: Geoffrey Dipple, 'Yet, from time to time there were men who protested against these evils': Anabaptism and Medieval Heresy, in: Protestant History and Identity in Sixteenth-Century Europe, Bd. 1, S. 123-137, hier S. 125. 69 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 40. 70 Ebd., S. 39. 71 Ebd., S. 37. - Vgl. dazu auch Hans J. Hillerbrand, Anabaptism and History, in: The Mennonite Quarterly Review 45 (1971), S. 107-122, hier S. 116. 72 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 44. 73 Ebd., S . 4 2 f . 74 Ebd., S. 43. 75 Und: „... etlich das leben darob Hessen / on allen Zweifel / die Säligkait in Christo da zu finden". Ebd. 76 „Fleisch essen / weiber nemmen / Babst / Münich vnd pfaffen (wie sie es denn wol verdiennt haben) außschellten / was Ir höchster gottes dienst." Ebd., S. 44.
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verteidigen, so daß am Ende des siebten Weltalters des „Geschichtbuechs" die Tyrannei eines Neuen Babylon steht77. Der Beginn der Tyrannei des Neuen Babylon aber markiert zugleich auch den Beginn der Geschichte der „Gemain" und damit den Beginn der „letzten" und „besten" Zeit, die eschatologisch allerdings vergleichsweise blaß ausfällt 78 : „WEIL ABER GOTT EINN ainigs volck / abgsündert von allen völckern / haben wolt / hat er den waren rechten Morgenstern des Hechts seiner warhait in völligem schein wider herfür wollen bringen / im besten Alter diser weit / Besonder in Teütschen Nationen vnd landen / dieselben mit seinem wort haimbzusuechen / Vnd den grundt götlicher warhait zu offenbaren / damit sein heiligs werck vor Yederman bekandt vnd offenbar wurde / hueb es sich im Schweitzerlandt aus sonderlicher erweckung vnd anrichtung Gottes erstlichen also an" 79 . Trotz des Befundes, daß das „Geschichtbuech" keine Geschichte beständiger „prototäuferischer" heroischer Sukzession entwirft, eines Befundes, der ja Distanz zur Vergangenheit erwarten ließ, ist die feierliche Radikalität des Bruchs, die in diesem Satz zum Ausdruck kommt, doch bemerkenswert80. Denn nicht nur, daß er die Entstehung der Täuferbewegung in ein ebenso sakrales wie außer-historisches, ja, geradezu gegen-historisches Licht rückt81, so präzise das „Geschichtbuech" den geschichtlichen Kontext dieser Entstehung auch bestimmen mag 82 . Er läßt auch den Gedanken der „restitutio" der wahren christlichen Kirche der Apostelzeit weitgehend außer Acht 83 , der doch die Geschichtstheologie der Reformationszeit in besonderer Weise prägte84 und vor allem in Täuferkreisen - in aller Regel eschatologisch aufgeladen - eine kaum
77
Ebd. Zusammenfassend: Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 160. 79 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 45. 80 Eine Radikalität, die von der Formel „Distanzierung von den Herrschaftssystemen der bisherigen Weltreiche und -Zeiten" (Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 157) nicht adäquat zum Ausdruck gebracht wird. 81 Vorsichtiger: Hartmut Kugler, Diskussionsbeitrag, in: Eva Kiepe-Willms, Diskussionsbericht, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, S. 173— 175, hier S. 174. 82 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 45 ff. - Zum Vergleich: John H. Yoder, The Turning Point in the Zwinglian Reformation, in: The Mennonite Quarterly Review 32 (1958), S. 128-140 - und: Heinold Fast und John H. Yoder, How to Deal with Anabaptists: An Unpublished Letter of Heinrich Bullinger, in: ebd. 33 (1959), S. 83-95. 83 Auch das ein Tatbestand, der in der Täuferforschung unbeachtet geblieben ist bzw. bewußt ignoriert worden zu sein scheint. Vgl. etwa Frank J. Wray, The Anabaptist Doctrine of the Restitution of the Church, in: The Mennonite Quarterly Review 28 (1954), S. 186-196, hierS. 194. 84 Zusammenfassend: Roland H. Bainton, Changing Ideas and Ideals in the Sixteenth Century, in: JModH 8 (1936), S. 4 1 7 ^ 4 3 , hier insbesondere S. 428ff. - sowie: Dipple, Humanists, Reformers, and Anabaptists on Scholasticism and the Deterioration of the Church. 78
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zu überschätzende Rolle spielte 8 5 . Der kurze Hinweis jedenfalls, daß Gott das Licht der Wahrheit wieder hervorgebracht habe, um ein „volck /abgsündert von allen völckern" zu schaffen, nimmt sich vor dem Hintergrund der elaborierten „restitutio"-Theorien eines Melchior Hoffman 8 6 , Bernhard Rothmann 8 7 , Peter Riedemann 8 8 , David Joris 8 9 oder Dirk Philips 9 0 ausgesprochen bescheiden aus 9 1 . In anderen Worten: Das „Geschichtbuech" läßt eine „Gemain" entstehen, die ohne explizite historische Präfigurationen auskommen muß, alles in allem aber doch glauben darf, in der Geschichte immer schon potentiell vorhanden g e w e s e n zu sein. Was folgt, ist eine Leidenschronik von 853 Druckseiten, die geschichtstheologisch nicht mehr viel zu bieten hat. Einsetzend mit der „absünderung" des Grebel-Kreises „von der weit / vnnd von Iren bösen wercken" (konkret: von Zwingli, seinen Anhängern und ihrem Tun) 9 2 und der baldigen Verfolgung der Mitglieder dieses Kreises 9 3 , erzählt das „Geschichtbuech" die Geschichte der
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Vgl. nur Wray, The Anabaptist Doctrine of the Restitution of the Church; Hillerbrandt, Anabaptism and History, S. 113 ff.; H. W. Meihuizen, The Concept of Restitution in the Anabaptism of Northwestern Europe, in: The Mennonite Quarterly Review 44 (1970), S. 141— 158; John H. Yoder, Anabaptism and History. "Restitution" and the Possibility of Renewal, in: Umstrittenes Täufertum 1525-1975, S. 244-258; Klaassen, Living at the End of the Ages, S. 75 ff. 86 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 217ff. 87 Vor allem in seiner „Restitution" von 1534: Eyne Restitution edder Eine wedderstellinge rechter vnnde gesunder Christliker leer / gelouens vnde leuens vth Gades genaden durch de gemeinte Christi tho Munster an den dach gegeuen. Druck: Die Schriften Bernhard Rothmanns, bearb. v. Robert Stupperich, Münster 1979, S. 210-284. Vgl. auch Wray, Bernhard Rothmann's Views on the Early Church. 88 Erstmals in seiner zwischen 1529 und 1532 in Gmunden im Gefängnis verfaßten „Rechenschaft und Bekanndtnus des Glaubens", der sogenannten „ersten Rechenschaft" (Druck: Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 12: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter II, S. 4-47, hier insbesondere S. 39ff.); und dann vor allem in der „Rechenschafft vnserer Religion / Leer vnd Glaubens" von 1540 oder 1541, die um 1545 in erster und 1565 in zweiter Auflage erschien. Wray, The Anabaptist Doctrine of the Restitution of the Church, S. 188f.; J. ten Doomkaat Koolman, The First Edition of Peter Riedemann's "Rechenschaft", in: The Mennonite Quarterly Review 36 (1962), S. 169f.; Friedmann, Peter Riedemann, S. 30 ff. 89 T'Wonder-boeck: waer in dat van der Werldt aen versloten gheopenbaert is ... Opt nieuw ghecorrigeert vnde vermeerdert by den Autheur selve ..., o.O. 1551, hier: „Dat Vierde Deel vant Wonder-boeck: Daer die Restitucie oder wederbrenginghe Christi / . . . /gheopenbaerdt werdt (Fol. l r -Fol. 31v). - Grundlegend zum „Wunderbuch": Waite, David Joris, S. 94ff. und passim. 90 Vande geestelijcke Restitution ..., 1564. Druck: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 10: De geschriften van Dirk Philipsz, bearb. v. Fredrik Pijper, Den Haag 1914, S. 339376. 91 Weitere Beispiele in: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter I, hg. v. Lydia Müller, Leipzig 1938 (jeweils passim). 92 Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 47. 93 Ebd., S. 48 ff.
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„Gemain" in erster Linie als eine Geschichte von Flucht zu Flucht, von Verhör zu Verhör - und (soweit das 16. Jahrhundert zur Rede steht) vor allem auch als Geschichte von Martyrium zu Martyrium 9 4 , wobei das Sterben der „proto"-hutterischen und hutterischen Blutzeuginnen und Blutzeugen besonders ausführlich 9 5 und zumindest streckenweise auch als Selektions- und kollektiver Läuterungsprozeß dramatisiert wird 9 6 . Wo das „Geschichtbuech" seinen Reigen der Verfolgungs- und Hinrichtungsberichte unterbricht, die auffällig häufig auch mirakulöse Vorfälle enthalten 9 7 und die Feinde der „Gemain" - allen voran die Jesuiten, „das B ö ß Natter geZücht" - erwartungsgemäß alles andere als schmeichelhaft erscheinen lassen 9 8 , präsentiert es Karrierewege prominenter Täufer w i e Jacob Huter 9 9 , hier und da sogar Szenen friedlichen ländlichen Alltags 1 0 0 , aber auch Spannungen und Konflikte innerhalb der „Gemain" 1 0 1 und nicht zuletzt Grenzziehungen 1 0 2 , insbesondere gegenüber den „Münsterischen" 1 0 3 , „des Bluetigen Sathanes mit-
94
Zusammenfassend Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit, S. 348 f. Vgl. an dieser Stelle nur die christomimetisch stilisierte Darstellung von Gefangennahme, Folter und Hinrichtung Jacob Huters: Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 157. 96 So heißt es zum Beispiel am Ende der „Ordnung / wie ein Christ der im apostolischen glauben steet / leben soll" von 1529: „DAMIT WIR ABER WIDER AUFF VNSER FÜRNEMEN kommen / zu schreiben wie die gmain von Anfang / von den valschen vnd vntüchtigen menschen geleütert / gereüttert / vnd Sonderlich in disem landt zu rechter Versammlung vnd Ordnung auffkommen sey / mit grossem trüebsal / Geschach es / alls des Künigs profos von seinem vorgemelten nachjagen Inn Österreich aufhöret vnd abließ / das die Herren von Nicolspurg boten auff die Berg schickten / Auch an dj haimlichen örter der wälden / do sie hin geflohenn waren / das yederman wider haimb inn sein hauß vnd herbrig ziehen solt / vnd sich weiter nit scheühen." Ebd., S. 85. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, S. 568, 580. 97 Beispiele: Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit, S. 355. 98 Um nur einige wenige Stellen zu nennen: Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 57, 427 f., 505, 549 f. 99 Ebd., S. 89 ff. 100 Beispiele: Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit, S. 349 f. ιοί wie etwa (besonders ausführlich) den Ausschluß der „Gabrielischen" 1533. Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 114ff. 102 Zusammenfassend Szöverffy, Die hutterischen Brüder und die Vergangenheit, S. 352 ff. 103 So kommentiert Caspar Braitmichel das Ende des Täuferreichs von Münster - des „Teüffels Spyl durch die Münsterischen" - mit den Worten: „Aus solcher handlung diser gantz verderbten gotlosen menschen / Ist der Gemaind Gottes an vil Orten grosser trüebsall entstanden / Auch vil fromme gefängclich vnd peinlich Irer Secten sind bezüchtet worden / Aber die gantze Gemain vnd alle Gottselige hertzen / haben ganntz standthafft / Ja etliche bis in todt / wider disen graussammen greüel / der vom teüfel auffgericht vnd erdicht sey / gezeuget / Vnd wirt sich bey der gmain oder versamlung der Warglaubigen / mit eüsserlichen Raachwaffen / Wenig oder vil mitt warheit / (wider die Irigen feindt zu streiten) nimermer befinden / Denn die Raach ist Gottes / welche die glaubigen nit begeren / Der wirt aine yetlichen nach seinen wercken wissen Zuuergelten." Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 144 f. 95
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gnossen" 104 . Darüber hinaus lassen sich immer wieder auch programmatische Schriften ausmachen: die „Ordnung der gmain wie ein Crist leben soll" von 1529 zum Beispiel 105 , Jacob Huters Briefe an „die gmain im oberland" von 1533 106 und an den „Hauptman des Lanndts Märhern" von 1535 107 oder Peter Riedemanns „an dj philippischen Brüeder im land an der Ennß" von 1537 und 1538 108 . Vor allem aber ist eine zunehmende Tendenz des „Geschichtbuechs" zu beobachten, die ja ohnehin schon recht selbstbezogene Geschichte der „Gemain", die wohl gerade deshalb auch an die Vergangenheits- und Gegenwartsentwürfe spätmittelalterlicher Städtechroniken erinnert109, in immer stärkerem Maße auf eine Geschichte der hutterischen „Gemain" zu reduzieren110, eine Tendenz, die auch darin zum Ausdruck kommt, daß sich der „Besserungsanspruch" der Chronik, wie er in der Vorrede formuliert wird, mehr und mehr von der individuellen auf die kollektive Lebensführung verlagert111. 1660 - die Einträge in das „Dicke Buch" der Hutterer näherten sich bereits ihrem Ende, veröffentlichte Tieleman Jansz van Braght (1625-1664) im holländischen Dordrecht ein Martyrologium, das gemeinhin als Höhepunkt mennonitischer Hagiographie gilt: „Het Bloedigh Tooneel Der Doops-Gesinde, En Weereloose Christenen"112. 25 Jahre später erschien in Amsterdam eine zweite Auflage der erfolgreichen, auch in den mennonitischen Gemeinden in Deutsch104
Eine Abgrenzung, deren Vehemenz in erster Linie damit zu tun hat, daß die Hutterer (bekanntlich keineswegs zu unrecht) davon ausgingen, als „Glaubens gnossen" der „Münsterischen" zu gelten, wie die „Gemain" in einem Brief an den Grafen von Thum von 1581 in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt: „Das wir beschuldiget werden der Münsterischen Glaubens gnossen / Sagen Wir das diß weder ainer noch kainer / sey wer er wöll / Nimermer beweisen kann / noch mag / das wir mit vnserer Gemain Yemals mit solchem bösem fürnehmen Vmbganngen / Oder zum Bluet / Krieg vnd menschlichem Verderben Inn ainigerlej Weg geholffen hetten / Darumb dieselben gar nit sein / Vnd Ihres Glaubens gnossen nie gewesen. Es werde auch mit Gottes hilff künfftigs kainer solches von vns Nimermer erleben noch erfaren / das wir solch auffruer / lärmen / noch ainigen Bluethanndel im Wenigesten fürnemen / gschweigen Anrichten Werden / Weder gegen feinden noch freunden / Obrigkait noch vnderthonen. Sagen derhalben Vor Gott öffentlich / das die Münsterischen nit vnsere / sonder des Bluetigen Sathanes mitgnossen gwesen / mit Irer Gottlosen handlung." Ebd., S. 524 f. 105
Ebd., S. 83-85. Ebd., S. 119-138. 107 Ebd., S. 149-155. 108 Ebd., S. 176-181 und S. 188-193. 109 So bereits Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 159. - Zum Vergleich: Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Peter Johanek, Köln u.a. 2000. 110 Vgl. Kugler, Das „Dicke Buch" der Gemeinde Gottes, S. 159f. 111 Diese Beobachtung ebenfalls bereits ebd., S. 161. 112 Zu van Braght und seiner Märtyrersammlung in aller Kürze: H. Westra und N. van der Zijpp, Braght, Tieleman Jansz van, in: The Mennonite Encyclopedia, Bd. 1, S. 400f.; H. Westra, Braght, Tieleman Jansz van, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 1, S. 252f. - und: Harold S. Bender und N. van der Zijpp, Martyr's Mirror, in: The Mennonite Encyclopedia, Bd. 3, S. 527-529. 106
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Abt. Märtyrer-Buchhaltung. Die erste Seite der „Martertafel" des „Geschichtbuechs": „wie Gott Inn allen ecken Teütscher landen sein Warheit mit bluet bezeuget vnd an tag bracht hat". Druck der Tafel: Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, S. 232-235.
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land (vor allem in Nordwestdeutschland) verbreiteten Sammlung in zwei Bänden 113 , die mit 1290 doppelspaltigen Folioseiten (ohne Einleitungsteil und Register) noch umfänglicher ausgefallen war als die erste, zeigte sie doch neben einem Frontispiz von D. Penning nach L. van der Vinne auch noch 104 Kupferstiche von Jan Luyken (1649-1712) 114 . Die Sammlung hatte darüber hinaus einen neuen Titel erhalten: „Het Bloedig Tooneel, of Martelaers Spiegel der Doops-Gesinde of Weereloose Christenen"115. So beliebt das Martyrologium in Nordwestdeutschland auch gewesen zu sein scheint, eine deutsche Übersetzung erschien erst 1748 im „Kloster" Ephrata in Pennsylvania in einem Band und in 1300 Exemplaren ä 1512 Folioseiten unter dem Titel „Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel der Taufs=Gesinnten oder Wehrlosen Christen"116. Denn im Unterschied zu den Täufern in Emden oder Altona fiel es den Mennoniten-Immigranten aus Oberdeutschland und der Schweiz schwer, van Braghts Martyrologium in niederländischer Sprache zu lesen 117 . Von Nordamerika aus gelangte die Ephrata-Übersetzung schließlich auch nach Deutschland, wo sie der Verlag der Vereinigten Bruderschaft 1780 in Pirmasens - wieder einbändig und wieder illustriert - in so großer Zahl unverändert nachdruckte118, daß es sinnvoll erschien, in der vorliegenden Untersuchung aus einem der vergleichsweise gut zugänglichen pfälzischen Exemplare zu zitieren119.
113 Sie liegt - mit einer Einleitung von S. L. Verheus und T. Alberda-van der Zijpp versehen - seit 1984 in einem unveränderten Nachdruck des Verlages „De Bataafsche Leeuw" (Dieren) vor. 114 Nachweis: Jan en Casper Luyken te boek gesteld. Catalogue van de boekencollectie Van Eeghen in het Amsterdams Historisch Museum, bearb. v. Nel Klaversma und Kiki Hannema, Hilversum 1999, S. 115 f., Nr. 291-293. - Jan Luykens Märtyrer-Kupferstiche erschienen immer wieder auch separat - zuletzt in: The Drama of the Martyrs. From the Death of Jesus Christ up to the Recent Times. Drawn and Engraved on Copper by the Renowned Engraver Jan Luyken (1649-1712), hg. und eingeleitet ν. Jan Gleysteen, Lancaster/Pennsylvania 1975. - Vgl. darüber hinaus: Jan Luyken. Die Skizzen zum Ständebuch. Hundert Vorzeichnungen in Feder und Pinsel von Jan Luyken zu Radierungen für das Ständebuch „Het Menselyk B e d r y f , Amsterdam 1694, hg. v. Margarete Wagner, Freiburg i.Br. u.a. 1987. 115
Grundlegend zur Druckgeschichte des „Bloedig Tooneel" immer noch: Gerald C. Studer, A History of the Martyrs' Mirror, in: The Mennonite Quarterly Review 22 (1948), S. 163-179. 116 „... Die um das Zeugnus Jesu ihres Seligmachers willen gelitten haben, und seynd getodtet worden, von Christi Zeit an bis auf das Jahr 1660". 117 Cornelius J. Dyck, The Suffering Church in Anabaptism, in: The Mennonite Quarterly Review 59 (1985), S. 5-23, hier S. 8. 118 Zu den Übersetzungen ins Englische - nicht zuletzt für die „Amish Mennonites", die van Braghts Martyrologium bis heute benutzen: Studer, A History of the Martrys' Mirror, S. 176 ff. 119 Aus dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München: 2° V.ss.c. 2 0 0 , das allerdings keinen Druckort nennt. Dazu: Neff, Märtyrerbücher, S. 52 f. - Alle deutschen Zitate wurden mit der zweiten niederländischen Auflage verglichen; darüber hinaus schien es in ei-
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Folgt man der Vorrede van Braghts in der ersten Auflage seines Martyrologiums, so plante der ebenso versierte wie populäre Prediger ursprünglich, lediglich die vierte, 1631 in Haarlem erschienene Auflage des sogenannten „Großen Opferbuchs" von Hans de Ries (1553-1638) noch einmal leicht erweitert nachdrucken zu lassen 120 . Diese Sammlung hatte in erster Linie dazu dienen sollen, über die Konstruktion einer gemeinsamen heroischen Vergangenheit die zerstrittenen Mennoniten-Mikrokonfessionen der „Waterländer", „Hamen" und „Friesen" wieder miteinander zu versöhnen121. De Ries selbst gehörte der spiritualistisch ausgerichteten und vergleichsweise assimilationsfreudigen Fraktion der „Waterländer" an, die den rigiden Banngebrauch der beiden anderen Gruppen ablehnte122. Im Laufe der Arbeit jedoch änderte van Braght laut Vorrede seinen Plan und begann selbst zu recherchieren, zu sammeln und zu schreiben und dabei - wieder laut Vorrede - 356 einschlägige Schriften zu konsultieren, so daß er schließlich sein eigenes Martyrologium vorlegen konnte123. Die Sammlung beginnt mit einem programmatischen Einleitungsteil von 52 doppelspaltigen Folioseiten, der neben van Braghts Geschichtstheologie 124 auch die drei mennonitischen Glaubensbekenntnisse vom 27. September 1627 125 , vom 7. Oktober 1630 126 sowie vor allem vom 21. April 1632 umfaßt 127 . Sie präsentiert dann in einem ersten Teil von 432 doppelspaltigen Fonigen Fällen sinnvoll zu sein, neben den deutschen auch die niederländischen Begriffe anzuführen. 120 Studer, A History of the Martrys' Mirror, S. 169f. 121 Ausführlich zu Hans de Ries, den Hintergründen der Entstehung seines Martyrologiums, das erstmals 1615 erschien, und den Metamorphosen seiner Auflagen: Gregory, Salvation at Stake, S. 235 ff. - Zu den Mennoniten-Fraktionen in den Niederlanden und ihren Konflikten: Krahn, Dutch Anabaptism, 229 ff.; Keeney, The Development of Dutch Anabaptist Thought, S. 155 ff.; J. A. Oosterbaan, Vlekken en rimpels. Over verdeeldheid en hereniging, in: Wederdopers, S. 62-83; zusammenfassend: Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, S. 33 ff. 122 Gregory, Salvation at Stake, S. 232 f., 237, 240 f. 123 Studer, A History of the Martrys' Mirror, S. 169. 124 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 5-10 („An Meine geliebte Freunde und Mitgenossen in Christo JEsu unserm Seligmacher"); S. 10-13 („Anrede An die Leser insgemein"); S. 13-17 („Kurzer Begrif Von dem ganzen nachfolgenden Werk"); S. 17-23 („Erinnerung ..." bzw. „Von der wahren Kirche GOttes, und derselben Ursprung, Fortgang, und unbeweglicher Festigkeit durch alle Zeiten"); S. 38-51 („Von der ungottlichen und falschen Kirche [welche ist ein Gegensatz der Kirche GOttes] derselben Ursprung, Fortgang und Folge durch alle Zeiten"); S. 51 f. („Martyrer=Kron vor JEsum Christum, den Seligmacher, und Auf die seiner Spur folgende wehrlose Creutzesschaar"). 125 Ebd., S. 23-28 („aufgesetzt zu Amsterdam"). 126 Ebd., S. 28-32 („aufgesetzt zu Amsterdam"). 127 Ebd., S. 32-38 („aufgesetzt zu Dordrecht"). - Zusammenfassend zu den mennonitischen Glaubensbekenntnissen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts: N. van derZijpp, The Confessions of Faith of the Dutch Mennonites, in: The Mennonite Quarterly Review 29 (1955), S. 171-187; instruktiv in diesem Zusammenhang darüber hinaus: Cornelius J. Dyck, The First Waterlandian Confession of Faith, in: ebd. 36 (1962), S. 5-13; sowie ders., The Middelburg Confession of Hans de Ries, in: ebd. 36 (1962), S. 147-154 und S. 161.
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lioseiten in chronologischer Reihenfolge Märtyrerinnen und Märtyrer von Christus bis Savonarola128, viel aus Tertullian und Eusebius, aber auch aus Sebastian Brandts „Ketzerchronik" und nicht zuletzt aus Caesar Baronius' „Annales Ecclesiastici" zitierend129. Sie läßt daran anschließend einen kurzen Ausblick ins 16. Jahrhundert130 sowie ein weiteres Glaubensbekenntnis folgen 131 ; und führt in einem zweiten Teil von 821 doppelspaltigen Folioseiten schließlich nach zwei kurzen Vorreden132 wieder Märtyrerinnen und Märtyrer vor Augen: mehr oder weniger durchgängig unzweifelhafte und nach Auskunft ihrer Viten selbstverständlich auch untadelige Täufer-Heilige von den Anfängen der Täuferbewegung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts133, weiterhin in chronologischer Reihenfolge, 803 von ihnen namentlich134. Die Viten stammen zumeist aus Hans de Ries' Martyrologium und damit in vielen Fällen aus „Het Offer des Heeren", das de Ries ausgiebig nutzte135. Wie Braitmichel versteht auch van Braght sein Martyrologium in erster Linie als Anleitung zur Buße und damit zum Glauben. Das aber heißt auch: als Anleitung zur Sittsamkeit, zur Verleugnung aller fleischlichen Lust, als „Schulubung der Tugend"136. In sehr viel stärkerem Maße aber als der hutterische Chronist betont van Braght, daß Leib und Seele „in dieser Zeit" sehr viel größeren Gefahren ausgesetzt seien als in den blutigen und jämmerlichen Zeiten
128 Jeweils zu Beginn eines Jahrhunderts präsentiert van Braght darüber hinaus eine „Verhandlung von der H. T a u f . Vgl. dazu programmatisch van Braght, Der Blutige Schau= Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 13 - und ein Beispiel: S. 37. 129 Samuel Cramer, De Geloofwaardigheid van van Braght, in: Doopsgezinde Bijdragen (NS) 39 (1899), S. 65-164; ders., Nogmaals de Geloofwaardigheid van van Braght, in: ebd. 40 (1900), S. 184-210; Studer, A History of the Martrys' Mirror, S. 171. - Schon de Ries hatte sich für den Mittelalterteil seines Martyrologiums recht unbefangen der zwischen 1588 und 1607 in zwölf Bänden in Rom erschienenen Annalen von Baronius bedient: Gregory, Salvation at Stake, S. 243. 130 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 369-385: „Der Blutige Schau=Platz, oder Martyrer=Spiegel der Taufs=Gesinnten, oder Wehrlosen Christen, Welche in dem sechszehenden Jahrhundert gelitten haben, von dem Jahr 1500. (nach der Geburt Christi) an bis zu dem Jahr 1600". 131 Ebd., S. 385-432. 132 Ebd., S. 3f. (Bleistiftpaginierung); S. 5-12. 133 Die vergleichsweise wenigen Täufer-Märtyrer des 17. Jahrhunderts waren vor allem Schweizer, van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 2, S. 786-819, was dazu beigetragen haben dürfte, daß van Braghts Sammlung auch in oberdeutschen Täuferkreisen rezipiert wurde. James Stayer, The Easy Demise of a Normative Vision of Anabaptism, in: Mennonite Identity, S. 109-116, hier S. 112f. 134 Den Abschluß bilden ein Gebet für die weltliche Obrigkeit und eine Trostrede Tertullians. van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 2, S. 820 und S. 820 f. Vgl. zusammenfassend auch Bender und van der Zijpp, Martyr's Mirror, S. 527. 135 Vgl. A. Orley Swartzentruber, The Piety and Theology of the Anabaptist Martyrs in van Braght's Martyrs' Mirror, I und II, in: The Mennonite Quarterly Review 28 (1954), S. 5 - 2 6 und S. 128-142 (jeweils passim) - vor allem aber: Gregory, Salvation at Stake, S. 237. 136 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 12.
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Abb. 42 Marterlandschaften 3: Titelblatt der ersten Auflage der „Historie der Martelaren" von Hans de Ries (Haarlem: Daniel Keyser 1615). Bereits 1617 folgte eine zweite, 1626 eine dritte und 1631 schließlich eine vierte Auflage, die Tieleman Jansz van Braght nachdrucken wollte, bevor er sich entschloß, selbst zum Martyrologen zu werden. Die Abbildung stammt aus dem Exemplar der Universitätsbibliothek Amsterdam.
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Abb. 43 Marterlandschaften 4: Frontispiz der ersten Auflage des „Bloedigh Tooneel" von Tieleman Jansz van Braght (Dordrecht: Jacob Braat 1660). Die Abbildung stammt aus dem Exemplar der Universitätsbibliothek Amsterdam.
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Abb. 44 Marterlandschaften 5 - mit einer Allegorie der wahren Kirche im Vordergrund des wenig übersichtlichen Geschehens: Frontispiz der zweiten Auflage von van Braghts Erfolgsmartyrologium (Amsterdam: Hieronymus Sweerts u. a. 1685), das D. Penning nach L. van der Vinne stach. Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Kupferstichs S. L. Verheus in der unpaginierten Einleitung des 1984 erschienenen unveränderten Nachdrucks der zweiten Auflage. Die Abbildung stammt aus dem Exemplar der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden.
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Abb. 45 Marterlandschaften 6: Frontispiz der ersten deutschen Übersetzung des „Bloedig Tooneel", die 1748 im „Kloster" Ephrata in Pennsylvania erschien. Die Abbildung stammt aus dem Exemplar der Universitätsbibliothek Amsterdam.
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Abb. 46-50 Die zweite Auflage des „Bloedig Tooneel" enthält 104 Kupferstiche von Jan Luyken, die auch in die deutschen Übersetzungen Eingang fanden. Die folgenden fünf Stiche stammen aus dem Münchner Exemplar der Ausgabe von 1780.
Abb. 46 Einsetzend mit einer Abbildung der Kreuzigung Christi, zeigt das Martyrologium als zweiten Kupferstich die Steinigung des heiligen Stephanus. Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 5.
Abb. 47 Die Verbrennung von 80 Waldensern, 1215. Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 317.
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Abb. 48 Die David Joris-Anhängerin und wahrscheinliche Verfasserin des rachedurstigen Posaunenliedes Anna Jansz auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung in Rotterdam, 1539. Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 2, S. 81.
Abb. 49 Die Verbrennung von Maria und Ursula van Beckum in Delden bei Deventer, 1544. Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 2, S. 81.
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Abb. 50 Die Verbrennung von Georg Simons und Clemens Dirks in Haarlem - einschließlich der Bücher des Buchhändlers Simons, 1557. Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer= Spiegel 2, S. 192.
der Märtyrer, der „Vater, die den Tod, um des Zeugniß des HErrn willen erlitten". Damals nämlich habe der Teufel noch mit offenen Karten gespielt, wie ein grimmiger Löwe, so daß man ihn erkennen konnte. Heute sei das anders, heute schleiche er in der Dämmerung oder in der Nacht heran: in angenehmer Gestalt, „als ein Engel des Lichts, als ein freundlicher, lieblicher, ja gottlicher Botte, mit einem demuthigen Angesicht" und „niedergeschlagenen Augen", um ganz plötzlich sein Schafskleid abzustreifen, zuzubeißen und den Lämmern Christi ihren Glauben und ihre Seelen zu rauben 137 . Denn heute regiere der schöne Schein 138 , der „schoone schijn" 139 , wie an den übermäßig geschmückten Häusern, an der fremden Kleiderpracht, den „ungemeinen Farben" und seltsamen Moden, an den üppigen Mahlzeiten und überflüssigen Gastereien vieler Brüder und Schwestern unschwer zu erkennen sei 140 , hinter denen nichts anderes als die „Fleisches-Lust" stehe, die „Augen-Lust", die „Wollust" 141 und damit nicht zuletzt auch jene „schandlichen und unbeschreiblichen Handelschaften, die sich weit über die See bis in andere Theile der Welt erstrek137 138 139 140 141
Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. van Braght, Het Bloedig Tooneel 1, Bl. Α 4Γ. van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 8. Ebd., S. 7.
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ken"142. Van Braght entwirft sein Martyrologium also nicht als Medium des Trostes, jedenfalls nicht primär, wie noch die Lutheraner und Calvinisten, sondern als „call to reform"143. Daß der Angehörige der gemäßigten „Flamen"-Fraktion dabei auch an innermennonitische Versöhnung dachte, ist wahrscheinlich, im Unterschied zu de Ries aber weder programmatisch formuliert noch hagiographisch konturiert umgesetzt 144 . Mehr noch: Van Braght entwirft sein Martyrologium als Medium der Verinnerlichung kollektiver Leidenserfahrungen und damit als Instrument asketischer Seelen- und Lebensführung - und das ist auch alles andere als erstaunlich. Denn nicht nur, daß die niederländischen und nordwestdeutschen Mennonitengemeinden schon lange keine Märtyrergemeinschaften mehr waren - in den nördlichen Niederlanden fand die letzte Täuferhinrichtung 1574, in den südlichen 1597 statt145 - , sie standen auch sozial und ökonomisch nicht mehr im Abseits 146 . Im Gegenteil: Sie partizipierten (auch aktiv) am Wohlstand jenes „Goldenen Zeitalters", das van Braght ihnen als niederländisches Babylon vor Augen führt147. Welchen geschichtstheologischen Weg aber wählt van Braght, um jene Brüder und Schwestern, von denen er glaubte, sie lobten Gott nur noch mit dem Mund 148 , mit Hilfe der Exempel der standhaften Märtyrer Gottes und ihrem großen Kampf des Leidens wieder von Babylon nach Jerusalem zu führen zum wahren Licht der Erkenntnis149? Nach dem Versuch, sein Publikum davon
142
Ebd., S. 8. Dipple, 'Yet, from time to time there were men who protested against these evils', S. 135. 144 Nur am Rande sei vermerkt, daß der „Reform"-Gedanke auch in der vierten Auflage von de Ries' Martyrologium schon eine Rolle spielt, allerdings keine programmatische; in den ersten drei Auflagen von 1615, 1617 und 1626 sucht man ihn dagegen mehr oder weniger vergeblich. Gregory, Salvation at Stake, S. 244, der allerdings einen anderen Akzent setzt. 145 Ebd., S. 235. 146 Mary S. Sprunger, The Dutch Golden Age: Prosperity and the Martyr Tradition, in: Mennonite Life 45 (1990), S. 28-31. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch Simon Schama, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988, vor allem S. 147ff. und S. 315 ff. 143
147 Ausblickend zu dieser „Mahnung": Perry Yoder, The Role of the Bible in Mennonite Self-Understanding, in: Mennonite Identity, S. 69-82, hier S. 77; James C. Juhnke, Mennonite History and Self Understanding: North American Mennonitism as a Bipolar Mosaic, in: ebd., S. 83-99, hier S. 89f.; Rodney J. Sawatsky, Beyond the Social History of the Mennonites: A Respond to James C. Juhnke, in: ebd., S. 101-108, hier S. 101; Donald B. Kraybill, Modernity and Identity: The Transformation of Mennonite Ethnicity, in: ebd., S. 153-172, hier S. 161 f. und S. 167; Calvin Redekop, The Sociology of Mennonite Identity: A Second Opinion, in: ebd., S. 173-192, hier S. 180ff.; Robert Kreider, A Martyrs' Mirror Invitation, in: Mennonite Life 45 (1990), S. 4 - 8 ; Alan Kreider, The Relevance of Martyrs' Mirror to Our Time, in: ebd., S. 9-17; und: James W. Lowry, The Martyrs' Mirror, a Mirror of Nonresistance, in: ebd., S. 36-44. 148 149
van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 8. Ebd., S. 9. - Denn: „Es ist leichter durch gute Exempel als durch gute Lehren bekehret
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zu überzeugen, daß die Bibel im Grunde nichts anderes als ein „Martyrer=Buch" sei 150 und daß ihren „H. Märtyrern" doch zweifellos eine größere Ehre zukomme als allen „irdischen Helden" 151 , betont van Braght nachdrücklich, daß die „Taufsgesinnten", die „Doops-gesinde", oder wie er auch sagt: die „Christgesinnten", die „Apostolischgesinnten", die „Evangelischgesinnten" 152 , keineswegs „erst neulich" entstanden sind, wie immer wieder behauptet werde, und womöglich „von etlichen Jrrgeistern", vorzugsweise „von den Münsterischen" ihren Ausgang genommen haben: „Dann es wird mit der Wahrheit niemand beweisen können, daß die Religions=Articul der Munsterischen, damit sie der Welt haben die Augen aufgesperret (welche bestehen in Unruhe, Aufruhr und dergleichen) jemals von einer rechten Kirche der Taufsgesinnten ... ware angenommen und vor gut erkannt worden: viel weniger daß sie dieselbe Bekänntnuß gethan, und darnach gelebt hätten." 153 Wer nach denen frage, die um der Taufe willen gelitten haben, müsse vielmehr zugeben, daß die „Taufsgesinnten ... durch alle Jahrhundert von Christi Zeit an bis auf diese Zeit solten gewesen seyn" 154 , stehe doch außer Frage, daß „in allen Jahrhunderten von Anfang des Evangeliums seynd Personen gewesen, welche die H. Tauf ..., davon die Taufsgesinnte ihren Namen haben, auf dieselbe Weise, wie die Taufsgesinnte haben geglaubt, gelehrt, ein jeder zu seiner Zeit seinen Zeitgenossen, darinn unterrichtet, es ihnen eingepflanzt, und dieselbe darinn gestärket: wie in der ganzen Beschreibung und insbesondere in den ersten fünfzehen hundert Jahren kann nachgesehen werden." Gewiß, betrachte man die Glaubensbekenntnisse der Märtyrerinnen und Märtyrer der Sammlung, so seien durchaus Unterschiede festzustellen. Doch heiße das keineswegs, daß diese Unterschiede den Glauben selbst betreffen: „dergleichen ist uns nicht vorkommen". Zu berücksichtigen sei vielmehr, daß „nicht alle über einerley oder über dieselben Articul des Glaubens seynd verhöret worden, und dahero nicht alle einerley, oder auf dieselbe Weise haben geantwortet: und das aus Ursache, weil etliche gelitten haben unter den Heyden, etliche unter den Juden und Mahometanern, etliche unter den falschen Christen, nemlich Romischgesinnten"155. Kurz: „Darum soll sich kein wahrer Christ der jetzigen
zu werden, weil die Exempel mehr Nachdruck geben, wiewohl man hier beyde findet" (S. 13). 150 Ebd., S. 11 („Anrede": S. 10-13). 151 Ebd., S. 12. 152 Ebd., S. 13 („Kurzer Begrif": S. 13-17). 153 Ebd., S. 14. - Vgl. auch S. 15: „Doch, wann man wolte mit gleicher Münz ausbezahlen, konte man auch sagen: die Munsterischen wären Mitglieder derer, welche den Krieg billigen, und vorgeben, daß man seine Religion mit dem Schwerdt müsse fortpflanzen und beschützen. Dann dieses ists, was sie gethan haben: bey uns aber wird solchem mit Herz, Seel und Gemüth widersprochen." 154 Ebd., S. 13. 155 Ebd., S. 15.
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Taufs=Gesinnten daran stosen, daß die erste Märtyrer, so viel Glaubens=Articul nicht bekannt haben, als die letzte, oder als nun bekannt werden" 156 . Jene „heiligen Märtyrer" aber, fährt van Braght fort, sind „das abgesonderte H. Häuflein und Volk GOttes". Sie sind die göttliche und himmlische Kirche, die am Anfang der Welt entstanden sei, durch alle Zeiten existiert habe und bis ans Ende der Welt existieren werde 157 . Nicht immer zeige sich die Kirche Gottes zwar in voller Gestalt, ja, zeitweilig scheine sie geradezu unsichtbar, „ganz hinweg", verfinstert oder wie die „vornehmste", die „vortreffliche" Kirche der Apostelzeit zerstreut gewesen zu sein, was in aller Regel auf die Trägheit und die Irrtümer der Menschen oder auf Verfolgungen zurückgeführt werden könne 158 . Nie aber sei die Kirche des Geistes ganz verschwunden. Wie eine „Rose unter den Dornen" habe sie auch dunkle Zeiten überstanden. Denn nur sie stamme „wahrlich" ab: „aus GOtt und vom Himmel" 159 , was in aller Deutlichkeit zu erkennen sei, wenn man sich die beiden Kriterien der wahren „Succeßion" vor Augen führe, der „Successie der Kerke Gods" 160 : „Um nun dieses klärer vorzustellen, so sagen wir, daß die kirchliche Succeßion oder Nachfolge kan auf zweyerley Weise angemerkt werden 1. in Ansehung der Nachfolge der Personen, 2. In Ansehung der Nachfolge in der Lehre. Das letzte ist ein Kennzeichen und Beweiß von dem ersten: also daß das erste ohne das letzte nicht bestehen kan. Wo aber das letzte ist, da darf das erste nicht so genau gesuchet werden: doch wo sie beyde wahrhaftig und rechtschaffen erfunden werden, da kan man versichert seyn, daß daselbst seye die wahre und rechtschaffene Kirche GOttes, darinn GOtt wohnen und wandeln will, welche die Verheisung hat des ewigen seligen Lebens, und davon so viel in H. Schrift gerühmet und gelehret wird." 161 Akzeptiere man diese Kriterien - und der wahre Christ könne gar nicht anders - , so sei unzweifelhaft, daß jeder, der sich der wahren Nachfolge in der Lehre rühme, diesen Anspruch aus den wahren Apostolischen Schriften herzuleiten habe. Dazu aber seien nur die „Taufsgesinnten" in der Lage, die von Anfang an die wahre Apostolische Lehre ebenso standhaft wie gewissenhaft „recht gelehrt und nach Vermögen fortgepflanzt" haben, was schon darin zum Ausdruck komme, daß das Apostolische Glaubensbekenntnis ausschließlich von ihnen in Ehren gehalten worden sei, das „wir von Herzen glauben und mit dem Mund bekennen." 162 Die Tatsache, daß unter den Mennoniten neben dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, das van Braght auf seine Sukzessionstheorie folgen läßt 163 , noch einige weitere kursierten, darunter jene 156
Ebd., S. 16. •57 Ebd., S. 18 („Von der wahren Kirche GOttes": S. 17-23). 158 Ebd., S. 21 - vgl. hier auch die „Mond"-Metapher. 15 9 Ebd., S. 17. 160 van Braght, Het Bloedig Tooneel 1, Bl. Β 4r. 161 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 22. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 22f.
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drei bereits erwähnten und nach dem Apostolikum abgedruckten von 1627, 1630 und 1632164, ist für den Martyrologen kein Problem. Denn: Die Unterschiede zwischen ihnen seien lediglich Unterschiede „in der Redensart", nicht „im Glauben" 165 . So unzweideutig die Kirche Gottes die Kirche der „Taufsgesinnten" sei, so unzweideutig sei die Kirche der „Romischgesinnten" die Kirche des Teufels: „Wo GOtt eine Kirche bauet,... da bauet der Satan eine dagegen" 166 , die Kirche der „bösen Folge", der „bösen Succeßion"167, der „quaden Successie"168. Denn im Unterschied zur Kirche Gottes gründe sich die Kirche der „Papisten" allein auf die „Folge der Personen" 169 : „in 't gevolg der Persoonen" 170 - ohne auf die wahre Nachfolge in der Lehre zu achten. Da aber das Böse bekanntlich so alt sei wie das Gute, könne weder „die Lange der Zeit" noch „das grose Gefolg der Personen" die Wahrheit einer Religion oder Kirche garantieren: „es mußte dann seyn, daß das Alter und das Gefolg der Personen vergesellschaftet ware mit der gottlichen Wahrheit und Frömmigkeit, welche die rechtschaffene Alten im Anfang gehabt haben" 171 , wovon im Falle der römischen Kirche aber keineswegs die Rede sein könne. Denn nicht nur, daß der Anspruch der Anhänger des Papstes, ihre Kirche stehe in der Nachfolge von Petrus, „den sie den Prinzen der Apostel nennen" 172 , völlig unbegründet und deshalb leicht zu widerlegen sei173, was man schon daran erkenne, daß nicht einmal die römischen Gelehrten in der Lage seien, diesen Anspruch einmütig zu vertreten174. Auch die lange Reihe der Päpste selbst weise mehr als genug dubiose Subjekte auf, deren Gottlosigkeit außer Frage stehe175, so daß es sich im Grunde nicht lohne, das ebenso verwirrte wie eitle Rühmen jenes römischen Babylon allzu
164 Ebd., S. 23-38 - Glaubensbekenntnisse, „die im Jahr 1649 in der Stadt Harlem als eine einträchtige Bekänntnuß von sehr vielen Lehrern ... ohne einigen Widerspruch ... erkannt und angenommen worden" seien (S. 23). 165 Ebd., S. 23. 166 Ebd., S. 38 („Von der ungottlichen und falschen Kirche": S. 38-51). 167 Ebd., S. 39. 168 van Braght, Het Bloedig Tooneel 1, Bl. C 6V. 169 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 39. 170 van Braght, Het Bloedig Tooneel 1, Bl. C 6V. 171 van Braght, Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer=Spiegel 1, S. 39. 172 Ebd. 173 Was van Braght nicht davon abhält, vier doppelspaltige Folioseiten darauf zu verwenden: „Wie unbegründet diejenige seyen, die die Romische Nachfolge von dem H. Apostel Petrus pflegen herzuführen, und worinn solches bestehe." Ebd., S. 42-45. 174 Ebd., S. 45. 175 Ebd., S. 45-50: „Von der Pübstlichen Wahl, desgleichen von solchen, die sich selbst in den Stul eingedränget haben" (S. 45); „Von etlichen, die auf ungottliche Weise zum Besitz des Romischen Stuls seynd kommen" (S. 46); „Von zween, drey und vier Päbsten, die zugleich regiert haben, desgleichen, wie der Romische Stul zu Zeiten ohne Pabst lange ist leer gestanden" (S. 46); „Von dem gottlosen Leben und unordentlichen Betrag etlicher Päbsten" (S. 49); „Von den gottlichen Gerichten und Strafen, die etliche Päbste getroffen" (S. 50).
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ernst zu nehmen, das Gott ohnehin demnächst heimsuchen werde und das deshalb gut daran täte, sich „in Zeiten" zu bekehren176. Da van Braght seine geschichtstheologischen Eingangsüberlegungen an dieser Stelle abbricht, um den langen - um nicht zu sagen langatmigen - TodesReigen seiner heroischen Exempel zu eröffnen, scheint es sinnvoll zu sein, die Geschichtstheologie von „Geschichtbuech" und „Martyrer=Spiegel" abschließend noch einmal vergleichend in den Blick zu nehmen. Obwohl es die Befunde des vorliegenden Kapitels nahe legen, die Einschätzung der Vergangenheitsentwürfe von Hutterern und Mennoniten zu übernehmen, die Geoffrey Dipple vor einigen Jahren präsentiert hat: „The sectarian view of history is in fact a lament for a lost, sectarian past" 177 , lassen sie andererseits doch keinen Zweifel daran, daß diese Entwürfe kaum unterschiedlicher hätten ausfallen können. Anders ausgedrückt: Die beiden untersuchten Martyrologien strebten zwar ein gemeinsames Ziel an, die moralische Erneuerung der Täufer-Gemeinden in Zeiten des schönen Scheins, versuchten dieses Ziel aber über einen je eigenen Vergangenheitsentwurf zu erreichen, was die Täuferforschung bislang wohl vor allem deshalb übersehen hat, weil sie allzu sehr auf „restitutio"-Theorien und ihre eschatologischen Szenarien fixiert war 178 , die wie bei Braitmichel übrigens auch bei van Braght keine nennenswerte Rolle spielen179. Während das „Geschichtbuech" ein „schöner Spiegel" sein will: „sich darinnen zu besehen / vor aller zertrennung / Irthumb / vnd waz nit zu der Eer Gottes diennet / sich zu hüeten", indem es die Entstehung der „Gemain" in der Reformation als Entstehung gegen die Geschichte inszeniert, als radikale historische Zäsur, und auf diese Weise in ein sakrales Licht rückt 180 , setzt der „Martyrer= Spiegel" wie seine lutherischen und reformierten Vorgänger auf lückenlose heroische Sukzession. Dieser Tatbestand kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß der „Martyrer=Spiegel" keine Konstantinische Wende kennt, konkurrieren doch die Kirche Gottes und die Kirche Satans und ihre gegenläufigen Sukzessionsprinzipien in ihm nicht erst seit Konstantin miteinander, sondern „von Anfang an". Möglicherweise erklärt das auch, warum van Braght seinem Publikum die Reformation vorenthält. Denn im Unterschied zum „Geschichtbuech", das Luther und Zwingli als gescheiterte oder besser vielleicht als gefallene Propheten der „Gemain" braucht, kann der „Martyrer=Spiegel" auf sie 176
Ebd., S. 50f. Dipple, 'Yet, from time to time there were men who protested against these evils', S. 136. 178 Um nur zwei besonders auffällige Beispiele zu nennen: Hillerbrand, Anabaptism and History; sowie Yoder, Anabaptism and History. 179 Der zentrale Begriff der programmatischen Eingangsüberlegungen van Braghts ist „Succeßion"; den Begriff „restitutio" sucht man vergeblich. 180 Was nicht bedeutet, daß das „Geschichtbuech" die Täufer „außerhalb der Geschichte" auftreten läßt. - Zum Problem (oder besser wohl: zum Topos) der „Geschichtslosigkeit" der Täufer hier nur: Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre, S. 117 ff. 177
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verzichten - markieren sie aus seiner Perspektive doch nicht viel mehr als eine der vielen unerfreulichen Episoden im steten Kampf zwischen Licht und Schatten. Während das „Geschichtbuech" betont, daß der Geist Gottes im Laufe der Zeit nur wenigen zuteil wurde, so wenigen, daß die Konstruktion einer kontinuierlichen heroischen Genealogie kaum denkbar erscheint, legt der „Martyrer=Spiegel" den Eindruck nahe, daß die Zahl der Erleuchteten auch in schweren Zeiten groß genug gewesen ist, um eine wahre Sukzession zu gewährleisten. Er ähnelt auch darin seinen protestantischen Vorgängern, obwohl van Braght durchaus zu erkennen gibt, daß der spirituelle Standard vieler Märtyrer und Märtyrergruppen, die er präsentiert, zu wünschen übrig läßt, allen voran jener der Waldenser und Lollarden; das aber heißt auch: obwohl er weiß, daß der Status der Verbindlichkeit der Glieder seiner Sukzession variiert181. Die geschichtstheologische Reformstrategie des „Geschichtbuechs" akzentuiert die historische Exklusivität, jene des „Martyrer=Spiegels" die historische Kontinuität der Täuferbewegung. Beide berücksichtigen die Lebensbedingungen der Gruppen, die sie daran erinnern wollen, daß sie „Märtyrergemeinschaften" waren oder doch gewesen sein sollten. Sie reflektieren auf diese Weise nicht zuletzt auch den sozialen und kulturellen Assimilierungsgrad dieser Gruppen: das „Geschichtbuech" setzt auf Exklusivität - und kommt damit dem noch immer stark ausgeprägten Separatismus der Hutterer entgegen, der „Martyrer=Spiegel" auf Kontinuität - und stärkt damit das Bewußtsein für die Gefahren des schönen Scheins, ohne eine gesellschaftliche Partizipation der Mennoniten grundsätzlich auszuschließen.
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Zusammenfassend: Gregory, Salvation at Stake, S. 248 f.
6. Stumme Bücher. Auge und Herz Paradiese der Gewalt: die Märtyrerfresken von Santo Stefano Rotondo, San Apollinare und San Tommaso da Canterbury in Rom - das „archäologische Theater" der „libri muti" und die Wiederentdeckung heroischer Heiligkeit - die Kritik der Reformation - die „Krise der Kanonisation" und die Stagnation der Himmelsbevölkerung - „De invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum, et sacris imaginibus" - die „intercessio sanctorum" als Wesensmerkmal katholischer Heiligenverehrung - die Reanimierung der „alten" Heiligen - Verwandte, Freunde, Schüler und Jünger des Herrn - mystisch begabte Imitationsvirtuosen die Verehrungsinflation des heiligen Sebastian - Viten- und Historiensammlungen - Martyrologien - die Katakombenheiligen - das Martyrium als Erneuerung des Opfers Christi Euphorie des Kreuzes, Euphorie der Tradition - „Imitatio Romae" - der Export der Katakombenheiligen - die Konfessionalisierung und Militarisierung der nachtridentinischen Himmelsbevölkerung - Maria - „Bavaria sancta" - bayerische Märtyrerknaben, die als Opfer jüdischer Ritualmorde zu sakralen Ehren gekommen waren - die Märtyrerinnen und Märtyrer der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts - Kartäuser und Barfüßer - Missionare das Martyrologium des Jesuiten Matthias Tanner - handschriftliche Märtyrerverzeichnisse - „Litterae annuae " - Memoria und Kommunikation - die komplexe Dialektik von europäischer und außereuropäischer Mission - die Riten der Gewalt - Taufparodien und Abendmahlsscharaden - Martyrienkonkurrenz - die Märtyrer von Nagasaki - die Märtyrerinnen und Märtyrer, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Europa starben - Richard Verstegans „ Theatrum Crudelitatum Haereticorum " - Fidelis von Sigmaringen u. a. - Heiligsprechungen - die Attraktivität des Martyriums - Martyrienvisionen, Martyrienbitten, Martyrieneuphorien, Martyrienkampagnen - die römischen Märtyrerfresken und ihr anthropologischer Entstehungszusammenhang - Jerönimo Nadais „Evangelicae historiae imagines" - die „Exercitia spiritualia" - themengebundene asketische Meditationen - „innere Bilder" - „applicatio sensuum" - Sehen und Seele - die Märtyrerfresken als Katalysatoren gelenkter und kontrollierter Meditation - Seele und Herz - Memoria und Repräsentation - die Wiederentdeckung heroischer Heiligkeit als gegenreformatorischer Blut- und Opfer-Atavismus? - innerweltliche Aktivistinnen und Aktivisten: der jüngere Teil des nachtridentinischen Heiligenhimmels - Selbstdisziplin und Affektkontrolle - das „BilderbogenTheater" der Märtyrerfresken als Schule zweckrationaler Disziplinierung von Phantasie.
Im Sommer 1582 malten Niccolö Circignani, den man Pomarancio nannte, und Matteo da Siena 31 Fresken an die Wand des Ambulatoriums von Santo Stefano Rotondo auf dem Caelius in Rom, von denen 30 erhalten sind1. Jedes einzelne fast drei Meter hoch und über zwei Meter breit, führen sie das Sterben frühchristlicher Märtyrerinnen und Märtyrer vor Augen. Den Anfang macht Christus selbst, im Südosten der Kirche, deren Ursprünge bis ins 5. Jahrhundert zurückreichen2, gleich neben der Chorkapelle: unter dem Kreuz ein Säug-
1 Katalog mit ausführlich kommentierten Schwarzweißabbildungen aller Fresken und zahlreicher Freskendetails: Leif Holm Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo. Part One, in: Acta ad Archaeologiam et Artium Historiam Pertinentia, Bd. 2, Rom 1982, S. 175-317. 2 Richard Krautheimer und Spencer Corbett, S. Stefano Rotondo, in: Corpus Basiiicarum Christianarum Romae. The Early Christian Basilicas of Rome (IV-IX Cent.), Bd. 4, hg. v.
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ling, ein betendes Kind und, flankiert von Petras und Paulus, eine Heiligengrappe, Märtyrerinnen und Märtyrer vor allem, die zu Christus aufblicken und dem Sterbenden mehr oder weniger diskret ihre Blutkränze zeigen, in der Gruppe wohl Stephanus, Laurentius und die heilige Ursula, ein Papst, vielleicht Gregor der Große3; über dem Fresko der Hymnentitel „Rex gloriose martyrum", auf dem Kreuz selbst die Worte „Tu vincis in martir"; unter dem Fresko die erste Strophe der Hymne, Jesaja 53, 11: „Si posuerit pro peccato animam suam videbit semen longevum pro eo quod laboravit anima eius videbit et saturabitur ideo dispertiam ei plurimos et fortium dividet spolia"4. Stephanus schließt sich an. Petras und Paulus setzen den Todesreigen nach Süden hin fort. Hunderte, ja, Tausende folgen, am Ende schließlich, zumindest ursprünglich, denn es ist das Schlußfresko, das nicht mehr erhalten ist, im Nordosten - Polykarp von Smyrna, die ansonsten soweit möglich strenge Chronologie des vierhundert Jahre umfassenden Zyklus ignorierend5. Alpträume erscheinen da, Panoramen „of horror and butchery", wie Charles Dickens einmal notierte6, die von fahlen Gelb-, Grün-, Grau- und Brauntönen dominiert werden. Ruinenlandschaften sind das, in denen römisch, zumeist soldatisch gewandete Henker konzentriert und zupackend, gewissenhaft, um nicht zu sagen penibel, vor allem aber vollständig emotionslos, kurz, professionell ihre Arbeit verrichten, indem sie ihre Opfer kreuzigen und kochen, steinigen, rösten und lebendig begraben, zertreten, zerschießen, zerstoßen, zerhacken,
Richard Krautheimer u.a., Cittä del Vaticano 1970, S. 199-242; Richard Krautheimer, Rom. Schicksal einer Stadt 312-1308, München 2 1996, S. 64 f. 3 Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo I, S. 179. 4 Zur weiteren Ausstattung von Santo Stefano Rotondo - zur „Strage degli Innocenti" von Antonio Tempesta zum Beispiel - hier nur: ders., Antonio Tempesta in Santo Stefano Rotondo, in: Bollettino d'Arte 14 (1982), S. 107-120; vgl. darüber hinaus Caecilia DavisWeyer, Das Apsismosaik von S. Stefano Rotondo in Rom, in: Jahrbuch des Vereins für christliche Kunst in München e.V. 17 (1988) (Kirchen am Lebensweg. Festgabe zum 60. Geburtstag und zum 20. Bischofsjubiläum von Friedrich Kardinal Wetter), S. 385-408; sowie zusammenfassend: Peter B. Steiner, Santo Stefano Rotondo auf dem Caelius in Rom, Bozen 1991. 5
Polykarp starb bereits 158 oder 168/169. - Ausführlich zum Schlußfresko, dessen Zerstörungszeitpunkt wohl nicht mehr zu rekonstruieren ist, dessen Sujet aber - u. a. aufgrund einer zeitgenössischen Kupferstichreproduktion des Zyklus, auf die noch genauer einzugehen sein wird - außer Frage steht: Leif Holm Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo. Part Two, in: Acta ad Archaeologiam et Artium Historiam Pertinentia, Bd. 3, Rom 1983, S. 11-106, hier S. 21 ff. 6 „... St. Stefano Rotondo ... will always struggle uppermost in my mind, by reason of the hideous paintings with which its walls are covered. These represent the martyrdoms of saints and early Christians; and such a panorama of horror and butchery no man could imagine in his sleep, though he were to eat a whole pig, raw, for supper." Pictures from Italy, London 1846, S. 195. Hinweis: Herwarth Röttgen, Zeitgeschichtliche Bildprogramme der katholischen Restauration unter Gregor XIII. 1572-1585, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst (Dritte Folge) 26 (1975), S. 89-122, hier S. 106.
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von wilden Tieren aller Art zerfleischen lassen, zersägen, zerschneiden, zerstückeln, zerquetschen, zertrennen. Leichenberge sind zu sehen, Rauchschwaden, Massengräber - und überall, wo gemartert und getötet wird, Buchstaben, die über eine Bildlegende, die sowohl lateinisch als auch italienisch verfaßt ist, die rasche Identifizierung der Martyrien ermöglichen sollen7. Im Vordergrund stirbt fast lebensgroß die nimbusbekrönte heroische Prominenz, die wie das Personal der Henkersknechte durchgängig spätantik gekleidet ist: Stephanus, Petrus, auf demselben Fresko wie Petrus auch Paulus (etwas entfernter allerdings), Johannes der Evangelist, Ignatius von Antiochien, Felicitas und ihre sieben Söhne, Blandina, Felicitas und Perpetua, Papst Calixtus I., Caecilia, Agatha, Apollonia, Laurentius, Agnes, Vitus, Sebastian, Katharina, Bibiana, Artemius und viele mehr. Im Mittel- und Hintergrund dann, oft kaum noch sichtbar, lassen die weniger prominenten Athletinnen und Athleten Christi ihr Leben, auch sie nimbusbekrönt und in römischem Habit, darunter mancher Bischof und Papst, die unzähligen namenlosen vor allem, die Vierzig Soldaten-Märtyrer von Sebaste zum Beispiel oder die 11000 Gefährtinnen der heiligen Ursula8. Wo die Gesichter, wo die Blicke der Opfer erkennbar sind, und im Falle der Prominenz sind sie das fast immer, signalisieren sie gelassene Ruhe, die weder heiter noch ernst zu sein scheint und ganz gewiß nur jenseits menschlicher Schmerzerfahrung entstehen konnte. Fast durchgängig strahlen sie Zufriedenheit aus, die in einigen Fällen geradezu apathische Züge angenommen hat; hier und da auch milde, demütige Verwunderung; und obwohl sich kein Lichtstrahl zeigt, obwohl sich der Himmel über den Marterlandschaften - über diesen schauerlichen Paradiesen - nicht öffnet, nur ganz selten Verzweiflung, nie Zorn9. Michele Lauretano scheint zufrieden gewesen zu sein. Jedenfalls ließ der Rektor des „Collegium Germanicum" und Auftraggeber des Märtyrerreigens in Santo Stefano Rotondo noch im selben Jahr auch San Apollinare von Niccolo Circignani und Matteo da Siena mit einem Zyklus ausmalen, der das Leben, vor allem aber das gewaltsame Sterben des Titelheiligen vor Augen führte 10 , so daß innerhalb weniger Monate beide Kirchen eines Kollegiums heroisch aufgerüstet wurden, das seit 1552 als Ausbildungsstätte für Priester-
7
Dazu an dieser Stelle nur Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo II, S. 78 ff. 8 Einen raschen Überblick ermöglicht: ders., The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo I, S. 311-314: „List of Martyrs Appearing in the Frescoes". 9 Vgl. dazu auch Volker Reinhardt, Rom. Kunst und Geschichte 1480-1650, Freiburg i.Br. und Würzburg 1992, S. 164 - und allgemeiner: Sofsky, Traktat über die Gewalt, S. 68 f. (mit Anm. 3). 10 Zusammenfassend: Alexandra Herz, Imitators of Christ: The Martyr-Cycles of Late Sixteenth Century Rome Seen in Conetxt, in: Storia dell'arte 62 (1988), S. 53-70, hier S. 53 und passim.
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Abb. 51-52 Zwei vergleichsweise gut erhaltene Fresken des Märtyrerzyklus in Santo Stefano Rotondo, die Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo I, auf S. 246 und S. 291 abgebildet hat.
Abb. 51
Fresko 17: im Vordergrund Laurentius.
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Abb. 52 Fresko 28: im Vordergrund von unten Johannes, Paulus und Bibiana, zwischen den Steinen - Artemius.
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kandidaten aus dem Deutschen Reich fungierte11 und wie fast alle Ausländerseminare in Rom den Jesuiten unterstellt war12. Obwohl die Fresken von San Apollinare seit spätestens 1763 nicht mehr erhalten sind13, legt eine Kupferstichserie des Apollinaris-Zyklus von Giovanni Battista de' Cavallieri, die 1586 in Rom erschien14, die Vermutung nahe, daß sie den Bildern in Santo Stefano Rotondo in Dramaturgie und Pädagogik durchaus nahe gekommen sind, die übrigens auch schon früh als Kupferstichserien des bereits genannten Cavallieri kursierten: seit 1585 als „Ecclesiae militantis triumphi"15 und seit 1587 auch als „Triumphus martyrum"16, in mehreren neuen Auflagen 17 und unveränderten Nachdrucken18. Michele Lauretano scheint wieder zufrieden gewesen zu sein, obwohl aus seinem Tagebuch unmißverständlich hervorgeht, daß er sehr genau um die ästhetischen Schwächen der Fresken in beiden Kirchen wußte; heißt es doch in einem Eintrag vom November 1582, daß man die neue „pittura" in Santo Stefano Rotondo und San Apollinare lediglich „mediocramente bella" nennen könne. Gleichzeitig aber betont Lauretano, daß er eine mehr als nur mittelmäßig schöne Märtyrerszenerie in seinen Kirchen auch gar nicht im Sinn gehabt habe. Entscheidend sei vielmehr, daß sich die „pittura" „molto divota" präsentiere, was nicht zuletzt daran erkannt werden könne, daß „molti non la possono
11 Grundlegend: Peter Schmidt, Das Collegium Germanicum in Rom und die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars (1552-1914), Tübingen 1984. - Seit 1580 war das „Collegium Germanicum" mit dem „Collegium Hungaricum" vereinigt. 12 Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 9: Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und Restauration: Gregor XIII. (1572-1585), Freiburg i.Br. 1923, S. 170-188 („III. Förderung des Jesuitenordens und des katholischen Unterrichtswesens. Die päpstlichen Kollegien in und außerhalb Roms"). 13 Röttgen, Zeitgeschichtliche Bildprogramme, S. 110 (mit Anm. 83). 14 BEATI APOLLINARIS MARTYRIS PRIMI RAVENNATUM EPI(SCOPI) RES GESTAE ..., bei Bartolomeo Grassi. - Das Exemplar, das im Rahmen dieser Untersuchung eingesehen wurde, ist als zweiter Beiband in Julius Roscius' (Giulio Rossis da Orte) „ICONES OPERUM MISERICORDIAE ..." (Rom: Bartholomäus Grassi 1586) eingebunden und befindet sich in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 2° Th Pr 194a. 15 Wieder Rom: Bartolomeo Grassi - eingesehen ebd. als dritter Beiband sowie als erster Beiband in den „COLUMNS MILITANTIS ECCLESIAE ..." (Nürnberg: Christoph Weigel Witwe 1725), hier allerdings beschnitten. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 2° Th L 17. 16 Rom: Alexander Gardanus und Franciscus Coattinus - mit Gedichten von Giulio Rossi da Orte. 17 Der „Triumphus martyrum" zum Beispiel ebd. bereits wieder 1589. Microfiche-Edition: Bibliotheca Palatina, München 1992, F 5276. - Weitere Beispiele: Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo II, S. 22 f. (mit Anm. 25). 18 So etwa in den 1773 von Angelo de Gabrieli in Rom herausgegebenen „Sacrarum Vaticanae Basilicae Cryptarum monumenta". Bayerische Staatsbibliothek München, Res. 2° H. eccl. 119.
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vedere senza lagrime, et moti spirituali"19. Eine Beobachtung, die möglicherweise auch George Gilbert gemacht hatte, der Rektor des englischen Jesuitenkollegs in Rom, das 1579 gegründet worden war 20 . Denn schon ein Jahr nach der Arbeit an den Fresken in Santo Stefano Rotondo und San Apollinare malte Niccolo Circignani - ob mit oder ohne seinen bewährten Assistenten Matteo da Siena, ist nicht mehr zu entscheiden - in der Kollegkirche San Tommaso da Canterbury einen weiteren Märtyrerzyklus, der 36 Fresken mit einigen Dutzend vorwiegend insularen Blutzeuginnen und Blutzeugen von der frühen Missionszeit über Thomas Beckett und Thomas Moore bis in die unmittelbare blutige elisabethanische Gegenwart umfaßte, bis zu jenen Jesuiten nämlich, die eben erst, 1581,1582 und 1583, hingerichtet worden waren, als prominentester Edmund Campion21, als letzter Richard Thirkeld22. Ja, der Zyklus ging in seinem letzten Fresko sogar noch über diese Gegenwart hinaus; zeigte das Bild doch den Jesuitenförderer und Kalenderreformer Gregor XIII. (1572-1585), wie er, vor dem Hauptaltar von San Tommaso kniend, Christus darum bittet, die todesmutigen englischen Zöglinge zu stärken, die ihn, ebenfalls kniend, unverhohlen erwartungsfroh umgeben, „ut, quos in Angliam ad fidei defensionem mittit, adversus hostium insidias, atque tormenta divina virtute confirmet: qua freti iam aliquot pro Catholica Romana ecclesia fortiter occubuerunt", wie es in der Bildunterschrift hieß23. Wie die Fresken von San Apollinare, sind auch jene von San Tommaso da Canterbury nicht mehr erhalten. Sie wurden 1834 mit dem Abbruch der Kirche zerstört. Doch liegt auch in ihrem Fall eine Kupferstichserie von Giovanni Battista de' Cavallieri vor, die als „Ecclesiae anglicanae trophaea" 1584 in Rom erschien24. Wenn am Anfang dieses Kapitels - der ersten von zwei Annäherungen an die katholische Martyrienkultur - römische Märtyrerzyklen des späten 16. Jahrhunderts stehen, dann ist das sehr viel weniger willkürlich, als es auf 19 Der „Diario" Michele Lauretanos, der dem Kolleg von 1573 bis 1587 vorstand, befindet sich im Archivio del Collegio Germanico-Ungarico in Rom: MS, Hist. 103. - Zitat: S. 49. Am Rande nur: Sixtus V. (1585-1590) soll 1589 während eines Besuchs von Santo Stefano Rotondo vor den Märtyrerfresken in Tränen ausgebrochen sein, von Pastor, Geschichte der Päpste, Bd. 10: Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und Restauration: Sixtus V., Urban VII., Gregor XIV. und Innozenz IX (1585-1591), Freiburg i.Br. 1926, S. 45(mitAnm. 2). 20 von Pastor, Geschichte der Päpste 9, S. 278 ff. 21 Am 1. Dezember 1581. - Zu Campion immer noch lesenswert: ebd., S. 284ff. 22 Am 29. Mai 1583. (Beide wurden 1886 seliggesprochen.) - Einen Überblick über alle Märtyrerinnen und Märtyrer des Zyklus von San Tommaso da Canterbury bietet: Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo II, S. 105 f. 23 Allgemein zum „Collegio Inglese": Μ. E. Williams, The Venerable English College Rome. A History, 1579-1979, London 1979. 24 ECCLESIAE ANGLICANAE TROPILEA Siue Sanctor(um) Martyrum, qui pro CHRISTO Catholicaeq(ue) fidei Veritate asserenda,..., mortem in Anglia subierunt, PASSIONES ..., bei Bartolomeo Grassi. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 2° Th Pr 194a (erster Beibd.) und 2° Th L 17 (zweiter Beibd.).
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II j Abb. 53 Der zwölfte Kupferstich der Serie des Apollinaris-Zyklus von Giovanni Battista de' Cavallieri nach den verlorenen Fresken von San Apollinare.
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Abb. 54 Der erste Kupferstich der Serie „Ecclesiae militantis triumphi" von Giovanni Battista de' Cavallieri nach dem ersten Fresko des Märtyrerzyklus in Santo Stefano Rotondo.
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DECIO V A L E R I A N O » E T G ALIEN Ο · IMPP · in cratica la amburitur. Β ' H Y P P O t I T V S inJornifü- eü ruft Cnämiutt ι/ίΛ 'ien auf no.rtn rj/tWUl: VrtJrlitis". Wortfsetr-artr OS hi Jecut/sc tuos Abb. 60 Der Fund von sechs Kinderleichen in Regensburg löste vor dem Hintergrund des Ritualmordvorwurfs in Trient den großen Judenprozeß von 1476 aus, der schließlich 1480 auf Betreiben Kaiser Friedrichs III. niedergeschlagen wurde. Die Gebeine der sechs Kinder wurden bis zur endgültigen Vertreibung der Juden aus Regensburg 1519 im Rathaus verwahrt und danach in der zu einer Marienkapelle umgebauten Synagoge zur öffentlichen Verehrung ausgestellt. Der Kupferstich stammt von Raphael Sadeler dem Jüngeren, dem Sohn des bisherigen gleichnamigen Stechers und Verlegers, und ist dem dritten Band der Dillinger Ausgabe der „Bavaria saneta" von 1704 entnommen: Bayerische Staatsbibliothek München, Res. 2° Bavar. 700 3.4, S. 175, in die er wie im Falle der vorangegangenen Abbildung unverändert aus der Münchner Erstausgabe gelangt war. Ausführlich zum Prozeß in Trient: Ronnie Po-chia Hsia, Trent 1475. Stories of a Ritual Murder Trial, New Haven 1992 (deutsch: Trient 1475. Geschichte eines Ritualmordprozesses, Frankfurt a. Μ. 1997).
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FVER.M.
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Rma ei moia S. futri ei M- Mckailti frMäl" ei ßmesiris in Httünginß f t f p Λ hbeis cnubtyvnt ßcatmjuaS ti UtrfcStmma-jm^nyriietu auf* Munt. Abb. 61 Die Abbildung zeigt den nach Aussage Raders neunfach verkleinerten authentischen Leichnam des erst 42 Monate alten Michael, der angeblich 1540 in Sappenfeld bei Eichstätt von Juden ermordet worden war. Rader hatte den Fall schon im dritten Band seiner „Bavaria sancta" dokumentiert und das qualvolle Sterben des „S. Puer" in Kupfer stechen lassen (in der Dillinger Ausgabe S. 179). Wenn er den Fall in seinem Ergänzungsband „Bavaria pia" von 1628 noch einmal aufgreift, ja, den Band sogar mit dem Kupferstich des toten Kindes beschließt, dann möglicherweise vor allem deshalb, weil eine Untersuchung ergeben hatte, daß die Juden zu Unrecht beschuldigt worden waren. Der Kupferstich stammt wieder von Raphael Sadeler dem Jüngeren und ist dem Ergänzungsband der Dillinger Ausgabe der „Bavaria pia" von 1704 entnommen: Bayerische Staatsbibliothek München, Res. 2° Bavar. 700 3.4, S. 189, in die auch er unverändert aus der Münchner Erstausgabe gelangt war.
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Abb. 62 Das abgebildete Gemälde des spanischen Kartäusers Juan Sanchez Cotän ( t 1627) zeigt das Martyrium der acht bereits mehrfach erwähnten Kartäuser, die Heinrich VIII. 1535 hatte hinrichten lassen - und die anfänglich hagiographisch zu kurz gekommen waren. Es entstand um 1615 und beschließt einen Leidenszyklus von insgesamt vier Bildern. Es hing und hängt im Refektorium der Kartause von Granada und läßt vermuten, daß Sanchez Cotän die Kupferstichserien Giovanni Battista de' Cavallieris kannte. Emilie Orozco Diaz, La Cartuja de Granada, Madrid u.a. 1994, S. 9, 13f., 27ff. Zu Sanchez Cotän: A. L. Mayer, Sanchez Cotän, Juan, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Von der Antike bis zur Gegenwart, begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, hg. v. Hans Vollmer, Bd. 29, München 1992 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1935), S. 385. - Vgl. darüber hinaus eine Darstellung in der Kartause von Villeneuve: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Rom u.a. 1974, Sp. 582.
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y Javiers Antonio Criminali in Vedälai in Südindien 1 5 4 9 1 1 2 allein 238 Jesuitenpatres ihr Leben außerhalb Europas: 68 in Afrika, 120 in Asien und 5 0 in Amerika 1 1 3 . In Europa selbst starben dagegen lediglich 68, vorwiegend im elisabethanischen England 1 1 4 . Andere Jesuiten-Martyrologien des 17. Jahrhunderts bestätigen diese Zahlen alles in allem und dokumentieren zugleich eine fast möchte man sagen: vitale - Martyrienkultur, die kein anderer Orden so gewissenhaft pflegte wie die Jesuiten 1 1 5 . S o lassen sich zum Beispiel handschriftliche Märtyrerverzeichnisse nachweisen, die so konzipiert sind, daß jeder Tag des Jahres eine Rubrik eröffnet, die genügend Platz läßt, um ganze Märtyrerheere aufzunehmen, jedenfalls auf deutlichen Zuwachs hin angelegt ist 1 1 6 . Gleichzeitig zeigen die Jahresberichte der Ordensprovinzen an den General in Rom, die „Litterae annuae" 1 1 7 , die von
violentä morte toto Orbe sublati sunt... (Johann Nikolaus Hampel). (Benutzt wurde das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München: 2° V.ss.c. 136.) 112 Hubert Becher, Criminali, Antonio, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Freiburg i.Br. 2 1959, Sp. 95. 113 Ausführlicher zu einigen dieser Toten und den politischen, sozialen und kulturellen Hintergründen ihrer Martyrien an dieser Stelle nur: Dauril Alden, The Making of an Enterprise. The Society of Jesus in Portugal, Its Empire, and Beyond 1540-1750, Stanford 1996; Thomas M. Cohen, The Fire of Tongues. Antonio Vieira and the Missionary Church in Brazil and Portugal, Stanford 1998; Philippe Denis, The Dominican Friars in Southern Africa. A Social History (1577-1990), Leiden u.a. 1998 (jeweils passim). - Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lambert Claßen, P. Heinrich Ruhen S.J. 1718-1751. Ein Indianermissionar aus dem Stift Hildesheim, in: Unsere Diözese in Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift des Vereins für Heimatkunde im Bistum Hildesheim 28 (1959), S. 82-86; Francis-X. Kyewalyanga, Vom historischen Glaubenszeugen zum verehrten Heiligen: Dargestellt am Beispiel der heiligen Märtyrer von Uganda, in: Heilige in Geschichte, Legende, Kult, S. 109124; William J. O'Malley, The Voice of Blood. Five Christian Martyrs of Our Time, Maryknoll/New York 1980. 114 Eine (wie es scheint) vollständige Namensliste der englischen Märtyrer bietet der Konvertit Richard Verstegan (Richard Rowlands) in seinem 1587 in Antwerpen erschienenen „Theatrum Crudelitatum Haereticorum nostri temporis", das auch in einer ausführlich kommentierten französischen Übersetzung vorliegt: Theatre des cruautes des heretiques de notre temps de Richard Verstegan, hg. und kommentiert v. Frank Lestringant, Paris 1995, hier S. 142. 115 Eine umfassende Annäherung an die Martyrienkultur der Jesuiten fehlt allerdings bislang. - Nur am Rande sei erwähnt, daß die Jesuiten in der zeitgenössischen protestantischen Hagiographie immer wieder auch als besonders perfide Verleumder lutherischer oder calvinistischer Märtyrer erscheinen - so etwa in den 1567 in Heidelberg gedruckten „Sanctae Inquisitionis Hispanicae Artes aliqot detectae ..." des spanischen Konvertiten Reginaldus Gonsalvius Montanus. Bernard A. Vermaseren, Who Was Reginaldus Gonsalvius Montanus?, in: BHR 47 (1985), S. 47-77. Eine deutsche Übersetzung erschien 1569 - ebenfalls in Heidelberg: Jnquisition / etliche entdeckte / vnd öffentliche an tag gebrachte ränck vnd Practicken. - Dazü aus jesuitischer Perspektive: Bernhard Duhr, Jesuiten-Fabeln. Ein Beitrag zur Culturgeschichte, Freiburg i.Br. 3 1899, S. 464ff. 116 Vgl. Abb. 67 und 68. 117 Beispiele: Ronnie Po-chia Hsia, Mission und Konfessionalisierung in Übersee, in: Die katholische Konfessionalisierung, S. 158-165.
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Rom aus wiederum an alle Provinzen verschickt und von dort aus an die jeweiligen Niederlassungen weitergegeben wurden118, und die durchaus auch publikumswirksam redigiert und veröffentlicht werden konnten119, wie stark und nachhaltig das Leiden und Sterben der Mitbrüder in Übersee die Kommunikation innerhalb des Ordens prägte, seine Memoria intensivierte, zeitweilig wohl sogar bestimmte, die tägliche Arbeit begleitete und nicht zuletzt auch die Pädagogik und Spiritualität des Ordens beeinflußte120. Ein Blick in weniger institutionalisierte und disziplinierte Jesuitenkorrespondenzen bestätigt diesen Befund 121 . Die neuen Märtyrer eroberten die Jesuitenbühnen122 und avancierten nach und nach zu regelrechten Modellen aktiven Glaubenskampfes, die in aller Deutlichkeit die komplexe Dialektik von europäischer und außereuropäischer Mission vor Augen führen123. Denn nicht nur, daß sie das Martyrium in Über118 Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 1: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im XVI. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1907, S. 674ff.; Steven J. Harris, Confession-Building, Long-Distance Networks, and the Organization of Jesuit Science, in: Early Science and Medicine 1 (1996), S. 287-318; ders., Mapping Jesuit Science: The Role of Travel in the Geography of Knowledge, in: The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts 1540-1773, hg. v. John W. O'Malley u.a., Toronto u.a. 2 2000, S. 212-240. 119 Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 2: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, T. 2, Freiburg i.Br. 1913, S. 358f.; Fred G. Rausch, Die gedruckten Litterae Annuae Societatis Jesu 1581-1584, in: Jahrbuch für Volkskunde 20 (1997), S. 195-210. 120 Joseph de Guibert, La spiritualite de la Compagnie de Jesus. Esquisse historique, Rom 1953, S. 175 ff. und passim. 121 Vgl. zum Beispiel die Berichte über Jesuiten-Martyrien im Bestand „Missionen" des Hildesheimer Kollegs. Bistumsarchiv Hildesheim, Κ II, hier insbesondere Nr. 414 (Martyrium der drei belgischen Jesuiten „Joh. Bodens", „Gerh. Pasman" und „Phil. Nottyn" in Utrecht 1638) (dazu auch Tanner, SOCIETAS JESU, S. 109-112, „Joannes Battista Boddens", „Gerardus Paesman" und „Philippus Nottin") und Nr. 457 (Martyrium der fünf Jesuiten „Antonius Rubinus", „Albertus Miciski", „Diego de Morales", „Antonius Capeci" und „Franciscus Marches" in Nagasaki 1643) (Tanner, SOCIETAS JESU, S. 4 1 2 ^ 2 2 , „Antonius Rubinus, cum quatuor Socijs"). - Zu den Jesuiten in Hildesheim: Stillig, Jesuiten, Ketzer und Konvertiten in Niedersachsen. 122 Vgl. Kapitel 7 der vorliegenden Untersuchung. 123 Pointiert zu dieser Dialektik, allerdings ohne den Aspekt der Konfessionalisierung der Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster des „Anderen" zu berücksichtigen: Po-chia Hsia, Mission und Konfessionalisierung in Übersee, S. 158. - Vgl. in diesem Kontext auch Wolfgang Reinhard, Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem, in: HZ 223 (1976), S. 529-590. - Es ist bezeichnend, daß die Jesuiten in Süditalien die armen und zumindest in ihren Augen noch kaum christianisierten Landesteile „otras Indias" nannten: Adriano Prosperi, "Otras Indias": Missionari della Controriforma tra contadini e selvaggi, in: Science, credenze occulte, livelli di cultura. Convegno Internazionale di Studi (Firenze, 26-30 giugno 1980), Florenz 1982, S. 205-234. - Zur Verwandlung des Königreichs Neapel von einer sakralen Provinz in ein Musterland nachtridentinischer Frömmigkeit: Sallmann, Naples et ses saints ä l'äge baroque.
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see zur exklusiven heroischen Chiffre wahrheitsverbürgender göttlicher Gnade werden ließen, indem sie sich so verhielten, wie man das von potentiellen Heiligen erwarten durfte: predigend, betend, singend, verzeihend und schließlich in den Himmel blickend, was unabhängig von den jeweiligen konkreten Missionserfolgen eine „imitatio" in Europa nahe legte 124 . Sie gingen darüber hinaus auch oft genug in einen Tod, der am Ende von Riten extremer physischer Gewalt stand, die zumindest auf den zweiten Blick gar nicht so weit von ihren europäischen konfessionellen Pendants entfernt zu sein scheinen, von tödlichen Taufparodien bis hin zu ebenso tödlichen Abendmahlsscharaden125, und die damit ihre indigenen Urheber, also etwa die besonders kriegstüchtigen und folterversierten Irokesen, als ebenso exotische wie perfide Brüder der protestantischen Häretiker in Europa entlarven126. Daß die überseeischen Martyrien zudem immer auch dokumentieren, was man etwas euphemistisch, aber durchaus zu Recht „Kulturkontakt" nennen könnte 127 , oder besser vielleicht mit Urs Bitterli „Kulturzusammenstoß"128, ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster jedenfalls, tut dieser Beobachtung keinen Abbruch129. Hinzu kam, daß die neuen Märtyrer als überdurchschnittlich askesewillige und leidensbereite Seelenfischer großen Stils in besonderer Weise dazu geeignet waren, die himmlische und weltliche Reputation ihrer Orden zu erhöhen, was einen regelrechten Martyriendruck, ja, eine Martyrienkonkurrenz er124
Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode, S. 82 f. Zum Fundus der Riten konfessioneller Gewalt in Europa, vor allem in Frankreich: Davis, The Rites of Violence; Crouzet, Les guerriers de Dieu (jeweils passim). 126 Vgl. exemplarisch das Martyrium der beiden Jesuitenpater Jean de Breboeuf und Gabriel L'Alemant am 16. März 1649 in Französisch-Nordamerika, das im folgenden Abb. 69 und 70 sowie der dort einleitend paraphrasierte Bericht eines Laienbruders dokumentieren. 127 So Wolfgang Reinhard, Rothäute und Schwarzröcke - Kulturkontakt in der kanadischen Jesuitenmission des 17. Jahrhunderts, in: Geschichte und Kulturen. Münstersche Zeitschrift zur Geschichte und Entwicklung der Dritten Welt 4 (1992), S. 25-39. 128 Urs Bitterli, Alte Welt - Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 17ff.; ders., Die „Wilden" und die „Zivilisierten". Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 2 1991, S. 130ff. 129 Denn es steht außer Frage, daß das, was die Irokesen praktizierten, als sie Jean de Breboeuf und Gabriel L'Alemant zu Tode marterten, ein religiöses Ritual war, dessen sozialer und kultureller Sinn darin lag, dem Heil der eigenen Gemeinschaft zu dienen, indem es ihren Mitgliedern erlaubte, an der Tapferkeit des Feindes teilzuhaben, also: je standhafter das Opfer desto besser. Auf der anderen Seite aber hatte auch die akribische Dokumentation des Martyriums ihren Sinn, diente sie doch sowohl der Erbauung der Jesuiten und ihrer Förderer in Frankreich als auch der Heiligsprechung, die im Falle von Brebceuf, L'Alemant und anderen Jesuiten-Märtyrern in Französisch-Nordamerika allerdings bis 1930 auf sich warten ließ, und damit der himmlischen Reputation des Ordens, also: je findiger die Folterer desto besser. - Vgl. Otto Emil Meyer, Die kanadischen Märtyrer, Freiburg i. Br. 1935; Norbert M. Borengässer, Brebeuf, Jean de, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 3 1994, Sp. 666 f.; dens., Kanadische Märtyrer, in: ebd., Bd. 5, 3 1996, Sp. 1175 f. 125
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zeugte, wie nicht nur an barocken Kirchenhimmeln 130 , sondern auch an einschlägigen publizistischen Kampagnen zu beobachten ist 131 . Um wieder nur ein Beispiel zu nennen: Als 1627 die 26 Glaubenshelden selig gesprochen wurden, die 1597 in Nagasaki gekreuzigt worden waren, weil sie das Predigtverbot des Großkanzlers Toyotomi Hideyoshi mißachtet hatten 132 , sechs spanische Franziskaner, drei japanische Jesuiten und siebzehn japanische Laien, begannen noch im selben Jahr europaweit Flugblätter mit einer Radierung Jacques Callots zu kursieren, die lediglich 23 - durchgängig unzweifelhaft als Franziskaner zu identifizierende - Märtyrer am Kreuz präsentierten 133 . Ein Jahr später konterten die Jesuiten mit einem in Augsburg entstandenen Flugblatt, das zwar alle Märtyrer zeigte und sogar namentlich nannte, die drei japanischen Jesuiten Jacobus Kisai, Johannes Goto und Paulus Miki aber derart in den Vordergrund rückte, daß alle anderen mehr oder weniger zu Statisten degradiert wurden 134 . Nur konsequent, wenn die drei Glaubenshelden in Matthias Tanners Martyrologium schließlich ganz ohne franziskanische Konkurrenz erschienen 135 , was auch für ein 1754 entstandenes Deckenbild Christoph Thomas Schefflers über dem Novizenchor der Heilig-Kreuz-Kirche in Landsberg am Lech gilt, die als Kollegienkirche fungierte und damit auch für das dortige Missionsnoviziat der Jesuiten zuständig war 136 . Angesichts des Umfangs der heroischen Invasion aus Übersee nimmt sich die Zahl der katholischen Glaubensheldinnen und -helden, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nach und nach in Europa ihr Leben ließen und den Sprung in die Martyrologien oder andere kirchlich kontrollierte Medien kollektiver Erinne-
130 Eine Fülle von Beispielen enthält das „Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland", die der Verfasser in einer eigenen Untersuchung vorstellen will: Hermann Bauer und Bernhard Rupprecht, Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland, 6 Bde., München 1976-1998. - Vgl. auch Bernd Wolfgang Lindemann, Bilder vom Himmel. Studien zur Dekkenmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts, Worms 1994, S. 50ff.; und Hermann Bauer, Barocke Deckenmalerei in Süddeutschland, München und Berlin 2000, etwa S. 148. - Paradigmatisch zum barocken Kirchenhimmel als Ordenshimmel: Conrad Wiedemann, Himmelsbilder des Barock, insbesondere S. 258 ff. 131 Kampagnen, die allerdings nie den Umfang und die Komplexität jenes Werbefeldzugs erreichten, an dessen Ende 1622 die Kanonisation Ignacios de Loyola stand. Grundlegend dazu: Ursula König-Nordhoff, Ignatius von Loyola. Studien zur Entwicklung einer neuen Heiligen-Ikonographie im Rahmen einer Kanonisationskampagne um 1600, Berlin 1982. 132 Johannes Laures, Takayama Ukon und die Anfänge der Kirche in Japan, Münster 1954, S. 257ff. - Vgl. auch Georg Patiß, Märtyrer der Gesellschaft Jesu in Japan, welche in den Jahren 1617 bis 1632 für den heiligen Glauben das Leben geopfert, und am 7. Mai 1867 von Papst Pius IX. feierlich selig gesprochen worden sind, Wien 2 1868; Stephen Turnbull, The Veneration of the Martyrs of Ikitsuki (1609-1645) by the Japanese 'Hidden Christians', in: Martyrs and Martyrologies, S. 295-310. '33 Abb. 71. '34 Abb. 72. 135 Abb. 74. '36 Abb. 75.
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Abb. 63-66 Die folgenden vier Abbildungen stammen aus dem bereits erwähnten 1675 in Prag erschienenen Martyrologium des Jesuiten Matthias Tanner, das mit den Märtyrern der „SOCIETAS JESU EUROP/EA" in chronologischer Reihenfolge einsetzt, dann jene jesuitischen Glaubenshelden folgen läßt, die in Afrika den Tod fanden, darauf die Brüder, die das Martyrium in Asien erlitten, und schließlich die Schicksalsgenossen der „SOCIETAS JESU AMERICANA". Die Reihenfolge der Abbildungen folgt dieser Anordnung.
Abb. 63 „Societas IESU usque ad sanguinis et vitae profusionem pro DEO, et Christiana Religione militans, in omnib(us) Mundi partibus fortitudinis suae trophaea erigit." Frontispiz des Gesamtmartyrologiums.
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Socij35>. P .
IGNATII
AZEVEDII.
c. Sent3- dd Abb. 64 Die „40 Brasilianischen Märtyrer": Inäcio de Azevedo, der Visitator von Brasilien und Gründer des Kollegs von Rio de Janeiro, wurde 1570 auf der Fahrt von Portugal nach Brasilien zusammen mit 39 Mitbrüdern vor den Kanarischen Inseln von französischen Korsaren überfallen und ins Meer geworfen. Er wurde 1854 selig gesprochen. Tanner, SOCIETAS JESU, S. 170-174, Abbildung S. 171. - Vgl. zu diesem Martyrium auch einen anonymen, um 1730 in Augsburg entstandenen Kupferstich, den Λ Wen, The Making of an Enterprise, als Frontispiz abgedruckt hat. - Zu Inäcio de Azevedo hier nur: Michael Sievernich, Azevedo, Inäcio de, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg i.Br. u.a. 3 1993, Sp. 1325-1326.
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P. R u d o l p h t u A j u a u m a ItalusOucif AWict füius Sac: JESU, cum hör Sanjs.jrafi'de Chrish in In Jul crudeliter enecluj A ι/f? irC-Screhi
del.
^MelchiorK^ii
Abb. 65 Rudolf Aquaviva fand mit vier weiteren Jesuiten und einigen christlichen Laien 1583 in Cuncolim auf Salsette (Goa) den Tod. Er wurde 1893 selig gesprochen. Tanner, SOCIETAS JESU, S. 238-250, Abbildung S. 239. - Zu Aquaviva: A. Mathias Mundadan, Aquaviva, Rudolf, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg i. Br. u.a. 3 1993, Sp. 897 f.
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ASIATICA.
anrisst» Mastrillti* e Morthiimibut Ilau.c Stc.IESVfoii crude a* .itjva·. ft toatriJiiiMJ: uvsir&ff fifrfitu» n-rnensionU fffP"11^ ···':.! i.iu Iriiiiijtu*. itt Li»:·»·.; N.'itaasathi • Α Xüt. »J*.Ort an Abb. 66 Marcello Francesco Mastrilli genas nach einer Erscheinung Francisco de Jassu y Javiers unverzüglich von einer schweren Wunde und gelobte daraufhin, als Missionar nach Japan zu reisen, wo er 1637 in Nagasaki zu Tode gemartert wurde. Die Darstellung in Tanners Martyrologium zeigt, wie ihm angesichts seines Martyriums Francisco de Jassu y Javier noch einmal erscheint. Tanner, SOCIETAS JESU, S. 386-404, Abbildung S. 386. - Zu Mastrilli: Josef Wicki, Mastrilli, Marcello Francesco, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i. Br. 2 1962, Sp. 160.
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