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German Pages 243 Year 2000
CASPAR VON SCHRENCK-NOTZING (Hrsg.)
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus
Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus Herausgegeben im Auftrag des Institutes für Konservative Bildung und Forschung Gemeinnützige GmbH von Caspar von Schrenck-Notzing
Band 1
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus
Herausgegeben von
Caspar von Schrenck-Notzing
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus I Hrsg. von Caspar von Schrenck-Notzing.- Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus ; Bd. 1) ISBN 3-428-10052-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1439-3743 ISBN 3-428-10052-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Um die Erforschung der konservativen politischen Strömung in Deutschland ist es nach wie vor weniger gut bestellt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Ursachen sind unschwer auszumachen: Zunächst fehlt eine im eigentlichen Sinne konservative Partei. Daher gibt es auch keine Parteistiftung, die Archivmaterial sammeln, für die Forschung aufbereiten und darüber hinaus für Buchreihen und Zeitschriften verantwortlich zeichnen - geschweige denn die nötigen finanziellen Mittel bereitstellen könnte. Was die Zahl der einschlägigen Publikationen anbetrifft, so dominieren in aller Regel entschiedene Gegner des Konservatismus, die zudem nicht selten gegenwartspolitische Ziele verfolgen. Seit dem Ende des Erlanger Lehrstuhls für Religions- und Geistesgeschichte von Hans-Joachim Schoeps (gestorben 1980) hatte sich lediglich zwischen 1976 und 1990 die Friedrich Schiller-Universität Jena unter marxistisch-leninistischen Vorzeichen der "Konservatismusforschung" angenommen. Im übernationalen Vergleich steht Deutschland im Bereich der Erforschung der Geschichte der konservativen politischen Bewegung - gemessen etwa an Großbritannien oder den USA - auf der Stufe eines Entwicklungslandes. An diesem wenig befriedigenden Zustand kann sich kaum etwas ändern ohne eine engere Zusammenarbeit der Konservatismusforscher, regelmäßige Fachtagungen, die Begründung einer eigenen Buch- und Texteditionsreihe sowie einer umfassenden Bibliographie. Zu denken wäre auch an ein Mitteilungsblatt, aus dem ein spezialisiertes Fachorgan hervorwachsen könnte. Der hier skizzierten Aufgabe widmet sich das Münchener IKBF - Institut für konservative Bildung und Forschung -, das erstmals 1996 mit dem "Lexikon des Konservatismus" hervorgetreten ist. Im Juli 1998 folgte eine Fachtagung über den gegenwärtigen Stahd der Konservatismusforschung, deren Referate im vorliegenden Band der ,neuen Reihe "Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus" ab~druckt sind. Der wissenschaftliche Beirat dieser Reihe setzt sich zusammen aus Prof. Dr. L. Höbelt (Wien), Prof. Dr. Walter Hoeres (Frankfurt a.M.), Dr. H.-C. Kraus (Speyer), Privatdozent Dr. F.-L. Kroll (Erlangen), Prof. Dr. J. B. Müller (Stuttgart), Privatdozent Dr. D. J. Weiß (Erlangen) und Dr. K. Weißmann (Göttingen). IKBF - Institut für Konservative Bildung und Forschung, München
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stand und Probleme der Erforschung des deutschen Konservatismus bis 1890 Von Hans-Christo! Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stand und Probleme der Erforschung des protestantischen Frühkonservatismus Von Volker Jordan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Katholischer Konservatismus - Literaturbericht und Versuch einer Typologie Von Felix Dirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in Bayern Von Dieter J. Weij3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Konservative Revolution und Nationalsozialismus. Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung Von Frank-Lothar Kroll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Konservative Revolution - Forschungsstand und Desiderata Von Karlheinz Weij3mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Im Sog der Modeme. Zur Geschichte konservativer Regionalparteien in Deutschland nach 1945 Von Heinz-Siegfried Strelow .. . . . .. . .... . ... . . . . . . . ... . . ... . ........ . . 141 Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in den USA Von Ulrich E. Zellenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in Kanada Von Till Kinzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Marktprinzip und Kulturverfall in konservativer Perspektive Von Johann Baptist Müller .... . ...... . . . . . . . . ... .. ... . . .... . .. .. ... .. 217 Konservatismus in Österreich. Literaturbericht Von Lothar Höbelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Stand und Probleme der Erforschung des deutschen Konservatismus bis 1890 Von Hans-Christof Kraus
I. Die Erforschung des deutschen Konservatismus vor dem Epochenjahr 1789 steckt immer noch in den Kinderschuhen 1• Mehr als für die späteren Epochen des deutschen Konservatismus besteht hier ein - in den Details noch kaum abzuschätzender - Forschungsbedarf. Allerdings ist es das Verdienst der großen, 1986 publizierten "Konservativismus"-Studie von Panajotis Kondylis, gerade besonders eindringlich auf die Bedeutung der vorrevolutionären Epoche für die Herausbildung der Ideen des politischen Konservatismus hingewiesen zu haben2 . In seinem Buch verfocht der griechische Philosoph und Ideenhistoriker zwei Hauptthesen: Erstens die Auffassung, daß es lange vor der Herausforderung durch Aufklärung und Französische Revolution die Entstehung einer eigenständigen konservativen Ideenwelt und Denktradition gegeben habe, und zweitens die These, der eigentliche Konservatismus sei als Ideologie des Adels an die Epoche von dessen politischer Machtstellung gebunden und deshalb seit der Spätzeit des 19. Jahrhunderts langsam untergegangen,- heute somit nicht mehr vorhanden. Die zweite These hat sich aus einleuchtenden Gründen nicht halten lassen; die allzu feste Verknüpfung einer politischen Idee mit einer streng 1 Das gilt auch für die neueste, das 19. Jahrhundert weitgehend zuverlässig abdeckende Gesamtdarstellung von Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. - Gänzlich unbrauchbar sind indes die Arbeiten von Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland - Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, und Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a. M./New York 1989; dazu die Besprechungen des Verfassers in: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 130f., und in: Der Staat 30 (1991), S. 317f. 2 Vgl Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986; dazu die Rez. des Verfassers: Konservatismus im WiderstreitZur neueren Literatur über seine Geschichte und Theorie, in: Der Staat 28 (1989), S. 22Sff.; siehe von Kondylis auch den wichtigen Artikel: .,Reaktion, Restauration", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart Koselleck, Bd. V, Stuttgart 1984, S. 179-230.
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abgrenzbaren sozialen Trägerschaft hat sich als ein Konzept erwiesen, das der geschichtlichen Realität nicht ausreichend entsprach. Doch die erste These erwies sich als außerordentlich fruchtbar und als wegweisend. Kondylis konnte überzeugend nachweisen, daß die zentralen Grundüberzeugungen des Konservatismus etwa zwischen 1789 und den 1870er Jahren auf einen Ideenbestand zurückgehen, den es bereits lange vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat und der von den führenden konservativen Theoretikern im Zeitalter der Revolution nur neu aufgegriffen und reformuJiert werden mußte. Die Lehre von der societas civilis als der traditionellen Einheit von Staat und Gesellschaft, vom ewigen, göttlich begründeten Recht und von einer unantastbaren, ebenfalls von Gott geschaffenen Weltordnung, schließlich von einer vielfach ständisch gegliederten politischen Ordnung, die Freiheit gerade durch Abgrenzung und Zuordnung zu einem Stand mit geregelten Eigenrechten im Rahmen einer größeren Ordnung zu sichern vermag, -diese Lehre gehört zu den vormodernen, gleichzeitig entschieden absolutismuskritischen Denktraditionen der frühen Neuzeit. Kondylis' Studie verstand sich als eine erste große Synthese des politischen Konservatismus in seiner Gesamtheit; der Autor beanspruchte, die großen Linien dieser politischen und geistigen Bewegung von den Anfangen bis zur Gegenwart erstmals verläßlich und anhand einer großen Fülle von Quellenmaterial aufzuzeigen; Einzelforschung im engeren Sinne hat er indes nicht betrieben. Doch seine Hinweise für eine künftige Konservatismusforschung sind deutlich genug: Es kommt darauf an, die Thesen und Themen, die Rhetorik und Argumentation der Gegner des frühmodernen Staates, der Verteidiger der ständischen Ordnung und der Adelsrechte, der Anwälte der Rechte der christlichen Kirchen näher in den Blick zu bekommen und geistesgeschichtlich zu verorten. Dies ist bisher - etwa in den verfassungs- und institutionengeschichtlichen Forschungen von Gerhard Oestreich und anderen 3 - nur in Ansätzen geschehen. Die von gegenwartsbezogenen politischen Interessen begünstigte Auffassung, im Ständeturn eine Vorform des modernen Parlamentarismus zu sehen, versperrt hier zuweilen noch den Blick für die Erkenntnis näherer Zusammenhänge4 . Hier liegt ein breites Forschungsfeld, das weiterhin seiner Aufarbeitung harrt. Die sich in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft immer 3 Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969. 4 Charakeristisch die ältere Arbeit von Francis A. Carsten: Princes and Parliaments in Germany. From the fifteenth to the eighteenth Century, Oxford 1959; zur Kritik siehe Peter Herde: Deutsche Landstände und englisches Parlament. Bemerkungen zu F. L. Carsten, Princes and Parliaments in Germany, in: Historisches Jahrbuch 80 (1961), S. 286-297. - Die ausgedehnte neuere Literatur zur Ständeforschung kann hier nicht aufgeführt werden.
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klarer durchsetzende Trennung zwischen früher Neuzeit und neuester Zeit bzw. Zeitgeschichte wirkt in diesem Zusammenhang ohne Frage stark behindernd, weil eine solche Aufgabe nur von einem Wissenschaftler zu leisten wäre, der mit den Topoi des Konservatismus nach 1789 aufs engste vertraut sein müßte, um in der Lage zu sein, in bestimmten Ideenwelten und den dazugehörigen Quellenbeständen der frühen Neuzeit nach den Wurzeln späterer konservativer Gedanken, Konzepte und Ideen zu suchen. Doch Ansätze sind bereits gemacht worden: Aus der inzwischen älteren Forschung sind vor allem die bekannten Arbeiten von Fritz Valjavec über "Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815" sowie Klaus Epsteins monumentale Studie "Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland" zu nennen5 . Wiewohl in den Einzelheiten vielfach ergänzt und korrigiert, stellen sie doch als Überblicksdarstellungen über eine der zentralen Epochen der Geschichte des Konservatismus zwei bis heute in ihrer Gesamtheit nicht überholte Synthesen dar. Auch Kar! Mannheims berühmte Heidelberger Habilitationsschrift von 1926 über die Entstehung und Entwicklung des Frühkonservatismus, die erst 1984 in vollständiger Form ediert wurde, bleibt - trotz mancher problematischer Thesen wegen ihrer originellen Fragestellung noch immer anregend6 . Schließlich kommt auch die Erforschung der Gegenaufklärung langsam in Gang 7 • Ein kürzlich erschienener, von Christoph Weiß und Wolfgang Albrecht herausgegebener Band mit Studien zu gegenaufklärerischen, konservativen und antirevolutionären Publizisten im späten 18. Jahrhundert von Kar! von Eckartshausen über Johann Christoph Wöllner bis hin zu Mattbias Claudius - hat hier eine erste Bresche geschlagen, obwohl sich die einzelnen Beiträge durch überaus unterschiedliche Qualität auszeich5 Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, Kronberg/Ts. 2 1978; Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806, Frankfurt a.M./Berlin 1973 (zuerst 1951). 6 Kar/ Mannhein: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von David Kettler/Volker Meja/Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1984; Erstfassung unter dem Titel: Das konservative Denken - Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 63 (1927), S. 68- 142, 470-495; erneut in: Kar/ Mannheim: Wissensoziologie - Auswahl aus dem Werk, hrsg. v. Kurt H. Wolf! (Soziologische Texte, Bd. 28), Berlin/Neuwied 1964, S. 408-508. 7 Hierzu siehe aus der älteren Literatur noch die in manchen Einzelheiten zwar anregende, im ganzen aber überaus problematische Studie von /saiah Berlin: Die Gegenaufklärung, in: derselbe: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, hrsg. v. Henry Hardy (Europäische Bibliothek, Bd. 10), Frankfurt a.M. 1982, S. 6392, die ihren Gegenstand allzu sehr unter dem Aspekt des "Präfaschismus" zu deuten versucht - und hiermit scheitert!
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nen 8 . Hervorzuheben ist auch eine noch ungedruckte materialreiche und gründliche Studie über den protestantischen Frühkonservatismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Volker Jordan 1997 im Manuskript fertiggestellt hat. An größeren biographisch-monographischen Einzelstudien zu den zentralen Autoren des Frühkonservatismus fehlt es allerdings auch weiterhin. Der einzige wirklich gründlich erforschte Autor dieser Ära und dieses Spektrums ist und bleibt Justus Möser. Die vor wenigen Jahren beendete neue Gesamtausgabe seiner Schriften9 , die 1992 von Sheldon u. a. neu edierte Ausgabe des Briefwechsels 10 und vor allem die 1996 publizierte zweibändige Monumentalstudie "Rechtsgeschichte als Rechtspolitik - Justus Möser als Jurist und Staatsmann" von Karl H. L. Welker sind als in jeder Hinsicht vorbildliche Leistungen zu bezeichnen, von denen man sich eine Vorbildfunktion für die Erforschung anderer Themen und Persönlichkeiten nur erhoffen kann 11 • Welche Themenfelder hier - nicht nur für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - noch zu bearbeiten sind, kann etwa der bereits erwähnten Studie von Jordan über den protestantischen Konservatismus entnommen werden, und es ist anzunehmen, daß dies für den katholischen Bereich in gleicher Weise gilt. Freilich darf die Schwierigkeit, sich gewissermaßen mit dem "Konservatismus vor dem Konservatismus" -also vor dem Aufkommen dieser Wortbildung und damit dieser politischen Kennzeichnung - zu befassen, nicht unterschätzt werden. Ausschließlich historisch-politische Kenntnisse dürften hier nicht ausreichen, sondern philosophische, philologische, rechts- und 8 Christoph Weij3/Wolfgang Albrecht (Hrsg.): Von ,Obscuranten' und ,Eudämonisten' - Gegenaufldärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert (Literatur im historischen Kontext, Bd. 1), St. Ingbert 1997 (behandelt werden hier: Hermann Goldhagen, Joseph Anton Weißenbach, Karl von Eckartshausen, Ernst August Anton von Göchhausen, Johann Christoph von Wöllner, Leopold Alois Hoffmann, Felix Franz Hofstätter, Johann August Starck, Ludwig Adolf Christian von Grolman, Johann Georg Zimmermann, Gottlob Benedikt von Schirach, Heinrich August Ottokar Reichard, Christoph Girtanner, August Wilhelm Rehberg, Ernst Brandes, Friedrich Gentz, Matthias Claudius). 9 Justus Möser: Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bde. 1-XIV/2, Berlin/Oldenburg/ Hamburg/Osnabrück 1943-1990. 10 Justus Möser: Briefwechsel. Neu bearb. v. William F. Sheldon/Horst-Rüdiger Jarck/Theodor Penners/Gisela Wagner (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 21), Hannover 1992. 11 Karl H. L. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, Bd. 38), Bde. III, Osnabrück 1996. - Aus der älteren Literatur noch wichtig: William F. Sheldon: The Intellectual Development of Justus Möser: The Growth of a German Patriot (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, Bd. 18), Osnabrück 1970.
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kunsthistorische, auch und gerade theologische Grundkenntnisse müssen wenigstens im Ansatz vorhanden sein, um ein solches Themenfeld - oder auch ein Einzelthema zu dieser Ära - angemessen zu bewältigen. Hinzukommen dürften noch größere Schwierigkeiten bei der Materialerschließung und -beschaffung, als sie etwa ein Neuzeithistoriker oder Zeitgeschichtler zu bewältigen hat.
II. Die Epoche von 1789 bis 1830 galt bisher als der in jeder Hinsicht entscheidende Zeitabschnitt für die Entstehung und Entwicklung des politischen Konservatismus. Daß diese Annahme nicht mehr zutrifft, hat Kondylis ausführlich und überzeugend dargelegt 12 . Dennoch bleibt die Revolutions- und Restaurationsära eine der wichtigsten Epochen für die Geschichte des Konservatismus sowohl als geistige wie als politische Strömung, weil erst in der Auseinandersetzung mit der fundamentalen Bedrohung der alteuropäischen Ordnung durch die Französische Revolution sich zentrale Gedanken und Ideen klärten und auf den Begriff gebracht wurden. Auffassungen, die früher eher unreflektiert und aus Gründen der Überlieferung und der Pietät für das Althergebrachte weiter tradiert wurden, unterzog man nun einer Prüfung; die Konservativen dachten jetzt schärfer, präziser, mehr auf die zentralen politischen Streitpunkte bezogen, als dies früher der Fall gewesen war. Trotz vieler Arbeiten, die sich der näheren Erforschung der deutschen Reaktion auf die Revolution von 1789 widmen, ist das Thema der im engeren Sinne konservativen, also strikt gegnerischen Auseinandersetzung mit dem revolutionären Umbruch in Frankreich noch in keiner Weise erschöpfend behandelt worden. Hier fehlt vor allem eine breit angelegte Studie, die sich nicht nur auf einige wenige der bekannten Revolutionskritiker beschränkt, sondern die ganze Fülle revolutionskritischer Zeugnisse wenigstens für das Jahrzehnt zwischen 1789 und 1800 aufarbeitet. Dagegen mangelt es nicht an neueren Einzeluntersuchungen zu den prominentesten deutschen Revolutionskritikem: Erinnert sei hier nur an die Arbeiten von Haase und Vogel über Ernst Brandes und August Wilhelm Rehberg 13, von Koehler über Adam Müller 14 und von Kronenbitter über Friedrich Vgl. Kondylis: Konservativismus (wie Anm. 2), S. 63- 206. Carl Haase: Ernst Brandes 1758-1810, Bde. 1-11 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 32: Niedersächsische Biographien, 4), Bildesheim 1973-1974; Ursula Vogel: Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution. August Wilhelm Rehberg (Politica, Bd. 35), Darmstadt/ Neuwied 1972. 14 Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980; grundlegend noch immer: Jakob Baxa: Adam Müller - Ein 12 13
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Gentz 15 ; genannt werden sollte in diesem Zusammenhang auch eine neue, 1997 publizierte Studie über Friedrich Leopold Graf zu Stolberg von Dirk Hempel 16• Dringend erforderlich ist dagegen eine neue umfassende Untersuchung zur deutschen Rezeption der Revolutionskritik Edmund Burkes; die bisher einzige Arbeit zu diesem Thema stammt aus dem Jahre 1917 und muß heute als in mehr als nur einer Hinsicht überholt gelten 17• Nur in geringem Ausmaß - und fast ausschließlich von älteren Autoren - ist bisher ebenfalls der Einfluß des französischen Traditionalismus im deutschen Sprach- und Kulturbereich erforscht 18 . Ebenfalls harrt die konservative Opposition gegen die Reformbewegungen in Deutschland nach dem Ende des Alten Reiches und der Niederlage gegen das napoleonische Frankreich noch einer die Zusammenhänge ausführlich in den Blick nehmenden Erforschung. Es dürfte nicht damit getan sein, die Aufmerksamkeit, wie bisher, nur auf die bekannte preußische Adelsfronde gegen Hardenberg zu richten, also auf den märkischen Junker von der Marwitz 19 und dessen Trabanten, zu denen zeitweilig auch Heinrich von Kleist, Adam Müller und die Autoren der "Berliner Abendblätter" gehörten, sondern die antireformerisch gesinnte Opposition muß viel breiter Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930. 15 Günter Kronenbitter: Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 71 ), Berlin 1994; bedeutend ebenfalls noch Golo Mann: Friedrich von Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972. 16 Dirk Hempel: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819)- Staatsmann und politischer Schriftsteller (Kontext. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 3), Weimar/Köln/Wien 1997. 17 Frieda Braune: Edmund Burke in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte des historisch-politischen Denkens (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 50), Beideiberg 1917. 18 Vgl. etwa Peter Richard Rohden: Deutscher und französischer Konservatismus, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 3 (1924), S. 90-138; Edgar Fleig: Zur Geschichte des Einströmens französischen Restaurationsdenkens nach Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 55 (1935), S. 500-520; derselbe: Aus der konservativen Gedankenwelt eines Restaurationspolitikers, in: Historisches Jahrbuch 56 (1936), S. 331-350; Liselotte Ahrens: Lamennais in Deutschland. Studien zur Geschichte der französischen Restauration (Universitas-Archiv, Bd. 32), Münster 1930; vgl. jetzt aber die unten (Anm. 32) genannte Arbeit von Mattbias Klug. 19 Die bisherige Literatur zu Marwitz hat keine auch nur halbwegs befriedigende Gesamtdarstellung zustande gebracht; diesen Titel verdienen weder Gerhard Ramlow: Ludwig von der Marwitz und die Anfänge konservativer Politik und Staatsanschauung in Preußen (Historische Studien, Bd. 195), Berlin 1930 noch Madelaine von Butt/ar: Die politischen Vorstellungen des F. A. L. v.d. Marwitz- Ein Beitrag zur Genesis und Gestalt konservativen Denkens in Preußen (Schriftenreihe zur Geschichte und Politik, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1980.
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und quellenintensiver erforscht werden20• Die "Christlich-deutsche Tischgesellschaft" von 1809, die man später nicht zu unrecht als den ersten Keim einer konservativen Partei in Preußen bezeichnet hat, wird gegenwärtig von einigen Gennanisten unter den Leitgesichtspunkten "Antisemitismus" und "Frauenfeindlichkeit" erforscht21 ; auch hier wäre es dringend nötig, einmal von unvoreingenommener Seite an die von der historischen Forschung im engeren Sinne noch kaum ausgewerteten Quellenbestände heranzugehen. Ein weiteres Themenfeld, das in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben darf, ist die politische Romantik, vor allem die politische Spätromantik und deren geistiges Umfeld der Restaurationsära nach 1815. Hier liegen bisher nur Einzeluntersuchungen etwa zu Haller22 , Görres 23 , Baader24 , Eichendorfe5 oder auch, von Frank-Lotbar Kroll, zu den Ursprüngen und Ausprägungen des politischen Denkens von König Fried20 Nicht mehr ausreichend ist die ältere Arbeit von Reinhold Steig: Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe, Berlin/Stuttgart 1901. 21 Ein in jeder Hinsicht abschreckendes Beispiel liefern Hans Peter Herrmann/ Hans-Martin Blitz/Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996. 22 Grundlegend immer noch die älteren Arbeiten von Ewald Reinhard: Kar) Ludwig von Haller, der "Restaurator der Staatswissenschaft" (Münsterer Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 16), Münster 1933; Kurt Guggisberg: Carl Ludwig von Haller (Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 87/88), Frauenfeld/Leipzig 1938; Heinz Weilenmann: Untersuchungen zur Staatstheorie Carl Ludwig von Hallers. Versuch einer geistesgeschichtlichen Einordnung, phil. Diss. Bem 1955; neuerdings auch Raphael Rohner: Rechtsphilosophische Aspekte der Staatstheorie Carl Luwig von Hallers (1768-1854) unter besonderer Berücksichtigung des Patrimonialstaates, jur. Diss. Zürich 1996. 23 Siehe etwa Esther-Beate Körber: Görres und die Revolution. Wandlungen ihres Begriffs und ihrer Wertung in seinem politischen Weltbild 1793 bis 1819 (Historische Studien, H. 441), Husum 1986; leider ungedruckt blieb die interessante Arbeit von Eugen Werth: Joseph Görres und seine Vision des neuen Deutschland, phil. Diss. (masch.) Heidelberg 1958; allgemein siehe Heribert Raab: Joseph Görres - Ein Leben für Freiheit und Recht, Paderbom/München/Wien/Zürich 1978. 24 Vgl. die noch immer wichtige Arbeit von David Baumgardt: Franz von Baader und die philosophische Romantik (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Buchreihe, Bd. 10), Halle 1927; Eugene Susini: Franz von Baader et Je romantisme mystique, Paris 1942; Josef Sieg/: Franz von Baader. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, München 1957. 25 Vgl. Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken, in: Aurora - Eichendorff Almanach 28 (1968), S. 7-32, 29 (1969), S. 50-69; Helmut Koopmann: Joseph von Eichendorff, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. v. Benno von Wiese, Berlin 1971, S. 416-441; Hans G. Pott (Hrsg.): Eichendorffund die Spätromantik, Paderbom 1985; Alfred Riemen (Hrsg.): Ansichten zu Eichendorff - Beiträge der Forschung 1958-1988, Sigmaringen 1988; neuerdings auch Franz Xaver Ries: Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 11 ), Berlin 1997.
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rich Wilhelm IV., dem "Romantiker auf dem Preußenthron", vor26 . Einen ersten Gesamtüberblick über das politische Denken der wichtigsten Spätromantiker hat der Verfasser 1997 publiziert, doch auch diese kleine Studie kann nicht mehr sein als eine allererste Schneise in ein noch wenig erforschtes Gebiet27 • Dieses spätromantische Denken ist und bleibt für die weitere Entwicklung des politischen und geistigen Konservatismus in Deutschland vor allem deshalb so wichtig, weil sich hier eben nicht nur rückwärtsgewandte, einer verklärten Vergangenheit hinterher trauemde Autoren sich vernehmen ließen, sondern Persönlichkeiten, die über einen erstaunlich präzise entwickelten Sinn für zentrale Gegenwartsfragen und -probleme verfügten. Erinnert sei hier nur an Adam Müllers, Görres' und Baaders Sensorium für die politische Bedeutung der sozialen Frage; hiermit wurden diese Autoren - vor allem Baader - wegweisend für die spätere Entwicklung des deutschen Sozialkonservatismus seit den 1850er und 1860er Jahren28 . Überhaupt ist die Epoche der deutschen konservativen Bewegung zwischen 1789 und 1830 von der bisherigen Forschung viel zu einseitig nur unter dem Aspekt ihrer Revolutionsgegnerschaft untersucht und dargestellt worden, also unter einem hauptsächlich negativen Aspekt. Die positiven Elemente dieses Denkens, das vielfach eben nicht nur rein negativ war, nicht nur eine Antihaltung ausdrückte, sondern auch Elemente eigener Zukunftsvorstellungen und -konzepte entwickelte, sind bisher kaum wahrgenommen worden. So ist etwa die bekannte Kontroverse um die angemessene Definition des Begriffs "landständische Verfassung" aus dem berühmten Artikel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815 auch von Konservativen - und nicht nur von Friedrich Gentz - geführt worden29 ; noch 1847 haben zwei prominente konservative Juristen in Preußen, Karl Albert von Kamptz und Carl Wilhelm von Lancizolle die "landständische" Verfassung Preußens gegen die Ansprüche der modernen liberalen und konstitutionellen Bewegung verteidige0 . 26 Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wi1he1m IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 72), Berlin 1990; dazu auch die Besprechung des Verfassers in: Der Staat 30 (1991), s. 309-313. 27 Hans-Christo! Kraus: Politisches Denken der deutschen Spätromantik, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 111-146; dort auch ausführlichere weitere Literaturangaben. 28 Siehe dazu unten, Anm. 47, 48. 29 Vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2 1975, S. 516 f., 640ff.; wichtig ebenfalls Hartwig Brandt: Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips (Politica, Bd. 31 ), Neuwied/Berlin 1968; zu Gentz siehe auch Kronenbitter: Wort und Macht (wie Anm. 15), S. 206ff.
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111. Die Zäsur der französischen Julirevolution von 1830 für das politische Bewußtsein gerade auch in Deutschland darf nicht unterschätzt werden 31 • Konnten sich manche Konservative vor 1830 noch in der relativen Sicherheit einer - trotz aller Widerstände - siegreichen Restauration wiegen, in dem trügerischen Bewußtsein, im Jahre 1815 die Folgen des Jahres 1789 entweder rückgängig oder doch politisch weitgehend unschädlich gemacht zu haben, so war dies nach der neuen Revolution und dem zweiten Sturz der Bourbonen nicht mehr möglich. Theorie und Praxis des europäischen Legitimismus hatten sich ganz offensichtlich als unfähig erwiesen, den Dämon von 1789 zu bändigen und in seiner politischen Wirksamkeit zu paralysieren. Die begleitenden Unruhen in ganz Europa zeigten, daß die allgemeine revolutionäre Bewegung noch lange nicht zum Stillstand gekommen war, sondern nur auf eine neue Chance wartete. Diese Entwicklung hatte für den politischen Konservatismus nachhaltige Folgen. Man sah im konservativ-gegenrevolutionären Lager sehr schnell ein, daß es nicht mehr ausreichen konnte, die Kräfte der Revolution nur gewaltsam niederzuhalten oder ihnen nur im intellektuell-theoretischen Bereich entgegenzutreten. Man mußte, im Gegenteil, versuchen, mit ihnen auf der Ebene der langsam entstehenden politischen Öffentlichkeit gleichzuziehen. Mit den 1830er Jahren beginnt die Epoche der kleineren und größeren konservativen Zeitschriften, die mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, sich in die politischen Debatten der Zeit einzuschalten. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß es sich keineswegs immer um besonders regierungstreue oder obrigkeitsfromme Publikationen handelte, sondern um Presseorgane, die den Pressionen der zeitgenössischen staatlichen Zensur oftmals kaum weniger ausgesetzt waren als die ausgesprochen oppositionellen Organe der Liberalen und der politischen Linken. Schon Ende der 1820er Jahre hatten sich die ersten Blätter dieser Art etabliert; zuerst noch unter dem Schutz der jeweiligen Kirchen und eines politischen Konfessionalismus: Die Berliner "Evangelische Kirchenzeitung" ist hier ebenso zu nennen wie der in Straßburg erscheinende "Katholik" oder die vom Görreskreis in München herausgegebene "Eos"32 . Das ab 1831 Hierzu plant der Verfasser eine kleine Studie. Hierzu siehe auch die instruktive Skizze von Hartwig Brandt: Die Julirevolution (1830) und die Rezeption der "principes de 1789" in Deutschland, in: Roger Dufraisse/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.): Revolution und Gegenrevolution 17891830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, Bd. 19), München 1991, S. 225-233. 32 Vgl. als - heute teilweise überholte - Einzelstudien: Wolfgang Kramer: Ernst Wilhelm Hengstenberg, die Evangelische Kirchenzeitung und der theologische Ra30
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erscheinende, als Reaktion auf die Julirevolution und deren Folgen gegründete "Berliner politische Wochenblatt" wurde bis 1837 zum. wichtigsten Organ der deutschen Konservativen, weil sich hier zum ersten - und für längere Zeit einzigen - Mal konservative Katholiken und Protestanten zu gemeinsamem politischen Handeln zusammenfanden33 . Diese Zusammenarbeit endete abrupt im Jahre 1837, als der Kölner Kirchenstreit die Katholiken veranlaßte, ihre Mitarbeit an dieser Zeitschrift einzustellen. Der wichtigste katholische Mitarbeiter (und zeitweilige Redakteur) des "Berliner politischen Wochenblatts", Carl Ernst Jarcke 34 , wurde zum Mitbegründer des katholischen Nachfolgeorgans, der von Görres herausgegebenen "Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland", die bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das wichtigste Organ der konservativen Richtung des deutschen politischen Katholizismus bleiben sollten35 . Dieses Mit- und Gegeneinander der verschiedenen konservativen Zeitschriften auch manches kleineren, heute vergessenen Organs - ist bisher kaum ansatzweise erforscht und rekonstruiert worden. Zwar bereitet ein in tionalismus, phil. Diss. Erlangen 1972; Anneliese Kriege: Geschichte der Evangelischen Kirchenzeitung unter der Redaktion Emst-Wilhelm Hengstenbergs (vom 1. Juli 1827 bis zum 1. Juni 1869). Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, theol. Diss. (masch.) Bonn 1958; Helmut Schwa/bach: Der Mainzer "Katholik" als Spiegel des neuerwachsenden kirchlich-religiösen Lebens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (1821-1850), theol. Diss. Mainz 1966; Hans Kapfinger: Der Eoskreis 1828 bis 1832. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des politischen Katholizismus in Deutschland (Zeitung und Leben, Bd. 2), München 1928; umfassend zur konservativ-katholischen Bewegung jetzt die gründliche Studie von Matthias Klug: Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Bd. 69), Paderborn/München/Wien/Zürich 1995. 33 Wolfgang Scheel: Das "Berliner politische Wochenblatt" und die politische und soziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeitkritik in Deutschland (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 36), Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1964; noch wichtig: Conrad Varrentrapp: Rankes Historisch-politische Zeitschrift und das Berliner Politische Wochenblatt, in: Historische Zeitschrift 99 (1907), S. 35-119. 34 Vgl. Arthur Wegner: Carl Ernst Jarcke, in: Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld, Berlin 1949, S. 65 -117; Hans-Christo/ Kraus: Carl Ernst Jarcke und der katholische Konservatismus im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), s. 409-445. 35 Vgl. Franz Rhein: Zehn Jahre "Historisch-politische Blätter" 1838-1848. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Zentrums, phil. Diss. Bonn 1916; Bernhard Weber: Die "Historisch-politischen Blätter" als Forum für Kirchen- und Konfessionsfragen, phil. Diss. München 1983; wichtig Bernhard Weber/Dieter Albrecht: Die Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland 1838-1923. Ein Verzeichnis (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Bd. 52), Mainz 1990; jetzt auch Klug: Rückwendung zum Mittelalter? (wie Anm. 32), S. 277 ff.
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Kanada lehrender amerikanischer Historiker, James Retallack, eine umfassende Untersuchung des konservativen Zeitschriftenwesens in Deutschland bis 1918 vor, doch dürfte es angesichts des Fehlens vieler Spezialstudien, auch zu einzelnen fast vergessenen Publizisten wie etwa Johann Baptist von Pfeilschifter36, mit der Vollendung einer Gesamtdarstellung wohl noch einige Zeit dauern. Auch einzelne der bedeutenden konservativen Publizisten und Schriftsteller dieser Zeit sind hier im Blick zu behalten. Das Wirken etwa eines Constantin Frantz37 oder Wilhelm Heinrich Riehl 38 ist an Bedeutung für die konservative Meinungsbildung in Deutschland kaum zu überschätzen. Die von Frantz propagierte föderalistisch-großdeutsche "Mitteleuropa"-ldee und der kulturell orientierte, wesentliche Aspekte der Heimatbewegung vorwegnehmende Konservatismus Riehls, wie auch dessen Ständelehre und Neubestimmung einer Idee der "bürgerlichen Gesellschaft", haben die politische Diskussion der Ära nach der Jahrhundertmitte maßgeblich bereichert und dem deutschen Konservatismus wichtige Impulse gegeben. Dieses Thema der langsamen Etablierung einer spezifischen Form von "konservativer Öffentlichkeit" im deutschsprachigen Bereich ist noch kaum ansatzweise von der bisherigen Forschung in den Blick genommen worden, obwohl es gerade auch für die Geschichte der Revolution von 1848/49 und nicht zuletzt ebenfalls für die innere Geschichte der sogenannten Reaktionsära der 1850er Jahre von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung ist. Man hat bisher viel zu wenig erkannt, daß es gerade eine bestimmte Form von konservativer Doppelstrategie gewesen ist, die zum Gelingen sowohl der Gegenrevolution wie auch zur Paralysierung der revolutionären Kräfte für ein Jahrzehnt maßgeblich beigetragen hat: nämlich die virtuose Handhabung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in konservativen Zeitungen, Zeitschriften, auch in politischen, kulturellen und religiösen Vereinen einerseits, - aber auch die immer wieder erfolgreiche Einwirkung auf 36 Sehr knapp: Ewald Reinhard: Johann Baptist von Pfeilschifter der bayerische Plutarch (Presse und Welt, Bd. 9), München o. J. ( 1955). 37 Noch die beste der älteren Arbeiten ist: Max Häne: Die Staatsideen des Konstantin Frantz, Gladbach/Rheydt 1929; nicht ausreichend dagegen: Paulus Franciscus Herrnanus Lauxtermann: Constantin Frantz. Romantik und Realismus im Werk eines politischen Außenseiters (Historische Studies, Bd. 35), Groningen 1979; eine z. T. verzerrende Interpretation aus gegenwartspolitischer Perspektive liefern Günter Meuter/Henrique Ricardo Otten: Constantin Frantz- ein bonapartistischer Vorläufer Carl Schmitts? Überlegungen zur Geschichte eines konservativ-antiliberalen Motivs, in: Michael Th. Greven/Peter Kühler/Manfred Schmitz (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kritische Theorie - Festschrift für Kurt Lenk, Baden-Baden 1994, S. 151-194. 38 Vgl. Viktor von Geramb: Wilhelm Heinrich Riehl- Leben und Wirken (18231897), Salzburg 1954; Jasper von Altenbockum: Wilhelm Heinrich Riehl 18231897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie (Münstersehe historische Forschungen, Bd. 6), Köln 1994.
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die politische Entscheidungsfindung an den königlichen und fürstlichen Höfen andererseits. Weitere große Zäsuren in der Geschichte sowohl des parteipolitischen wie des ideenpolitischen Konservatismus sind mit den Jahreszahlen 1866 und 1876 zu bezeichnen. Dem Auseinanderbrechen des Deutschen Bundes im Vorfeld des Bruderkrieges zwischen Preußen und Österreich korrespondiert der Zerfall der alten konservativen Partei in Preußen in Anhänger und Gegner Bismarcks39 . Die - bis heute nicht geschriebene - Geschichte der konservativen Bismarckgegner führt weit über die Reichsgründungszeit im engeren Sinne hinaus; noch das spätere Kaiserreich und die Weimarer Republik hat die Reste der Bewegungen, die sich aus den "Verlierern von 1866" rekrutierten, gekannt, und sogar noch in der frühen Bundesrepublik haben sie eine - freilich nur marginale - Rolle gespielt. Der "offizielle" Konservatismus dagegen, von den beiden im Reichstag vertretenen Parteien der unbedingt Bismarcktreuen, großindustriell orientierten "Reichskonservativen" und den ebenfalls zumeist als Regierungspartei agierenden Deutschkonservativen, stellte nur die eine, wenngleich die zweifellos politisch bedeutsamere Seite der Medaille dar. Christlich-konservative Preußen, katholisch-großdeutsch Orientierte, auch die konservativen Anhänger der 1866 entthronten Fürstenhäuser bildeten eine kleine, doch nicht ganz so unbedeutende Opposition, wie dies in den bisherigen Darstellungen zumeist suggeriert wird. Ebensowenig unterschätzt werden darf die in Deutschland traditionell bedeutsame sozialkonservative Bewegung, die mit den Schriften von Baader40, Lorenz von Stein41 und Viktor Aime Huber42 eingesetzt hatte, in den 1850er und 1860er Jahren von Hermann Wagener, Carl von Rodbertus und dem Autorenkreis um die "Berliner Revue" fortgesetzt worden war43 39 Hierzu siehe u. a. Hans-Christo! Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 53), Bd. II, Göttingen 1994, S. 832 ff. 40 Siehe oben, Anm. 24. 41 Vgl. Dirk Blasius: Lorenz von Stein - Grundlagen und Struktur seiner politischen Ideenwelt, phil. Diss. Köln 1970; Roman Schnur (Hrsg.): Staat und Gesellschaft - Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978. 42 Vgl. Ingwer Paulsen: Viktor Aime Huber als Sozialpolitiker (Fiedewalder Beiträge zur sozialen Frage, Bd. 7), Berlin 2 1956; Sabine Hindelang: Konservatismus und soziale Frage. Victor Aime Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 201), Frankfurt a. M./Bern/New York 1983. 43 Vgl. Siegfried Christoph: Hermann Wagener als Sozialpolitiker. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Ideen und Intentionen für die große deutsche Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert, phil. Diss. (masch.) Erlangen 1950; Wolfgang Saile: Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des
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und im späteren wilhelminischen Kaiserreich erst von W ageners Schüler Rudolf Hermann Meyer44, etwas später und in anderer Form von den Sozialpolitikern unter Bismarck wie etwa Lohmann, Berlepsch und Posadowsky wiederaufgenommen worden waren45 . Noch die sogenannten "Kathedersozialisten" um Adolph Wagner, Gustav Schmoller und den "Verein für Socialpolitik" sind von dem früh entwickelten sozialkonservativen Gedankengut beeinflußt worden. Auch diese Zusammenhänge sind, ungeachtet mancher wichtiger Einzelstudien, in der Form einer politik- und ideengeschichtlichen Langzeitstudie noch niemals untersucht worden; ebenfalls fehlt- trotz wichtiger Vorarbeiten von William 0. Shanahan46, Johann Baptist Müller47 und Klaus Hornung48 -eine wirklich umfassende Gesamtdarstellung des deutschen Sozialkonservatismus49• konservativen Sozialismus (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 9), Tübingen 1958; Zur "Berliner Revue" siehe die noch immer grundlegende Arbeit von Adalbert Hahn: Die Berliner Revue. Ein Beitrag zur Geschichte der konservativen Partei zwischen 1855 und 1875 (Historische Studien, Bd. 241), Berlin 1934. 44 Vgl. Kurt Feibelmann: Rudolf Hermann Meyer - Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, phil. Diss. Leipzig 1933; Hans-Jaachirn Schoeps: Rudolf Meyer und der Ausgang der Sozialkonservativen, in: derselbe: Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Geistesgeschichte, Bd. 3), Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M./Zürich 1963, S. 335-344. 45 Dazu siehe u. a. Hans Jörg von Berlepsch: "Neuer Kurs" im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890-1896 (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung; Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Bonn 1987; Martin Schmidt: Graf Posadowsky. Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Reichsamtes des Innern 1893-1907, Halle a.S. 1935. 46 William 0. Shanahan: The Social Outlook of Prussian Conservatism, in: The Review of Politics 15 (1953), S. 209-252; derselbe: Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage, München 1962. 47 Johann Baptist Müller: Der deutsche Sozialkonservatismus, in: Konservatismus. Eine deutsche Bilanz, München 1971, S. 67-97. 48 Klaus Hornung: Die sozialkonservative Tradition im deutschen Staats- und Gesellschaftsdenken, in: Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, hrsg. von Jöm-Dieter Gauger/Klaus Weigelt, Bonn 1990, S. 30-68. 49 Aus der älteren Literatur bleibt in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: Walter Bredendiek: Christliche Sozialreformer des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1953; für Preußen siehe neuerdings auch Hermann Beck: The Origins of the Authoritarian Welfare State in Prussia. Conservatives, Bureaucracy and the Social Question, 1815-70, Ann Arbor, Mich. 1996; dazu jetzt auch die ausführliche Besprechung von Ulrike Haerendel, in: German Historical Institute Bulletin 20 ( 1998) No. 2, S. 65-69. - Aufschlußreiches Material bietet auch der erste Band einer großangelegten Quellenedition zur deutschen Sozialpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914; I. Abt.: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), 1. Bd.: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik, bearb. v. Florian Tennstedt/Heidi Winter, Stuttgart/Jena/New York 1994.
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Noch am besten erforscht dürfte die Entwicklung der Deutschkonservativen Partei im Kaiserreich, vor allem in dessen zweiter Hälfte, sein. Nach älteren, aus heutiger Sicht nicht mehr ausreichenden Arbeiten von Hans Booms50 und Hans-Jürgen Puhle51 hat der bereits genannte James Retallack, eine wichtige Darstellung zu diesem Thema geliefert52. Freilich fehlt es auch hier noch an abrundenden Einzelstudien, an Biographien - etwa über die Parteiführer Otto von Helldorf-Bedra, Ernst von Heydebrand und der Lasa oder auch Kuno von Westarp53 • Auch fehlt immer noch eine neuere Studie über die Freikonservativen, die spätere Reichspartei und ihre langjährige Führungspersönlichkeit Wilhelm von Kardorff54 • Besonders schmerzliche Forschungslücken bestehen ebenfalls in bezug auf die regionale Erforschung des parteigebundenen deutschen Konservatismus; erst jüngst haben neuere Untersuchungen über die Konservativen in Baden55 , in Sachsen56 und besonders Manfred Kittels ausführliche Studien über die Deutschkonservativen in den protestantischen Teilen Bayerns57 einige 50 Hans Booms: Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 3), Düsseldorf 1954. 51 Hans-Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich (1893-1914), Hannover 1966. 52 James N. Retallack: Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, Boston 1988; weniger ergiebig und in Teilen nicht unroblematisch ist der von diesem Autor mitherausgegebene Sammelband: Larry Eugene Jones/James Retallack (Hrsg.): Between Reform, Reaction and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence/Oxford 1993; dazu auch die Bespechung des Verfassers in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 123-125. 53 Über Helldorf siehe neuerdings James N. Retallack: Ein glückloser Parteiführer in Bismarcks Diensten - Otto Heinrich von Helldorf-Bedra (1833-1908), in: Hans-Christo! Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts, Berlin 1995, S. 185-203; neuere Studien zu Heydebrand und Westarp fehlen nach wie vor. 54 Man hat immer noch auf zwei in der Sache wie in der Wertung überholte zeitgenössische Darstellungen zurückzugreifen: August Wolfstieg: Die Anfange der freikonservativen Partei, in: Delbrück-Festschrift, Berlin 1908, S. 313-336. Siegfried von Kardorff: Wilhelm von Kardorff. Ein nationaler Parlamentarier im Zeitalter Bismarcks und Wilhelms II. 1828-1907, Berlin 1936. 55 Vgl. Stephan Ph. Wolf Konservativismus im liberalen Baden. Studien zur badischen Innen-, Kirchen- und Agrarpolitik sowie zur süddeutschen Parteiengeschichte 1860-1893, Karlsruhe 1990. 56 Vgl. Wolfgang Schröder: Die Genese des ConservativenLandesvereins für das Königreich Sachsen, in: Sirnone Liissig/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Sachsen im Kaiserreich - Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Dresden 1997, s. 149-174. 57 Manfred Kittel: Kulturkampf und "Große Depression". Zum Aufbruch der Bayerischen Nationalkonservativen in der antiliberalen Strömung der 1870er Jahre, in: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 131-200.
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Schneisen in diese noch kaum erforschten Gebiet schlagen können. Gänzlich unerforscht ist das Weiterleben der traditionellen christlich-konservativen Richtung im Kaiserreich58 . Nicht sehr viel besser sieht es mit der Erforschung der Geschichte der preußischen Konservativen, besonders der konservativen Partei vor 1876 aus59 . Einzelne Abschnitte, so etwa die Zeit der Revolution von 1848/4960 oder die Reichsgründungszeit61 sind zwar in ihren Hauptaspekten monographisch aufgearbeitet, andere dagegen, so der Vormärz62, so auch die beson58 Einige Hinweise hierzu gibt Hans-Christo! Kraus: Altkonservatismus und moderne politische Rechte - Zum Problem der Kontinuität rechter politischer Strömungen in Deutschland, in: Thomas Nipperdey/Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien - Antworten an Ernst Nolte, Berlin 1993, S. 99-121, hier S. 109. 59 In mancher Hinsicht anregend, doch keineswegs mehr ausreichend ist die ältere Studie von Sigmund Neumann : Die Stufen des preussischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert (Historische Studien, Bd. 190), Berlin 1930; immer noch wichtig, in Teilen aber ebenfalls überholt sind die Arbeiten von Hans-Joachim Schoeps: Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., Berlin 5 1981; siehe auch die knapp zusammenfassende Skizze von demselben: Die preußischen Konservativen, in: Rekonstruktion des Konservatismus, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Freiburg i. Br. 1972, S. 181-188. 60 Hierzu siehe Wolfgang Schwentker: Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 85), Düsseldorf 1988; dazu die Rezension des Verfassers in: Der Staat 29 (1990), S. 147-150; neuerdings auch (mit umfassenderer Perspektive) derselbe: Die Erben Edmund Burkes. Der europäische Konservativismus in den Revolutionen von 1848/49, in: lrmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.): 1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution, Göttingen 1998, S. 134-152. 61 Vgl. die immer noch wichtige Studie von Gerhard Ritter: Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 43), Heidelberg 1913, sowie die ungedruckte Arbeit von Robert M. Berdahl: The Transformation of the Prussian Conservative Party, 1866-1876, phil. Diss. University of Minnesota 1965; siehe auch derselbe: Conservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian Germany, in: Journal of Modern History 44 (1972), S. 1-20.- Neuerdings Günther Grünthal: Wahlkampfführung der Konservativen im preußischen Verfassungskonflikt, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland. Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundesrepublik (Dokumente und Texte, Bd. 4), Düsseldorf 1997, S. 63-78. 62 Allenfalls Ausschnitte bieten hier die z. T. aus einer verengenden sozialgeschichtlichen Perspektive verfaßten Arbeiten von Eckhard Trox: Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und , Militärpartei' in Preußen zwischen 1815 und 1848/49 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 42), Stuttgart 1990, und l.othar Dittmer: Beamtenkonservatismus und Modernisierung. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Konservativen Partei in Preußen 1810-1848/49 (Studien zur modernen Geschichte, Bd. 44), Stuttgart 1992; zur letztgenannten Arbeit siehe auch die Besprechung des Verfassers in: Historisches Jahrbuch 115 (1995), S. 307-309.- Aus-
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ders wichtigen 1850er Jahre immer noch weitgehend unerforscht63 . Einzelnen Persönlichkeiten wurden wichtige und teilweise sehr umfassende Monographien gewidmet: genannt seien Friedrich Julius Stahl64 , Joseph Maria von Radowitz65 , Hans von Kleist-Retzow66 und Ernst Ludwig von Gerlach67 . Anderen wiederum wäre eine nähere biographische Erforschung dringend zu wünschen - so etwa Leopold von Gerlach68, Moritz von Blanckenburg69 und Hermann Wagener70 . - Kurz gesagt: Forschungsbedarf und ertragreiche Forschungsthemen, wohin man auch blickt71 • führlieber dagegen die stark soziologisch-symboltheoretisch argumentierende Studie von Robert M. Berdahl: The Politics of the Prussian Nobility. The Development of a Conservative Ideology 1770-1848, Princeton 1988; zur Problematik dieses Werkes siehe auch die kritischen Anmerkungen vom Verfasser: Zum Verhältnis von politischer Ideen- und Sozialgeschichte - Bemerkungen zu Robert M. Berdahl: "The Politics of the Prussian Nobility", Princeton 1988, in: Der Staat 30 (1991), S. 269278. 63 Siehe aber die entsprechenden Abschnitte in: Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 39), Bd. II, S. 547ff., 627ff., vor allem auch S. 684ff., 732ff. u. passim. - Viel neues Material für diese Periode bietet auch Hartwin Spenkuch: Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 110), Düsseldorf 1998. 64 Zu Stahl existiert eine umfangreiche Literatur; hier seien nur genannt: Christian Wiegand: Über Friedrich Julius Stahl (180 1-1862). Recht, Staat, Kirche, Paderborn 1981 ; Wilhelm Füßl: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (18021861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988. 65 Paul Hasse/: Joseph Maria von Radowitz, Bd. 1: 1797-1848, Berlin 1905; Friedrich Meinecke: Radowitz und die deutsche Revolution, Berlin 1913; aus der neueren Forschung vor allem: David E. Barclay: Ein deutscher "Tory democrat"? Joseph Maria von Radowitz (1797-1853), in: Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland (wie Anm. 53), S. 37 -67; Hermann Beck: Joseph Maria von Radowitz and the Implications of Nineteenth-Century German Social Thought, in: German History 13 (1995), S. 163-181. 66 Unersetzt: Herman von Petersdorff: Kleist-Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart/ Berlin 1907; dazu noch Amold Oskar Meyer: Hans von Kleist-Retzow, in: derselbe: Deutsche und Engländer. Wesen und Werden in großer Geschichte, München 1937, s. 190-209. 67 Über ihn siehe die umfassende Monographie des Verfassers (wie oben, Anm. 39); knapp zusammenfassend derselbe: Ein altkonservativer Frondeur als Parlamentarier und Publizist - Ernst Ludwig von Gerlach (1795-1877), in: derselbe (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland (wie Anm. 53), S. 13-35. 68 Das Wesentliche der Ideenwelt des Protagonisten gut zusammenfassend, aber vor allem in politikgeschichtlicher Hinsicht keineswegs ausreichend ist Stephan Nobbe: Der Einfluß religiöser Überzeugung auf die politische Ideenwelt Leopold von Gerlachs, phil. Diss. Erlangen 1970. 69 Über ihn gibt es nur: Herman von Petersdorff: Moritz von Blanckenburg, in: Deutscher Aufstieg. Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien, hrsg. von Hans von Amim/Georg von Below, Berlin/Leipzig/Wien/
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IV. Zusammenfassend und abschließend sei noch auf einige weitere - zeitübergreifende - Forschungsdesiderata hingewiesen. Zuerst einmal fehlt es immer noch an einer umfassenden Geschichte der Begriffe ,.konservativ" und "Konservatismus". Der 1982 im dritten Band von Brunners, Conzes und KoseHecks Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" publizierte entsprechende Artikel von Rudolf Vierhaus enthält zwar wichtige Vorarbeiten zu einer solchen Begriffsgeschichte und auch manche bemerkenswerte und weiterführende Reflexion72, doch andererseits ist die Vorgeschichte des Konservatismusbegriffs hier nicht umfassend genug ausgeleuchtet und belegt worden; zudem wären inzwischen auch neuere Forschungsresultate hier einzubeziehen. Zweitens mangelt es an Studien und Analysen zu speziellen Aspekten des deutschen Konservatismus: Stellvertretend auch für andere Themen sei hier nur an die konservativen Ständelehren erinnert. Anhand ihrer Geschichte ließe sich nicht nur die Entwicklung vom Konzept des Geburtsstandes zu dem des Berufsstandes rekonstruieren73 ; es ließe sich auch der Versuch der Konzipierung einer korporativen Alternative zum liberal-parlamentarischen Staatswesen als ein Grundmotiv des neueren konservativen Bem 1925, S. 157-162, und Hans Goldschmidt: Moritz von Blanckenburg (18151888). Ein Beitrag zur Geschichte des pommerseben Konservativismus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 91 (1954), S. 158-181. 70 Die oben (Anm. 43) genannten Titel können die immer noch fehlende politische Biographie keineswegs ersetzen. 71 In Arbeit befindet sich eine von Wolf Nitschke verfaßte politische Biographie über Adolf Heinrich von Amim-Boitzenburg; siehe als Vorabskizze derselbe: Konservativer Edelmann und Politiker des Kompromisses - Adolf Heinrich Graf von Boitzenburg (1803-1868), in: Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland (wie Anm. 53), S. 89-110. 72 Rudoif Vierhaus: Artikel ,.Konservativ, Konservatismus", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart Kose/leck, Bd. III, Stuttgart 1982, S. 531-565. 73 Aus der - im ganzen eher lückenhaften und die Quellen nur sehr selektiv auswertenden - Literatur seien hier genannt: Heinrich Herrfahrdt: Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1921; Ralph H. Bowen: German Theories of the Corporalive State. With Special Reference to the Period 1870- 1919, New York/London 1947; Peter Comelius Mayer-Tasch: Korporativismus und Autoritarismus. Eine Studie zu Theorie und Praxis der berufsständischen Rechts- und Staatsidee, Frankfurt a. M. 1971, S. 4-81. - Ein marxistisches Pamphlet, daher wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen ist: Thomas Meyer: Stand und Klasse. Kontinuitätsgeschichte korporativer Staatskonzeptionen im deutschen Konservativismus (Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 184), Opladen 1997.
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Denkens aufzeigen, das bis weit ins zwanzigsten Jahrhundert hinein starke Wirkungen ausgeübt hat und noch im Dritten Reich einen zentralen Ansatzpunkt zur nationalsozialistischen Polemik gegen den Konservatismus 74 geliefert hat. Drittens fehlt - ein besonders schmerzlich vermißtes Desiderat - eine Bibliographie zum Konservatismus. Es müßte sich nicht sofort um eine umfassende, auf die Totalität dieses Forschungsgegenstandes zielende Sammlung handeln. Bereits eine nach Epochen und thematischen Gesichtspunkten gleichermaßen geordnete Überblicksbibliographie könnte ein außerordentlich nützliches und wichtiges Instrument für die wissenschaftliche Arbeit bedeuten; in besonders starkem Maße für die Anfänger in der Forschung. Hier könnte es sinnvoll sein, wenn einige der ausgewiesenen Spezialisten ihre Notizen, Zettelkästen oder sonstigen Bestände, etwa ihre privaten Büchersammlungen mit den neuen Mitteln der wissenschaftlichen Datenverarbeitung erfaßten und für ein derartiges Projekt zur Verfügung stellten. Wichtig wären - viertens - Quelleneditionen zur Geschichte der konservativen Bewegung in Deutschland. Gerade die Zugänglichmachung von bisher wenig bekannten, kaum zugänglichen oder sogar verschollenen wichtigen Quellenbeständen könnte der Forschung diejenigen Impulse geben, die sie heute besonders dringend benötigt. Aber auch dies ist wieder eine Aufforderung an die Spezialisten, die im Wege ihrer Forschungen gerade auch in kleinen, wenig bekannten Archiven oder sogar in Privatbeständen auf Quellen stoßen, die ohne eine Publikation für die übrige Forschung verloren wären. Als Fernziel schließlich sollte man durchaus das Projekt einer größeren Darstellung der Geschichte des deutschsprachigen Konservatismus bereits ins Auge fassen. Eine von mehreren Verfassern ausgearbeitete handbuchartige Darstellung mit umfassenden Literatur- und Quellennachweisen dürfte, wenn entsprechende Vorarbeiten getan sind, nicht mehr als unausführbares Vorhaben gelten können. Derzeit wäre es noch vermessen, ein solches Projekt unmittelbar in Angriff zu nehmen - dafür ist die gegenwärtige Forschungslage noch zu uneinheitlich und zu desolat. Aber als langfristig angelegtes und sorgfältig geplantes kollektives Forschungsprojekt erscheint eine solche Gesamtgeschichte mit Handbuchanspruch nicht mehr als undurchführbare Aufgabe.
74 Exemplarisch: Justus Beyer: Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung (Forschungen zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 8), Darmstadt 1941.
Stand und Probleme der Erforschung des protestantischen Frühkonservatismus Von Volker Jordan .. Wie wirket die Hölle! Wie furchtbar mächtig wirket die Hölle! Die Gräuelgeschichte unserer Zeit ist mir äußerst wichtig, sie lehret mir Vieles. Es ist wahrhaft kein Krieg, den Fleisch und Blut gegen einander führt; es geht gegen die Fürsten und Gewaltigen, gegen die Weltbeherrscher, die in der Finsterniß dieser Welt herrschen und ihr mächtiges Werk haben in den Kindern des Unglaubens, denen der Gott dieser Welt ihre Sinne verblendet hat. " 1 "Der geheim allwaltende Diabolismus inspirirt und exaltirt solche Geister mit seiner Luziferation; Gott bewahre uns für gewaltsamen Revolutionen. " 2
I. Abriß des Themas Es dürfte nicht zu bestreiten sein, daß die Theologie des Aufklärungszeitalters die Entstehung des spezifisch protestantischen, dezidiert antiaufklärerischen Konservatismus bedingte. Die Aufklärungstheologie entfernte sich über die Stationen der Übergangstheologie (des theologischen Wolffianismus), der Neologie und des Rationalismus nach und nach so weit von den Lehren der von ihr historisch-kritisch zerlegten Bibel und des reformatorischen Bekenntnisses, daß eine konservative Reaktion auf die Leugnung der Fundamente des christlichen Glaubens von seiten des Pietismus und der Orthodoxie geradezu zwangsläufig erfolgen mußte. Diese Reaktion bezog sich zwar zunächst vornehmlich auf theologische Fragen, wurde dann aber im Zuge der Gesangbuch- und Agendenstreitigkeiten wie z. B. in Berlin, Schleswig-Holstein und Ostfriesland auch kirchenpolitisch brisant? 1 Zit. nach Carl Hermann Gildemeister: Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken, weiland Pastor Primarius zu St. Martini in Bremen, Theil I, Bremen 1861, s. 113. 2 Johann Heinrich Jung-Stilling: Ueber die Revolutionssucht deutscher Weiber, in: Eudämonia oder deutsches Volksglück 1 (1795), S. 369-390, hier S. 375. 3 Vgl. zur Entwicklung der Theologie in der Spätaufklärung Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929; Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 6 1994; Martin
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In der Kontroverse zwischen dem Hamburger Hauptpastor Johan Melchior Goeze und dem Wolfenbütteler Dramaturgen Gotthold Ephraim Lessing kam es 1777-1778 zum berühmten Fragmentenstreit.4 Lessing hatte die sogenannten "Fragmente eines Ungenannten" des deistischen Hamburger Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus mit einer radikalen Kritik am biblischen Offenbarungsglauben herausgegeben, was die Antwort Goezes, der durch die darin enthaltene Kritik an den Auferstehungsberichten der Evangelien das Fundament des christlichen Glaubens bedroht sah, herausforderte. In Goezes Schriften ging ihm die Dialogbereitschaft nach und nach verloren. Insgesamt handelte es sich bei der Lessing-Goeze-Kontroverse noch um eine ausgeprägt religiöse. Es ging dem Hamburger Hauptpastoren primär um die Bewahrung des überkommenen protestantischen Glaubensgutes vor den Angriffen eines offenbarungs- und christentumsfeindlichen deistischen Rationalismus. Allerdings verband sich Goezes Verteidigung der biblischen Wahrheit mit einer dezidierten Abwehr der Untergrabung der gottgesetzten fürstlichen Autorität. Der Fragmentenstreit wurde von der Braunschweigischen Landesregierung beendet, die Lessing weitere Fragmentenveröffentlichungen untersagte. Eine weitere Reaktion gegen das Fortdringen der Aufklärung auf theologischem Gebiet stellte das Wöllnersche Religionsedikt vom 9. Juli 1788 dar. 5 Der Emporkömmling, Theologe und Agronom Johann Christoph von Brecht/Klaus Deppermann (Hrsg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995; Wolfgang Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. III, 2), Berlin 1989; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuem evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh 1949-1954; Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 15-33; Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 4 1993, S. 157-180. 4 Die im Fragmentenstreit publizierten Schriften sind abgedruckt in Gotthold Ephraim Lessing: Werke VII: Theologiekritische Schriften I und II, hrsg. von Herbert G. Goepfert, Lizenzausgabe Darmstadt 1996; ders.: Werke VIII: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften, hrsg. von Herbert G. Goepfert, Lizenzausgabe Darmstadt 1996. Die wichtigsten Monographien sind William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing), Schwarzenbek 1988; Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch. Die LessingGoeze-Kontroverse, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1989. Der Person und dem Werk des Hamburger Hauptpastors widmen sich Heimo Reinitzer (Hrsg.): Johann Melchior Goeze 1717-1786. Abhandlungen und Vorträge (Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg, Bd. 8), Harnburg 1986; Heimo Reinitzer/ Walter Spam (Hrsg.): Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 45), Wiesbaden 1989; Georg Reinhard Röpe: Johann Melchior Goeze. Eine Rettung, Harnburg 1860. 5 Vgl. zur Vorgeschichte, Durchsetzung und zu den Konsequenzen des Religionsediktes folgende Arbeiten: Heinrich Philipp Conrad Henke: Beurtheilung aller
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Wöllner, Mitglied des Rosenkreuzerordens, bewegte den preußischen König Friedrich Wilhelm II. bald nach seinem Amtsantritt dazu, dieses Edikt zu erlassen, das die für die preußische Landeskirche gültigen Dogmen statuierte und Verstöße gegen sie mit Suspension und anderen weltlichen Strafen belegte. Entsprechenden Publikationen sollte mittels der Zensur entgegengewirkt werden. 1791 wurde die Immediat-Examinations-Kommission zur Überprüfung der Geistlichkeit eingesetzt. Außerdem wurden zur Gewährleistung der Orthodoxie ein neuer Landeskatechismus, eine Dogmatik und ein Examensschema für Kandidaten der Theologie eingeführt. Das Wöllnersche Religionsedikt hatte eine große politische Bedeutung, unabhängig von seiner kirchlichen Zielsetzung. Nicht nur das durch Neologie und Rationalismus aufgeweichte protestantische Bekenntnis sollte gesichert, der Lehrbegriff geschützt werden, sondern der erste Schritt gegen die radikale, ins Politische hineinwirkende Aufklärung wurde unternommen. Das Wöllnersche Religionsedikt war der sichtbare Ausdruck der am Vorabend der Französischen Revolution manifestierten Bestrebungen, mit der Förderung der Aufklärung zu brechen. Der Kampf der Aufklärer gegen die überlieferte Religion, so wurde befürchtet, führe zu politischer Zerrüttung, mithin zur Erschütterung der fürstlichen Gewalt. Kirchenpolitisch wurde das Ziel der Zurückdrängung der Aufklärung aus dem Protestantismus zwar nicht erreicht, gleichwohl vermochte das Edikt zur Festigung der kirchlichen Disziplin beizutragen. Eine weitere Folge des Ediktes bestand darin, daß die Kirche zur Erhaltung ihres Bekenntnisstandes in eine nahezu völlige Abhängigkeit von staatlichen Maßnahmen geraten war. Von einem voll ausgebildeten, lutherisch-orthodox, pietistisch und antirationalistisch motivierten "christlichen Reformkonservativismus"6 mit Schriften welche durch das Königlich Preußische Religionsedikt und durch andere damit zusammenhängende Religionsverfügungen veranlaßt sind, Kiel 1793, Nachdruck Königstein 1978; Wolfgang Gericke: Von Friedrich II. zu Wöllner, in: Günter Wirth (Hrsg.), Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, Berlin 1987, S. 87-105; Johann Friedrich Gerhard Goeters: Bekenntnis und Staatskirchenrecht Das Wöllnersche Edikt und das Allgemeine Preußische Landrecht (1794), in: ders./Rudolf Mau (Hrsg.): Die Anfange der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817 -1850) (Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Ein Handbuch, Bd. 1), Leipzig 1992, S. 46-54; Dirk Kemper: Sprache der Dichtung. Wilhelm Heinrich Wackenroder im Kontext der Spätaufklärung, Stuttgart/Weimar 1993; Thomas Theisinger: Die Irrlehrefrage im Woellnerschen Religionsedikt und im System des Allgemeinen Landrechts für die Preussischen Staaten aus dem Jahre 1794. Eine rechtsgeschichtlich-rechtsdogmatische Untersuchung, jur. Diss. (masch.) Heidelberg 1975; Paul Schwartz: Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788-1798) (Monumenta Gerrnaniae Paedagogica, Bd. 58), Berlin 1925; Fritz Valjavec: Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch 72 (1953), S. 386- 400. 6 Dieter Lohmeier: Mattbias Claudius und Schleswig-Holstein, in: Friedhelm Debus (Hrsg.), Mattbias Claudius. 250 Jahre Werk und Wirkung. Symposium der Joa-
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romantischem Staatsideal kann beim Emkendorfer Kreis (der "Akademie des Nordens") die Rede sein. 7 Publizistisch wurde der enge Kreis, bestehend aus dem Grafen Friedrich von Reventlow, seiner Gattin Friederike Juliaue von Reventlow, Cai Friedrich von Reventlow, Christian und Friedrich Leopold von Stolberg, nur wenig aktiv (gleichwohl sind der Nachwelt eine Unmenge von Briefen und Tagebuchblättern der Emkendorfer erhalten geblieben). Die Emkendorfer setzten gegen den zentralistischen Staat des Aufgeklärten Absolutismus wie gegen die Französische Revolution8 den natürlichen Zusammenhang des Adels, der die konservativ-ständischen Ideen des Kreises bereitwillig aufgenommen hatte, mit dem Landvolk. Mittels einer fortentwickelten Dorfpädagogik suchten die Emkendorfer das Landvolk für die bewußte Bewahrung der Tradition und des althergebrachten Glaubens zu gewinnen. Zur praktischen Ausgestaltung in sozialer Hinsicht kamen diese Bemühungen in Form der Bauernbefreiung, welche die einzelnen Glieder des Kreises auf ihren Gütern durchführen ließen. Die Reventlows benutzten ihren Einfluß, um die rationalistisch geprägte Universität Kiel gemäß ihren Überzeugungen umzugestalten. Der Emkendorfer Kreis förderte alles, was dem antirevolutionären und antirationalistischen christlichen Konservatismus dienlich war, indem er mit aller Kraft versuchte, den Geist der Aufklärung im politischen, theologischen und philosophischen Bereich zu bekämpfen. Es ging den Emkendorfern um intime Religiosität und mystische Gemeinschaft mit der Gottheit, um den Erhalt der gottgewollten Ordnung und der hierarchischen chim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Harnburg 31. August-2. September 1990 (Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Bd. 66), Göttingen 1991, S. 215-239, hier S. 234. 7 Vgl. zum Emkendorfer Kreis und zu seinen Mitgliedern als wichtigste Darstellungen Otto Brandt: Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925; Otto Hellinghaus: Graf Stolberg über die französische Revolution und den revolutionären Geist seiner Zeit, in: Historisch-Politische Blätter 165 (1920), S. 611-624; Rudolf Kayser: Geistig-religiöses Leben auf Schloß Emkendorf. Zur Vorgeschichte der deutschen Restaurationsperiode, in: Preußische Jahrbücher 143 (1911), S. 240-263; Dieter Lohmeier: Der Emkendorfer Kreis, in: ders./Wolfgang G. Müller: Emkendorf und Knoop. Kultur und Kunst in schleswig-holsteinischen Herrenhäusern um 1800, Heide 2 1984, s. 5-40. 8 Die hier nicht detailliert behandelte Reaktion des Prostestautismus auf die Französische Revolution ist Gegenstand der Beiträge von George Peabody Gooch: Germany and the French Revolution, London 1920; Martin Greschat: Die lange Beunruhigung des deutschen Protestantismus durch die Ideen der Revolution, in: Helmut Berding/Günter Oesterle (Hrsg.): Die Französische Revolution. Vorlesung zweiter Teil (Gießener Diskurse, Bd. 3), Gießen 1990, S. 115-133; Edward Dixon Junkin: Religion Versus Revolution. The Interpretation of the French Revolution by German Protestant Churchmen 1789-1799, theol. Diss. (masch.), 2 Bde., Austin (Texas) 1974; Jean-Jacques Langendorf Pamphletisten und Theoretiker der Gegenrevolution 1789-1799, München 1989. A.lfred Stern: Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart/Berlin 1928.
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Gliederung der Gesellschaft, um die Bestätigung der historischen Privilegien des Adels. Sie bewunderten die mittelalterliche Reichsidee; alles Elemente einer Weltanschauung, die bereits Grundlinien der romantischen Staatsauffassung vorbereitete. Kommen wir nun zum berühmten "Wandsbecker Bothen" Mattbias Claudius (1740-1815), 9 einem Freund des Ernkendorfer Kreises. Claudius war als im pietistischen Luthertum verankerter Christ unter Berufung auf Römer 13 vom absolutistischen Gottesgnadentum aller Monarchen überzeugt. Er ging davon aus, daß der König der beste Mann in einem Staate sein solle. Der Regent habe gleichsam patriarchalische Pflichten für seinen Untertan zu erfüllen, jener habe kein Widerstandsrecht 10 Er vertrat nie demokratische Gedanken wie Volkssouveränität, Gesellschaftsvertrag oder Gewaltenteilung und dachte während seines ganzen Weges konservativ-royalistisch. Er kann politisch als ein Aufgeklärter Absolutist gelten. Gleichwohl begriff er den von ihm vertretenen Absolutismus weniger als eine aus den historischen Umständen gewachsene Staatsordnung, sondern vielmehr als rein moralisches Problem, das der Monarch allein mit Gott auszumachen habe. Claudius bekämpfte die Ideen der Französischen Revolution ebenso wie den offenbarungsfeindlichen Rationalismus der Spätaufklärung. Als Folge seiner Überzeugung, daß alle Obrigkeit von Gott ausgehe und nur der absolute Gehorsam gegen die göttliche Ordnung den Staat sichere, kritisierte er schon vor 1789 freiheitliche Forderungen, unmittelbar seit dem Ausbruch der Französischen Revolution wurde diese konservative Ablehnung des politischen Fortschritts schärfer artikuliert, im Laufe der Jahre immer weiter radikalisiert und verspottend vorgetragen. Die Vernunft konnte Claudius nicht als ein Leitmotiv für die Gestaltung der politischen Ordnung des Staates begreifen. Er sah die politischen Verwicklungen seiner Zeit als ein Produkt menschlicher Torheit, nicht als das Resultat einer politischen Verschwörung. Für die Privilegien des Adels empfand er als Bürgerlicher keine besondere Vorliebe, allerdings zog er die alte ständische Verfassung, von deren Mängeln Claudius wohl unterrichtet war, dem modernen Konstitutionalismus doch deutlich vor; Menschenrechte und Menschenfreiheit ohne 9 Vgl. zu Matthias C1audius und seinem politischen Denken Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.): Matthias Claudius. Leben, Zeit, Werk (Wolfenbütte1er Studien zur Aufklärung, Bd. 21 ), Tübingen 1996; darin besonders die Aufsätze von Christian Degn: Claudius und die Obrigkeit, S. 19-28 und Wolfgang Martens: Claudius und die Französische Revolution, S. 43-65; Herbert Rowland: Matthias Claudius, München 1990; Wolfgang Stammler: Matthias Claudius, der Wandsbecker Bothe. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, Halle 1915. 10 Vgl. zum Problem des Widerstandsrechts jetzt die Arbeit von Jürgen-Burkhard Klautke: Recht auf Widerstand gegen die Obrigkeit? Eine systematisch-theologische Untersuchung zu den Bestreitungs- und Rechtfertigungsbemühungen von Gewaltanwendung gegen die weltliche Macht (bis zum 18. Jahrhundert), theol. Diss., 2 Bde., Kampen 1994.
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Rückhalt zu predigen bedeute, an unentbehrlichen Banden zu rütteln, um den durch den Staat niedergehaltenen Egoismus zu bekämpfen. Zwei literarische Kostproben seines satirischen Spottes seien hier noch zitiert. In einer Fabel aus dem Jahre 1795 machte sich der Dichter über eine falsch verstandene Pressefreiheit lustig: "Vor etwan achzig, neunzig Jahren Vielleicht sind's hundert oder mehr, Als alle Thiere hin und her Noch hochgelahrt und aufgekläret waren, Wie jetzt die Menschen ohngefahr. Sie schrieben und lectürten sehr. Die Widder waren die Scribenten, Die andem Leser und Studenten, Und Censor war: der Brummet-Bär. Da kam man supplicando ein: ,Es sey unschicklich und sey klein, Um seine Worte und Gedanken Erst mit dem Brummel-Bär zu zanken, Gedanken müsten Zollfrey seyn.' Der Löwe sperrt den Bären ein, Und thut den Spruch: ,die edle Schreiberey Sey künftig frank und frey,' Der schöne Spruch war kaum gesprochen, Da war auch Deich und Damm gebrochen. Die klügem Widder schwiegen still, Laut aber wurden Frosch und Crocodill, Seekälber, Scorpionen, Füchse, Kreutzspinnen, Paviane, Lüchse, Katz, Natter, Fledermauß und Staar. Und Esel mit dem langen Ohr. Die schrien alle nun und lieferten Tractate Vom Zipperlein und von dem Staate; Vom Luftballon und vom Altar Und wußten alles auf ein Haar, Bewiesen' s alles Sonnenklar, Und rührten doch einander gar, Daß es ein Brey und Gräuel war. Der Löwe gieng mit sich zu Rathe Und schüttelte den Kopf, und sprach: Die bessern Gedanken kommen nach; Ich rechnete aus angestammtem Triebe Auf Edelsinn und Wahrheitsliebe, Sie waren's nicht werth, die Sudler klein und groß; Macht doch den Bären wieder Ioß!!" 11 11
Matthias Claudius: Fabel, in: Eudämonia oder deutsches Volksglück 1 (1795),
s. 463f.
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In dem Gedicht "Urians Nachricht von der neuen Aufklärung oder Urian und die Dänen" von 1797 stimmte Claudius noch schärfere, derbschlagkräftige Töne gegen die Revolution an und gab das "neue System" der Lächerlichkeit preis: "Urian Ein neues Licht ist aufgegangen, Ein Licht, schier, wie Karfunkelstein! Wo Hohlheit ist, es aufzufangen, Da fahrt's mit Ungestüm hinein. Es ist ein sonderliches Licht; Wer es nicht weiß, der glaubt es nicht. Die Dänen Erzähl er doch von diesem Licht! Was kann es? Und was kann es nicht? Urian Erst lehrt es euch die Menschenrechte. Seht, wie die Sache euch gefallt! Bis jetzo waren Herr und Knechte, Und Knecht und Herren in der Welt; Von nun an sind nicht Knechte mehr, sind lauter Herren hin und her. Die Dänen Sind also keine Knechte mehr! Sind alles Herren hin und her! Urian Sonst war Verschwiegenheit im Schwange, Und Menschen waren klug und dumm; Es waren kurze, waren lange, Und dick und dünne, grad und krumm. Doch nun, nun sind sie allzumal Schier eins und gleich, glatt wie ein Aal. Die Dänen Nun aber sind sie allzumal Schier eins und gleich, glatt wie ein Aal! Urian Man nannte Freiheit bei den Alten, Wo Kopf und Kragen sicher war, Wo Ordnung und Gesetze galten, Und niemand krümmete kein Haar. Doch nun ist frei, wo jedermann Radschlagen und rumoren kann. 3 Schrenck-Noczing
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Volker Jordan Die Dänen Vernunft ist, was man nie leugnen mußte, War je und je ein nützlich Licht. Indes was sonsten sie nicht wußte, Das wußte sie doch sonsten nicht. Nun sitzt sie breit auf ihrem Steiß, Und weiß nun auch, was sie nicht weiß! Urian Religion war hehre Gabe Für uns bisher, war Himmelbrot; Und Menschen gingen darauf zu Grabe: Sie sei, und komme her, von Gott. Nun kommt sie her, weiß selbst nicht wie?Man saugt nun aus den Fingern sie. Die Dänen Nun kommt sie her, wir wissen wie? Sie saugen aus dem Finger sie. Urian Auch wißt ihr wohl von Potentaten, Wie der großmächtiglieh regiert, Und wie, ohn Streit und Advokaten, Dem Szepter Ehr und Furcht gebührt. Doch nun ist Szepter gar nicht viel, Nicht besser als ein - Stiel. Die Dänen Uns ist und bleibt der Szepter viel! Euch lassen wir den - andern Stiel. Wir fürchten Gott, wie Petrus schreibet, Und ehren unsern König hoch. Was Wahrheit ist, und Wahrheit bleibet Im Leben und im Tode noch; Das ist uns heilig, ist uns hehr! Ihr Fasler, faselt morgen mehr. Schlußchor Was himmelan die Menschen treibet; Sie besser macht; was Probe hält; Was Wahrheit ist und Wahrheit bleibet Für diese und für jene Welt; Das ist uns heilig, ist uns hehr! Ihr Fasler, faselt morgen mehr." 12
12 Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Mit Nachwort und Bibliographie von Rolf Siebke, Anmerkungen von Hansjörg Platschek und einer Zeittafel, Düsseldorf/ Zürich, Lizenzausgabe Darmstadt 8 1996, S. 459-461; auch in: Eudämonia oder deutsches Volksglück 4 (1797), S. 188 f.
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Gottfried Menken (1768-1831 ), ein heutzutage nahezu vergessener Konservativer, dem wir uns nun zuwenden wollen, war ein scharfer Feind des bibelkritischen Rationalismus, der Neologie, der natürlichen Moralreligion und der Aufklärung als solcher. Er gilt als bedeutender, der frühen Erwekkungsbewegung nahestehender, antikonfessionalistischer Prediger und reformierter Bibeltheologe mit einer heilsgeschichtlich akzentuierten, die sich in allen Zeitaltern entfaltende Liebe Gottes und das Alte Testament betonenden Theologie. Seine Hauptlehre war die vom buchstäblich verstandenen, physische und politische Gestalt findenden, in den Büchern Daniel und Offenbarung beschriebenen Königreich Gottes unter Jesus Christus als König. Für die Französische Revolution und ihre Gottlosigkeit, die er apokalyptisch wertete, hatte Menken von Anbeginn an nichts anderes als Verachtung übrig. In einem Brief schrieb er 1791: "Und wie jetzt die ganze Welt schreiet: Gott ist mit den Franzosen! so wird die Erde dem Thiere nachfolgen und die Gräuel des Teufels für Thaten Gottes halten." 13 1795 veröffentlichte er anonym die Streitschrift "Ueber Glück und Sieg der Gottlosen".14 Hierin wird deutlich, daß für Menken Aufklärung und ihre sittlichen Ideale, Bibelkritik, Neologie, natürliche Religion oder Vemunftreligion, Atheismus, Illuminatismus, Französische Revolution, die Hinrichtung Ludwigs XVI., Ausschreitungen und Blutgerichte, Kampf des revolutionären Staates mit der katholischen Kirche, Kampf Frankreichs gegen die christlichen Alliierten insgesamt auf einen Nenner zu bringen waren: Abfall des allem heiligen Wesen entfremdeten Menschen von Gott. Dieser lag für ihn erstrangig in der eschatologischen Entwicklung der Heilsgeschichte begründet. Angesichts der Gründung von Recht, Wahrheit und Ordnung in göttlicher Offenbarung sei stets das Festhalten an der alten Überlieferung das sittlich und religiös Gebotene; die Veränderung, der Fortgang zu Neuern bedeute hingegen Verschlechterung, Verdunklung, Mehrung von Irrtum und Verderben. Allein die Rückkehr zur biblischen Religion könne als Heilmittel gegen die Unmoral der Französischen Revolution angesehen werden. Mit an Schärfe nicht zu überbietenden Worten geißelt er die Revolution: "Ein Volk steht auf und zeigt durch unzählige widernatürliche Greuel und Schandthaten, daß es alle Menschheit verloren hat, es begeht einen Königsmord, der so unnatürlich ist wie ein Vatermord; es düngt den Boden seines Landes mit dem Blute der Eingehomen des Landes; kein Stand, kein Geschlecht, kein Alter, 13 Zit. nach Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. Mit einem Nachwort von Jöm Garber, Kronberg/Düsseldorf 2 1978, S. 66. 14 Gottfried Menken: Ueber Glück und Sieg der Gottlosen. Eine politische Flugschrift aus dem Jahre 1795, in: Des Dr. theol. Gottfried Menken weil. Pastor prim. zu St. Martini in Bremen Schriften. Vollständige Ausgabe, Bd. 7, Bremen 1858, S. 77-104. 3•
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keine Unschuld, nichts schützt gegen die allgemeine Mord- und Blutlust; es erzieht seine unmündigen Kinder zum Mord, gewöhnt sie an Mord, gewöhnt sie durch neuersonnene Spiele an Blut, raffinirt also darauf, wie es die Menschheit in ihrem zartesten Keim ersticken möge; es bratet Menschen und frisst Menschenfleisch; es mordet en gras bei Hunderten, bei Tausenden; - und was mehr ist als das alles, laut und öffentlich sagt sich dieses Volk von allem Gott und von aller Gottesverehrung los, hebt allen Gottesdienst auf, entweiht oder zerstört die Kirchen; seine tägliche Sprache ist freche Gotteslästerung; nicht nur, daß es mit unsinniger Wuth die Bilder des Gekreuzigten zerstört, es vernichtet mit kaltboshafter Überlegung alles, was an Gott und an Jesus Christus, den Henn der Herrlichkeit erinnert, schafft christliche Zeitrechnung und Feste ab, trägt eine Hure auf den Altar und betet sie an, lässt an mehreren Orten die Bibeln auf einen Haufen tragen und verbrennt sie. Was hätte man da anders erwarten sollen, als daß die ganze Menschheit im Gefühle des gerechtsten Abscheu's wünschen würde, daß diese Brut des Abgrunds vom Antlitz des Himmels vertilgt werden möchte?" 15
In Menkens zweiter wichtiger politischer Schrift "Das Monarchienbild'" 6 aus dem Jahre 1802 finden wir seine berühmten Thesen über das Wesen der Revolutionen: "Alle Revolutionen sind gegen das Reich Gottes, sollen das Reich Gottes entbehrlich machen. Denn bei allen Revolutionen ist von menschlicher Seite eigentlich dieses die Meinung: das zu realisiren, was der menschliche Verstand von Anbeginn für das Maximum alles Verstandes und aller Weisheit und für das Nöthigste zur Gründung einer wahren, dauernden Menschenglückseligkeit erkannt, gesucht, aber nicht gefunden hat; das zu realisiren, was das Ziel aller Worte und Anstalten Gottes ist, - eine vollkommene Staatsverfassung, ein Himmelreich der Gerechtigkeit und Liebe auf Erden." 17 Revolutionen versuchten zwar, das Königreich Gottes zu verhindern, begünstigten es aber letztlich nur. Sie seien also einerseits antichristlieh, weil sie sich anmaßten, etwas herbeiführen zu wollen, was Gott seiner eigenen Macht vorbehalten habe, und somit gegen das Reich Gottes, andererseits könnten sie dessen Offenbarwerden weder verhindem noch verzögern. Die Revolution sei keine Sünde unter vielen, sondern die Sünde schlechthin, eine offene Kriegserklärung gegen Gott, obwohl sie sich von anderen Verfehlungen nur durch ihre Größe und Sichtbarkeit, nicht aber von ihrer Natur her unterscheide. Abschließend bleibt festzuhalten, daß Menkens eschatologische, auf das Reich Gottes als Ziel- und Endpunkt bezogene Geschichtssicht sowohl die politischen Ziele des bürgerlichen Frühliberalismus als auch den Humanitätsgedanken der deutschen Philosophie und das Streben zu einem Idealrei15
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Ebd., S. 86f. Gottfried Menken: Das Monarchienbild, in: ebd., S. 105-166. Ebd., S. 128.
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ehe hin als widergöttlich verneinen mußte, weil es der gottgesetzten Ordnung und dem Heilsplan Gottes widerstrebe. Menkens neupietistische, patriotische Orthodoxie mündete in die konservative Weltanschauung der preußisch-norddeutschen Restauration. Für ihn kain als göttlich legitimierte Staatsform ausschließlich die Monarchie in Betracht, weil alle Republiken zur endlichen Selbstauflösung verurteilt seien. Eine direkte Linie von Menken besteht zu Friedrich Julius Stahl. Streifen wir noch einen Augenblick die sogenannte Verschwörungstheorie.18 Diese zuerst von dem französischen Jesuiten Augustin Barruel (1741-1820) propagierte Theorie versuchte die Französische Revolution als das Werk einer kleinen Verschwörergruppe, bestehend aus Illuminaten und Freimaurern, zu erklären. Sie hätten sich gegen die europäischen Monarchien zum Zwecke des Umsturzes der christlichen Sozialordnung verschworen. Als wichtige deutsche Vertreter und Verbreitungsorgane der Komplotttheorie sind zu nennen: Der Kryptakatholik Johann August Starck (17411816), die "Wiener Zeitschrift" (1792-1793) des Katholiken Leopold Alois Hoffmann (1759-1801) sowie die protestantischen Zeitschriften "Die neuesten Religionsbegebenheiten" (1777 -1796) von Heinrich Martin Gottfried Koester (1724-1802) und der "Revolutionsalmanach" (1777 -1796) von Heinrich August Ottokar Reichard ( 1751-1828). Die Zeitschrift "Eudämonia" leistete einen entscheidenden Beitrag als Sammelbecken des antirevolutionären Konservatismus. Hauptherausgeber waren der ehemalige Illuminat und Freimaurer Ludwig Adolf Christian von Grolman (1741-1809) und Johann Georg Ritter von Zimmermann (1728-1795). Das Journal erschien in sechs Bänden 1795-1798. Das Ziel der Zeitschriftenbeiträge war es, "Deutschlands glückliche religiöse und politische Freiheit zu erhalten". 19 Inhaltlich wurde die "Eudämonia" jedoch völlig von der Verschwörungstheorie und von der Polemik gegen die Illuminaten beherrscht. Deren Ziel sei es, "die Altäre umzustürzen, die Throne zu untergraben, die Moral zu verderben, die gesellschaftliche Ordnung übern Haufen zu werfen, kurz jede bürgerliche und religiöse Ordnung einzureissen und Heidenthum, Mordgericht, und alle Gräuel einer demagogischen Anarchie einzufüh18 Vgl. zu diesem Aspekt des protestantischen Frühkonservatismus folgende Arbeiten: Max Braubach: Die "Eudämonia" (1795- 1798). Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeitalter der Aufklärung und der Revolution, in: Historisches Jahrbuch 47 (1927), S. 309-339; Jacques Droz: La Legende du complot illuministe et !es origines du romantisme politique en Allemagne, in: Revue Historique 226 (1961), S. 313-338; Gustav Krüger: Die Eudämonisten. Ein Beitrag zur Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 143 (1931 ), S. 467500; Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 17761945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern/Frankfurt a. M. 1976 (Europäische Hochschulschriften III/63). 19 Eudämonia oder deutsches Volksglück I (1795), S. IV.
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ren. " 20 Als Gegenmaßnahmen wurden die Einschränkung der Presse- und der akademischen Lehrfreiheit empfohlen. Trotz ihrer an Hysterie grenzenden Komplottheorie glaubte die "Eudämonia" sich im historischen Recht, da sie gegen den theologischen Rationalismus mutig zu Felde zog und für die Bewahrung des christlichen Glaubensgutes eintrat. Betrachten wir abschließend noch kurz das politische Denken Johann Heinrich Jung-Stillings (1740-1817), 21 des "Patriarchen" der Erweckung, vor, während und nach der Französische Revolution: In seinen ersten kameralwissenschaftliehen Arbeiten und Romanen vertrat er gemäßigt fortschrittliche Ansichten im Blick auf Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik und postulierte, von der Aufklärung beeinflußt, sogar Menschenrechte. Andererseits verteidigte er dezidiert das christlich-konservative Bild des absolutistisch-patriarchalischen Herrschers und entwarf konservative Staatsutopien mit deutlich christlichen Zügen. Die Erfahrung der Revolution führte zunächst zum drastischen Abbau der fortschrittlichen Elemente in Jungs Staatsauffassung, später erweiterte Stilling sie um eine apokalyptisch-escha20 Ueber die Gewalt der unsichtbaren Brüder, in: Eudämonia oder deutsches Volksglück 2 (1796), S. 213-235, hier S. 233. 21 Vgl. zu dieser Thematik folgende Titel: Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976; Johann Heinrich Jung-Stilling: Sämmtliche Schriften, 8 Bde., Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1835-1838, Hildesheim/New York 1979; ders.: Tägliche Bibelübungen, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Gießen/Basel 1989; Badische Landesbibliothek Karlsruhe (Hrsg.): Jung-Stilling. Arzt - Kameralist Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung. Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit der Stadt Siegen/Siegerlandmuseum und in Verbindung mit dem Generallandesarchiv Karlsruhe, Karlsruhe 1990; Thomas Baumann: Jung-Stilling und die Französische Revolution, in: Pietismus und Neuzeit 16, 1990, S. 132-154; ders.: Jung-Stilling und die Französische Revolution, Magisterarbeit (masch.), Freiburg o. J. (1987); ders.: Zwischen Weltveränderung und Weltflucht. Zum Wandel der pietistischen Utopie im 17. und 18. Jahrhundert, Lahr-Dinglingen 1991; Ernst Benz: Endzeiterwartung zwischen Ost und West, Freiburg 1973; Max Geiger: Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie (Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 1), Zürich 1963; Otto Wilhelm Hahn: Johann Heinrich Jung-Stilling, Wuppertai/Zürich 1990; ders.: Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und sein literarisches Werk 17781787 (Europäische Hochschulschriften XXIII/344), Frankfurt a. M./Bem/New York/Paris 1988; Johannes Harder: Jung-Stilling, Rußland und die endzeitliehen Erwartungen bei rußlanddeutschen Kolonisten im 19. Jahrhundert, in: Jung-StillingStudien (Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland, Bd. 15), Siegen 2 1987, S. 9-25; Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erwekkung. Eine Iiteratur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795-1816 und ihres Umfelds (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32), Göttingen 1994; Rainer Vinke: Das Verhältnis Jung-Stillings und der Erweckung zur Französischen Revolution, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 39 (1990), S. 59-83.
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tologische Komponente, indem er Frankreich und der Revolution einen zentralen Ort im Rahmen des letzten Kampfes zwischen dem Reich Gottes und des Antichristen, zwischen der wahren Religion und der falschen Aufklärung, welche die überkommenen politischen Ordnungen stürzen wollte und daher unweigerlich göttliches Gericht zu erwarten hatte, zuwies. Zugleich entwickelte er eine "Heilsgeographie", indem er im Heimweh-Roman das Heil aus dem Osten von dem erweckten Zaren Alexander I. erwartete und die bedrängte Christenheit auf den Bergungsort in Rußland, Solyma, verwies, womit er die schwäbische Auswanderungsbewegung mit verursachte. Stillings Blick auf Napoleon war zwiespältig: Verurteilte er nach anfanglieber Bewunderung dessen Bestreben zur Weltherrschaft, vermochte er in dem Korsen doch nicht den Antichristen zu sehen und beurteilte ihn letztlich aus der Sicht des Reiches Gottes, dessen Sache er indirekt außerordentlichen Nutzen gebracht habe. Stilling war ein ideologischer Wegbereiter der Heiligen Allianz.
II. Forschungsstand Überblickt man die zum Thema vorhandene Literatur, so ist es befremdlich, daß eine wissenschaftliche Monographie, die alle erwähnenswerten Protestanten in Beziehung zum werdenden Konservatismus in der erwähnten Periode untersucht, nach unserer Kenntnis bislang fehlte. Diesem Mangel hofft der Autor dieser Zeilen mit seiner in absehbarer Zeit veröffentlichten Studie22 Abhilfe zu verschaffen. Gleichwohl ist die Literaturlage alles andere als schlecht, denn es existieren eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit Einzelaspekten des Themas beschäftigen, die aber im kurzen Forschungsüberblick unmöglich einzeln gewürdigt werden können. Wir beschränken uns daher auf vier übergreifende Standardwerke. Grundlegend sind nach wie vor die Arbeiten von Jacques Droz, Fritz Valjavec 23 und Klaus Epstein. 24 Droz hat sich in seiner Studie über den Einfluß der Französische Revolution auf Deutschland in zwei Kapiteln dem Kampf gegen den Illuminatis22 Sie wird auf folgender Arbeit basieren: Volker Jordan: Der protestantische Frühkonservativismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Magisterarbeit (masch.), Freiburg 1997. 23 Zu Valjavecs Standardwerk existiert seit kurzem ein Register, das den Benutzern des Buches empfohlen sei: Volker Jordan: Register zu Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815 (IKBF), München 1998. 24 Jacques Droz: L' Allemagne et Ia Revolution frant;aise, Paris 1949; Valjavec: Entstehung der politischen Strömungen (wie Anm. 7); Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806. Aus dem Englischen von Johann Zischler, Frankfurt a. M./Berlin 1973.
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mus und der pietistischen Reaktion in Holstein gewidmet und hier vor allem die Verschwörungstheorie, die "Eudämonia", den Ernkendorfer Kreis, Johann Heinrich Jung-Stilling, Friedrich Leopold von Stolberg und Matthias Claudius, aber auch kurz das Wöllnersche Religionsedikt und die Lessing-Goeze-Kontroverse dargestellt. Die frühkonservativen Ansätze deutet er insgesamt als Vorläufer der Romantik. Valjavec hat mit seiner Grundthese, daß die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland nicht auf die Französische Revolution, sondern bereits auf die Aufklärung zurückzuführen sei, die Forschung seither geprägt. Die Französische Revolution war nicht auslösender, sondern verstärkender Faktor für divergente politisch-pragmatische Auffassungen. Valjavec bezieht die Lessing-Goeze-Kontroverse, das Wöllnersche Religionsedikt, den Ernkendorfer Kreis, Matthias Claudius, Johann Caspar Lavater, Gottfried Menken, die Komplottheorie und die "Eudämonia" in seine Darstellunl:. der Anfange des Frühkonservatismus ein. Epsteins monumentales Werk über die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland basiert in vielen Bereichen auf Valjavec, ohne es direkt zu erwähnen. Epstein, der übrigens keine einzige Archivquelle herangezogen hat und sich ausschließlich auf Veröffentlichungen stützte, stellt kurz die Aufklärungstheologie, detailliert die Lessing-Goeze-Kontroverse, die Wöllnersche Religionspolitik sowie die Komplottheorie und die "Eudämonia" dar. Den Ernkendorfer Kreis und die mit ihm verbundenen Schriftsteller handelt er, sofern überhaupt, nur knapp und oberflächlich ab, andere wie Jung-Stilling und Menken werden nicht einmal erwähnt. Seine Überlegungen sind dennoch unerläßlich. Als ein aktuelles, übergreifendes Werk, das die Forschung weiterbringen wird, sei noch der Sammelband von Christoph Weiß und Wolfgang Albrecht25 genannt. Der Band besteht aus einer Einleitung, welche die seit Valjavec und Epstein magere Forschungsgeschichte beleuchtet, und 17 Beiträgen über je einen Publizisten. Die Gegenströmung zur Aufklärung sei, so die Herausgeber, nicht ausschließlich unter konservativem Vorzeichen zu sehen, weshalb sie vor allem mit dem Begriff "Gegenaufklärung" operieren. Politisch-kulturelle, antirevolutionäre Zeitschriften und ihre Editoren stehen im Mittelpunkt des Buches, vom "Mainzer Religions-Journal" über die "Wiener Zeitschrift", die Gießener "Neuesten Religionsbegebenheiten", das "Magazin für Kunst und Literatur" und die "Eudämonia" bis zu Girtanners "Historischen Betrachtungen über die Französische Revolution". Außerdem wird das politische Denken Wöllners und Claudius' einer nähe25 Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Hrsg.): Von "Obscuranten" und "Eudämonisten". Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten I 8. Jahrhundert, St. lngbert 1997.
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ren Betrachtung unterzogen. Die ausführlichen Beiträge sind informativ geschrieben und stützen sich teilweise auf neu aufgefundenes Archivmaterial, was im Einzelfall zu manchen Korrekturen des Forschungsbildes führt, jedoch lange nicht alle Lücken schließen kann.
111. Forschungslücken Das gesamte Material (besonders Briefe, ArchivaHa und Zeitschriften) sollte nach und nach erfaßt und gesichtet werden. Es wäre lohnenswert, einige schwer erreichbare, wichtige Texte neu herauszugeben, entweder in Form eines fotomechanischen Nachdrucks oder einer kommentierten Ausgabe. Bislang fehlt eine adäquate, begriffsgeschichtlich und definitorisch abgesicherte Klassifizierung und Einordnung der frühkonservativen Protestanten. Eine weitere Forschungsarbeit wäre die Verortung von Friedeich Carl und Johann Jakob von Moser im Rahmen des Frühkonservatismus. Das Beziehungsgeflecht der protestantischen Konservativen untereinander und zu anderen konservativen Personen (z. B. Gentz, Brandes, Rehberg, Gallitzin-Kreis) ist dringend zu analysieren; wechselseitige Einflüsse sollten eruiert und beschrieben werden. Unbedingt muß über die Beziehung der Frühkonservativen zum Freimaurertum geforscht werden. Wie paßt das Engagement einiger Konservativer in der Freimaurerloge zur Verschwörungsthese? Als Beispiel sei Mattbias Claudius genannt, der 1774 von der Hamburger Freimaurerloge "Zu den drei Rosen" an einem einzigen Abend (!) in alle drei Grade aufgenommen wurde - was für ihn nach unserem Kenntnisstand eine lebenslange Bindung an die Freimaurerei, die auch in einigen Liedern und Gedichten zum Ausdruck kam, begründete. 26 Gleichzeitig erschienen Artikel aus seiner Feder in der Eudämonia! Gerade zu dieser Zeitschrift wären weitere Studien, die Verbindungen des Journals aufzeigen und ihre Autoren noch weiter identifizieren und zuordnen könnten, willkommen. Zu wenig sind bislang die Wirkungslinien des protestantischen Frühkonservatismus des 18. auf den protestantischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts erforscht. Man hat letzteren in der Forschung zu sehr für sich betrachtet und zu wenig nach ideengeschichtlichen Wurzeln gefragt.
26 Vgl. Eugen Lennhof/Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikon, Nachdruck der Ausgabe Wien 1932, Wien/München 1975, Sp. 279.
Katholischer Konservatismus - Literaturbericht und Versuch einer Typologie Von Felix Dirsch
I. Vorbemerkungen über das Verhältnis von Konservatismus und politischem Katholizismus Der politische Katholizismus, wobei genauer zu klären ist, was man darunter versteht, darf als Stiefkind des Konservatismus gelten, als eine Art unehelicher Sohn. Wie ist diese Aussage zu begründen? Nimmt man einige Überblicksdarstellungen in die Hand, egal ob es sich dabei um die leitfadenartig aufgebauten Darstellungen von Wilhelm Ribhegge 1 oder jüngst von Axel Schildt2 handelt oder den mehr persönlichkeitsorientierten Sammelband von Hans-Christof Kraus 3, so wird man darin relativ wenige Katholiken finden. Gleichwohl wird in diesen genannten Studien durchaus erwähnt, daß es einen katholisch fundierten Konservatismus gab, wenngleich dieser nicht den Hauptstrom konservativen Denkens bildete bzw. bilden konnte. Der Katholizismus als politische, geistige und kulturelle Strömung konnte lediglich partiell, temporär und bedingt, niemals aber dauerhaft konservativ sein. Welche Hintergründe hat diese Aussage? Sie hängt mit den speziellen Bedingungen bei der Entstehung des Katholizismus als gesellschaftliche und politische Bewegung zusammen. Diese hatte stets ein janusköpfiges Gesicht, das nicht zuletzt auf die komplizierten Wechselwirkungen zwischen dem Katholizismus als gesellschaftliche Bewegung und dem kirchlichen Amt zurückzuführen ist. Eine konsistente Definition dieses Verhältnisses gibt es nicht, lediglich Versuche einer Annäherung. Eine weitere und umfassendere Bestimmung geht davon aus, daß man unter Katholizismus "im Unterschied 1 Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989. 2 Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. 3 Hans-Christo! Kraus: Konservative Politiker im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1995; vgl. zu diesem Sammelband meine Rezension in: Zeitschrift für Politik, Heft 4 (Dezember 1996), s. 452-454;
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von katholischer Kirche alle jene geschichtlichen Lebensäußerungen und Auswirkungen (im geistigen, politischen und kulturellen Bereich) verstehen" kann, "die zwar von der katholischen Kirche (oder von Katholiken unter Berufung auf oder Antrieb durch ihr katholisches Christentum) ausgehen oder mitgeprägt sind (de facto oder auch überdies legitim), aber darum nicht einfach mit der Kirche identifiziert werden, weil sie gleichzeitig eine solche völkische, zeitgeschichtliche Bedingtheit haben, daß sie weder zum bleibenden Wesen der Kirche gerechnet noch als dessen notwendige geschichtliche Ausprägung angesehen werden können. " 4 Diese Bestimmung geht von einer dauerhaften Sendung und einem ewigen Auftrag der Kirche aus, auf die die relative Erscheinung des Katholizismus bezogen ist als eine Art gesellschaftliche, politische oder kulturelle Äußerungsform, als eine Art ständig verbundener Vorhof bzw. Bastion. Dieser Dualismus, der eine klare Priorität in sich schließt, blieb bis zum Ende des politischen Katholizismus für diese Bewegung charakteristisch. Eine engere Definition berücksichtigt die Zeitgebundenheit des Katholizismus, der die schrittweise erfolgte Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung seiner Entstehung voraussetzt und sich somit zeitlich in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts einordnen läßt. Vorformen reichen jedoch bis ins Zeitalter der Aufklärung zurück. Aufgrund der Voraussetzung des historischen Kontextes ist es sinnvoller, unter Katholizismus "die nationale oder regionale Gesamtheit der Katholiken" zu verstehen, "die kraft ihrer staatsbürgerlichen Rechte und inneren Bindungen an die Kirche deren Interessen wahrnehmen oder Dienste leisten, welche die Kirche der Gesellschaft zu leisten fähig oder verpflichtet ist. " 5 Dieses schwer zu begründende Nebeneinander von Kirche und Katholizismus als zweier Phänomene, die bei aller Unterscheidung auf vielfaltigste Weise, auch personell, eng verbunden waren, hatte eine Reihe von maßgeblichen Implikationen: In der politischen und gesellschaftlichen Praxis bildete sich sehr bald die Vorstellung von den "bona particularia" heraus. 6 Alle anderen Güter, besonders im politischen Bereich, waren demgegenüber sekundär und letztlich disponibel. Die bona particularia, vor allem die Kirche, bildeten die Substanz des Gemeinwohles. Eine politische Theologie 4 Kar[ Rahner: Katholizismus, in: Lexikon für Theologie und Kirche, zweite, neubearbeitete Auflage, hrsg. von Josef Höfer und Kar! Rahner, Bd. VI: Karthago bis Marcellino, Freiburg 1961 (TB-Ausgabe Freiburg 1986), Sp. 89. 5 Heinz Hürten: Katholizismus, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görresgesellschaft, Bd. 111: Hoffmann-Naturrecht, Sonderausgabe der 7., völlig neu bearbeiteten Auflage, Freiburg/Basel/Wien 1995, Sp. 374. 6 Grundlegend nicht nur für die Erörterung der Haltung des politischen Katholizismus im Jahre 1933: Ernst- Wolfgang Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos (Schriften zu Staat - Gesellschaft Kirche, Bd. 1). Mit einem historiographischen Rückblick von Kar1-Egon Lönne, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 39-69, bes. S. 61.
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des Katholizismus hat es nie gegeben und konnte es aus dieser Perspektive auch nicht geben. Es verwundert somit nicht, daß sämtliche Konstruktionen der politischen Theologie, unabhängig ob von der Ausrichtung eher politisch "rechts" wie die von Carl Schmite oder politisch "links" wie die von Johann B. Metz8 , sich nicht auf den Katholizismus bezogen, sondern auf die Kirche oder deren Wesen9 . War die Lehre der Kirche in ihren dogmatischen Hauptaussagen unveränderlich, so galt dies nicht für die Mittel ihrer Verteidigung, die bona secundaria. Ebenso verhält es sich mit der Naturrechtslehre, die seit jeher zum Brückenschlag von Kirche und Welt diente. Sie ist freilich sehr unpräzise, was die Tendenz zum Flexiblen, Kompromißbereiten und Relativen in der katholischen Soziallehre noch zusätzlich verstärkt hat. Es ist daher folgerichtig, wenn das ganze 19. Jahrhundert und fast die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts das Element des Demokratischen in der katholischen Soziallehre weitgehend auf den Bereich des Gesellschaftlichen begrenzte. Demokratie als (sozialer) Dienst an der Bevölkerung - das schien der Aufgabe der Kirche am ehesten zu entsprechen.10 Die Relativierung des politischen Faktors im Kontext der katholischen Soziallehre wird auch in der päpstlichen Sozialverkündigung deutlich. Die Wiederbelebung der thomasischen Indifferenzlehre durch Leo XIII war eine naheliegende Folge. 11 Die Kirche, so Leo XIII, tauft keine Staatsform. "Civitas non est dux ad coelestia" - wie eine seiner bekannten Aussagen zu dieser Frage lautete. Politische Theologie - Vier Kapitel von der Souveränität, Berlin 1922 u. ö. Johann B. Metz: Zur Theologie der Welt, Mainz/München 1968, bes. S. 99116; zur Kritik dieses Ansatzes vgl. Hans Maier: Katholizismus und Demokratie (Schriften zu Kirche und Gesellschaft, Bd. 1), Freiburg/Wien/Basel, 1983, bes. s. 185-207; s. 208-239 9 Die Schmitt-Deutung geht davon aus, daß Schmitt die katholische Kirche als idealtypische Organisation verstand, die flexibel handeln konnte, weil sie sich im Besitz der Wahrheit wußte (so Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin/ Frankfurt 1993, S. 70). Im übrigen ist es keineswegs zufällig, wenn Schmitts Gewährsleute für seine politische Theologie nicht aus Deutschland stammten. Anders als die Vertreter des deutschen Katholizismus gingen de Maistre, de Bonald, Donoso Cortes usw. von einer direkten Verbindung von Welt und Kirche aus. 10 Vgl. dazu die Hintergründe bei Hans Maier: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, 5., neu bearbeitete Auflage, Freiburg/Baseil Wien 1988; M. P. Fogarty: Christliche Demokratie in Westeuropa, Freiburg 1959; Winfried Becker, Rudolf Morsey (Hg.): Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln/Wien 1988; 11 Vgl. die knappe Darstellung bei Maier: Katholizismus und Demokratie (wie Anm. 8), S. 67-73. Die Indifferenzlehre ermöglichte auch die nach der "totalitären Erfahrung" (Bracher) erfolgte, eindeutige Hinwendung zur Demokratie im politischen Bereich (vgl. dazu Hermann-Josef Große Kracht: Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit, Paderbom u. a. 1996, bes. S. 185 f.). 7
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Was folgt aus dem Ergebnis dieses Exkurses für die hier zu bearbeitende Themenstellung? Das schwierige Verhältnis der Kirche zu den unterschiedlichen weltanschaulichen Richtungen erklärt, warum es keine größere Gesamtdarstellung über das Phänomen des katholischen Konservatismus gibt. Die vorliegende Arbeit will lediglich in typologischer Form einige Erscheinungsformen dieser Strömung beschreiben - Erscheinungsformen, die sich durch unterschiedliche Epochen ziehen. Während der politische und erst recht der gesellschaftliche Katholizismus in den Bereichen Medien, Parteien und Verbände aus den oben kurz skizzierten Gründen ein janusköpfiges Gesicht offenbarte, zeigt ein Blick in die neuere Sozial- und Mentalitätsforschung ein anderes Ergebnis. Neuere Studien, etwa von Urs Altermatt am Beispiel der Schweiz, wollen das sozial- und alltagsgeschichtliche Defizit der Katholizismusforschung beseitigen. 12 Altermatt geht vom katholischen Milieu aus. Gründe für die Rückständigkeit vieler Schweizer Katholiken sieht Altermatt in den ländlichen Wohnräumen und Arbeitsgelegenheiten, die vielfältige Folgen mit sich brachten: Bildungsdefizit, geringere Ausbildungsmöglichkeiten, geringere Aufgeschlossenheit gegenüber kulturellen, technischen oder wissenschaftlichen Entwicklungen. 13 Auf diesem Hintergrund konstatiert er den katholischen "Konservatismus als Protesthaltung". Die katholische, stark auf Bewahrung ausgerichtete Mentalität und Konfession war ein Stück identitätsstiftend. Sie richtete sich gegen so unterschiedliche Faktoren wie die Industriekultur, aber auch gegen die Gewerkschaftsbewegung. So läßt sich die Relevanz des katholischen Konservatismus, der nicht nur, aber vor allem in der Mentalität der betreffenden Schweizer Bevölkerung angelegt war, wie folgt charakterisieren: "Der konservative Katholizismus war zunächst einmal antimodernistische Reaktion auf den Modemisierungsprozeß, indem er Bestehendes gegen den sozialen Wandel verteidigte."14 Es blieb jedoch nicht bei dieser - fast unvermeidlichen - Negation. Jede traditionalistische (oder konservative) Haltung, falls sie konsequent ist, steht irgendwann einmal auf dem Boden des (früheren) Fortschritts bzw. der Umwälzung, die sie ursprünglich bekämpfte; denn dieser Fortschritt wird früher oder später, nachdem er in Politik oder Gesellschaft etabliert werden konnte, überliefert und damit Gegenstand der Tradition. Ein herausragendes Beispiel dieses Wandlungsprozesses ist der ursprüngliche französische Traditionalist Lamennais. 15 Dies gilt auch für die Aufgaben und Folgen des katholischen Konservatismus (nicht nur für 12 Urs Altennatt: Katholizismus und Modeme. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989. Auch Michael Klöcker geht in seinen Arbeiten von ähnlichen Ausgangsbedingungen aus. 13 Vgl. ebd., S. 51-57, bes. S. 56. 14 Ebd., S. 60.
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eine Region mit komplizierten konfessionellen Verhältnissen wie die Schweiz): Er war nicht nur "der dialektische Ausdruck des Protests gegen die moderne Entwicklung", sondern gab gleichzeitig "den im Modernisierungs- und Wachstumsprozeß Zukurzgekommenen eine politische Stimme und führte marginalisierte Leute in der Peripherie des Landes an die Politik heran." 16 Die wichtige Funktion des katholischen Konservatismus in Regionen mit einer ähnlichen Sozialstruktur wie in den katholischen Kantonen der Schweiz liegt auf der Hand: Der Fortschrittsprozeß mit seinen unvermeidlich destruktiven Folgen konnte in nicht unwesentlichen Punkten korrigiert und kanalisiert werden. Der "Kolonialisierung der Lebenswelten" (Habermas) konnte so wenigstens partiell Einhalt geboten werden. So kann zusammenfassend festgestellt werden: Der von der Dialektik von Fortschritt und Aufklärung beeinflußte Zeitgenosse am Ende des 20. Jahrhunderts wird den Modernisierungs- und Fortschrittsprozeß anders beurteilen als Max Weber und die gebildeten (meist protestantischen) Bevölkerungsschichten um die Jahrhundertwende, die die Katholiken meist als Bremser des Fortschritts betrachteten. Der Begriff des Kulturkampfes, von dem Liberalen Virchow geprägt, trifft auf die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts und teilweise auch auf die des 20. Jahrhunderts zu: Zwei völlig verschiedene Vorstellungen von Kultur bestanden: die der protestantischen (überlagert von modernen kulturprotestantischen Denkmodellen) und die der katholischen Welt. Letztere war stark konservativ, auf Erhaltung der herkömmlichen Lebensverhältnisse ausgerichtet. Es handelte sich primär um einen Konservatismus des Alltags bzw. der Kultur. Von diesen Phänomenen, im folgenden meist kulturintegrativer Konservatismus genannt, soll auch in der vorliegenden Arbeit ausgegangen werden. Die Wechselwirkungen zwischen der katholischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und den vielfältigen konservativen Strömungen wurden oben als kompliziert und differenziert beschrieben. Obgleich der Katholizismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nicht generell als konservativ charakterisiert werden kann, gibt es jedoch unübersehbare Affinitäten in strukturellen Bezügen und Hintergründen zu konservativen Vorstellungen und Denkmodellen. Erstens: Die Bewegung des Katholizismus ist aus rein pragmatischen Erwägungen, nämlich aus Gründen des Schutzes kirchlicher Rechte und Wirkmöglichkeiten, entstanden. Ihre Entstehung wurde publizistisch begleitet. Es gab aber keine konzise theoretische Begründung. Der Katholizismus 15
Zu den Hintergründen vgl. Maier: Revolution und Kirche (wie Anm. 10),
16
Altermatt: Katholizismus und Modeme (wie Anm. 12), S. 60.
s. 173-188.
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ist letztlich eine theorielose Bewegung. 17 Di~s hängt u. a. mit seiner Zugehörigkeit zu den oben sog. bona secundaria zusammen, die stark vom pragmatischen Gedanken bestimmt waren. Zweitens: Mag es auch verschiedene Bewertungen des Verhältnisses von Konservatismus und Aufklärung in der Literatur geben, so ist an deren grundsätzlicher Gegensätzlichkeit zumindest in den Zielen nicht zu zweifeln. Ebenso wie der Konservatismus als Bewegung und geistiges Phänomen ist auch der Katholizismus im Widerspruch zu maßgeblichen Erscheinungsformen der Aufklärung entstanden. 18 Besonderer Grund des Konfliktes war das Staatskirchentum, das in der Aufklärung seinen Höhepunkt erreichte. Drittens: Wie die konservative Bewegung wurde der konservative Teil des Katholizismus wesentlich von herausragenden Persönlichkeiten geprägt. Während anders ausgerichtete Teile des Katholizismus, vor allem der vielfaltige Bereich des Sozialkatholizismus, von wichtigen Persönlichkeiten lediglich Anstöße bekamen und organisatorischen Rückhalt in breiteren Schichten der katholischen Bevölkerung erhielten, hatte der konservative Katholizismus andere Strukturen und Hintergründe. Er wirkte vornehmlich in kleineren Kreisen. Maßgebliche und herausragende Persönlichkeiten bestimmten sein Wirken. Beispiele sind für das 19. Jahrhundert Jarcke und der bekanntere Görres, für das 20. Jahrhundert so unterschiedliche Gestalten wie Adenauer oder Spahn. Freilich hatten diese Persönlichkeiten in unterschiedlichen Epochen, deren konservative Mentalität unbestritten ist, z. B. Windthorst, Brüning oder Adenauer, das liberale, demokratische und soziale Element wesentlich stärker im Blickfeld als vergleichbare Gestalten 17
Vgl. Heinz Hürten: Deutsche Katholiken 1918-1945, Paderborn u. a. 1992,
s. 29.
18 Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Katholizismus zur Aufklärung vgl. als kurzer Überblick Eduard Hege/: Die katholische Kirche Deutschlands unter dem Einfluß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Opladen 1975; ging die frühere Forschung von wesentlich größeren Gegensätzen als Gemeinsamkeiten aus, so hat die jüngere Forschung dies in bemerkenswerter Weise differenziert. So hebt Hans Maier: Die Katholiken und die Aufklärung. Ein Gang durch die Forschungsgeschichte, in: Harm Klueting (Hg.): Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland (Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 15), Harnburg 1993, S. 4053, sogar die angeblich ältere Identifikation von Aufklärern und katholischer Kirche hervor, was aber der Wirklichkeit nicht gerecht wird, da aufgeklärte Bischöfe wie Wessenberg oder Theologen wie Amort, Töpsel, etc. stets die Minderheit bildeten; zum Überblick über den Verlauf der Aufklärung im ,.katholischen Reich" vgl. Notker Hammerstein: Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977; es finden sich weitere Hinweise in älteren und neueren Überblicksdarstellungen, u. a. bei Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. 4 (wie Anm. 21), S. 10-13; Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, s. 71-109.
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des nichtkatholischen Konservatismus. Auch der vor allem durch die Mentalität bestimmte katholische Konservatismus hatte eine dezidiert integrative Ausrichtung bezüglich der verschiedenen Strömungen des politischen Spektrums. Aus diesem Grund war seine Konsensfähigkeit im Vergleich zu anderen konservativen Strömungen relativ groß (mit Ausnahme des Rechtskatholizismus der Weimarer Republik). Die spezielle Weltanschauung innerhalb der dezidiert konservativ ausgerichteten Gruppe der katholischen Bewegung verhinderte meist einen ökumenischen Konservatismus. Den Vertretern dieser meist heterogenen Gruppe war das konfessionelle Prinzip im Regelfall wichtiger als konfessionsübergreifende politische Gesichtspunkte. Für eine Epoche muß dieses Urteil freilich eingeschränkt werden: Im 19. Jahrhundert überwogen in manchen Perioden (vor 1840) und zeitweise nach 1870 (Phase der Neukonstituierung des protestantisch-konservativen Spektrums) die Gemeinsamkeiten zwischen Altkonservativen und katholischen Konservativen. 19 Die Katholiken innerhalb des konservativen Spektrums, beispielsweise Görres, Jarcke oder Haller, betrachteten meist ihre Konfession als einzig legitime Richtung dieser Strömung. Sie entwickelten auf dem Hintergrund der politischen Romantik und des französischen Traditionalismus sogar eine "politische Theologie des Konservatismus"20, ganz im Sinne von Carl Schmitt, der bekanntlich alle wichtigen staatsrechtlichen Begriffe als säkularisierte theologische Aussagen verstand. Aus dieser Perspektive wurde die neuzeitliche Geistes- und Politikgeschichte zu einer deszendierenden Entwicklung. Autonomismus und Subjektivismus bestimmten den Gang der Ereignisse. Sie äußerten sich zuerst in der Reformation, die einen Abfall vom gottgewollten Ordo des Mittelalters bedeutete. Die Entwicklung setzte sich fort in der als antichristlich gedeuteten Bewegung der Aufklärung und fand ihren Höhepunkt in den Exzessen des Jakobinismus und der Französischen Revolution. Die Sünde äußerte sich in dieser Sichtweise nicht nur individuell, also als Schuld des einzelnen Menschen gegenüber Gott, sondern kollektiv: als revolutionärer Aufstand gegen die gottgewollte Ordnung. Besonders Jarcke deutete "das Prinzip der Revolution ... so tief wie die Sünde und ... so alt wie die Sünde" im Menschen sitzend. 21 Die Revolution wird quasi 19 Hintergründe bei Alfred von Martin: Altkonservatismus und Katholizismus in ihren gegenseitigen Beziehungen, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 488-514. 20 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bürgerwelt und starker Staat, 1. Auflage, München 1983, S. 382. 21 Hinweise bei Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Neudruck, München 1987, S. 167, der die vielfaltigen religiösen Grundlagen der Geschichte viel stärker berücksichtigt als die meisten modernen Sozialhistoriker; vgl. die einseitige Beurteilung bei Wolfgang Schieder: Kirche und Revolution. Zur Sozialgeschichte der Trierer Wallfahrt von 1844, 4 Schrenck-Notzing
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als moderne Erscheinung der Sünde begriffen. Diese Topoi gehörten in stets variierter Form, ab dem frühen 19. Jahrhundert, zum Argumentationsrepertoire des katholischen Konservatismus. An dieser Stelle muß eine wichtige Unterscheidung getroffen werden: Auch innerhalb des Spektrums des katholischen Konservatismus ist eine Differenzierung nötig: in eine Gruppe des doktrinären katholischen Konservatismus, die man meist an der Anwendung des oben genannten Argumentationsduktus erkennt, und in eine Gruppe des mentalitätsbestimmten katholischen Konservatismus. Letztere umfaßte meist Politiker aus den Reihen des politischen Katholizismus wie die bereits genannten Windthorst, Adenauer, Brüning etc. Die in der vorliegenden Studie als doktrinärer katholischer Konservatismus bezeichnete Strömung wird vor allem von geistigen Vordenkern, Publizisten, Wissenschaftlern etc. vertreten. Für diese Richtung stehen im 19. Jahrhundert u. a. Görres und Jarcke, im 20. Jahrhundert Herwegen und Casel. Sie beherrschten häufig nicht die Kunst katholischer Parteipolitiker, Flexibilität und Kompromißbereitschaft zu zeigen.
II. Der kulturintegrative katholische Konservatismus in seinen unterschiedlichen Epochen 1. Vorbemerkung: Der katholische Konservatismus in der Literatur über die Entstehung des Konservatismus Betrachtet man die grundlegenden Werke, die Aufschluß über die Entstehung der Strömung des Konservatismus geben, so erkennt man unschwer: Die konfessionelle Frage wird zwar in diesen Studien meist nicht völlig vergessen 22, wohl aber nur unangemessen behandelt. Dies gilt mit Einschränkung auch für die grundlegende Studie von Martin Greiffenhagen, die die These von der Gleichursprünglichkeit von Aufklärung und Konservatismus vertritt. 23 Greiffenhagen versucht, die wichtigsten Elemente konin: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 419-454; zur neueren sozialgeschichtlichen Forschung vgl. ders. (Hg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Industrielle Welt, Bd. 54), Stuttgart 1993; Schieder und andere Sozialhistoriker wollen nicht sehen, daß es bei der berühmten Wallfahrt nicht um Stützung restaurativer Systeme gehen konnte. Es handelte sich, nur kurze Zeit nach der Beilegung des Kölner Kirchenstreits, um eine eindrucksvolle Machtdemonstration, die die Mehrzahl der damaligen Regierungen weder befürwortete noch befürworten konnte. Die sehr wohl vorhandene antirevolutionäre Grundtendenz ändert nichts an der Tatsache, daß die Kirche und der entstehende Katholizismus als Faktoren nicht einfach zu verrechnen waren, sondern eine eigenständige Rolle spielten. 22 Vgl. etwa die, allerdings nur knappen, Hinweise bei Alfred von Martin : Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.): Rekonstruktion des Konservatismus (Sammlung Rombach NF, Bd. 16), Freiburg 1972, S. 142 f.
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servativer Denkvorstellungen herauszuarbeiten, die für die Geschichte des Konservatismus konstitutiv sind und deshalb auch stets in variierter Form von neuem auftauchen. So kann es schon von der Anlage der Arbeit, die nicht systematisch-historisch vorgeht, nicht verwundern, daß die Kritik katholischer und protestaniseher Konservativer, z. B. des Ernkendorfer Kreises, nicht berücksichtigt wird. Völlig unterschlagen wird die konfessionelle Thematik im Kontext der Entstehung des Konservatismus bei Karl Mannheim. Er unterscheidet bekanntlich den Konservatismus vom Traditionalismus und verortet den Konservatismus als gesellschaftskritische Kategorie. Frühkonservativ-katholische Denker wie Adam Müller werden im Kontext der Vorstellung von der "freischwebenden Intelligenz" behandelt. 24 Diese Darstellungsweise wird freilich den konfessionellen Impulsen der betreffenden Denker nicht gerecht. Selbst die vieldiskutierte, materialreiche Studie von Panajotis Kondylis behandelt die konfessionellen Hintergründe des Frühkonservatismus nicht angemessen. 25 Dies hängt nicht zuletzt mit Kondylis' Hauptthese zusammen: Der Konservatismus als politisches, gesellschaftliches und geistiges Phänomen war seiner Meinung nach auf engste Weise mit der societas civilis verbunden. Diese im gewissen Sinn soziologische Beschränkung der Sichtweise des Konservatismus macht es unmöglich, die frühen konservativ-katholischen Aufklärungsgegner zu fassen. Lediglich protestantische Revolutionsgegner wie die Mitglieder des Emkendorfer Kreises, besonders Graf Fritz Reventlow, den Führer der schleswig-holsteinischen Ritterschaft, kann dieser Ansatz erfassen. 26 Das Phänomen des katholischen Konservatis23 Vgl. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, TB-Ausgabe, Frankf.IM. 1986, S. 85-121. 24 Kar[ Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von David Kettler u.a., Frankf.IM. 1984. Mannheim relativiert sogar die Stellung Müllers als katholischer Konvertit, was zwar aufgrund des romantischen Trends zum Gefühlshaft-Poetischen nicht neu ist, aber in dieser dezidierten Form doch überrascht. Der Hang Müllers zum Pantheistischen dürfte von Mannheim (ebd., S. 150) überschätzt worden sein. Zur Bedeutung katholischen Gedankengutes für Müllers Staatswissenschaft und Staatswirtschaft vgl. Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur in sechs Bänden, von Anseim Sa/zer u. a., Bd. III: von der Klassik zur Romantik, Neubearbeitung, Köln o. J., S. 370. Es ist nur folgerichtig, wenn Müller andere konservative Staatsentwürfe, etwa den Hallers, wegen ihrer seiner Meinung nach mangelnden religiösen Fundierung kritisiert (vgl. dazu von Martin: Weltanschauliche Motive, in: Kaltenbrunner: Rekonstruktion [wie Anm. 22], S. I52f.). 25 Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 26 Es verwundert, daß Kondylis den Emkendorfer Kreis nicht näher erörtert, obgleich dieser ein Stück weit ein Beleg für seine Grundthese ist. Immerhin behandelt 4*
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mus ist mit der These Kondylis' kaum zu begreifen, da dieser sich durch einen epochenübergreifenden Argumentationsduktus auszeichnete, der sich gegen Säkularismus, Individualismus, Materialismus einsetzte, aber für abendländische Werte und Vorstellungen eintrat. Es geht hierbei eher um geistige und ideelle Zusammenhänge, weniger um soziale Strukturen. Einige herausragende Darstellungen der älteren Forschung bleiben für die hier zu behandelnde Thematik unverzichtbar. Zu diesen Studien gehört vor allem die Arbeit von Fritz Valjavec.Z7 Valjavecs Ansatz vom vorrevolutionären Ursprung des deutschen Frühkonservatismus schließt die katholischen Aufklärungsgegner ein, die in der vorliegenden Arbeit den Beginn des kulturintegrativen Konservatismus bilden. Sie antizipierten grundlegende Argumentationstopoi, die auch für spätere Epochen und Erscheinungsformen des katholisch-kulturintegrativen Konservatismus wichtig wurden. Klaus Epstein beschreibt ausführlich die Entwicklung der Aufklärung im protestantischen wie katholischen Deutschland. Er betont dabei, was als Konsens in der Forschung gelten kann, die religiöse Ausrichtung der Aufklärung in Deutschland - einen Vorgang, den er mit der Unterentwicklung er die Polemik der konservativen Teile im katholischen wie protestantischen Deutschland um die Frage, welche Spielart des Christentums die Prinzipien der Revolution eher gefördert hat. Die Konservativen unter den Protestanten (u. a. Ranke) behaupteten: die Katholiken bzw. Jesuiten, da sie schon früh die monarchomachische Theorie entwarfen und Gedanken über die Volkssouveränität hervorbrachten. Umgekehrt sahen konservative Katholiken wie der später folgerichtig zur katholischen Kirche konvertierte Haller in der Reformation das Urereignis des Abfalls von der rechten Autorität - eine These, der protestantische Konservative wie Friedrich J. Stahl meist dadurch begegneten, daß sie auf die Unterscheidung von religiösem und politischem Gedankengut hinwiesen (vgl. die Auseinandersetzung bei Kondylis: Konservatismus [wie Anm. 25], S. 276ff.). Kondylis' These vom Konservatismus als Verteidiger der societas civilis korrespaniert noch am ehesten mit Ernst Noltes Annahme eines "Liberalen Systems". Nolte geht im Anschluß an Max Weber davon aus, daß seit dem Mittelalter im abendländischen Kulturkreis mehrere Gruppen miteinander um die Macht konkurrierten und keine Gruppe sich auf Kosten der anderen durchsetzen konnte. Keine dieser Gruppen konnte die rivalisierenden Mächte vollständig verdrängen. Neben dem Bürgertum, dem Königtum und der Kirche gilt dies auch für den Adel. Dieser hätte gemäß der These Kondylis' mit Hilfe des Konservatismus ein - letztlich vergebliches - letztes Gefecht geführt und wäre mit dem Konservatismus zusammen untergegangen (zum liberalen System vgl. in welthistorischem Kontext Ernst Nolte: Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, München/Zürich 1998, S. 380, 392f., 417, 433, 475). Analog dazu hätte die katholische Kirche, die anders als der Protestantismus in Deutschland stärker in der Defensive war, ihre Stellung innerhalb des "Liberalen Systems" mit Hilfe des Katholizismus in der entstehenden Sphäre der Gesellschaft verteidigt, während der Protestanismus zu uneinheitlich war und in den meisten historischen Perioden zu sehr mit der Staatsgewalt verbunden, um stets als eigenständige Potenz gelten zu können. 27 Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1951, Düsseldorf 1978.
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politischer wie ökonomischer Faktoren begründet. 28 Die Darstellung ist eher eine allgemeine kirchengeschichtliche Erörterung, die Befürworter, z. B. Wessenberg, und Gegner der Aufklärung im katholischen Deutschland herausstellt, etwa den bekannten Wiener Erzbischof Anton Migazzi. Er erörtert ausführlich den Widerstand im katholischen Deutschland gegen aufklärerische Geheimorden, z. B. die Illuminaten. Es wird jedoch unterschlagen, daß die Aufklärungskritik im katholischen Teil Deutschlands im Jahrzehnt der Französischen Revolution explizit politischer wurde, ohne ihr eigentliches Ziel, den Schutz und die Apologie von Glauben und katholischer Kultur, aufzugeben. Erwähnt werden soll außerdem, daß die neueste Überblicksdarstellung des Konservatismus von Axel Schildt den Einfluß der christlichen Konfessionen bei der Entstehung der konservativen Bewegung herausstellt, allerdings im Rahmen der Studie nicht ausführlicher beschreiben kann. Die Studie verwendet zwar nicht den Ausdruck des kulturintegrativen katholischen Konservatismus; sie kommt ihm aber sinngemäß sehr nahe, wenn sie die stärkere politische Ausrichtung des Emkendorfer Kreises im Vergleich zur frühen katholischen Aufklärungskritik konstatiert. 29 In der Tat argumentierte die frühe katholische Aufklärungskritik nur indirekt politisch. Sie ging primär von der Verteidigung des Glaubens aus und betrachtete die für sie negativen Folgen der Aufklärung zuerst im kulturellen Bereich. Glaubensverfall ging aus dieser Perspektive dem gesellschaftlichen Umsturz voraus, der nicht einmal als die einzige und schlimmste Folge der Religionskritik angesehen wurde.
2. Der kulturintegrative katholische Konservatismus im Kontext der Entstehung der konservativen Bewegung Im vorherigen Abschnitt wurde ein kaum zu leugnender Mangel der bisherigen Literatur über die Entstehung des Konservatismus erwähnt: die nicht ausreichende Berücksichtigung kulturell-konfessioneller Strömungen, die durchaus vielfaltige politische Konsequenzen hatten. Vereinfacht kann man in konfessioneller Hinsicht drei wichtige, unterschiedliche Gruppierungen unterscheiden: eine sehr heterogene katholische Gruppierung, die in unterschiedlichen Kreisen wirkte und vor allem im St. Salvator-Kolleg von Augsburg einen gewissen Mittelpunkt fand, 30 das von Ex-Jesuiten betrieben 28 Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806, Frankfurt a.M. 1973, S. 49. 29 Vgl. Schild:, Konservatismus (wie Anm. 2), S. 31. 30 Eine zusammenfassende, neuere Darstellung fehlt m. W. Vgl. dazu Valjavec: Politische Strömungen (wie Anm. 27), S. 305 ff. Wichtige Hinweise finden sich
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wurde - durchaus eine Vereinigung, die man unter die in Mannheims Konservatismusbuch herausgearbeitete Kategorie der "freischwebenden Intelligenz" subsumieren kann. Diese Gruppierung bestätigt die in den Studien von Valjavec und Epstein aufgestellte These, daß der Konservatismus vor 1789 zurückreicht und vor allem im Sinne der Aufklärungskritik wirkte. Das entsprechende protestantische Pendant zu dieser katholischen Vereinigung ist der Emkendorfer Kreis um den Gutsbesitzer Fritz von Reventlow.31 Die Parallelen sind kaum zu übersehen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die soziologische Zusammensetzung anders war - nämlich insofern, als es sich zum größten Teil um Adelige handelte. Weiterhin war, wie bereits erwähnt, die politische Ausrichtung beim Emkendorfer Kreis im Vergleich zu den Ex-Jesuiten weiter fortgeschritten - nicht zuletzt deshalb, weil der politische Diskurs und der Grad der Politisierung im protestantischen Deutschland stärker fortgeschritten war als im katholischen. 32 Der Ausgangspunkt war aber ähnlich: Der gläubige Lutheraner Reventlow wehrte sich gegen religiösen, damit einhergehenden politischen Rationalismus - gegen die Revolution in Kirche und Politik. Als unabdingbarer Zusammenhang gilt: Der geistig-religiöse Rationalismus geht dem politischen Umsturz voran. Eines der wichtigsten Mitglieder des Kreises war Matthias Claudius, bei dem ebenfalls der Kampf gegen religiöse Aufklärung und politischen Liberalismus im Vordergrund stand. 33 Eine dritte Gruppierung gehört in diesen Kontext. Sie könnte als nichtkonfessionell-bürgerlich, bezüglich des Erscheinungsbildes als frühe Form auch bei Hans Grass/: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765-1785, München 1968, bes. S. 73-79, 264-266, 266f., 319335. 31 Eine umfassende Arbeit neueren Datums fehlt. In Kürze wird voraussichtlich erscheinen: Volker Jordan: Der protestantische Frühkonservatismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (masch.). Aus der älteren Literatur bleibt grundlegend: Otto Brandt: Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts, 2. Auflage, 1927; ders.: Geschichte Schleswig-Holsteins. Ein Grundriss., 6. Auflage, Kiel 1966, S. 190-214. Hinweise bei Valjavec: Politische Strömungen (wie Anm. 27), S. 262 ff.; Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. 4 (wie Anm. 21), S. 297-309, der den Charakter der evangelischen Erwekkungsbewegung erörtert. 32 Zu den allgemeinen Hintergründen der Politisierung in Deutschland vgl. Ursula Becher: Politische Gesellschaft. Studien zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 59), Göttingen 1978. 33 Vgl. Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. 4 (wie Anm. 21), S. 301; zu den allgemeinen historischen Hintergründen vgl. Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Hg.): Von ,Obscuranten' und ,Eudämonisten' - Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert (Literatur im historischen Kontext, Bd. 1), St. Ingbert 1997.
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des Kulturprotestantismus, eingeordnet werden. Es handelt sich dabei um die publizistische Tätigkeit von Möser, Goethe und Herder. 34 Was verbindet diese Literaten mit den oben genannten Gelehrten- bzw. Publizistenkreisen? Bei ihnen steht nicht die Verteidigung des überlieferten Glaubensgutes im Vordergrund. Sie verteidigten auf allgemein bürgerlicher Grundlage die organisch-historische Entwicklung, das Recht des Individuellen und der gewachsenen Traditionen. Die Richtung der Argumentation war stark auf das Kulturelle ausgerichtet. Die innere, stark literarisch-musische Ausrichtung sollte den eigentlich Fortschritt bringen, nicht die Hinwendung zum Äußeren oder zum Politischen. Es handelt sich dabei um den vor allem von Meinecke konstatierten inneren, apolitischen Zug der "deutschen Bewegung" (Meinecke). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann lediglich die Gruppe der Ex-Jesuiten etwas genauer erörtert werden. Es sollte aber kurz darauf hingewiesen werden, daß die kulturintegrati ve Ausdrucksform durchaus ein grundlegender Zug der deutschen Aufklärung war, der weitreichende Folgen für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hatte. Die frühe, stärker politisch ausgerichtete katholische Aufklärungskritik fand ihr Zentrum vor allem in Bayern. Es handelte sich in besonderer Weise um ehemalige Jesuiten des St. Salvator-Kollegs von Augsburg. Die herausragende Gestalt war der Domprediger Alois Merz. Die Ex-Jesuiten nutzten neben den herkömmlichen Kommunikationsmitteln, z. B. der Predigt, das immer stärkeren Einfluß gewinnende Pressewesen. So erschien seit 1783 die Publikationsreihe "Neueste Sammlung". 35 Die Gegner der Polemik waren vor allem die Freimaurer und ihr vermuteter kultur- und staatszerstörender Charakter. Die Folgen des Wirkens der Freimaurer wurden primär in den Bereichen Kultur und Religion gesehen. Stärker als bei der im katholischen Raum üblichen Aufklärungskritik wurde der Zusammenhang von kulturellem und religiösem Umsturz einerseits und der Gefahr der Revolution im politischen Bereich andererseits hervorgehoben. Der "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas), der vor allem im maßgeblichen Bedeutungsgewinn der Kommunikation lag, hatte auch für den katholischen Raum Auswirkungen. Das Phänomen der Revolution wurde mehr und mehr im umfassenden Sinn gedeutet: Der radikale Umsturz wurde - so die These - von illuministisch-jansenistischen Schriftstellern vorbereitet und zeigte maßgebliche Auswirkungen auch für die Politik?6 Eine gewisse Akzentverschiebung von der Kritik der (angebli34 Hinweise bei Ribhegge: Konservative Politik (wie Anm. 1), S. 21 ff., dessen Einteilung sich auf die grundlegende Studie der älteren Literatur von Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus (Friedrich Meinecke Werke, Bd. III), München 1959, S. 303-384, bezieht. 35 Grass/: Aufbruch (wie Anm. 30), S. 76. 36 Vgl. ebd., S. 265.
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chen) Zersetzung im kulturell-religiösen Bereich hin zur stärkeren Beachtung der politischen Implikationen ist unübersehbar - ein Perspektivenwechsel, der an den Wandel in der französischen Geistesgeschichte erinnert.37 Ein anderes, für die kulturelle und politische Aufklärungskritik wichtiges Journal wurde vom Ex-Jesuiten Goldhagen in Mainz herausgegeben: 38 das Religions-Journal. Auch dieses Periodikum trat für "kirchliche Rechtgläubigkeit und politischen Traditionalismus" (Valjavec) ein. Von späteren Epochen des kulturintegrativen katholischen Konservatismus unterschied sich die Art der Auseinandersetzung der Ex-Jesuiten mit ihren Gegnern dadurch, daß sie nicht in erster Linie einen Gelehrtenstreit mit den Vertretern der Aufklärung und der Revolution intendierten. Sie wollten vielmehr eine Breitenwirkung ihrer Gedanken im katholischen Volksteil erreichen. Sie publizierten deshalb stark in belehrender Form und bewahrten auf diese Weise das pädagogische Erbe ihres 1773 aufgelösten Ordens. Auch wenn in diesem relativ frühen Stadium der kommunikativen Möglichkeiten noch keine Mobilisierung der katholischen Bevölkerung in dem Maße möglich war, wie dies zur Zeit Görres' der Fall war, so haben die publizistisch tätigen, konservativ ausgerichteten Ex-Jesuiten doch in ihrer Vorgehensweise die wichtigen "Grundlagen für die späteren katholisch-konservativen Bestrebungen in Oberdeutschland" (und auch in anderen Regionen) geschaffen. 39 Obgleich er nicht zum katholisch-kulturintegrativen Konservatismus zu zählen ist, da er einen Mittelweg zwischen Rationalismus und Illuminatismus einerseits und Aberglaube und Klerikalismus auf der anderen Seite suchte, erinnert die Argumentation Karl von Eckartshausens in mancherlei Hinsicht an die der Ex-Jesuiten. Es geht ihm um eine differenzierte Aufklärungskritik. Er bekämpft die Aufklärer nicht in erster Linie aufgrund ihrer Religionskritik; vielmehr betont er ihre Inkonsequenz. Die angebliche Toleranz der Aufklärer schlägt immer wieder in fast fanatische Intoleranz um, was nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit Nicolai zeigt. 40 Sehr hellsich37 Die französische Kritik der "Philosophen" befaßte sich ursprünglich, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, fast ausschließlich mit Religion und Kunst. Erst im Stadium der enzyklopädischen Publikation rückten langsam die politischen Verhaltensweisen in den Vordergrund (vgl. dazu die Hinweise bei Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 12. Auflage, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 89). 38 Valjavec: Die Entstehung (wie Anm. 27), S. 306f.; Schildt: Konservatismus (wie Anm. 2), S. 30. 39 Valjavec: Die Entstehung (wie Anm. 27), S. 305. Die Jesuiten waren das Bindeglied zwischen der älteren gegenreformatorischen Polemik der katholischen Publizistik und dem neuartigen konservativen Engagement in der sich herausbildenden gesellschaftlichen Sphäre. 40 Hinweise bei Grass/: Aufbruch (wie Anm. 30), S. 320.
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tig ist Eckartshausens Annahme, daß die "Republik des Bayle" nur "vermittels des Galgen und der Räder" existieren kann. 41 Oft unterschätzt wird in der Literatur die Relevanz der jesuitisch-katholischen Verschwörungstheorie, während die Verschwörungstheorie des protestantischen, stark zum katholischen Glauben neigenden Hofpredigers Starck häufig Erwähnung findet42 . Diese geringere Bewertung überrascht schon deshalb, weil die "antiaufklärerische und antifreimaurerische katholische Polemik konstitutiv für die Aufstellung der Verschwörungstheorie geworden" ist. 43 3. Romantik, überkonfessioneller Konservatismus und Görreskreis Der kulturintegrative katholische Konservatismus konnte seine Wirkung nur dann entfalten, wenn das katholische Denken als Ganzes fähig war, kulturstiftende Relevanz auf überkonfessioneller Ebene zu entwickeln. Dies war jedoch nur in bestimmten Epochen der Fall. Die oben kurz beschriebenen Anfange gingen eher unbeachtet vor sich. Erst im Zeitalter der Romantik kam es zu einer epochalen Wende. 44 Kultur und Religion vermengten Ebd., S. 325. Vgl. Epstein: Die Ursprünge (wie Anm. 28), S. I I8-I23; zu den Nachwirkungen der Verschwörungstheorien vgl. Grass/: Aufbruch (wie Anm. 30), S. 432-447. 43 So Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776-I945: Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung (Europäische Hochschulschriften) Frankf./M. I 976, S. 33, der vor allem die diesbezügliche Relevanz Stattlers und Eckartshausens hervorhebt. Das argumentative Vorbild ist eindeutig Barruel, von dem die frühere Forschung annahm, daß die internationalen Verschwörungstheorien auf ihn zurückgehen. Neuere Arbeiten, besonders die Studie von Thomas Schleich, haben aber gezeigt, daß Barruel selbst im Ausland entsprechende Eindrücke empfing. Jedenfalls trat er am entschiedendsten für den zwangsläufigen Konnex der "Verschwörung der Gottlosigkeit gegen die Altäre Christi" und der "Verschwörung gegen alle Throne der Könige" ein (näheres bei Thomas Schleich: Politische Gesellschaften [societes de pensees], aufklärerische Kirchenkritik und der Ursprung der Französischen Revolution, in: Eberhard Schmitt, Hans Maier [Hg.]: Wie eine Revolution entsteht. Die Französische Revolution als Kommunikationsereignis [Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görresgesellschaft, N. F., Heft 20], Paderbom/München/Wien I988, S. 63). 44 Die Literatur zum Themenkomplex katholische Kirche, Katholizismus und Romantik ist sehr umfangreich. Allgemeine Hinweise finden sich bei Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im I 9. Jahrhundert, Bd. I: Die Grundlagen, (ursprünglich Freiburg I 929), Nachdruck München 1987, S. 235-280; interessante Hinweise finden sich, trotz der einseitigen Behandlung von Persönlichkeiten wie Baader oder Müller als "ewige Diskutierer", bei Carl Schmitt: Politische Romantik, 2. Auflage, München und Leipzig 1925; die Bedeutung für den Katholizismus ist beschrieben in 41
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sich bei vielen herausragenden Vertretern der Epoche ununterscheidbar. Religion war der sichtbarste Ausdruck (wenigstens im späteren Lebensstadium vieler Romantiker!) des romantischen Hanges zur Universalität und zur Synthese. Sie war dazu prädestiniert, alle Bereiche des Lebens zu durchdringen. Religion als grundlegendes, konstitutives Prinzip der Kultur: Dieser Zusammenhang wurde im 20. Jahrhundert vor allem von Christopher Dawson vertreten, einem der wichtigsten Vertreter des kulturintegrativen katholischen· Konservatismus des 20. Jahrhunderts. 45 Freilich ist die geistesgeschichtliche Strömung der Romantik zu differenziert, um sie auf einen Nenner zu bringen, was die Forschung bewogen hat, die einzelnen Phasen zu unterscheiden46 . Obgleich im allgemeinen das Urteil von Franz Schnabel auch noch heute seine Gültigkeit hat, "daß der moderne Mensch in ihr die Stufe des äußersten Subjektivismus durchlaufen hat und von da zur bewußten und gewollten Anerkennung lebendiger Bindungen gelangt ist"47 , war der Einfluß der Romantik auf die einzelnen Vertreter unterschiedlich. Das Verhältnis zur katholischen Kirche ist daher differenziert zu bewerten. Die Forschung hat bezüglich führender Persönlichkeiten wie Friedrich von Schlegel, Clemens Brentano oder Joseph von Eichendorff festgestellt, daß sie, anders als andere romantische Denker, "über einen unklaren Gefühlskatholizismus hinaus zu einer festen Bindung an die Kirche gelangten."48 Modernitätskritische Vorstellungen wie die zunehmende Vorliebe für Tradition, Religion, Geschichte, Volkstum, organisches Denken usw. standen neben der Präferenz für einen beispielsweise fast willkürlichen Subjektivismus, Auflösungstendenzen im herkömmlichen (patriarchalischen) Eheverständnis oder der Übernahme des diskursiven Prinzips vor allem in den romantischen Salons. neueren, grundlegenden Werken der Katholizismusforschung: Klaus Schatz: Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, S. 39f., 59, 85, 116, 145, der freilich die Gefahren der romantischen Gefühlsreligion für die Kirche zu wenig thematisiert; Heinz Hürten: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 18001960, Mainz 1986, S. 37f.; Karl-Egon Lönne: Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt IM. 1986, S. 59 ff., der mit Recht auf die bleibend gültis.en Seiten der Kritik von Romantikern wie Müller oder Schlegel hinweist; zum Uberblick vgl. Hans-Christo! Kraus: Artikel "Romantik, politische", in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.): Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996 (Lit!), S. 465-469, der besonders die "Rückbindung der Politik an die Religion" hervorhebt (S. 467). 45 Christopher Dawson: Religion und Kultur, Düsseldorf 1951. 46 Vgl. den Überblick bei Hans-Christo! Kraus: Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1997), bes. S. 207-214. 47 Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. I (wie Anm. 44), S. 237. 48 Hürten: Geschichte (wie Anm. 44), S. 37f.
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Ansatzpunkte für das Erstarken dessen, was im Kontext der vorliegenden Arbeit als kulturintegrativ~r katholischer Konservatismus genannt wird, bot die verstärkte Hinwendung zur romantischen Idee vom Mittelalter. Sie muß für jeden einzelnen Vertreter untersucht werden. 49 Dies schuf einen gewissen Konfessionalismus, der freilich im Bereich der Politik noch bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts kaum polemische Züge annahm. Zahlreiche Vertreter der Bewegung gingen von der Ungetrenntheit vor allem der Sphären von Kunst, Musik und katholischem Glauben aus. Ihre Sicht der Kirche war freilich insofern eklektizistisch, als die Romantiker das betrachteten, was ihrem "subjektiven und willkürlichen Empfinden" (Schnabel) entsprach. Die Kirche wurde wieder als "Mutter der Bilder" (Emil Wachter) entdeckt. Eine neue Tendenz der Kunst zeigte sich: die Hinneigung zu den Bildern "vor dem Zeitalter der Kunst" (Hans Belting). Religion war, neben Poesie und Philosophie, das Medium, "in dem sich nach der Lehre der frühen Romantiker die durch die Modeme zerbrochenen Ureinheiten des Lebens wieder zusammenfinden. " 50 Die katholische Kirche verkörperte für die Romantiker eine organische Totalität, die eine neue Sicht auf die Welt als Gesamtkunstwerk gegen die Partikularisierung und Pluralität der Modeme ermöglichte - insofern eine "Fundamentalkritik der Modeme" (Kraus) und Beginn einer Tendenz, die im säkularen Bereich, durchsetzt mit religiösen Elementen, vor allem im "Kunst-werk" (Richter) Richard Wagners einen Höhepunkt erreichte.51 49 Wichtig war die neue Hinwendung zum Mittelalter auch bei Novalis. Sein Mittelalterbild war freilich nicht konservativ, weil es nicht nur vergangenheitsbezogen war, sondern auch eine zukunftsträchtige Utopie implizierte (vgl. dazu Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das "politische" Werk Friedrich von Hardenbergs [Novalis] im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, S. 230232, hier S. 230). 5 Kraus: Die Jenaer Frühromantik (wie Anm. 46), S. 217. Die grundlegende Studie hebt mit Recht den romantischen Hang zum Synthetisch-Universellen hervor und belegt diesen Trend anhand vielfaltiger Zitate. Freilich fehlt ein wenig die inhaltliche Präzisierung. Beispiele in Musik und Poesie hierfür sind u. a. die ideale Verschmelzung von Wort und Ton im Volkslied, etwa bei Schubert, oder die geniale Verbindung von Musik und Poesie in Beethovens eminent politischer neunter Sinfonie. Charakteristischer Ausdruck der romantischen Synthese in der Kunst ist gerade der Verlust des absoluten Elements. Statt dessen erhält die Musik ihren Wert und Inhalt durch das Zusammenwirken mit anderen Elementen. Dies belegt nicht zuletzt der häufig anzutreffende Ausdruck "Ton-malerei", ebenso der Ausdruck "Staatskunst" (Adam Müller) im politischen Bereich. Gerade aus diesem Grund ist die Kunst das wichtigste Beispiel für den romantischen Hang zum Synthetisch-Universellen, während das politische Denken in diesem Zusammenhang nur als abgeleitetes Phänomen gelten kann (zum Ausdruck und der besonderen Relevanz der romantischen Synthese in der Kunst vgl. Kurt Pahlen, Die großen Epochen der abendländischen Musik. Vom Gregorianischen Choral bis zur Modeme, München 1991, S. 335-342, bes. S. 338).
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Wie in allen Zeiten der Hochschätzung katholischen Denkens in der Gesamtkultur (Romantik, Weimarer Republik, frühe fünfziger Jahre) zeigte sich selbst im protestantischen Bereich eine lebhafte Rezeption katholischer Vorstellungs- und Geisteswelt. Dies läßt sich anband von Beispielen belegen, die auf den ersten Blick nicht als relevant erscheinen. Gerade daran wird aber die Attraktivität katholischen Gedankenguts für die protestantische Kultur sichtbar. Die Hl. Cäcilia, erst ab dem späteren 19. Jahrhundert ausschließlich im Kontext kirchenmusikalischer Reformen und Pragmatik behandelt, rückte in das Zentrum poetischer Bemühungen der frühen Romantik. In den "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" Wackemoders richtet der Hauptdarsteller Joseph Berglinger, eigentlich Wackemoder selbst, als Ausdruck seiner Musikbegeisterung ein eindrucksvolles Gebet an die Hl. Cäcilia.52 Auch in vielen anderen literarischen Texten, u. a. bei Kleist oder bei Tieck, ist die Heilige der Kirchenmusik erwähnt. Die mannigfaltigen Synästhesien zwischen Kunst und Musik können im folgenden nicht behandelt werden. Charakteristisch für den kulturintegrativen katholischen Konservatismus ist die Beeinflussung politischer Gedankengänge und Denkkategorien durch kulturelle Vorstellungen und Prägekräfte. Bei den meisten Romantikern ist der Weg von der Kulturkritik zur politischen Vorstellungswelt evident. Die Vorstellung gewann an Bedeutung, daß Politik nötig sei, um die romantischen Gedankengänge praktisch wirksam werden zu lassen. 53 Die "in ihrem Kerne so unpolitisch"54 ausgerichtete Romantik schaffte den Übergang in den Bereich des Politischen. Wie in der literarischen Romantik (etwa bei Wackemoder) die "Kunst als Gegenwelt" (Eggebrecht) begriffen wurde, bemühte sich die politische Romantik, vor allem Adam Müller55 , um die Übertragung des kulturellen Totalitäts- und Synthesegedankens auf den staatlichen Bereich. Dieser Totalitätsgedanke wird regulatives Prinzip für die staatliche Ordnung. Das politische Prinzip ist in 51 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Karl Richter: Richard Wagner. Visionen: Werk- Weltanschauung- Deutung, Vilsbiburg 1993, bes. S. 5-15; S. 367641. 52 Nachzulesen bei Hans Maier: Cäcilia unter den Deutschen und andere Essays zur Musik, Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 24f. 53 Hintergründe dieser Entwicklung in der älteren Forschung bei Jakob Baxa: Einführung in die romantische Staatswissenschaft, Jena 1923; Paul Klockhohn: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle 1922; 54 Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie Anm. 44), S. 280. 55 Zum knappen Überblick über Leben und Werk (einschließlich Literatur) vgl. Caspar von Schrenck-Notzing, Adam Müller: in: Schrenck-Notzing, Lexikon (wie Anm. 44), S. 384-386; weiterhin Albrecht Langner: Adam Müller: in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 4, hrsg. von Jürgen Aretz u.a., Mainz 1980, S. 9- 21.
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dieser Konzeption also ein abgeleitetes. Nicht zufallig ist es ein Hauptkritikpunkt Adam Müllers an der Französischen Revolution, daß sie das Heraustreten des Einzelnen aus dem gemeinschaftlichen Verband ermöglichte und der Einzelne auf diese Weise - wenigstens scheinbar - eine Art archimedischen Punkt gewann, von dem aus er das Ganze bewerten kann. Wie später Görres geht Müller von bestimmten wissenschaftlichen wie auch kulturellen Voraussetzungen des Staates aus. Den Hintergrund bilden die organizistischen Vorstellungen. So soll der Staat "in den echten Zusammenhang der Wissenschaft" aufgenommen werden. Ist dies erreicht, kommt es zu einer "Wissenschaft des Staates", im besten Fall zu einem "Staat der Wissenschaft. " 56 Wie erwähnt, traten in der Romantik stärkere konfessionelle Tendenzen hervor, die erst am Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts polemische Züge annahmen. Bis zum Beginn des Kölner Kirchenstreits gab es eine enge Zusammenarbeit von protestantischen Altkonservativen (u. a. die Gehrüder Gerlach oder Heinrich Leo) und konservativen Katholiken. Grundlegende Affinitäten beider Richtungen waren vor allem: 57 Erstens: das gemeinsame (korporative) Freiheitsverständnis Zweitens: die gemeinsame Ablehnung der stark rationalistisch ausgerichteten Erscheinungen Absolutismus und Revolution Drittens: das Ziel des Bündnisses von Thron und Altar Viertens: die Ablehnung einer Vorstellung von "reiner", d. h. autonomer Politik, die den Zusammenhang mit der Ethik unbeachtet läßt. Es gilt: "Christus ist auch für die Staaten gestorben"58 (Adam Müller) - ein Satz, der wohl am deutlichsten den Widerstand gegen die Autonomisierung des Kultursachbereiches Politik belegt, ja gegen die seit der Aufklärung erfolgte Diversifikation der vielfaltigen Kultursachbereiche überhaupt. Diese Gemeinsamkeiten schlugen sich in direkter politischer Kooperation nieder. Es entstand unter dem Eindruck der Julirevolution das interkonfessionell-konservative Organ des Berliner politischen Wochenblattes59, in 56 V gl. Adam Müller 1779-1829, hrsg. und erläutert von Albrecht Langner (Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe A: Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 3), Paderbom u.a. 1988, S. 22. 57 In Anlehnung an den immer noch grundlegenden Aufsatz von von Martin: Altkonservatismus und Katholizismus (wie Anm. 19). 58 Dieser Satz findet sich in dem Werk "Elemente der Staatskunst" und wurde zitiert nach Hans Joachim Schoeps: Die deutschen Konservativen und die französische Revolution, in: ders: Ein weites Feld. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1980, S. 303. 59 Knapper Überblick bei Hans-Christo! Kraus: Berliner Politisches Wochenblatt, in: Schrenck-Notzing, Lexikon (wie Anm. 44), S. 63.
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dem vor allem Radowitz60 und Jarcke61 führenden Einfluß ausübten. Erst in neueren Forschungen wurde die gesamte Breite des im Vormärz entstandenen katholischen Pressewesens systematisch untersucht. Die Katholiken, erst recht die konservativen unter ihnen, hatten mit dem Pressewesen in mehrfacher Hinsicht Probleme: 62 Sie hatten keinen innerlichen Bezug zu den neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Manche neuen Möglichkeiten in diesem Bereich wurden auch von der Obrigkeit unterbunden. Warum war diese kurzzeitige Einheitsfront zum Scheitern verurteilt? Die Gründe können lediglich in gebotener Kürze präsentiert werden. Die neue Hinwendung zur Geschichte, die wesentliche Ursprünge in der Romantik hatte, setzte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren fort. Neuere Studien, besonders die Arbeit von Matthias Klug, haben herausgearbeitet, welche Auswirkung dies hatte, u. a. für das entstehende katholische Pressewesen und nicht zuletzt für den (in dieser Zeit stark überkonfessionell ausgerichteten) Konservatismus. 63 Durch diese historistische Wende trat gleichzeitig auch die konfessionelle Polemik stärker in den Vordergrund, die bereits vor dem Kölner Kirchenstreit die Zusammenarbeit zwischen den Konservativen der unterschiedlichen Konfessionen erschwerte. Schon die Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit der politisch-theologischen Konzeptionen verdeutlicht dies. Zwar gehen sowohl die protestantischen als auch die katholischen Konservativen vom engen, für sie unabdingbaren Zusammenhang von Religion und Politik aus. Die Traditionen sind aber deutlich verschieden. Während der Kreis um Friedrich Wilhelm IV. von einer engen Verbindung zwischen der Königsherrschaft Gottes und dem Regieren des Königs ausgeht und erstere als Grund und Maßstab für letzteres betrachtet64, haben entsprechende katholische Konzeptionen völlig andere Inhalte. Die politisch-theologischen Vorstellungen der preußischen Konservativen implizieren keine antikatholische Argumentation. Der staatli60 Grundlegend für das konfessionelle Verständnis, das den Konvertiten Radowitz geprägt hat, bleibt E. Ritter: Radowitz - Ein katholischer Staatsmann in Preußen. Verfassungs- und konfessionsgeschichtliche Studie, Köln 1948. 61 Zu Jarcke vgl. Hans-Christo! Kraus: Carl Ernst Jarcke und der katholische Konservatismus im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 409-445. 62 Matthias Klug: Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz (Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte, Bd. 69), Paderbom/München/Wien/Zürich 1995,S.128. 63 Vgl. ebd., S. 69-74 (für den Konservatismus). 64 Zum Leben und Werk Ernst Ludwig von Gerlachs vgl. die grundlegende Studie von Hans-Christo! Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Teil I (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 53), Göttingen 1994, S. 212-233.
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ehe Bereich wird teilweise theokratisch überformt Die selbst aus lutherischer Sicht problematische Konstruktion des "christlichen Staates" war aus katholischer Perspektive völlig unannehmbar65 , da der politische Bereich stets als relativ betrachtet wurde. Die Bereiche Glauben und Politik konnten aus ihrer Sicht lediglich indirekt, durch das Naturrecht, verbunden werden. Die Stoßrichtung der entsprechenden katholisch fundierten politischen Theologie war eindeutig: Die revolutionäre Tendenz trat erstmals in der Reformation bzw. Renaissance in Erscheinung. Die Ursünde wirkte sich nicht zuletzt in der Politik aus. Reformation, Revolütion und moderne Errungenschaften, etwa die Menschenrechte, gehen aus dieser Perspektive ineinander über. So sah Jarcke die Begründung der Menschenrechte im Gespräch Evas mit der Schlange, quasi als "die erste Loge."66 Diese argumentativen Topoi sowohl hinsichtlich der politischen Theologie wie auch des kulturintegrativen Konservatismus fanden im Görreskreis und bei Görres selbst ihr Zentrum. Görres kann im folgenden nur insoweit behandelt werden, als es im Kontext der vorliegenden Arbeit wichtig ist. 67 Für Görres ist nicht nur der Glaube, sondern, abgeleitet davon, auch der kulturelle Bereich, vor allem Wissenschaft und Kunst, Grundlage für die Politik. Das führt in seiner metaphorischen Sprache zu der Aussage, "daß der Staat nur das Erdgeschoß der Kirche ist, und das öffentliche Leben und die Pflege der Wissenschaften selbst ein Gottesdienst. " 68 Freilich unterschied sich der katholische Konservatismus dieser Epoche ebenso wie auch in folgenden Epochen in einer wichtigen Eigenschaft von den übrigen Konservativen: Gleichwie Görres, in Vorwegnahme des Leitmottos der Historisch-Politischen Blätter für das katholische Deutschland69 , gegen den "Despotismus von oben und gegen die Revolution von unten" Zur diesbezüglichen Vorstellung Ernst Ludwig von Gerlachs vgl. ebd., S. 223 ff. Vgl. Schnabel: Deutsche Geschichte, Bd. 4 (wie Anm. 21), S. 167 f. ; Wilhelm 0. Shanahan: Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1815-1871, München 1962, S. 137. 67 Zum Überblick über Leben und Werk (mit reichhaltigen Literaturangaben) vgl. Hans-Christo! Kraus: Görres, in: Schrenck-Notzing: Lexikon (wie Anm. 44), S. 214-217; zur Thematik "Görres und die Revolution" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Heribert Raab, in: Anton Rauscher (Hg.): Deutscher Katholizismus und Französische Revolution im 19. Jahrhundert (Beiträge zur Katholizismusforschung), München/Paderborn/Wien, S. 51-80; zur politischen Theologie vgl. Bernd Wacker: Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-48) von Joseph Görres - Eine politische Theologie, Mainz 1990. 68 Görres: "Teutschland und die Revolution", abgedruckt bei: Heribert Raab: Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht. Eine Auswahl aus seinem Werk, München 1978, S. 158; zur Thematik "Teutschland und die Revolution" vgl. Raab: Görres, in: Rauscher: Deutscher Katholizismus (wie Anm. 67), S. 68 ff. 69 Zu den Historisch-politischen Blättern vgl. meinen skizzenhaften Überblick in: Schrenck-Notzing, Lexikon (wie Anm. 44), S. 249-251 , hier S. 250. 65
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kämpfte 70, ist dies nicht als reiner Mittelweg zwischen den beiden Extremen zu verstehen. In dem Maße, wie infolge der Kölner Ereignisse der "Despotismus" durch die Handlungsweise der preußischen Regierung bedrohliche Ausmaße annahm, verbündete sich Görres zwar nicht mehr mit seinen revolutionären Vorstellungen früherer Jahre. Er war aber so flexibel, die Errungenschaften der Französischen Revolution, z. B. die Pressefreiheit oder das Postulat der "Freiheit der Kirche", in seine Argumentation aufzunehmen. Die liberalen Forderungen waren nur das Mittel, die kulturintegrativ-konservativen Gedanken aber die Grundlage seines publizistischen Wirkens. Insoweit ist er nicht den Weg Lamennais gegangen. Die kulturintegrativ-konservative Argumentation ist sehr häufig festzustellen. Immer wieder bezog er die Träger der Kultur auf den Glauben. Wissenschaft wird echte Wissenschaft erst durch den Zusammenhang mit dem Glauben. So heißt es bei Görres: "Die Wissenschaften nicht blos als ein weltliches Handwerk geübt, das in die Kümmerlichkeil des irdischen Daseins niederzieht, sondern nach alter Weise immer auf das höchste Mysterium wie der Philosophie, so der Religion zurückgezogen, werden nicht ferner wie schwere Gewichte sich dem strebenden Geist anhängen, sondern wie Schwingen ihm zu seiner höhern Bestimmung tragen." 71 4. Die Rückkehr aus dem Exil: Kulturintegrativer Konservatismus in der Weimarer Republik Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zur Trennung von Kirche und Zeitkultur.72 Katholische Autoren wie Drey, Möhler, Radowitz, Döllinger waren noch stark mit der deutschen Nationalkultur verbunden. Seit den vierziger Jahren ist ein Rückzug der Katholiken auf bestimmte Bereiche der Kultur festzustellen, gefördert nicht zuletzt durch das Bildungsdefizit73 , das weit hinter die Säkularisation zurückreichte. Eichendorff war der letzte gesamtdeutsch rezipierte Dichter, nicht mehr Annette von Droste-Hülshoff oder Stifter. "Catolica non leguntur" - so das diese Entwicklung beschreibende Motto der Kaiserzeit bzw. des Wilhelminischen Deutschland. 74 70 Hinweise bei Raab: Görres, in: Rauscher, Deutscher Katholizismus (wie Anm. 66), S. 71. 71 Raab: Görres (wie Anm. 68), S. 159. 72 gl. dazu Hans Maier: Kirche und Demokratie. Weg und Ziel einer spannungsreichen Partnerschaft, Freiburg/Basel/Wien 1979, S. 197-203. 73 Wemer Rösener, Das katholische Bildungsdefizit im Deutschen Kaiserreich Ein Erbe der Säkularisation von 1803, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), S. 104127, der im Anschluß an Hans Maier vor allem den Faktor der "strukturellen Minderheit" der Katholiken hervorhebt. 74 Zu der Thematik "Katholiken und Kaiserreich" vgl. als Überblick die Studie von Winfried Loth: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der
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Erst um die Jahrhundertwende setzte im Gefolge des Reformkatholizismus eine wesentliche Veränderung im kulturellen Bereich ein: 75 Die Zeitschrift "Hochland", 1903 von Carl Muth gegründet, setzte sich wenigstens ansatzweise mit der modernen Kultur auseinander. So wurden immerhin die frühen Werke von Thomas Mann - wenn auch fast ausschließlich kritisch besprochen, was für die damaligen Verhältnisse durchaus nicht selbstverständlich war. Katholische Literatur war zumeist erbauliche Literatur. Mit Max Scheler, in dessen katholischer.Phase, fand der kulturintegrative Konservatismus, erstmals seit Jahrzehnten, wieder eine Persönlichkeit, die auch im protestantischen Lager rezipiert wurde. Er konnte allerdings nur deshalb einen maßgeblichen Einfluß ausüben, weil er sich mit einem Thema beschäftigte, das nicht zu den typischen katholischen zählt, sondern zu Beginn des Krieges den intellektuellen Diskurs insgesamt beherrschte: die "Ideen von 1914". Es wurde beispielsweise behandelt von Thomas Mann, Wemer Sambart oder Johann Plenge. Scheler ging ebenfalls, wie die genannten Autoren, vom Unterschied von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation aus. Seine inhaltliche Argumentation unterscheidet sich aber nachhaltig von den anderen Publizisten. Seine Schrift "Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg" läßt die typische Argumentation des kulturintegrativen katholischen Konservatismus erkennen. Dies zeigt schon seine unübersehbare Skepsis gegenüber der Tendenz der kulturindifferenten Argumentation, die in manchen Punkten an Carl Schmitt erinnert: seine Ablehnung der Versuche, "alle historischen Kriegserscheinungen ,in letzter Linie' auf ökonomische und sozialbiologische Ursachen zurückzuführen."76 Krise des Wilhelminischen Deutschland (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 75), Düsseldorf 1984; Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, S. 9-66; Martin Baumeister: Parität und katholische Inferiorität. Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich, Paderborn u. a. 1987. 75 Vgl. etwa die Schrift des Reformkatholiken Albert Ehrhardt: Katholisches Christentum und moderne Kultur, 1907; zum katholischen Literaturstreit zwischen dem in seiner frühen Phase fortschrittlich ausgerichteten "Hochland" und der integralistischen Zeitschrift "Der Gral", von Richard Kralik gegründet, vgl. Schatz: Zwischen Säkularisation (wie Anm. 44), S. 190f. 76 Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915, S. 13; zur allgemeinen Situation im deutschen Katholizismus vgl. Vincent Beming: Geistig-kulturelle Neubesinnung im Deutschen Katholizismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Anton Rauscher (Hg.): Religiöse und kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800 (Beiträge zur Katholizismusforschung), Paderborn u.a. 1986, S. 47-98; zu Scheler im Kontext als Denker des politischen bzw kulturell ausgerichteten Katholizismus vgl. Heinrich Lutz: Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik 1914- 1925, München 1963, S. 22-42; Richard van Dülmen: Katholischer Konser5 Schrenck-Notzing
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Seine speziell katholische Auffassung der kulturellen Thematik zeigt sich an der besonderen Hochschätzung des Papsttums. 77 Es liegt seiner Meinung nach aus zwei Gründen im Interesse des Papsttums, die Mittelmächte zu unterstützen: Nur der Sieg der Mittelmächte garantiert ein mögliches katholisches Königreich Polen und ein stabiles, konsolidiertes Habsburgerreich. Nur das Papsttum kann in geistiger und kultureller Hinsicht die "allseitigere spirituelle Leitung Europas" festlegen. Es ist die einzige Macht, die dem "Sündenfall von Rationalismus und Kapital" Einhalt gebieten könne. Er kritisiert aber, anders als die anderen Vertreter der "Ideen von 1914", nicht nur die westliche Zivilisation, sondern vor allem die (einseitige) vernunftorientierte Traditionslinie der europäischen Geistesgeschichte, deren Hauptvertreter vor allem Comte, Kant oder Spencer sind. Der Erste Weltkrieg gilt als Kulmination der "Anarchie des nationalistischen Subjektivismus". Es ist nur unschwer zu erkennen: Die katholische Auffassung von Kultur ist eine andere als die der protestantischen Vertreter der "Ideen von 1914". Beide Richtungen haben sich partiell überschnitten, so daß die Bruchstellen in einer Zeit, als der Kaiser keine Parteien mehr kannte, nur schwer sichtbar wurden. Freilich zeigen sich auch in dem vielgelesenen Buch "Der Genius des Krieges" grundlegende Argumente kulturintegrativer sowie katholischkonservativer Auffassungen: vor allem seine Berufung auf die "geistige Einheit Europas" und auf den Zusammenhang des abendländischen Denkens.78 Es bildeten sich zahlreiche Zirkel und Kreise heraus, besonders im Kontext der Liturgie- und Jugendbewegung79, die bekanntlich explizit kulturund zeitkritisch war. Sie waren, ähnlich wie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, für die Förderung und Ausstrahlung des kulturintegrativen katholischen Konservatismus wichtig. Herausragend war dabei der Abt eines dieser Zentren, Maria Laach, lidephons Herwegen. Er förderte zwei der wichtigsten Protagonisten der Liturgie- und Jugendbewegung: Romano Vatismus oder die "soziologische" Neuorientierung. Das Hochland in der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36 (1973), S. 254-301, bes. S. 262-270; Hürten: Deutsche Katholiken (wie Anm. 17), S. 35-37; Scheler war nicht der einzige katholische Denker, der sich in der Diskussion zu Wort meldete. Wesentliche Beiträge lieferte auch der Freiburger Nationalökonom Götz Briefs. Vgl dazu Götz Briefs: Die Überlegenheit des preußisch-deutschen Staatsgedankens gegenüber dem Westeuropas (1916), abgedruckt bei: Katholizismus, Verfassungsstaat und Demokratie. Vom Vormärz bis 1933, hrsg. und erl. von Rudolf Morsey (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 1), Paderborn u.a. 1988, S. 98-105. 77 Zur Thematik des vorliegenden Absatzes vgl. die Hinweise bei Lutz: Demokratie (wie Anm. 76), S. 22-42. 78 Vgl. Scheler: Der Genius (wie Anm. 76), S. 253 - 334. 79 Hintergründe bei Alois Baumgartner: Die Auswirkungen der Liturgischen Bewegung auf Kirche und Katholizismus, in: Rauscher: Religiöse und kulturelle Bewegungen (wie Anm. 76), S. 121-136.
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Guardini und Odo Casel. Deren Werk trägt, obwohl auf den ersten Blick unpolitisch, deutliche politische lmplikationen. 80 Der Trend zum Gemeinschaftlichen81, Organischen und Totalen mußte sich zwangsläufig von seinem ursprünglichen Bereich, der Frömmigkeit, Liturgie oder der Hierarchie, auf die Politik übertragen. 82 Herwegen war neben Faulhaber der wohl bekannteste monarchistisch ausgerichtete Vertreter innerhalb des deutschen Klerus. Vielfach hat Herwegen sich über die Wechselwirkung von katholischer Kultur und Politik geäußert. So heißt es im Vorwort von Romano Guardinis damals weit verbreiteter Schrift "Vom Geist der Liturgie": "Das Individuum, durch Renaissance und Liberalismus großgezogen, hat sich wirklich ausgelebt. Es sieht ein, daS es nur im Anschluß an eine ganz objektive Institution zur Persönlichkeit reifen kann. Es verlangt nach Gemeinschaft."83 Die konservative Argumentation wird schon in diesen wenigen Sätzen offensichtlich. So verwundert es nicht, daß es spätestens nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus zu eindeutigen politischen Stellungnahmen kam. So heißt es auf der vielzitierten dritten Tagung des katholischen Akademikerverbandes in Maria Laach 1933: 84 80 Aus der seit 1985, dem hundertsten Geburtstag, deutlich gewachsenen Guardini-Literatur vgl. als Überblick Hanna-Barbara Gerl: Romano Guardini 1885-1968. Leben und Werk, 3. Auflage, Mainz 1987; zu den indirekten und direkten politischen Bestandteilen seines Werkes vgl. Ludwig Watzal: Das Politische bei Romano Guardini, Percha am Staroberger See 1985. Aus der ebenfalls wachsenden Casel-Literatur vgl. die - allerdings die politischen Gedanken zu wenig beachtenden - Studien von Amo Schilson: Theologie als Sakramententheologie. Die Mysteriumstheologie Odo Casels (Tübinger Theologische Studien), Mainz 1982 und Maria Judith Krahe: Der Herr ist der Geist. Studien zur Theologie Odo Casels, 2 Bände, St. Otilien 1986; im Gegensatz dazu analysiert einseitig Richard Faber die politischen Gedanken Casels nicht aus dessen theologischen Entwurf heraus, sondern versucht ihn als politischen Denker zu erfassen und die politischen Aussagen isoliert zu begreifen. Dies kann nicht gelingen, da das Politische lediglich implizit auf dem Hintergrund von Casels Gedankenwelt zum Ausdruck kommt. Insofern zeigt sich, daß der in der vorliegenden Arbeit gebrauchte Begriff des kulturintegrativen katholischen Konservatismus zur adäquaten Beschreibung dieser Spielart des Konservatismus in begrifflich-methodischer Sicht unentbehrlich ist. 81 Zu diesem Trend vgl. Alois Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik (Beiträge zur Katholizismusforschung, hrsg. von Anton Rauscher), München u.a. 1977. 82 Zu den verschiedenen Analogien und Übertragungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen, z. B. von der Liturgie auf die Politik, vgl. die allerdings sehr einseitige Studie von Richard Faber: Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach, in: Hubert Cancik (Hg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136-158. 83 Romano Guardini: Vom Geist der Liturgie. Nachwort von Hans Maier, Freiburg/Basel/Wien 1983, S. 9f. (Einführung Herwegens) 84 Zu den Hintergründen der Tagung vgl. die fundierte Arbeit von Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und
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"Was auf religiösem Gebiet die liturgische Bewegung ist, ist auf politischem Gebiet der Faschismus - Der deutsche Mensch steht und handelt unter Autorität, unter Führerschaft ... Wer nicht folgt, ist ein Schädling für die Gemeinschaft ..." Herwegens monarchisch-restaurative Gedankenwelt wurde von Odo Casel weitgehend geteilt. Der große Theoretiker des Kultmysteriums bemüht sich an einigen Stellen um die Übertragung seiner Gedanken in den Kontext des Politischen. Freilich ist Casel, wie Guardini, nicht in erster Linie politischer Denker, sondern kommt zur Politik über die Kulturkritik. Kulturintegrativ-konservative Topoi finden sich an vielen Stellen. So konstatiert er ein Hinweggehen der Zeit über die "Hochflut des Rationalismus"; weiterhin kritisiert er, daß die Kirche in den Jahrhunderten seit "Renaissance und Reformation . .. als eine bloße Rechtsinstitution, als eine moralische und pädagogische Anstalt zur Erziehung des Volkes betrachtet worden" ist. 85 Dezidiert lehnt er die seiner Meinung mysteriumsfeindlichen Strömungen der Neuzeit, vor allem Renaissance und Aufklärung, ab. Seine - relativ wenigen - politischen Analysen, z. B. des Faschismus, zeigen deutliche Schwächen. Er deutet den Faschismus als ständestaatliche Bewegung, was dessen diktatorischen Charakter zu wenig berücksichtigt. Casel betont die Möglichkeit der Übertragung des heidnischen Kultmysteriums in den christlichen Kontext. Eine Vorliebe für die damals weitverbreiteten neopaganistischen Strömungen hatte er jedoch nicht, wie ihm manche Kritiker vorwerfen86• Zu den von Herwegen Geförderten gehörte auch Romano Guardini. Er äußerte sich ebenfalls nur indirekt zu politischen Fragen, wenngleich auch nicht unbestimmt. Von der Gemeinschaftsorientierung ausgehend, kam er zu einer negativen Einschätzung des republikanischen Staates. Eindeutig sind seine Äußerungen in den "Schildgenossen", der Zeitschrift von Burg Rothenfels. Sein Denken drehte sich um das richtige Verhältnis der Freiheit des Einzelnen zur recht verstandenen Autorität. Der kulturkritische Impetus Diktatur (1929-1934), München 1969, S. 176-290 (zur Tagung selbst vgl. ebd., S. 207-211), deren z. T. einseitigen Schlußfolgerungen der Verfasser sich aber nicht anschließen kann. Gelegentlich in der Literatur zu findende Hinweise, daß Herwegen eine Art Nachbildung des Georgekreises plante, sind eher skeptisch zu betrachten, da die Tagungen stets eine offene Form hatten und nie eine irgendwie geartete Geheimgesellschaft werden sollten. Die Thematik der Laacher Kreise war nicht in erster Linie ästhetisch-schöngeistig wie im Kontext der Treffen des Georgekreises (zu den vielfaltigen Unterschieden zu den Kreisen von Maria Laach vgl. die Beschreibung des George-Kreises bei Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus, Darmstadt 1995). 85 Odo Casel: Das christliche Kultmysterium, 4. Auflage, 1960, S. 95 f. 86 Zur Kritik vgl. Faber: Deutscher Katholizismus (wie Anm. 82), in: Cancik: Religions- und Geistesgeschichte (wie Anm. 81), S. 137-139.
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ist unübersehbar. Die Gefahr des "schrankenlosen Individualismus" wird ebenso betont wie die Problematik der (angeblichen) Vermassung des Lebens und der Kultur. 87 In gewisser Weise ist Guardini aber, trotz seiner besonderen Stellung, ein typischer katholischer Denker der zwanziger Jahre. Dies zeigt nicht zuletzt sein Insistieren auf die Form. 88 Diese vor allem im katholischen Denken weit verbreitete Vorliebe für das Formale in allen Bereichen der Kultur thematisiert die Habilitationsschrift von Thomas Ruster. 89 Der Autor vertritt folgende These: Das Einlassen katholischer Denker auf grundlegende Tendenzen der Moderne, vur allem auf den Warencharakter des modernen Lebens, führte nicht zur pauschalen Ablehnung moderner Tendenzen, sondern zu einer Änderung des Denkens in den "Krisenjahren der klassischen Moderne" (Detlev K. Peukert). Die Form des Denkens sollte seine Nützlichkeit belegen. Formale Prinzipien wie Autorität oder Sinnstiftung, aber auch Gemeinschafts- statt Individualitätsprinzip, Gehorsam statt Eigenverantwortung oder Gewissensentscheidung, Abendland- statt Demokratiebegeisterung standen im Vordergrund. Dieser vorherrschende Zug des Denkens hatte nicht unerheblichen Einfluß auf den praktisch-politischen Bereich. Obgleich es zwischen dem kulturintegrativ-katholischen Konservatismus und dem politisch-sozialen Katholizismus auch in dieser Epoche grundlegende Unterschiede gab, sind die Beziehungen vor allem am Ende der Weimarer Republik unübersehbar. Die Gemeinschaftsorientierung hatte maßgebliche Auswirkungen. So erstaunt es nicht, daß der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning als Motiv für seine Verhandlungsbereitschaft mit den Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre die Aufforderung durch überparteiliche, patriotisch ausgerichete Persönlichkeiten angibt. 90
87 Guardinis politische Vorstellungswelt ist noch vergleichsweise wenig erforscht. Seine Einordnung als "Apologeten von Führerprinzip und autoritär-ständischer Ordnung" ist zu sehr auf den Nationalsozialismus und die Suche nach seinen Vorläufern fixiert (Ulrich Bröckling: Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München 1993, S. 51). 88 Vgl. ebd., S. 53ff. 89 Thomas Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Modeme in der Weimarer Republik, 2. Auflage, Paderbom 1997. 90 Vgl. Rudolf Morsey: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und "nationaler Erhebung" 1932/33, Stuttgart/Zürich 1977, S. 61.
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5. Der kulturintegrativ-katholische Konservatismus in den frühen fünfziger Jahren Eine breite Forschungsliteratur vertritt die Auffassung von den in den fünfziger Jahren vorherrschenden restaurativen Tendenzen. Es ist freilich schwierig anzugeben, inwiefern ein solcher Rückschritt stattfand, zumal der Prozeß der Verwestlichung in allen kulturellen Bereichen unübersehbar war91 • Ein Rückgang auf die Zeit des Dritten Reiches war ausgeschlossen. Die Zeit der Weimarer Republik war von anderen Diskussionen und Einflüssen bestimmt. Die Epoche des Kaiserreiches lag zu diesem Zeitpunkt schon zu lange zurück, als daß eine Anknüpfung problemlos möglich gewesen wäre. Letztlich bleibt als Argument lediglich die "Sonderstellung der Kirchen"92 und deren zunehmender Einfluß sowie eine (angebliche) ideologisch ausgerichtete Familienpolitik. Unbestreitbar ist aber im geistigen Klima der Nachkriegszeit die geistigkulturelle Bedeutung des kulturintegrativ-katholischen Konservatismus. Es gab vielfaltige Einrichtungen, die diese Einflüsse förderten, vor allem abendländisch ausgerichtete Akademien93 , aber auch die von dem Verleger Naumann gegründete Zeitschrift "Neues Abendland", die einen prominenten Mitarbeiterkreis hatte, dem u. a. Hans J. Schoeps, Hans Asmussen, Hans Sedlmayr angehörten. 94 Deren Einfluß- und Wirkmöglichkeiten dürfen weder unter- noch überschätzt werden. 1955 hielt der damalige Bundesaußenminister Brentano eine Rede im Augsburger Rosenausladion anläßlich des tausendjährigen Gedenkens an die Schlacht auf dem Lechfeld mit ein91 Zur Problematik der Verwestlichung vgl. Dietrich Thränhardt: Geschichte der Bundesrepublik 1949-1990 (Moderne Deutsche Geschichte, Bd. 12), erw. Neuausgabe 1996, S. 137-139. 92 Vgl. ebd., S. 45 f. 93 Vgl. Schildt: Konservatismus (wie Anm. 2), S. 231 ff.; vgl. dazu auch die Studie von Helga Grebing: Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945, Frankfurt a. M. 1971, S. 263 ff.; zum europäischen Hintergrund vgl. Martin Greiffenhagen, ,Rechristianisierung' und ,Säkularisierung'. Anmerkungen zu einem europäischen interkonfessionellen Interpretationsmodell, in: Christoph Kaiser/ Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Christentum und politische Verantwortung. Kirchen in der Nachkriegszeit, Stuttgart u.a. 1990, S. 1-24. Angesichts des unübersehbaren Wertverlustes breiterer Bevölkerungsschichten und der damit einhergehenden Kulturkrise (Materialismus, Hedonismus, religiöser Sinnverlust), die wesentlich als Folge der Kulturrevolution von 1968 zu erklären sind, zeigt sich, daß die grundlegenden Überlegungen der christlich-konservativen Denker der frühen fünfziger Jahre nicht überholt sind (zum Zusammenhang von aktueller Werte- und Demokratiekrise vgl. Günter Rohrmoser, Der Ernstfall. Die Krise unserer liberalen Republik, Berlin/Frankfurt a. M. 1994, bes. S. 275-297). 94 Knappe Hinweise zu der Zeitschrift vgl. Karlheinz Weissmann: Neues Abendland, in: Schrenck-Notzing: Lexikon (wie Anm. 44), S. 393f.
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deutig abendländischen Konnotationen. Schon damals war die Reaktion auf die Rede überwiegend negativ. Aus dem breiten Netzwerk an Institutionen vor allem im kirchlichen, besonders im katholischen, Bereich konnte eine vielfaltige Publikationstätigkeit führender Persönlichkeiten im kulturintegrativ-konservativen Spektrum erwachsen. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der "Wiederkehr des christlichen Staates" (Grebing), wie eine Fremdbezeichnung lautet, sind eher selten. Die Habilitationsschrift von Helga Grebing präsentiert eine Fülle von Material und Zusammenhängen.95 Die Wertung ist jedoch sehr einseitig. Es fehlt an Einfühlungsvermögen in die Thematik, was freilich für einen größeren Teil der Konservatismusstudien gilt. Die den Gewerkschaften nahestehende Autorin erörtert nicht die Hintergründe dieser Tendenzen: nämlich das damals weithin empfundene Bedürfnis, der (Rechts-)Ordnung der noch jungen Demokratie eine Wertorientierung zu geben und ihr das Schicksal der wertneutralen Weimarer Demokratie zu ersparen. Weiterhin muß als Hintergrund der Debatte erwähnt werden, daß in breiten Kreisen des Bürgertums der Zusammenhang zwischen der "zynischen Abwendung vom christlichen Sittengesetz" (Franz-J. Strauß) und dem Aufstieg der totalitären Mächte als "politische Religionen" (Voegelin) durchaus bewußt war - eine Verbindung, die auch heute keineswegs widerlegt werden kann, lediglich etwas differenziert werden muß. Der führende Vertreter des kulturintegrativen katholischen Konservatismus der frühen Bundesrepublik war zweifellos Romano Guardini. Besonders mit seinem Buch "Das Ende der Neuzeit" wurde er zum Stichwortgeber der späteren Postmodernediskussion.96 Seine Kritik der Neuzeit richtete sich gegen drei wesentliche Strömungen der Neuzeit: gegen den SubjektPersönlichkeitskult, gegen das Konzept der Natur, hinter die kein Rückgriff möglich ist, und gegen die Kultur der Autonomie. Besonders deutlich lehnte er die neuzeitliche Vorstellung ab, mehr Macht, d. h. eine größere Sicherheit, größerer Nutzen, höhere Wohlfahrt, bedeute mehr Fortschritt. 97 Weiterhin lehnt er die nivellistischen Tendenzen der Massengesellschaft ab. Der moderne Mensch gilt als ortlos. Er rückt aus dem "Zentrum des Seins" heraus98 - eine Analyse, die an Sedlmayrs Gedankengänge erinnert. GuardiVgl. Grebing: Konservative Kritik (wie Anm. 93). Zum Zusammenhang von Lyotard und Guardini vgl. Eugen Biser: Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit, Graz/Wien/Köln 1991, S. 2333. 97 Romano Guardini: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung (Romano-Guardini-Werke, hrsg. von Franz Henrich, Nachdruck der 9. Auflage 1965), Mainz 1996, S. 70. Zur konservativen Tendenz in Guardinis Werk i.S. eines echten Konservatismus, der das gute Alte im Neuen bewahren will vgl. den von Arno Schilson herausgegebenen Sammelband "Konservativ mit Blick nach vorn. Versuche von Romano Guardini" (Würzburg 1994), bes. S. 103-114; S. 115-130. 95
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nis grundlegende Auseinandersetzung ist auch in der Gegenwart relevant und folgerichtig rezipiert. Das Konzept wird von der katholischen Richtung der Postmoderne, die manchen Gegnern wie auch Befürwortern als konservativ gilt, fortgeführt. Peter Koslowski kritisiert die negativen Seiten der Moderne (Atheismus, Subjektivismus), hebt aber auch die positiven Seiten hervor (Freiheitsverständnis, Personalitätsverständnis).99 Eine ähnliche, wenngleich methodisch anders ausgerichtete, Argumentation findet sich bei Hans Sedlmayr. 100 Er betrachtet die kunstgeschichtlichen Motive als Symptome für epochale Veränderungen. Das Zeitalter der Aufklärung gilt als der Beginn des maßgeblichen Einschnitts. Seit dieser Epoche lassen sich folgende Tendenzen feststellen: 101 Aussonderung "reiner" Sphären, Auseinandertreiben der Gegensätze, Neigung zum Anorganischen usw. Im Gegensatz zu Guardini ist der Widerspruch zur Aufklärung und ihren (kunsthistorischen) Folgen ausführlich diskutiert. Anders als etwa Panajotis Kondylis betrachtet er die Aufklärung als sichtbaren Bruch, der sich nicht in den neuzeitlichen Rahmen einordnen läßt. 102 Er konstruiert eine Traditionslinie von Ledoux' Idealstadt Chaux bis zum Konstruktivismus Lenins. Der autonome Mensch ist charakterisiert durch den Verlust der Beziehung zwischen Mensch und Gott, der mit dem Menschen in früheren Epochen "als dem eigentlichen ,Du' " 103 verbunden war. Das Deszendenzschema läßt sich bei Sedlmayr deutlicher als bei Guardini erkennen. Auch Sedlmayr ist in der kunsthistorischen Debatte der Gegenwart rezipiert, wobei dies in unterschiedlichem Maß für seine Methode und für seine weltanschaulichen Implikationen gilt. Werner Busch widmet dem "notwendigen Verlust der Mitte" sogar ein Kapitel seiner grundlegenden Arbeit über die Geburt der Moderne im 18. Jahrhundert, vermeidet aber den weltanschaulichen Hintergrund Sedlmayrs. 104 Der Politikwissenschaftler und VoeGuardini: Das Ende (wie Anm. 97), S. 44. Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung, 2. Auflage, München 1988. Es kann nicht verwundern, daß es in der unmittelbaren Gegenwart kaum Ansätze eines kulturintegrativ-katholischen Konservatismus gibt. Eine Ausnahme ist die Civitas-Gesellschaft um den Münchner Philosophen Robert Spaemann und das damit eng verbundene Institut für Philosophie in Hannover. Diese Einrichtungen erzielen eine gewisse Breitenwirkung in der Wissenschaft, die allerdings nicht mit der Wirkung der abendländischen Akademien zu vergleichen ist. 100 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Mit einem Nachwort von Werner Hofmann (Klassiker des modernen Denkens), Gütersloh o. J. 101 Vgl. ebd., S. 163ff. 102 Zu Kondylis ' Auffassung vgl. dessen Studie "Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus" (Stuttgart 1981 ), die die Aufklärung vor allem aus der rationalistisch-philosophischen Tradition heraus deutet. 103 Sedlmayr: Verlust (wie Anm. 100), S. 195. 98
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gelin-Schüler Schabert scheut nicht davor zurück, Sedlmayrs meist als überholt betrachtetes Gedankengut im Kontext seiner Architekturtheorie anzuwenden.105 Wie Guardini und Sedlmayr betrachtet Christopher Dawson die Kultur als das eigentliche Werk Gottes, nicht denkbar ohne den Einfluß der Religion. Vergleichbar auch mit Adorno und Horkheimer, geht er ebenfalls von einer "Dialektik der Aufklärung" aus und will bewußtmachen, "was die moderne Menschheit mit ihren gewaltigen Schätzen an neuem Wissen, neuem Reichtum und neuer Macht ausgerichtet hat." 106 Weiterhin kritisiert er die Massengesellschaft. Sie ist letztlich eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung des totalen Staates. 107 Als Historiker berücksichtigt er stärker als die beiden anderen kulturintegrativ-konservativ ausgerichteten Denker die politischen Folgen kultureller Entwicklungen. Er vertritt ebenfalls Guardinis und auch Casels Auffassung, allerdings in historischem Kontext, daß es bereits im Hohen Mittelalter zum Ende der christlichen Kulturgemeinschaft kam, spätestens mit der Auflösung der übernationalen Kräfte und dem "Emporkommen der nationalen Monarchie". 108 Selbst die fast allgemein abgelehnten Lehren der Päpste des 19. Jahrhunderts werden von ihm verteidigt. Dies erklärt, warum Dawson in systematisch-historischen, deutschsprachigen Publikationen kaum mehr Berücksichtigung findet. 109
111. Die ordnungspositivistische Strömung des katholischen Konservatismus Eine zweite Strömung soll noch in gedrängter Form Erwähnung finden: diejenige Linie des ordnungspositivistischen Denkens, die von De Maistre und De Bonald zu Charles Maurras, Carl Schmitt und Hans Barion verläuft. Ihr geht es weniger um Inhalte christlichen Glaubens, sondern mehr um die Form. Das spirituelle Element wird zugunsten des Funktionell-Organisatorischen minimalisiert. "Je suis catholique, mais je suis athee." - Dieser Aus104 Wemer Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Modeme, München 1993, S. 264-294. 105 Vgl. Tilo Schabert: Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München 1997. Das Buch offenbart eine Reihe von Schwächen, nicht zuletzt im sprachlichen Bereich. 106 Christopher Dawson: Europa. Idee und Wirklichkeit, München 1953, S. 7. 107 Vgl. ebd., S. 210. 108 Zu den Zusammenhängen vgl. Christopher Dawson: Die Religion im Aufbau der abendländischen Kultur, Düsseldorf 1953, S. 339ff. 109 Eine Ausnahme ist die Studie von Ernst No/te: Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, Berlin/Frankf. a. M. 1991, S. 455-459, die Dawson im Zusammenhang mit Martin Buher würdigt.
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spruch Maurras' steht als eine Art Kurzformel über dieser Richtung. Die deutschen Vertreter dieses Gedankengutes (Schmitt, Barion) waren dabei in ihrer Auffassung, vor allem hinsichtlich des atheistischen Elements, weniger radikal als etwa Maurras. Den Denkern dieser Traditionslinie war durchaus bewußt, daß Jesu Lehre für konservatives Denken nur bedingt brauchbar war, da sie letztlich zu weitabgewandt und zudem gegen das Establishment der damaligen Zeit gerichtet war. Es handelte sich bei dieser Richtung stets nur um eine weniger einflußreiche. Ihre Orthodoxie wurde meist verneint, was aus ekklesiologischer Perspektive umstritten ist, weil nach dem Religionsphilosophen Erich Przywara "in den Glaubensakt selber das Moment der sichtbar-juridischen Kirche eingeht. ,Gott in der sichtbarjuridischen Kirche', dieses Moment, das für katholische Auffassung das Wesen katholischen Glaubens nach der des Beweggrundes wie des Inhalts erst voll" ausdrückt, "dieses Moment erst stellt das ,in Gott um Gottes willen' des Glaubens gegen alle subjektive Vergeschöpflichung sicher." Abweichung von der Glaubenslehre ist lediglich die Verabsolutierung der Form des Glaubens und deren Mißbrauch für politische Zwecke. Die Form gilt aber dogmatisch als bedeutsam, da hier nicht zuletzt das unterscheidende Prinzip zum Protestantismus zu finden ist. De Maistre, wohl der geistige Vater dieser Richtung, sah einen wesentlichen Grund für den Verfall der Macht des französischen Königtums in der geistigen und sittlichen Dekadenz des 18. Jahrhunderts. Die gallikanische Kirche zerstörte die Macht des Papsttums. Eine Autorität ist auf die andere angewiesen, weshalb die Zerstörung des Königtums die zwangsläufige Folge war. Wer anders als der Papst kann nach dem Ende der absoluten Monarchien absolute Gewalt begrenzen? Absolute politische Gewalt kann nur durch absolute geistliche Gewalt fundiert werden. Positivistisch kann dies mittels der Tradition begründet werden. Diese reicht weit hinter die absolutistischen Monarchien zurück. Als intellektueller Vertreter dieser strikt gegenrevolutionären Strömung trat vor allem De Bonald auf, dessen Leitgedanke eine Monarchie auf theokratischer Grundlage war. 1 10 Aus diesem Grund mußten die Wurzeln des Staates aus der Bibel abgeleitet werden. Der wichtigste Erbe dieser Tradition im 20. Jahrhundert in Frankreich war der Gründer der Action Franr;aise, Charles Maurras. 111 Dieser hatte im katholischen Lager bis zu seiner Verurteilung im Jahre 1926 eine umfangreiche Gefolgschaft, u. a. Jacques Maritain. Maurras setzte an die Stelle des 110 Grundlegend bleibt die kürzlich neuaufgelegte Dissertation von Robert Spaemann: Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald, 2. Auflage, Stuttgart 1998. 111 Knapper Überblick bei Karlheinz. Weissmann: Charles Maurras, in: SchrenckNotzing: Lexikon (wie Anm. 44), S. 363-366.
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herkömmlichen christlichen Konservatismus den von Nietzsche herkommenden, ästhetischen Konservatismus. Der alte Baum, gemeint ist primär der christlich geprägte Konservatismus bzw. das Christentum, aus dem heraus die neue Pflanze wächst, wird als bloßes Mittel erhalten. 112 Als bedeutendster Vertreter einer primär, wenn auch nicht ausschließlich, formalen Betrachtung in Deutschland darf Carl Schmitt gelten. Die Fundierung der Politik erfolgt grundsätzlich von der Religion her: ,,Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung. " 113 Dabei ging es ihm besonders um das "Pathos der Autorität in seiner ganzen Reinheit" 114, ohne ausschließlichen Bezug auf Teilbereiche der Gesellschaft wie das Militär oder die Ökonomie. In der Forschung ist es aber nach wie vor umstritten, inwieweit Schmitt als wenigstens partiell überzeugter Katholik ("Katholik .. . der Rasse nach", nach eigenem Bekunden) eingeordnet werden kann oder ausschließlich als "Römer" (Mohler) gelten muß. 115 Das fehlende ästhetische Element, ja die Gegnerschaft zu den "ästhetischen Schlaraffen" (Tagebucheintrag 16.06.1948), unterschied ihn trotz äußerer Gemeinsamkeiten deutlieh von Maurras. Dahinter verbarg sich nicht zuletzt die Feindschaft zur ästhetischen Traditionslinie des katholischen Konservatismus. Der antiästhetische Affekt richtete sich vor allem gegen Persönlichkeiten und Denker wie den konvertierten Hugo Ball ("Die Folgen der Reformation"), gegen den Österreichischen Dichter Theodor Däubler ("Im Kampf um die moderne Kunst") oder auch gegen den vor allem wegen seiner profaschistischen Reden kritisierten Ezra Pound. Die Forschung hat die Rolle des "katholischen" Schmitt in den letzten Jahren intensiver erforscht. Beispiele aus der Sekundärliteratur sind der von Bemd Wacker herausgegebene Sammelband "Die eigentliche katholische Verschärfung" und die materialreiche, kritische Studie von Andreas Koenen 116, die trotz ihrer herausragenden Bedeutung einer stärkeren DiffeSo ausgedrückt bei Ernst No/te: Der Faschismus in seiner Epoche. Action - Italienischer Faschismus - Nationalsozialismus, 8. Auflage, München/ Zürich 1990, S. 100. 113 Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, Nachdruck der 2. Auflage 1925, Stuttgart 1984, S. 28. 114 Ebd., S. 31. 115 Vgl. dazu Richard Faber: Car1 Schmitt, der Römer, in: Bemd Wacker (Hg.): Die eigentliche katholische Verschärfung. Konfession, Theologie und Politik im Werk Car1 Schmitts, München 1994, S. 257-278. 116 Wacker: Verschärfung (wie Anm. 115); Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995, bes. S. 27-83. Eher bedauerlich ist es, daß diese wichtige Studie starke Züge einer antifaschistischen Volkspädagogik offenbart, die sich vor allem im einleitenden Kapitel zeigt. In diesem Abschnitt wird die Vielfältigkeit der Schmitt-Rezeption in der 112
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renzierung ·bedurft hätte. So werden die Gemeinsamkeiten zwischen Guardini und Schmitt betont, die es gewiß gab. Beiden war unbestreitbar ein "von einem tiefen Mißtrauen gegen Parlamentarismus und Parteien" geprägter "Konservatismus" zu eigen. 117 Dies erklärt sich in erster Linie aus dem Trend hin zur (manchmal übertriebenen) Gemeinschaftsorientierung, die zu einer fast notwendigen Abwertung von Individualismus und Pluralismus führte. Freilich war die Themenstellung Guardinis im Vergleich zu Schmitt eine völlig andere. Seine Sicht des Politischen wurzelte in erster Linie in einer bestimmten anthropologischen Auffassung. Das Politische war demgegenüber sekundär. Schmitts Auffassung, daß formale Prinzipien der Kirche auch politische Auswirkungen hatten, ist zuzustimmen. Freilich ist die Divergenz nicht nur auf die Unvereinbarkeit von kirchlicher Form und moderner ökonomischindustrieller Rationalität beschränkt. Die vor allem von Roben Bellarmin konzipierte Lehre von der potestas indirecta war insofer.n partiell erfolgreich, als sie zu weitgehenden Analogieschlüssen von Kirche und Politik, besonders im 20. Jahrhundert, entgegengewirkt hat. Die von Schmitt beschriebene Autorität war und ist in erster Linie im 19. und 20. Jahrhundert geistliche Autorität und somit nicht primär formal zu beschreiben. Dies wird besonders deutlich an der Haltung des Vatikans in beiden Weltkriegen. Einer der letzten Vertreter dieser Richtung des ordnungspositivistisch ausgerichteten katholischen Konservatismus war der Kirchenjurist Hans Barion. Nicht zufällig entfernte er sich am Ende seines Lebens immer mehr von der Lehre der (nachkonziliaren) Kirche. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen eine der wichtigsten Konstitutionen des II.Vatikanums, gegen "Gaudium et spes". 118 Wer die lange und wirkungsmächtige Tradition des ordnungspositivistischen katholischen Konservatismus kennt und würdigt, den kann es nicht verwundern, daß Barion eine grundlegende Tendenz der "Principia primaria" der Konstitution "Gaudium et spes" in den Mittelpunkt seiner Kritik stellt: "die Zurückdrängung der staatlichen und politischen Form auf ein, wenn auch unentbehrliches, Hilfsmittel für den gesellschaftlich-privaten Fortschritt der ,Menschen, Familien und Zusammenschlüsse.'" 119 In der Tat verlor diese Richtung mit der immer stärkeren Gegenwart zu wenig differenziert dargestellt und größtenteils auf das schwer greifbare Phänomen der Neuen Rechten eingeschränkt. Grundlegend für jede Beschäftigung mit dem Thema Carl Schmitt und der Katholizismus ist die Studie von Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1988-1936 (Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte), Paderborn 1998, die für die vorliegende Untersuchung aber nicht mehr ausgewertet werden konnte. 117 Koenen, Der Fall (wie Anm. 116), S. 44. 118 Vgl. Hans Barion: Weltgeschichtliche Machtform? Eine Studie zur politischen Theologie des II.Vatikanischen Konzils, in: Epirrhosis, Festschrift für Carl Schmitt, hrsg. von Hans Barion u.a., Ber1in 1968, S. 21ff.
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inhaltlichen Definition des Glaubens zu Lasten der formalen Sichtweise deutlich an Einfluß. Mit Recht wurde konstatiert, daß die "extreme Tendenz zur Objektivierung und Formalisierung mit einer bewußten Vernachlässigung moralischer Aspekte einherging" (Thomas Ruster). Dies gilt für fast alle Vertreter dieser Strömung. Gerade aber die moralischen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens bzw. des Gemeinwohles rückte das kirchliche Lehramt mit fortschreitender Dauer des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner Verkündigung, nicht zuletzt als Kompensation für die Einflußminderung in anderen Bereichen der Kultur und der Politik.
IV. Die Tradition der "Hof- und Staatskatholiken" innerhalb des katholischen Konservatismus Seit etwa den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gibt es eine Reihe von sogenannten "Hof- und Staatskatholiken" (Morsey). Sie bildeten eine nicht unbedeutende Richtung innerhalb des katholischen Konservatismus im Kaiserreich sowie der Weimarer Republik, meist mit besonders nationaler Akzentuierung. Die andere, entgegengesetzte Richtung bildete der Ultramontanismus. Diese wird in den letzten Jahren von der Forschung verstärkt als konservative Strömung wahrgenommen, ja sogar als Spielart des "Fundamentalismus" bewertet. 120 Vor allem die Studie von Christoph Weber versucht, "Strukturmerkmale oder Wesensäußerungen für fundamentalistisches Denken und Handeln" 121 , wie etwa Traditionalismus/Konservatismus, Autoritarismus, Fanatismus, Antifeminismus, auf den Ultramontanismusbegriff anzuwenden. Aus dieser Perspektive erscheint der Ultramontanismus als antimoderne Bewegung, die er wenigstens z. T. auch war. Freilich Ebd., S. 27. Zu dieser These vgl. Christoph Weber: Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: Winfried Loth (Hg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Modeme (Konfession und Gesellschaft, Bd. 3), Stuttgart 1991, S. 20-45. Wer im Kontext der Ultramontanismusbewegung stets nur das autoritäre Element von der Spitze aus, also vom Papsttum aus, sieht, der verkennt die Ursache der ,.Romwende von unten" (Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft in Deutschland vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 131). Die steigende Verehrung des Papsttums erfolgte von breiten Teilen der katholischen Bevölkerung, die zum Teil vom Papsttum einen Schutz gegen die Macht von Regierungen und Nationalstaat erhoffte. Das Papsttum hat erst später diese Anregungen aufgegriffen. Arbeiten wie die Studien von Wehler, Weber, Schieder etc. tendieren dazu, die innerkirchlichen Veränderungen, d. h. die Auswirkungen der Französischen Revolution, Säkularisation, Wegfall der reichskirchlichen Institutionen usw. als Voraussetzungen für den Syllabus, das I. Vatikanum und die veränderten innerkirchlichen Mentalitätsstrukturen zu wenig zu beachten. 121 Weber: Ultramontanismus, in: Loth: Katholizismus (wie Anm. 120) S. 27. 119
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werden aus dieser Sichtweise die spezifisch modernen Erscheinungsformen, vor allem die plebiszitären, wenngleich erst im späteren Entwicklungsstadium demokratischen Elemente 122, deutlich unterbewertet. Der Verfasser erwähnt, was symptomatisch ist, auch nicht die Problematik des Fundamentalismusbegriffes gerade für das katholische Denken. Dieses kennt, anders als die vielfältigen protestantischen Strömungen, kein unbedingtes Fundament, das mit der Bibel vergleichbar wäre. Die Berufung auf die Bibel wurde im katholischen Bereich durch deren (notwendige) Interpretation auf dem Hintergrund der Tradition wenigstens teilweise eingeschränkt. Auch das Papsttum hat sich nie als absolutes Fundament verstanden. 123 Die Unfehlbarkeit des Papstes unter bestimmten Voraussetzungen ist nie ohne Bezug auf Tradition und Schrift denkbar und möglich. Die stark national und antiultramontan ausgerichteten Katholiken kann man vereinfacht in zwei Gruppen einteilen: in eine orthodoxe und eine heterodoxe Strömung. Die Forschung der letzten Jahre hat größtenteils bestätigt, was schon bekannte Zeitgenossen, u. a. Bismarck oder Nietzsche, vermutet haben: nämlich die durchaus wichtigen sozialen und politischen Implikationen der nach dem I. Vatikanischen Konzil abgespaltenen Altkatholiken.124 Sie bestanden vor allem in ihrer Führungsschicht in erster Linie aus national ausgerichteten Bildungsbürgern und bedeuteten somit in politischer Hinsicht in vielfältiger Weise eine Fortsetzung der deutschkatholi122 Vgl. dazu die Studie von Karl Buchheim: Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963. Diese modem-plebiszitären Anleihen werden unterschlagen bei Hans Ulrich Weh/er: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der "Deutschen Doppelrevolution bis zum Ersten Weltkrieg 1849 bis 1914, München 1995, S. 1182: "Er [der Ultramontanismus] besaß alle wesentlichen Kennzeichen eines Fundamentalismus, der auf bedrohliche Modemisierungsprozesse mit panisch-reaktionärer Ablehnung reagiert." Wehlers Sichtweise ist typisch für einen Großteil der Vertreter der sozialhistorischen Forschung, die besonders, wenn auch nicht ausschließlich, die modemitätskritischen Züge von Katholizismus und Ultramontanismus hervorhebt. Wehlers dichotomisches Weltbild, das nicht zuletzt im Historikerstreit zum Ausdruck kam, zeigt sich auch im vorliegenden Kontext in aller Deutlichkeit. Trotz der Kapitelüberschrift ("Aggressive Defensive und weltoffene Erneuerung") werden das emanzipatorische Potential des Katholizismus, sein staats- und obrigkeitskritischer Impetus, seine internationale Ausrichtung, seine plebiszitären bzw. in Ansätzen auch demokratischen Hintergründe zu wenig gewürdigt, wenngleich eine differenziertere Sichtweise im Vergleich zu früheren Schriften Wehlers durchaus zu erkennen ist. 123 Ausnahmen in der Neuzeit waren gewisse Überspitzungen der Sichtweise der päpstlichen Machtstellung, wie sie sich etwa im Pontifikat Pius IX zeigten. Beispielhaft ist das sicher überlieferte Wort Pius IX auf dem I. Vatikanum: "Ich bin die Tradition, ich bin die Kirche" (vgl. die Hintergründe in der dezidiert romkritischen Darstellung von August B. Hasler, Pius IX [1846-1878]. Päpstliche Unfehlbarkeit und I. Vatikanisches Konzil, 2 Bd. , München 1977). Der Nachfolger Pius IX, Leo XIII, hat dagegen die Stellung des Papsttums bzw. des Vatikans deutlich realistischer eingeschätzt.
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sehen Bewegung aus der Zeit der Jahrhundertmitte. Beispielhaft ist der erste Bischof der Altkatholiken, Reinkens. Zwar brachte die Bewegung im engeren Sinn kaum "Hofkatholiken" hervor. Sie ist aber als Hintergrund für das Wirken orthodoxer Katholiken, etwa für Franz-Xaver Kraus, unentbehrlich, da sich die orthodoxe Richtung lediglich durch eine andere Beziehung zur Amtskirche unterschied, kaum jedoch in politischer Hinsicht. Die Altkatholiken hatten nicht zufällig eine enge Verbindung zu mehreren kleineren nationalkatholischen Vereinigungen, z. B. zu den in Schlesien beheimateten "Staatskatholiken". 125 Deutlich einflußreicher war die orthodoxe Strömung der "Hof- und Staatskatholiken", die stets eine deutliche Minderheitenposition im Katholizismus, auch im konservativen, innehatte. In vielen Fällen war sie im Kontext des sog. Reformkatholizismus beheimatet. Theologen wie Hermann Schell, Albert Ehrhard oder Franz-Xaver Kraus verbanden kirchenpolitisch liberale, d. h. antiultramontane Positionen oft mit eindeutig nationalistischen Standpunkten. Diese werden aus der Perspektive der Sozialhistorie oft zu wenig berücksichtigt. Betrachtet man die genannten Persönlichkeiten, so dürfen deren politische Stellungnahmen nicht übersehen werden, die unübersehbare national-konservative Akzente tragen. So erstaunt es keineswegs, daß einige Schüler des Kirchen- und Kunsthistorikers Kraus im Kontext des Rechtskatholizismus der Weimarer Republik der nationalsozialistischen Bewegung nahestanden oder mit dieser eng verbunden waren.126 Kraus 127, als eifriger Verfechter eines "religiösen Katholizismus" bekannt, übersah freilich die vielfältigen Folgen eines auf weltliche Macht und politischen Einfluß verzichtenden Katholizismus. Der Staat verliert zu jeder Zeit mit schwindendem Einfluß der Kirchen ein seine Macht begren124 Vgl. Olaf R. Blaschke: Der Altkatholizismus 1870 bis 1945. Nationalismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Historische Zeitschrift 261 ( 1995), s. 51-99. 125 Vgl. ebd., S. 65. 126 Hintergründe bei Christoph Weber: Liberaler Katholizismus. Biographische und kirchenhistorische Essays von Franz-Xaver Kraus, kommentiert und hrsg. von Christoph Weber, Tübingen 1983, S. IX. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 122), S. ll84f., scheint bei seinem Lob für die Reformkatholiken diese Traditionslinie entgangen zu sein. 127 Eine grundlegend neue, sämtliche Aspekte von Leben und Werk berücksichtigende Studie zu Kraus gibt es m. W. nicht. Aus der älteren Forschung vgl. H. Schiel: Im Spannungsfeld von Kirche und Politik. F.-X. Kraus, Tri er 1951; zu den kirchenpolitischen und politischen Hintergründen vgl. Christoph Weber: Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876-1888, Mainz 1970; zu den konservativen Aspekten seines politischen Denkens vgl. Clemens Bauer: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964, S. 134 f., der vor allem den Widerstand gegen das allgemeine Wahlrecht nennt und von einer Entwicklung des .., Konservativ-Werdens' im politischen Denken" (S. 134) spricht.
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zendes Korrektiv. Katholisch-konservative und (weitgehend ausschließlich) religiöse Interessen standen in engem Zusammenhang gegen politischdemokratischen Einfluß. Am Ende des Pontifikats Leos XIII blieb für Kraus diese Verbindung ausschlaggebend. Er verbrachte einmal einen ganzen Winter in Rom, um für die Präferenz eines "konservativ gesinnten und die religiösen, nicht die politischen Interessen in den Vordergrund seiner Tätigkeit stellenden Papstes" zu werben. 128 Diese Traditionslinie setzte Martin Spahn fort 129, allerdings stärker als Kraus auf politischem Gebiet. Wie sein Vater Peter Spahn wurde Martin Spahn Zentrumspolitiker, allerdings erst nach einer eindrucksvollen und für katholische Verhältnisse sehr ungewöhnlichen Universitätskarriere. Besonders seine Berufung nach Straßburg löste eine grundlegende Debatte aus. 130 In der Folgezeit machte er aus seiner kaisertreu-deutschnationalen Gesinnung keinen Hehl. So lobte er Luther als großen Deutschen und verteidigte entschieden die Germanisierungspolitik der Regierung in den östlichen Gebieten des Reiches. 1910 durch die Unterstützung konservativer katholischer Verbände wie des katholischen Akademikerverbandes in den Reichstag gewählt, profilierte er sich dort als Gegner aller demokratisch-liberalen Strömungen innerhalb der Zentrumsfraktion, vor allem aber des Erzbergerflügels. Sein Weg in die Deutschnationale Volkspartei, der er folgerichtig nach dem Ersten Weltkrieg beitrat, war früh vorgezeichnet, ebenso die scharfe Opposition gegen den Zentrumskurs nach 1918. Als Außenseiter war er im katholischen Deutschland stets umstritten. Anders als von Hugenberg erhofft, kam es jedoch zu keinen größeren Abspaltungen vom Zentrum hin zu den Deutschnationalen, sieht man einmal von wenigen Adeligen und Industriellen ab. Die von Bugenberg intendierte Berufung Spahns nach Berlin kam nicht zustande. 1933 verließ er die Deutschnationalen wieder und wurde Hospitant der NSDAP-Fraktion, ohne aber Parteimitglied zu werden, obgleich er sich um eine Mitgliedschaft bemühte. Begründet hat er seinen Austritt aus der DNVP, was ein Stück weit als Ausdruck seines opportunistischen Charak128 Das Zitat findet sich bei Heinz Hürten: Franz-X. Kraus (1840-1901), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey u.a. (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19.und 20. Jahrhunderts, Bd. 5, Mainz 1982, S. 5587, hier S. 69. 129 Grundlegend zu Spahn: Gabriefe Clemens: Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983; Rudolf Morsey: Martin Spahn, in: Aretz/Morsey: Zeitgeschichte (wie Anm. 128). 130 Vgl. zu den Zusammenhängen Christoph Weber: Der Fall Spahn (1901). Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert, Rom 1980.
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ters gewertet werden darf, mit dem Vorwurf an die Partei, sich nicht rechtzeitig genug mit der NSDAP gleichgeschaltet zu haben. Obgleich in der NSDAP als Karrierist stets umstritten, behielt er sein Reichstagsmandat bis zu seinem Tod unmittelbar nach Kriegsende am 12.5.1945. Spahn hat sich, wie Rudolf Morsey mit Recht feststellt, stets bemüht, "an der Spitze eines national-konservativ verstandenen ,Fortschritts' zu bleiben" 131 , was letztlich mißlang. Auf konservativ ausgerichtete Teile der katholischen Studentenschaft hat er stets eine gewisse Faszination ausgeübt. Hinsichtlich seines umfangreichen Werkes als Wissenschaftler ist festzustellen: Als einer der wichtigsten Vertreter sozial-romantischer und ständestaatlicher Vorstellungen im Katholizismus stand er stets im Schatten von Otmar Spann. Dabei setzte er eine bedeutende Traditionslinie aus dem 19. Jahrhundert fort, zu der Persönlichkeiten wie Franz-Xaver von Baader oder auch Adam Müller gehörten. In seinen vielfaltigen Publikationen bemühte er sich um eine Synthese von mittelalterlich-christlicher Reichsidee und imperialen geopolitischen Entwürfen. Der noch durchaus einflußreiche Rechtskatholizismus konnte nach 1945 nicht wiederbelebt werden. Statt dessen erlebte die christliche Demokratie eine Renaissance.
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Morsey: Spahn, in: Aretz!Morsey: Zeitgeschichte (wie Anm. 129), S. 158.
6 Schrenck-Notzing
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in Bayern Von Dieter J. Weiß Für die Ausbildung einer konservativen Staatstheorie gab es im Zeitalter des Absolutismus keinen Anlaß. Es sind immer erst bestimmte historische Umstände, die einer latent vorhandenen Haltung die Notwendigkeit verleihen, nach einem Ausdruck zu suchen. Die für das politische, religiöse, geistige und soziale Leben Bayerns bestimmende unbewußte Bewahrung der tradierten Verhältnisse kann hier nicht behandelt werden. Erst die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmende Bedrohung der überlieferten Ordnung hob unbewußt vorhandene konservative Anschauungen ins Bewußtsein und löste die Abfassung theoretischer Abhandlungen aus, wie vor allem Fritz Valjavec dargelegt hat. 1 Die das 18. Jahrhundert prägenden Geisteshaltungen von Rationalismus und Aufklärung wiesen zeitweise Berührungspunkte mit dem Absolutismus auf. In Bayern gingen diese Strömungen vor allem in der Staatskirchenpolitik ein enges Bündnis ein.2 Sie wurde besonders durch den Präsidenten des kurfürstlichen Geistlichen Rates Peter von Osterwald (1717-1778) verfochten, der mit: "Veremund von Lochsteins Gründe sowohl für als wider die geistliche Immunität in zeitlichen Dingen", Straßburg 1766, ihre Programmschrift schuf. Die geistige Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung nahmen in erster Linie Gruppen des 1773 aufgelösten Jesuitenordens auf? Für das Gebiet des heutigen Bayern kommt dem Jesuitenkolleg St. Salvator in 1 Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, München 1951 (ND mit einem Nachwort von Jöm Garber, Kronberg i. Ts./Düsseldorf 1978). - Zu dieser Thematik vgl. auch Fritz Valjavec: Die Entstehung des europäischen Konservativismus, in: Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates 1 (1954), S. 255-277. 2 Andreas Kraus: Probleme der bayerischen Staatskirchenpolitik 1750- 1800, in: Harm Klueting u. a. (Hrsg.), Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15), Harnburg 1993, S. 119141. - Zur Fortdauer der Staatskirchenpolitik im 19. Jahrhundert vgl. Kar[ Möckl: Die Prinzregentenzeit Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern, München 1972, S. 228-254. 3 Unersetzte Gesamtdarstellung: Bemhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, 4 Bde., Freiburg i. Br. 1907- I 928. 6•
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Augsburg entscheidende Bedeutung zu, wo die Exjesuiten mit Unterstützung des Fürstbischofs Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1768-1803, t 1812) und der Bürgerschaft auch nach der verspäteten Aufhebung 1776 weiter wirken konnten. 4 Ihr Kampf richtete sich zunächst gegen Jansenismus und Rationalismus. In enger Kooperation mit dem Bankhaus Obwexer5 konnten sie zwischen 1783 und 1797 zwölf Wochenschriften und Journale herausgeben, darunter unter der Leitung von P. Alois Merz6 (1727 -1792) die "Neueste Sammlung jener Schriften, die von einigen Jahren her über verschiedene wichtigste Gegenstände zur Steuer der Wahrheit im Drucke erschienen sind" (40 Bände 1783-1788), und die "Gesammelten Schriften unserer Zeit zur Verteidigung der Religion und Wahrheit" (1789-1795). Die Augsburger Exjesuiten bemühten sich weniger um die wissenschaftliche Auseinandersetzung als um die Gewinnung der Massen des Kirchenvolkes, dessen kirchliches Bewußtsein gestärkt und gegen die Anwürfe der Aufklärung immunisiert werden sollte. Eine politische Komponente gewann das Wirken der Augsburger nach der Aufdeckung der Illuminatenverschwörung 1785 in Kurbayern. Die Exjesuiten vertraten eine Verschwörungstheorie, die von der Beherrschung der Aufklärung und der Auslösung der Revolution durch Freimaurer und Illuminaten ausging. 7 Unter Revolution verstanden sie die Konspiration jansenistisch-illuminatistischer Schriftsteller mit Politikern, um einen radikalen Wandel der bestehenden Verhältnisse herbeizuführen. Die Augsburger Ex4 Placidus Braun: Geschichte des Kollegiums der Jesuiten in Augsburg, München 1822, S. 93-100; Valjavec: Entstehung (wie Anm. 1), S. 290-292, 305, 307; Hildegard Mahler: Das Geistesleben Augsburgs im 18. Jahrhundert im Spiegel der Augsburger Zeitschriften (Zeitung und Leben 11 ), Augsburg 1934, S. 122-150; Michael Schaich: "Religionis defensor acerrimus" Joseph Anton Weissenbach und der Kreis der Augsburger Exjesuiten, in: Christoph Weiss/Wolfgang Albrecht (Hrsg.): Von ,Obscuranten' und ,Eudämonisten'. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 77-125, hier v.a. S. 83-93. -Zu den Angriffen auf die Exjesuiten vgl. Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik, Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765-1785, München 1968, S. 239f. 5 Wolfgang Zorn: Josef Anton und Peter Paul von Obwexer (1730- 1795, 17391812), in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 5, München 1956, S. 270280, hier S. 274-276. 6 Carlos Sommervogel: Bibliotheque de Ia Compagnie de Jesus 5, 1904, S. 9841019 (Nr. 119 Inhaltsverzeichnis der 40 Bände der Neuesten Sammlung); Theodor Kurrus: Aloys Merz SJ (1727 - 1792), in: Freiburger Diözesan-Archiv 80 (1960), s. 270-278. 7 Deshalb hatten die Augsburger Jesuiten das Werk Realite du projet de Bourgfontaine in die lateinische Sprache übersetzt: Veritas Concilii Burgofonte initi ex ipsa huius executione demonstrata, Augsburg 1764, das die Wahrheit über das angebliche Verschwörerkonzil in der Kartause zu Bourgfontaine entlarven sollte (Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 58f., 264-266).
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jesuiten erkannten einen Zusammenhang zwischen der antikirchlichen, aufklärerischen Geisteshaltung, dem Illuminatismus und der französischer Revolution, die sie als gemeinsame Gegner bekämpften. Ihren Höhepunkt fand diese Theorie nach 1789 mit der Annahme des Einflusses der Illuminaten auf den Ausbruch der französischen Revolution. 8 Nach der Mediatisierung Augsburgs durch das Kurfürstentum Bayern mußten sie ihr Wirken einstellen. Eine umfassende Darstellung der Bedeutung der Exjesuiten im allgemeinen wie des Augsburger Kollegs im besonderen bildet ein Desiderat der Forschung. Neben älterem Schrifttum bietet nwerdings Michael Schaich einen instruktiven Überblick, der sich in seiner Dissertation auch mit diesem Problemkreis auseinandersetzen wird.9 Auch andere Linien konservativen Denkens führen in Bayern aus dem 18. Jahrhundert hin zur Romantik, die auf dem Boden eines nach freimaurerischen Formen organisierten Irrationalismus erwachsen sind. 10 Zunächst ist der zwischen 1756 und 1768 in Oberdeutschland entstandene Orden der Rosenkreuzer zu nennen, dessen Anfänge ins Dunkel gehüllt sind. Ein direkter organisatorischer Bezug zu den umstrittenen älteren Rosenkreuzern um dem Theologen Johann Valentin Andreä (1586-1654), der die Gründung von nach einem fiktiven Christian Rosenkreutz benannten Rosenkreutzer-Gesellschaften mit alchimistischen Tendenzen angeregt hatte, im 17. Jahrhundert ist nicht nachweisbar. Eine wesentliche geistige Voraussetzung für die Ausbildung dieses Ordens bildete die alchimistisch-magische Literatur, die vom "Sulzbacher Musenhof .I 1 des Herzogs Christian August von Pfalz-Sulzbach ( 1622-1702) ausging. Hier wirkten Franz Mercurius van Helmont 12 (1618-1699) und Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689). Eine der zentralen Gestalten, wenn wohl auch nicht der Initiator der Rosenkreuzer, stammte ebenfalls aus Sulzbach, der Arzt Bernhard Joseph Schieiß von Löwenfeld (1731-1800). Der Orden, der in Bayern in München und Regensburg nachweisbar ist, trug zum Niedergang der mit der Aufklärung verbundenen Freimaurerei bei. Das Ende der Rosenkreuzer ist in ähnliches 8 Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 17761945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung (Europäische Hochschulschriften III/63), Sem/Frankfurt am Main 1976. 9 Schaich: Weissenbach (wie Anm. 4); ders. , Das geistige und kulturelle Leben in der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt München zwischen 1770 und 1800/ 05, Dissertation angezeigt in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 ( 1997), s. 1467. 10 Unersetzte Gesamtdarstellung: Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4). 11 Literatur: Andreas Kraus (Hrsg.): Geschichte der Oberpfalz, Handbuch der bayerischen Geschichte, begründet von Max Spind/er, Bd. III/3, München 3 1995, S. 136, Anm. 38, zum Musenhof S. 138. 12 Sohn des Johann Baptist von Helmont (1577-1644).
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Dunkel getaucht wie ihre Anfänge. Zwar liegen zu diesem Komplex einige Aufsätze vor, etwa die instruktive Überblicksdarstellung von Horst Möller, 13 doch fehlt eine umfassende Monographie. Hans Graßl ordnet die Rosenkreuzer in seiner noch mehrfach zu nennenden geistesgeschichtlichen Untersuchung "Aufbruch zur Romantik" in deren Vorgeschichte ein. 14 Von dieser Geisteshaltung wurde der Münchner Hofrat und Archivar Karl von Eckhartshausen 15 (1752-1803) erfaßt. Zeitweilig war er, Akademiemitglied und Angehöriger des Bücherzensurkollegiums, Mitglied des Illuminatenordens gewesen, doch dort ausgestoßen worden. Zusammen mit den Patrioten, die den Austausch Kurbayerns an Kaiser Joseph II. gegen die Niederlande verhindert hatten, war er maßgeblich am Verbot der Illuminaten beteiligt. Dieser profunde Kenner rosenkreuzensehen Gedankengutes führte Ideen beider Seiten zusammen und wurde zu einem Anreger der Romantik. Er spielte eine wichtige Rolle in dem durch die radikale Aufklärung ausgelösten Kulturkampf, beginnend mit seiner Akademierede 1785 "Ueber die Iitterarische Intoleranz unsers Jahrhunderts", München 1785. Einfluß auf die politische Entwicklung gewann er durch eine 1791 an alle deutschen Höfe gesandte Denkschrift, 16 mit der er vor einer Verschwörung warnte. Seit 1790 wandte er sich unter dem Einfluß des französischen Theosophen Louis Claude de Saint-Martin (1743-1803) zunehmend religiösen und okkulten Werken zu. Mit der Abhandlung "Die Wolke über dem Heiligthum oder etwas, wovon sich die stolze Philosophie unseres Jahrhunderts nicht träumen läßt", München 1802, und seinem Einfluß auf Zar Alexander I. wurde er zum geistigen Wegbereiter der Heiligen Allianz. Auch auf Novalis und die entstehende Romantik übte er Einfluß aus. Eckbartsbausen beschritt einen neuartigen, romantischen Mittelweg zwischen Rationalismus, Illuminatismus, Liberalismus sowie Materialismus und Jesuitismus, Obskurantismus und Restauration. 17 Einen guten Überblick bietet Hans Graßl, doch wären weitere Untersuchungen lohnend. 13 Horst Möller: Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Helmut Reinalter (Hrsg.): Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt am Main 2 1986, S. 199-239. 14 Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 96-129. Vgl. dazu auch Sigrid von Moisy: Von der Aufklärung zur Romantik. Geistige Strömungen in München (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 29), Regensburg 1984. 15 Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 319-335; Antoine Faivre: Eckbartshausen et Ia Theosophie Chn!tienne, Paris 1969; Caspar von Schrenck-Notzing, in: Lexikon der Konservatismus, hg. v. Caspar von Schrenck-Notzing, Graz 1996, S. 144f. 16 [Kar/ von Eckhartshausen:] Über die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gänzlich Verfall drohet durch das falsche Sistem der heutigen Aufklärung und die kecken Anmassungen sogenannter Philosophen, geheimer Gesellschaften und Sekten, o. 0. 1791. 17 Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 321.
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Auch bei dem Priester und Schriftsteller Lorenz von Westenneder (1748-1829) war zur Jahrhundertwende ein Perspektivenwechsel seines Verhältnisses zu Positionen der Aufklärung wahrzunehmen. 18 In seiner Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München zeigte er nun Verständnis für das behördlich bekämpfte religiöse Brauchtum. Den Sittenverfall führte er auf die rigorose Aufklärungspolitik von Montgelas zuriick. Er fühlte sich als hinter "Nordlichter" und Protestanten zurtickgesetzter bayerischer Historiograph. Damit kommt eine weitere Spielart des Konservativismus ins Spiel, der spezifisch bayerische Patriotismus. E; wirkte bereits bei der Gründung der Akademie der Wissenschaften mit 19 und wurde im 19. Jahrhundert besonders von den Kör,igen Ludwig I. und Maximilian II. gepflegt. Eine gouvermentale Richtung zwischen altständisch-konservativen und konstitutionell-liberalen Anschauungen vertraten Johann Christoph Freiherr von Aretin (1772-1824) und die Verfassungszeitschrift "Allemania", die die Regierungspolitik von Montgelas unterstützten. 20 Herausragenden Anteil an der Ausbildung der Geisteshaltung der Romantik hatte in Bayern der Arzt, Bergingenieur, Philosoph und theologische Schriftsteller Franz Xaver von Baader21 (1765-1841), ein Schüler Eckhartshausens. Er war beeinflußt von den Kirchenvätern, der deutschen Mystik und Saint-Martin. Seine Dissertation von 1786 gilt als erstes Werk der romantischen Naturspekulation in Deutschland. Mit seinen Denkschriften, die er 1814 an den Kaiser von Österreich, den Zaren von Rußland und den König von Preußen richtete, wurde er zu einem der Anreger der Heiligen Allianz.Z2 Neben Görres war er ein Mittelpunkt der Münchner Spätromantik. Allerdings wandte er sich an seinem Lebensende vom Papst ab. An der 1802 von Ingolstadt nach Landshut verlegten Landesuniversität, von Montgelas gedacht als Zentrum der Aufklärung, gewannen die antiilluminatischen und patriotischen Kräfte starken Einfluß, die sich hier mit der mystisch-theosophischen Richtung trafen. Sie schufen die erste Romantiker18 Wilhelm Haefs: "Praktisches Christentum". Reformkatholizismus in den Schriften des altbayerischen Aufklärers Lorenz Westenrieder, in: Klueting (Hrsg.): Katholische Aufklärung (wie Anm. 2), S. 271-301, hier S. 295-298. 19 Max Spind/er: Johann Georg von Lori und die Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: ders.: Erbe und Verpflichtung. Aufsätze und Vorträge zur bayerischen Geschichte, hg. v. Andreas Kraus, München 1966, S. 78-101. 20 Hartwig Brandt: Landständische Repräsentation im Deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips (Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 31 ), Berlin 1968, S. 141-143, 227-230. 21 Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 364-402; Hans Cristof Kraus: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 46f. 22 Ihr Programm ist enthalten in der Broschüre von Franz Baader: Ueber das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfniß einer neuem und innigem Verbindung der Religion mit der Politik, Nümberg 1815.
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zeitschrift Bayerns, die Aurora, für die Görres und Baader Beiträge lieferten. In Landshut entstand als Gegenreaktion auf die Aufklärung die katholische Richtung der Romantik, die Philipp Funk geschildert hat, 23 doch wären hier weitere Untersuchungen wünschenswert. Von Landshut liefen besonders seit dem Regierungsantritt König Ludwigs I. 1825 und der Verlagerung der Universität 1826 nach München die entscheidenden Fäden zur Münchner Spätromantik. Starken Einfluß auf diese Entwicklung übte Johann Michael Sailer24 (1751-1832) durch seinen großen Schüler- und Freundeskreis aus, zu dem auch König Ludwig I. zählte. Seine Bedeutung stellte Georg Schwaiger in mehreren Untersuchungen heraus. 25 Den politischen Rahmen für diese Entwicklung schuf König Ludwig I. (1825 -1848, t 1868). Er überwand auf vielen Gebieten die Folgen der rationalistischen Aufklärung, die für Bayern in den Reformen von Montgelas kulminiert waren. Allerdings knüpfte er nicht einfach an die Zeit vor der Aufklärung an, sonder schuf etwas neues. Das München Ludwigs I. wurde, mit den Worten Hans Graßls, "zu einer führenden Metropole Europas, zur Rüststätte einer sehr eigenwilligen, selbständigen Romantik, in der aufklärerische, idealistische, philhellenische, theosophische, irenische, restaurative Tendenzen nebeneinander hergingen, kämpften oder auch verschmolzen". 26 Ludwig I. heilte die Wunden von Säkularisation und Mediatisierung. Unter seiner Regierung konnte sowohl die katholische Restauration stattfinden wie den neubayerischen Stammesteilen das Bewußtsein ihrer eigenen staatlichen Traditionen zurückgegeben wurde. Die umfassendste Biographie des Königs stammt von Heinz Gollwitzer. 27 Am Aufstieg Münchens zur zeitweiligen Hauptstadt der europäischen Restauration hatte Joseph von Görres (1776-1848) maßgeblichen Anteil. 28 Er hatte König Ludwig I. zu seinem Regierungsantritt eine fiktive Mahnrede gewidmet: "Der Kurfürst Maximilian I. an den König Ludwig von Philipp Funk: Von der Aufklärung zur Romantik, München 1925. Graßl: Aufbruch (wie Anm. 4), S. 335-357. 25 Georg Schwaiger: Johann Michael Sailer, der bayerische Kirchenvater, München 1982; Georg Schwaiger/Paul Mai (Hrsg.): Johann Michael Sailer und seine Zeit, Regensburg 1982. 26 Hans Kapfinger: Der Eoskreis 1828 bis 1832. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des politischen Katholizismus in Deutschland (Zeitung und Leben 2), München 1928. 27 Heinz Gollwitzer: Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 1986. 28 Vgl. Hans-Christo! Kraus: Politisches Denken der deutschen Spätromantik, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 111-146.- Bibliographie: Alben Portmann-Tinguely (Bearb.): Görres-Bibliographie. Verzeichnis der Schriften von und über Johann Joseph Görres (1776-1848) und Görres-Ikonographie (Gesammelte Schriften, Ergänzungsband 2), Paderborn u. a. 1993. 23 24
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Bayern bei seiner Thronbesteigung", die ein katholisch-romantisch geprägtes Regierungsprogramm enthielt.29 Darauf wurde er 1827 aus dem Straßburger Exil an die Universität München berufen. Durch die von ihm gegründete Zeitschrift "Eos" (1828-1832) und ab 1838 die "Historischpolitischen Blätter" gewann er breiten Einfluß auf das katholische Deutschland. Görres verfocht die Restauration des deutschen Kaiserreichs als föderalistischer Staatenbund mit der Sicherung ständischer Freiheiten. Friedrich von Schelling (1775-1854), Baader und Görres bildeten den Mittelpunkt der Münchner Spätromantik. Das Haus von Görres in der Schönfeldstraße wurde zum Treffpunkt für legitim und katholisch gesinnte Männer aus ganz Europa. Görres sammelte einen Kreis um sich, zu dem unter anderen Ignaz Döllinger, Kar1 Ernst Jarcke30 (1801-1852), Ernst von Lasaulx31 (18051861), Ernst Karl Freiherr von Moy de Sons (1799-1867), Johann Adam Möhler (1796-1838), George P. Phillips32 (1804-1872) und Johann Nepomuk Ringseis (1785-1880) gehörten. Über die Aufzählung unterschiedlicher Namen des nicht festen Mitgliedskreises - die Vorstellung einer festen Institution wäre irreführend - und einen Hinweis auf seine Bedeutung gelangt die Literatur aber selten hinaus. Es gibt letztlich nur zwei ältere knappe Arbeiten zu dieser Thematik,33 eine moderne Untersuchung bildet ein dringendes Desiderat. Zu den Verfechtern konservativer Politik mit freilich unterschiedlichen Akzentsetzungen gehörten die Staatsmänner und Vorsitzenden im Ministerrat Karl von Abel (1788-1859) - aus Wetzlar stammend - unter Ludwig I. (von 1837 bis 1847) und Ludwig von der Pfordten (1811-1880)- ein fränkischer Protestant- unter Maximilian II. (von 1849 bis 1859) und Ludwig II. 29 Joseph Görres: Der Kurfürst Maximilian der Erste an den König Ludwig von Baiern bei seiner Thronbesteigung, in: Der Katholik 18 (1825), S. 219-249; Edition: Joseph Görres: Gesammelte Schriften, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg u.a., bislang 17 Bände, Köln 1928-1998, hier Bd. 14, S. 102-116. 30 Hans-Christo! Kraus: Carl Ernst Jarcke und der katholische Konservatismus im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 409-445; Hans-Christo! Kraus: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 275f. 31 Hans-Christo! Kraus: in: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 345347. 32 Hans-Christo! Kraus: in: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 422f. 33 Zum Görres-Kreis: Friedrich Borinski: Joseph Görres und die deutsche Parteibildung (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien 30), Leipzig 1927 (ND Leipzig 1970), S. 43-65; Hans Kapfinger: Der Eoskreis 1828-1832. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des politischen Katholizismus in Deutschland, München 1928; Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert Bd. 4, Freiburg i. Br. 1937 (ND München 1987), S. 59, 148-151, 164-177; Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, Stuttgart 3 1988, S. 359- 362; Max SpindZer (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte Bd. IV I I, München 1974, S. 197, Anm. 2.
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(von 1864 bis 1866). Ihre Biographien sind von Heinz Gollwitzer34 und Eugen Franz35 gründlich und umfassend bearbeitet. In der Abel-Biographie findet sich eine wichtige Darstellung des politischen Katholizismus des Vormärz. 36 Pfordten bemühte sich um die Stärkung der Kompetenz des Deutschen Bundes und die Verhinderung der Verdrängung Österreichs aus Deutschland, die ein preußisches Übergewicht mit sich bringen mußte. Er entwickelte mit der Trias-Idee eine eigenständige Vorstellung von der Gestaltung der deutschen Staatenwelt zwischen den Großmächten Österreich und Preußen fort, die schon Klein- und Mittelstaaten im Alten Reich vertreten hatten?7 Der Zusammenschluß der Staaten des Dritten Deutschland gegenüber Preußen und Österreich sollte zur Bildung einer dritten deutschen Macht führen, die Unabhängigkeit der Staaten wäre bei diesem Zusammenschluß gewährleistet geblieben. 38 Der Historiker und Staatswissenschaftler Wilhelm von Doenniges (1814-1872) hatte König Max II. mit dem Trias-Gedanken vertraut gemacht. 39 Der mit der Trias-Idee verbundene großdeutsche Gedanke bedarf weiterer wissenschaftlicher Bearbeitung. zumal er zunächst durch die nationalliberalen Befürworter des Bismarckreiches negativ belegt und erst nach 1918 zeitweilig, meist aus aktuellem politischen Interesse, wieder aufgegriffen, 40 dann aber vollends durch den Mißbrauch des Nationalsozialismus diskreditiert worden ist. 34 Heinz Gollwitzer: Carl von Abel und seine Politik, Diss. phil. masch. München 1944; ders., Ein Staatsmann des Vormärz: Kar! von Abel 1788-1859. Beamtenaristokratie - Monarchisches Prinzip - Politischer Katholizismus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 50), Göttingen 1993. 35 Eugen Franz: Ludwig Freiherr von der Pfordten (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 29), München 1938. 36 Gollwitzer: Staatsmann (wie Anm. 34), S. 52-77. 37 lna Ulrike Paul: Die bayerische Trias-Politik in der Regierungszeit König Maximilians II. Zu Vorgeschichte, Idee und Wirklichkeit, in: König Maximilian II. von Bayern 1848-1864, hrsg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Rosenheim 1988, S. 115-129 (mit Literaturhinweisen). 38 Hubert Glaser: Zwischen Großmächten und Mittelstaaten. Über einige Konstanten der deutschen Politik Bayerns in der Ära von der Pfordten, in: Heinrich Lutz/Helmut Rumpier (Hrsg.): Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 9), München 1982, s. 140-188. 39 Michael Doeberl: Wilhelm von Doenniges und König Max II. in der Deutschen Frage, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 2 (1929), S. 445 - 476. 40 Wilhelm von Kloeber: Die Entwicklung der deutsche Frage 1859-1871 in großdeutscher und antiliberaler Beurteilung (Die Zeitläufte Dr. Jörgs in den Historisch-Politischen Blättern für das katholische Deutschland), Diss. phil. München 1932 (dargestellt am Beispiel von Dr. Jörg); zur Diskussion im Katholizismus Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969, v.a. S. 38-54.
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Eine wichtige Rolle für die Stärkung konservativen Bewußtseins kommt König Maximilian II. (1848-1864) zu, der sich zur Festigung der Monarchie nach den Ereignissen von 1848/49 um die Hebung des bayerischen Nationalgefühls bemühte, wie Manfred Hanisch nachgewiesen hat, der dabei die staatliche Lenkung freilich etwas überbetont. 41 Verschiedentlich, von Bugen Franz42 und zuletzt von Hanisch, wurde der Beraterkreis des Königs in der Forschung behandelt. Der König legte seinen Beratern im Hinblick auf seine Königsherrschaft die Frage vor: "Auf welche Klassen sich zu stützen?"43 Abel, der Volkskundler und Kulturanthropologe Wilhelm Heinrich (von) Riehl44 (1823-1897), von der Pfordten und der Religionsphilosoph Friedrich Rohmer (1814-1856) entwickelten in ihren Gutachten unterschiedliche konservative Denkmodelle. Abel vertrat den streng legitimistischen Standpunkt des Vormärz, Riehl plädierte für eine konservative Sozialpolitik, von der Pfordten wollte die Herrschaft auf das Bürgertum stützen und Rohmer entwickelte eine Theorie des sozialen Volkskönigtums. Mit der dynastischen Repräsentation und dem bayerischen Königskult haben sich Werner K. Blessing45 und Heinz Gollwitzer46 auseinandergesetzt Der Anfang der Formierung einer politischen Partei mit konservativer Ausrichtung fallt in die Zeit um 1848, als nicht nur die katholischen PiusVereine, Vereine bayerischer Patrioten und Bauern, sondern auch der von Guido Görres angeregte "Verein für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit" entstanden.47 Als Beginn einer bewußten Beschäftigung mit der konservativen Bewegung kann man die Anforderung von Berichten über die "Wirksamkeit der im Königreiche bestehenden conservativen Vereine" durch Maximilian II. vom 16. August 1849 von den Regierungspräsi41 Manfred Hanisch: Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991. 42 Eugen Franz: König Max II. von Bayern und seine geheimen politischen Berater, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 5 (1932), S. 219-242. 43 Hanisch: Fürst (wie Anm. 41), S. 109-132. 44 Heinz-Siegfried Strelow: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), s. 456f. 45 Wemer K. Blessing: Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 51), Göttingen 1982, v. a. S. 75-84, 128-132 und 228-238. 46 Heinz Gollwitzer: Fürst und Volk. Betrachtungen zur Selbstbehauptung des bayerischen Herrscherhauses im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 50 (1987), S. 723-747. 47 Allgemein zum katholischen Verbandswesen vgl. Heinz Hürten: Katholische Verbände, in: Anton Rauscher (Hrsg.): Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, 2 Bde., München 1981/82, hier Bd. 2, S. 215-277.
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denten werten. 48 Das Ergebnis spiegelt den Stand des konservativen Vereinswesens in Bayern wieder, das in Altbayern am stärksten ausgeprägt war; ihr Rückgrad bildeten die Piusvereine und die ebenfalls katholisch geprägten Vereine für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit. Nach der Niederlage im Bundeskrieg gegen Preußen fanden sich die konservativ-katholischen Kräfte in der Bayerischen Patriotenpartei zusammen, deren Geschichte mit der Arbeit von Friedrich Hartmannsgrober als gut erforscht gelten kann. 49 Dabei gab es verschiedene Flügel in der Partei, die von einer altkonservativen, am Vormärz orientierten bis zu einer stärker demokratisch und ultramontan geprägten Richtung reichten. Bruchlinien bildeten dabei weniger das Verhältnis zum Monarchen als die nationale Frage und der Grad des Ultramontanismus, wobei sich ganz verschiedene Verbindungen ergaben. Eine harte Belastungsprobe für die Parteieinheit bildete die Frage des Kriegsbeitritts 1870 und der Anschluß an das Deutsche Reich 1871. Der Standpunkt der an der bayerischen Souveränität festhaltenden Gruppierung um Jörg in der Landtagsdebatte ist durch eine Edition von Ernst Zander leicht zugänglich. 50 Die Vielfalt der in der Partei vertretenen Standpunkte führte zu mehreren Abspaltungen teils liberal-konservativkleindeutscher (Dr. Johann Nepomuk Sepp51 , 1816-1909), teils evangelisch-konservativer, partikularistischer und extrem-rechter Kräfte. 52 Trotzdem stellten die Patrioten während der gesamten Zeit des zweiten Kaiserreiches bis 1918 stets die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer des Landtags.53 Konservatives Gedankengut wurde durch die Publizistik in die breite Bevölkerung getragen, wobei Joseph Görres zunächst die einflußreichste Rolle zukam.54 Die von ihm gegründeten "Historisch-Politischen Blätter" gab dann von 18~2 bis 1901 der Archivar und Politiker Dr. Josef Edmund 48 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministerium des Inneren 46068; Hanisch: Fürst (wie Anm. 41), S. 219-223. 49 Friedrich Hartmannsgruber: Die Bayerische Patriotenpartei 1868-1887 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 82), München 1986. 50 Wider Kaiser und Reich 1871. Reden der verfassungstreuen Patrioten in den bayerischen Kammern über die Versailler Verträge, München 1871 (ND mit Einführung, Anmerkungen, Nachwort und Register von Elmar Roeder, München 1977). 51 Johann Nepomuk Sepp (1816-1909), Ein Bild seines Lebens nach seinen eigenen Aufzeichnungen. Xenium zum hundertsten Geburtstag (7. August 1916), Regensburg 1916. 52 Hartmannsgruber: Patriotenpartei (wie Anm. 49), S. 306-340. 53 Hartmannsgruber: Patriotenpartei (wie Anm. 49), S. 341-361. 54 Vgl. Bemhard Weber: Die ,Historisch-politischen Blätter' als Forum für Kirchen- und Konfessionsfragen, Diss. phil. München 1983; Heribert Raab: Konservative Publizistik und katholische Geschichtsschreibung. Mit unbekannten Briefen von Franz Binder, Edmund Jörg, George Philipps und Johann Nepomuk Sepp, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 50 (1987), S. 590-637.
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Jörg 55 (1819-1901) heraus. Auch andere Presseorgane wirkten in konservativ-katholischen Sinne. Eine einflußreiche Stellung hatte zeitweilig der aus Mecklenburg stammende Konvertit Ernst Zander56 (1803-1872), der nacheinander verschiedene Zeitungen herausgab oder doch praktisch leitete (die "Neue Würzburger Zeitung" von 1836 bis 1838/39, den "Fränkischen Courier" von 1839 bis 1841, die "Augsburger Postzeitung" 1847 und schließlich den "Volksboten für den Bürger und Landmann" von 1848 bis 1870 in München). Eng waren die Verbindungslinien zur Politik. 57 In der Zeit nach dem Anschluß Bayerns an das Deutsche Reich war das "Bayerische Vaterland" von Johann Baptist Sigl 58 (1839-1902) das führende bayerisch-partikularistische Organ. Zur konservativen Presse liegen verschiedene Dissertationen vor. 59 In der Zeit nach dem Anschluß Bayerns an das Deutsche Reich ergab sich die paradoxe Situation, daß die vom Vertrauen des Königs getragenen liberalen Ministerien verstärkt Anschluß an die Reichsregierung unter Bismarck suchten, während die konservativ-katholische Landtagsmehrheit zunehmend demokratisch-parlamentarische Forderungen stellte.60 Das Festhalten an der bayerischen Eigenstaatlichkeil und die unbedingte Papsttreue gingen beim niederen Klerus und den Bauern oft mit demokratischen Tendenzen und der Aufgeschlossenheit für soziale Reformen einher, während die Akzeptanz des Bismarckreiches und ein liberaleres Kirchenverständnis die konservativen Aristokraten und die hohe Geistlichkeit einte.61 Der Hauptvertreter des staatskonservativen Denkens und der maßgebliche Interpret der bayerischen Verfassung von 1818 war nach 1870 der Staatsrechtslehrer Max von Seydel (1846-1901), der die Ausbildung der bayerischen 55 Anton Doeberl: Die katholisch-konservative Richtung in Bayern und die "Deutsche Frage". Mit besonderer Berücksichtigung der Haltung E. Jörgs, in: Gelbe Hefte 1/2 (1924/25), S. 1111-1135; Heinz-Siegfried Strelow: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 277f. 56 Elmar Roeder: Der konservative Journalist Ernst Zander und die politischen Kämpfe seines "Volksboten" (Miscellanea Bavarica Monacensia 41), München 1972. 51 Hartmannsgruber: Patriotenpartei (wie Anm. 49), S. 260-305. 58 Rupert Sigl (Hrsg.): Dr. Sigl. Ein Leben für das Bayrische Vaterland, Rosenheim 1977. 59 Hans Zitzelsberger: Die Presse des bayerischen Partikularismus von 18481900, Diss. phil. München 1937 (Teildruck); Helmut Nagel: "Das Bayerische Vaterland", Diplomarbeit Nürnberg 1958/59. 60 Zum politischen Katholizismus im Reich Rauscher (Hrsg.): Katholizismus (wie Anm. 47); Rudolf Morsey (Hrsg.): Katholizismus, Verfassungsstaat und Demokratie. Vom Vormärz bis 1933 (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus 1), Paderborn/München 1988. 61 Differenzierte Analyse bei Hartmannsgruber: Patriotenpartei (wie Anm. 49), s. 114-135.
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Beamten prägte. 62 1887 schlossen sich die Bayerischen Patrioten der Zentrumspartei als Vertretung des politischen Katholizismus im Reich an, 63 in Bayern nannten sie sich Bayerische Zentrumspartei, die Quellen sind vorbildlich ediert. 64 Sie konnte sich auf einen festen Rückhalt bei der katholischen Landbevölkerung und dem Kleinbürgertum der Städte und Märkte verlassen. Starken Einfluß übte der Klerus aus, auch der katholische Adel unterstützte das Zentrum. Zu den Hauptzielen gehörte die Betonung der Eigenstaatlichkeil Bayerns, die Durchsetzung einer kirchlichen Kulturpolitik und der Einsatz für eine agrarisch bestimmte Gesellschaftsordnung. Der von den Nationalliberalen betriebenen Wirtschaftspolitik einer Förderung der Großindustrie, dem von Preußen ausstrahlenden Militarismus wie den Forderungen der Sozialdemokratie stand man gleichermaßen ablehnend gegenüber. Der Kulturkampf bewirkte auch in Bayern ein Zusammenrücken der katholischen Wählerschaft. In Bayern gab es neben dem dominierenden katholischen einen protestantisch geprägten Konservativismus, der auf Regierung und Verwaltung Einfluß ausübte. Als sein wohl bedeutendster Vertreter ist der Konvertit aus dem Judentum Friedrich Julius Stahl65 (1802-1861) zu nennen, der durch die von ihm entwickelte Lehre vom monarchischen Prinzip für die Interpretation der bayerischen Verfassung wesentliche Anstöße lieferte. 66 Er wirkte ab 1840 in Berlin. Das Koordinatensystem protestantischer Konservativer war über Bayern hinaus meist auf das Reich bezogen und dabei für eine kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung offen. Die national-konserVgl. Möckl: Prinzregentenzeit (wie Anm. 2), S. 30-33. Vgl. Rudolf Morsey: Der politische Katholizismus 1890-1933, in: Rauscher (Hrsg.): Katholizismus (wie Anm. 47), Bd. I, S. 110-164; Ulrich von Hehl: Die Zentrumspartei - Ihr Weg vom "Reichsfeind" zur parlamentarischen Schlüsselstellung in Kaiserreich und Republik, in: Hermann W. von der Dunk/Horst Lademacher (Hrsg.): Zur Entstehung, Organisation und Struktur politischer Parteien in Deutschland und den Niederlanden, Melsungen 1986, S. 97-120; Winfried Becker (Hrsg.): Die Minderheit als Mitte. Die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871-1933 (Beiträge zur Katholizismusforschung B), Paderbom 1986. 64 Dieter Albrecht (Hrsg.): Die Protokolle der Landtagsfraktion der Bayerischen Zentrumspartei 1893-1915 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 9194, 102), 5 Bde., München, 1989-1993. Vgl. auch Adalbert Knapp: Das Zentrum in Bayern 1893-1912, Diss. phil. München 1973. Zum Programm vgl. Möckl: Prinzregentenzeit (wie Anm. 2), S. 220-223. 65 Möckl: Prinzregentenzeit (wie Anm. 2), S. 25-29; Wilhelm Füßl: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 33), Göttingen 1988; Hans Christo! Kraus: Lexikon der Konservatismus (wie Anm. 15), S. 530-533 (mit Literatur). 66 Vgl. Möckl: Prinzregentenzeit (wie Anm. 2), S. 25-29; Gollwitzer: Staatsmann (wie Anm. 34), S. 44-51. 62
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vativen, aber nur durch Berufung in München wirkenden Gelehrten wie Heinrich von Sybel ( 1817 -1895) und Friedrich Wilhelm von Giesebrecht (1814-1889) gehören nicht in den Zusammenhang des bayerischen Konservativismus.67 Die zeitweilig auftretende "Nationalkonservative Partei in Bayern" konnte nur regionale Bedeutung im protestantischen Mittelfranken und in Augsburg gewinnen, 68 teilweise ging sie in der Schulfrage mit den "Ultramontanen" zusammen. 69 Von 1866 bis 1912 wurden die Geschicke Bayerns von liberalen, vom Vertrauen der Monarchen getragenen Regierungen gelenkt, die von einer staatskonservativen Gesinnung geprägt waren. Die konservativ-katholische Landtagsmehrheit blieb von der Mitwirkung ausgeschlossen. Eine Änderung bahnte sich erst 1912 an, als Prinzregent Luitpold den Vorsitzenden der Zentrumsfraktion im Reichstag Georg Friedrich Freiherrn von Hertling70 (1843-1919) zum Außenminister berief. Auch wenn Hertling betonte, daß seine Regierung nicht den Übergang zum parlamentarischdemokratischen System bedeutete, so war sie doch ein ganz entschiedener Schritt auf diesem Weg. Erstmals fielen nun die Zentrumsmehrheit im Landtag und die Regierung zusammen, konnte sich die Regierung auf das Vertrauen des Parlaments stützen.71 Über die Jugend von Hertling liegt die umfassende Darstellung von Winfried Becker vor, sein politisches Wirken bedarf noch eingehenderer Untersuchung. Zu den führenden Köpfen des volksnahen Flügels des Zentrums gehörten Dr. Josef Edmund Jörg, Johann Baptist Sigl und der "Bauerndoktor" Georg Heim (1865-1938). Jörg strebte einen organischen, ständischen Staat an, in dem auch die Arbeiter ihren Platz als Stand finden sollten. Über ihn, eine 67 Walter Goetz: Die bairische Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 138 (1928), S. 255-314. 68 Hinweise in der Lokalstudie von Manfred Kittel: "Lichtpunkt der evangelischen Kirche" und Hochburg der bayerischen Konservativen: "Nationalprotestantismus" in Neuendettelsau: 1870-1933, in: Hans Rößler (Hrsg.): 700 Jahre Neuendettelsau. Festschrift zur 700-Jahr-Feier 1298/1998, Neuendettelsau 1998, S. 95-110; ders.: Kulturkampf und "Große Depression". Zum Aufbruch der bayerischen Nationalkonservativen in der antiliberalen Strömung der 1870er Jahre, in: Historisches Jahrbuch 117 (1998), S. 131-200. 69 Möckl: Prinzregentenzeit (wie Anm. 2), S. 215 f. 70 Georg von Hertling: Erinnerungen aus meinem Leben, hrsg. v. Karl Graf von Hertling, 2 Bde., Kempten/München 1919/20 (umfassen die Jahre von der Kindheit bis 1902, Bd. 3 nicht erschienen); Winfried Becker: Georg von Hertling 18431919, Bd. 1: Jugend und Selbsttindung zwischen Romantik und Kulturkampf (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 31 ), Mainz 1981. 71 Willy Albrecht: Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912-1918 (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Deutschlands im Industriezeitalter 2), Berlin 1968, S. 27-48.
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der markantesten Gestalten des politischen Katholizismus der zweiten Jahrhunderthälfte, existieren zwar Einzelstudien72 und die Edition seines Briefwechsels,73 eine umfassende Monographie steht aber aus. Neuere Untersuchungen zu diesen Persönlichkeiten wie auch zu den klerikalen und hochkonservativen Vertretern des Zentrums aus der Aristokratie fehlen. Als besonders herausragende Beispiele seien nur Georg Arbogast Freiherr von Franckenstein74 (1825-1890), seit 1875 Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag, und sein Sohn Moritz Freiherr von Franckenstein (1869-1931) genannt. Einen Ersatz bildet vorläufig die Dissertation von Bernhard Löffler über die Kammer der Reichsräte mit ihren biographischen Hinweisen. 75 Die Revolution von 1918 - Benno Hubeosteiner hat sie einen Theatercoup genannt76 - wäre zwar vorhersehbar gewesen, doch hatten die bayerische Regierung und Verwaltung hier versagt. Während die Regierung kampflos kapitulierte, funktionierte die Staatsmaschinerie als beharrendes Element nahezu bruchlos weiter. Zuerst kamen die Kräfte des politischen Katholizismus zur Besinnung, die sich unter der Leitung von Georg Heim mit dem neuen Namen Bayerische Volkspartei formierten. Diese legte zwar ein Lippenbekenntnis für die Restauration der Monarchie ab, doch schreckte sie stets vor Taten zurück. Die Geschichte der BVP, in der sich ein monarchischer und ein vernunftrepublikanischer Flügel gegenüberstanden, hat Klaus Schönhofen in mehreren Arbeiten gründlich untersucht. 77 72 Maria Poil: Edmund Jörgs Kampf für eine christliche und großdeutsche Volksund Staatsordnung, Paderbom 1936 (Teildruck der Diss. phil. Köln 1936: Joseph Edmund Jörg. Ein Beitrag zur deutschen Publizistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts); Heinz Gollwitzer: Josef Edmund Jörg, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 15 (1949), S. 125-149; Bemhard Zittel: Josef Edmund Jörg (1819-1901 ), in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben Bd. 4, München 1955, S. 395-429. 73 Dieter Albrecht (Bearb.): Joseph Edmund Jörg, Briefwechsel 1846-1901, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 41), Mainz 1988. 74 Leonhard Lenk: Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein, in: Lebensläufe aus Franken Bd. 6, hrsg. v. Sigmund Freiherr von Pölnitz (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte VII/6), Würzburg 1960, S. 171196. 75 Bernhard Löffler: Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 108), München 1996. 76 Benno Hubensteiner: Bayerische Geschichte, Sonderausgabe München 1980, s. 336. 77 Klaus Schönhoven: Die Bayerische Volkspartei 1924-1932 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 46), Düsseldorf 1972; ders.: Zwischen Anpassung und Ausschaltung. Die Bayerische Volkspartei in der Endphase der Weimarer Republik 1932/33, in: Historische Zeitschrift 224 (1977), S. 340-378; ders.: Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft
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Eine eingehendere Darstellung verdiente der bayerische Ministerpräsident von 1924 bis 1933 Dr. Heinrich Held (1868-1938), dessen Biographie von Richard Kessler nur bis 1924 reicht. 78 Neben der BVP kommt in der Zwischenkriegszeit der mit ihr in einer Koalition regierenden Bayerischen Mittelpartei Bedeutung zu, in der sich bereits im November 1918 konservative Kräfte in Nürnberg gesammelt hatten. Sie erstrebte die Wiedererrichtung der Hohenzollern-Monarchie und des Bismarckreiches. Einige ihrer Vertreter wurden in den Nationalsozialismus verstrickt. Über die bayerische Entsprechung zur DNVP fehlt eine Gesamtdarstellung.79 Ein wortgewaltiger Vertreter des monarchischen Gedankens war der Erzbischof von München und Freising Michael Kardinal von Faulhaber (1869-1952), der bei der Beisetzung des Königspaares 1921 und beim Münchner Katholikentag 1922 in diesem Sinne hervortrat. 80 Nach der Niederschlagung der Räterepublik sammelten sich die Gegner der neuen politischen Verhältnisse in einer Fülle unterschiedlichster Gruppen, unter denen paramilitärische Verbände wie die Freikorps und Einwohnerwehren starken Einfluß ausübten. Neben deutschnationalen Gruppierungen entstanden auch bayerisch und monarchisch ausgerichtete Verbände, die sich selbst als vaterländisch bezeichneten. Über rechte, wenn auch nur zum Teil konservative Bewegungen der Zwischenkriegszeit liegt die Dissertation von Hans Fenske vor. 81 Spätestens mit dem Scheitern des Putschversuches von 1923 wurde der Graben zwischen dem nationalsozialistischen und 1933-1945, in: Martin Broszat/Hartmut Mehringer (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Bd. 5, Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand, München/Wien 1983, S. 541-646. 78 Richard Kessler: Heinrich Held als Parlamentarier. Eine Teilbiographie 18681924 (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 6), Berlin 1971; Barbara Pöhlmann: Heinrich Held als Bayerischer Ministerpräsident (1924-1933); eine Studie zu 9 Jahren Staatspolitik, Diss. phil. München 1995; Winfried Becker: Die nationalsozialistische Machtergreifung in Bayern. Ein Dokumentarbericht Heinrich Helds aus dem Jahr 1933, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), s. 412-435. 79 Grundlegende Hinweise bei Manfred Kittel: Zwischen völkischem Fundamentalismus und gauvermentaler Taktik. DNVP-Vorsitzender Hans Hilpert und die bayerischen Deutschnationalen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 59 (1996), s. 849-901. 80 Ludwig Volk: Der bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus 19301934 (Veröffentlichungen bei der Kommission für Zeitgeschichte bei der KathoL Akademie in Bayern B 1), Mainz 1965, S. 3-6; Ludwig Volk (Hrsg.): Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917-1945 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 17, 26), 2 Bde., Mainz 1975178, Lebensbild Kardinal Faulhabers in Bd. I, S. XXXV-LXXXI. 81 Hans Fenske: Konservativismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918, Diss. phil. Freiburg i.Br. 1964, Bad Hornburg 1969; Horst G. W. Nußer: Konservative Wehrverbände in Bayern, Preußen und Österreich 1918-1933, München 1973. 7 Schrenck-Notzing
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bayerisch-monarchischen Lager offenbar, auch wenn es weiter Überbrükkungsversuche von Einzelnen gab. König Ludwig III. hatte 1918 nicht abgedankt und Kronprinz Rupprecht hielt - "eingetreten in die Rechte meines Herrn Vaters"82 - seine Thronansprüche nach dessen Tod aufrecht. Über die Geschichte der organisierten monarchischen Bewegung von eher sektiererisch wirkenden Anfangen bis zu einer wohl über 100 000 Mitglieder starken Organisation, dem 1921 gegründeten Heimat- und Königsbund, liegen einige Aufsätze vor.83 Noch zu wenig gewürdigt ist die Diskussion über die legitime Staatsform, die in diesen Kreisen stattfand. Der bedeutendste Denker der Monarchisten war Erwein Freiherr von Aretin84 (1887 -1952), zeitweiliger Vorsitzender des BHKB. Er wurde nicht müde, in Aufsätzen und Vorträgen für die Monarchie als beste, weil gottgewollte Staatsform zu plädieren. Prägnant ist sein Denken im Januarheft von 1933 der Süddeutschen Monatshefte zusammengefaßt, das unter dem Titel "König Rupprecht" erschien. Es war Teil der Kampagne, die Einsetzung Rupprechts von Bayern als König oder wenigstens Generalstaatskommissar zu erreichen, um nach der Machtergreifung Hitlers in Berlin wenigstens Bayern zu retten. Die Überlegungen über die Möglichkeit eines bayerischen Königreiches innerhalb eines republikanischen Deutschen Reiches sind lesenswert. Auch das Nachfolgeorgan der "Historisch-politischen Blätter", die "Gelben Hefte", traten unter dem Würzburger Professor Max Buchner85 (1881-1941) für eine monarchische Restauration ein, doch blieben sie auf das gesamte Reich bezogen und vertraten einen national bestimmten Katholizismus. 86 Die eingehendere biographische Untersuchung des letzten Vorsitzenden des BHKB Enoch Freiherr 82 Münchner Neueste Nachrichten 465 vom 5./6. XI. 1921; Bayerische Staatszeitung 258 vom 5. XI. 1921. - Vgl. Helmut Neuhaus: Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102-136. 83 Karl Otmar von Aretin: Der bayerische Adel. Von der Monarchie zum Dritten Reich, in: Martin Broszat u. a. (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 3, München/ Wien 1981, S. 513-567; Karl Otmar von Aretin: Diebayerische Regierung und die Politik der bayerischen Monarchisten in der Krise der Weimarer Republik 19301933, in: Festschrift für Hermann Heimpe1 zum 70. Geburtstag I (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/ 1), Göttingen 1971, S. 205-237; Rudolf Endres: Der Bayerische Heimat- und Königsbund, in: Andreas Kraus (Hrsg.): Land und Reich, Stamm und Nation, Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, Bd. 3, München 1984, S. 415-436; Dieter J. Weiß: "In Treue fest". Die Geschichte des Bayerischen Heimat- und Königsbundes und des Bayernbundes 1921 bis 1996, in: Adolf Dinglreiter/Dieter J. Weiß (Hrsg.): Gott mit dir du Land der Bayern, Regensburg 1996, S. 9-54. 84 Erwein von Aretin: Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hrsg. v. Kar[ Buchheim I Karl Otmar von Aretin, München 1955. 85 Anton Ritthaler: Max Buchner, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 707f.
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zu Guttenberg87 (1893-1940) und seines 1945 hingerichteten Bruders Karl Ludwig88 (1902-1945), der Herausgeber der Zeitschrift "Die Monarchie" (1929-1934) beziehungsweise ab Mai 1934 der "Weißen Blätter" war, bildet ein Desiderat. Nach der Katastrophe von 1933, die das Ende der Staatlichkeil Bayerns mit sich gebracht hatte, wurden die Exponenten der bayerischen Eigenstaatlichkeil und des politischen Katholizismus teilweise inhaftiert, meist zogen sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Das bayerisch-konservative Lager verhielt sich gegenüber dem Nationalsozialismus weitgehend resistent, fand aber nur in einzelnen Vertretern zu aktivem Widerstand. Kronprinz Rupprecht protestierte gegen die Gleichschaltung der Länder am 17. März in einem Brief, den Erbprinz Albrecht (1905-1996) persönlich Reichspräsident von Hindenburg überreichte: "Im Vollgefühl meiner Verantwortung gegen meine bayerische Heimat ersuche ich Sie daher, hochverehrter Herr Generalfeldmarschall, den ganzen großen Einfluß Ihrer ehrwürdigen Person dafür einzusetzen, daß umgehend dem Deutschen Reich eine neue Verfassung gegeben wird, die dem Wesen des Deutschen Volkes angepaßt ist und sich aufbaut auf einer vertragsmäßigen Regelung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern im Sinne Bismarcks."89 Nach der Einsetzung von Reichsstatthaltern in den Ländern erhob der Kronprinz am 10. April als "Erbe der Krone des zweitgrößten Bundesstaates" erneut "Protest gegen diese Vergewaltigung der deutschen Staaten", die "praktisch die Aufhebung der Länder" bedeute. Bei privaten Zusammenkünften in kleinem Rahmen wurde der monarchische und bayerische Gedanke weiter gepflegt und zum Ausgangspunkt für eine erhoffte politische Neuordnung genommen.90 Eine Widerstandsgruppe um die Münchner Bildhauerin Margarete von Stengel gewann durch den Zuzug des ehemaligen BHKB Mitgliedes Rechtsanwalt Dr. Adolf Freiherr 86 Max Buchner: König Rupprecht und die bayerische Königsfrage. Zum .,organischen" und ,.dynamischen" Königsgedanken, in: Gelbe Hefte 9 I, 1932/33, s. 289-302. 87 Als Ersatz Elisabeth zu Guttenberg: Beim Namen gerufen. Erinnerungen, Berlin/Frankfurt a. M. 1990. 88 Anton Ritthaler: Kar! Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg (Neujahrsblätter der Gesellschaft für fränkische Geschichte 34), Würzburg 1970. 89 Abdruck: Kurt Sendtner: Rupprecht von Wittelsbach, Kronprinz von Bayern, München 1954, S. 555-558. 90 James Donohoe: Hitler's conservative opponents in Bavaria 1930-1945, a study of Catholic, monarchist, and separatist anti-Nazi activities, Leiden 1961 ; Heike Bretschneider: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933 bis 1945 (Miscellanea Bavarica Monacensia 4), München 1968, S. 133-153; Peter Jakob Kock: Bayerns Weg in die Bundesrepublik (Studien zur Zeitgeschichte 22), München 2 1988, S. 81 - 92. 7*
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von Harnier (1903 -1945) politisches Profil. Monarchisches Gedankengut und die päpstliche Soziallehre bestimmten die Überzeugungen dieses Kreises. Harnier dachte an ein enges Zusammenwirken der katholischen Staaten Bayern und Österreich und wollte das Bismarck-Reich von 1871 überwinden. Konkretes Ziel war zunächst weniger der aktive Sturz des nationalsozialistischen Regimes als der Aufbau einer Auffangorganisation für die Zeit danach. Über das Wirken dieser 1939 durch die Gestapo zerschlagenen Widerstandsgruppe orientiert die unlängst erschienene Dissertation von Christina M. Förster.91 Auch einige andere Widerstandsgruppen wie die Bayerische Heimatbewegung, der Sperr-Kreis92 und die Freiheitsaktion Bayern sind zu nennen, die näher untersucht werden müßten. Ohne organisatorische Anhindung an den BHKB, aber aus dem gleichen Geiste entstand während des Weltkrieges die Bayerische Heimatbewegung. 93 Konsul Dr. Gebhard Seelos und der vormalige Regensburger Oberbürgermeister Dr. Otto Hipp (1885-1952) erarbeiteten 1943 ein Memorandum zur Neugestaltung Deutschlands nach dem Kriegsende. Sie wandten sich scharf gegen die Vorherrschaft Preußens, planten die Unabhängigkeit Bayerns in einem freien Europa und forderten enges Zusammenwirken mit dem stammverwandten Österreich. Bei grundsätzlichem Offenhalten der Staatsform gaben sie einer Monarchie den Vorzug. Auch in der von Hauptmann Dr. Rupprecht Gerngroß (1915-1996) geleiteten Freiheitsaktion Bayern94, die Ende April 1945 die Rundfunksender Freimann und Erding besetzte, engagierten sich Mitglieder des Bayerischen Heimat- und Königsbundes. Kronprinz Rupprecht setzte sich in seinem Florentiner Exil mit der Frage der Staatsform in Bayern nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur auseinander. 95 In einer Denkschrift für das Foreign Office plädierte er 91 Christina M. Förster: Der Harnier-Kreis. Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bayern (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 74), Paderborn u. a. 1996. 92 Bretschneider: Widerstand (wie Anm. 90), S. I 54-178. 93 Donohoe: Hitler's opponents (wie Anm. 90), S. 203-219; Kock: Bayerns Weg (wie Anm. 90), S. 92-96. 94 Bretschneider: Widerstand (wie Anm. 90), S. 218- 239; Kock: Bayerns Weg (wie Anm. 90), S. 96-98. 95 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abteilung III: Geheimes Hausarchiv, Nachlaß Kronprinz Rupprecht von Bayern 1000, ,.Betrachtungen über eine Neugestaltung Deutschlands", Fassung vom Mai/Juli 1945; Nachlaß Kronprinz Rupprecht von Bayern 1003, Memorandum vom 6. März 1945 (die Benutzung erfolgte mit freundlicher Erlaubnis Seiner Königlichen Hoheit Herzogs Franz von Bayern); Abdruck: Sendtner: Rupprecht (wie Anm. 89), S. 673-675; Kock: Bayerns Weg (wie Anm. 90), S. 71-76. Vgl. dazu demnächst die in Vorbereitung befindliche Biographie Kronprinz Rupprechts von Bayern durch den Verfasser.
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für die Wiederherstellung der Monarchie in Bayern, in einem Memorandum für das State Department vom 12. März 1945 schlug er die Bildung von fünf bis sieben deutschen Staaten und ihre Organisation in einem Staatenbund vor. Nach dem Zusammenbruch des Unrechtsregimes glaubten viele Monarchisten, gestärkt durch das moralische Kapital ihres Widerstands, die Ausrufung des Königreichs durchsetzen zu können. 96 Ihre Hoffnungen wurden durch die Ernennung Fritz Schäffers (1888-1967) zum ersten Nachkriegsministerpräsidenten erhöht, auch andere Monarchisten aus der ehemaligen BVP nahmen zeitweise einflußreiche Stellungen ein. Sie alle engagierten sich im föderalistischen Lager für die staatliche Eigenständigkeil Bayerns. Die Entwicklung verlief aber anders. Die Gründung der CSU als christlicher Sammelpartei,97 ihre Flügelkämpfe zwischen einem bayerisch-katholischen und einem eher nationalliberal orientierten Flügel, und die teilweise Sammlung betont eigenstaatlicher Kräfte in der Bayernpartei sind nicht mehr Thema dieses Überblicks. 98 Betont soll aber das Wirken von Dr. Alois Hundhammer99 (1900-1974) werden, dem es gelang, konservatives Gedankengut in die bayerische Politik der Nachkriegszeit und besonders das Schulwesen zu integrieren. Während Fritz Schäffer100 zwei umfangreiche Biographien erhalten hat, steht die eingehende Würdigung der Bedeutung Hundhammers noch aus. 96 Kock: Bayerns Weg (wie Anm. 90), S. 152-164; Konrad Maria Färber: Bayern wieder ein Königreich? Die monarchistische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Neuanfang in Bayern 1945 bis 1949. Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit, München 1988, S. 163-182, hier S. 164 f. 97 Walter Berberich: Die historische Entwicklung der Christlich-Sozialen Union in Bayern bis zum Eintritt in die Bundesrepublik, Diss. phil. Würzburg 1965; Alf Mintzel: Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 26), Opladen 1976; Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945-1995 (Sonderausgabe der Politischen Studien), hrsg. v. der Hanns-Seidei-Stiftung, München 1995. 98 Rudolf Drasch: Der Weg der Bayernpartei 1946-1976, München 1977; /lse Unger: Die BayernparteL Geschichte und Struktur 1945-1957, Stuttgart 1979; Konstanze Wolf.· CSU und BayernparteL Ein besonderes Konkurrenzverhältnis 19481960, Köln 2 1984. 99 Paul Hussarek: Hundhammer. Wege des Menschen und Staatsmannes, München [1950/51]; Bemhard Zittel: Alois Hundhammer (1900-1974), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern 5, hrsg. v. Jürgen Aretz u.a., Mainz 1982, S. 253-265; Geschichte einer Volkspartei (wie Anm. 98), S. 704 f. 100 Otto Altendorfer: Fritz Schäffer als Politiker der Bayerischen Volkspartei 1888-1945 (Untersuchungen und Quellen zur Zeitgeschichte 2), 2 Bde., München 1993; Christoph Henzler: Fritz Schäffer 1945-1967. Eine biographische Studie zum ersten bayerischen Nachkriegs-Ministerpräsidenten und ersten Finanzminister des Bundes (Untersuchungen und Quellen zur Zeitgeschichte 3), München 1991.
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Verschiedene Linien konservativen Denkens flossen in Bayern zusammen, verbanden sich, teilten sich wieder auf, die katholische, die bayerischpatriotische, die monarchisch-staatliche, die großdeutsche, die kleindeutschnationale. Dies macht die Darstellung so vielschichtig, zumal sie in unterschiedlichem Maße erforscht sind. Eine jüngere Überblicksdarstellung des Konservatismus in Deutschland von Axel Schildt stellt fest, daß sich die Konservatismusforschung hauptsächlich auf Preußen und damit die vom lutherischen Protestantismus imprägnierte Linie bezogen habe, während die autochthonen Österreichischen und süddeutschen katholischen Strömungen im Schatten gestanden seien. 101 Zwei Gründe mögen dafür maßgebend sein. Zum einen bringt ja erst eine Krise der tradierten Ordnung ein bewußt konservatives Denken hervor. In Bayern waren die überlieferten Strukturen trotz der Montgelasschen Reformen stark genug, auch in das 19. und 20. Jahrhundert hineinzuwirken. Besonders die Könige Ludwig I. und MaximiIian II. suchten, diese Kräfte zu stärken, so daß deshalb die Notwendigkeit zu konservativem Engagement weniger gegeben schien. Zum anderen hat sich zwar die besonders seit dem Neuanfang des Freistaates Bayern ab 1945 blühende bayerische Landesgeschichtsschreibung mit den hier interessierenden Personen und Strukturen eingehend beschäftigt, ohne aber ihren konservativen Charakter eigens zu betonen. Viele der Untersuchungen zu unserem Themenkomplex mußten gegen eine übermächtige, kleindeutsch und nationalliberal dominierte Geschichtsschreibung verfaßt werden. 102 Dies mag dazu beigetragen haben, daß ihre Ergebnisse lange ignoriert oder als regionale Sondererscheinung abgetan wurden. Die bayerische Landesgeschichte darf insbesonders mit dem modellhaften Handbuch von Max Spindler als vorbildhaft aufgearbeitet gelten, dessen hier einschlägiger vierter Band jedoch den Forschungsstand von 1974 festhält, eine Neuauflage ist in Vorbereitung. 103 Trotzdem steht der Forschung noch ein weites Feld offen.
101 Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1988, S. 21f. 102 Zur Vorgeschichte dieser Entwicklung: Max Spindler: Der Ruf des barocken Bayern, in: ders.: Erbe und Verpflichtung (wie Anm. 19), S. 55-77. 103 Max SpindZer (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bde. I-IV, München 1967-1997. (2 resp. 3. Aufl. von Bd. II, III/1,3 hrsg. v. Andreas Kraus).
Konservative Revolution und Nationalsozialismus Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung Von Frank-Lotbar Kroll Kaum ein Thema der an Kontroversen bekanntlich nicht armen neueren deutschen Konservatismusforschung dürfte im wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Diskurs seit 1945 größere Brisanz und polarisierendere Sprengkraft entfaltet haben als das überaus komplexe und ungemein vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus bzw. "Konservativer Revolution" und "Drittem Reich". Hier schienen - für die einen - die Wege und Irrwege rechten politischen Denkens in einer verhängnisvollen und alle dezidiert konservativen Neuansätze nach 1945 ausnahmslos diskreditierenden Weise zusammenzulaufen, während sich - für die anderen - das Markieren der Trennungslinie zwischen konservativ-bürgerlicher Rechtsstaatlichkei t einerseits, nationalsozialistischem Totalitarismus andererseits als ein teilweise mit großem persönlichem Engagement betriebenes Forschungsanliegen erwies. Als Exponenten einer in diesem Zusammenhang dezidiert konservativismuskritischen, vielfach bewußt denunziatorischen Sicht kann man - beispielhaft neben vielen anderen - Autoren wie Georg Lukacs 1 oder Jost Hermand2 anführen, die Vertreter der gegenläufigen Perspektive reichen von Gerhard Ritter3 und Ernst Nolte4 bis zu Rolf Peter Sieferle5 und Stefan Breuer6 • 1 Vgl. Georg Luktics, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 364ff., 417ff., 507ff., 565ff. 2 Vgl. Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988, S. 133ff., 157ff., 199ff. 3 Vgl. Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, S. 120ff.; ders., Das deutsche Problem. Grundfragen deutschen Staatslebens gestern und heute, München 1962, S. 183ff., 190ff. 4 Vgl. Ernst No/te, Konservativismus und Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Politik NF 11 (1964), S. 5-20; ders., Martin Heidegger, die Weimarer Republik und die "Konservative Revolution", in: Michael Großheim und Hans-Joachim Waschkies (Hgg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 505-520. 5 Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution und das "Dritte Reich", in: Dietrich Harth und Jan Assmann (Hgg.), Revolution und Mythos, Frankfurt/M.
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Obgleich die alten wissenschaftspolitischen Frontstellungen, vor allem nach dem Zusammenbruch des Marxismus und dem offiziellen Erlöschen der DDR-Historiographie7 , inzwischen eine erhebliche Auflockerung erfahren haben, und obgleich sowohl die Erforschung des Phänomens "Konservative Revolution" infolge wachsenden Publikumsinteresses als auch die sachkonzentrierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weiterhin mit Entschiedenheit betrieben wird, kann man nicht unbedingt sagen, daß davon auch die erforderliche ErheBung des Verhältnisses von Konservativer Revolution und Nationalsozialismus bisher nachhaltig profitiert hätte. Dies hängt, nicht zuletzt, mit der aktuellen Unterrepräsentanz geistes- und ideengeschichtlicher Forschungsansätze, vor allem mit Blick auf die Ergründung entsprechender Fragestellungen aus der Geschichte bzw. Vorgeschichte des "Dritten Reiches" zusammen8 . Denn bei dem hier in Rede stehenden Themenkomplex "Konservative Revolution und Nationalsozialismus" handelt es sich primär - wenn auch nicht ausschließlich - um einen ideengeschichtlich akzentuierten Fragenkreis: um das Aufeinandertreffen zweier von wechselseitiger Anziehung und Abstoßung gleichermaßen geprägter Ideenströmungen, für deren ErheBung sich - neben sozial-, organisations- und institutionsgeschichtlichen Forschungsansätzen - besonders das Methodenarsenal der Ideengeschichte anbietet. Auf dem Weg einer Verifizierung dieser These wird sich der folgende Problemaufriß darum bemühen, einige ideen-, personen- und begriffsgeschichtlich bedenkenswerte Aspekte und Perspektiven bisheriger bzw. künftiger Erforschung des Verhältnisses von Konservativer Revolution und Nationalsozialismus aufzuzeigen. Wer diesem Verhältnis unter personengeschichtlichem Blickwinkel nachgeht, kann - zunächst - die Beziehungen führender Repräsentanten der Konservativen Revolution zum heraufkommenden bzw. seit 1933 etablier1992, S. 178-205; ders., Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt/M. 1996. 6 Vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993; dazu direkt Karlheinz Weißmann, Gab es eine "Konservative Revolution"? Zur Auseinandersetzung um das neue Buch von Stefan Breuer, in: Jahrbuch der Konservativen Revolution 1994, S. 313-326; ferner neuerdings Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus, Darmstadt 1995. 7 Repräsentativ für deren Sicht: Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978; ders., Ideologische Wegbereiter des Faschismus, in: Ludwig Elm (Hg.), Falsche Propheten. Studien zum konservativ-antidemokratischen Denken im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1990, S. 136-176, 428-432. 8 Darüber Grundsätzliches jetzt bei Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, 2. Aufl., Paderbom/München/Wien/Zürich 1999, S. II ff.
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ten "Dritten Reich" analysieren. Dies ist in der Vergangenheit häufig geschehen, mit unterschiedlicher Gewichtung und mit qualitativ bzw. wertungsmäßig höchst verschiedenartigen Ergebnissen - so etwa mit Blick auf Oswald Spengler vorzüglich von Detlef Felken9 , unbefriedigend von Clemens Vollnhals 10, ausgewogen von Anton Mirko Koktanek 11 • Auch andere Hauptvertreter der Konservativen Revolution sind - sofern bisher schon biographiert - in ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus geortet worden: Othmar Spann von Martin Schneller12, Artbur Moeller van den Bruck von Hans-Joachim Schwierskott 13 , Edgar Julius Jung von Bernhard Jenschke 14, Ernst Jünger von Hans-Peter Schwarz 15, Wilhelm Stapel von Heinrich Keßler 16, August Winnig von Wilhelm Ribhegge 17 , Ernst Niekisch von Friedrich Kabermann und Uwe Sauermann 18, Carl Schmitt von Bernd Rüthers, Paul Noack und Andreas Koenen 19 • Es fehlen -bisher- entsprechende Monographien u. a. zu Max Hildebert Böhm, Friedrich Georg Jünger, Hans Freyer, Friedrich Hielscher. Nun kann man die Beziehungen zwischen Konservativer Revolution und Nationalsozialismus - personengeschichtlich - auch in gleichsam umge9 Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988. 10 Vgl. Clemens Vollnhals, Oswald Spengler und der Nationalsozialismus. Das Dilemma eines Konservativen Revolutionärs, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, TelAviv 13 (1984), S. 263-303. 11 Vgl. Anton Mirko Koktanek, Spenglers Verhältnis zum Nationalsozialismus in geschichtlicher Entwicklung, in: Zeitschrift für Politik NF 13 (1966), S. 33-55. 12 Vgl. Martin Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservativismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1970. 13 Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1962. 14 Vgl. Bemhard Jenschke, Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologien der Weimarer Republik. Weltanschauung und Politik bei Edgar Julius Jung, München 1971. 15 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg/Br. 1962. 16 Vgl. Heinrich Keßler, Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen, Nürnberg 1967. 17 Vgl. Wilhelm Ribhegge, August Winnig. Eine historische Persönlichkeitsanalyse, Bonn 1973. 18 Vgl. Friedrich Kabermann, Widerstand und Entscheidung eines deutschen Revolutionärs. Leben und Denken von Ernst Niekisch, Köln 1973. - Uwe Sauermann, Ernst Niekisch und der revolutionäre Nationalismus, München 1985. 19 Vgl. Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, München 1989. - Paul Noack, Car1 Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993. - Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995.
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kehrter Perspektive in Blick nehmen, d. h. ihnen von seiten führender Nationalsozialisten aus nachspüren. Eine solche Betrachterperspektive wurde bisher - erstaunlicherweise - nur in bezug auf untergeordnete Repräsentanten des Regimes - etwa Werner Best20 - gewählt, nicht hingegen im Falle der ideologischen Hauptvertreter der "Bewegung". Konzentriert man den Untersuchungsrahmen auf die fünf politisch entscheidenden Ideologen des Nationalsozialismus - "reine" Parteitheoretiker wie etwa Gottfried Feder oder Otto Strasser, Ernst Krieck oder Hans F. K. Günther ebenso ausblendend wie "bloße", relativ "theorielos" agierende NSDAP-Politiker wie etwa Wilhelm Frick, Hermann Göring oder Robert Ley -, so ergibt sich ein differenziertes und höchst ambivalentes Bild entsprechend der Uneinheitlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung allgemein. Im Falle Adolf Hitlers ernsthaft nach einem exakt zu verortenden Verhältnis zur Konservativen Revolution zu fragen, dürfte quellenmäßig kaum zu eindeutig verifizierbaren Resultaten führen. Zwar gab es, besonders in der Zeit vor der Machtergreifung, einige - flüchtige - persönliche Begegnungen zwischen dem Führer der NSDAP und Repräsentanten des revolutionären Konservatismus, beispielsweise mit Artbur Moeller van den Bruck21 oder mit Oswald Spengler22 . Zudem finden sich in manchen Reden Hitlers vage, zumeist unscharf verallgemeinernde Bezugnahmen auf bestimmte Gedankenbilder, die auch von Repräsentanten der Konservativen Revolution verfochten wurden - so etwa die Klassifizierung der Völker und Nationen nach ihrer "Jugend" und ihrem "Alter"23 oder der geschichtspessimistische Rekurs auf die Möglichkeit eines "Untergangs des Abendlan20 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung, Vernunft 1903-1989, Bonn 1996. 21 1922 war es im Anschluß an eine- mißglückte- Rede des damals noch weitgehend unbekannten Hitler vor den Mitgliedern des jungkonservativen "Juni-Club" in Berlin zu einer privaten Unterredung zwischen Hitler und Moeller gekommen. Über den sehr ungünstigen Eindruck, den Moeller von seinem Gesprächspartner gewann, informiert Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern/Stuttgart 1963, S. 284 f. 22 Hitler und Spengler hatten sich am Rande der Bayreuther Wagner-Festspiele 1933 zu einer mehrstündigen Aussprache getroffen, die auf beiden Seiten keinen positiven Eindruck hinterließ; dazu eingehend Felken, Spengler (Anm. 9), S. 193f. 23 Vgl. z. B. Hitlers Hinweis darauf, daß der "Aufbau eines neuen Europas [... ] nicht gestaltet werden kann von den alt gewordenen Kräften einer im Verfall begriffenen Welt [... ], sondern daß zum Neuaufbau Europas nur jene Völker und Kräfte berufen sind, die [... ] selbst als junge und produktive angesprochen werden können. Diesen jungen Nationen und Systemen gehört die Zukunft"; Adolf Hitler, Reden und Proklamationen 1932-1945, hg. und kommentiert von Max Domarus, Wiesbaden 1962/63, S. 1443; vgl. auch ebd., S. 1366, 1867ff.; Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961 , S. 124ff. (USA als ,junges Volk"), 135ff.
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des"24 • Doch lassen sowohl der in hohem Maße eklektizistische Charakter der Hitlerschen Weltanschauung, in der die verschiedensten ideenpolitischen Einflußlinien des 19. und friihen 20. Jahrhunderts zusammenliefen, als auch die integrative Funktion dieser Weltanschauung, die Projektionsmöglichkeiten für die unterschiedlichsten Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen im ideenpolitischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre bot, den sicheren Nachweis folgewirksamer Beeinflussung nicht zu. Hingegen bieten sich mit Blick auf Alfred Rosenberg, den Haupttheoretiker und "Chefphilosophen" der NSDAP, eindeutige Beriihrungspunkte zu bestimmten Gruppierungen der Konservativen Revolution. Diese Beriihrungspunkte resultieren zum einen aus Rosenbergs Funktion als Griinder und Leiter des "Kampfhundes für deutsche Kultur". Im Gefolge der seit 1927 anhebenden Aktivitäten dieser Einrichtung, die im Weimarer Kulturleben zwar keine Breitenwirkung, wohl jedoch ein hohes Maß an Störpotential zu entfalten vermochte25 , kam es zu organisatorischen Kontakten mit 24 Hitlers Spengler-Lektüre ist, im Unterschied etwa zu derjenigen Rosenbergs oder Goebbels' nicht sicher verbürgt. Es finden sich bei ihm sowohl partielle Bezugnahmen auf Spenglers organologisches Geschichtsmodell, das den historischen Entwicklungsgang in Analogie zu den menschlichen Lebensaltern setzte (vgl. Adolf Hitler, Rede in München [4.4.1927], in: ders., Reden, Schriften, Anordnungen: Februar 1925 bis Januar 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. II: Vom Weimarer Parteitag bis zur Reichstagswahl: Juli 1926- Mai 1928, hg. und kommentiert von Bärbel Dusik, München/New York/London/Paris 1992, Teil I: Juli 1926- Juli 1927, S. 233f.), als auch heftige Polemiken gegen Spenglers Untergangsvisionen (vgl. Adolf Hitler, "Deutsche Volksgenossen und -genossinnen!" Aufruf [20.8.1927], in: ebd., Teil 2: August 1927- Mai 1928, S. 487), deren Pessimismus dem eigenen Selbstverständnis, eine "Erneuerung" der Welt und eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einzuleiten, strikt entgegenlief: "Nicht Untergang des Abendlandes muß es heißen, sondern Wiederaufstieg der Völker dieses Abendlandes"; Hitler, Reden (Anm. 23), S. 502. - Keiner der führenden Nationalsozialisten hat die eigene Zeit im Sinne Spenglers (vgl. dazu aber Oswald Spengler, Pessimismus?, Berlin 1921) als den letzten Ausläufer einer sterbenden Zivilisation verstanden. Im Gegenteil. Äußerungen wie diejenige Heinrich Himmlers, das deutsche Volk und die arisch-germanische Menschheit überhaupt stände "nicht am Ende [... ], sondern am Anfang seiner ihm im Rahmen der Völker dieser Erde gegebenen [. . .] Aufgabe" (Heinrich Himmler, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, München 1936, S. 20) belegen klar eine auf ,.Wachstum" und "Fortschritt" hin angelegte "positive" Zukunftsperspektive. Auch Joseph Goebbels berief sich immer wieder auf den "Anbruch einer jungen Zeitepoche" (Joseph Goebbels, Der Geist des Westens, in: ders., Die Zweite Revolution. Briefe an Zeitgenossen, Zwickau 1926, S. 11). Insofern ist die von Stern, Kulturpessimismus (Anm. 21), dezidiert vorgetragene Deutung des Nationalsozialismus als Spätfolge deutschen kulturpessimistischen Denkens des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fragwürdig. Bruchlos eingefügt hat sich der Nationalsozialismus in die Tradition des deutschen Kulturpessimismus jedenfalls nicht. 25 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 27 ff.
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betont "völkisch" argumentierenden Vertretern der Konservativen Revolution - etwa zu Reinhold Wulle oder zu Paul Schultze-Naumburg. Zum anderen, und weitaus entscheidender, nahm Rosenberg im Rahmen seiner zahlreichen publizistischen Aktivitäten mehrfach, und meist in ablehnender Weise, zu einzelnen Vordenkern der Konservativen Revolution Stellung etwa zu Ludwig Klages26 oder zu Oswald Spengler27 . Ungeachtet seiner eigenen Abgrenzungsbemühungen enthält Rosenbergs Hauptwerk, "Der Mythus des 20. Jahrhunderts", zahlreiche Bezugnahmen auf Spenglers "Untergang des Abendlandes". Dies gilt vor allem für die beiden Werken gemeinsame kulturpluralistische bzw. kulturvergleichende Ausgangsposition - mit polemischer Frontstellung gegen die Konzeption der "einen Menschheit"28 -, für die Bewertung des Griechentums und des Germanentums29 und für die Adaption der Kulturkreis-Lehre ganz allgemein30. Beider Geschichtsschau gründete in der Annahme verschiedener, in sich abgeschlossener Hochkulturen, die mit einer je eigenen, alle Lebensbe26 Vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit ( 1930), 11. Auf!. München 1933, S. 136f.; vgl. Hans Kasdorff, Ludwig Klages im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 1895-1975, Bonn 1978. 27 Vgl. Rosenberg, Mythus (Anm. 26), S. 402ff., 696f.; ders., Oswald Spengler, in: Nationalsozialistische Monatshefte 4 (1930), S. 180-184. 28 Wir glauben, daß es [... ] keine wirkliche Welt-Geschichte gibt, d. h. keine Geschichte, wonach alle Völker und alle Rassen gleichsam zu einer einzigen planvollen Auflösung hingeführt werden. [. . .] Wir glauben dagegen, daß die Geschichte der Völker einen Lebenskreis für sich darstellt und daß z. B. die Geschichte der Griechen nicht eine ,planvolle' Vorbereitung für die späteren so ,herrlichen Zeiten' gewesen ist" (Alfred Rosenberg, Der Kampf um die Weltanschauung [1934], in: ders., Gestaltung der Idee. Reden und Aufsätze 1933-1935, hg. von Thilo von Trotha, München 1936, S. 36), daß es mithin auch "nicht an[gehe], [... ] Gefühle und Gedanken unserer Gegenwart in Gestalten der Vergangenheit hineinzutragen und diese, ohne sie aus ihrer eigenen Zeit zu begreifen, als Träger der Ideen unserer Epoche vorzuführen"; Alfred Rosenberg, Weltanschauung und Glaubenslehre (1938), in: ders., Tradition und Gegenwart. Reden und Aufsätze 1936-1940, hg. von Karlheinz Rüdiger, München 1941, S. 198. 29 "Griechische Schönheit ist das Formen des Körpers, germanische Schönheit ist die Formung der Seele. Das eine bedeutet äußeres Gleichgewicht, das andere inneres Gesetz"; Rosenberg, Mythus (Anm. 26), S. 348. .,Das Empfinden und Schaffen des Abendlandes ist dynamisch, das griechische Ideal entspringt einer vornehmlich statischen Seelenverfassung. In Europa wird Ruhe als Übergangsstufe von Bewegung zu Bewegung aufgefaßt, in Hellas galt es, selbst das Schnellste in Ruhe umzuformen"; Alfred Rosenberg, Vom Künstlerringen der Gegenwart (1925), in: ders., Blut und Ehre. Ein Kampf für deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze von 1919-1933, hg. von Thilo von Trotha, 26. Auf!. München 1942, S. 204. "Ist der Grieche im Mittleren [... ] zu Hause, so strebt der Germane die Endpunkte auszudrücken"; Alfred Rosenberg, Von Form und Formung im Kunstwerk (1918), in: ders., Schriften und Reden. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, Bd. 1: Schriften aus den Jahren 1917-1921, München 1943, S. 46.
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reiche gleichermaßen formenden "Kulturseele" begabte waren, und deren Aufeinanderfolge Prinzip und Vollzug der weltgeschichtlichen Entwicklung markierte. Im Unterschied zu Rosenberg maß Spengler dabei jedoch der rassischen Prägung eines Kulturkreises keine Bedeutung bei. Ausdrücklich und unmißverständlich verwahrte er sich immer erneut gegen biologistische, rassistische und antisemitische Argumentationsformen, die er gleichermaßen für "töricht"31 und "grotesk"32 hielt. Rosenberg seinerseits minderte die Bedeutung Spenglers für sein eigenes Denken stets herab und vermied strikt, sich explizit auf ihn zu beziehen33 . Gleichwohl hat er Spenglers "Untergang" systematisch zur Absicherung der eigenen Lehre, dort wo es ihm angängig schien, genutzt - wie eine Fülle augenfälliger und ganz offensichtlicher Übereinstimmungen in Wort und Sinn zwischen "Mythus" und "Untergang" an vielen Stellen beider Werke belegen mag 34 • Bei Richard Walther Darre, Reichsbauernführer und seit Juni 1933 Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, dem die NSDAP nicht nur den Aufbau ihres agrarpolitischen Apparats, sondern auch die für ihr ideologisches Profil so zentrale "Blut-und-Boden"-Konzeption mit ihrer an den Prinzipien von "Rassenwert", "Blutsadel" und "Leistungszucht" orientierten Vorstellungen verdankte, sind gleichfalls deutliche Berührungspunkte 30 Geschichtliches Leben spielte sich nach Rosenberg stets und ausschließlich in fest umrissenen Kulturkreisen ab, die durch die Kraft einer einheitlichen .,Rassenseele" zusammengehalten wurden und sich von anderen Kulturkreisen mit jeweils anderen .,rassenseelischen" Voraussetzungen strikt unterschieden. Die jeweilige .,Rassenseele" war verantwortlich für die spezifische Prägung der einzelnen Kulturkreise und der in ihnen wirkenden schöpferischen Einzelpersönlichkeiten. Vgl. Rosenberg, Mythus (Anm. 26), S. 697; ders., Deutsches Recht (1934), in: ders., Gestaltung (Anm. 28), S. 229; ders., Die rassische Bedingtheit der Außenpolitik (1933), ebd., S. 337ff. 31 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/22), Neuausgabe mit einem Nachwort von Anton Mirko Koktanek, München 1972, S. 952. 32 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 157. 33 Rosenberg hat Spengler vor allem dessen vermeintlichen Mangel an Einsicht in rassische Zusammenhänge vorgeworfen; Alfred Rosenberg, Oswald Spengler (1925), in: ders., Kampf um die Macht. Aufsätze von 1921-1932, hg. von Thilo von Trotha, München 1937, S. 344: .,Spengler begriff die Tat Hitlers nicht". 34 Eingehender Nachweis derartiger Übereinstimmungen erstmals bei Kroll, Utopie (Anm. 8), S. 104, 107, 130ff. -Eine andere Denkfigur, die von Rosenberg wie von Repräsentanten der Konservativen Revolution gleichermaßen vertreten wurde, war die fixe Idee eines römisch-katholischen Imperialismus, der das deutsche Volk seit jeher bedrohe; die Geschichte werde infolgedessen bestimmt vom wechselvollen Kampf zwischen nordisch-germanischem Freiheitsstreben einerseits und den Knebelungsversuchen der römischen Klerikalpartei andererseits. Dieser anti-römische Affekt - Erbteil der alten kulturkämpferischen Antithese ..Rom-Germanien" beherrschte vor allem das Denken von Ernst Niekisch.
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zu einzelnen Topoi der Konservativen Revolution nachweislich. Dies gilt weniger für Darres fixe Idee vom Bauerntum als "Lebensquell der Nordischen Rasse"35 als vielmehr für die sich aus dem Niedergang des Bauemtums und der Abkehr von agrarisch geprägten Lebensformen, vor allem seit Anfang des 19. Jahrhunderts, in Darres Sicht ergebenden Konsequenzen: Individualismus, Liberalismus, Kapitalismus. Sie erschienen Darre als Langzeitfolgen einer den Gesetzen von "Blut" und "Boden" entfremdeten Haltung, deren Defekte es in der Gegenwart zu überwinden gelte. Bei seiner Kritik an den vermeintlichen Folgeübeln der Entagrarisierung bezieht sich Darre verschiedentlich auf einzelne Denkfiguren, die auch für den deutschen Konservatismus um 1930 Leitwert besaßen. Zu diesen Denkfiguren gehören die Akzentuierung der "germanischen" Gemeinschaftsidee in Entgegensetzung zum "römischen" Prinzip des lndividualismus36; der altkonservative Topos von der "Freiheit in der Gebundenheit", den Darre freilich biologistisch verfremdet37 ; der antikapitalistische Affekt, der sich auf die soziale und sittliche Verpflichtung des Eigentums beruft und dafür plädiert, Besitz nicht ichbezüglich, im liberal-individualistischen Sinne, sondern verantwortungsvoll, zum Wohl des ganzen Volkes zu nutzen38 ; schließlich der antimodernistische bzw. zivilisationskritische Gestus allgemein, der sich bei Darre zu einer - übrigens mit ökologischen Tupfern garnierten - Großstadtphobie ausweitee9 und den Reichsbauern35 Vgl. Richard Watther Darre, Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse (1929), 2. Auf!. München 1933; Rekonstruktion der Darreschen Konzeption jetzt bei Kroll, Utopie (Anm. 8), S. 160-170. 36 V gl. Darre, Bauerntum (Anm. 35), S. 95 ff., 135, 142, 393 f. 37 Vgl. Darre, Bauerntum (Anm. 35), S. 425, 428, 454; ders., Ziel und Weg der nationalsozialistischen Agrarpolitik, München 1934, S. 7; ders., Blut und Boden, ein Grundgedanke des nationalsozialistischen Rechts (1935), in: ders., Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze, 2. Auf!. München 1940, 304. - Zum Stellenwert dieser Denkfigur im Rahmen der Weimarer Rechten vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, Neuaufl. München 1978, S. 267ff.; Heide Gerstenberger, Der revolutionäre Konservatismus. Ein Beitrag zur Analyse des Liberalismus, Berlin 1969, S. 37-64; Breuer, Anatomie (Anm. 6), S. 49-59. 38 Vgl. Darre, Bauerntum (Anm. 35), S. 99ff., 174, 182, 185; ders., Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 66, 70, 74; ders., Damaschke und der Marxismus (1932), in: ders., Erkenntnisse und Werden. Aufsätze aus der Zeit vor der Machtergreifung, Goslar 1940, S. 232f.; ders. , Die Bodenfrage, der Schlüssel zum Verständnis der sozialen Probleme (1934), in: ders .• Um Blut und Boden (Anm. 37), s. 292ff. 39 Darüber zusammenfassend im Vergleich zu anderen anti-urbanen Strömungen der 1920er und 1930er Jahre Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970, S. 297 ff. - Zur ökologischen Dimension der antimodernistisch-agrarromantischen Richtung innerhalb des Nationalsozialismus Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 193ff., 206ff.; zur Tradition
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führer mit manchen "völkisch" argumentierenden Repräsentanten der Konservativen Revolution verbindet - nicht zuletzt mit Edgar Julius Jung, dessen Hauptwerk "Die Herrschaft der Minderwertigen"40 Darre in seinen eigenen Arbeiten auch dann noch zustimmend zitiert, als Jung längst zu den Opfern des 30. Juli 1934 gehörte. Gering hingegen sind die Verbindungslinien zwischen Heinrich Himmler und der Konservativen Revolution. Der in seinem ideologischen Profil stark von den Denkvorgaben seines langjährigen Freundes Darre beeinflußte Reichsführer der SS befand sich vor allem mit seiner ausgeprägt zyklischantilinearen Geschichtsauffassung, die der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" das Wort redete und dabei den Einzelmenschen zu einem aller individuellen bzw. persönlichen Züge beraubten Objekt global-politischer Planungen degradierte41 , in partieller Übereinstimmung zum "Weltbild der Wiederkehr", dessen Bedeutung für das Denken der Konservativen Revolution - etwa für Ernst Jünger - Armin Mohler bereits 1950, allerdings etwas pauschalisierend und überpointiert, hervorgehoben hat42. Auch bestimmte, für Himmlers Weltanschauung zentrale Gedanken wie derjenige einer gliedhaften Einbettung des Einzelnen in das Generationengefüge von Ahnen und Enkeln43 oder die in diesem Zusammenhang gegebenen Anklänge an die Lehre vom Staat als Organismus44 kann man in Verbindung zu entsprechenden Überlegungen etwa Othmar Spanns oder Paul von Krannhals' bringen45. Wie im Falle Rosenbergs und Darres besitzen derart unbestreitbare Übereinstimmungen und Adaptionen jedoch auch mit Blick auf Himmler des Ökologiegedankens im Rahmen der Konservativen Revolution Michael Großheim, Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Modeme, Berlin 1995. 40 Vgl. Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, 3. Aufl. Berlin 1930, S. 549 f., 556 f., 568 ff. 41 Vgl. Heinrich Himmler, Schutzstaffel (Anm. 24), S. 27; ders., Rede in Tölz (18.2.1937), Bundesarchiv/Koblenz NS 19 (Persönlicher Stab Reichsführer SS) Nr. 4004, BI. 80; ders., Rede in Sonthofen (24.5.1944), ebd., Nr. 4014, BI. 23. 42 Vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 4. Aufl. Darmstadt 1994, S. 78-86. 43 Vgl. Heinrich Himmler, Grundbegriffe und Grundpflichten in der SS, o. 0 ., o.J., S. 4; ders., Rede am 12.11.1935, in: ders., Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson. Mit einer Einführung von Joachim C. Fest, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974, S. 86; ders., "Ahnen und Enkel". Rede in Stuttgart (2.9.1938), Bundesarchiv/Koblenz NS 19 (Persönlicher Stab Reichsführer SS) Nr. 4005, BI. 4. 44 Vgl. Himmler, Schutzstaffel (Anm. 24), S. 25. 45 Vgl. Othmar Spann, Der Wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, gehalten 1920 in Wien, Leipzig 1921; ders., Gesellschaftslehre, Leipzig 1923; ders., Gesellschaftsphilosophie, München/Berlin 1928, S. 106ff.; Paul von Krannhals, Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentstehenden deutschen Kultur, Bde. 1-2, München 1928.
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im Gesamtzusammenhang der bisher erörterten nationalsozialistischen Weitanschauungsvarianten einen eher untergeordneten Stellenwert. Sie erweisen sich als partiell und sind für das jeweilige ideologische Profil, und mithin auch für die "Außenwirkung" der jeweiligen Ideologie, nirgends von bestimmender Bedeutung. Dies gilt allerdings nicht für den letzten der hier näher in Blick zu nehmenden Repräsentanten der nationalsozialistischen Führungsriege, für Joseph Goebbels. Dieser hatte im Lauf der 1920er Jahre die Schriften der meisten Haupttheoretiker der Konservativen Revolution - vor allem Spenglers und Moeller van den Brucks - eingehend rezipiert; seine Tagebuchaufzeichnungen geben darüber die erforderlichen Auskünfte46 . Zwar erfolgte dann zu Beginn der 1930er Jahre - an gleicher Stelle - eine entschieden vorgetragene Distanzierung von der vermeintlich bloß ästhetisierenden, unpolitischen - und das hieß konkret: nicht-nationalsozialistischen - Haltung mancher Vordenker der Konservativen Revolution und des "Neuen Nationalismus", namentlich von Ernst Jünger und Heinrich von Gleichen47 . Doch steht, ungeachtet derartiger Selbstbekundungen, die Bedeutung, die neben Spengler und Moeller van den Bruck - vorzüglich die nationalbolschewistisch ausgerichteten Vertreter der Konservativen Revolution für das politische Weltbild des späteren Reichspropagandaministers dauerhaft besaßen, völlig außer Frage. Dabei waren es vor allem zwei Gedankenfiguren der Konservativen Revolution, die Goebbels aufs stärkste beeinflußten: (a) einmal die geschichtsphilosophische Gewichtung der Völker und Nationen gemäß ihres "Alters" und ihrer "Jugend" - niedergelegt in Moeller van den 46 Zu Spengler, dessen Werke Goebbels zwischen März 1921 und Januar 1923 in Lektüre genommen hatte: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1924-1941, München/New York/London/Paris 1987, Bd. 1, S. 21, 23, 26 (1924), 36 (7.7.1924: Kulturpessimismus), 108 (29.4. und 1.5.1925: Lektüre von Spenglers 1924 erschienenem Buch "Neubau des Deutschen Reiches": "Voll von unseren Gedanken und Gefühlen und Sehnsüchten [.. .]. Ein phänomenales Buch [...]. Ich möchte [...] Satz für Satz unterschreiben"). - Zu Moeller: Das Tagebuch von Joseph Goebbels 1925/26. Mit weiteren Dokumenten hg. von Helmut Heiber, Stuttgart 1960, S. 48: "So klar und so ruhig [. .. ] schreibt er all das, was wir Jungen längst mit Gefühl und Instinkt wußten"; S. 51: "Warum stand er nicht in unseren Reihen"; ders., Tagebücher (Anm. 46), Bd. 1, S. 272 (2.10.1928): "Ich lese mit glühenden Backen Moeller van den Brucks ,Das Dritte Reich'. Ein phänomenales Buch. Unsere tiefsten Sehnsüchte in kristallener Form gemeistert"; ähnlich ebd., S. 281 (23.10.1928), 374 (20.5.1929). 47 Zu Jünger: Goebbels, Tagebücher (Anm. 46), Bd. 1, S. 354 (4.4.1929), 436 (7 .1 0.1929): "nur noch Literatur"; ders., Gärungen und Klärungen, in: ders., Wege ins Dritte Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen, München 1927, S. 11: "schöne Literatur, aber schlechte Praxis". - Zu Gleichen: Goebbels, Tagebücher (Anm. 46), Bd. 1, S. 356 (7.4.1929); ders. , Literaten (1929), in: ders., Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, München 1925, S. 295: "[ ...] im gewärmten Salon seine philosophischen Weisheiten ausschwitzte".
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Brucks Programmschrift vom "Recht der jungen Völker" 1919; (b) sodann die Idee eines "nationalen Sozialismus" - vorgetragen in Oswald Spenglers Essay "Preußentum und Sozialismus", gleichfalls 1919. a) Moeller van den Bruck hatte in seinem achtbändigen Fortsetzungswerk "Die Deutschen"48 und dann erneut separat in einer 1919 erschienenen Schrift49 das Thema der "alten" und "jungen" Völker angeschlagen und dabei Spenglers organologische Lehre, gemäß derer die Entwicklung der großen Menschheitskulturen in Analogie zu den biologischen Wachstumsvorgängen von Jugend, Reife, Alter und Tod verlaufe, auf die Gegebenheiten der europäischen Staatenwelt übertragen. Unter der Voraussetzung, daß auch die einzelnen Nationen wie lebendige Organismen einem natürlichen Alterungsprozeß unterlagen, schieden sich für Moeller die Völker in solche, deren Weltzeit abgelaufen, und in andere, deren Blüte noch gar nicht angebrochen war, vielmehr überhaupt erst bevorstand. Anspruch auf "Jugendlichkeit" und damit ein "Recht auf Zukunft"50 besaßen in diesem Sinne die Deutschen und die Italiener, die Russen und die Amerikaner, während Franzosen und Briten als Verkörperung altgewordener, dem Untergang geweihter Völker galten. Verharrten diese perspektivlos in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Stagnation, so erschienen jene "noch frisch und kräftig [... ,] um nun endlich den Mittelpunkt ihres Daseins zu finden und ihren Platz unter der Sonne zu nehmen" 51 . Goebbels machte sich diese Moellersche Unterscheidung zu eigen, modifizierte sie dabei jedoch auf entscheidende Weise. Die bei Moeller rein organisch gedachten Kategorien ,jung" und "alt" gerieten Goebbels - in ungleich aggressiverer, unmittelbare politische Konsequenzen implizierender Interpretation - zu gleichsam soziologischen Größen: "arm" und "reich" bzw. "proletarisch" und "kapitalistisch". Die ,jungen" Völker, Deutsche und Italiener, figurierten nun als die "weltpolitischen Habenichtse"52, ausgeschlossen von den "Reichtümern der Erde"53 , weil bei deren 48 Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte, Bde. 1-8, Minden/Westf. 1904-1910, 2., gekürzte und neubearbeitete Aufl., hg. von Hans Schwarz [unter dem Titel: Das ewige Reich], Bde. 1-3, Breslau 1933-1935, bes. Bd. 1: Die politischen Kräfte, Breslau 1933, S. 327-343. 49 Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 18 ff., 47ff.; vgl. auch ders., Die Alten und die jungen Völker, in: Der Tag vom 22. Juli 1916; ders., Die jungen Völker, Berlin 1920; ders., Das Recht der jungen Völker. Sammlung politischer Aufsätze, hg. von Hans Schwarz, Berlin 1932. 50 Moeller van den Bruck, Reich (Anm. 48), Bd. 1, S. 328. 51 Moeller van den Bruck, Reich (Anm. 48), Bd. 1, S. 332; vgl. auch ders., Sozialismus und Außenpolitik, hg. von Hans Schwarz, Breslau 1933, S. 59. 52 Joseph Goebbels, Lord Halifax als Bankettredner (1941 ), in: ders., Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1939/40/41, München 1941, s. 447. 8 Schrenck·Notzing
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Verteilung "zu kurz gekommen"54 , jedoch voller unverbrauchter Kräfte und unausgeschöpfter Entwicklungsmöglichkeiten. Ihnen gegenüber standen die alten, besitzenden Nationen Frankreich und Großbritannien, seit Jahrhunderten an die Ausübung politischer Macht und die damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteile gewöhnt, in ihrer Lebenskraft zwar weitgehend gebrochen, aber gleichwohl nicht bereit, den jungen, "proletarischen" Völkern einen angemessenen Anteil an den Gütern der Welt zu gewähren, so daß den letzteren keine andere Möglichkeit blieb, als sich gegenüber den ersteren gewaltsam zur Wehr zu setzen55 . Noch stärker entfernt von den Moellerschen Denkvorgaben zeigt sich Goebbels bei seiner gewaltsam vorgenommenen Konstruktion einer "Einheitsfront [. .. ] zwischen Plutokratie und Bolschewismus"56, welche die alten, kapitalistisch orientierten Nationen England und Frankreich in eine enge Handlungsgemeinschaft mit der prinzipiell zu den jungen Staaten zählenden marxistischen Sowjetunion rückte, und hinter dieser - die "jungen" Nationen an ihrem Fortkommen hindemden - "Front" als treibende Instanz das "internationale Judentum" und dessen vermeintlich weltumspannendes "Zersetzungsstreben" ortete57 • Eine solche, in den Jahren des Krieges gegen die Westmächte und die Sowjetunion von Goebbels auch propagandistisch mit Vehemenz betriebene Parallelisierung von ,jüdischem Bolschewismus" und ,jüdischer Plutokratie"58 lag nicht in der Konsequenz des zwar ambivalenten und mehrschichtigen, aber zum Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung prinzipiell distanzierten Rassebegriffs im Umfeld Moeller van den Brucks59• Hingegen Joseph Goebbels, Die Einkreiser (1939), in: ders., Zeit (Anm. 52), S. 146. Joseph Goebbels, Reden 1932-1945, hg. von Helmut Heiber, Bd. 2: 19391945, Düsseldorf 1972, S. 331; ders., Vom Sinn des Krieges (1942), in: ders., Das eherne Herz. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1941/42, München 1943, S. 440; ders., Über die geistige Kriegführung (1941), in: ders., Zeit (Anm. 52), S. 401. 55 Zur Antithese ,junge" - "alte" bzw. "arme" - "reiche" Völker, um deren alternative Vorherrschaft der vom Nationalsozialismus entfesselte Zweite Weltkrieg angeblich geführt werde, vgl. zusammenfassend Joseph Goebbels, Reden (Anm. 54), S. 7, 40; ders., Vom Vertrauen in die eigene Kraft (1942), in: ders., Herz (Anm. 54), S. 202f.; ders. , Klassenkampf der Völker (1939), in: ders., Zeit (Anm. 52), S. 157f.; ders., Die neue Ordnung (1942), in: ders., Der steile Aufstieg. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1942/43, München 1943, S. 73. 56 Joseph Goebbels, Die alte Front (1941), in: ders., Zeit (Anm. 52), S. 508. 57 Zur jüdischen "Weltzerstörungs-" bzw. "Welteroberungsabsicht" vgl. beispielhaft Goebbels, Reden (Anm. 54), S. 178f., 182, 233, 450, 452; ders. , Der Krieg und die Juden (1943), in: ders., Aufstieg (Anm. 55), S. 264. 58 "Sowohl die Plutokratie als auch der Bolschewismus sind charakteristische Ausdrucksformen der jüdischen Wesenheit [. .. ] was dahinter steckt, ist immer dasselbe"; Joseph Goebbels, Die motorischen Kräfte (1943), in: ders., Aufstieg (Anm. 55), S. 309. 59 Eine monographische Untersuchung zur Einschätzung des Judentums seitens führender Repräsentanten der Konservativen Revolution fehlt. Vereinzelte Bemer53
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wurde das außenpolitische Fernziel des Reichspropagandaministers ein Bündnis zwischen dem "jungen" nationalsozialistischen Deutschland und einer gleichfalls ,jungen", auf ihre national-russischen Wurzeln zurückgeführten, "erneuerten" Sowjetunion in gemeinsamer Abwehrstellung gegen die "alten" kapitalistischen Demokratien Westeuropas60 - so auch von Moeller und, stärker noch, von Ernst Niekisch vertreten61 . Der Blick auf die Formänderung des Schlagworts vom "Recht der jungen Völker" bei Goebbels und Moeller van den Bruck hat die Notwendigkeit einer Interpretationsarbeit vor Augen gestellt, die, bei Berücksichtigung aller gegebenen Entlehnungen, Übereinstimmungen und Anverwandlungen, den unterschiedlichen politischen Bezugsrahmen herausarbeitet, den bestimmte gleichklingende, aber bei weitem nicht immer gleichgemeinte Gedanken und Begriffe im konservativ-revolutionären Denken einerseits, in der nationalsozialistischen Theorie und Praxis andererseits besitzen. Die bloße Übernahme konservativ-revolutionärer Denkfiguren durch führende kungen bei George L. Mosse, Die deutsche Rechte und die Juden, in: W. E. Mosse (Hrsg.), Entscheidungsjahr 1932, Tübingen 1965, S. 183-246; ferner - mit Blick auf Moeller van den Bruck - die vorzügliche Analyse von Breuer, Anatomie (Anm. 6), S. 91 ff. Verfehlt, weil allzu schablonenhaft vorgetragen, ist die Auffassung von Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich (1972). Unveränderter Nachdruck Königstein/Ts. 1979, S. 38-46, der, offensichtlich zum Zweck einer pauschalen Diskreditierung konservativen Denkens, die Repräsentanten der Konservativen Revolution pointiert und prononciert als "Wegbereiter der Rassengesetzgebung" brandmarkt; zu Spenglers sehr differenzierter Auffassung vom Judentum vgl. bereits zeitgenössisch Max Grunwald, Das Judentum bei Oswald Spengler, Berlin 1924. 60 Diesen Aspekt rekonstruiert erstmals zusammenhängend Ulrich Höver, Joseph Goebbels. Ein nationaler Sozialist, Bonn/Berlin 1992, S. 92, lOOf., 133, 180-222, 403f. 61 Zu Moeller: Stern, Kulturpessimismus (Anm. 21), S. 294ff.; zu Niekisch: Sylvia Taschka, Das Rußlandbild von Ernst Niekisch, Erlangen/Jena 1999. Niekisch verband sein Programm einer "Ostorientierung" mehrfach ausdrücklich mit der agrarromantischen Parole einer "Rückkehr zum Land, Auflehnung gegen die Stadt" (Ernst Niekisch, Der sterbende Osten. Das Gift der Zivilisation [1929], wieder abgedruckt in: ders., Widerstand, hg. von Uwe Sauermann, Krefeld 1982, S. 42). Zur Ostorientierung führender Vertreter der Konservativen Revolution vgl. Mohler, Konservative Revolution (Anm. 42), S. 146-150; Kar/ Otto Paetel, Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus, Göttingen/Berlin/ Frankfurt a. M./Zürich 1965, S. 54ff., 153ff.; Otto-Ernst Schüddekopf, Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-1933, Frankfurt/M. 1972, S. 268ff.; Louis Dupeux, "Nationalbolschewismus" in Deutschland 1919-1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985. Zur entsprechenden Haltung des linken Hügels der NSDAP Udo Kissenkoetter, Gregor Straßer und die NSDAP, Stuttgart 1978, S. 22-27; unbefriedigend in dieser Hinsicht Patrick Moreau, Nationalsozialismus von links. Die "Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten" und die "Schwarze Front" Otto Strassers 1930-1935. Stuttgart 1985, der die außenpolitische Konzeption des Strasser-Kreises nicht berücksichtigt. s•
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Nationalsozialisten besagt für sich gesehen noch keine entsprechende Gemeinsamkeit der diese Denkfiguren jeweils tragenden Grundeinstellung. Vielmehr sind - auch als mögliche Perspektiven künftiger Forschung - die in beiden "Lagern" verwendeten Leitwörter - z. B. "Reich" und "Reichs.dee" 62 , "Preußent um" , " Rasse" , "J udent um " , "Chns . t ent um " , "Europa" , 1 "Elite", "Osten" - auf ihre oftmals stark voneinander differierenden Verwendungszusammenhänge hin zu analysieren. b) Dies gilt auch mit Blick auf den bei Goebbels wie bei vielen Vertretern der Konservativen Revolution gleichermaßen zentral verwendeten Begriff des "nationalen Sozialismus". Das Schlagwort war 1919 von Oswald Spengler in die politische Diskussion eingeführt worden und dann im Umfeld der Konservativen Revolution rasch zur gängigen Münze einer insgesamt recht verschwommenen Gesamtkonzeption avanciert63 • Die Quintessenz der Spenglersehen Ausführungen lag in der vermeintlich erwiesenen Identität von preußischem Stil und sozialistischer Haltung, gemäß der Überzeugung, daß "Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx [.. .] der erste bewußte Sozialist" gewesen sei64 • In doppelter Frontstellung gegen die Staats- und Gesellschaftskonzeption des westlichen Liberalismus und des marxistischen Sozialismus bemühte sich Spengler darum, "den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien"65 , und der Devise vom proletarischen Klassenkampf das Bild einer durch gemeinsamen Dienst am Staat geeinten, den Kapitalismus überwindenden Schicksalsgemeinschaft entgegenzusetzen. Mit eng an die Spenglersehen Formulierungen angelehnter Terminologie verfocht auch Goebbels die vermeintliche Kongruenz von preußischem Stil und sozialistischem bzw. nationalsozialistischem Wollen66, welche sich im Gedanken der Unterordnung des Einzelnen unter die Belange der Allgemeinheit trafen und beide gleichermaßen nicht dem individualistischen Prinzip einer bindungslosen Selbstverwirklichung privater Existenzinteres-
62 Dazu jetzt Frank-Lothar Kroll, Die Reichsidee im Nationalsozialismus, in: Franz Basbach, Hermann Hiery und Christoph Kampmann (Hgg.), Imperium, Empire, Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. München 1999, S. 179-196. 63 Vgl. z.B. Rudolf Jung, Der nationale Sozialismus, 3. Aufl. München 1922; Wichard von Moellendorff, Konservativer Sozialismus, Harnburg 1932; Friedrich Schinkel, Preußischer Sozialismus, Breslau 1934. 64 Oswald Spengler, Preußenturn und Sozialismus (1919), München 1921, S. 42. 65 Spengler, Preußenturn (Anm. 64), S. 4. 66 "Friedrich der Große war ein Sozialist auf dem Königsthron [...] Preußenturn ist Sozialismus [... ,] ein königlicher Sozialismus. Eine Volksschicksalsgemeinschaft"; Joseph Goebbels, Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1929, S. 25; ders., Preußen, an die Front! (1931), in: ders., Wetterleuchten. Aufsätze aus der Kampfzeit, München 1939, S. 188.
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sen, sondern dem Grundsatz vom Primat einer dem Gemeinnutz dienenden kollektiven Lebensführung folgten 67 . Bei aller auf den ersten Blick naheliegenden Verwandtschaft des Spenglersehen und des Goebbelsschen Begriffs eines "preußischen" bzw. "nationalen" Sozialismus sollten auch hier die unterschiedlichen Funktionszusammenhänge ihrer jeweiligen Verwendung berücksichtigt werden zumal Spengler mit seiner populären Wortprägung einer in den 1920er und frühen 1930er Jahren virulenten Epochentendenz Ausdruck verlieh, welche sich seinerzeit als Alternative nicht nur zum bürgerlichen Nationalismus von rechts und zum sozialistischen Internationalismus von links, sondern eben durchaus auch zum Nationalsozialismus selbst anzubieten schien68 . Gerade jene Zeitgenossen, die, anders als der revisionistische Flügel der Weimarer SPD, von den als berechtigt anerkannten sozialistischen Maximalforderungen nicht lassen wollten, denen dabei aber der kommunistische Weg infolge seines nonnativen Gesetzesdenkens, seiner mangelnden Berücksichtigung "volksspezifischer" Gegebenheiten, und vor allem durch seine Verknüpfung mit dem blutigen Terrorwesen des sowjetischen Bolschewismus, unbegehbar erschein, mochten sich von einer stärker national ausgerichteten sozialistischen Haltung einen Ausweg aus der politischen und gesellschaftlichen Krise der Nachkriegsjahre versprechen. Daß der Nationalsozialismus dann gerade die konservativ-revolutionären Verfechter eines "nationalen Sozialismus" teils - wie Moeller van den Bruck - vereinnahmt, teils - wie Niekisch und Jung - bekämpft, teils - wie Spengler selbst - in eine dem eigenen Anliegen dienliche Richtung uminterpretiert und die Denkfigur in ihrer Gesamtheit damit allerdings entschieden diskreditiert hat, gehört gleichsam zum postumen Schicksal einer zwischen den weltanschaulichen Lagern oszillierenden politischen Idee. Die Resonanz und Rezeption dieser Idee gerade auch bei manchen prominenten Vertretern der damaligen deutschen Sozialdemokratie, z. B. bei Kurt Schumacher oder Carlo Mierendorf~9 • mag andeuten, daß dem Gedankenbild des "nationalen 67 Vgl. Joseph Goebbels, Preußen muß wieder preußisch werden (1932), in: ders., Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus, Oldenburg I 933, s. 61, 65ff., 75ff., 80ff. 68 Eine politische Geistesgeschichte des "nationalen Sozialismus" gerade in Abgrenzung zum Nationalsozialismus gehört zu den dringlichsten Desideraten ideengeschichtlicher Forschung. Einen ersten, allerdings allzustark referierenden und sehr selektiven Einstieg in die Thematik vermittelt Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996, s. 250ff., 259ff. 69 Zum "nationalen Sozialismus" innerhalb der Weimarer SPD vgl. Gerd Storm und Franz Walter, Weimarer Linkssozialismus und Austromarxismus. Historische Vorbilder für einen "Dritten Weg" zum Sozialismus, Berlin 1984, S. 81 - 99 ("nationaler Linkssozialismus"), sowie Dieter Groh und Peter Brandt, "Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992,
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Sozialismus", auch in seiner konservativ-revolutionären Ausprägungsform, prinzipiell durchaus andere Entwicklungsperspektiven innewohnten als jene, die der Nationalsozialismus in rassistischer und militant imperialistischer Pervertierung dann schließlich realisierte. Die mit alledem an wenigen personen- und begriffsgeschichtlichen Beispielen veranschaulichte Problematik des geistesgeschichtlichen Beziehungsgeflechts zwischen Nationalsozialismus und Konservativer Revolution erfordert - soviel dürfte nach dem bisher Skizzierten allemal deutlich geworden sein - äußerste interpretatorische Behutsamkeit, um jeden Rückfall in apologetische oder denunziatorische Frontstellungen konventioneller Art zu verhindem und der Forschung eine Zielperspektive vorzugeben, die der Forderung nach hermeneutisch-verstehendem Nachvollzug ebenso zu genügen vermag wie dem Postulat einer kritisch-distanzierenden Sichtbarmachung von Fragwürdigkeilen und Fehlentwicklungen. Daß dies auch für die Behandlung der Frage nach dem Fortleben konservativ-revolutionären Ideenguts im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gilt, hat Nicolai Hammersen 1993 in einer beachtenswerten Untersuchung dargelegt70• Hier wäre ein Ausgangspunkt gegeben, an den künftige Forschungen anknüpfen könnten.
S. 204ff. ("militanter Reformsozialismus"); neuerdings auch Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie. 2. Aufl. Stuttgart 1995, s. 102-128. 70 Vgl. Nicolai Hammersen, Politisches Denken im deutschen Widerstand. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914-1944, Berlin 1993.
Die Konservative Revolution Forschungsstand und Desiderata Von Karlheinz Weißmann Als Ernst Jünger im Februar 1998 starb, starb auch der letzte große Vertreter einer intellektuellen Strömung, die wohl als gesamteuropäisches Phänomen angesprochen werden muß, aber in besonderer Weise ein deutsches Phänomen war: die "Konservative Revolution". Jünger selbst hatte sich in seinen letzten Jahrzehnten über jede politische oder metapolitische Zuordnung hinausentwickelt, und nur ausnahmsweise brachten ihn die Nachrufe noch mit dem revolutionären Konservatismus in Verbindung, den er nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich geprägt hatte'. Daraus auf ein nachlassendes Interesse für diese Fraktion der Rechten zu schließen, wäre aber verfehlt. Vielmehr kann von einer wachsenden Aufmerksamkeit gesprochen werden, die sich sogar von Tagesmoden zu emanzipieren weiß. Der Begriff Konservative Revolution ist bekanntermaßen durch Armin Mohlers Buch Die Konservative Revolution in Deutschland2 in die 1 Eine- kompetente- Ausnahme bildete Stefan Breuer: Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt, in: Berliner Zeitung vom 18. Februar 1998. In den letzten Jahren war ein deutlicher Versuch der "Entpolitisierung" Jüngers zu bemerken, der erst jetzt einer weder polemischen noch apologetischen Beschäftigung mit dem Dichter wie dem Ideologen Jünger weicht; vgl. Karlheinz We!ßmann: Maurice Barres und der "Nationalismus" im Frühwerk Ernst Jüngers, in: Günter Figal/ Heimo Schwilk (Hrsg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart 1995, S. 133-146, jetzt auch Paul Noack: Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998. Grundlegend, wenn auch in den Wertungen nicht immer ganz nachvollziehbar Eva Dempewolf: Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen Hintergrund der Jahre 1920-1980, Würzburg 1992. Problematisch dagegen Horst Seferens: "Leute von übermorgen und von vorgestern". Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Berlin/Potsdam/Bodenheim 1998. Bezeichnenderweise zeigte das vom 31. August bis 3. September 1998 abgehaltene Symposium "Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das Technische Zeitalter" des Internationalen Wissenschaftsforums Heidelberg eine sehr ausgewogene Verteilung der Beiträge; im übrigen ist eine historisch-kritische Ausgabe der von Jünger in den zwanziger und dreißiger Jahren veröffentlichten Aufsätze in Vorbereitung. 2 Gemeint ist Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 19181932, Stuttgart 1950, die zum Handbuch erweitert wurde (Darmstadt 1972) und die Mohler schließlich in einer dritten Version veröffentlichte, um einen Ergänzungs-
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Geschichtsschreibung eingeführt worden. Vielfach als irreführend kritisiert, konnte der Terminus doch seine Stellung behaupten und dient bis jetzt zur Charakterisierung jener geistig-politischen Bewegung, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert viele hervorragende Köpfe der Zeit erfaßte und insbesondere zwischen den Kriegen eine einflußreiche Rolle spielte. Während die Konservative Revolution noch in den siebziger und frühen achtziger Jahren fast durchgängig als "prä-" oder "protofaschistisch"3 betrachtet und in bezug auf ihre Ideen dilatorisch behandelt wurde, gibt es heute eine neue Aufmerksamkeit gerade für diese Ideen. Das geht nur zum Teil auf die Sorge vor einer Wiederbelebung konservativ-revolutionärer Vorstellungen in Gestalt der "Neuen Rechten" zurück4 , ist vielmehr auf die erwachende Aufmerksamkeit für eine bemerkenswerte politische und kulturelle Konzeption zurückzuführen, deren Kritik der Modeme, des Liberalismus und der Demokratie trotz der Mängel der angebotenen Alternativen immer noch eindrucksvoll wirkt. Beginnen wir mit jenen Untersuchungen, die den ganzen Komplex neu erfassen wollen, wird man besonders die Arbeiten von Stefan Breuer und Rolf Peter Sieferle heranziehen müssen. Breuer hat schon 1993 ein Buch unter dem Titel Anatomie der Konservativen Revolution5 veröffentlicht, das band mit Auswahlbibliographie und eine Zusammenfassung neuerer Forschungsansätze erweitert (Darmstadt 1989). Vom Hauptband mit Darstellung und Bibliographie von 1972 erschien außerdem eine Studienausgabe, die mittlerweile vollständig vergriffen ist. Für 1999 ist ein Nachdruck geplant. 3 Vgl. Helga Grebing: Preußen-Deutschland - die "verspätete Nation"?, in: dieselbe (Hrsg.): Der "deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1986, 76-137, hier S. 134. 4 Als Beispiel für eine relativ seriöse Beschäftigung mit diesem Zusammenhang Hans-Gerd Jaschke: Nationalismus und Ethnopluralismus. Zum Wiederaufleben von Ideen der "Konservativen Revolution", in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3-4/ 10. Januar 1992, S. 3-10; ders. : Politische Richtungsbegriffe im Wandel: Neue Linke, Neue Rechte - Gibt es auch eine Neue Mitte?, in: Bemd Guggenberger/ Klaus Hansen (Hrsg.): Die Mitte. Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1993, S. 55-73. Wenigstens als Negativbeispiele für die Neigung, Verschwörungstheorien aufzusitzen und ideologiegeschichtliche Kunschlüsse zu produzieren, die nur politischen Zielen dienen: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen: Konservative Revolution- wieder aktuell?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 45 (1994) 6, S. 395401; Friedbert Pflüger: Deutschland driftet. Die Konservative Revolution entdeckt ihrre Kinder, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1994; Helmut Kellershohn (Hrsg.): Das Plagiat. Der völkische Nationalismus der Jungen Freiheit, Duisburg 1994; Wolfgang Gessenharter: Kippt die Republik? Die Neue Rechte und ihre Unterstützung durch Politik und Medien, München 1994; Mark Terkessidis: Kulturkampf: Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte, Köln 1995. Besonders unerquicklich auch die Versuche, postum die Verfassungsfeindlichkeit der Konservativen Revolution nachzuweisen bei Armin Pfahl-Traughber: Konservative Revolution und Neue Rechte. Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den Verfassungsstaat, Opladen 1998.
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die wohl umfassendste Auseinandersetzung mit Mohlers Ansatz darstellt und darüberhinaus eine alternative Interpretation anzubieten sucht. Breuer akzeptiert vorläufig Mohlers Begrifflichkeit und auch die von ihm später formulierten Vorbehalte6 gegen die Unterteilung der Träger der Konservativen Revolution in fünf Hauptgruppen: Völkische, Jungkonservative, Bündische, Nationalrevolutionäre, Landvolk. Er konzentriert sich dann auf den Kernbereich, der eigentlich nur die Jungkonservativen (vor allem Max Hildebert Boehm, Ernst Forsthoff, Hans Freyer, Heinrich von Gleichen, Albrecht Erich Günther, Edgar J. Jung, Artbur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Oswald Spengler, Wilhelm Stapel, Hans Zehrer und die anderen Autoren des Tat-Kreises) und die Nationalrevolutionäre (vor allem Helmut Franke, Friedrich Hielscher, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch, Franz Schauwecker) umfaßte. Damit endet allerdings die Übereinstimmung, im folgenden formuliert Breuer drei grundsätzliche Einwände gegen Mohlers Differenzierung und entwickelt auf zweihundert Seiten seine gegenläufige Argumentation: (1) Unter Hinweis auf die große Konservativismus-Studie von Panajotis Kondylis7 bestreitet Breuer, daß die Konservative Revolution im eigentlichen Sinne "konservativ" genannt werden könne: hier handelte es sich um "ein Ensemble von Orientierungsversuchen und Suchbewegungen in der Moderne, die zwar dem von Aufklärung und Liberalismus geprägten mainstream opponieren, dabei aber so tief von dem für die Moderne typischen Voluntarismus und Ästhetizismus durchdrungen sind, daß von Konservatismus im historisch-spezifischen Sinne keine Rede mehr sein kann."8
(2) Die auch von Mohler bemerkte weltanschauliche Heterogenität der Konservativen Revolution sei folgenreicher als Mohler eingestehen wollte. Es gebe zwar so etwas wie eine "Generationeneinheit"9 , da die meisten Jungkonservativen und Nationalrevolutionäre Kriegsteilnehmer waren, das allein genüge aber nicht, um die Zusammengehörigkeit im Sinne einer kohärenten Weltanschauung zu behaupten. Die von Mohler vertretene Ansicht, daß eine gemeinsame "Mentalität", vermittelt durch Nietzsches Gedanken der "ewigen Wiederkehr", die Protagonisten der Konservativen Revolution verbunden habe, lasse sich nicht nachweisen. Was tatsächlich deren Mentalität prägte - eine "Kombination von Apokalyptik, GewaltbeStefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Vgl. Armin Mohler: Das Buch "Die konservative [sie!] Revolution in Deutschland" drei Jahrzehnte später, in: Revue d'Allemagne 14 (1982), S. 161-164. 7 Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, vgl. bes. S. 447, 469. 8 Breuer: Anatomie (wie Anm. 5), S. 5. 9 Ebenda, S. 33. 5
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reitschaft und Männerbündlertum'" 0 -, sei nicht nur für die Konservative Revolution, sondern für die gesamte radikale Rechte der Weimarer Republik typisch gewesen und insofern als Kriterium für die Existenz einer selbständigen "Doktrinärideologie" 11 ungeeignet. (3) Dieses Ergebnis sieht Breuer auch nach der Analyse einzelner Themenfelder, die die Konservative Revolution besonders beschäftigt haben (Feindbestimmung, Wirtschaftsordnung, Einstellung zur Technik, Nation Volk- Rasse, Herrschaft und Reich) und der Klärung von konkreten politischen Beurteilungen durch die der Konservativen Revolution zugerechneten Intellektuellen (Haltung gegenüber den Parteien der Rechten nach dem Ende der Monarchie, Einschätzung des Faschismus in Italien, des Nationalsozialismus und der Sowjetunion, Bewertung der Präsidialkabinette in der Endphase der Weimarer Republik, Positionen während des Dritten Reiches) bestätigt: "Ein Kernbestand politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Überzeugungen, der nur den Autoren der Konservativen Revolution eigen wäre und sie von anderen Richtungen unterschiede, ist nicht auszumachen. [. .. ] Es führt kein Weg daran vorbei: ,Konservative Revolution' ist ein unhaltbarer Begriff, der mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Er sollte deshalb aus der Liste der politischen Strömungen des 20. Jh. gestrichen werden." 12 Überraschenderweise bleibt Breuer nicht bei diesem negativen Befund stehen. Er schlägt vielmehr vor, die bisher als jungkonservativ oder nationalrevolutionär verstandenen Gruppen innerhalb der Konservative Revolution als Strömungen des "neuen Nationalismus" zu begreifen. Dieser neue Nationalismus war nach Meinung Breuers im wesentlichen bestimmt durch sein "holistisches" 13 Verständnis der Nation, seinen revolutionären, aber antijakobinischen Charakter, eine kriegerische Akzentuierung ohne imperialistische Absicht: "Hätte der neue Nationalismus und nicht der Nationalsozialismus in Deutschland gesiegt, so wäre daraus wohl ein nach innen diktatorisches und nach außen scharf revisionistisches Regime entstanden, doch wäre die objektive Möglichkeit größer gewesen, daß dem europäischen Judentum die Hölle des Holocaust und der übrigen Welt die des Zweiten Weltkrieges erspart geblieben wäre." 14 Die deutliche Trennung zwischen dem "neuen Nationalismus" und dem Nationalsozialismus hat Breuer mit seiner jüngsten Arbeit relativiert. In Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 48. 12 Ebenda, S. 181. 13 Ebenda, S. 187. 14 Ebenda, S. 194. Auf eine detaillierte Kritik dieser Vorstellung muß hier verzichtet werden, vgl. dazu Karlheinz We!ßmann: Gab es eine Konservative Revolution? Zur Auseinandersetzung um das neue Buch von Stefan Breuer, in: Jahrbuch zur Konservativen Revolution 1 (1994), S. 313-326. 10
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dem Buch Grundpositionen der deutschen Rechten (1871-1945) entwickelt er die Auffassung, daß die intellektuelle Rechte neben dem "neuen Nationalismus" noch drei weitere Denkfamilien gekannt habe: die der "ästhetischen Fundamentalisten" - dem Thema hatte Breuer schon eine umfassende Untersuchung am Beispiel des George-Kreises gewidmet 15 -, die der "Neoaristokraten" und die der "planetarischen Imperialisten"; die "Völkischen" betrachtet Breuer als "Hybride" 16, das heißt als im Grunde unselbständige und in sich auch gar nicht lebensfähige Gattung rechter Ideologie. Man kann an dieser Stelle die eigentliche Fruchtbarkeit von Breuers Ansatz erkennen, der es ihm aufgrund der Orientierung an Max Webers "Idealtypus" erlaubt, ein Bild der jeweiligen Position zu entwerfen, ohne sich von den konkreten Ausformungen der Weltanschauung und den Abweichungen vom Normalschema beirren zu lassen: So lehnt er es grundsätzlich ab, die Völkischen einfach als Nationalisten zu betrachten oder sie den Antisemiten zu subsumieren, selbst der "Rasse"-Begriff ist - nach Breuer - in ihren Reihen so unklar gewesen, daß man sich scheue, darin das ausschlaggebende Motiv ihres Denkens zu sehen. Gesteht man Breuer eine deutlich über das zu erwartende Maß hinausgehende Sachlichkeit im Umgang mit der Materie zu, wird man doch die soziologische Methode im Fall der Anatomie wie im Fall der Grundpositionen als ernstes Hindernis für das Verständnis der Konservativen Revolution betrachten müssen. Die ahistorische Betrachtungsweise löscht den Hintergrund der ideologischen Entwicklung aus und verleitet überhaupt zu einer Unterschätzung des Zusammenspiels von konkreter politischer Herausforderung und Weltanschauung. Nur am Rande sei vermerkt, daß bei Breuer auch undeutlich bleibt, was im Denken der rechten Intelligenz nur Literatur war - das gilt vor allem im Bereich des "ästhetischen Fundamentalismus" und der "Neoaristokraten" - und was als Programm gedacht wurde. Daher ergeben sich auch Verzeichnungen in der Beziehung zwischen den Nationalsozialisten und der "Rechten", obwohl die Verbindungen und die Differenzen in Breuers neuem Buch wesentlich klarer als in der Anatomie herausgearbeitet sind. Um wieviel fruchtbarer als die Soziologie die Geistes- und Ideengeschichte genutzt werden kann, um die Konservative Revolution zu begreifen, ist Sieferles fünf "biographischen Skizzen" 17 - über Paul Lensch, 15 Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Dannstadt 1995. 16 Stefan Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten (1871-1945), Historische Einführungen, Bd. 2, Tübingen 1999. 17 Ralf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a. M. 1995. Wichtige Vorstudien zu diesem Buch finden sich in derselbe: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis
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Wemer Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger und Hans Freyer - zu entnehmen. Anders als Breuer akzeptiert Sieferle den Begriff Konservative Revolution, der ein "symbolisches Feld'" 8 beschreibe, das von folgenden Positionen bestimmt werde: dem völkischen Komplex (der Vorstellung vom unüberbietbaren Wert der eigenen Nation), dem National-Sozialismus (dem Entwurf eines "geschlossenen Handelsstaates" zur Aussöhnung der Klassen und zum Zweck der Effizienzsteigerung der "Volksgemeinschaft"), der national-revolutionären Konzeption (ein nach der deutschen Niederlage von 1918119 in Varianten entwickelter Plan für das Bündnis des Reiches mit allen unterdrückten Nationen gegen die Siegermächte), dem aktivistischen Vitalismus (die vor allem in den Männerbünden des Nachkriegs zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach Aufhebung der Vereinzelung durch neue kämpferische "Gemeinschaften") und der biologisch-naturalistischen Vorstellung (die Interpretation der Geschichte als Folge von Rassenkämpfen). Sieferle weist auf Übereinstimmungen dieses "symbolischen Feldes" mit Faschismus und Nationalsozialismus hin, besteht aber wie Breuer darauf, daß die Konservative Revolution in diesen anderen Bewegungen nicht aufging und ihnen auch nicht zugeschlagen werden kann. Der Vorbehalt Sieferles gegenüber Gleichschaltungen macht sich weiter in der Akribie bemerkbar, die er auf die Darstellung der von ihm ausgewählten Protagonisten der Konservativen Revolution verwendet hat. Er zeichnet die Wandlungen und den unwandelbaren Kern in den Anschauungen von Lensch, Sombart, Spengler, Jünger und Freyer nach. Jeder der fünf vertrat eines der oben genannten weltanschaulichen Elemente in besonders großem, andere in geringerem Maß. Eine Ausnahme bildete nur der biologisch-naturalistische Komplex. Hier hat Sieferle nicht den Weg über eine Person, sondern über eine systematische Darstellung gewählt. In einem den Band abschließenden Essay setzt er sich mit der Beziehung von "Modernität, Technokratie und Nationalsozialismus" auseinander. Hatte er schon einleitend darauf hingewiesen, daß die Konservative Revolution keinen reaktionären Gehalt besaß, sondern eine - um den liberalen Individualismus bereinigte und den revolutionären Universalismus bekämpfende - "andere Modeme" wollte, so bestimmt Sieferle das NS-Regime jetzt als eine weitere "alternative" Möglichkeit zur Durchsetzung der lndustriegesellschaft, nur überraschend schwach geprägt von den Zielvorstellungen der Blut-undBoden-Propaganda, eher von fordistischen und tayloristischen Konzepten zur Gegenwart, München 1984; derselbe: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt a. M. 1989; derselbe: Der deutsch-englische Gegensatz und die "Ideen von 1914", in: Gottfried Niedhart (Hrsg.): Das kontinentale Europa und die britischen Inseln, Mannheim 1993, S. 139-160; derselbe: Die Konservative Revolution und das "Dritte Reich", in: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt a.M. 1992, S. 178-205. 18 Sieferle: Die Konservative Revolution (wie Anm. 17), S. 7.
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sowie der Idee eines "braunen Wohlfahrtsstaates", in dem die "Volksgenossen" eine "Chancengleichheit" besessen hätten, die allerdings den "Artfremden" konsequent vorenthalten worden sei. Stärker als der Arbeit Breuers ist der Sieferles ihre Unbefangenheit zum Vorwurf gemacht worden, der "Historismus" in der Darstellung, die Konzentration auf die "innere Logik" 19 der behandelten Ideologien. Aber erst diese neue Sachlichkeit macht es möglich, die Konservative Revolution in ihre geschichtliche Dimension einzurücken und ihre fortdauernde Bedeutung zu erkennen. Trotz der Versuche, die Thematisierung bloß unter Wahrung der Gesichtspunkte politischer und ideologischer Korrektheit zu dulden, ist mittlerweile eine gewisse Entspannung bemerkbar, wenn es um die Auseinandersetzung mit diesem Sachgebiet geht. Das merkt man auch den Arbeiten von Axel Schildt an, den man der "Bielefelder Schule" zurechnen muß, und der sich in seiner Geschichte des deutschen Konservatismus, aber vor allem in einem interessanten Aufsatz über die "Neue Rechte" der Wilhelminischen Zeit mit der Konservativen Revolution beschäftigt hat20 . Damit ist der Rahmen der monographischen Erfassung des Gesamtphänomens aber schon verlassen. Schildt kann viele Themen nur andeutungsweise behandeln und die Grenzen nicht überschreiten, die ihm durch die gewählte Art der Darstellung gezogen werden. Eine Abwertung der essayistischen Bemühung ist damit nicht gemeint. Vielmehr sei ausdrücklich zugebilligt, daß gerade die "kleine Form" oft Zugänge bietet, die in der größeren leicht verlorengehen. Man sieht das etwa an den wichtigen und aufschlußreichen Beiträgen von Ernst Nolte, der nicht nur im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu Faschismus und Nationalsozialismus dem Thema Konservative Revolution begegnete, sondern sich im Kontext seiner Arbeiten zum Nietzscheanismus, zum "Geschichtsdenken" und zur Philosophie Heideggers 21 direkt oder indirekt damit auseinandersetzen 19 Kurt Sontheimer: Die innere Logik, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. August 1996. Noch polemischer Rudolf Walther: Im Blickfeld, in: Frankfurter Rundschau vom 19. Februar 1996; Walther schreibt abschließend: "Aber die Jury, die Sieferles Buch in die Sachbuch-Bestenliste der ,Süddeutschen Zeitung' hochlobte, sollte gelegentlich über ihre Aufgabe und Funktion ebenso nachdenken wie das Lektorat des Fischer-Verlages, wo das Machwerk erschienen ist." 20 Axel Schildt: Radikale Antworten von rechts auf die Kulturkrise der Jahrhundertwende. Zur Herausbildung und Entwicklung der Ideologie einer "Neuen Rechten" in der Wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4 (1995), S. 63- 87; und derselbe: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. 21 Ernst Nolte: Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt a. M./Berlin 1990, derselbe: Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert; Frankfurt a. M./Berlin 1991; derselbe: Martin Heidegger, Berlin 1992, zuletzt auch derselbe: Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte, München/Zürich 1998. Für unseren Zusammenhang aufschlußreich die polemischen Besprechungen der Bände über Hei-
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mußte22. Auf einem vergleichbaren Niveau findet eine Auseinandersetzung mit der Konservativen Revolution sonst nur selten statt23 , während der Grad der Intensität durchaus zu steigern ist. Unter den zahlreichen Schriften polemischer Geister, die sich mit der Konservativen Revolution (und ihrer möglicherweise fortbestehenden Virulenz) auseinandersetzen, seien hier wenigstens die von Richard Herzinger erwähnt24, der sich zwar nicht immer mit dem notwendigen Differenzierungsvermögen, aber dafür mit gehöriger Verve zum Thema äußert. Was Herzinger im Gegensatz zu vielen anderen zugebilligt werden muß, ist Kenntnis der Materie, mit der er sich beschäftigt. Sich solche Kenntnis zu verschaffen, wird heute weniger durch eine unzureichende Zahl von Einzeluntersuchungen erschwert, als durch die ausufernde Menge von Publikationen, die erscheint und vom einzelnen kaum mehr überblickt werden kann. Da es in Deutschland nichts gibt, was der französischen, von Louis Dupeux ins Leben gerufenen, Graupe d'Etude de Ia Revolution Conservatrice25 gleichkäme und auch der Versuch, wenigstens auf privater Basis ein degger und die "historische Existenz" durch Breuer in den Ausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. September 1992 und vom 6. Oktober 1998. 22 Ernst Nolte: Martin Heidegger und die "Konservative Revolution", in: Mut Nr. 301/September 1992, S. 42-51; eine ausführlichere und inhaltlich etwas veränderte Version unter dem Titel: Martin Heidegger, die Weimarer Republik und die "Konservative Revolution", in: Michael Großheim/Hans-Joachim Waschkies (Hrsg.): Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 505520. 23 Als Beispiel seien hier nur die Überlegungen eines Autors genannt, der sich allerdings mit unserem Thema im engeren Sinn nur am Rand beschäftigt: HansChristo! Kraus: Altkonservativismus und moderne politische Rechte. Zum Problem der Kontinuität rechter politischer Strömungen in Deutschland, in: Thomas Nipperdey!Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antwort an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag, Berlin 1993, S. 99-121. 24 Als eine Art "Generalangrifr' ist zu werten Richard Herzinger/ Hannes Stein: Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek bei Harnburg 1995; eine frühe Fassung seiner Grundthese in Richard Herzinger: Das aktive Nichts. Die konservative [sie!] Revolution und die "deutsche Übermodeme", in: Frankfurter Rundschau vom 12. Februar 1994; zuletzt derselbe: Deus absconditus im Feuerschein der Explosion. Mystische Elemente im Denken der Konservativen Revolution, in: Bettina Gruber (Hrsg.): Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Modeme, Opladen 1997, S. 67-81. 25 Die Gruppe hat zwei Tagungsbände zu den Themen "Kulturpessimismus, Konservative Revolution und Modernität" sowie "Konservative Revolution und Nationalsozialismus" veröffentlicht, die als Ausgaben der Revue d' Allemagne 14 (1982) 1 und 16 (1984) 3 erschienen; eine revidierte, beide Bände zusammenfassende Ausgabe wurde publiziert als Louis Dupeux (Hrsg.): La Revolution Conservatrice dans I' Allemagne de Weimar, Paris 1992.
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Jahrbuch zur Konservativen Revolution mit der unbedingt notwendigen Bibliographie erscheinen zu lassen, scheiterte26, bleiben auf absehbare Zeit nur Aushilfen. Die können vor allem dann gelingen, wenn eine ganze Zahl kompetenter Autoren um ein Projekt versammelt wird, das sich die systematische Bearbeitung eines größeren Themenkomplexes aus dem Bereich der Konservativen Revolution zum Ziel setzt. Ein Vorbild für diese Methode ist in vieler - nicht in jeder - Hinsicht das von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht herausgegebene Handbuch der völkischen Bewegunl1 . Hier stehen neben einführenden Aufsätzen und Spezialuntersuchungen lexikalische Artikel, in denen vor allem der biographische Hintergrund vieler Protagonisten weiter ausgeleuchtet wird28. Für die Völkischen, die schon Mohler mit deutlicher Geringschätzigkeit behandelt hat, gibt es seit längerem ein wachsendes Interesse. Das mag einerseits an der Fremdartigkeit vieler Vorstellungen liegen, hat aber wohl auch mit der lange verdrängten Modernität dieser Strömung zu tun. Noch eher in den Bereich der Gesamtdarstellungen zur Geschichte des deutschen Nationalismus gehört der bereits 1988 erschienene Band des Germanisten Jost Herrnand Der alte Traum vom neuen Reich29 . Wesentlich näher an das Zentrum der völkischen Weltanschauung führen dagegen neuere Arbeiten zum Verschwörungsmythos 30, zum Antisemitismus31 und dem Einfluß der 26 Jahrbuch zur Konservativen Revolution 1 (1994), Köln 1994; mehr nicht erschienen. 27 Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch der völkischen Bewegung 1871-1918, München 1996. 28 Biographische Studien über einzelne Völkische sind immer noch selten; interessante Ausnahmen bilden Norbert Borrmann: Paul Schultze-Naumburg. Maler Publizist- Architekt, Essen 1989 und der Sammelband Kay Dohnke (Hrsg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit: von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat, Heide 1997. 29 lost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988; jetzt als Neuauflage Weinheim 1995. Problematisch sind vor allem die Konstruktionen von "Ahnenketten" durch den Autor. 30 Armin Pfahl-Traughber: Der antisemitisch-antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat, Wien 1993. Die Arbeit kann allerdings in ihrer analytischen Kraft nicht verglichen werden mit dem "Klassiker" von Norman Cohn: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, Köln/Berlin 1969; eine Neuausgabe Baden-Baden 1998. 31 Auf diesem Gebiet gibt es eine sehr große Zahl von Neuerscheinungen. Für unseren Zusammenhang sind von besonderem Interesse Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988 und Stefan Scheil: Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912, Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 107, Berlin 1999. Aufschlußreich auch die biographische Studie von Moshe Zimmermann: Wilhelm Marr. The Patriarch of Anti-Semitism, New York/Oxford 1986.
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Rassentheorie 32 bzw. des Sozialdarwinismus33. Ein Gegenstand zunehmenden Neugier sind außerdem die aus diesem Bereich stammenden Versuche zur Schaffung neuer Religionen. Neben mehreren Überblicksdarstellungen34, die dazu in den letzten Jahren publiziert wurden, gibt es mittlerweile auch eine ganze Reihe von Untersuchungen 35 , die Detailprobleme -hervorzuheben ist unbedingt die deutsche Übersetzung des grundlegenden Werkes zur Ariosophie von Niebolas Goodrick-Clarke36 - oder einzelne Personen37 behandeln. 32 Sehr aufschlußreich zum Ursprung der Rassenideologien die Arbeiten von zwei französischen Autoren: Michel Umonon: La diffusion en Allemagne des idees de Gobineau sur Ies races, in: Marcel Crouzet (Hrsg.): Arthur de Gobineau cent ans apres 1882-1982, Paris 1990, S. 11-21; Maurice Olender: Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./ New York 1995; als völlig unbrauchbar kann betrachtet werden Detlev Claussen: Was heißt Rassismus?, Darmstadt 1994. 33 Sehr interessant für den Gesamtzusammenhang ein ursprünglich als Ausstellungskatalog erschienener Band von Bodo-Michael Baumunk/Jürgen Riess (Hrsg.): Darwin und Darwinismus. Eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums, Berlin 1994; grundlegend auch Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur (wie Anm. 17). Stärker auf den Spezialbereich der praktischen "Rassenhygiene" ausgerichtet sind die Untersuchungen von David J. Kevles: In the name of eugenics. Genetics and the uses of human heredity, New York 1985 und Jean-Paul Thomas: Les fondements de l'eugenisme, Paris 1995; die überblicksartige Darstellung für den deutschen Bereich stammt von Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene, Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, hat aber ihre Grenzen. Dasselbe gilt sinngemäß für Peter E. Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart/New York 1990; derselbe: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und völkischer Gedanke, Stuttgart/New York 1990; Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1997. Für einen Seitenstrang der Entwicklung - den Linksdarwinismus - aufschlußreich die Arbeiten von Michael Schwartz: "Proletarier" und "Lumpen". Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 537-570, und derselbe: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995. Beachtenswert auch die biographischen Arbeiten von Niets C. Lösch: Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers, Frankfurt a.M. 1996; Matthias M. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin 1993; Peter Weingart: Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand C1auss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt a. M./New York 1995. 34 Stefanie von Schnurbein: Religion als Kulturkritik, Heidelberg 1993 und dieselbe: Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus, München 1993. Ziemlich enttäuschend demgegenüber die Aufsatzsammlung des akademischen Lehrers von S. Klaus von See: Barbar - Germane - Arier, Heidelberg 1994. 35 Ulrich Nanko: Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993. 36 Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz/Stuttgart 1997; zum Zusammenhang Okkultismus - völkische Esoterik -
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Die eminente Bedeutung der religiösen Fragestellung zeigt nicht nur, daß die Völkischen überhaupt die älteste Schicht der Konservativen Revolution repräsentieren, sie weist auch auf den engen Zusammenhang mit der allgemeinen zivilisationskritischen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts hin. Zwar gab es angesichts des nahenden Milleniums eine gewisse Aufmerksamkeit auch für das Verfallsempfinden und die chiliastischen Hoffnungen der letzten Jahrhundertwende, aber zu wesentlichen Einsichten hat die neue Art der "Kulturgeschichtsschreibung" bisher kaum geführt38 . So sind die Schlüsselbegriffe "Dekadenz" und "Regeneration" merkwürdigerweise bisher noch nicht zum Gegenstand einer eingehenden Analyse gemacht worden. 39 Dagegen liegen eine Reihe von Arbeiten vor, die die Propheten des Neuen, vor allem Wagner40 und Nietzsche41 , betreffen, und NSDAP auch sehr aufschlußreich Detlev Rose: Die ThuJe-Gesellschaft. Legende Mythos - Wirklichkeit, Tübingen 1994. Eine außerordentlich kenntnisreiche Darstellung des Forschungsstandes auf diesem vertrackten Gebiet findet man an abgelegener Stelle bei Hans Thomas Hakl: Nationalsozialismus und Okkultismus, in: Gnosis 1 (Januar 1997), S. 32- 42, 1 (April 1997), S. 26- 36, 1 (Juli 1997), S. 22- 37. 37 Vorbildlich in ihrer Präzision Ekkehard Hieronimus: Lanz von Liebenfels. Eine Bibliographie, Toppenstedt 1991. Entgegen dem Untertitel enthält der Band auch eine biographischen Abriß von immerhin sechzehn Seiten Umfang. 38 Zu den vielen verschiedenen Facetten vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Olaf Blaschkel Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.): Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Religiöse Kulturen der Modeme, Bd 2, Gütersloh 1996; Volker Drehsen/Walter Spam (Hrsg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996. Interessant für diesen Zusammenhang der aus Anlaß des hundertsten Gründungstags des Diederichs-Verlags erschienene Sammelband von Gangolf Bübinger (Hrsg.): Versammlungsort moderner Geister, München 1996; außerdem auch Erich Viehöfer: Der Verleger als Organisator. Bugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1988. 39 Was hier erwartet werden könnte, zeigt die exzellente Arbeit von Thomas Rohkrämer: Eine andere Modeme? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderbom/München/Wien/Zürich 1999. Interessante Einblicke vermittelt auch Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998. 40 Andrea Mork: Richard Wagner als politischer Schriftsteller. Weltanschauung und Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. - New York 1990; Peter Peil: Die Krise des neuzeitlichen Menschen im Werk Richard Wagners, Köln/Wien 1990; Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a. M. 1994. 41 Aus der Flut der Veröffentlichtungen über Nietzsche seien hier nur genannt Hubert Cancik: Der Nietzsche-Kult in Weimar. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der Wilhelminischen Ära, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 405-429; Giorgio Penzo: Der Mythos vom Übermenschen. Nietzsche und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1992; herausragend: Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart/Weimar 1996. Für den Zusammenhang außerdem von Interesse Federico Vercellone: Einführung in den Nihilismus, München 1998. 9 Schrenck-N01zmg
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insofern auch ein Licht auf diese wichtigen Ahnherrn der Konservativen Revolution werfen. Anders als im Fall der Völkischen scheint das Interesse für das aufrührerische Landvolk weitgehend erloschen und das für die Jugendbewegung deutlich abgeschwächt42 . Das hängt wohl auch damit zusammen, daß die in den siebziger Jahren besonders auffälligen Parallelen zur Alternativ- und Ökologiebewegung der Zeit an Bedeutung verloren haben. Bezeichnend ist jedenfalls die Tatsache, daß das vom Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein herausgegebene Jahrbuch vorläufig mit dem Band 17 I 1988-92 seinen Abschluß gefunden hat43 und ein Band 18 erst für 1999 angekündigt werden konnte. Wesentlich vitaler zeigt sich dagegen die Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, die von dem Archivleiter Winfried Mogge herausgegeben wird und mittlerweile zehn Monographien umfaßt, die einzelnen Themen aus der Geschichte von Wandervogel, Freideutschen und Bündischen gewidmet wurden. Die Arbeiten sind von unterschiedlicher Qualität, zeichnen sich aber im allgemeinen durch ein gutes Niveau der Darstellung aus. Angesichts der Konzentration auf ihre geistes- und ideengeschichtliche Bedeutung fehlt oft das Bewußtsein für den Zusammenhang der Konservativen Revolution mit den politischen Organisationen des Nationalismus während der Wilhelminischen Zeit und der politischen Rechten in der Weimarer Republik. Wichtige Aufschlüsse für das zuerst genannte Thema enthalten die Aufsätze des anglo-amerikanischen Historikers Geoff Eley, der aus einer dezidiert linken, aber vor allem der Sonderweg-These kritisch gegenüberstehenden, Sicht der Dinge die Entwicklung, die Differenzen und Übereinstimmungen zwischen der "alten" und der "neuen" Rechten untersucht hat44 • Neueren Arbeiten über einzelne Verbände und Parteien45 sind weiter 42 Unter der sowieso schon kleinen Zahl von Monographien sei hier nur hingewiesen auf Joachim Knoll/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988; und Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913-1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster 1991. 43 Besonders hervorzuheben sind hier die Bände 2: lnntraud Götz von Olenhusen: Jugendreich - Gottesreich - Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928-1933, Köln 1984, 3: Matthias von Hellfeld: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand, Köln 1987, 5: Winfried Mogge/Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, und 6: Gudrun Fiedler: Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung. Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914-1923, Köln 1989. 44 Geoff Eley: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991 45 Michael Peters: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwil-
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Analysen zur Seite zu stellen, die sich mit dem Einfluß der Konservativen Revolution auf die "Medien", vor allem die Verlage, beschäftigen46 ; herausragende Bedeutung kommt dabei der detaillierten und sehr aufschlußreichen Arbeit von Siegfried Lokatis über die Hanseatische Verlagsanstalt zu 47. In diesem ganzen Bereich übten die Jungkonservativen den größten Einfluß aus. Während es bisher nur eine neuere - von dem japanischen Historiker Yuji Ishida stammende - Darstellung des Gesamtthemas gibt48 , existieren doch zahlreiche Arbeiten, die sich mit führenden Köpfen dieses Lagers beschäftigen49 • Besonders hervorzuheben sind dabei die in den letzten Jahren erschienenen - teilweise biographischen, teilweise an den Vorstellungen der betreffenden orientierten - Studien über Spengler50, Somhelminisehen Deutschland, Frankfurt a. M. 1992; Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997; Christian F. Trippe: Konservative Verfassungspolitik 1918-1923, Düsseldorf 1996; Ame Hofmann: "Wir sind das alte Deutschland, Das Deutschland wie es war .. .". Der "Bund der Aufrechten" und der Monarchismus in der Weimarer Republik, Moderne Geschichte und Politik, Bd. II, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998. 46 Andreas Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands in der Endphase der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1989. 47 Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im "Dritten Reich", Frankfurt a. M. 1992. 48 Yuji lshida: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt a.M. 1988. In diesem Zusammenhang auch heranzuziehen ist Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, Bd. 11, Heidelberg 1998 sowie Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918-1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung, Asehau 1999. 49 Larry Eugene Jones: Edgar Julius Jung: The Conservative Revolution in Theory and Practice, in: Centrat European History 21 (1988), S. 142-174; Axel Schildt: Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874-1963), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), S. 523-570; ein Sonderbereich sind die evangelischen Theologen, die den Jungkonservativen zugerechnet werden können, wie etwa Emanuel Hirsch, über den ein interessanter Sammelband erschien - Joachim Ringleben (Hrsg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin 1991, Hans Asmussen- Wolfgang Lehmann: Hans Asmussen. Ein Leben für die Kirche, Göttingen 1988, und Friedrich Gogarten, dem eine umfassende Arbeit gewidmet wurde: Matthias Kröger: Friedrich Gogarten. Leben und Werk in zeitgeschichtlicher Perspektive, Stuttgart 1997. 50 Deflef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988. Unter den über Spengler publizierten Aufsätzen seien ausdrücklich genannt: Clemens Vollnhals: Oswald Spengler und der Nationalsozialismus. Das Dilemma eines konservativen Revolutionärs, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte [Tel Aviv] 13 (1984), S. 263-303, und Manfred Thöndl: 9*
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bart51 , Freye~ 2 , Jung53 , den Theoretiker der Geopolitik Karl Haushofer54 und den Staatsrechtslehrer Ernst Rudolf Huber55 ; am Rande sei darauf hingewiesen, daß es wenigstens schüchterne Versuche gibt, einen Mann wie Walther Rathenau vom Klischee des Linksliberalen zu befreien und seinen eigentlichen Geistesverwandten wieder näher zu bringen56 • Das führt gleich weiter zu einem Thema, das seit geraumer Zeit besondere Aufmerksamkeit findet: die Rolle der jüdischen Vertreter der Jungkonservativen, zu denen man neben Rudolf Borchardt57 und Ernst Kantorowicz58 auch den HistoriDas Politikbild von Oswald Spengler (1880-1936) mit einer Ortsbestimmung seines politischen Urteils über Hitler und Mussolini, in: Zeitschrift für Politik NF 40 (1993), S. 418-443; derselbe: Die Rezeption Oswald Spenglers in Italien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 73 (1993), S. 572-615. Für den Zusammenhang ist außerdem von Interesse Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler. Berlin 1997. 51 Friedrich Lenger: Werner Sambart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994. 52 Jerry Z. Muller: The other God that failed. Hans Fn:yer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987; Elfriede Uner: Soziologie als "geistige Bewegung". Hans Freyers System der Soziologie und die "Leipziger Schule", Weinheim 1992. 53 Helmut Jahnke: Edgar Julius Jung, Pfaffenweiler 1999. 54 Frank Ebeling: Geopolitik. Kar! Haushafer und seine Raumwissenschaft, Berlin 1994. 55 Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1997. 56 Vgl. Johannes Mikuteit: Der Parlamentarismus im Urteil von Walther Rathenau, in: Der Staat 36 (1997), S. 95-117. 57 Ernst Osterkamp: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin 1997. Interessante Aspekte auch bei Gerhard Schuster: Wie auf Fittichen über das Rauheste. Zum fünfzigsten Todestag von Rudolf Borchardt: Auskünfte über sein letztes Lebensjahr aus neuen Quellen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Januar 1995. 58 Es existieren mehrere Sammelbände über Kantorowicz, von denen Walter Seitter (Hrsg.): Kantorowicz, Tumult 16, eher als Vorform zu betrachten ist. Robert L Benson/Johannes Fried (Hrsg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton/Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt; Stuttgart 1997; Jerzy Strzelczyk (Hrsg.): Ernst Kantorowicz (1895-1963). Soziales Milieu und wissenschaftliche Relevanz, Posen 1996; sehr phantasievoll, aber in den Fakten wenig verläßlich die Monographie von Alain Boureau: Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, Stuttgart 1992; aufschlußreich der Aufsatz von Ralph E. Giesey: Ernst H. Kantorowicz: Scholary Triumphs and Academic Travails in Weimar Germany and the United States, in: Leo Baeck Institute Yearbook 30 (1985), S. 191-202; grundlegend nach wie vor die exzellente Arbeit von Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk "Kaiser Friedrich der Zweite", Wiesbaden 1982; Ergänzungen in derselbe: Biographisches Nachwort, in: Ernst H. Kanotorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Stuttgart 1994, S. 353-373. Einen gu-
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ker Arnold Berney59 rechnen muß; über sie alle sind in den letzten Jahren Monographien publiziert worden, während eine so wichtige Figur wie Hans-Joachim Schoeps60 bisher kaum behandelt wurde. Jedem, der sich mit der Konservativen Revolution intensiver beschäftigt, wird klar, daß eine präzise Abgrenzung ihrer einzelnen Strömungen kaum möglich ist. Insbesondere unter dem Eindruck der Niederlage von 1918 hat die "Deutsche Frage" für alle Gruppierungen eine so wichtige Rolle gespielt, daß der Nationalismus in ihren Weltanschauungen immer als Ferment auftrat. Am radikalsten in ihren Forderungen waren allerdings die Nationalrevolutionäre mit dem Verlangen nach einem Umsturz im Inneren - um eine neue Sozialordnung zu schaffen - und einem Bündnis mit allen Bündnisbereiten gegen die Garantiemächte von Versailles nach außen. Sie schreckten im "Nachkrieg" auch vor gewalttätigen Einzelaktionen nicht zurück61 • Die Wege, die einzelne Nationalrevolutionäre später einschlugen, waren allerdings sehr verschieden. Leider fehlt bis heute eine Gesamtdarstellung, auch wenn vor einigen Jahren eine exzellente Untersuchung zu den ideologischen Positionen dieses Lagers von Michael Großheim erschienen ist62, die aber aufgrund ihrer philosophisch gerichteten Fragestellung weit über das hier angesprochene Gebiet hinausgeht. Im Einzelfall konnten sich die Protagonisten der Nationalrevolutionäre ebensogut zwischen alle Stühle setzen wie Ernst Niekisch63 oder den Rückzug aus der Politik vollziehen wie Ernst von Salomon64 oder das Feld ihrer Aktivität verlegen wie Friedrich Georg Jünger65 . Sie konnten sich aber auch einer der beiden ten Überblick bietet auch Johannes Fried: Einleitung, in: Ernst H. Kantorowicz: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hrsg. von Eckhart Grünewald und Ulrich Raulff, Stuttgart 1998, S. 7-45. 59 Heinz Duchhardt: Amold Bemey (1897-1943). Das Schicksal eines jüdischen Historikers, Köln 1993; Michael Matthiesen: "Verlorene Identität". Der Historiker Amold Bemey und seine Freiburger Kollegen 1923-1938, Göttingen 1998. 60 Frank-Lothar Kroll: Hans-ioachim Schoeps, in: Fränkische Lebensbilder 16 (1996), s. 288-306. 61 Vgl. neuerdings Irmela Nagel: Fememorde und Fememordprozesse in der Weimarer Republik, Köln 1991. Außerdem Martin Sabrow: Die verdrängte Verschwörung, Frankfurt a.M. 1999. 62 Michael Großheim: Ökologie oder Technokratie. Der Konservatismus in der Modeme, Berlin 1995. 63 Birgit Rätsch-Langjürgen: Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken Ernst Niekischs, Bonn 1997. 64 Markus Josef Klein: Ernst von Salomon. Eine politische Biographie, Limburg a. d. L. 1994. Eine scharfe Kritik von Hans-Christo! Kraus in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 920-922. 65 Die Literatur zu dem weniger berühmten Bruder Ernst Jüngers ist noch spärlich, allerdings befindet sich eine umfangreich Studie in Vorbereitung, deren Verfasser unlängst eine Bibliographie Friedrich Georg Jüngers vorgelegt hat: Ulrich
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großen revolutionären Massenbewegungen anschließen: dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus. Für die erste Gruppe steht Werner Best, der durch den Kriegstod seines Vaters und das Erlebnis der französischen Besetzung des Rheinlandes politisiert wurde, sich erst dem Kreis um Ernst Jünger näherte - von Best stammt der Begriff "heroischer Realismus" -, um schließlich der NSDAP beizutreten und in der SS aufzusteigen, bis ihn das Ende des Regimes als Statthalter in Dänemark sah. In einer aufschlußreichen Arbeit hat Ulrich Herbert Bests Entwicklung - im einzelnen wohl diskutabel, aber im ganzen überzeugend - nachgezeichnet66. Eine andere Entscheidung als Best fällte Josef "Beppo" Römer, der zu den Gründern des Freikorps Oberland gehörte, in Oberschlesien kämpfte und mit Hitler auf die Feldherrnhalle marschierte, aber 1930 zur KPD übertrat und schließlich im KZ endete. Ihm wurde eine Untersuchung gewidmet67 , die mit der ausgereiften Arbeit von Herbert zwar nicht vergleichbar ist, aber eine der wohl interessantesten Figuren dieses Lagers schildert. Ein ähnliches Urteil gilt auch für einen Aufsatz von Susanne Mein! und Dieter Krüger über Friedrich Wilhelm Heinz68 und das Buch von Alexander Bahar über Harro Schulze-Boysen und den Gegner-Kreis69 • Der Allgemeinheit dürfte Schulze-Boysen weniger wegen seiner nationalbolschewistischen Vorstellungen als wegen seiner Verbindung mit der "Roten Kapelle" bekannt sein. Tatsächlich führt ein ziemlich direkter Weg von den Nationalrevolutionären zu den Gruppen des Widerstandes, deren Vorstellungen sich wiederum aus der Tradition der Konservativen Revolution speisten. Daß diese Weltanschauung wahrscheinlich die einflußreichste innerhalb der Opposition überhaupt war, kann kaum noch strittig sein70 und Fröschle: Friedrich Georg Jünger (1898-1977). Kommentiertes Verzeichnis seiner Schriften, Marbach 1998. 66 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996. Ergänzend derselbe: "Generation der Sachlichkeit". Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, in: Frank Bajohr!Wemer Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Harnburg 1991, s. 115-144. 67 Oswald Bindrich!Susanne Römer: Beppo Römer. Ein Leben zwischen Revolution und Nation, Berlin 1991. 68 Susanne Meinl/Dieter Krüger: Der politische Weg von Friedrich Wilhelm Heinz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 39-66. 69 Alexander Bahar: Sozialrevolutionärer Nationalismus zwischen Konservativer Revolution und Sozialismus. Harro Schulze-Boysen und der "Gegner"-Kreis, Koblenz 1992. 70 Vgl. -wenn auch sehr "politologisch"- Nicolai Hammersen: Politisches Denken im deutschen Widerstand. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914-1944, Berlin 1993 und als Überblick Winfried Becker: Politischer Konservatismus und Widerstand, in: Peter Steinbach/Johannes Tuehel (Hrsg.): Wi-
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wird vor allem durch die wachsende Zahl von Untersuchungen zu Leben und Denken führender Köpfe des Widerstandes - wie Claus von Stauffenberg71, Ulrich von Hassell72 oder Fritz-Dietlof von der Schulenburg73 unter Beweis gestellt. Jede Beschäftigung mit der Konservativen Revolution sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß es nicht nur unter ihren "Erzvätern", sondern auch in ihrer Blütezeit einige Denker gab, die ihren Vorstellungen wohl nahestanden, aber in praktisch jeder Hinsicht über eine "Weltanschauung" hinausragten, die - wie Mohler sie genannt hat - "kategoriensprengenden Autoren" 74. Es versteht sich von selbst, daß zu Werk und Arbeit dieser Männer zahlreiche Neuerscheinungen vorliegen, die allerdings mit dem hier angesprochenen Komplex nur am Rande zu tun haben. Immerhin sei auf einige Veröffentlichungen hingewiesen, die wenigstens exemplarisch den Zusammenhang solcher Denker wie Max Weber75 , Carl Schmitt76, Ludwig Klages77 , Martin Heidegger78 , Thomas Mann79 oder Stefan George80 mit der Konservativen Revolution deutlich machen können. derstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 235-245. Ergänzend auch Jean Solchany: Vom Antimodemismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945-1949, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 373-394. 71 Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Das Geheime Deutschland, Stuttgart 1992. 72 Gregor Schöllgen: Ulrich von Hassell 1881 - 1944. Ein Konservativer in der Opposition, München 1990. 73 Ulrich Heinemann: Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli 1944, Berlin 1990. 74 Mohler: Die Konservative Revolution (wie Anm. 2), S. 324. 75 Vgl. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987; und Francesco Tuccari: Der politische Führer und der charismatische Heros. Charisma und Demokratie im politischen und soziologischen Werk von Max Weber und Robert Michels, in: Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 9 (1993) 2, S. 100-126. 76 Unterdessen liegt auch eine erste Biographie Schmitts vor von Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin/Frankfurt a.M. 1993; grundlegend für dessen Vorstellungen Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989, 2 1991. Wichtig für die unmittelbare politische Dimension Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt: "Sein Aufstieg zum Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995 und neuerdings Manfred Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888-1936, Paderbom/München/Wien/Zürich 1998. Einen Überblick über den Stand der Literatur gibt Harald Seubert: Eigene Fragen als Gestalt. Zu neuerer Literatur über Carl Schmitt, in: Der Staat 37 (1998) 3, S. 435460. 77 Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994. 78 Sehr polemisch und problematisch Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt a. M. 1988; Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989, ausgewogen demgegenüber Günter Figal: Martin Heidegger - Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. 1991 und der-
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Auf eine andere Weise grenzüberschreitenden Charakter haben die Versuche, die europäische Dimension der Konservativen Revolution genauer zu bestimmen. Versuche, die bisher auch nur ausnahmsweise unternommen und für ein anderes Land als Deutschland ganz durchgeführt worden sind. So im Fall Italiens, wo 1994 das Buch von Marcello Veneziani mit dem Titel La rivoluzione conservatrice in ltalia 81 erschien. Häufiger als die ambitionierte Gesamtdarstellung sind Untersuchungen zu Einzelaspekten, wie es sie neuerdings für Flandem82 und die Schweiz83 gibt, wo seit einiger Zeit auch Gonzague de Reynold84 wiederentdeckt wird, der ohne Zweifel zu den bedeutendsten Köpfen der europäischen Konservativen Revolution gehört hat. Bei allem Interesse, die diese Untersuchungen finden sollten, bleibt doch immer zu betonen, welchen außerordentlichen Rang Frankreich als "politisches Laboratorium" der Modeme gerade für die Entstehung der Konservativen Revolution besaß85 . Entscheidende Vorarbeit zur Erhellung dieses Tatbestands hat ohne Zweifel der israelische Historiker Zeev Stemhell86 geleiselbe: Heidegger zur Einführung, Harnburg 1992; s. auch Rüdiger Safranski. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien 1994. 79 Hubert Brunträger: Der Ironiker und der Ideologe. Die Beziehungen zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler, Würzburg 1993. Stefan Breuer: Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen "konservativer Revolution", ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus, in: Politisches Denken - Jahrbuch 1 (1997), Stuttgart/Weimar 1997, S. 119-140. 80 Vgl. Breuer, Fundamentalismus; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln 1997; Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen 1998. 81 Marcello Veneziani: La rivoluzione conservatrice in Italia: genesi e svi1uppo della "ideologia italiana" fino ai nostri giorni, Carnago 1994. Für diesen Zusammenhang außerdem von Interesse A. Basiriyani: Die Ideologie und Politik von Enrico Corradini in der der florentinischen Zeitschrift "II Regno" (1903-1906), Diss. phil., Berlin 1985. 82 Vgl. Luc Pauwels: De ideologische evolutie van Joris van Severen, Ieper 1999; eine gekürzte französische Fassung erschien unter dem Titel: Joris van Severen, aristocrate flamand et europeen, in: Nouvelle Ecole (1998) 50, S. 41-65. 83 Ulrich Jost: Die reaktionäre Avantgarde. Die neue Rechte der Schweiz um 1900, Zürich 1990. 84 Aram Mattioli: Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994. 85 Am Rand sei hier vermerkt, daß es eine französische Übersetzung von Mohlers Werk unter dem Titel La Revolution Conservatrice en Allemagne 1918-1932, Puiseaux 1993, gibt, die auf den S. 761-818 eine von Alain de Benoist angefertigte Bibliographie französischer Titel zum Thema enthält. 86 Zeev Sternhell: La droite revolutionnaire 1885-1914. Les origines fran~aises du fascisme, Paris 1978; derselbe: Maurice Barres et le Nationalisme Fran~ais,
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stet, auf dessen Bedeutung für die Interpretation des revolutionären Konservatismus Mohler schon nachdrücklich hinwies87 . Eine Venezianis Arbeit vergleichbare Untersuchung gibt es für den französischen Fall allerdings nicht88 . Mit Aufmerksamkeit sind jedoch jene Publikationen zu verfolgen, die sich der Wandlung des klassischen Links-Rechts-Schemas und der Mutation des Jakobinismus hin zu einer modernen nationalrevolutionären Konzeption widmen. 89 Besondere Beachtung verdient dabei die unlängst erschienene, ausgezeichnete Untersuchung von Mare Crapez über die "reaktionäre Linke", die die Bedeutung der Mythen "Volk" und "Rasse" im Denken der französischen Linken untersucht, wobei vor allem der linke ausdrücklich rassistische - Antisemitismus die angemessene Würdigung erfahrt.90 Und hingewiesen werden muß schließlich auf neuere Arbeiten über jene Männer, die im französischen wie aber auch im europäischen Rahmen zu den ganz großen Anregern der Konservativen Revolution gehörten: Gustave Le Bon und Georges Sorel.91 Brüssel 2 1985; derselbe: Ni droite, ni gauche. L'ideologie fasciste en France, Brüssel 2 1985; interessant für unseren Zusammenhang auch der Sammelband derselbe (Hrsg.): L'Eternel retour. Contre Ia democratie - I'icteologie de Ia decadence, Paris 1994. 87 Mohler: Die Konservative Revolution (wie Anm. 2), Ergänzungsband, S. 103118. 88 Daß es durchaus Analogien gibt, die über den Bereich des Nationalismus und des "Faschismus" hinausgehen, ist auf jedenfall den folgenden Arbeiten zu entneh· men: Henri de La Haye Jousselin: L'idee Nordique en France. Essai d'Anthologie et de Bibliographie, Paris 1993 oder Jean-Marie Domenach: Barresisme et revolution conservatrice, in: Andre Guyaux/Joseph Jurt/Robert Kopp (Hrsg.): Barres. Une tradition dans Ia modernite, Paris 1991, S. 139-143. 89 Mit einem kritischen Ansatz gegenüber Sternhell Udo Stark: Die nationalrevolutionäre Herausforderung der Dritten Republik 1880~ 1900. Auflösung und Erneuerung des Rechts-Links-Schemas in Frankreich, Berlin 1990; Aufschlußreich für einen Einzelfall Jean-Jacques Becker: Gustave Herve. Vom revolutionären Syndikalismus zum Neobonapartismus, in: Marie-Luise Christadler (Hrsg.): Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland, Opladen 1985, S. 109-120; Gustave Heure: Itineraire d'un propagandiste: Gustave Herve, de l'antipatriotisme au petainisme (1871-1944), in: Vingtieme siede 14 (1997) 55, S. 16-28. Versuch einer zusammenfassenden und vergleichenden Darstellung bei Karlheinz WeijJmann: Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 18901933, München 1998. 90 Mare Crapez: La gauehe reactionnaire. Mythes de Ia plebe et de Ia race, Paris 1997. 91 Jan van Ginneken: Die Diskussion von 1895 über die Ursprünge der Massenpsychologie, in: Gruppendynamik 16 (1985) 2, S. 85-94; derselbe: Crowds, psychoIogy, and politics 1871-1899, Cambridge 1992; Armin Mohler: Georges Sore), in: Critic6n 27 (1997) 154, S. 83- 86, 155, S. 141-144, 156, S. 200- 204; Robert Nye: Two Paths to a Psychology of Social Action: Gustave Le Bon and Georges Sore), in: Journal of Modem History 45 (1973), S. 411 - 438.
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Indes hat die Fixierung auf Frankreich auch Nachteile, wenn sie dazu führt, daß der ganze angelsächsische Bereich weitgehend ausgeblendet wird. Daß es gerade in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg Ansätze für eine "Neue Rechte" gab, die gar nicht dem üblichen Bild von der ungebrochenen und ungefährdeten liberalen Tradition entsprechen, haben jüngst nicht nur die Arbeiten von englischen92, sondern auch von deutschen Historikem93 herausgestellt. Ohne Zweifel ist die Untersuchung der europäischen Perspektive der Konservativen Revolution das Desiderat für die Forschung, aber auch in bezug auf den deutschen Raum gibt es eine ganze Reihe von Fragen, die noch einer sorgfältigeren Klärung bedürfen; dazu zählen im einzelnen: - Die genauere Auseinandersetzung mit der Entstehung des "Sonderbewußtseins", vor allem insoweit es das betrifft, was von außen bismarckism genannt wurde: Welche Gründe hatte die realistische Kehre am Ende des 19. Jahrhunderts, warum ging die Abwendung von den idealistischen Grundsätzen so dramatisch über die Wandlung der ,,48er" zu "70em" hinaus? - Damit in engem Zusammenhang steht die Frage nach den liberalen Impulsen innerhalb der Konservativen Revolution. Auch wenn man die Auffassung von Kondylis nicht teilt, daß die Konservativ-Revolutionären eigentlich nur desorientierte Altliberale waren, fallt auf, wieviele ihren Ausgangspunkt beim Liberalismus nahmen und wie gering die tatsächliche ideologische Übereinstimmung mit dem traditionellen Konservatismus gewesen ist. - Das Verhältnis der Konservativen Revolution zur Massengesellschaft und ihren Perspektiven. Das betrifft vor allem die katalytische Funktion solcher Bewegungen, wie sie der Antisemitismus der Zeit vor der Jahrhundertwende hervorgebracht hat. - Die Klärung der "Ideen von 1914"94, ihrer Ursprünge und Metamorphosen in den zwanziger Jahren, unter Einschluß des Zerfalls jener großen 92 Paul Kennedy/Anthony Niehalls (Hrsg.): Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, Oxford 1981. 93 Sehr aufschlußreich die Arbeit von Amd Bauerkämper: Die "radikale Rechte" in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991; da es sich um eine Arbeit aus der "Bielefelder Schule" handelt, kann man mit Amüsement die Versuche des Autors beobachten, die zwangsläufigen Schlußfolgerungen aus seiner eigenen Analyse abzuschwächen. 94 Interessante Vorarbeiten auf diesem Feld leisten Helmut Fries: Die Große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, 2 Bde., Konstanz 1994 und 1995; Jeffrey Verhey: The Myth of the Spirit of 1914 in Germany 1914-1945, Diss., Berkeley 1991.
Die Konservative Revolution - Forschungsstand und Desiderata
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Koalition, die sich während des Krieges bildete95 und den gemeinsamen Kampf gegen Versailles und die Revolutionsgefahr von 1918/19 nicht überstand. - Die Frage des Fortlebens der Konservativen Revolution im Dritten Reich und den Teilstaaten der Nachkriegszeit, die Mutation ihrer Ideen und ihrer Protagonisten. Wenn nicht alles täuscht, wird die Aufmerksamkeit für die Konservative Revolution in den nächsten Jahren kaum abnehmen. Das hängt nicht nur mit intellektueller Langeweile und dem Überdruß an den bekannten Themen zusammen, nicht nur mit der Lust an der verbotenen Frucht und dem schwindenden Charme des Marxismus, seiner Geschichte und seinen ideologischen Filiationen, sondern auch mit der Krise des Liberalismus, der immer weniger zum Zweck der Welterklärung taugt, dessen historische Bedingtheit immer deutlicher hervortritt ebenso wie seine Unfähigkeit, die illiberalen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz nicht nur anzuerkennen und zu schützen, sondern auch zu regenerieren.
95 Vgl. etwa Bernd Sösemann: Ernst Troeltschs politisches Engagement im Ersten Weltkrieg, in: Troeltsch-Studien 3 (1984), S. 120-144.
Im Sog der Moderne Zur Geschichte konservativer Regionalparteien in Deutschland nach 1945 Von Heinz-Siegfried Strelow
I. Einführung Das Jahr 1945 bedeutete für alle Parteien eine Zäsur. Während jedoch die Parteien der Linken (SPD, KPD) an ihre originären Traditionen wieder anknüpften, erfolgte im "bürgerlichen" Spektrum eine generelle Neuordnung. So vereinigten sich die Liberalen in der FDP, während ein Großteil der christlichen und konservativen Kräfte sich in einer neuartigen, überkonfessionellen Union zusammenschlossen. 1 Der Unionsgedanke ist daher auch das eigentlich neuartige Phänomen in einer Parteienlandschaft, die, folgt man Eckard Jesses Phaseneinteilung2 , nach einer Phase der Ausformung in den Jahren 1945-1949 sehr bald in eine Phase der Konzentration (auf die großen "Volksparteien" hin) überging, die 1961 abgeschlossen war. Die Geschichte des parteipolitisch organisierten Konservativismus im bundesrepublikanischen Deutschland ist somit untrennbar verknüpft mit der Geschichte des Erfolges der CDU/CSU als einer "Volkspartei", die es verstand, das konservative Spektrum fast vollständig aufzusaugen und die um das gemäßigt rechte Spektrum konkurrierenden Parteien in die Bedeutungslosigkeit abzudrängen. Der zweite Grundzug, der bei einer Annäherung an die konservativen Parteien der Bundesrepublik auffallt, ist deren ausgesprochene Regionalität. Die konservativen Parteien der Nachkriegszeit waren in starkem Maße immer auch "Heimatparteien", deren Verankerung in bestimmten Landschaften historische Kontinuitäten zugrunde lagen, teilweise aber auch partikularistische oder konfessionelle Ursachen hatte. Beides, der Mangel an 1 Zur Geschichte der CDU siehe v. a. Winfried Becker: CDU und CSU 19451950. Vorläufer, Gründung und regionale Entwicklung bis zum Entstehen der CDUBundespartei, Mainz 1987 und Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Christlich-demokratische und konservative Parteien in Westeuropa, Bd. I, Paderbom 1983. 2 Eckard }esse: Parteiendemokratie und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Informationen zur politischen Bildung, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 171, Bonn 1977, S. 12ff.
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Konzepten, sich gegenüber der Union zu behaupten, wie auch die regionale Beschränkung könnten daher den voreiligen Schluß zulassen, daß es sich bei der Geschichte der Konservativen im Nachkriegsdeutschland um ein "Rückzugsgefecht" in jeglicher Hinsicht handelt. Eine solche Beurteilung würde allerdings den vielschichtigen Strukturen und der weit ins 19. Jahrhundert reichenden Genese dieser in den 1950er Jahren noch bedeutsamen konservativen Parteien nicht gerecht. Sie würde überdies die unmittelbaren mentalen und politischen Aspekte der Zeit des "Wiederaufbaus" und "Wirtschaftswunders", aber auch der militärischen Blockbildung und sich zementierenden deutschen Teilung verkennen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Deutsche Partei (DP), die Bayernpartei (BP) und die Deutsche Zentrumspartei (Zentrum) als jene Parteien, die in Landesparlamenten über einen längeren Zeitraum hinweg verankert waren und auch Regierungsverantwortung trugen. Ihre von einem konservativ-christlichen Weltbild dominierte Programmatik, aber auch ihre interne Struktur, die sich von den Volksparteien dadurch unterschied, daß sie den Charakter von Honoratiorenparteien und "Wahlvereinen" beibehielt, erlauben es, diese drei Parteien als Neuformierungsversuche des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen parteipolitischen Konservativismus zusammenfassend zu behandeln. Nicht berücksichtigt werden Parteien, die nur für kurze Zeit politische Bedeutung erlangten, wie z. B. die Deutsche Soziale Union (DSU), in der sich 1990 vor allem in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt konservative DDR-Gegner sammelten, oder die sich nur partiell dem konservativen Spektrum zuordnen lassen, z. B. der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). - Gleiches gilt für die im Spannungsfeld zwischen deutschnationalem Konservatismus und rechtsextremen Positionen stehenden Parteien, denen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik eine gewisse Bedeutung zukam, und zu denen insbesondere die Deutsche Rechtspartei/ Deutsche Konservative Partei (DRP-DKP) und die in Hessen von Heinrich Leuchtgens ins Leben gerufene Nationaldemokratische Partei (NDP) gehörten, die sich 1950 zur "Deutschen Reichspartei" (DRP) vereinigten. 3 Ebenso wird darauf verzichtet, konservative Strömungen innerhalb der Unionsparteien, und hier insbesondere der CSU, nachzuzeichnen. 4 Die Literatur über die konservativen Regionalparteien der Bundesrepublik ist spärlich. Neben einer frühen Studie Rudolph Holzgräbers5 und der 3 Zur Geschichte der DRP siehe v. a.: Oliver Sowinski: Die Deutsche Reichspartei 1950-1965. Organisation und Ideologie einer rechtsradikalen Partei, Frankfurt/ Main 1998. 4 Die CSU bekannte sich in einigen ihrer Programmen dazu, eine konservative Partei zu sein; vgl. Alf Mintzel: Christlich-Soziale Union, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch, Opladen 1986, Bd. II, S. 674.
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älteren Arbeit Hermann Meyns6 über die DP sowie einer recht knappen Hellwege-Biographie7 entstanden erst in den letzten 20 Jahren vermehrt Monographien zu dem Forschungsgegenstand. Ilse Unger8 und Konstanze Wolfl beleuchteten in umfangreichen Studien die Geschichte der Bayernpartei in den SOer Jahren bzw. ihr besonderes Konkurrenzverhältnis zur CSU. Ute Schmidt wiederum legte eine erste fundierte Monographie zur Geschichte des Zentrums in der Nachkriegszeit vor. 10 Daneben füllte das 1982 von Richard Stöss herausgegebene "Parteien-Handbuch", in dem sich zu allen drei hier behandelten Parteien ergiebige Darstellungen finden, die Lücke der Darstellung auch für die Parteiengeschichte in den 1960er und 1970er Jahren. 11 Noch aktueller, wenngleich auch wesentlich verkürzter dargestellt wird die Parteiengeschichte in einem Band der Bundeszentrale für politische Bildung. 12 Unter den Veröffentlichungen der jüngsten Zeit, die sich mit der Biographie führender Persönlichkeiten der konservativen Regionalparteien der frühen Bundesrepublik beschäftigen, sind zu nennen Claudius Schmidts Dissertation über den DP-Gründer Heinrich Hellwege 13 und Andreas Eichmüllers knapper gehaltene, gleichwohl erschöpfende Darstellung des Lebensweges des BP-Politikers Ludwig Volkholz. 14 Die jüngste zur Geschichte der DP vorliegende wissenschaftliche Studie wurde von 5 Rudolph Holzgräber: Die DP- Partei eines neuen Konservativismus?, in: Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, Stuttgart/Düsseldorf, 1955. 6 Hermann Meyn: Die Deutsche Partei. Entwicklung und Programmatik einer nationalkonservativen Rechtspartei nach 1945. Düsseldorf 1965. 7 Emil Ehrlich: Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat. Hrsg. v.d. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1977. 8 /lse Unger: Die BayernparteL Geschichte und Struktur 1945-1957, Stuttgart 1979. 9 Konstanze Wolf: CSU und BayernparteL Ein besonderes Konkurrenzverhältnis 1948-1960, Köln 1984. 10 Ute Schmidt: Zentrum oder CDU? Politischer Katholizismus zwischen Tradition und Anpassung, Opladen 1987. An älteren Arbeiten sei zu erwähnen Ernst Deuerlein: Deutscher Katholizismus nach 1945, hrsg. v. Hans Maier: IGrche-Gesellschaft-Geschichte, München 1964 und o. Veif.: Geschichte der christlich-demokratischen. und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland. Schriftenreihe Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 216, Bonn 1984. 11 Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch, Sonderausgabe Opladen 1986; darin: Alf Mintzel: Die Bayempartei, Bd. I, S. 395-489; Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Partei, Bd. II, S. 1025-1111; Ute Schmidt: Die Deutsche Zentrumspartei, Bd. II, S. 1192-1242. 12 Alf MintzellHeinrich Oberreuter (Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v.d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 282, Bonn 1990. 13 Claudius Schmidt: Heinrich Hellwege. Ein politisches Lebensbild, Stade 1991. 14 Andreas Eichmüller: Der Jagerwiggerl. Ludwig Volkholz. Förster, Politiker, Volksheld, Regensburg 1997.
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logo Nathusius verfaßt. 15 Ferner ist Joachim Selzams Dissertation über monarchistische Strömungen in der Bundesrepubik erwähnenswert, da hier auch ein wichtiges, oft vernachlässigtes Stück Parteiengeschichte von DP, deren monarchistischer Abspaltung DHP und BP bearbeitet wird. 16 Der parlamentarischen Wirkungs-Geschichte der kleinen konservativen Parteien im Deutschen Bundestag nimmt sich schließlich ein aktuell erschienener Band von Uwe Kranenpohl an. 17
II. Deutsche Partei Die Deutsche Partei ist sowohl was ihre politische Stärke und Einfluß, als auch ihre programmatische Profilierung und Fundierung anbelangt, die wichtigste der konservativen Parteien in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1945. Über drei Legislaturperioden war sie im Bundestag vertreten und gehörte in dieser Zeit auch allen Bundeskabinetten an. Ebenso war sie in den norddeutschen Ländern bis zum Ende der 1950er Jahre eine wichtige Parlamentspartei und stellte in Niedersachsen zeitweilig den Ministerpräsidenten. Richard Stöss spricht ihr den Charakter einer "demokratischen Massenlegitimationspartei" zu, die aufgrund ihres "starken, betont regionalistisch und föderalistisch orientierten mittelständischen Flügel" stets auch Züge einer "teiloppositionellen Landespartei" behielt. 18 In ihren Ursprüngen geht die Deutsche Partei auf die Deutsch-Hannoversche Partei (DHP) zurück, die sich im Jahre 1866 in Opposition zur Einverleihung des Königreiches Hannover durch Preußen als konservatives, föderalistisch-großdeutsch orientiertes Sammelbecken der "Welfen" gegründet hatte. Die DHP war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik häufiger Verbündeter des Zentrums gewesen, wie sich auch beide Parteien auf Ludwig Windthorst als gemeinsamen Gründer beriefen. 19 Programmatisch war sie auf der politischen Rechten angesiedelt. Entgegen mancher klischeehaften und oberflächlichen Darstellungen beschränkte sich die DHP dabei keineswegs auf einen monarchistischen Partikularismus, sondern verfolgte auch eine agrarisch-zivilisationskritische Grundlinie. "Die DeutschHannoversche Partei und in ihrem Gefolge die Niedersächsische Landespar15 lngo Nathusius: Am rechten Rand der Union. Der Weg der Deutschen Partei bis 1953, Mainz 1992. 16 Joachim Selzam: Monarchistische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland, Erlangen 1997. 17 Uwe Kranenpohl: Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949-1964, Opladen 1999. 18 Stöss: Parteien-Geschichte, Bd. I, S. 283. 19 Siehe hierzu v.a. Hans-Georg Aschoff Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866-1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreichs, Düsseldorf 1987.
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tei waren nicht so sehr anti-preußisch als vielmehr anti-modernistisch", wobei sich niedersächsischer Regionalismus mit niederdeutschem, anti-zentralistischen kulturellen "Los von Berlin"-Sezessionismus und völkischer "Gennanentümelei" problemlos verbinden ließen, urteilt Nathusius: ,,Viel entscheidender als die halbvergessene Dynastie scheint zäher Konservativismus an sich gewesen zu sein. Diese Haltung hatte sich als Reaktion auf die hastig fortschreitende Modeme mit schnellem technischen Wandel, Industrialisierung und sozialem Abstieg der Bauern entwickelt. Im agrarischen Hannover konnte sich diese Zivilisationskritik mit Ablehnung des Eroberers von 1866, des fortschrittlichen Preußens verbinden." 20 Es waren Funktionäre der DHP der Weimarer Republik, die sich teilweise im "Dritten Reich" in der "Niedersächsischen Freiheitsbewegung" um die ehemaligen Reichstagsabgeordneten Ludwig Alpers und Karl Biester zusammengefunden hatten, die im Sommer 1945 eine Reorganisation der alten Bewegung begannen. Aus zwei unabhängig voneinander sich im Raum Hannover und Stade fonnierenden Gruppen entstand im Herbst 1945 die Niedersächsische Landespartei? 1 Die NLP stand in ihren Anfangsjahren noch ganz in der Tradition der Deutsch-Hannoverschen Partei, aus der auch der Bundesvorsitzende Heinrich Hellwege entstammte, der den kurzzeitig amtierenden Gründungsvorsitzenden Arthur Menge im Mai 1946 abgelöst hatte. Ihr politisches Hauptziel sah sie in der Schaffung eines eigenständigen Landes Niedersachsen in einem föderativen Reichsverband. Verbunden mit dieser deutschlandpolitischen Konzeption waren eine christliche geprägte Familienpolitik und ein starkes Engagement für die Belange der Landwirtschaft und des Mittelstandes. Mit der Gründung eines eigenen Bundeslandes Niedersachsen sah die NLP eine ihrer zentralen Forderungen erfüllt. Aber auch ideologische Überlegungen sprachen für eine Umwandlung der NLP. Am 3.6.1947 beschloß das Direktorium der NLP auf seiner Sitzung in Hennanosburg "den alten Namen unserer Bewegung" wieder anzunehmen; Ludwig Alpers, langjähriger Sprecher der DHP-Reichstagsabgeordneten, unterbreitete diesen Vorschlag?2 Unter dem neuen Namen trat die DP, die sich in den Jahren 1947/48 auf die norddeutschen Länder Hamburg, Bremen und SchleswigHolstein ausgedehnt hatte, erstmals zur Bundestagswahl 1949 an. Sie erzielte im Bundesschnitt ein Resultat von 4,0% und entsandte 17 AbgeordNathusius (wie Anm. 15), S. 173. Zu dieser Phase der Parteigeschichte siehe v. a. Norbert Rohde: Zur Entstehungsgeschichte der Niedersächsischen Landespartei/DP, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 53, 1981, S. 289-300. 22 Ehrlich (wie Anm. 7}, S. 45. Zur Biographie von Ludwig A1pers siehe v. a.: Axel Beste: Ludwig A1pers, in: Niedersächsische Lebensbilder, Hannover 1977, s. 1- 14. 20 21
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nete nach Bonn. Im ersten Kabinett Adenauer war die Partei mit den Ministern Hellwege (Bundesangelegenheiten) und Hans-Christoph Seebohm (Verkehr) vertreten. Anders aber als etwa die Bayernpartei, die stets als populistische Partei "Bestandteil der politisch-kulturellen Atmosphäre einer Landschaft und emotionaler Dunst handfester bäuerlicher und mittelständischer Interessen"23 war, bemühte sich die DP-Führung von Anfang an, der Partei eine fundierte weltanschauliche Basis zu geben. Der Mitte 1946 auf Initiative des Parteivorsitzenden aufgestellte "persönliche Stab Hellwege", der auf Schloß Agathenburg bei Harnburg residierte und - unabhängig vom Parteidirektorium - zur Wahrnehmung "überregionaler Ziele" gebildet worden war, setzte sich u. a. aus dem aus Pommern stammenden Hans-Joachim v. Merkatz, dem Sudetendeutschen Hans-Christoph Seebohm und dem früheren Mitarbeiter im Auswärtigen Dienst, Hans Mühlenfeld zusammen. Diese Politiker trugen maßgeblich dazu bei, daß die früheren Exponenten der Deutschhannoveraner um Biester und Alpers allmählich immer mehr in den Hintergrund gedrängt und das welfisch-föderalistische Erscheinungsbild um starke nationalkonservative Elemente verändert wurde. v. Merkatz24 und Seebohm errangen rasch auch bedeutende Ämter in der Parteihierarchie und waren in mehreren Kabinetten der Bundesregierung als Minister vertreten; Mühlenfeld wiederum, der bis 1953 Vorsitzender der DP-Bundestagsfraktion war, steuerte mit seinem Buch "Politik ohne Wunschbilder" der DP quasi ein weltanschauliches Standardwerk bei.Z5 Es ist keineswegs vermessen, ihn und Hans-Joachim v. Merkatz, der mit seinem Buch "Die konservative Funktion" ebenfalls eine Zusammenfassung ideologischer Grundlagen präsentierte, als die "Cheftheoretiker" der DP zu bezeichnen. "Sind auch ihre Bücher nicht als offizielle Parteideklarationen zu werten, so spiegelt sich doch ihr gedanklicher Einfluß deutlich in einem großen Teil programmatischer Äußerungen und in Reden der Führer der DP wider."26 Mintzel (wie Anm. 11), S. 395. v. Merkatz war seit 1947 Sekretär der ersten NLP-Fraktion im Niedersächsischen Landtag und zeitgleich DP-Vertreter im Parlamentarischen Rat in Bonn; 1949-1953 stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag, 1953-1960 Fraktionsvorsitzender; 1952 Staatssekretär im Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates, 1955-1962 Bundesminister in diesem Ressort; seit 16.10.1956 zugleich Justizminister; 1960/61 Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte; im DP-Direktorium seit 1952 vertreten, amtierte er 1955- 1957 als stellvertretender Bundesvorsitzender. Zur Biographie generell siehe Heinz-Siegfried Strelow: Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik- Hans-Joachim v. Merkatz, in: Hans-Christo! Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Portraits aus zwei Jahrhunderten, Berlin, 1995, S. 315-334. 25 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952. 26 Holzgräber (wie Anm. 5), S. 141. 23 24
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Freilich darf der Umstand, daß die "Ideologen" der DP eine umfassende konservative Programmatik zu entwickeln bemüht waren, nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Partei, gemessen an ihren Wahlergebnissen und ihrem Organisationsgrad, stets "in erster Linie eine niedersächsische, (... ) in zweiter Linie erst eine norddeutsche und zu allerletzt eine bundesweit vertretene Partei" 27 blieb. 1952, auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung, zählte die DP 45.000 Mitglieder, von denen allein 35.000 in Niedersachsen beheimatet waren. Innerhalb dieser Mitgliedschaft bildeten Angehörige des Mittelstandes und der Landwirtschaft die mit Abstand größte Gruppe. 28 Zur Bundestagswahl 1949 präsentierte sich die DP als eine Partei, die sich als Anwältin der (vor allem niedersächsischen) Landbevölkerung und des Mittelstandes und als entschiedene Gegnerin der Entnazifizierung anpries. Teilweise präsentierte sich die DP hier - vor allem in Regionen mit hohen Aufnahmequoten ostdeutscher Vertriebener und Flüchtlinge - auch als eine "Einheimischenpartei". Bei einer Kandidatur in den vier norddeutschen Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Harnburg und Bremen kam sie auf knapp 940.000 Stimmen, was bundesweit 4,0% entsprach und ihr 17 Mandate im Bundestag sicherte. Im ersten Kabinett Adenauer war die DP mit den Ministern Hellwege und Seebohm vertreten. In Folge der Ausdehnung der Partei entstanden 1949 bis Anfang 1951 die Landesverbände Nordrhein-Westfalen, Berlin und Hessen. Durch die einströmenden neuen Kräfte, vornehmlich in der Tradition eines deutschnationalen Konservativismus stehend, begann das originäre, welfische Bild der DP an Konturen zu verlieren. Damit einher ging ein deutlicher Rechtsruck. Wurde die Ausbreitung der DP durch ihren betont föderalistischen Charakter erschwert, so bot sie andererseits Exponenten der äußersten Rechten durch ihren "resoluten antimarxistischen und an bäuerlichen und mittelständischen und besitzmittelständischen Interessen orientierten Kurs" sowie ihrer "Propaganda gegen die "Wahnlehre" der Kollektivschuldthese, gegen die "Entnazifizierungspolitik der Siegermächte" und für "Recht und Achtung für den Soldaten" eine politische Heimat. 29 Bereits im Laufe des Jahres 1949 kam es zu ersten Konsultationen zwischen den Vorständen der DP, der Deutschen Reichspartei um Adolf v. Thadden und der Gruppe um den hessischen Bundestagsabgeordneten Heinrich Leuchtgens. Die BemüBundeszentrale für Politische Bildung (wie Anm. 12), S. 335. Nach einer 1948 im Auftrag der hannoverschen Parteizentrale vorgenommenen Erhebung über die Sozialstruktur der Mitglieder zeigt sich, daß die Landwirte mit 40% die mit Abstand größte Berufsgruppe innerhalb der DP bildeten. Damit korrespondierten die besonders guten DP-Ergebnisse in ländlichen Regionen und dort wiederum in kleinen Dörfern. Vgl. Schmidt (wie Anm. 13 ), S. 94. 29 Schmollinger: Deutsche Partei (wie Anm. 11 ), S. 1031. 27
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hungen zur Bildung eines "Rechtsblocks" verliefen aber ergebnislos und wurden in der späteren Parteigeschichte der DP nicht wieder angestrebt. 30 Gleichwohl zeigte dieser Vorstoß das Dilemma der DP, einen Spagat zwischen traditionalistisch-bodenständigen Föderalisten und weit rechtsaußen angesiedelten Deutschnationalen vollziehen zu müssen. Hatte bereits der Kasseler Parteitag 1951 durch seine Beschäftigung mit dem Thema Entnazifizierung die Rechtsentwicklung der DP dokumentiert, so kann das Jahr 1952 wohl als Höhepunkt des Rechtstrends in der DP, als "Gipfelpunkt rechtsextremen Einflusses in der Gesamtpartei"31 angesehen werden. Im Vorfeld des Goslarer Parteitages setzten die Landesverbände Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Harnburg einen Antrag auf die Tagesordnung der Direktoriumstagung, in dem gefordert wurde, die Wahlgemeinschaft mit der CDU aufzulösen, "damit die DP endlich das Gesicht der nationalen Oppositionspartei" annehmen könne? 2 Demgegenüber hob Parteichef Hellwege in seiner Grundsatzrede unmißverständlich die bisherige konservative Parteilinie hervor. Aufgabe der DP sei es, "gegen die Restbestände einer sterbenden Epoche, gegen Bolschewismus, Sozialismus, Liberalismus, Klerikalismus, Nationalismus und alle anderen Ismen und weltanschaulichen Übersteigerungen in der Politik das Banner der politischen Freiheit und Mäßigung aufzuziehen."33 Deshalb müsse auch an die Stelle der Phrase von der .,nationalen Sammlung" das Leitwort von der .,konservativen Erneuerung" treten. Hellweges Appell blieb vergebens. In den Wahl zum Bundesvorsitzenden unterlag der Welfe mit 145 gegen 146 Stimmen seinem Herausforderer Hans-Christoph Seebohm, Wortführer der nationalistisch orientierten Fraktion. Nur dessen Verzicht auf das Amt angesichts des knappen Wahlausganges vermied eine Spaltung der Partei. 34 Der Goslarer Parteitag hatte aber nicht nur schicksalshafte Bedeutung für die weitere Personalstruktur der DP. Erstmals wurde mit den "Goslarer 30 Zu diesen Verhandlungen siehe v.a.: Manfred Jenke: Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, s. 63. 31 Schmidt: Hellwege (wie Anm. 13), S. 125. 32 Meyn (wie Anm. 6), S. 34. 33 Anonym: Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat. Reden und Schriften. Festschrift zu seinem 50. Geburtstag am 18.8.1958, Braunschweig 1958, S. 61. 34 Der schwelende Konflikt zwischen welfischen Traditionalisten und neu eingetretenen nationalkonservativen Kräften kulminierte im Jahre 1953, als sich eine Gruppe dezidierter Welfen um die Redaktion der bis dahin DP-nahen Zeitung .,Der Landesbote" abspaltete und die Deutsch-Hannoversche Partei (DHP) gtiindete; diese beteiligte sich 1954 an der niedersächsischen Landtagswahl (0,3%) und zur Bundestagswahl 1957 am Wahlbündnis .,Föderalistische Union" mit der BP und dem Zentrum. 1962 schloß sich die DHP wieder der DP an. Zur DHP-Geschichte siehe v. a. Selzam (wie Anm. 16), S. 296ff.
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Grundsätzen von 1952" auch ein Grundsatzprogramm beschlossen, das an die Stelle der vorher gültigen "formellen" Parteirichtlinien und Grundsatzpapiere zu Einzeltthemen trat. In diesem Programm, das freilich auch seinen Tribut an neue Wählerschichten wie die "Entnazifizierungsgeschädigten" zollen mußte, findet sich in etlichen Formulierungen die Diktion der konservativen "Vordenker" Mühlenfeld und v. Merkatz wieder. Dies gilt insbesondere für die Komplexe deutsche/europäische Einigung sowie die Frage des Heimatrechts. So heißt es in den "Goslarer Grundsätzen: "Die Spaltung der Nation muß überwunden werden. Nationalistische Übersteigerung und Rivalität in Buropa haben Deutschland, die mitteleuropäische Ordnung und ganz Buropa zerstört und den Frieden in der Welt zerrüttet. Nur eine europäische Gemeinschaft vermag neue Ordnung aufzurichten und dauerhaften Frieden zu begründen. Das nationale Ziel deutscher Einheit und das europäische Ziel einer Gemeinschaft der Völker in Frieden und Freiheit stimmen überein. " 35 Verbunden mit diesem Ansatz war die Beschwörung der Heimatverwurzelung als Grundlage konservativer Gesinnung: "Aufgabe der Politik ist die Erhaltung der Lebensgrundlagen in Natur und Gemeinschaft. Die Deutsche Partei verlangt die Pflege und Förderung des Volkstums. Sie fordert eine Erziehung zur Heimat- und Vaterlandsliebe. Nach über hundert Jahren der Entwurzelung muß die Bodenständigkeit des Menschen wiederhergestellt und geschützt werden." Das Gefühl der Heimatliebe war ohnehin der zentrale weltanschauliche Ansatz: Heimat sei eine Lebensvoraussetzung, sie sei "dem Menschen . . . von Gott geschenkt" und deshalb das "Heimatrecht Urgrund aller Menschenrechte". 36 "Das Streben nach Vereinheitlichung auf allen Gebieten" sei daher lediglich Ausdruck einer falschen Zeitströmung und kein Fortschritt: "Die Uniformierung und Verflachung der dem deutschen Wesen eigenen Mannigfaltigkeit seiner Lebensäußerungen und das Einebnen des Reichtums landsmannschaftlicher Unterschiede würde vielmehr einen Rückschritt bedeuten."37 Ein zentraler Begriff in der DP-Programmatik war daher der Föderalismus. Dieser wurde als Synonym für eine bestimmte Lebensordnung gesehen, die alle Daseinsbereiche umfasse. Eine föderalistische Staatsauffassung müsse darauf bedacht sein, "ein gesundes Gleichgewicht zwischen Einheit und Autorität auf der einen Seite und Vielfalt und Freiheit auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. Sie wird die naturgegebenen Spannungen im 35 Ossip Karl Flechtheim: Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Band II: Die Programmatik der deutschen Parteien. Berlin
1963,
s. 385.
Mühlenfeld (wie Anm. 25), S. 45. 37 Hans-Joachim v. Merkatz: Föderalismus ohne Mißdeutung, in: ders.: In der Mitte des Lebens. Politische Lebensfragen unserer Zeit. München/Wien 1963, s. 178. 36
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Staats- und Volksleben, besonders wenn es sich wie beim deutschen Volk um ein aus verschiedenen Stämmen und Landschaften zusammengewachsenes Volk handelt, möglichst schöpferisch zu gestalten suchen"?8 Deshalb kämen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Gedanken der Eigenverantwortung im gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Geschehen höchste Priorität zu. Konservative Politik habe nach dieser Auffassung die Aufgabe, traditionelle Freiheiten und gewachsene Eigenarten zu bewahren und diese vor doktrinären Fesseln zu schützen. Auch monarchistische Positionen gehörten zum konservativen Wertekanon der DP, wobei sich Anhänger des Hauses Hannover ebenso in ihren Reihen fanden wie Verehrer der preußischen Monarchie. Die Forderung nach Restauration wurde seitens der DP jedoch nicht direkt erhoben. Am deutlichsten positionierte sich die DP in dieser Frage in den "Goslarer Grundsätzen": "Oberhalb der politischen Ebene jedoch muß ein letztes Amt, ein Staatsoberhaupt, vorhanden sein, das die Rechte sämtlicher Glieder und Lebensbereiche der Nation wahrt und unabhängig ist von politischen Mächten und Parteien. Die Deutsche Partei bejaht dieses aus den geschichtlichen Tiefen des Reiches erwachsene Amt. Die Auseinandersetzung über die Form der Verwirklichung steht jenseits des politischen Tageskampfes. Sie wird in einem geistigen Emeuerungsprozeß dereinst ihre Lösung finden. " 39 Bei der Bundestagswahl 1953 zeigte sich bereits, daß die DP, die im Bundeskabinett sich als loyaler Partner des Kanzlers erwies, aus eigenständiger Kraft kaum den Sprung in das Parlament mehr schaffen konnte. Nur noch durch ein "Huckepackverfahren", bei dem die CDU in acht Wahlkreisen auf eigene Kandidaten verzichtet hatte, gelang bei einem Ergebnis von 3,3% mit insgesamt 15 Abgeordneten der Einzug in den Bundestag. Im zweiten Kabinett Adenauer setzte die DP, als das "beste Kabinettstück" ihre Politik der Unterstützung aller wesentlichen Richtungsentscheidungen wie die Integration in das westliche Bündnis, Schaffung der Bundeswehr, europäische Einigungspolitik fort. Die Westintegration, mnifestiert in den Pariser Verträgen von 1955, führte auch zu einer Abschwächung des nationalkonservativen Kurses der DP. Auf dem Bielefelder Parteitag am 5. November 1955 beschloß die DP ein neues Programm. Passend zu dem Verzicht, den Parteitag mit martialischem Gepränge von schwarzweißroten Fahnen und Stahlhelmkapellen zu umrahmen, wurde in den "20 Thesen einer zeitnahen konservativen Politik" ein moderater Ton angeschlagen. In diesem Programm, das deutlich die Handschrift v. Merkatz' trug, nahm die DP eine Verortung ihres Konservativismusbegriffes vor: "Zeitnahe konservative Politik ist eine Politik, die gesunde Überlieferung bewahrt, eine maßvolle,über die Drang38
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Ebenda, S. 170. Flechtheim (wie Anm. 35), S. 387.
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sale und Wünsche des Augenblicks hinausgreifende und auf Beständigkeit gerichtete Willensbildung anstrebt und die Aufgaben der Gegenwart unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse zu lösen versucht. " 40 Das neue Selbstverständnis der DP faßte auch das Parteiorgan "Deutsche Stimmen" in einem programmatischen Aufsatz zusammen: "Die Deutsche Partei lehnt es auch von sich aus ab, die alte Rechte zu präsentieren. Ihr Bekenntnis zur nationalen Verwurzelung und zur konservativen Erneuerung wird sie verständlicherweise der rechten Seite der landläufigen politischen Gruppierung zuordnen. Aber sie kann mit keiner der früheren Rechtsgruppierungen in Parallele gesetzt werden, mit den seligen Altkonservativen ebensowenig wie mit den ehemaligen Deutschnationalen, weil sie aus den Bedingungen unserer Zeit und unseres Lebensgefühls neue Wege zu einer zeitnahen konservativen Politik beschreitet, weil ihre konservative Haltung nicht ein Bekenntnis zu dem was einmal war bedeutet, sondern zu dem was immer gilt und gültig bleiben wird! Man lasse endlich die unzutreffenden ,Wortschaniere', die nicht mehr passen und darum nichts mehr sagen: die ,Welfentradition' ebenso wie die ,alte Rechte'!"41 Zugleich begannen mit der politischen Mäßigung immer mehr die Konturen der DP als eigenständige Partei zu verwischen. Auch in ihrem Stammland blieb die Partei auf Betreiben Hellweges mit den "bürgerlichen" Parteien eng verbunden. Nachdem zur Landtagswahl 1953 bereits eine gemeinsame - und erfolglose - Kandidatur von DP und CDU als "Niederdeutsche Union" stattgefunden hatte,42 kam es 1955 zur Bildung einer Koalition mit CDU und FDP auf Landesebene, an deren Spitze bis zum Scheitern 1957 Hellwege als Ministerpräsident stand. Die Entwicklung bei den Wahlen zeigte in den 1950er Jahren einen langsamen, aber stetigen Abwärtstrend. Konnte in Niedersachsen bei den Landtagswahlen 1955 und 1959 mit jeweils 12,4% und 19 bzw. 20 Mandaten noch die Stellung als drittstärkste Partei behauptet werden, so scheiterte die DP mit Ausnahme von Bremen und Schleswig-Holstein bereits seit Mitte der 50er Jahre in allen anderen Bundesländern an der 5 %-Hürde. Zur Bundestagswahl 1957 bemühte die DP sich aus der Abhängigkeit der Wahlbündnisse mit der Union zu lösen. In zunächst geheim gehaltenen Verhandlungen suchte Hellwege mit dem Bayernpartei-Vorsitzenden Baumgartner ein Bündnis einer "föderalistischen Kraft der Mitte" zu schmieden. Dieses 40 "20 Thesen einer zeitnahen konservativen Politik", in: Deutsche Partei (Hrsg.): Konservative Politik ist zeitnah. Dokumente vom 6. Bundesparteitag der DP in Bielefeld, Bonn 1955, S. 33. 41 Deutsche Stimmen, Nr. 29 v. 26.7.1956. 42 Hatte bei der Landtagswahl 1947 die DP allein 17,9% der Stimmen und 27 Mandate errungen, so mußte sich die "Niederdeutsche Union" mit 23,7% und 35 Mandaten begnügen.
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Ansinnen scheiterte an der Intervention Adenauers, der Hellwege im Eigeninteresse der DP vor "koalitionsgefährdenden" Schritten warnte. 43 Stattdessen kam es zur Fusion der DP mit der von den ehemaligen FDP-Bundesministern Blücher und Preusker gegründeten und von Kreisen der Großindustrie unterstützten Freiheitlichen Volkspartei (FVP); das Wahlergebnis blieb mit 3,4% ernüchternd. Erneut war der DP der Einzug in den Bundestag nur durch Wahlkreisabsprachen mit der CDU gelungen. Nachdem bei der Bundestagswahl 1957 das Auftreten als eigenständige "dritte Kraft" gescheitert war, setzten wieder Grundsatz- und Richtungsdebatten ein. Dabei kristallisierten sich vier Richtungen heraus: Während der Parteivorsitzende Hellwege und der niedersächsische Landesverband einen eigenständigen Kurs der DP als föderalistischer Partei der Mitte verfochten, Generalsekretär Herbert Schneider für eine Profilierung als nationale Rechtspartei auftrat und eine weitere Gruppe zu Fusionsverhandlungen mit FDP und BHE drängte, plädierte Hans-Joachim v. Merkatz für einen Zusammenschluß mit der CDU. Er war sich in dieser Forderung der Mehrheit der Bundestagsfraktion gewiß. Am l. Juli 1960 erklärten neun der fünfzehn DP-Abgeordneten, darunter auch v. Merkatz und Margot Kalinke, ihren Übertritt zur CDU. Dieser Coup überraschte Hellwege völlig; insbesondere in der niedersächsischen DP, die sich schon seit längerem in Konfrontationskurs mit der wegen ihrer Profillosigkeit kritisierten Bundestagsfraktion befand, wurden die Übertritte als Tat "preußischer" Verräter gebrandmarkt. Nach dem Wechsel des "Ministerflügels" zur CDU suchte v. a. der niedersächsische Landesverband in Verhandlungen mit FDP und BHE eine dritte bürgerlich-konservative Kraft zu initiieren. Als jedoch die FDP von diesen Plänen Abstand nahm und es - namentlich auf Betreiben des Generelsekretärs Schneiders - zu Fusions-Plänen mit dem BHE kam, verließ Hellwege im Januar 1961 die Partei und trat wenig später zur CDU über. Unter seinem Nachfolger Schneider vereinigten sich DP und BHE am 15.4.1961 zur "Gesamtdeutschen Partei" (GDP). Der BHE brachte 90.000 Mitglieder in diesen neuen Block ein. Nach dem Scheitern der GDP bei der Bundestagswahl 1961, als nur 2,8% der Wähler für die neue Partei votierten, zogen sich die meisten DP-Mitglieder aus der GDP wieder zurück. Das Gros wandte sich der CDU zu, ein kleinerer Teil unter Führung Wilhelm Ernst v. Cramms beschloß die Reaktivierung der DP, die sich im Sommer 1962 unter Einbeziehung der 1953 abgespaltenen DHP neu formierte. Doch trotz der Unterstützung der DP durch das Haus Hannover - dies zeigte sich auch in der Kandidatur des Prinzen Welf Heinrich -, des Welfenbundes und der preußischen Monarchisten von "Tradition und 43 Zu den Verhandlungen zwischen DP und BP siehe v.a. Schmidt (wie Anm. 13), S. 197 f. sowie die Berichte in: DER SPIEGEL, 7, 13.2.1957, S. 14 und Deutsche Stimmen, 6, 1957, S. 1.
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Leben" scheiterte der Versuch eines Comebacks bei der niedersächsischen Landtagswahl 1963 mit einem Resultat von nur 2,7%.44 In den folgenden Jahren verlor die Partei immer weiter an Bedeutungslosigkeit, bis sie und die von ihr 1966 abgespaltene bzw. "reaktivierte" Niedersächsische Landespartei schließlich vollends in der politischen Versenkung verschwanden. Resumiert man die Geschichte der DP und ihr Bemühen um ein eigenständiges Profil, so zeigt sich das Bild einer im Grunde genommen innerlich gespaltenen Partei. In ihr kämpften niedersächsisch-föderalistische und nationalkonservative Strömungen um Einfluß, rangen Vertreter des Konzeptes einer eigenständigen "dritten Kraft" mit jenen Kräften die für engste Tuchfühlung mit der CDU eintraten. Hellweges Politik zielte stets auf die Schaffung eines "Bürgerblocks", wobei "eine gewisse Tragik - vom Standpunkt Hellweges aus gesehen" darin lag, "daß er die CDU Adenauers von 1949 dahin brachte, sich vom Ahlener Programm zu distanzieren, daß aber gleichzeitig die Programmatik beider Parteien einander immer näher kam und daß dadurch die DP als kleiner Partner nicht in der Lage war, auf Dauer ihre Eigenständigkeit zu bewahren. " 45 Die wohl entscheidenden Gründe für das "Ende der Konservativen" hat Marion Gräfin Dönhoff in einem Aufsatz für "Die Zeit" anläßlich des Austritts des Gros der DP-Bundestagsfraktion im Sommer 1960 zusammengefaßt. Die Ursache für das Scheitern der DP lag in ihren Augen in der Geschichte der massiven Umwälzungen des soziokulturellen Gefüges in Deutschland während des 20. Jahrhunderts: "Wie in keinem anderen Lande wurde die Sozialstruktur von Grund auf vernichtet. Es gibt keine Kontinuität mehr. Alles, was Geschichte heißt, wurde überdeckt von dem totalen staatlichen Zusammenbruch und dem riesigen Verschleiß, der zuvor stattgefunden hat. Vergessen ist das 19. Jahrhundert mit seiner Ideengeschichte. Nicht mehr geistige Konzeptionen zählen in der Politik. Im Vordergrund stehen heute pragmatische Fragen und Zweckvorstellungen. Dieses speziell deutsche Schicksal wird noch überlagert durch die für alle modernen Massenstaaten typische Entwicklung. (.. .) So findet stetig der Prozeß einer Einebnung der klassischen Ideologien und parteipolitischen Programme statt. Alle bemühen sich, zugleich liberal, sozial·und auch konservativ zu sein. (... ) Warum also verschwand die konservative Partei aus dem Bundestag? Weil bei dem allgemeinen Angleichungsprozeß, den man auch als Zug zum Zweiparteiensystem bezeichnet, offenbar die beiden Grundtypen rechts (CDU) und links (SPD) für die politischen Bedürfnisse der Wähler ausreichen. Traurig wäre es, wenn der Konservative auch als geistige Haltung aus unserer konsumerfüllten, gedankenleeren Zivilisation verschwände. " 46 44
Zu der Entwicklung der reaktivierten DP siehe v. a. Selzam (wie Anm. 16),
45
Ehrlich (wie Anm. 7), S. 65.
s. 333 f.
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111. Bayernpartei Die Bayernpartei besaß von allen dezidiert konservativen Parteien in der Frühphase der Bundesrepublik am deutlichsten den Charakter einer Wahlbewegung bodenständig-patriotischer Honoratioren, die sich "als Sammelbekken für radikale Föderalisten und königstreue Traditionalisten" anbot. 47 Alf Mintzel hat die Bayernpartei als die politische Reaktion auf die "späte Vollindustrialisierung Bayerns" bezeichnet, als ein Sammelbecken, das "der altbayerischen Abwehr gegen industriegesellschaftliche Modernisierungsprozesse verpflichtet" war. 48 Der DP war die BP hinsichtlich Programmatik, Mitglieder- und Wählerstruktur sowie der starken regionalen Verankerung typologisch verwandt. Was beide Parteien aber fundamental voneinander unterschied, war ihr Verhältnis zu den Unionsparteien. Ging die DP auf Bundesebene oder in Niedersachsen bevorzugt Wahlbündnisse oder Koalitionen mit der CDU ein, so war das "besondere Konkurrenzverhältnis" von CSU und BP durch eine geradezu unversöhnliche Feindschaft gekennzeichnet. "Die enge Verflechtung von CSU und BP in Ideologie und Programmatik, im Wählerpotential und in der Parteistrategie führte zu einer Zuspitzung der gegenseitigen Auseinandersetzung, wie sie zwischen weltanschaulich eindeutig getrennten Parteien schärfer nicht denkbar ist. Diese gegenseitige Bezogenheit beider Konkurrenzparteien bildete einen eigenständigen Prozeß, der als Ganzes wiederum organisch eingefügt war in die Entwicklung des Parteiengefüges der Bundsrepublik Deutschland und damit auch gebunden war an die großen gesamtpolitischen Linien und Vorgänge jener Zeit. " 49 Es wäre irrig, aufgrund des Gründungstermins der Bayernpartei - sie wurde erst am 29. März 1948 für ganz Bayern zugelassen - in ihr eine Abspaltung von der CSU zu sehen, zumal die späte Gründung der BP ein Resultat der restriktiven amerikanischen Lizenzierungspolitik war. Vielmehr stellte die Bayernpartei von Anfang an ein originäres Eigengewächs dar, das sich aus älteren, bereits seit 1945 bestehenden Gruppierungen speiste50 46 Marion Gräfin Dönhoff: Das Ende der Konservativen, in: DIE ZEIT v. 8.7.1960. 47 Mintzel (wie Anm. ll), S. 395. 48 Ebenda, S. 283. 49 Wolf(wie Anm. 9), S. 244f. 50 Hierzu zählten die Bayerische Demokratische Union, deren Vorsitzender Max Lallinger seit. Januar 1946 war und die ihrerseits aus mehreren kurzlebigen Kleinparteien hervorgegangen war. Ferner: die Bayerische Heimat- und Königspartei (BHKP), die am 14.10 1945 den US-Militärbehörden ihr Programm auf Zulassung vorlegte. Ihren Vorsitz hatte der Münchner Chirurg Max Lebsehe inne. Nach ihrer ersten und einstigen öffentlichen Großkundgebung am 28.4.1946 wurde die BHKP am 10.5.1946 verboten.
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und überdies personell und ideologisch unmittelbar an bayerische Parteien der Weimarer Republik anknüpfte. So, wie sich die NLP aus den Funktionären und Mitgliedern der DHP aufbaute, so gingen zahlreiche SP-Ortsgruppen auf frühere Strukturen von BVP und BBB zurück. "Man kann diese politische Nachkriegserscheinung durchaus im Sinne einer sozialen Bewegung als ,bayerische Bewegung' begreifen." 51 Gerade der letztgenannte Aspekt ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. "Wie früherunter anderen historischen Bedingungen- der Bayerische Bauern- und Mittelstandsbund bot sich die Bayernpartei jenem rebellischen Element in der kleinbäuerlichen politischen Kultur Nieder- und Oberbayerns als Mittel des politischen Protestes an. ( ... ) Die Bayernpartei hatte nicht das Erbe einer politisch inhaltlichen Tradition sondern eines traditionell rebellischen politischen Verhaltens angetreten. " 52 Zu diesen kleinbäuerlich-populistischen, separatistisch oder partikularistisch orientierten Gruppen um den Parteigründer Max Lallinger stießen seit 1947 zunehmend ehemalige CSU-Anhänger zur BP "die enttäuscht darüber waren, daß sich der Schäffer-Hundhammer-Flügel mit seinen bayerisch-staatspolitischen Vorstellungen in der CSU nicht hatte durchsetzen können."53 Zu dieser Gruppe zählten Anton v. Aretin und Anton Donhauser. Aber erst mit dem Übertritt des seit Oktober 1945 amtierenden LandwirtschaftsministeTs Alfons Baumgartner im Januar 1948 gewann diese Gruppe an Gewicht, verkörperte Baumgartner doch wie kein zweiter Politiker "bayerische Mentalität, bayerischen Eigensinn und derbe bayerische Rustikalität im volkstümlich sympathischen ebenso wie im reaktionär-provinziellen Sinne. " 54 Auslöser für Baumgartners Übertritt war der Rücktritt als Landwirtschaftsminister im November 1947. Mit diesem Schritt protestierte er gegen zentralistische Tendenzen in der Bizonenverwaltung; deren "Gerichtsvollzieher in der Erfassung" der bayerischen Ernten wolle er nicht spielen. Baumgartner kam mit seinem Übertritt zur BP den Ambitionen Fritz Schäffers, des letzten Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei vor der NSMachtergreifung, zuvor, der eine "innere Reform" in der CSU anstrebte und nach einer Entmachtung Müllers durch die föderalistischen Kräfte in der Union sich an die Spitze eines "christlich-konservativen Blockes", in dem auch die BP aufgehen sollte, setzen wollte. Dieser Vorstoß Schäffers "beruhte auf einer richtigen Einschätzung der stark traditionsgebundenen 51
Mintzel (wie Anm. 11), S. 396; siehe auch Unger (wie Anm. 8), S. 138-141
u. 412-13.
Unger (wie Anm. 8), S. 112ff. Mintzel (wie Anm. 11 ), S. 398. 54 Ebenda, S. 400. Zur Biographie Baumgartners siehe v. a. Georg Lohmeier: Joseph Baumgartner, München 1974. 52 53
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politischen Szenerie und Situation in Bayern." 55 Schäffers Vorstoß scheiterte an der Solidarität der fränkischen CSU mit Josef Müller. Auch seine Bemühungen, nach dem Austritt aus der CSU mit dem CSU-Bezirksverband Oberbayern in die BP einzutreten und hier das chisdich-konservative Sammlungsprojekt zu verwirklichen, scheiterten am Mißtrauen, das ihm seitens der BP entgegengebracht wurde. 56 Nach dem Übertritt Baumgartners und einer nun einsetzenden permanenten Abfolge von Kundgebungen stiegen die Zahlen der HP-Mitgliedschaft sprunghaft an: von etwa 15.000 Ende 1948 auf rd. 25.000 im Februar 1950, wobei sich allerdings mehr als 80% der Mitglieder auf Altbayern konzentrierten. Dieser Trend ist um so bemerkenswerter, als in den Jahren nach der Währungsreform alle anderen Parteien unter starkem Mitgliederschwund zu leiden hatten, die CSU zwischen 1948 und 1955 z. B. sogar von 82.000 auf 35.000 Mitglieder schrumpfte. 5 7 Seinen ersten großen Auftritt bei der BP hatte er anläßlich eines Viehmarktes im niederbayerischen Vilshofen am Aschermittwoch 1948. Die Versammlung im Wolferstätter Keller, die von mehr als 4.000 Bauern besucht und zu einer atmosphärisch aufgeheizten Kundgebung anschwoll, wurde zur Geburtsstunde der fortan alljährlich stattfindeneo Aschermittwochs-Kundgebungen, einer bis Mitte der 50er Jahre unangefochtenen Domäne der BP, der die CSU mit ihrem "Starredner" Franz J oseph Strauß seit 1953 Paroli zu bieten versuchte. 58 Die Bundestagswahl 1949 bedeutete zugleich auch die erste landesweite Wahlteilnahme der Bayernpartei. Auf die BP entfielen 986.000 Stimmen (bundesweit 4,2 %, in Bayern 20,9%), so daß die Partei 17 Abgeordnete nach Bonn entsenden konnte, wo die BP gemeinsam mit der Zentrumspartei eine Fraktionsgemeinschaft unter dem Namen "Föderalistische Union" bildete. Die Landtagswahl vom 16. November 1950 brachte der BP ihren größten Triumph. Sie erhielt 1.657.000 Stimmen (17 ,9% ), während die CSU gegenüber der Landtagswahl 1946 von 52,3% auf 27,4% zurückfiel. So eindrucksvoll das Ergebnis aber auch ausgefallen war, so war es der BP damit jedoch nicht gelungen, die CSU von ihrer dominanten Stellung zu verdrängen. Vielmehr war die nun zu konstatierende Situation "Ausdruck der traditionellen politischen Gespaltenheit des Katholizismus in Bayern." 59 Den respektablen, teilweise auch sensationellen Ergebnissen in den altbayerischen Regionen standen überdies dürftige Resultate in Franken und Schwaben gegenüber. Damit aber war auch deutlich geworden, daß die BP Ebenda, S. 401. Ebenda, S. 402. 57 Unger (wie Anm. 8), S. 72 ff. 58 Siehe hierzu auch Ludwig Maier: 75 Jahre Politspektakel Vilshofener Aschermittwoch, in: Vilshofener Jahrbuch 1994, S. 36f. 59 Mintzel (wie Anm. 11), S. 400. 55
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pnmar eine Partei der altbayerisch-bodenständigen, katholisch-konservativen und monarchistisch-patriotischen Kräfte Altbayerns war, die auf diesen Feldern in direkter Konkurrenz zur CSU auftrat. In dieser Besonderheit lag auch die eigentliche Ursache für die erbitterte Befehdung der Parteien untereinander: "Die parteipolitische Spaltung des Katholizismus in Bayern in CSU und BP konnte nur mit dem Preis des Untergangs einer der beiden Parteien überwunden werden."60 Gerade in Altbayern war "der kirchliche Einfluß für CSU und BP unmittelbar wahlentscheidend."61 Zugunsten der BP sprach die "Ablehnung protestantischer Evakuierter und Flüchtlinge" sowie "eine weit verbreitete monarchisti.sche Haltung des Klerus." In dem Maße jedoch, in dem sich die Unionspartei als bundesweite interkonfessionelle, christlich-demokratische Partei durchsetzte, ließen die kirchlichen Sympathien für die BP nach. Ähnlich wie im Falle der Zentrumspartei in Nordrhein-Westfalen nutzte auch in Bayern der Klerus die BP zunächst noch als "parteipolitisches Druckmittel" gegenüber der Union, um katholisch-konservative Forderungen durchzusetzen. Nach der bayerischen Landtagswahl von 1950 positionierte sich die Kirche jedoch eindeutig zugunsten der CSU und empfahl die Überwindung der Spaltung der "christlichen Front".62 1949/1950 wurden überdies auf bundes- wie landespolitischer Ebene die Weichen für die Isolierung der BP gestellt. Auf Bundesebene war es der CSU gelungen, Konrad Adenauer von seiner ursprünglichen Absicht abzubringen, die BP in eine bürgerliche Koalition zu integrieren. 63 Auf Landesebene wiederum verständigte sich die CSU 1950 auf eine große Koalition mit der SPD, obwohl es seitens des Bayerischen Bauernverbandes und vor allem der katholischen Kirche Bemühungen gegeben hatte, eine christlichkonservative Koalition mit der BP zu bilden. Aber auch hier setzten sich Ebenda, S. 403. Ebenda, S. 433. 62 Hierüber heißt es in der von der Partei herausgegebenen Festschrift .,50 Jahre Bayernpartei 1946-1996", München 1996, S. 36: .,Bis 1950 hat der Episkopat wegen der CSU-Flügelkämpfe in der Bayernpartei sogar die Möglichkeit der Sammlung des christlich-bürgerlichen Lagers gesehen und zu den Sympathien des altbayerischen Klerus für die Bayernpartei zumindest ein Auge zugedrückt. ( ... ) Das änderte sich abrupt, als die Wunschvorstellung der kirchennahen Kreise, nämlich eine Staatsregierung aus CSU und BP, 1950 und 1954 nicht in Erfüllung ging." 63 Bei den Verhandlungen im Vorfeld der Bildung der ersten Regierung Adenauer hatte es auch Bemühungen seitens der DP gegeben, die BP als föderalistischen Partner mit in das Kabinett aufzunehmen. Nachdem Hellwege Baumgartner zugesichert hatte, .,bei einer Regierungsbeteiligung keine politische Entscheidung ohne Abstimmung mit der Bayernpartei zu treffen", erklärte sich der BP-Vorsitzende bereit, daß die BP-Fraktion Adenauers Wahl zum Bundeskanzler unterstützen werde; vgl. Schmidt (wie Anm. 13), S. 97. 60 61
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jene Kräfte in der CSU durch, die in der BP nicht eine Partnerin, sondern einen Konkurrentin erblickten Hinzu kam, daß der beginnende wirtschaftliche Aufschwung mit der Bundesregierung und der in ihr vertretenen CSU verbunden wurde, nicht aber mit der BP. Letztere kehrte nun noch stärker "die gefühlsmäßige Seite des Bayerngedankens hervor, die Beschwörung der Heimatliebe. Propagierter Stolz auf das bayerische Vaterland mit seiner großen Vergangenheit und Kultur und mit der Vielfalt und der Schönheit seiner Landschaft hatten die BP immer auch schon als bayerische "Heimatpartei" gekennzeichnet. ( ... ) Biedermännische Folklore kennzeichnete daher in den fünfziger Jahren das Bild der BP. Ihre Landesversammlungen wurden mit Heimatabenden und Blasmusik garniert, viele Delegierte erschienen in Lederhosen oder Trachtenanzügen. " 64 All dies gab der Partei jene unverwechselbare, eigentümliche Note, jene Aura, die fortan jedes - nicht nur klischeehafte - Bild von ihr prägen sollte. "In einer Zeit, die - damals noch unberührt von ,nostalgischen' Sentimenten - unabänderlich in eine standardisierte Zivilisationskultur drängte, (ließ sie) die Grenzen zu kitschiger Mythisierung oftmals hinter sich. Fakkelzüge, Lorbeerkränze, Rautenbanner, Heldenlob und Schwüre . . . sollten bayerischen Freiheitswillen und bayerische Heimatliebe begeisternd kundtun."65 Auch in der Institutionalisierung eines Landesfahnenmeisters und eines "Versammlungsdienstes", der für den perfekten Ablauf von Aufmärschen zuständig war, zeigte sich "ein gewisser paramilitärischer Zug, der an Traditions- und Wehrverbände der Weimarer Republik erinnert."66 Dem Auftreten der Partei entsprach die soziale Verankerung und Schichtung der Mitgliedschaft. In allen Phasen ihrer Existenz zeichnete sich die BP durch einen überaus geringen Anteil weiblicher Mitglieder aus, was der Partei "einen patriarchalischen Charakter" gab. Hinsichtlich der beruflichen Gliederung waren Vertreter des Mittelstandes, vor allem des Handwerks und der Landwirtschaft, überproportional stark vertreten, wobei die Bauern teilweise bis zu 40% der Mitgliedschaft stellten. Die Industriearbeiterschaft war stark unterrepräsentiert. 67 Im Funktionärsapparat hingegen dominierten nach dem sozio-ökonomischen Status als obere Mittelschicht definierte Selbständige vor den Landwirten. Hierin zeigte sich "die Tendenz, angesehene Parteimitglieder mit Honoratiorenimage in Führungspositionen zu bringen. " 68
64
65 66 67 68
Wolf (wie Anm. 9), S. 108. Ebenda, S. 109. Unger (wie Anm. 8), S. 67. Ebenda, S. 81 f. Ebenda, S. 85.
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Konstanze Wolf hat die BP als eine Partei charakterisiert, die sich programmatisch vor allem auf drei Säulen gründete: die "bayerische Volksbewegung", die Idee der Eigenstaatlichkeil bzw. eines rigorosen Föderalismus und eine antimarxistische, gesellschaftspolitisch an der katholischen Soziallehre orientierte Politik, die sich vorrangig als Anwältin von Mittelstand und Bauerntum verstand. Grundsätzlich war die BP eine christlich-konservative Partei, wenngleich sie in ihren Reihen immer auch eine antiklerikale, aus der Tradition des Bauernbundes herrührende Strömung besaß. Dennoch aber bekannte sich die Partei in ihrer Gesellschaftspolitik zu den Grundlagen der katholischen Soziallehre und stellte "das Christentum als Leitlinie ihrer Politik mit der Begründung heraus, allein die abendländisch-christliche Weltanschauung könne eine erfolgreiche Gegenwirkung gegen den nach ihrer Auffassung unheilvollen Zeitgeist des Marxismus und Liberalismus, des Nationalismus und Materialismus ausüben." 69 Auch in der Forderung nach der "Bekenntnisschule" und des Schutzes des ungeborenen Lebens vertrat die BP konsequent christliche Positionen. In den "Politischen Richtlinien" zur Landtagswahl 1958 brachte die BP ihre Grundhaltung auf die Formel: "Die Politik der BP ist und bleibt christlich, konservativ, föderalistisch, heimattreu und bayerisch." 70 Generell mag gelten, daß die BP als "kleinbürgerlich-mittelständische teiloppositionelle Protestpartei"71 sich eher mit Schlagworten oder deklamatorischen Flugschriften statt mit ausgefeilten Programmen begnügte. Ihre programmatischen Aussagen bildeten ohnehin immer neue Variationen einer Grundhaltung, die einerseits erfüllt war von der Hochschätzung der bayerischen Kultur und Tradition sowie der Interessensvertretung des Bauern- und Mittelstandes, und die zum anderen eine heftige Abneigung gegen alles "Preußische", Norddeutsche, Zentralistische und Modemistische zum Ausdruck brachte. Im Programm vom März 1947 forderte die BP so "die restlose Zerschlagung des preußischen Militarismus in Bayern sowie die Entfernung aller Monumente und Straßennamen, die an den preußischen Generalstab oder an den Nationalsozialismus erinnem." 72
69 Wolf (wie Anm. 8), S. 107. Gegen den Vorwurf des Separatismus wehrte sich die BP mit dem Argument, die eigentlichen Separatisten säßen in Bonn, wie auch das westdeutsche Provisorium "ein Akt der Separation" sei, "die Ursache einer Verstärkung und Verschärfung der Elbelinie, der Anlaß zur Errichtung der ostzonalen Republik, der Abtrennung von 16 Millionen evangelischer und über 2 Millionen katholischer Christen, der Entfremdung zwischen deutschem Osten und Westen." Ebenda, S. 132. 70 "Politische Richtlinien" zur Landtagswahl am 23.11.1958, in: Flechtheim (wie Anm. 35), S. 239. 71 Mintzel (wie Anm. II), S. 415. 72 Eichmüller (wie Anm. 14), S. 34.
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Die Frage der bayerischen Eigenstaatlichkeil war zwar eines der Kernanliegen der Partei, jedoch herrschte über deren Verwirklichung und - damit verbunden - das Verhältnis zum übrigen deutschsprachigen Raum keine einhellige Meinung. "Lallinger strebte einen autonomen bayerischen Staat an, der sich einmal einem europäischen Staatenbund anschließen könnte. Andere Parteimitglieder träumten von einem "Donaubund" mit Österreich oder einer Alpenföderation, wieder andere trachteten danach, die Monarchie in Bayern wiederherzustellen. Mancher plädierte dafür, daß das Wort "Deutschland" in der Partei nicht mehr in den Mund genommen werde, während einige dagegen anführten, die Bayern seien viel früher "deutsch" gewesen als die Preußen, die sich die Bezeichnung "deutsch"! nur unrechtmäßig angeeignet hätten."73 Konsens bestand in der BP in der Meinung, daß es das Deutsche Reich nach 1945 nicht mehr gäbe. Deutschland bestünde nur noch aus Ländern, an denen es nun läge, ob und unter welchen Bedingungen sie sich zu einem föderativen Gesamtgebilde zusammenschlössen. Einen Nationalstaat oder einen Bundesstaat lehnte die BP dabei vehement ab und plädierte stattdessen für die Schaffung eines deutschen Staatenbundes, der sich wiederum einem europäischen Staatenbund anschließen könne. Insgesamt hatte die BP "zwar nicht die Absicht, Bayern aus Deutschland herauszulösen, aber sie wollte so wenig politisches Deutschland wie möglich, auf keinen Fall zumindest den deutschen Nationalstaat von vor 1933." Die Spitzenpolitiker wie Baumgartner oder der Fraktionsvorsitzende im 1. Bundestag, Hermann Etzel, hatten jedoch stets "auch eine deutsche Schicksalsgemeinschaft im Sinn einer höheren Einheit Deutschlands nach historischem Vorbild im Auge." 74 Die BP bejahte zwar die europäische Integration und auch die Zugehörigkeit zur westlichen Welt, wandte sich aber strikt gegen die Wiederbewaffnung und den Einsatz von Atomwaffen. Gemeinsam mit dem Zentrum nahm die BP hier eine von der Mehrheitsmeinung im bürgerlichen Lager deutlich abweichende Position ein. Vor allem in der Anti-Atom-Kampagne des Jahres 1958 bezog die BP neben der SPD eine strikte Oppositionshaltung. 75 Zu dem bodenständigen Traditionalismus gesellte sich von Anfang an eine stark monarchistische Grundhaltung. Umgekehrt stand das bayerische Königshaus zumindest in den Anfangsjahren der Bundesrepublik der BP näher als der CSU. Auch wenn sich die BP nie als dezidiert monarchistische Partei bezeichnete- was in den Jahren der Militärregierung ihr zudem die Gefahr eines Verbotes eingebracht hätte - war ihre Politik von einer 73 74
75
Ebenda. Wolf ( wie Anm. 9), S. 118. Mintzel (wie Anm. 11), S. 429.
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subtilen Sympathie für das Königshaus geprägt. Erstmals richtete Baumgartner im Mai 1949 ein Grußwort an die Wittelsbacher, was große öffentliche Beachtung fand. Eines der wichtigsten Bindeglieder der Monarchisten in der BP zum bayerischen Königshaus war zweifelsohne Erwein v. Aretin (1887-1952), der sich bereits seit 1924 als aktiver Gegner des Nationalsozialismus hervorgetan hatte und als Bayerischen Heimat- und Königsbund (BHKB-)Vorsitzender von den Nationalsozialisten verfolgt und zeitweilig im KZ Dachau interniert wurde. Aretin war es auch, der am 26.2.1950 den BHKB wiederbegründete, an dessen Spitze mit Erich Chrambach ein HPPolitiker gewählt wurde. Allerdings mußte der BHKB sich den Zusatz "in Treue fest e. V." zulegen, des "Bayerischen Königsbundes", der am 10.12.1949 von den HP-Politikern um Anton Berr gegründet worden war. In Anwesenheit der BP-Bundestagsabgeordneten Anton v. Aretin und Ludwig Volkholz schwor sich die BHKB-Gründungsgemeinde auf den Grundsatz ein "die historische Aufgabe Bayerns erfüllen, unter dem angestammten demokratischen Volkskönigtum treuester deutscher Gliedstaat zu sein. " 76 Da 1950 auch die wiederbegründete Bayerische Königspartei unter Lebsehe kandidierte, verschärfte die BP ihre monarchistische Position zusätzlich. Statt der Forderung nach einem "Staatspräsidenten" wurde nun der Ruf nach einem Staatsoberhaupt im Programm niedergeschrieben und auf dem Parteitag am 5./6.8. 1950 mit Eugen Fürst zu Oettingen-Wallerstein eine der bedeutendsten monarchischen Pesönlichkeiten des Landes zum stellv. Vorsitzenden gewählt. Überdies trat auch BP-Chef Baumgartner demonstrativ dem BHKB bei. Fortan gehörten Kundgebungen der BP zum Geburtstag des greisen Kronprinzen Rupprecht, die mit Treueschwüren auf das Herrscherhaus und der alten bayerischen "Königshymne" endeten, zum Repertoire der Partei. Der "Heimattag von Oberneuching", an dem im Juli 1952 mehr als 8.000 Gäste teilgenommen haben sollen, stellte die größte derartige Kundgebung dar; ihre besondere Note erhielt sie durch die Teilnahme des Kronprinzen Rupprecht: Die BP empfing den Thronprätendenten mit Böllerschüssen, Defiliermarsch und Traditionskompanie der königlichen Ulanen und bereitete ihm einen Triumphzug durch den Ort. Auf der Großkundgebung erklärte der BP-Vorsitzende Baumgartner dann: "Königliche Hoheit, wir wissen, daß die Wittelsbacher niemals auf den Thron verzichtet haben und daß das Volk keine Gelegenheit hatte, zu dem Unrecht von 1918 Stellung zu nehmen. Jedermann über alle Parteien hinweg wird Verständnis dafür haben, wenn wir in Bayern ein über den Parteien stehendes Staatsoberhaupt fordern. Ihnen, Königliche Hoheit, möchte ich als Sprecher der vielen anwesenden Landeskinder unsere Verehrung zum Ausdruck bringen und Ihnen danken, daß der erste Bürger des Staates Bayern und der Repräsen76
Mintzel (wie Anm. 11), S. 442.
II Schrenck-Notzing
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tant unserer Krone an diesem Feste teilgenommen hat. .m Das Auftreten des Kronprinzen bei dieser Parteiveranstaltung rief die alarmierte CSU auf den Plan und führte dazu, daß sich Franz Josef Strauß in einem offenen Brief mit kritischen Tönen an den Chef des Hauses Wittelsbach wandte. 78 Die Frage der Monarchie blieb in der Geschichte der BP ein stets virulentes Thema. Hatte 1958 noch der Vorsitzende des BHKB, Dr. Erich Bohrer auf der BP-Liste zur Landtagswahl kandidiert79, so sprachen umgekehrt auch noch in jüngster Zeit BP-Spitzenfunktionäre auf monarchistischen Veranstaltungen;80 diese Grundhaltung fand auch ihren Niederschlag im 1993 verabschiedeten jüngsten Grundsatzprogramm, wo es heißt: "Aufgrund der jahrhundertelangen monarchistischen Tradition unseres Landes wissen wir, wie wichtig es ist, daß der Staat nicht nur als anonyme und herzlose Verwaltungsmaschinerie erfahren, sondern von einer Persönlichkeit anschaulich verkörpert und repräsentiert wird. " 81 Der Zerfallsprozeß der BP setzte zu Beginn der 1950er Jahre ein. Dies kündigte sich bereits in mehreren Austritten aus der BP-Bundestagsfraktion und anschließenden Übertritten zur CSU in den Jahren 1950 und 1952 an, und dies dokumentierte sich augenscheinlich in den Wahlresultaten, wobei die Erosion bei Bundestagswahlen schneller vonstatten ging als bei Landtagswahlen. Die BP war bei der Bundestagswahl eines der Opfer der neu Wolf (wie Anm. 8), S. 42. Der "Heimattag" von Oberneuehing provozierte einen verstimmten offenen Brief Franz Josef Strauß' an den Kronprinzen, in dem es hieß: "Ich bitte mir zu erlauben, daß ich, im Einvernehmen mit meinen politischen Freunden, unter denen sich zahlreiche Anhänger des monarchistischen Gedankens befinden, meine schweren Bedenken gegen einen solchen Vorgang zum Ausdruck bringe. (... ) Der Gedanke der Monarchie ist in Bayern - das darf ich als Alt- und Ur-Bayer wohl zum Ausdruck bringen - zu ehrwürdig, als daß er Gegenstand der Agitation für eine einzige Partei werden dürfte. (... ) Wenn der Gedanke der Monarchie im bayerischen Volke lebendig erhalten werden soll, darf er nicht in Verbindung gebracht werden mit der Bayern-Partei, auch nicht mit der Person Dr. Baumgartners. Euere Königliche Hoheit werden es mir ersparen, die Gründe dafür im einzelnen anführen zu müssen." In: Wolf, S. 111 f. 79 Siehe hierzu auch Dieter J. We!ß: "In Treue fest". Die Geschichte des Bayerischen Heimat- und Königsbundes und des Bayernbundes 1921 bis 1996, in: Adoif Dingireiter und Dieter J. We!ß (Hrsg.): Gott mit dir du Land der Bayern, Regensburg 1996. 80 So sprach der seinerzeitige Generalsekretär Hubert Dorn als Festredner bei dem von dem bayerischen Schriftsteller Georg Lohmeier 1985 organisierten "Gammelsdorfer Patriotentreffen" von "einer hundertprozentigen Übereinstimmung zwischen BP und Königstreuen." In: Freies Bayern 2, 1985, S. 3. Anläßlich des Todes von Herzog Albrecht von Bayern 1997 legte die BP auf der Titelseite ihres Parteiorgans ebenfalls ein deutliches Bekenntnis zum Monarchen als "Symbolfigur für ein unabhängiges Bayern" ab. In: Freies Bayern, 3, 1996, S. I. 81 Zitiert in dem Artikel "Wissenschaftliche Studie über Monarchisten in der Bayernpartei", in: Freies Bayern 3, 1996, S. 8. 77 78
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installierten WahlklauseL Diese konnte sie zwar mit 9,2% in ihrem Stammland mühelos nehmen, doch reichte das Resultat bundesweit nicht, um die 5-%-Hürde zu überwinden. Zur Bundestagswahl 1957 bemühte sich der HPVorsitzende Baumgartner vergeblich um ein Bündnis mit der Deutschen Partei; stattdessen kam es zu dem bereits im Vorfeld wenig aussichtsreichen Zusammenschluß mit dem Zentrum und der von der DP abgesplitterten Deutsch-Hannoverschen Partei unter dem Namen "Föderalistische Union" (FU). Das Wahlbündnis kam lediglich auf 254.000 Stimmen (0,9%), wobei die BP mit 168.000 Stimmen (3,2% in Bayern) noch den Löwenanteil auf sich vereinte. Auf Landesebene vollzog sich der Zerfall der BP wesentlich langsamer. Zur Landtagswahl 1954 hatte sie mit 1.286.000 Stimmen ( 13,2%) zwar beträchtliche Verluste gegenüber den Wahlen von 1950 hinnehmen müssen, doch gelang es ihr, gemeinsam mit der SPD, FDP und dem BHE in eine Vierer-Koalition unter Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) einzutreten, wobei sie mit Joseph Baumgartner (Landwirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident) und August Geislhöringer (lnnenminister) sowie zwei Staatssekretären am Kabinettstisch vertreten wurde. Doch konnte auch diese erst- und einmalige Regierungsbeteiligung der BP den Auflösungsprozeß nicht mehr stoppen. Den Attacken der CSU, die der BP aufgrund der Beteiligung an einer "Linkskoalition" den christlich-konservativen Charakter absprach, wußte die Parteileitung wenig entgegenzusetzen. Zur Landtagswahl 1958 erreichte die BP 8,1 %; ihre Abgeordneten mußten auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. In dieser Legislaturperiode brach der "Spielbankenprozeß", der mit der Verurteilung der beiden ehemaligen BP-Minister Baumgartner und Geis1höringer endete, der BP moralisch das Genick. 82 1962 gelang ihr bei einem Ergebnis von 4,8% nochmals knapp der Einzug in den Landtag, da in Niederbayern die 10-%-Hürde überwunden werden konnte. Die BP ging nun eine Koalition mit der CSU ein; allerdings wurde ihr lediglich nur noch der Posten eines Staatssekretärs zugestanden, den ihr Vorsitzender Wehgartner übernahm. Gleichwohl wechselten in dieser Legislaturperiode drei von acht Abgeordneten der BP zur CSU über. "Die parlamentarische Geschichte der BP ist somit auch eine Geschichte des schubweisen Fraktionswechsels, der "Fahnenflucht" im Zeichen des Sieges der CSU über ihre bayerische Rivalin." 83 Kurz vor der Landtagswahl 1966 traten im Streit über das Verhalten gegenüber der CSU Wehgartner und andere Führungskräfte aus der BP aus 82 Zum sogenannten "Spielbankenprozeß" siehe auch Heinrich Senfft: Glück ist machbar. Der bayerische Spielbankenprozeß, die CSU und der unaufhaltsame Aufstieg des Doktor Friedrich Zimmermann. Ein politisches Lehrstück, Köln 1988; darin v. a. S. 89-96 u. 161-187. 83 Mintzel (wie Anm. II), S. 458.
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und zur Union über. Jedoch gelang es der BP mit der Wahl des charismatischen Helmut Kalkbrenner, einen Politiker zu gewinnen, der einen kämpferischen Wahlkampf führte. In Ober- und Niederbayern überwand die BP die 5%-Hürde deutlich, in allen anderen Regierungsbezirken blieb sie ebenso deutlich darunter, was zur Folge hatte, daß bei einem Gesamtresultat von 3,4% der Einzug ins Maximilianeum verpaßt wurde. In der Folge kam es zu Spannungen zwischen den "Modemisierem" um Kalkbrenner und den "Traditionalisten" um Lallinger, die darin gipfelten, daß sich Kalkbrenner mit seiner Anhängerschaft 1967 abspaltete und die "Bayerische Staatspartei"(BSP) gründete, die bei Wahlen allerdings noch marginalere Ergebnisse erzielte als die geschwächte BP. 84 Bei der Landtagswahl 1974 fiel die BP erstmals unter die 1 %-Marke. 1976 fügte die Abspaltung der Gruppe um Ludwig Volkholz ("Christliche Bayerische Volkspartei"/CBV) der BP eine weitere Schwächung zu. Nachdem die BP bei der Kommunalwahl 1978 auch sämtliche Kommunalmandate einbüßte, schien die Todesstunde der Partei geschlagen zu haben. Das drohende Ende wehrte die Partei 1979 mit der Wahl einer neuen Führungsspitze unter dem Vorsitzenden Max Zierl und dessen Generalsekretär Hubert Dom ab. Vor allem dem populären Redner Dom, der 1989-1999 als Vorsitzender amtierte, gelang es, unter Rückgriff auf ihre traditionellen Auftrittsformen wie Festzelt-Kundgebungen und Fahnenaufmärsche die Parteistrukturen zu reorganisieren und den Abwärtstrend bei Wahlen aufzuhalten. 1988/89 kehrte die CBV wieder in die "Mutterpartei" zurück.85 Zugleich übernahm die Bayernpartei neue Themen, vor allem im ökologischen Bereich, die erfolgreich mit dem traditionellen Heimatschutzkonzept verknüpft werden konnten. Mitte der 90er Jahre verfügte die BP wieder über rund 50 Mandate in Kreistagen und Gemeinderäten sowie einen Sitz im Oberbayerischen Bezirkstag. Doch trotz dieser partiellen kommunalpolitischen Verankerung und vereinzelter, bescheidener Wahlerfolge (Europawahl 1994: 1,6%, Landtagswahl 1994: 1,0%) vermochte die BP es nicht mehr, sich auf Landes- oder gar Bundesebene politisches Gehör zu verschaffen. Ende der 90er Jahre fiel sie wieder in die Bedeutungslosigkeit zurück und übt nur noch die Funktion eines politischen Traditionsvereins mit Parteienstatus aus, der die Erinnerung und das Erbe der "Bayerischen Bewegung" am Leben zu erhalten trachtet.
84 Die BSP erzielte bei den Landtagswahlen 1970, 1974 und 1978 lediglich 0,2% bzw. 0,1% der Stimmen; sie schloß sich später der Europäischen Föderalistischen Partei als bayerischer Landesverband an und trat letztmals bei der Landtagswahl 1986 (0,0%) in Erscheinung. Zur Geschichte der BSP siehe Mintzel (wie Anm. 11), s. 437-439 u. 443-445. 85 Eichmüller (wie Anm. 14), S. 180.
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Der "Bruderkampf' zwischen CSU und BP ist längst entschieden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die BP die dynamischere Kraft dar, die aufgrund der gravierenden Probleme wie Entnazifizierung, Güterknappheit, Zustrom ("Überfremdung" durch Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte) der CSU reichlich Potential abzog. Mit der Stabilisierung der Bundesrepublik in den 50er Jahren kehrte sich dieser Prozeß um. 86 Mit der Festigung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik, der Westeinbindung und dem heraufziehenden Kalten Krieg verloren die bayernstaatlich geprägten Themen der BP nun immer mehr an Bedeutung. Zudem geriet in dem Maße, in dem sich die Parteipolitik auf die beiden "Volksparteien" polarisierte, die bürgerlich-konservativen Kleinparteien in den Sog dieser Polarisierung. Verstärkt wurde diese Tendenz überdies durch die Verschärfung der Wahlgesetzgebung - die Einführung der bundesweiten 5 %-Sperrklausel führte dazu, daß die BP ab 1953 nicht mehr im Bundestag vertreten war. All diese Entwicklungen leiteten ab Mitte der 1950er Jahre einen zunehmenden Erosionsprozeß der BP ein. Spitzenpolitiker wie Anton Besold und zahlreiche Landtagsabgeordnete traten zur CSU über. Die Beteiligung an der Viererkoalition 1953-1957 verschärfte diese Lage noch. Gegenüber SPD, FDP und BHE gelang es der BP nicht, ihr christlich-konservatives Profil durchzusetzen; die CSU hingegen nutzte diese Situation, um die BP in einem Atemzug mit den "atheistischen" und "sozialistischen" Parteien zu nennen. Nach der Landtagswahl 1957 zog sich die BP aus der Regierungskoalition zurück, ohne eine Neuorientierung aufzuzeigen. Vielmehr führte in den Folgejahren 1958/59 der "Spielbankenprozeß", in dem der CSU ,jegliche Zuspitzung des Kampfes gegen ihre Konkurrenzpartei recht" war87 zur Desavourierung der HP-Führungsspitze. In diesem "Bruderkampf' wandte die CSU ausgesprochen fragwürdige Mittel und Methoden wie Korruptionsverdächtigungen, Lockvogel-Affären und den Mißbrauch der Staatsverwaltung an, um die unliebsame konservative Konkurrenz auszuschalten, denn, so Strauß in seinen Memoiren: "Die Sozialdemokraten waren für mich politische Konkurrenten, der strategische Gegner war über Jahre hinweg die Bayempartei."88 Freilich war die Spielbanken-Affäre nicht Anlaß für den Niedergang der BP, sondern nur noch deren Beschleuniger. Der eigentliche Grund für das Verschwinden der BP ist in dem Wandel Bayerns von einem Agrar- zu einem Industrieland zu suchen und dem damit einhergehenden Verschwinden des traditonalistisch-bäuerlichen Milieus. Die BP wurde mehr als alle anderen konservativen Parteien ein Opfer der Modeme. Denn "während es 86 87 88
Wolf (wie Anm. 9), S. 245. Ebenda, S. 250. Franz-Josef Strauß: Die Erinnerungen, München 1988, S. 528.
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der CSU nach heftigen inneren Auseinandersetzungen und Flügelbildungen gelang, zum eigentlichen politischen Agenten der späten Vollindustrialisierung Bayerns und damit gegenüber der BP zur modernen Partei und Partei der Modernisierung Bayerns zu werden, scheiterte die BP (... ) an ihrer partikularistischen Verteidigung überkommener Strukturen und Traditionen des "alten" Bayerns. Ihr allzu bayerisch-vaterländischer partikularistischer Kurs, ihre schroffe Abwehr von "Überfremdung", ihre Ambivalenz in Bezug auf Öffnung und Modernisierung (...) verhinderten einen programmatischen und praktischen Durchbruch zu einem mittleren Kurs zwischen herkömmlicher "Bayerntreue" und der Öffnung und Anpassung an neue, unumgängliche Entwicklungen." 89
IV. Deutsche Zentrumspartei Die Zentrumspartei, die sich am 14. Oktober 1945 gründete, war eine Wiederbelebung der traditionsreichen Partei des politischen Katholizismus. Sie war zugleich das "Ergebnis einer seit dem Frühjahr 1945 andauernden kontroversen Diskussion zwischen ehemaligen Zentrumspolitikern, Vertretern der christlichen Arbeiterbewegung, der katholischen Verbände und des Klerus über eine den Nachkriegsbedingungen adäquate Form des politischen Katholizismus."90 Die Wiedergründung des Zentrums vollzog sich dabei gewißermaßen im Wettlauf mit der sich zur selben Zeit formierenden CDU, die sich an die selbe Wählerklientel wandte. Im Kaiserreich war das Zentrum eine Partei, deren Anhängerschaft sich aus unterschiedlichsten sozialen Schichten - vom Großagrarier über den Mittelstand bis hin zur rheinischen und schlesischen Industriearbeiterschaft - rekrutierte. Das Bindeglied, das dieses höchst heterogene Konglomerat umschloß, war der politische Katholizismus. "Durch diese Integrationsfähigkeit unterschied sich die Zentrumspartei von allen anderen Parteien des Kaiserreiches; sie wurde daher auch - mit Einschränkungen - als erste Integrations- und Volkspartei in Deutschland bezeichnet."91 In der Wilhelminischen Ära überwog in der Zentrumspartei eine eindeutig konservative Tendenz. Programmatisch hing die Partei Ludwig Windhorsts "mehrheitlich der Vorstellung von einem großdeutschen Reich unter Einschluß des katholischen Österreich" an. Diese Haltung, deren inhärent antipreußische Tendenz während des "Kulturkampfes" besondere Schärfe gewann, führte auch dazu, daß das Zentrum zeitweilig eng mit föderalistisch-konservativen Regionalparteien, insbesondere der Bayerischen Patriotenpartei und der 89 90 91
Mintzel (wie Anm. 11), S. 395. Schmidt: Parteien-Handbuch (wie Anm. II), S. 1198.
Ebenda, S. 1194.
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Deutsch-Hannoverschen Partei, aber auch anderen Gegnern der Bismarckschen Reichsgründung (Polen, Elsässer) kooperierte. In der Endphase des I. Weltkrieges dominierten kurzzeitig Positionen des linken Parteiflügels, der unter Mathias Erzherger in Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und linksliberaler "Fortschrittlichen Volkspartei" auf einen "Verständigungsfrieden" hinarbeitete. In der Weimarer Republik klafften die Vorstellungen der verschiedenen, unter dem Dach des Zentrums vereinten Strömungen weit auseinander. Vor allem "an der Frage der Staatsform (Monarchie oder Republik), der Legitimität der Republik, an der Definition des Zentrums (als "Verfassungspartei" oder als "Staatspartei") sowie am Verhältnis zur Mehrheitssozialdemokratie schieden sich seit dem Beginn der Weimarer Republik linke und rechte Zentrumspositionen. " 92 Hinzu stand das Zentrum vor dem Problem, sowohl den rechtsorientierten Christlichen Gewerkschaften- um deren Gunst das Zentrum mit DVP und DNVP buhlte - als auch der sich auf die katholische Soziallehre berufenden "Katholischen Arbeiterbewegung" (KAB) gerecht zu werden. Deutlich wurde dies 1928, als mit Prälat Kaas ein dezidiert konservativer Vertreter des Klerus sich gegen Adam Stegerwald (Christliche Gewerkschaften) und Joseph Joos (KAB) durchsetzte. Die Vertreter des Zentrumsgedankens gingen 1945 von der Vorstellung aus, das Parteisystem der Weimarer Republik werde nach dem Kriege zumindest in seinen Grundzügen, d. h. mit einer ähnlich extremen LinksRechts-Polarisierung, wiederentstehen und deshalb dem Zentrum Platz bieten zwischen den stärker gewordenen politischen Organisationen der Arbeiterbewegung auf der Linken und den konservativen und nationalistischen, in der Tradition der Deutschnationalen stehenden Parteien auf der Rechten. Die Promotoren des interkonfessionell-christlichen Parteientyps, der späteren CDU, rechneten dagegen mit einer Veränderung der Strukturen des Parteiensystems. Hintergrund dieser Befürchtungen - aus den Umbrüchen der Zeit durchaus berechtigt - war die Sorge vor einem Zusammengehen aller Kräfte der politischen Linken und einer dadurch im Bereich des Möglichen liegenden Umgestaltung bzw. Auflösung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Um dieser Tendenz wirkungsvoll entgegenzutreten, erschien es am sinnvollsten, ein möglichst breites Bündnis bürgerlich-konservativer Kräfte auf interkonfessioneller Grundlage und unter Einschluß früherer christlich-sozialer, deutschnationaler, nationalliberaler Positionen zu schaffen. Genau dieses Bestreben stieß auf entschiedenen Widerspruch der Traditionalisten unter den Zentrumsanhängem. Diese Ablehnung gründete sich zum einen in einem Selbstverständnis, das - bei allem Bekenntnis zur Inter92
Ebenda, S. 1195.
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konfessionalität - im Zentrum immer noch eine katholische Partei sah, die sich in einem protestantisch dominierten Deutschland zugleich als "Kampfpartei für die Rechte und die Integration der benachteiligten Glaubensgemeinschaft" stark machte. Zum anderen keimte, vor allem bei Vertretern des linken Zentrums-Flügels die Sorge, "eine Verbreiterung der Zentrumsbasis durch die Aufnahme von Protestanten komme einer Öffnung nach rechts im Sinne der Harzburger Front gleich". 93 Das christlich-demokratische Lager stand 1945 also vor einer Weggabelung. War der konzeptionelle Ansatz der CDU die auf möglichst breiter Basis ruhende Volkspartei unter Einschluß gemäßigt rechter Kräfte, so vertrat das Zentrum den Ansatz einer "Partei der Mitte und des sozialen Ausgleichs". Diese "Abgrenzung nach rechts war ein wichtiges Legitimationsmuster für die Gründung des Nachkriegszentrums und die Konfrontation mit der CDU."94 Die Zentrums-Partei blieb aber auch nach dem Krieg trotz sozialprogressiver Töne eine "bürgerliche Partei mit mittelständisch-agrarischem Gepräge. (... ) Das Zentrum war vor allem die Partei des (katholischen) gewerblichen, kaufmännischen und agrarischen Mittelstandes; sie band zudem katholische Landarbeiter und einen großen Teil der aus ländlichen Regionen stammenden katholischen Industriearbeiterschaft, sofern sie noch kirchliche Bindungen und Beziehungen zu dem ihnen vertrauten dörflichen Milieu besaßen.( ... ) aus dieser Verwandtschaft erklärt sich, daß CDU und "Neuzentrum" (. . .) besonders heftig um dieselben Wählerschichten konkurrierten."95 Die Wiedergründung am 14.10.1945 im Soester "Patrokluskeller" erfolgte in Hochstimmung und Zuversicht. "Traditionalistisches Denken bestimmte nicht nur die Atmosphäre der Soester Proklamationsveranstaltung, sondern prägte im Herbst 1945 auch die meisten lokalen Zentrumsinitiativen, die "das alte, ruhmreiche und kampferprobte Banner des Zentrums" wieder aufrichten wollten. "96 Es waren vor allem Gründungen, die durch Honoratioren der alten Zentrumspartei initiiert wurden, und die Beschwörung des "Vätererbes" stellte die eigentliche Motivationskraft und Triebfeder dar. Programmatisch knüpfte die Zentrumspartei in ihrem "Soester Programm" an ihre Vorgängetin aus der Weimarer Republik an: "Wahrheit, Recht und Freiheit, die ewigen Gesetze des Naturrechts und die tragenden Ideen der christlich-abendländischen Kultur sind die Triebkräfte seines politischen Strebens. Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit sind Grundsteine der Gesellschaft und des Staates. Der totale Staat wird schärf93 94
95 96
Ebenda, S. 1199. Ebenda, S. 1200. Schmidt: Zentrum oder CDU? (wie Anm. 10), S. 288. Ebenda, S. 223.
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stens abgelehnt. Das Zentrum ist Hüter des Reichsgedankens auf föderativer Grundlage. Es achtet die Rechte und das Eigenleben der Länder und die Eigenart der deutschen Stämme in Kultur und Religion. " 97 Auch der Name "Zentrum" selbst wurde als Ausdruck des politischen Selbstverständnisses angesehen, "denn das grundlegende Prinzip der Zentrumspolitik, die "Politik der Mitte", war vom katholischen Naturrechtsverständns her untermauert, das für Anhänger anderer Glaubensbekenntnisse nur schwer nachzuvollziehen war." 98 In Fragen der Tagespolitik zeichneten sich rasch zwei Grundpositionen ab, die zugleich auch Ausdruck zweier im Zentrum vertretener Richtungen waren: In der Sozialpolitik setzte das Zentrum - begründet durch die christliche Soziallehre - auf den Gedanken der Solidarität mit den sozial schwächeren Bevölkerungsschichten und propagierte eher linke Forderungen, z. B. den Wunsch nach Verstaatlichung bestimmter Wirtschaftsstrukturen.99 In kulturellen Fragen hingegen verfocht das Zentrum einen dezidiert konservativen Kurs. Besonders charakteristisch waren dabei das Pochen auf dem Elternrecht und der Konfessionsschule, der Hervorhebung der Kulturhoheit der Länder, der Dezentrarität und Eigenverwaltung sowie die Betonung des hohen Wertes des Eigentums - eine Forderung, die sich auch in einer dezidiert mittelstandsund bauernfreundlichen Wirtschaftsprogrammatik niederschlug. Diese konservative Richtung wurde insbesondere von Wilhelm Hamacher, dem ehemaligen Generalsekretär des rheinischen Zentrums am Ende der Weimarer Republik und bei der Wiedergründung 1945 gewählten Bundesvorsitzenden sowie seinem späteren Amtsnachfolger Johannes Brackmann repräsentiert. Die Reorganisation der Zentrumsstrukturen vollzog sich zeitgleich zum Ausbau der neuen christlich-demokratischen Union. Sehr rasch setzte ein Exodus von Zentrumsmitgliedern und -funktionären auf Kreis- und Ortsebene Richtung CDU ein. Retrospektiv betrachtet, hatte das Zentrum bereits im Winter 1945 den Kampf um die Dominanz im katholischen Lager verloren. Dieses Schicksal war allerdings schon zuvor besiegelt worden, als auf der katholischen Bischofskonferenz in Fulda (21.-23.8.1945) sich der Klerus für den interkonfessionellen Sammlungsgedanken entschied. Damit war zwar Soester Programm v. 1945, in: Flechtheim (wie Anm. 35), S. 244. Schmidt (wie Anm. 10), S. 193. 99 Spieckers Politik orientierte sich weniger an der katholischen Soziallehre als vielmehr am Naturrecht, plädierte für die Trennung von Weltanschauung und (Tages)Politik. Auf dem Essener Parteitag am 9./ 10. März 1946 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, avancierte er rasch zum Kopf jener Strömung, die das Zentrum in eine Mitte-Links-Partei formieren wollte. Mit diesen Positionen geriet er rasch in Konflikt zum bei weitem größeren Teil der Mitgliederschaft, die sich "der Partei in der Wiedergründungsphase zumeist aus traditionalistischen Motiven angeschlossen hatte, soziokulturell agrarisch-kleingewerblich-mittelständisch und mental konservativ-katholisch geprägt war". Schmidt (wie Anm. 10), S. 243. 97
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keine offensichtliche Parteinahme im Konflikt Zentrum versus CDU verbunden, jedoch war für die Traditionalisten ein für allemal die Hoffnungen auf die Wiedergeburt des Zentrums als großer christlicher Volkspartei zerschlagen. Alles spätere war nur Reagieren auf die CDU, ohne konzeptionell effektive Alternativstrategien zu entwickeln. In Nordrhein-Westfalen, Hochburg der Zentrumspartei auch nach der Wiedergründung, war von der britischen Militärregierung mit Dr. Rudolf Amelunxen 1946 ein Ministerpräsident eingesetzt worden, der ein Allparteienkabinett leitete. Bei den ersten Landtagswahlen in diesem Bundesland 1947 errang das Zentrum mit 9,8% der Stimmen 20 Mandate. Im selben Jahr gelang bei der niedersächsischen Landtagswahl mit einem Ergebnis von 4,1 % und sechs Mandaten ebenfalls der Einzug in ein Parlament. In beiden Ländern beteiligte sich das Zentrum auch an den Regierungen und stellte Minister. Die Bundestagswahl 1949, bei der noch keine 5-%-Klausel galt, erbrachte für das Zentrum ein Resultat von 3,1% und zehn Abgeordnetensitze. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich endgültig ab, daß die Traditionspartei der CDU nicht mehr das christliche Wählerreservoir streitig machen konnte. Die Folge waren Gespräche zwischen dem Zentrumsvorsitzenden Carl Spiecker und dem CDU-Politiker Karl Amold, in denen Möglichkeiten eines Zusammengehens ausgelotet wurden. Beide Partner verfolgten bei dem Gedanken an die Fusion überdies das Ziel, zur Schwächung rechter CDU-Positionen beizutragen und die entstehende Volkspartei stärker auf christlich-sozialen Kurs zu bringen. Nach dem gescheiterten Fusionsversuch verließ Spiecker und ein Teil des ihm nahestehenden linken Zentrums-Flügels die Partei und wechselte zur Union über. Auch Spieckers zeitweilige Amtsnachfolgerin und Fraktionsvorsitzende im Bundestag, die gleichfalls auf dem linken Flügel angesiedelte Helene Wessel, verließ 1952 die Partei, nachdem ihr Engagement in der "Notgemeinschaft für den Frieden Europas" für erhebliche Spannungen gesorgt hatte. Der Exodus der beiden profiliertesten Exponenten der linken Strömung führte im übrigen zu einer Stärkung der konservativen Richtung im Zentrum, personifiziert im neuen Vorsitzenden Johannes Brockmann, der von 1952 bis 1969 die Geschicke der Partei leitete. Programmatisch kam die nun wieder stärkere katholisch-konservative Linie insbesondere in der am 7.8.3.1953 beschlossenen "Kölner Erklärung" zum Ausdruck. In dieser bekannte sich das Zentrum zur "föderativen Einigung Europas als Voraussetzung für eine internationale Entspannung und die Wiedervereingiung ganz Deutschlands". Neutralität und Wehrpflicht wurden abgelehnt, die Zugehörigkeit mit den "anderen freien Nationen" bejaht. Im Abschnitt Eheund Familienrecht vertrat das Zentrum die naturrechtlich-konservativen Vorstellungen der katholischen Kirche: "Schutz der christlichen Ehe, Gleichberechtigung der kirchlichen Trauung mit der standesamtlichen Ehe-
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schließung, ein Ende des Liberalismus im Scheidungsrecht, die Ablehnung des Zerrüttungsprinzips." 100 Auch wenn diese Politik "die treuesten Anhänger der Zentrumspartei ... aus der katholisch-konservativen Bevölkerung der Stammlande des alten Zentrums" 101 eher ansprach als eine pazifistische und tendenziell linksorientierte Politik, konnte die Erosion der Partei nicht mehr aufgehalten werden. Bei den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen ging der Stirnmanteil stetig zurück (1950: 7,5%, 16 Mandate; 1954: 4,0%, 9 Mandate) und 1958 verfehlte die Partei mit 1,1 % bereits deutlich den Wiedereinzug. Die katholische Kirche verfolgte in den Jahren, in denen das Zentrum in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen noch in den Landesparlamenten vertreten war, gegenüber den beiden christdemokratischen Parteien zunächst eine Doppelstrategie: Zum einen ergriff sie immer offener Partei für die CDU, zum anderen riet sie dieser und dem Zentrum aber, sich zu Wahlbündnissen und Absprachen bei der Kandidatenaufstellung zu einigen, um eine Zersplitterung des christlich-konservativen Spektrums zu vermeiden. Ihr erschien es günstiger, wenn sich "die Herren der gemischten CDU" 102 im nordrhrein-westfälischen Landtag statt auf die liberale FDP auf einen kleineren Koalitionspartner fixierte, der katholisch und in kulturellen Fragen konservativ orientiert war. So kam es zur Bundestagswahl 1953 auf Vermittlung der Kirche zu einer Absprache, bei der die CDU dem Zentrums-Vorsitzenden Johannes Brackmann einen sicheren Direktwahlkreis überließ, und das Zentrum im Gegenzug in allen übrigen Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens auf Direktkandidaten verzichtete. Auch im Vorfeld der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1954 suchte die Kirche ein Bündnis zwischen CDU und Zentrum zu vermitteln, was aber vom LandesparteiausschuB des Zentrums am 9.1.1954 in Hamm aus Furcht vor der Majorisierung durch den größeren Bundesgenossen abgelehnt wurde. Der Zerfall der Parteistrukturen und die Überalterung der Mitglieder stellten das Zentrum Mitte der 50er Jahre vor die Notwendigkeit, sich mit programmatisch ähnlich gelagerten Parteien zu verbünden. Die intensivste Bindung kam dabei mit der Bayernpartei zustande. Mit dieser hatte das Zentrum bereits im ersten Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft unter dem Namen Föderalistische Union gebildet. Zur Bundestagswahl 1957 schlossen diese beiden Parteien sowie die Deutsch-Hannoversche Partei, eine welfische Abspaltung der Deutschen Partei, ein gleichnamiges Wahlbündnis. Aufgrund von Formfehlern bei der Aufstellung der Landeslisten gelang es der FU aber nur, in den drei Ländern Bayern, Niedersachsen und Nord100
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Flechtheim (wie Anm. 35), Bd. 2, S. 265. Schmidt (wie Anm. 11), S. 1211. Schmidt (wie Anm. 10), S. 312.
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rhein-Westfalen zur Wahl zugelassen zu werden. Das Ergebnis war mit bundesweit 0,9% ernüchternd und führte zur raschen Auflösung der FU. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1965 kam es erneut zu Bestrebungen, eine föderalistische Sammlungsbewegung unter Einbeziehung der beiden bisherigen Partner sowie der dänischen Volksgruppenpartei Südschleswigscher Wählerverband (SSW) und der Saarländischen Volkspartei (SVP) zu bilden. Am Ende gründeten SVP und Zentrum eine neue Dachorganisation, die "Christliche Volkspartei" (CVP), die mit 0,1% der Stimmen völlig bedeutungslos blieb. Zur Bundestagswahl 1969 kandidierte das Zentrum erfolglos in Nordrhein-Westfalen (0,1 %), zur Bundestagswahl 1972 rief es zur Wahl der CDU auf. Die Deutsche Zentrumspartei besteht auch heute noch. War sie in den 70er Jahren bis zu ihrem Antritt zur Europawahl 1979 in der politischen Versenkung verschwunden, so kam es Anfang der 1980er Jahre zu einer Reaktivierung der Partei aufgrund des Einströmens christlich-fundamentalistischer Gruppierungen. Diese personelle Zufuhr brachte dem Zentrum bei der Europawahl 1984 einen leichten Stimmenzuwachs (0,3% ), eröffnete aber zugleich auch eine Phase erbitterter interner Querelen. Diese endeten schließlich damit, daß die fundamentalistischen Kräfte sich vom Zentrum als "Christliche Partei für das Leben" (1985) und als "Christliche Mitte" (1987) abspalteten. Aus diesen parteininternen Turbulenzen ging das Zentrum geschwächter denn je; weder auf bundes- und landespolitischer als auch auf kommunalpolitischer Ebene - von verstreuten Relikten in Westfalen abgesehen - hat die Partei, die entgegen ihres Selbstverständnisses 103 nur noch den Charakter einer "Traditionskompagnie" 104 besitzt, heute noch eine Relevanz.
V. Zusammenfassung Alle drei christlich-konservativen Parteien waren in Regionen verankert, in denen ein stark katholisch bzw. konservativ-protestantisch geprägtes Sozialmilieu und - hierin wurzelt der Partikularismus dieser Parteien - eine aus historischen oder konfessionellen Gründen skeptische Haltung gegenüber einer starken Zentralgewalt die politisch konstitutiven Momente 103 So heißt es in einer Eigendarstellung: "Im Rahmen des ihr Möglichen versucht die Zentrumspartei, die Zentrumsidee lebendig zu erhalten und wirksam zu vertreten, weil sie davon überzeugt ist, daß eine Demokratie ohne wertbezogene und wertbeständige Mitte auf Dauer nicht überleben kann und weil es für das Zentrum nun einmal keinen Ersatz gibt." In: Kurier vom Zentrum, 5, 1982, S. 2. 104 Vgl. den Bericht der Lippstädter Zeitung v. 19.10.1995: "Referent sieht Hoffnungsschimmer für das Zentrum. Vor 125 Jahren Gründung, vor 50 Jahren Wiederbegründung in Soest/ Festakt mit Rück- und Ausblick".
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waren. Der jungen Bundesrepublik standen die regionalen konservativen Parteien deshalb nicht aus antidemokratischem Ressentiment fern , wohl aber wandten sie sich gegen die Tendenz zu einer nivellierten Gesellschaft, da sie in ihr den Untergang christlicher Werte und die Preisgabe des föderalistischen Prinzips angelegt sahen. Aus diesen Gründen lehnten BP, DP und Zentrum auch das Grundgesetz ab, was sie nicht darin hinderte, sich an Regierungen auf Länder- oder Bundesebene zu beteiligen und sich gegenüber dem neuen Staatswesen loyal zu verhalten. Die Auflösung des, aus der Wilhelminischen Ära herrührenden Sozialmilieus im Zuge einer durch Technik, Medien, Verkehr und wirtschaftliche Verflechtungen immer stärker nivellierten Gesellschaft führte auch zum Ende der in diesem schwindenden Milieu angesiedelten Parteien. 105 Ihre kurzlebige Geschichte ist daher die Geschichte eines verzweifelten Abwehrkampfes, den sie an zwei Fronten zu bestehen hatten: Zum einen arbeitete die Modernisierung aller Lebensbereiche ihrem Gesellschafts- und Kulturverständnis entgegen, zum anderen - und dies scheint zwangsläufig mit ersterem Prozeß verwoben - entzog ihr die Konzentrationstendenz im Mitte-Rechts-Lager die Legitimation einer eigenständigen Existenz. Der Gedanke der Einigung des christlich-konservativen Lagers in einer großen Unionspartei hatte in den 1950er Jahren eine sehr starke Anziehungskraft, der die regionalen Heimatparteien wenig entgegenzustellen vermochten. Die Geschichte des Aufgehens der kleinen konservativen Regionalparteien in der CDU/CSU ist im Einzelfall grundverschieden, folgt aber dennoch einer grundsätzlichen Tendenz: Der Reduzierung des aus der Weimarer Zeit herrührenden, aufgefächerten Parteienspektrums auf eine "Volkspartei". Während die Bayernpartei in einem harten, oft mit mehr als fragwürdigen Mitteln ausgefochtenen Kampf gegen die CSU aufgerieben wurde, mußte die Deutsche Partei dasselbe Schicksal erleiden, obwohl sie nicht auf Konfrontationskurs gegenüber der Union angelegt war, sondern, im Gegenteil, durch allzugroße Nähe immer mehr die eigenen Konturen einbüßte. - Dem Sog der Modeme konnten diese Parteien in der Phase des "Wirtschaftswunders" nicht entgehen. Die Ironie der Geschichte freilich führte dazu, daß jene Gründe, die Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre zum Untergang der kleinen konservativen Parteien führten - einseitige Fixierung auf materielles Wachstum, technischer Fortschrittsglauben und gesellschaftliche Nivellierung - in den 70er Jahren maßgeblichen zur neuerlichen Auffacherung des Parteienwesens beitrugen. Anstelle des Heimatschutzes trat nun aber der Umweltschutz, und an die Stelle des traditionellen "Gärtnerkonservativismus" die politische Ökologie.
105
Mintzel!Oberreuter (wie Anm. 12), S. 73.
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in den USA Von Ulrich E. Zellenberg
I. Das Problem des amerikanischen Konservatismus Es ist oft behauptet worden, daß in den USA ein echter Konservatismus nie existiert habe. 1 So ist nach Louis Hartz, dem bekanntesten Verfechter dieser These, für die politische Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika das Fehlen einer wirklich konservativen Tradition charakteristisch. Kennzeichnend für das Land sei vielmehr eine alles durchdringende liberale Norm. 2 Ein amerikanischer Konservativer könne, wie ein anderer Anhänger dieser Auffassung gemeint hat, folglich nur sein, wer den Liberalismus bejahe. 3 Von diesem Standpunkt aus wird alles, was sich so wie etwa das Gesellschaftssystem der Südstaaten vor dem Bürgerkrieg oder Senator McCarthys Kreuzzug gegen Kommunisten nicht in den liberalen Ordnungsrahmen einfügen läßt, zu einer gleichsam pathologischen4 oder doch zumindest primär psychologisch zu erklärenden Erscheinung.5 Zugebilligt wird dem Konservatismus, verstanden als eine im Gegensatz zum Liberalismus stehende politische Strömung, nur, in Amerika als wesenhaft literarisches Phänomen überdauert zu haben. 6
1 Für eine eingehende Diskussion der in diesem Zusammenhang relevanten Positionen siehe Arthur Aughey/Greta Jones/W. T. M. Riches: The Conservative Political Tradition in Britain and the United States, London 1992, S. 1 ff. 2 Louis Hartz: The Liberal Tradition in America, New York 1955, San Diego u.a. 3 1991, S. 57. 3 Stuart Gerry Brown: Democracy, The New Conservatism, and the Liberal Tradition in America, in: Ethics 66 (1955), S. 1-9 (S. 8). 4 Hartz: Tradition (wie Anm. 2), S. 149: "There is a book to be written in the psychiatric vein ... about the Southem search for a cultural code before the Civil War." s So lautet etwa die zentrale These des einflußreichen Buches von Daniel Bell (Hrsg.): The Radical Right, Garden City, NY 2 1963, daß der McCarthyismus auf Statusängste zurückzuführen sei. Für eine Diskussion dieser Auffassung siehe William B. Hixson, Jr.: Search for the American Right Wing. An Analysis of the Social Science Record, 1955-1987, Princeton, NJ 1992, S. 9ff.
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Nun spricht in der Tat einiges für die These, daß es sich bei den USA um ein zutiefst liberal geprägtes Gemeinwesen handle, in dem nur Spielarten des Liberalismus, nicht aber aus anderen Ideenkreisen stammende politische Konzeptionen eine dominierende Rolle spielen und gespielt haben. So ist zusammen mit dem Abtreten der als Tories bezeichneten, im Rahmen der Unabhängigkeitsbestrebungen der Krone gegenüber loyal gebliebenen Kolonisten von der politischen Bühne - sie wanderten zum Großteil nach Kanada aus oder kehrten nach England zurück7 - auch deren organisch-konservatives Gesellschaftsdenken aus dem politischen Diskurs verschwunden. 8 Dazu kommt, daß die amerikanische Revolution, wenn man sie auch mit guten Gründen als eigentlich konservative, gegen Tyrannei und um die Verteidigung der "rights of Englishmen" geführte ansehen kann, 9 nicht nur einen Bruch mit der Monarchie bewirkt, 10 sondern auch zur Schaffung einer geschriebenen Verfassung geführt hat, der Vorstellungen des britischen Konstitutionalismus und liberale Ideen zugrunde liegen. Zudem stehen Gesellschaftsverträge am Anfang Amerikas, was sich sowohl am politischen Denken der Puritaner als auch und insbesondere an Dokumenten zeigt, denen wie etwa dem "Mayflower Compact" und den "Fundamental Orders of Connecticut" zentrale Bedeutung im Rahmen der politischen Tradition Amerikas zukommt.ll Nicht zu übersehen ist auch der Umstand, daß sich die USA im Hinblick auf ihre politische Kultur und Sozialstruktur von den Ländern Europas insofern ganz erheblich unterscheiden, als soziale Hierarchien, obrigkeitsstaatliehe und ständische Traditionen in den Vereinigten Staaten immer eine ungleich geringere Rolle als in Europa gespielt haben. In Amerika, das in 6
Allen Guttmann: The Conservative Tradition in America, New York 1967,
s. 11.
7 Siehe dazu Leonard Woods Labaree: Conservatism in Early American History, New York 1948; William H. Nelson: The American Tory, Oxford 1961, Boston 2 1992; Guttmann: Tradition (wie Anm. 6), S. 14. 8 Vgl. Nelson: Tory (wie Anm. 7), S. 189 f.: "If there were any serious consequences to America from the silencing and expulsion of the Loya1ists, they were ... philosophical consequences: the Tories' organic conservatism represented a current of thought that failed to reappear in America after the Revolution. A substantial part of the whole spectrum of European social and political philosophy seemed to slip outside the American perspective." 9 Siehe z. B. Daniel J. Boorstin: The Genius of American Politics, Chicago/London 1953, S. 80ff.; Peter Viereck: Conservatism, in: The New Encyclopaedia Britannica, Bd. 27, Chicago u.a. 15 1988, S. 476-482 (S. 479). 10 Brown: Democracy (wie Anm. 3), S. 4f. 11 Zum Vertragsdenken der Puritaner siehe A. J. Beitzinger: A History of American Political Thought, New York 1972, S. 44 ff. Zu den expliziten Gesellschaftsverträgen siehe Willmoore Kendall/George W. Carey: The Basic Symbols of the American Political Tradition, Washington, DC 2 1995, und Theodore J. Lowi: The End of the Republican Era, Norman, OK/London 1995, S. 3ff.
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religiöser Hinsicht durch die Abwesenheit einer Staatskirche und das Vorherrschen protestantischer Sekten gekennzeichnet ist, hat es einen staatsbezogenen Konservatismus in Gestalt eines Bündnisses von Thron und Altar nie gegeben. Darüber hinaus haben die Ideale der persönlichen Freiheit und der sich selbstverwaltenden Bürgergemeinde zur weitgehend uneingeschränkten Bejahung und Durchsetzung der Marktwirtschaft sowie zur Ausbildung staatlichem Interventionismus gegenüber kritischen Haltungen geführt. Auch deshalb erscheint die amerikanische Gesellschaft als eigentlich liberale. 12 In der Tat: Die USA sind stark vom Liberalismus geprägt. 13 Der Liberalismus, der sich bei der Gründung der Vereinigten Staaten durchgesetzt und Ausdruck in der Bundesverfassung von 1787 gefunden hat, ist zwar ein konservativer, von starkem Mißtrauen gegenüber der Volksherrschaft gekennzeichneter gewesen; ein Liberalismus aber war er allemal. 14 Das hat natürlich Folgen. Für die politischen Ideen und Kräfte Amerikas und in besonderer Weise für die Konservativen ist nämlich die Bundesverfassung der zentrale Bezugspunkt: Um das "richtige" Verständnis der Verfassung, um deren Bewahrung und um die Entfaltung der in ihr niedergelegten Prinzipien werden alle grundlegenden politischen Debatten in den USA im allgemeinen und innerhalb des amerikanischen Konservatismus im besonderen geführt. 15 Es wäre nun aber verfehlt, von dem Umstand, daß sich die politische Auseinandersetzung in Amerika um das korrekte Verständnis der Verfassung 12 Seymour Martin Lipset: Ist Amerika konservativ?, in: aus politik und Zeitgeschichte, B 52/1987, S. 3-11. Allgemeiner zu den Besonderheiten Amerikas im Vergleich zu Europa, Kanada und Japan ders.: American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York/London 1996. Zur politischen Kultur der USA und ihrer Bedeutung für den Konservatismus siehe die materialreiche Untersuchung von Michael Minkenberg: Neokonservatismus und Neue Rechte in den USA. Neuere konservative Gruppierungen und Strömungen im Kontext sozialen und kulturellen Wandels, Baden-Baden 1990, S. 45ff. 13 Diese Prägung geht soweit, daß Liberale zu Konservativen werden; so ist es z. B. John Locke ergangen, der in eine amerikanische Sammlung von Zitaten Konservativer Aufnahme gefunden hat. Vgl. Rod L Evansllrwin M. Berent (Hrsg.): The Quotable Conservative. The Giants of Conservatism on Liberty, Freedom, Individual Responsibility, and Traditional Values, Holbrook, MA 1995, S. 133f. 14 Vgl. Gottfried Dietze: Konservativer Liberalismus in Amerika, Tübingen 1987. 15 Dazu Peter A. Lawler: Conservatism, American, in: Donald W. Whisenhunt (Hrsg.): The Encyclopedia of the United States of America Past & Present, Bd. 15, Gulf Breeze, FL 1991, S. 162-168. Für eine erklärtermaßen konservative Interpretation der Verfassung siehe Russell Kirk: The Conservative Constitution, Washington, DC 1990, zweite erweiterte Auflage unter dem Titel Rights and Duties. Reflections on Our Conservative Constituion, hrsg. v. Mitchell S. Muncy, Dallas 1997. Hinsichtlich der Meinungsverschiedenheiten innerhalb des amerikanischen Konservativismus über die korrekte Sicht der Verfassung siehe z. B. Harry V. Jaffa: American Conservatism and the American Founding, Durham, NC 1984, sowie ders.: Original Intent and the Framers of the Constitution, Washington, DC 1994. 12 Schrenck-Notzing
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einer durch diese wesenhaft liberal konstituierten Ordnung dreht, darauf zu schließen, daß es unter den Bedingungen des amerikanischen politischen und sozialen Systems einen anderen als einen im Kern liberalen Konservatismus nie gegeben habe und auch nicht geben könne. Das Gegenteil ist der Fall. In Amerika existiert seit jeher ein genuiner Konservatismus, der im Individuum ein soziales Artefakt sieht, das christlich geprägten moralischen Regeln unterworfen ist und dessen Interessen gegenüber den Anforderungen der Gemeinschaft unter dem Aspekt des gemeinen Wohls zurückzustehen haben. Ja, die konservative Tradition ist ebenso alt und stark wie die liberale. Im Unterschied zu dieser ist sie bislang aber nicht ausreichend als geistige und politische Kraft gewürdigt worden. Warum das so ist, warum der genuine amerikanische Konservatismus bislang kaum als solcher bemerkt und anerkannt wurde, hat Theodore J. Lowi in seiner brillanten Studie über das Ende der republikanischen Ära deutlich gemacht: 16 Der Ort des genuinen amerikanischen Konservatismus ist, von der Bundesverfassung anerkannt, der lokale und regionale, nicht aber der nationale Bereich. Nach der ursprünglichen Konzeption der Verfassung kommen dem Bund nämlich nur einige wenige genau umschriebene Kompetenzen zu, wohingegen die sogenannte "Polizeigewalt" (police power), 17 d. h. die Zuständigkeit zur Regelung der inneren Verwaltungsangelegenheiten wie etwa der öffentliche Ordnung und Sicherheit (und damit der Moral der Gemeinschaft), zur Gänze den Gliedstaaten verbleibt, und das ohne durch den Grundrechtskatalog der Bundesverfassung (Bill of Rights von 1791) beschränkt zu sein. 18 Damit ist- überspitzt gesprochen- nach der Intention der Verfassungsväter den politischen Institutionen des Bundes im wesentlichen nur die Aufgabe der Aufrechterhaltung einer liberal konzipierten Rahmenordnung zugewiesen, wohingegen den Parlamenten und Verwaltungseinrichtungen der Gliedstaaten die Befugnis zukommt, ihre Vorstellungen von der richtigen Ordnung der Gemeinschaft, egal ob es sich nun um Religionsunterricht in der Schule, die Öffnungszeiten von Läden oder Rassentrennung handelt, zu verwirklichen. Die Bundesverfassung hat es damit konservativen Ideen und Kräften ermöglicht, sich auf lokaler, regionaler und gliedstaatlicher Ebene zu entfalten. Dort haben sich antiindividualistische Positionen und Traditionen erhalten, die, wie Barry Alan Shain in seiner bahnbrechenden Studie über den Mythos des amerikanischen Individualismus gezeigt hat, 19 in Gestalt des protestantischen Gemeinschaftsideals am Anfang Amerikas stehen. Dieses 16
wwi: End (wie Anm. 11), S. 23ff.
Zum Begriff "po1ice power" siehe z.B. Forrest McDonald: Novus Ordo Seclorum. The Intellectua1 Origins of the Constitution, Lawrence, KS 1985, S. 288. 18 Vgl. Forrest McDonald: A Constitutional History of the United States, Malabar, FL 2 1986, S. 37. 17
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Ideal unterscheidet sich von heute dominierenden Konzeptionen eines liberalen Individualismus insofern, als ihm zufolge das Individuum Freiheit von der Sklaverei seiner Neigungen und Triebe nur in der menschlichen Gemeinschaft finden kann, die sich an moralischen Standards orientiert, wie sie im Leben der Familie, der Kongregation und den gemeinschaftlichen Institutionen zum Ausdruck kommen. Diese Vorstellungen haben die politische Kultur Amerikas nachhaltig geprägt und sind - wenn auch in abgeschwächter Weise - nach wie vor lebendig. Sie sind, wie William B. Hixson, Jr. in seiner Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftliehen Forschung der Jahre 1955- I 987 zum Thema der politischen Rechten aufgewiesen hat, zusammen mit anderen Konzeptionen wesentlicher Bestandteil jener vitalen, stark religiös geprägten kulturellen Milieus, die den Nährboden für die populistische politische Rechte der USA bilden. Insoweit als diese Milieus fortbestehen, wird nach Hixson auch die politische Rechte weiter existieren; deren Dauerhaftigkeit ist nämlich, so das Fazit seiner Studie, eine Konsequenz der politischen Kultur der USA. 20 Auf der Grundlage des Ansatzes von Lowi läßt sich verstehen, warum sich in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg eine auf nationaler Ebene operierende konservative Bewegung gebildet hat, warum aus den vielen lokalen und regionalen konservativen Kräften ein nationaler Konservatismus geworden ist, der unter der Führung Ronald Reagans das Weiße Haus erobern konnte: Ausschlaggebend dafür waren an Intensität, Häufigkeit und Reichweite zunehmende Eingriffe von Bundesbehörden in überkommene soziale Gefüge auf regionaler und lokaler Ebene, verbunden mit einer sukzessiven Ausweitung der Bundeskompetenzen auf Kosten derjenigen der Gliedstaaten. Diese Entwicklung fußt auf einer fundamentalen Änderung der Rechtsprechung des Supreme Court, der nach und nach über eine immer extensivere Interpretation des Vierzehnten Amendments der Bundesverfassung die meisten Bestimmungen des Grundrechtskataloges 19 Barry A. Shain: The Myth of American Individualism. The Protestant Origins of American Political Thought, Princeton, NJ 1994. Siehe auch ders.: American Community, in: Geore W. Carey/Bruce Frohnen (Hrsg.): Community and Tradition. Conservative Perspectives on the American Ex.perience, Lanham, MD/Boulder/New York/Ox.ford 1998, S. 39-62 und 189-193. 20 Hixson, Jr.: Search (wie Anm. 5), S. 327: ,.Millions of Americans continue to believe that a society of economically autonomaus individuals without extensive government intervention is feasible, that family cohesion and strict morality are compatible with advanced capitalism and technological change, that the ex.ternal world is amenable to American purposes, and that whatever difficulties ex.ist in achieving those goals come from ,alien' forces such as ,collectivism' and ,secularism' . As long as these ideas are as widely believed as they are, the right wing will endure. For the right wing to disappear, those beliefs would also have to lose their hold; and that would require a cultural and social transformation of a magnitude greater than anything America has ex.perienced."
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auch als Beschränkungen der Befugnisse der Parlamente der Gliedstaaten deutete und insbesondere mit seinen Entscheidungen zur Abtreibungsfrage, zur Rassentrennung und zur Zulässigkeil von Schulgebeten ursächlich für konservative Gegenreaktionen wurde. 21
II. Der Forschungsstand 1. Allgemeines Der Konservatismus ist nicht ohne Grund als "Waise" innerhalb der amerikanischen Geschichtswissenschaft bezeichnet worden. 22 Die ihm ausdrücklich gewidmete Literatur ist, vor allem was die Zeit vor 1945 anbelangt, nicht sehr umfangreich. Daß der Konservatismus als historisch-politisches Phänomen bislang nur ungenügend erforscht wurde, ist wohl primär darauf zurückzuführen, daß die Verwendung des Begriffes "konservativ" zur (Selbst-)Kennzeichnung politischer Überzeugungen, wenn sie auch schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rhetorik der Whigs nachweisbar ist23 , weite Verbreitung erst im Zusammenhang mit den Kräften gewonnen hat, die in Opposition zu der von Präsident Roosevelt als "liberal" bezeichneten Politik des New Deal standen.Z4 Der Zugang zum Thema ist dessenungeachtet gut erschlossen. Neben naturgemäß knappen Lexikonartikeln25 ist das Buch von Dunn und Wood21 Siehe zur juristischen Seite z. 8. Henry J. Abraham: Freedom and the Court. Civil Rights and Liberties in the United States, New York 1977, und Raoul Berger: Govemment by Judiciary. The Transformation of the Fourteenth Amendment, Indianapolis, IN 2 1997. Zur Bedeutung der geänderten Rechtsprechung für den amerikanischen Konservativismus siehe Lowi: End (wie Anm. 11), S. 30f. und 177ff. Vgl. auch die in den Anm. 90, 91 und 92 zitierten Arbeiten zur New Right. 22 Alan Brinkley: The Problem of American Conservatism, in: The American Historical Review 99 (1994), S. 409-429 (S. 410). Dieser Aufsatz bietet zusammen mit dem von Leo P. Ribuffo: Why Is There So Much Conservatism in the United States and Why Do So Few Historians Know Anything about It?, in: ebd., S. 438449, einen exzellenten Überblick über die einschlägige Literatur der letzten Jahrzehnte. 23 A. James Reichley: The Life of the Parties. A History of American Politica1 Parties, New York 1992, S. 99. 24 Vgl. Lowi: End (wie Anm. 11), S. 23f. Allgemein zur Verwendung politischer Epitheta siehe David Green: The Language of Politics. Shaping Political Consciousness from McKinley to Reagan, Ithaca, NY 1992. 25 Russell Kirk: Conservatism, in: Collier's Encyclopedia, Bd. 7, New York 33 1982, S. 204-208 (S. 207); Viereck: Conservatism (wie Anm. 9), S. 479f. und 482; Charles R. Kesler: The American Centuries, in: Brad Miner: The Concise Conservative Encyclopedia, New York 1996, S. 203-206; Ulrich E. Zellenberg: Amerikanischer Konservatismus, in: Caspar v. Schrenck-Notzing (Hrsg.): Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996, S. 30-36.
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ard über die konservative Tradition in Amerika als passable erste Einführung besonders hervorzuheben.26 Es enthält neben einem kurzen ideengeschichtlichen Abriß u. a. Kapitel über das Entstehen der konservativen Bewegung nach 1945 sowie die Ideen und Tradition des amerikanischen Konservatismus und eine nach Sachgebieten gegliederte Bibliographie. Mit Hilfe eines Quellenbuches, das Kurzbiographien wichtiger konservativer Denker und Politiker enthält, und zweier Lexika läßt sich ebenfalls ein grober Überblick gewinnen. 27 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf einige Anthologien, die für den amerikanischen Konservativismus repräsentative Texte enthalten. 28 Einige dieser Sammelbände sind exklusiv dem Schaffen einzelner konservativer Zeitschriften gewidmet. 29 Zu beklagen ist das Fehlen einer befriedigenden Gesamtdarstellung des amerikanischen Konservativismus, die dessen ideengeschichtliche Seite ebenso wie seine realpolitischen Erscheinungsformen und Wirkungen in gleicher Weise beleuchtet. Das heißt aber nicht, daß das politische Wirken der herausragenden konservativen Persönlichkeiten insbesondere der Gründungsperiode der USA und deren erster Jahrzehnte nicht Thema historischer Forschung geworden wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Egal ob es sich nun um John Adams, 3 Fisher Ames, 31 John Dickinson,32 Alexander Hamil-
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26 Charles W. Dunn/1. David Woodard: The Conservative Tradition in America, Lanham, MD/London 1996. 27 Gregory Wolfe: A Sourcebook of American Conservative Thought, Chicago, IL/Washington, DC 1987; Louis Filler: A Dictionary of American Conservatism, Secaucus, NJ 1988; Miner: Encyclopedia (wie Anm. 25). 28 Ausschließlich mit dem 20. Jahrhundert befassen sich William F. Buckley, Jr./ Charles R. Kesler (Hrsg.): Keeping the Tablets. Modem American Conservative Thought, New York u.a. 1988; Brad Miner (Hrsg.): Good Order. Right Answers to Contemporary Questions, New York 1995; Mark Gerson (Hrsg.): The Essential Neoconservative Reader, Reading, MA 1996; Edwin J. Feulner, Jr. (Hrsg.): The March of Freedom. Modem Classics in Conservative Thought, Dallas 1998; Joseph A. Scotchie: The Paleoconservatives. New Voices of the Old Right, New Brunswick, NJ 1999. Nicht ausschließlich amerikanischeTexte finden sich in den im Gegensatz zu den vorgenannten Bänden auch Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert enthaltenden Werken von Russell Kirk (Hrsg.): The Portable Conservative Reader, Harmondsworth/New York 1982, und Jerry Z. Muller (Hrsg.): Conservatism. An Anthology of Social and Political Thought from David Hume to the Present, Princeton, NJ 1997. 29 New Individualist Review, Indianapolis, IN 1981; George A. Panichas (Hrsg.): Modem Age. The First Twenty-Five Years. A Selection, Indianapolis, IN 1988; Hitton Kramer (Hrsg.): The New Criterion Reader, New York 1988; Neal Kozodoy (Hrsg.): What to Do About .... A Collection of Essays from Commentary Magazine, New York 1995; James C. Roberts (Hrsg.): The Best of Human Events. Fifty Years of Conservative Thought & Action, Lafayette, LA 1995. 30 Siehe z. B. Zoltan Haraszti: John Adams and the Prophets of Progress, Cambridge, MA 1952; Stephen G. Kurtz: The Presidency of John Adams. The Collapse of Federalism, 1795-1800, Philadelphia 1957; Page Smith: John Adams, Bde. 1- 2,
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ton, 33 James Kent, 34 John Marshall,35 Gouverneur Morris, 36 John Randolph of Roanoke, 37 Joseph Story38 oder um John Taylor of Caroline39 handelt: Ihrer aller Leben und Wirken hat das Interesse der Geschichtswissenschaft geweckt, und sie alle sind Gegenstand von Monographien geworden. Nichts anderes gilt für die bedeutenderen Konservativen der etwa drei Jahrzehnte vor dem Bürgerkrieg. Sowohl den konservativen Whigs Rufus Choate40 und Daniel Webster41 sind Studien gewidmet worden als auch John C. CalNew York 1962; lohn Howe: The Changing Political Thought of lohn Adams, Princeton, Nl 1966; Ralph Adams Brown: The Presidency of lohn Adams, Lawrence, KS 1975; Peter Shaw: The Character of lohn Adams, New York 1976; lohn Ferling: lohn Adams. A Life, Knoxville, TN 1992; Joseph J. Ellis: Passionate Sage. The Character and Legacy of lohn Adams, New York/London 1993. 31 Winfred E.A. Bemhard: Fisher Ames. Federalist and Statesman, Chapel Hili, NC 1965. 32 Siehe z. B. Charles J. Stilli: The Life and Times of lohn Dickinson, 17321808, New York 1969; Milton E. Flower: lohn Dickinson. Conservative Revolutionary, Char1ottesville, VA 1983. 33 Louis M. Hacker: Alexander Rarnilton in the American Tradition, New York 1957; Gerald Stourzh: Alexander Rarnilton and the Idea of Republican Government, Stanford, CA 1970; Forrest McDonald: Alexander Hamilton. A Biography, New York/London 1979; Richard Brookhiser: Alexander Hamilton. American, New York 1999. 34 John Theodore Horton: lames Kent. A Study in Conservatism, New York 1939. 35 Z. B. Edward S. Corwin: lohn Marshall and the Constitution. A Chronicle of the Supreme Court, New Haven, CT 1919; William M. Iones (Hrsg.): Chief lustice lohn MarshalL A Reappraisal, Ithaca, NY 1956; Leonard Baker: lohn MarshalL A Life in Law, New York 1974. 36 Z. B. Daniel Walther: Gouverneur Morris. Witness of Two Revolutions, New York 1934; Max M. Mintz: Gouverneur Morris and the American Revolution, Norman, OK 1970; Mary-Jo Kline: Gouverneur Morris and the New Nation, 17751788, New York 1978. 37 Z.B. William C. Bruce: lohn Randolph of Roanoke, Bde. 1-2, New York 1922; Robert Dawidoff: The Education of lohn Randolph, New York 1979; Russell Kirk: lohn Randolph of Roanoke, Indianapolis, IN 3 1997. 38 Gerald T. Dunne: lustice loseph Story and the Rise of the Supreme Court, New York 1970; J. McClellan: Joseph Story and the American Constitution, Norman, OK 1971; R. Kent Newmyer: Supreme Court Justice loseph Story. Statesman of the Old Republic, Chapel Hili, NC 1985. 39 Henry H. Simms: Life of John Taylor. The Story of a Brilliant Leader in the Early Virginia State Rights School, Richmond, VA 1932; Eugene Ten Broeck Mudge: The Social Philosophy of lohn Taylor of Caroline, New York 1939. 4 Claude M. Fuess: Rufus Choate. Wizard of the Law, New York 1928; Jean V. Matthews: Rufus Choate. The Law and Civic Virtue, Philadelphia 1980. 41 Z. B. Richard N. Current: Daniel Webster and the Rise of National Conservatism, Boston, 1955, Prospect Heights, IL 2 1992; Maurice Baxter: Daniel Webster and the Supreme Court, Amherst, MA 1966; Norman D. Brown: Daniel Webster and the Politics of Availability, Athens, GA 1969; Robert F. Da/zell, Jr.: Daniel
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houn, 42 dem großen Vertreter des Südens. Dazu kommen Arbeiten über weniger bekannte konservative Theoretiker der Südstaaten.43 Wenn auch viele Detailstudien vorliegen, so fehlt doch die Synthese, die Integration der vorhandenen Forschungsergebnisse zu einem größeren Ganzen unter dem Blickwinkel des Konservatismus. Der immer noch beste Versuch einer integralen, ideengeschichtliche mit historisch-politischen Aspekten verbindenden Darstellung findet sich auf den Seiten 97196 von Clinton Rossiters "Conservatism in America". 44 Die Bücher von Kirk, Guttmann und Lora konzentrieren sich, ihrer geistesgeschichtlichen Orientierung entsprechend, zu sehr auf Personen.45 Gleiches gilt für Peter Vierecks "Conservatism".46 Auch das Buch von Dunn und Woodard47 schließt die manifest vorhandene Lücke nicht, da es bloß eine knappe historische Skizze enthält, die sich zudem überwiegend auf die Geistesgeschichte beschränkt. Grundproblem der genannten Darstellungen mit Ausnahme derjenigen von Rossiter ist deren praktisch rein geistesgeschichtliche Orientierung gepaart mit einem offenkundigen Eklektizismus: Untersuchungsgegenstand sind jeweils nur einige wenige Personen, deren Ideen dargestellt werden. Die realpolitischen Zusammenhänge bleiben jedoch ausgeblendet, und über die Stellung der behandelten Personen - bei denen es sich zumeist nicht um Politiker handelt- in der politischen Auseinandersetzung ihrer Zeit erfährt der Leser wenig bis gar nichts.
Webster and the Trial of American Nationalism, Boston 1973; Sydney Nathans: Danie! Webster and Jacksonian Democracy, Baltimore 1973. 42 Siehe insbesondere Charles M. Wiltse: John C. Calhoun, Bde. 1-3, Indianapolis, IN 1944-1951; Margaret L. Coit: John C. Calhoun. An American Portrait, New York 1950; lohn Niven: John C. Calhoun and the Price of Union, Baton Rouge, LA/London 1988. 43 Siehe z. B. Harvey Wish: George Fitzhugh. Propagandist of the Old South, Gloucester, MA 2 1962; Drew Gilpin Faust: James Henry Harnmond and the Old South. A Design for Mastery, Baton Rouge, LA 1982; James 0. Farmer, Jr.: The Metaphysical Confederacy. James Henley Thornwell and the Synthesis of Southern Values, Macon, GA 1986; Eugene D. Genovese: Western Civilization through Slaveholding Eyes. The Social and Historical Thought of Thomas Roderick Dew, New Orleans 1986. 44 Clinton Rossiter: Conservatism in America, Cambridge, MA 2 1982. 45 Russell Kirk: The Conservative Mind, Chicago, IL 1953, Washington, DC 5 1986; Guttmann: Tradition (wie Anm. 6); Ronald Lora: Conservative Minds in America, Westport, CT 2 1976. 46 Peter Viereck: Conservatism. From John Adams to Churchill, Princeton, NJ 1956. 47 Dunn/Woodard: Tradition (wie Anm. 26).
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2. Der amerikanische Konservatismus vor dem New Deal Was die Anfänge des amerikanischen Konservatismus anbelangt, so ist vor allem auf die Studien von Labaree und Nelson zu verweisen.48 Ein knapper Überblick über die konservative Reaktion in Amerika auf Aufklärung und Französische Revolution findet sich in Curtis Buch über die Entwicklung des amerikanischen Denkens. 49 Die Federalists, die den parteipolitischen Konservatismus der ersten Jahrzehnte der amerikanischen Republik vertreten haben, sind wiederholt, wenn auch nur selten unter dem Blickwinkel des Konservatismus, Gegenstand von Untersuchungen geworden.50 Über die Konservativen innerhalb der Republikaner Jeffersons unterrichtet die vorzügliche historische Studie Norrnan K. Risjords über die Old Republicans.51 Ausnehmend schlecht erforscht ist die Zeit vom Untergang der Federalists als Partei auf nationaler Ebene bis zum Ende des 19. Jahrhunderts: So hat der genuin amerikanische Konservatismus der Südstaaten vor dem Bürgerkrieg bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Einschlägige Studien thematisieren ihn - von primär ideengeschichtlich orientierten Ausnahmen abgesehen52 - im Regelfall nicht explizit, da sie sich vor allem auf die Untersuchung der Kultur des alten Südens konzentrieren.53 Arbeiten über den Konservatismus des Nordens in dieser Zeit existieren, soweit 48 Siehe die Fundstellen in Anm. 7. Vgl. auch die in Anm. 19 zitierten Arbeiten von Shain. 49 Merle Curti: The Growth of American Thought, New Brunswick, NJ 5 1995, S. 178-201. 50 Z. B. Manning J. Dauer: The Adams Federalists, Baltimore 1953; Shaw Livermore: The Twilight of Federalism. The Disintegration of the Federalist Party, 1815-1830, Princeton, NJ 1962; John C. Miller: The Federalist Era, 1789-1801, New York 2 1963; James M. Banner, Jr.: To the Hartford Convention. The Federalists and the Origins of Party Politics in Massachusetts, 1789-1815, New York 1970; Linda K. Kerber: Federalists in Dissent. Imagery and Ideology in Jeffersonian America, Ithaca, NY 1970. Die beste Studie ist die von David Hackett Fischer: The Revolution of American Conservatism. The Federalist Party in the Era of Jeffersonian Democracy, New York 1965. Siehe auch Reichley: Life (wie Anm. 23), S. 38-63 und 439-441. 51 Norman K. Risjord: The Old Repub1icans. Southem Conservatism in the Age of Jefferson, New York/London 1965. 52 Eugene D. Genovese: The Slaveholder's Dilemma. Freedom and Progress in Southem Conservative Thought, 1820-1860, Columbia, SC 1992, 2 1995; ders. : The Southem Tradition. The Achievement and Limitations of an American Conservatism, Cambridge, MA/London 1994. 53 Siehe z. B. Richard M. Weaver: The Southem Tradition at Bay. A History of rostbellum Thought, hrsg. v. George Core/Melvin E. Bradford, Washington, DC 1989; Clement Eaton: The Mind of the 01d South, Baton Rouge, LA/London 3 1991. Für eine umfassendere, insbesondere ökonomische und politische Aspekte
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ersichtlich, nicht. Auch über den konservativen Flügel der Whigs fehlen größere Untersuchungen. 54 Der Konservatismus des Gilded Age, d. h. des Zeitalters der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Bürgerkrieg, wird - sieht man von seinen kulturkritischen Ausformungen ab - im Regelfall mit der Verteidigung des Status qua und der Ideologie des Laissez faire gleichgesetzt. 55 Als konservativ werden die Überzeugungen und die Politik der Old Guard der Republikanischen Partei, 56 die um die Erhaltung der Verfassungsordnung gegenüber radikalen und progressiven Kräften rang, hingestellt. Aber auch dafür, daß der den "Progressives" zuzuzählende Präsident Theodore Roosevelt, der für eine verstärkte sozialpolitische Rolle des Staates eintrat und zum Gegenspieler der Old Guard wurde, als Konservativer anzusehen sei, gibt es Argumente.57 Allein schon daran zeigt sich, daß die amerikanische Innen- und Parteipolitik der Zeit vom Ende des Bürgerkriegs bis zum Anfang des Ersten Weltkriegs unter ideengeschichtlichem Aspekt noch eingehender Untersuchung bedürftig ist, im Rahmen welcher insbesondere zu erörtern wäre, in welchem Verhältnis die Republikanische Partei zu Vorstellungen des klassischen Liberalismus gestanden ist. Auch die Geschichte des amerikanischen Konservatismus während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt noch weitgehend im Dunkeln. Hervorzuheben sind nur Arbeiten, die sich mit Vorgängen während der Ära des New Deal58 und hier insbesondere mit dem parlamentarischen Geschehen befassen.59 berücksichtigende Darstellung siehe Clement Eaton: A History of the Old South, Prospect Heights, IL 3 1987. 54 Siehe aber Daniel Walker Howe: The Political Culture of the American Whigs, Chicago, IL/London 2 1984; Reichley: Life (wie Anm. 23), S. 97ff. 55 Siehe dazu Rossiter: Conservatism (wie Anm. 44), S. 128ff. und das mit "The Conservative Defense" überschriebene Kapitel in Curti: Growth (wie Anm. 49), S. 615-638. Zum Konservatismus dieser Zeit siehe auch Bernard E. Brown: American Conservatives: The Political Thought of Francis Lieber and John W. Burgess, New York 1951; Robert G. McCloskey: American Conservatism in the Age of Enterprise, Cambridge, MA 1951; Richard W. Leopold: Elihu Root and the Conservative Tradition, Boston 1954; Gabriet Kolko: The Triumph of Conservatism, New York/London 2 1977. 56 Zu den Ideen der "Konservativen" innerhalb der Republikanischen Partei siehe Norman Wilensky: Conservatives in the Progressive Era. The Taft Republicans of 1912, Gainesville, FL 1965, S. 39ff. 57 Vgl. z. B. Russell Kirk: The Politics of Prudence, Bryn Mawr, PA 1993, S. 72 f. 58 Siehe z. B. Gorge Wolfskill: The Revolt of the Conservatives. A History of the American Liberty League, 1934-1940, Boston 1962; Ronald Radosh: Prophets on the Right. Profiles of Conservative Critics of American Globalism, New York 1975. 59 James T. Patterson: Congressional Conservatism and the New Deal, Lexington, KY 1967; Kurt L. Shell: Der amerikanische Konservatismus, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1986. Zur Reaktion konservativer Demokraten auf den New Deal siehe
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3. Der amerikanische Konservatismus seit 1945 An Literatur zum Konservatismus seit 1945 herrscht, in aufallendem Gegensatz zu demjenigen früherer Perioden, kein Mangel. Das dürfte damit zu tun haben, daß sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewegung nicht nur intellektuell, sondern auch organisatorisch formiert hat, die zu einer unter dem Epitheton "konservativ" auftretenden, das politische Geschehen nach und nach immer stärker bestimmenden Größe aufgestiegen ist. Mit der Verwendung des Begriffes "konservativ" im Rahmen politischer Legitimationskämpfe ist aber auch ein Bedeutungswandel desselben verbunden. Nicht alles, was in der das realpolitische Geschehen behandelnden Literatur - die zudem zwischen "Konservatismus" und "New Right" nur selten genau differenziert - als "konservativ" bezeichnet wird, ist auch "konservativ" im Sinne der klassischen Bedeutung dieses Wortes. Auf die damit verbundenen Probleme kann im gegebenen Zusammenhang aber nicht näher eingegangen werden. Der Umfang und die Vielfalt der einschlägigen Literatur erlauben es nur, einen groben Überblick über sie zu geben. Recht gut beleuchtet wurde bislang die weltanschaulich-philosophische Seite. Das Standardwerk ist nach wie vor das Buch "The Conservative Intellectual Movement in America Since 1945" aus der Feder von George H. Nash, das- 1976 erstmals erschienen- 1996 in zweiter, um ein Nachwort erweiterter Auflage neu aufgelegt wurde. 60 Daneben existiert eine ganze Reihe weiterer, durchwegs seriöser Studien, die entweder das Werk einzelner konservativer Denker, Intellektueller, Philosophen und Theoretiker behandeln oder um einen Gesamtüberblick bemüht sind. 61 Untersucht wurde auch die Auseinandersetzung konservativer Intellektueller mit dem Kommunismus. 62 Neben diesen Darstellungen stehen Studien, die den StelGeorge B. Tindall: The Emergence of the New South, 1913-1945, Baton Rouge, LA 1967, S. 624f., 630f., 723ff. 60 George H. Nash: The Conservative Intellectual Movement in America Since 1945, New York 1976, Wilmington, DE 2 1996. 61 Russell G. Fryer: Recent Conservative Political Thought. American Perspectives, Lanham, MD 1979; lohn P. East: The American Conservative Movement. The Philosophical Founders, Chicago, IL/Washington, DC 1986; Luc Gaffie: Les idees du Conservatisme Americain, Stillwater, OK 1990; Mark J. Rozell!James F. Pantuso (Hrsg.): American Conservative Opinion Leaders, Boulder, CO/London 1990; Melvin J. Thome: American Conservative Thought Since World War II. The Core ldeas, New York/Westport, CT/London 1990; J. David Hoeveler, Jr.: Watch on the Right. Conservative Intellectuals in the Reagan Era, Madison, WI/London 1991; Patrick Allitt: Catholic Intellectuals and Conservative Politics in America, 19501985, Ithaca, NY /London 1993. Zum Denken der Southern Agrarians und in ihrer Gefolgschaft stehender Personen siehe zuletzt Mark G. Malvasi: The Unregenerate South. The Agrarian Thought of John Crowe Ransom, Allen Tate, and Donald Davidson, Baton Rouge, LA/London 1997.
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lenwert einzelner Konzepte wie etwa "Demokratie" und "Diversität" im konservativen Denken näher untersuchen. 63 Wenn auch das Werk und Wirken für die amerikanische konservative Bewegung so bedeutender Personen wie Russen Kirk und Robert A. Nisbet noch nicht in Buchform untersucht wurde, so sind doch schon einige wichtige konservative Intellektuelle Gegenstand von Monographien geworden. Hervorzuheben sind die Bücher über Melvin E. Bradford,64 William F. Buckley, Jr., 65 James Burnham66 und Whittaker Chambers. 67 Allein fünf Werke sind in den letzten Jahren über Richard M. Weaver erschienen. 68 Enorm angeschwollen ist die Literatur über Leo Strauss und Eric Voegelin. 69 Besondere Beachtung haben auch die Neokonservativen gefunden. Die ihnen gewidmeten Arbeiten, von denen eine erkleckliche Anzahl in deutscher Sprache erschienen ist,70 konzentrieren sich vor allem auf die politischen Ideen der untersuchten Personen.71 62 lohn P. Diggins: Up from Communism. Conservative Odysseys in American Intellectual Development, New York 2 1994. 63 Michael D. Clark: Coherent Variety. The Idea of Diversity in British and American Conservative Thought, Westport, CT/London 1983; Aughey/Jones/Riches: Tradition (wie Anm. 1). 64 Clyde N. Wilson (Hrsg.): A Defender of Southem Conservatism. M. E. Bradford and His Achievements, Columbia, MO/London 1999. 65 Mark Royden Winchell: William F. Buckley, Jr., Boston 1984; lohn B. ludis: William F. Buckley, Jr. Patron Saint of the Conservatives, New York 1988. 66 Samuel T. Francis: Power and History. The Political Thought of James Bumham, Lanham, MD 1984; Kevin J. Smant: How Great the Triumph. James Bumham, Anticommunism and the Conservative Movement, Lanham, MD/New York/ London 1992. 67 Sam Tanenhaus: Whittaker Chambers, New York 1997. 68 Bemard K. Duffy!Manin 1. Jacobi: The Politics of Rhetoric. Richard M. Weaver and the Conservative Tradition, Westport, CT 1993; Fred D. Young: Richard M. Weaver 1910-1963. A Life of the Mind, Columbia, MO 1995; Joseph Scotchie (Hrsg.): The Vision of Richard Weaver, New Brunswick, NJ/London 1995; ders.: Barbarians in the Saddle. An Intellectual Biography of Richard M. Weaver, New Brunswick, NJ/London 1997; Ted J. Smith lll (Hrsg.): Steps Toward Restoration. The Consequences of Richard Weaver's Ideas, Wilmington, DE 1998. 69 Siehe aus der - hier nicht näher zu behandelnden - Fülle an Literatur zuletzt Ted V. McAllister: Revolt against Modemity. Leo Strauss, Eric Voegelin, and the Search for a Postliberal Order, Lawrence, KS 1996, und Shadia B. Drury: Leo Strauss and the American Right, New York 1997. 70 Die immer noch beste Darstellung der Ideen der Neokonservativen ist die von Nigel Ashford: Das Versagen des Staates. Der amerikanische Neokonservatismus, in: !ring Fetscher (Hrsg.): Neokonservative und .,Neue Rechte", München 1983, S. 35-65. Siehe daneben aber auch Hans Rühle!Hans-Joachim Veen!Walter F. Hahn (Hrsg.): Der Neo-Konservativismus in den Vereinigten Staaten und seine Auswirkungen auf die Atlantische Allianz, Meile 1982; Jakob SchissZer (Hrsg.): Neokonservatismus in den USA, Opladen 1983; Wolfgang H. Lorig: Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von
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Über die rein intellektuelle Seite hinausgehend sind sowohl die konservative Bewegung in ihrer Gesamtheit als auch einzelne Kapitel in der Geschichte des Nachkriegskonservatismus - wie beispielsweise das Wirken der von William F. Buckley, Jr. gegründeten Organisation "Young Americans for Freedom"72 - thematisiert worden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang Arbeiten, die von Mitgliedern der konservativen Bewegung verfaßt wurden. 73 Die bislang besten Gesamtdarstellungen, die auf die politischen Kräfteverhältnisse eingehen und auch organistarische Fragen behandeln, haben Paul Gottfried und Jerome L. Himmelstein vorgelegt. 74 Neben Arbeiten, die sich mit dem Thema aus unverhohlen feindseliger75 oder erklärtermaßen joumalistischer76 Perspektive befassen, steht eine Vielzahl weiterer, 77 Amerika, Opladen 1988; Frank Rieger: Der amerikanische Neokonservatismus. Analyse und Kritik eines post-liberalen Politikkonzepts, Wiesbaden 1989. Siehe auch Minkenberg: Neokonservatismus (wie Anm. 12), S. 75ff. 71 Lewis A. Coser/lrving Howe (Hrsg.): The New Conservatives. A Critique from the Left, New York 1977; Peter Steinfels: The Neoconservatives. The Men Who Are Changing America's Politics, New York 1979; Mark Royden Winchell: Neoconservative Criticism. Norman Podhoretz, Kenneth S. Lynn, and Joseph Epstein, Boston 1991; Gary Dorrien: The Neoconservative Mind. Politics, Culture, and the War of ldeology, Philadelphia 1993; lohn Ehnnan: The Rise of Neoconservatism. Intellectuals and Foreign Affairs 1945-1994, New Haven/London 1995; Mark Gerson: The Neoconservative Vision. From the Cold War to the Culture Wars, Lanham, MD/New York/London 1996. 72 lohn A. Andrew 111: The Other Side of the Sixties. Young Americans for Freedom and the Rise of Conservative Politics, New Brunswick, NJ/London 1997; Gregory L. Schneider: Cadres for Conservatism. Young Americans for Freedom and the Rise of the Contemporary Right, New York/London 1999. 73 Jeffrey Hart: The American Dissent. A Decade of Modem Conservatism, Garden City, NY 1966; Burton Yale Pines: Back to Basics. The Traditionalist Movement that is Sweeping Grass-Roots America, New York 1982; William A. Rusher: The Rise of the Right, New York 1984; F. Clifton White/William J. Gilt: Why Reagan Won. The Conservati ve Movement 1964-1981, Chicago, IL 1981; dies.: Suite 3505. The Story of the Draft Goldwater Movement, Ashland, OH 2 1992. 74 Paul Gottfried: The Conservative Movement, New York 2 1993; Jerome L Himmelstein: To the Right. The Transformation of American Conservatism, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990. Siehe aber auch Mokhtar Ben Barka: La Nouvelle Droite americaine, Valenciennes 1996, und Lee Edwards: The Conservative Revolution. The Movement that Remade America from Robert Taft to Newt Gingrich, New York 1999. 75 Z.B. Sara Diamond: Roads to Dominion. Right-Wing Movements and Political Power in the United States, New York/London 1995; Amy E. Ansell.· Unraveling the Right. The New Conservatism in American Thought and Politics, Boulder, CO 1998. 76 Godfrey Hodgson: The World Tumed Right Side Up. A History of the Conservative Ascendancy in America, Boston/New York 1996. 77 Robert A. Schoenberger (Hrsg.): The American Right Wing. Readings in Political Behavior, New York 1969; Michael W. Miles: The Odyssey of the American Right, New York/London 1980; Jonathan Martin Kolkey: The New Right, 1960-
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meist kritischer Studien, von denen einige aus dem Lager der Konservativen selbst kommen. 78 In den Blick genommen wurde bislang neben dem katholischen Teil des amerikanischen Konservatismus79 auch das Wirken Konservativer innerhalb der Republikanischen Partei.80 Wichtig ist die Studie über die Eroberung der Republikanischen Partei durch die Konservativen im Gefolge der Präsidentschaftskandidatur Barry Goldwaters. 81 Viel ist über die ReaganÄra gearbeitet worden. Einige Autoren haben sich kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, ob durch Reagan eine konservative Revolution bewirkt wurde. 82 Andere haben sich allgemein mit der von ihm verfolgten Politik befaßt. 83 Daneben existiert eine Vielzahl von Spezialstudien. Ein For1968. With an Epilogue, 1969-1980, Washington, DC 1983; Gillian Peele: Revival and Reaction. The Right in Contemporary America, Oxford 1984; lohn T. Saloma 111: Ominous Politics. The New Conservative Labyrinth, New York 1984; Guy Sorman: The Conservative Revolution in America, Chicago 1985; Sidney Blumenthal: The Rise of the Counter-Establishment. From Conservative ldeology to Political Power, New York 1987; Hixson, Jr.: Search (wie Anm. 5). 78 Samuel Francis: Beautiful Losers. Essays on the Failure of American Conservatism, Columbia, MO 1993; David Frum: Dead Right, New York 1994; Michael Lind: Up from Conservatism. Why the Right is Wrong for America, New York 1996. 79 Mary Jo Weaver/R. Scott Appleby (Hrsg.): Being Right. Conservative Catholics in America, Bloomington/lndianapolis 1995. Siehe auch Allitt: Intellectuals (wie Anm. 61). 80 David W. Reinhard: The Republican Right since 1945, Lexington, KY 1983. Siehe auch Shell: Konservatismus (wie Anm. 59) und William C. Berman: America's Right Turn. From Nixon to Bush, Baltimore/London 1994. Vgl. auch das Kapitel "The Refashioning of American Conservatism, 1940-60", in: Brian Girvin: The Right in the Twentieth Century, London/New York 1994, S. 159-189. Zur Reaktion der Konservativen innerhalb der Demokraten auf den sich verstärkenden Linksdrall der Partei siehe Numan V. Bartley: The New South, 1945-1980, Baton Rouge, LA 1995, S. 31ff., 74ff., 98ff. 81 Mary C. Brennan: Turning Right in the Sixties. The Conservative Capture of the GOP, Chapel Hili, NC/London 1995. 82 Larry M. Schwab: The Illusion of a Conservative Reagan Revolution, New Brunswick, NJ/London 1991; Andrew Adonis/Tim Harnes: A Conservative Revolution? The Thatcher-Reagan Decade in Perspective, Manchester/New York 1994. 83 Siehe z.B. die die USA betreffenden Beiträge in: Barry Cooper/Allan Komberg/William Mishler (Hrsg.): The Resurgence of Conservatism in Anglo-American Democracies, Durham/London 1988; Hartmut Wasser (Hrsg.): Die Ära Reagan. Eine erste Bilanz, Stuttgart, 1988, darin insbes. den Beitrag von Kurt L. Shell: Konservatismus und Liberalismus im Wandel. Die amerikanische Gesellschaft in der Ära Reagan, S. 206-229. Vgl. auch Larry Berman (Hrsg.): Looking Back on the Reagan Presidency, Baltimore/London 1990, Dilys M. Hill/Raymond A. Moore/ Phi/ Williams (Hrsg.): The Reagan Presidency. An Incomplete Revolution?, New York 1990, und William E. Pemberton: Exit with Honor. The Life and Presidency of Ronald Reagan, Armonk, NY /London 1998.
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schungsgegenstand ist die Wirtschaftspolitik, 84 ein anderer die Sozialpolitik und der Wohlfahrtsstaat. 85 Besonderes Augenmerk hat auch die Justizpolitik erfahren. 86 Ebenfalls untersucht wurden die politische Instrumentalisierung der Rassenfrage 87 und die bildungspolitischen Anliegen der Konservativen.88 Besonderes Augenmerk ist dem Wirken der konservativen Think Tanks gewidmet worden. 89
84 0. J. Blanchard: Reaganomics, in: Economic Policy Nr. 5, October 1987, S. 17-56; F. Modigliani: Reagan's economic policies: a critique", Oxford Economic Papers 40 (1988), S. 397-426. Siehe auch das Kapitel "The New Right and Political Economy in the USA", in: Grahame Thompson: The Political Economy of the New Right, Boston 1990, S. 72-91, sowie Stephen D. Cummings: The Dixification of America. The American Odyssey into the Conservative Economic Trap, New York/Westport, CT /London 1998. 85 Paul Pierson: Dismanding the Welfare State? Reagan, Thatcher, and the Politics of Retrenchment, Cambridge/New York/Melboume 1994; Leon Ginsberg: Conservative Social Welfare Policy. A Description and Analysis, Chicago, IL 1988; Clarence Y. H. Lo/Michael Schwartz (Hrsg.): Social Policy and the Conservative Agenda, Maiden, MA/Oxford, 1998. 86 Stephen Macedo: The New Right v. the Constitution, Washington, DC 2 1987; F. L. Morton: Conservatism and the Courts in the United States and Canada, in: Barry Cooper/Allan Komberg/William Mishler (Hrsg.): The Resurgence of Conservatism in Anglo-American Democracies, Durham/London, 1988, S. 163-184; A. Kenneth Pye: Conservatism and the Courts. A Comparative Analysis of Canada and the United States, in: ebd., S. 185-216; Bemard Schwartz: The New Right and the Constitution. Tuming Back the Legal Clock, Boston 1990; David G. Savage: Tuming Right. The Making of the Rhenquist Court, New York 1992; David Kairys: With Justice for Some. A Critique of the Conservative Supreme Court, New York 1993; Christopher E. Smith: Justice Antonin Scalia and the Supreme Court's Conservative Moment, Westport, CT 1993; Richard A. Brisbin, Jr.: Justice Antonin Scalia and the Conservative Revival, Baltimore/London 1997. 87 Dan T. Carter: From George Wallace to Newt Gingrich. Race in the Conservative Counterrevolution, 1963- 1994, Baton Rouge, LA/London 1996; Amy E. Anseil: New Right, New Racism. Race and Reaction in the United States and Britain, New York 1997. Vgl. auch Thomas B. und Mary D. Edsall: Chain Reaction. The Impact of Race, Rights, and Taxes on American Politics, New York/London I 992, sowie Dan T. Carter: The Politics of Rage. George Wallace, the Origins of the New Conservatism and the Transformation of American Politics, New York/London/ Toronto/Sydney/Singapore 1995. 88 Z.B. Catharine A. Lugg: For God & Country. Conservatism & American Schooi Policy, New York u. a. I996. 89 Thomas R. Dye: Who's Running America? The Conservative Years, Eng1ewood Cliffs, NJ 4 1986; Joseph G. Peschek: Poiicy-Planning Organizations. Elite Agendas and America's Rightward Turn, Philadelphia I987; James Allen Smith: The Idea Brokers. Think Tanks and the Rise of the New Po1icy Elite, New York I 991; Lee Edwards: The Power of Ideas. The Heritage Foundation at 25 Years, Ottawa, IL 1997. Siehe auch die in Anm. 77 zitierten Arbeiten von Sa1oma und Blumenthal.
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Große Aufmerksamkeit hat die populistische Neue Rechte in den letzten Jahren gefunden, 90 wobei die Literatur über die New Christian Right91 geradezu explodiert ist. 92 Auch das Schicksal der konservativen Bewegung in der Zeit nach Reagan ist mehrfach thematisiert worden. Die einschlägigen Untersuchungen befassen sich mit den Chancen der Bewegung in ihrer Gesamtheit und insbesondere mit ihrem Einfluß auf die Republikanische Partei93 , mit ihrem Abschneiden bei einzelnen Wahlen94 und mit dem parlamentarischen Wirken der konservativen Abgeordneten. 95 90 Alan Crawford: Thunder on the Right. The ,.New Right" and the Politics of Resentment, New York 1980; Pamela Johnston Conover/Virginia Gray: Feminism and the New Right. Conflict over the American Family, New York 1983; Rebecca E. Klatch: Women of the New Right, Philadelphia 1987; Michael P. Federici: The Challenge of Populism. The Rise of Right-Wing Democratism in Postwar America, New York/Westport, CT/London 1991; Elinor Burkett: The Right Women. A Journey Through the Heart of Conservative America, New York 1998. Siehe auch Michael Kazin: The Populist Persuasion. An American History, Ithaca, NY /London 2 1998. 91 Einen Überblick über die Literatur bietet Leo P. Ribuffo: God and Contemporary Politics, in: Journal of American History 79 (1993), S. 1515-1531. Zur Vorgeschichte der New Christian Right siehe ders.: The Old Christian Right. The Protestant Far Right from the Great Depression to the Cold War, Philadelphia 1983. 92 Dean M. Kelley: Why Conservative Churches are Growing, New York 1972; Peggy L. Shriver: The Bible Vote. Religion and the New Right, New York 1981; Samuel S. Hill/D. Owen: The New Religious-Political Right in America, Nashville, TN 1982; James Davison Hunter: American Evangelicalism. Conservative Religion and the Quandary of Modemity, New Brunswick, NJ 1983; Robert C. Liebman/Robert Wuthnow (Hrsg.): The New Christian Right. Mobilization and Legitimation, Hawthome, NY 1983; David G. Bromley/Anson Shupe (Hrsg.): New Christian Politics, Macon, GA 1984; Richard lohn Neuhaus/Michael Cromartie (Hrsg.): Piety and Politics. Evangelicals and Fundamentalists Confront the World, Washington, DC 1987; Steve Bruce: The Rise and Fall of the New Christian Right, New York/ Oxford 1988; Sara Diamond: Spiritual Warfare. The Politics of the Christian Right, Boston 1989; Michael C. Moen: The Transformation of the Christian Right, TuscaIoosa, AL 1992; Clyde Wilcox: God's Warriors. The Christian Right in Twentieth Century America, Baltimore, MD 1992; Michael Lienesch: Redeeming America. Piety and Politics in the New Christian Right, Chapel Hili, NC/London 1993; Steve Bruce!Peter Kivisto/William H. Swatos, Jr. (Hrsg.): The Rapture of Politics. The Christian Right as the United States Approaches the Year 2000, New Brunswick, NJ/London 1995; William Martin: With God on Our Side. The Rise of the Religious Right in America, New York 1996; Duane M. Oldfield: The Right and the Righteous, Lanham, MD 1996; Clyde Wilcox: Onward Christian Soldiers? The Religious Right in American Politics, Boulder, CO 1996; Justin Watson: The Christian Coalition. Dreams of Restoration, Demands for Recognition, New York 1997. 93 Nigel Ashford: The Right After Reagan: Crack-Up or Comeback?, in: Alan Grant (Hrsg.): Contemporary American Politics, Aldershot/Brookfield/Singapore/ Sidney, 1995, S. 117-143; Martin Durham: The Road to Victory? The American Right and the Clinton Administration, in: Parliamentary Affairs 49 (1996), S. 343353; Dan Balz/Richard Browstein: Storming the Gates. Protest Politics and the
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111. Forschungsprobleme Das zentrale Problem aller Befassung mit dem amerikanischen Konservatismus ist, daß bislang nicht eindeutig herausgearbeitet wurde, was denn nun eigentlich vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte und politischen Kultur im klassischen Verständnis der Begriffe als "konservativ" im Gegensatz zu "liberal" zu verstehen ist bzw. inwieweit es Mischformen gegeben hat und gibt. Relativ eindeutig ist die Qualifikationsfrage nur im Hinblick auf den modernitätskritischen literarischen und philosophischen Konservatismus zu beantworten.96 Schon weniger klar ist die Sache im Zusammenhang mit Weltanschauung und Politik der Federalists. Noch schwieriger ist es, die Old Republicans und die Whigs exakt im Koordinatensystem der Weltanschauungen zu verorten, und besonders deutlich zeigt sich die Schwierigkeit einer sachadäquaten Beurteilung politischer Bewegungen und Akteure in weltanschaulicher Hinsicht bei der Einstufung der Progressives und der Republikanischen Partei in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg. 97 Für die Zeit nach 1945 stellt sich in besonderer Weise das Problem, über den naturgemäß polemischen Gebrauch der Begriffe "Liberalismus", "Konservatismus" und "Neue Rechte" in Politik und politischer Publizistik hinaus zu tauglichen Abgrenzungsmerkmalen vorzudringen, um anhand derselben beurteilen zu können, welche Personen und Gruppierungen nun eigentlich zu Recht dem konservativen Spektrum zugezählt werden können und welche nicht. Republican Revival, Boston 1996. Vgl. auch Claus Leggewie: America first? Der Fall einer konservativen Revolution, Frankfurt/Main 1997. 94 David W. Brady/John F. Cogan/Douglas Rivers: How the Republicans Captured the House. An Assessment of the 1994 Midterm Elections, Stanford, CA 1995; Mark J. Rozell/Clyde Wilcox (Hrsg.): God at the Grass Roots. The Christian Right in the 1994 Elections, Lanham, MD 1995; Clyde Wilcox: The Latest American Revolution? The 1994 Elections and their Implications for Governance, New York 1995; David W. Brady!John F. Cogan/Douglas Rivers: The 1996 House Elections. Reaffirming the Conservative Trend, Stanford, CA 1997; Gerald M. Pomper (Hrsg.): The Elections of 1996. Reports and Interpretations, Chatham, NJ 1997; Mark J. Rozell/Clyde Wilcox (Hrsg.): God at the Grass Roots. The Christian Right in the 1996 Elections, Lanham, MD 1997. 95 Elizabeth Drew: Showdown. The Struggle Between the Gingrieb Congress and the Clinton White House, New York 1996; James G. Gimpel: Legislating the Revolution. The Contract with America in Its First 100 Days, Boston 1996; Nicol C. Rae: Conservative Reformers. The Republican Freshmen and the Lessons of the 104th Congress, Armonk, NY /London 1998. 96 Siehe dazu insbesondere die Studien von Guttmann: Tradition (wie Anm. 6) und Kirk: Mind (wie Anm. 45). 97 Vgl. oben vor Anm. 57.
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Ungeachtet der Notwendigkeit, die genannten Probleme einer Lösung zuzuführen, ist aber jedenfalls zu bedenken, was durch die bahnbrechenden Arbeiten von Lowi und Shain klargeworden ist: Man darf sich, vor allem was die Zeit vor 1945 anbelangt, nicht zuviel von der Suche nach einem bundesweit in Erscheinung tretenden Konservatismus erwarten. Das, worauf das Schwergewicht künftiger wissenschaftlicher Bemühungen zu legen sein wird, ist die Erforschung der vielen regionalen und lokalen Geschichten des amerikanischen Konservatismus, 98 wobei sich insbesondere die nähere Untersuchung des amerikanischen Westens als lohnend erweisen dürfte.99
98 Ansätze dazu gibt es. Siehe z. B. Jack P. Maddex, Jr.: The Virginia Conservatives, 1867-1879. A Study in Reconstruction Politics, Chapel Hili, NC 1970; James W. Ely, Jr.: The Crisis of Conservative Virgina. The Byrd Organization and the Politics of Massive Resistance, Knoxville, TN 1976; lohn Lukacs: Philadelphia, 1900-1950. Patricians and Philistines, New York 1981; Dickson D. Bruce, Jr.: The Rhetoric of Conservatism. The Virginia Convention 1829-30 and the Conservative Tradition in the South, San Marino, CA 1982; Robert M. Calhoon: Evangelicals and Conservatives in the Early South, 1740-1861, Columbia, SC 1988; William J. Cooper, Jr. : The Conservative Regime. South Carolina, 1877-1890, Saltimore 1968, Baton Rouge, LA/London 2 1991; Douglas Carl Abrams: Conservative Constraints. North Carolina and the New Deal, Jackson, MS 1992; Don W. Driggs/Leonard E. Goodall: Nevada Politics & Govemment. Conservatism in an Open Society, Lincoln, NE 1996; Kurt Schuparra: Triumph of the Right. The Ca!ifomia Conservative Movement, 1945-1966, Armonk, NY/London 1998; Harlow W. Sheidley: Sectional Nationalism. Massachusetts Conservative Leaders and the Transformation of America 1815-1836, Boston, MA 1998. 99 Vgl. z. B. Michael E. McGerr: ls There a Twentieth-Century West?, in: William Cronon/George Miles/Jay Gitlin (Hrsg.): Under an Open Sky. Rethinking America's Western Past, New York/London 1992, S. 239-256 und 334- 337. Vgl. auch Brinkley: Problem (wie Anm. 22), S. 417f. m. w. N. 13 Schrenck-Notzing
Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in Kanada Von Till Kinzel
I. Kanada Kanada ist nach Seymour M. Lipset im Unterschied zu der revolutionären Gesellschaft der USA eine doppelt konterrevolutionäre Gesellschaft. Es ist traditionell nicht auf eine ideologische Glaubensüberzeugung gegründet, sondern durch eine gemeinsame Geschichte definiert. Der Konservatismus in Kanada "is descended from Toryism and monarchical statism", wozu u. a. die Tatsache beigetragen hat, daß nach der Amerikanischen Revolution 50.000 amerikanische Tories nach Kanada zogen, ebenso wie viele anglikanische Priester; das katholisch geprägte Quebec war ohnedies antirevolutionär gesinnt. Die Torytradition Kanadas "has meant support for a strong state, communitarianism, group solidarity and elitism" und insgesamt eine im Vergleich zu den USA stärkere Befürwortung von Staatsinterventionen seitens der Bevölkerung. Diese Tradition wird durch die Religionsgeschichte des Landes (Dominanz von katholischer und anglikanischer Kirche) verstärkt, so daß der kanadische Konservatismus stärker als der US-amerikanische in partieller Übereinstimmung mit dem "Sozialismus" Solidarität betont und den Individualismus sowie die zersetzenden Wirkungen der Marktwirtschaft bekämpft. (Die Bedeutung des Tory-Elementes in der kanadischen Politik ist allerdings umstritten, wie die Äußerung Janet Ajzenstats von 1995 zeigt, wir wüßten "that there was no significant tory influence in Canada' s past". 1) Kanada hat z. Zt. zwei Parteien, die als konservativ gewertet werden können, die Progressive Conservative Party, die von 1984 bis 1993 die Regierung führte, aber in den Wahlen von 1993 partiell durch die 1987 gegründete Reform Party unter Preston Manning als führender Kraft auf der Rechten abgelöst wurde. Beide Parteien gelten als "sozialkonservativ", was darin zum Ausdruck kommt, daß etwa der Tory Premierminister Brian Mulroney 1988 den Wohlfahrtsstaat als Teil des 1 Janet Ajzenstat/Peter J. Smith (Hrsg.): Canada's Origins. Liberal, Tory, or Republican?, Ottawa 1995, S. 265, hier zitiert nach der Besprechung von Nelson Wiseman in: Canadian Journal of Political Science 29 (1996), S. 367.
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"heiligen Erbes" Kanadas bezeichnete. Lipset zufolge besteht eine gewisse Affinität des kanadischen Konservatismus zum amerikanischen Neokonservatismus, insofern dieser einem Wirtschaftsliberalismus a la Friedman und Thatcher kritisch gegenübersteht und den Wohlfahrtstaat nicht grundsätzlich ablehnt. 2 Der Forschungsstand im Bereich des kanadischen Konservatismus ist insgesamt eher schlecht. Es gibt lediglich eine Literatur, die einesteils journalistischen Charakter hat (was ihren Wert zur ersten Information nicht schmälern soll), so enthält z. B. Charles Taylors Buch3 eine Reihe lebendiger Porträts kanadischer Konservativer, doch verzichtet es völlig auf Zitatnachweise und ist daher für wissenschaftliche Zwecke nur eingeschränkt brauchbar. Immerhin enthält das Buch eine Bibliographie, die den Weg zu wichtigen Quellen erleichtert. Weiterhin existiert ein an den Universitäten für den Unterricht in Politikwissenschaft konzipiertes Buch von William Christian und Colin Campbell, das 1990 in dritter Auflage erschien und ein ca. 70 Seiten umfassendes Kapitel über den kanadischen Konservatismus enthält, aber in weiten Teilen als überholt gilt, zumal es die Darstellung des Konservatismus auf die konservative Partei beschränkt. 4 Das Nachfolgebuch Campbeils und Christians von 19965 enthält demgegenüber ein erheblich gekürztes Konservatismus-Kapitel und trägt nunmehr der Tatsache des Aufstiegs der populistischen Bewegung unter dem Namen "Reform Party" Rechnung, die teils "populistische", teils konservative und zugleich marktliberale Züge trägt und deren Wählerschaft sich zum überwiegenden Teil aus ehemaligen Wählern der PCP zusammensetzt. Über die "Reform Party" und ihren Führer Preston Manning, den Sohn des früheren Social CreditPremiers von Alberta, Ernest Manning, gibt es einige Bücher und Aufsätze, von denen Tom Flanagans6 und die jüngere Studie Frank Dabbs' als die besten gelten. 7 Darüber hinaus erschien 1997 eine Studie von Lloyd MacKey über die Beziehungen zwischen Preston Manning und seinem 2 Siehe zum vorstehenden insgesamt Seymour Martin Lipset: American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York/London 1996, S. 92ff., 201. 3 Charles Taylor: Radical Tories. The Conservative Tradition in Canada, Toronto 1982. 4 William Christian/Colin Campbell: Political Parties and Ideologies in Canada, 3. Ausgabe, Toronto 1989. 5 Co/in Campbell/William Christian: Parties, Leaders and Ideologies in Canada, Toronto 1996. 6 Tom Flanagan: Waiting for the Wave. The Reform Party and Preston Manning, Toronto 1995. Siehe die Besprechung von R. K. Carty in: Canadian Journal of Political Science 29 (1996), S. 154f. 7 Frank Dabbs: Preston Manning. The Roots of Reform, Vancouver 1997. Eine frühe journalistische Darstellung findet sich z. B. bei Murray Dobbin: Preston Manning and the Reform Party, Toronto 1991.
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Vater Ernest Manning. 8 Es liegt in der Natur der Sache, daß die Literatur über ein gegenwärtiges politisches Phänomen wie die Reform Party in stärkerem Maße aktuelle Bestandsaufnahme ist und oft noch keine abschließende Einschätzungen erlaubt. Neben den verschiedenen Darstellungen ist Preston Mannings eigenes Buch eine wichtige Quelle für die Ansichten des Parteiführers, die im Anhang auch ein "Statement of Principles" der Reform Party enthält.9 Ebenfalls interessant für die Ideologiebildung des kanadischen Konservatismus sind frühere programmatische Äußerungen wie z. B. von Gord Walker, dem damaligen Minister für Industrie und Handel in Ontario, 10 oder aktuellere wie Hugh Segals (alt-)konservative Kritik am Neokonservatismus 11 , geäußert von einem der möglichen Kandidaten für die Nachfolge Charests als Parteichef der Konservativen. Segal versteht sich selbst als roter Tory, wird allerdings von kanadischen Kulturkonservativen nicht wirklich als Konservativer angesehen, was wohl u. a. auf seine liberale Haltung z. B. in der Abtreibungsfrage zurückzuführen sein dürfte. Segal setzte sich mit dem nordamerikanischen Neokonservatismus auseinander, der ihm zu sehr auf die Interessen der Wirtschaft abgestimmt zu sein scheint und geistige wie soziale Werte nicht mehr angemessen würdigt. 12 Segals Versuch einer konservativen Positionsbestimmung kann mit den folgenden Schlagworten charakterisiert werden: "civility, diversity and choice, freedom within order, genuine equality of opportunity, compromise", alles Vorstellungen, die nach William Christian aber gleichermaßen für die Politik der Liberalen Partei zutreffen und damit auf die Schwierigkeit der Bestimmung einer genuin konservativen Politik verweisen, zumal im kanadischen Kontext, in dem die konservative Partei sich zugleich als progressive Partei versteht. Diese Schwierigkeit zeigt sich auch daran, daß der Populismus Preston Mannings etwas paradox als "postmoderner Konservatismus" 8 Lloyd MacKey: Like Father, Like Son. Emest Manning and Preston Manning, Toronto 1997. 9 Preston Manning: The New Canada, Toronto 1992, S. 360f. Einen Einblick in die aktuelle Lage des Konservatismus in Kanada mit einer Einschätzung der Reform Party aus der Perspektive eines konservativen katholischen Journalisten bietet Thomas J. McFeely: Der liberale Angriff auf die Demokratie - Eine Betrachtung aus kanadischer Sicht, in: Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (Hrsg.): Mut zur Ethik. Aufgaben der Gesellschaft zur Sicherung der Demokratie, IV. Kongress vom 6. bis 8. September 1996 in Feldkirch/Vorarlberg, Zürich 1996, S. 391-414. 10 Gord Walker: A Conservative Canada, Santa Barbara, CA/Sutton West, Ont. 1983. 11 Hugh Segal: Beyond Greed. A Traditional Conservative Confronts Neoconservative Excess, Toronto 1997. 12 Hugh Segal: No Surrender. Reflections of a Happy Warrior in the Tory Crusade, Toronto 1996, S. 220-238.
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bezeichnet wird. 13 Zur Geschichte der Konservativen Partei erschien 1992 die Spezialuntersuchung von Larry A. Glassford, und 1991 erschien ein Buch über die Außenpolitik des konservativen Premierministers John G. Diefenbaker. 14 1995 kam schließlich als Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung eine umfassende und gut dokumentierte Biographie Diefenbakers unter dem bezeichnenden Titel "Rogue Tory" heraus. 15 Insgesamt erfreulicher ist das Bild, was die Auseinandersetzung mit George Grant, dem wohl bekanntesten kanadischen konservativen Philosophen, angeht, dessen Kritik der Moderne und des Liberalismus vielfältig rezipiert wurde. (Problematisch ist hier nur, was die Lage des deutschen Forschers angeht, die Tatsache, daß einige wichtige Publikationen in deutschen Bibliotheken nicht greifbar sind.) In den letzten Jahren ist die Veröffentlichung einer Reihe von Sammelbänden zu verzeichnen, deren Beiträge oftmals auf hohem Niveau zahlreiche Einzelaspekte des Grantsehen Denkens, die Beziehung Grants zu anderen Theoretikern sowie seiner Stellungnahmen zu politischen Problemen von der Frage des Nationalismus bis hin zu Abtreibung und Euthanasie diskutieren. 16 Auch erscheinen immer wieder Aufsätze, die sich mit Grant und seiner philosophisch-politischen Kritik der Modernisierung Kanadas und seiner Rolle im Zusammenhang mit dem jüngeren Nationalismus befassen. 17 Eine unverzichtbare Grundlage für jede weitere Forschung stellt William Christians hervorragende und anschaulich geschriebene Grant-Biographie dar, die eine brauchbare, wenn auch nicht vollständige Bibliographie enthält. 18 Weiterhin erschien ein Sammelband mit bezeichnendem Titel 19, der u. a. gute Aufsätze zu Grants Auseinandersetzung mit Celine, Nietzsche, Heidegger, Strauss und Sirnone Weil 13 Siehe dazu Richard Sigurdson: Preston Manning and the Politics of Postmodemism in Canada, in: Canadian Journal of Political Science 27 (1994), S. 249-276. 14 Larry A. Glassford: Reaction and Reform. The Politics of the Conservative Party under R.B. Bennett, 1928-1938, Toronto/Buffalo/London 1992; H. Basil Robinson: Diefenbaker' s World. A Populist in Foreign Affairs, Toronto/Buffalo/ London 1991. 15 Denis Smith: Rogue Tory. The Life and Legend of John G. Diefenbaker, Toronto 1995. 16 Wayne Whillier (Hrsg.): Two Theo1ogical Languages, by George Grant, and Other Essays in Honour of His Work (Toronto Studies in Theology, Bd. 43), Lewiston/Queenston/Lampeter 1990; Peter Emberley (Hrsg.): By Loving Our Own. George Grant and the Legacy of Lament for a Nation, Ottawa 1990; Yusuf K. Umar (Hrsg.): George Grant and the Future of Canada, Calgary 1992. 17 Zuletzt z.B. E. D. Blodgett: George Grant, the Uncertain Nation and Diversity of Being, in: Canadian Literature 1521153 (Frühling/Sommer 1997), S. 107-123. 18 William Christian: George Grant. A Biography, Toronto/Buffalo/London 1993. 19 Arthur Davis (Hrsg.): George Grant and the Subversion of Modemity. Art, Philosophy, Politics, Religion, and Education, Toronto/Buffalo/London 1996.
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enthält, sowie eine nützliche Auswahl aus Grants Briefwechsel. 20 Die jüngste Veröffentlichung ist eine Anthologie mit Grant-Texten, der für die Forschung insofern von großer Wichtigkeit ist, als er erstmals zahlreiche bisher nur sehr schwer greifbare Artikel, Rezensionen und Aufsätze Grants, z. T. leider gekürzt, leicht zugänglich macht und damit ein genaueres Verständnis der Grantsehen Position möglich macht. Die Sammlung enthält erfreulicherweise auch einige Erstpublikationen aus dem Nachlaß, darunter Texte zu Ct~line, Heidegger, Rousseau und Sirnone Weil. In den nächsten Jahren soll auch eine Ausgabe gesammelter Werke erscheinen, die von Arthur Davis betreut wird und auch weiteres Material aus dem unveröffentlichten Nachlaß enthalten wird. Die Ausgabe ist auf acht Bände angelegt, von denen die ersten sechs chronologisch ausgerichtet sind (1933-50, 1951-59, 1960-68, 1969-73, 1974-79, 1980-88); die zwei letzten Bände sind dem Briefwechsel vorenthalten. Erscheinungsdatum des ersten Bandes ist voraussichtlich 2000. 21 Trotz der bisher erbrachten Forschungsergebnisse und einer vergleichsweise umfangreichen Literatur zum Phänomen "Reform Party" gibt es m. E. noch erhebliche Forschungslücken, was zunächst am stärksten in bezug auf den parteipolitischen Konservatismus in Kanada ins Auge fällt. Hier besteht die auch von kanadischen Fachleuten ausgesprochene Forderung nach einer einschlägigen Monographie. Es gibt z. B. kein Standardwerk über die Geschichte der Konservativen Partei. Was die Auseinandersetzung mit Grant angeht, so wird die Publikation wichtiger Nachlaßteile im Rahmen der Werkausgabe sicher zu einer genaueren Erforschung seiner Gedankenwelt beitragen, die zwar kaum grundlegend Neues zu Tage fördern dürfte, wohl aber zur Klärung der einen oder anderen Einschätzung beitragen wird. Insgesamt kann festgehalten werden, daß der Forschung noch ein weites Feld zu beackern bleibt.
II. Leo Strauss und seine Schule Eine der für das konservative Denken wichtigsten Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb der Strauss-Schule betrifft im Kern das Verständnis der Politischen Philosophie, im besonderen die Natur des amerikanischen "Regimes" und seine Güte, die je nach dem mehr oder weniger "modernen" (im Gegensatz zu klassischen) Charakter des amerikanischen Experiments unterschiedlich eingeschätzt wird. Strauss selbst hatte sich nach seiner Auswanderung in die USA intensiv mit dem politischen Erbe Nord20 George Grant: Selected Letters, hrsg. v. William Christian, Toronto/Buffalo/ London 1996. 21 Freundliche Mitteilung von Arthur Davis, York University.
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amerikas befaßt, insbesondere mit den Gründervätern, ohne sich jedoch selbst thematisch dazu zu äußern?2 Strauss würdigte an rhetorisch auffälligen Stellen seiner Werke die amerikanische Regierungsform, wobei er sich insbesondere auf die naturrechtliche Grundlegung in der Unabhängigkeitserklärung berief. 23 Seine philosophische Erkenntnis der grundsätzlichen Mangelhaftigkeit jedweder politischen Verfassung machte ihn nicht blind für das, was als das praktisch Beste angesehen werden kann, so daß er nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Kommunismus für die entschiedene Loyalität zur amerikanischen als einer anständigen Verfassung eintrat. 24 Die Dignität der amerikanischen Republik bestand für ihn darin, daß sie als einziges Land der Erde in explizitem Gegensatz zu machiavellistischen Grundsätzen gegründet worden war. 25 Die im Gegensatz zu zahlreichen Zeitgeistströmungen grundsätzlich positive Einstellung zur politischen Weisheit der Gründerväter übertrug Strauss auf seine Schüler, die seine Anregungen aufgriffen und, in z. T. recht unterschiedlicher, d. h. keineswegs einheitlich "Straussianischer" Weise umsetzten. Strauss habe, so etwa Allan Bloom im Vorwort zu einem wichtigen Sammelband, seine Schüler wieder für Amerikas politisches Erbe interessiert "by teaching us how to read our country's political texts and demonstrating how wise they are." 26 So steht für die Straussianer z. B. die politische Weisheit des "Federalist" im Zentrum der ernsthaften philosophischen Auseinandersetzung um die Natur der guten politischen Ordnung. Weiterhin wird die Auseinandersetzung darum geführt, ob und inwieweit die amerikanische Regierunsform wesentlich modern oder klassisch-republikanisch geprägt ist und welchen Status dementsprechend vor allem die Naturrechtslehre John Lackes für das Verständnis der Grundlagen amerikanischer Politik einnimmt?7 Harry V. Jaffa und seine Schüler entwickelten eine offensive Ver22
Siehe Thomas G. West: Leo Strauss and the American Founding, in: Kenneth
L. Deutsch/Walter Niegorski (Hrsg.): Leo Strauss. Political Philosopher and Jewish
Thinker, Lanham, MD 1994, S. 323. Siehe auch im gleichen Band Christopher Bruell, A Return to Classical Political Philosophy and the Understanding of the American Founding, S. 325-338. 23 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, S. I f. 24 Leo Strauss: Liberalism Ancient and Modem, Chicago/London 1989, S. 24 und vgl. Wemer J. Dannhauser. Leo Strauss as Citizen and Jew, in: Interpretation 17/3 (1990), s. 434ff. 25 Leo Strauss: Thoughts on Machiavelli, Chicago/London 1978, S. 13. 26 Allan Bloom (Hrsg.): Confronting the Constitution. The Challenge to Locke, ·Montesquieu, Jefferson, and the Federalists from Utilitarianism, Historicism, Marxism, Freudianism, Pragmatism, Existentialism ... , Washington, D.C. 1990, S. 6. 27 Siehe exemplarisch Ralph Lerner: Revolutions Revisited. Two Faces of the Politics of Enlightenment, Chapel Hill 1994; Thomas L. Pangle: The Spirit of Modem Republicanism. The Moral Vision of the American Founders and the Philosophy of Locke, Chicago/London 1988; Michael P. Zuckert: The Natural Rights
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teidigung der naturrechtliehen Grundlagen des amerikanischen Systems und der Theologie der Unabhängigkeitserklärung als der heute einzig möglichen philosophischen Politik. Der Streit zwischen sog. East Coast und West Coast Straussians28 geht nach Harry Neumann um das divergierende Politikverständnis der beiden ,.Gruppen", deren eine, vertreten durch Walter Bems, Allan Bloom, Harvey Mansfield und Thomas Pangle, pseudo-atheistisch sei und der Naturrechtslehre lediglich einen exoterischen Status zuspreche, während Jaffas sokratischer Kalam29 diese Auffassung ablehnt und in ihr eine unzulässige, weil unphilosophische, Abwertung des Politischen sieht, wodurch sich Jaffa, so Neumann, als ,.Strauss' main, probably his only real, student" erweise, ja sogar als der Maimonides oder Thomas von Aquin der gegenwärtigen Welt, der als solcher immun sei gegen die Verführung der modernen Freiheit, den pseudo-atheistischen Individualismus. Jaffas politische Haltung, seine häufigen grundsätzlichen Interventionen zu politischen Streitfragen seien ebenso wie Churchills politische Taten philosophischer als Heideggers Denken, da Staatskunst ein Teil der philosophischen Tätigkeit werde. 30 So kritisiert Jaffa, der von Shadia Drury in Anlehnung an Sokrates als ,.gadfly of American conservatism" bezeichnet wird31 , z. B. massiv die liberalistischen Tendenzen innerhalb der Jurisprudenz mit ihrer Ablehnung des Naturrechts und der völligen Hingabe an den Rechtspositivismus und Werterelativismus bzw. die schwerpunktmäßig (aber nicht nur) auf der Linken anzutreffende Propagierung von ,judicial activism", richterlicher Aktivismus, als systemwidriger Politikersatz. Jaffa besteht als Konservativer auf der Notwendigkeit, die Rechtsprechung an den ursprünglichen Intentionen (original intent) der Gründer, wie sie sowohl in der UnabhängigkeitserkläRepublic. Studies in the Foundation of the American Political Tradition, Notre Dame 1996. 28 Siehe als ersten Überblick Dinesh D 'Souza: The Legacy of Leo Strauss. Is America the Good Society that the Ancient Philosophers Sought?, in: Policy Review (Frühling 1987), S. 36-43. Dazu Harry V. Jaffa: Crisis of the Strauss Divided. The Legacy Reconsidered, in: Social Research 54/3 (Herbst 1987), s. 579-603. 29 Darunter ist in Anlehnung an die arabische Philosophie des Mittelalters (alFarabi) zu verstehen der Versuch der Verteidigung des politischen Lebens, welches das moralische Leben mittels des Gesetzes bindend macht, sowie der Verteidigung des Gesetzes gegen die "Meinungen" der Philosophen; d. h. heute vor allem gegen den "zeitgenössischen akademischen philosophischen Fundamentalismus", der die traditionelle Moral und "traditional piety" ablehne. Siehe Harry Neumann: Atheism. Modern Freedom's Devaluation of Politics and Philosophy, unveröffentliches Konferenzpapier, April 1996, S. 22, 154, n. 17. Vgl. Harry V. Jaffa: The Legacy of Leo Strauss, in: Claremont Review of Books 3 (Herbst 1984), S. 20. 30 Harry Neumann: Atheism (wie Anm. 29), S. 37, 41, 48, 59, 73, 146. 31 Shadia B. Drury: Leo Strauss and the American Right, New York 1997, s. 224.
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rung und der Verfassung zum Ausdruck kommen, zu orientieren und verteidigt diese Position mit großer Verve. 32 Angesichts der auch nach dem Ende des Kalten Krieges fortdauernden und sich noch vertiefenden Krise des Abendlandes sieht Jaffa in einer Erneuerung und Bestärkung der Gründungsprinzipiell die einzige Möglichkeit, der zersetzenden Krankheit des moralischen Relativismus beizukommen. Daraus resultiert auch Jaffas schonungslos kritische Analyse des gegenwärtigen Konservatismus? 3 Jaffa ist ein radikaler Konservativer, weil er das amerikanische Regime auf der Grundlage der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung als das beste Regime betrachtet (vgl. sein angekündigtes Buch "The American Founding as the Best Regime, and Other Essays in Socratic Rationalism"). 34 Die von der Strauss-Schule unternommene gründliche Erforschung und Würdigung der amerikanischen Gründung ermöglicht einen rationalen, nicht-reaktionären Konservatismus mit einer sehr positiven Würdigung der Staatskunst Abraham Lincolns, der sich deutlich vom Burkeschen Konservatismus Russell Kirks oder vom Südstaatenkonservatismus John C. Calhouns unterscheidet. Die Güte bzw. der Sinn eines Konservatismus liegt in der Perspektive des "Straussianismus" allein darin, wie gut die ursprünglichen Prinzipien der Gründer waren, denn, so Allan Bloom, "conservatism always has to be judged by the radical thought or events it intends to conserve."35 Der Straussianische Konservatismus bemüht sich daher logischerweise sowohl philosophisch wie auch empirisch-historisch um den Nachweis, daß die Gründungsprinzipien der USA von den Vorwürfen des Rassismus, Sexismus und Elitismus freigesprochen werden können. Der beeindruckendste Versuch, die Gründerväter in der Tradition von Strauss und Jaffa vor den politisch korrekten Deutungen der Gegenwart in Schutz zu nehmen, wurde jüngst von Thomas G. West unternommen?6 32 Siehe dazu Harry V. Jaffa: Stonn over the Constitution. Jaffa Answers Bork, Claremont 1994; Harry V. Jaffa (with Bruce Ledewitz, Robert L. Stone, George Anastaplo): Original Intent and the Framers of the Constitution. A Disputed Question, Washington, D. C. 1994. Der wichtigste Kommentar eines Straussianers zur amerikanischen Verfassung ist George Anastaplo: The Constitution of 1787. A Commentary, Baltimore/London 1989 sowie George Anastaplo: The Amendments to the Constitution. A Commentary, Baltimore/London 1995. 33 Siehe Harry V. Jaffa: The False Prophets of American Conservatism, unveröffentlichtes MS zu Lincolns Geburtstag, Februar 1998, S. 3; derselbe: The Decline and Fall of the American Idea: Reflections on the Failure of American Conservatism, unveröffentlichtes Konferenzpapier, Claremont, April 18-20, 1996. 34 Siehe auch Harry V. Jaffa: American Conservatism and the American Founding, Durharn 1984 und derselbe: The American Faunding as the Best Regime. The Bonding of Civil and Religious Liberty, Claremont 1990. 35 Allan Bloom: Giants and Dwarfs. Essays 1960-1990, New York 1990, S. 17. 36 Thomas G. West: Vindicating the Founders. Race, Sex, Class, and Justice in the Origins of America, Lanham, MD 1997.
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Die Forschungslage zu Strauss ist m. E. insofern gut, als seine sämtlichen Bücher z. Zt. in englischer Sprache im Buchhandel erhältlich sind, und mit dem Erscheinen der von Heinrich Meier herausgegebenen verdienstvollen deutschen Ausgabe liegen bisher erstmals auch kritische Ausgaben der beiden ersten auf deutsch geschriebenen Bücher von Strauss vor, "Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft" sowie "Philosophie und Gesetz", weitere werden folgen. 37 Einige der amerikanischen Ausgaben erfüllen dagegen leider nicht die minimalen Anforderungen an Textkritik, die für eine wissenschaftliche Beschäftigung notwendig wäre, z. T. werden unterschiedliche Lesarten von Vorträgen aus dem Nachlaß gebracht, ohne jeden Kommentar, besonders skrupellos und unverzeihlich ist die Isolierung einzelner Paragraphen von Texten, um problematische Thesen wie die des "jüdischen Denkers" Strauss zu stützen, die m. E. auf einer Verkennung des eigentlichen Anliegens des Philosophen Strauss beruhen.38 Ein Teil dieser Vorträge wurde mit textkritischem Apparat in der auch sonst für die Weiterentwicklung der Straussschen politischen Philosophie wichtigen Zeitschrift "Interpretation. A Journal of Political Philosophy" veröffentlicht, die auch ausführliche Besprechungen einschlägiger Bücher enthält. Die Einschätzungen der Strauss-Schule divergieren z. T. erheblich, und zwar je nach politischem, religiösem, philosophischem Standpunkt, wobei insbesondere die Problematik des "Liberalismus"-Begriffs im heutigen Nordamerika für Verwirrung sorgt, so daß einerseits Kritiker wie Stephen Holmes in bezug auf Strauss eine Diagnose auf "Antiliberalismus" stellen39, während andererseits nicht alle Straussianer sich als Konservative im herkömmlichen Sinne bezeichnen, sondern wie etwa Bloom sich zwar als Verteidiger einer liberalen, d. h. freiheitlichen Gesellschaft verstehen, andererseits aber nicht als Liberale im heute gebräuchlichen Sinne von linksliberal-sozialdemokratisch. Es ist eine verbreitete, wenn auch m. E. nicht wirklich überzeugende Aufassung, Strauss sei so wie Hannah Arendt "fiercely (sie) critical of liberal democracy" gewesen. 40 In einem jüngeren Aufsatz mit dem Titel "The Liberal Politics of Leo Strauss" versucht 37 Siehe Till Kinzel: Autorenporträt Leo Strauss, in: Critic6n 153 (Januar/Februar/März 1997), S. 9-12. 38 Dies ist der Fall bei der von Kenneth Hart Green herausgegebenen Auswahl in Leo Strauss: Jewish Philosophy and the Crisis of Modemity, Albany 1997, eine Ausgabe, die z. T. auf nicht nachvollziehbaren editorischen Entscheidungen basiert. Kritisch zu Greens Deutungsansatz siehe Shadia B. Drury: The Jewish Thought of Leo Strauss?, in: Shofar 13/2 (Winter 1995), S. 81-85. 39 Stephen Holmes: Die Anatomie des Antiliberalismus, Harnburg 1995, S. 115159, 15, 48f., 160. Vgl. dazu die überzeugende Kritik (mit Schwerpunkt auf Strauss) von Peter Berkowitz: Liberal Zealotry, in: The Yale Law Journal 103/5 (März 1994), S. 1363-1382.
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Nasser Behnegar, Strauss' Aktivität und insbesondere seine Verteidigung der "liberal education" als Korrektiv für die der Demokratie innewohnenden gefährlichen Tendenzen zu deuten. Strauss' Unterstützung für die liberale Demokratie sei Ausdruck seines philosophischen Verständnisses seiner Verantwortung als Bürger. 41 Indem Strauss durch seine Kritik Heideggers und Schmitts hindurch zur Politischen Philosophie gelangte, kann seine Politik, wie ein anderer Autor folgert, als ein "Liberalismus ohne Illusionen" bezeichnet werden. 42 Für Verwirrung scheint im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis Straussens zum Liberalismus seine frühe Äußerung gegen Schmitt gesorgt zu haben, es sei Schmitt nicht gelungen, "einen Horizont jenseits des Liberalismus zu gewinnen. " 43 Auf die naheliegende Frage, ob sich Strauss mit dieser Forderung nicht als ein noch radikalerer Antiliberaler als Schmitt erweise, antwortet Robert Howse in einem Carl Schmitt gewidmeten Themenheft überzeugend, daß Strauss eine philosophische Position anstrebte, die weder Liberalismus noch Antiliberalismus sei, jedoch die Grenzen beider erkenne. Strauss habe zu diesem Zweck dem Schmittschen Dezisionismus zumindest versuchsweise das klassische Naturrecht entgegengestellt, in dem er genau jenen "Horizont jenseits des Liberalimus" gefunden habe. 44 Der insgesamt eher liberale als reaktionäre Konservatismus Straussens auf der Grundlage einer Neuaneignung des klassischen politischen Rationalismus sowie einer leidenschaftslosen und philosophisch klaren Analyse der Ansprüche des Liberalismus wie seiner Feinde hat also als Ziel die Bewahrung einer freiheitlichen politischen Ordnung gegen äußere Feinl;le wie auch innere Zersetzungserscheinungen. Entsprechend Strauss' Auffassung von einer "Aristokratisierung" der Demokratie besteht denn auch die Straussianische Antwort auf die Herausforderung des post40 So zuletzt Dana R. Villa: The Philosopher Versus the Citizen. Arendt, Strauss, and Socrates, in: Political Theory 26/2 (April 1998), S. 147. 41 Nasser Behnegar: The Liberal Politics of Leo Strauss, in: Michael Palmer/Thomas L. Pangle (Hrsg.): Political Philosophy and the Human Soul. Essays in Memory of Allan Bloom, Lanham, MD 1995, S. 251-267. 42 Vgl. Stephen B. Smith: Destruktion or Recovery? Leo Strauss's Critique of Heidegger, in: Review of Metaphysics 5112, Nr. 202 (Dezember 1997), S. 372. Smith wendet sich gegen Luc Ferry, der hinter Strauss' Wendung zur klassischen Philosophie zutiefst antidemokratische Motive ausmacht. Strauss biete eine weitreichende Kritik der antimodernen Einstellung Heideggers und habe sich gerade wegen der Krise der liberalen Demokratie im Interesse ihrer Verteidigung den Klassikern zugewandt (S. 349ff.). 43 Leo Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart/Weimar 1998, s. 125. 44 Siehe Robert Howse: From Legitimacy to Dictatorship - and Back Again. Leo Strauss's Critique of the Anti-Liberalism of Carl Schmitt, in: The Canadian Journal of Law and Jurisprudence 1011 (Januar 1997), S. 77-103, 79.
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modernen Zeitalters in der "Veredelung der Demokratie" durch konstruktive Wiederaneignung des klassisch-republikanischen Erbes. 45 Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod bleibt Strauss eine rätselhafte und kontroverse Figur, so daß ein kürzlich erschienener Aufsatz schlicht und ergreifend die für die Forschungslage symptomatische Frage stellen konnte, wer Strauss gewesen sei. 46 Ein erhebliches Problem der Forschung besteht mit Sicherheit darin, daß die große Zahl der von Strauss und seinen Schülern bzw. den Schülern seiner Schüler verfolgten Aktivitäten und veröffentlichten Büchern es zunehmend unmöglich macht, sich in jeder Hinsicht ein vollständiges Bild zu machen. Zudem wird durch eine auch nur oberflächliche Sichtung der einschlägigen Literatur deutlich, das die Rede von einem Straussianismus über gewisse philosophisch-hermeneutische Prinzipien und ein Grundverständnis der Sache der Politischen Philosophie hinaus immer weniger aussagekräftig erscheint. So stehen neben zahlreichen Studien zu aktuellen politischen Problemen und Analysen zum amerikanischen politischen System auch hochkarätige Kommentare und Interpretationen zu Klassikern der Philosophiegeschichte, deren politischer oder gar konservativer Charakter auf den ersten Blick nicht so offenkundig ist. 47 Insofern sich diese Interpretationen allerdings mit der von Strauss geforderten sorgfältigen Lektüre der "Great Books" der Tradition befassen, stellen sie ein wichtiges Element der Straussschen philosophischen Politik dar, der es um eine Wiedergewinnung der klassischen politischen Philosophie geht. Darüber hinaus steht mit der hermeneutischen Position der sog. elitären Deutung der Platonischen Dialoge auch das politische Problem des Verhältnisses der Philosophen zur Gesellschaft, in der sie leben, in Rede. 48 Es besteht in der Literatur kein Konsens darüber, wie etwa Strauss' Stellung zu Platon oder Nietzsche im Einzelnen und im Grundsätzlichen zu sehen ist, was zu kontroversen Einschätzungen der politischen und philosophischen Orientierung von Strauss führt. Dies spiegelt sich im Wandel der Strauss-Einschätzungen früherer Jahre (Naturrechtsabsolutist und antimachiavellistischer Dogmatiker) zu der heute vielfach üblichen und ebenso 45 Vgl. Leo Strauss: Liberalism Ancient and Modem, Chicago/London 1995, S. 4 mit Thomas L. Pangle: The Ennobling of Democracy. The Challenge of the Postmodem Age, Baltimore/London 1992. 46 Gregory Bruce Smith: Who Was Leo Strauss?, in: The American Scholar 66 (1997), s. 95-104. 47 Siehe z. B. Seth Benardete: Socrates' Second Sailing. On Plato's Republic, Chicago/London 1992; Seth Benardete: The Bow and the Lyre. A Platonic Reading of the Odyssey, Lanham, MD 1997; Joseph Cropsey: Plato's World. Man's Place in the Cosmos, Chicago/London 1995; Michael Davis: The Politics of Philosophy. A Commentary on Aristotle's Politics, Lanham, MD 1996; Stanley Rosen: Plato's Statesman. The Web of Politics, New Haven/London 1995. 48 Siehe z. B. David Roochnik: Irony and Accessibility, in: Political Theory 25/6 (Dezember 1997), S. 87lf., 884.
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einseitigen Deutung als zynischer Machiavellist und verkappter Atheist. 49 So deutet etwa Laurence Lampert (ähnlich wie Shadia Drury oder Peter Levine, wenn auch auf philosophisch höherem Niveau) Strauss als eine Art geheimen Nietzscheaner der Rechten50, während andere wie Jaffa oder Pangle (untereinander kontrovers) von Strauss' Platonismus oder seinem Sokratischen Rationalismus sprechen und Catherine H. Zuckert ihn gar mit einem fragwürdigen Begriff als "postmodernen Platon" wertet. Als solcher habe er mit seiner Zuwendung zur klassischen politischen Philosophie insbesondere Platons die konservative Antwort auf die Kritik der Tradition durch Nietzsche und Heidegger gegeben. Strauss' Wendung zu Platon stellt nach der Erschöpfung der Möglichkeiten des modernen Rationalismus seine Antwort auf die politische Krise des 20. Jahrhunderts dar. 51 Strauss' PlatonInterpretation ist m. E. konstitutiv für seine spezifische Form des Konservatismus, insofern er die Interpretation der Platonischen Politeia im Sinne einer zu verwirklichenden Utopie mit der Forderung nach der Herrschaft der Philosophen-Könige ablehnt und im Gegenteil durch seine an Parabi geschulte Deutung unter Einbeziehung des literarischen Charakters des Platonischen Dialoges zu der Schlußfolgerung gelangt, daß Platon die "revolutionäre" Suche nach der besten Stadt zugunsten eines "konservativeren" Vorgehens aufgegeben habe. Die Politeia stellt somit politisch eine Lehre des Maßes und der Besonnenheit dar und warnt in typisch konservativer Weise vor unmäßigen Ansprüchen an die Politik. Strauss' in einer vom "Atheismus aus Redlichkeit"' geprägten Zeit ungewöhnliche Hochschätzung der religiösen Tradition, in seinem Falle des Judentums, wird verständlich im Lichte von Parabis Auffassung: "Conformity with the opinions of the religious community in which one is brought up is a necessary qualification for the future philosopher."52 49 Siehe Thomas L. Pangles Einleitung in: Leo Strauss: The Rebirth of Classical Political Rationalism. An lntroduction to the Thought of Leo Strauss, Chicago/London 1989, S. xi. 50 Siehe neben Drurys einschlägigen Büchern Laurence Lampert: Leo Strauss and Nietzsche, Chicago/London 1996 und Peter Levine: Nietzsche and the Modem Crisis ofthe Humanities, A1bany 1995, S. 152-167. Zu Lamperts Interpretation vgl. z. B. Charles Bambach: Leo Strauss's Crisis, in: Modem Age 39/3 (Sommer 1997), S. 278- 282 und Robert Devigne: P1ato, Nietzsche, & Strauss, in: The Political Science Reviewer 26 (1997), S. 397-433. 51 Catherine H. Zuckert, Postmodem Platos. Nietzsche, Heidegger, Gadamer, Strauss, Derrida, Chicago/London 1996, S. 1-8, 104-200. Vgl. G. R. F. Ferrari: Strauss's Plato, in: Arion 512 (Herbst 1997), S. 36-65. Der, wie Heinrich Meier meint, brillante Vortrag von Seth Benardete: Strauss on Plato, wird voraussichtlich 2000 in dem Band Seth Benardete: The Argument of the Action. Essays on Greek Poetry and Philosophy, hrsg. v. Ronna Burger/Michael Davis, erscheinen. 52 Leo Strauss: Farabi's Plato, in: Louis Ginzberg Jubilee Volume, New York 1945, S. 383. Vgl. Christopher Colmo: Theory and Practice. Alfarabi's Plato Revisited, in: American Political Science Review 86/4 (Dezember 1992), S. 966-976.
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Man kann mit Recht behaupten, daß Strauss wie wenige Philosophen seiner Zeit (z. B. Leo Schestow) die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung in das Zentrum seines Nachdenkens gestellt hat. Die Frage nach dem persönlichen Glauben Strauss' verweist dabei auf die offenbar gezielte Ambiguität in Strauss' Argumentation, über deren Deutung in der Forschung keine Einigkeit besteht. Zwar äußerte sich Strauss stets kritisch über den dogmatischen Atheismus seiner Zeit und vertrat die Auffassung, daß im Widerstreit von Philosophie und Theologie letztlich die Theologie die Oberhand behalte, da es für die Philosophie nicht möglich sei, die Religion bzw. die Offenbarung zu widerlegen. Doch dies wird von einigen so gedeutet, Strauss habe damit "certainly placed a huge obstacle in the way of those seeking to enter philosophy".53 In Wirklichkeit habe sich Strauss für einen atheistisch interpretierten Sokratismus entschieden, sei aber dennoch ein guter Jude gewesen. 54 Dieser Strauss-Deutung wird jedoch von anderer Seite mit guten Gründen widersprochen 55 und eine sorgfältige Studie zum Thema, die Strauss' Prinzipien der Lektüre auf ihn selbst anwendet, kommt gar zu dem Schluß, daß Strauss in seinem Versuch, eine erneute unvoreingenommene Erörterung von Vernunft und Offenbarung zu ermöglichen, wenn überhaupt, dann der Offenbarung das größere Gewicht gebe. 56 Wie Zuckert bemerkt, gibt es bisher wegen der großen Anforderungen an die Lektüre so gut wie keine Literatur über das Spätwerk Straussens57 , d. h., daß zum jetzigen Zeitpunkt jede Strauss-Interpretation unter einem gewissen Vorbehalt steht, sofern sie nicht zu einer angemessenen Einschätzung gerade auch des späten Strauss gelangt. Dadurch mögen auch die kontroversen Auffassungen beeinflußt sein, die Strauss einmal als politischen Philosophen58 , das andere Mal als - mirabile dictu - politischen Theologen beurteilen, dessen "apokalyptischer Fundamentalismus" ihn zu David Lowenthal: Comment on Colmo, in: Interpretation 1811 (1990), S. 162. Wemer J. Dannhauser: Athens and Jersualem or Jerusa1em and Athens?, in: David Novak (Hrsg.): Leo Strauss and Judaism. Jerusalem and Athens Critically Revisited, Lanham, MD 1996, S. 155-171. 55 Hilail Gildin: Deja Jew All Over Again. Dannhauser on Leo Strauss and Atheism, in: Interpretation 25/1 (1997), S. 125-133. Vgl. Kenneth Hart Green: Jew and Phi1osopher. The Return to Maimonides in the Jewish Thought of Leo Strauss, Albany 1993, S. 237- 239. 56 Susan Orr: Jerusa1em and Athens. Reason and Revelation in the Works of Leo Strauss, Lanham, MD 1995, S. 158. 57 Eine Ausnahme ist z. B. Christopher Bruell: Strauss on Xenophon's Socrates, in: The Political Science Reviewer 14 (Herbst 1984), S. 263-318. 58 So am vielleicht emphatischsten und m. E. zu Recht bei Heinrich Meier: Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen, Stuttgart/Weimar 1996. 53
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einem "Ultrakonservativen" mache, der sich ein für allemal von der Moderne verabschiedet habe. 59 Nach wie vor besteht das Desideratum einer sorgfältigen Interpretation der Straussschen politischen Philosophie in bezug auf ihre Verbindungslinien zum konservativen Denken und zur konservativen politischen Praxis. Insbesondere verdient ähnlich wie bei Heidegger u. a. die Untersuchung der Frage Aufmerksamkeit, inwieweit Strauss' politischer Konservatismus mit seinen philosophischen Auffassungen in einem notwendigen oder bloß zufälligen Verhältnis steht (letzteres nimmt z. B. Richard Rorty an; so seine Äußerung in seinem Seminar über amerikanische linke Intellektuelle am 13. Mai 1998 in Potsdam). Eine systematische Aufarbeitung der "Straussianischen" Position(en) in den gegenwärtigen Kulturkriegen um den Kanon, den Multikulturalismus und das Selbstverständnis der amerikanischen Demokratie, insbesondere des Verständnisses der amerikanischen Gründerväter sowie der Lincolnschen Interpretation der amerikanischen Ideale steht noch aus.60 Immerhin ist mit den ersten gelungenen "einführenden" Texten zu Strauss in deutscher Sprache eine gute Grundlage gelegt, um die weitere Beschäftigung im deutschsprachigen Raum mit der Sache der Politischen Philosophie anzustoßen und ihr ein hohes Niveau zu sichern.61 Eine wichtige Voraussetzung für die weitere Beschäftigung mit Strauss und seiner Schule wird z. Zt. durch verschiedene Projekte einer Ausgabe gesammelter Schriften in englischer Sprache geschaffen (Heinrich Meier wird Studien zum theologisch-politischen Problem, Kenneth Hart Green eine auf fünf Bände angelegte Reihe "Jewish Writings" herausgeben). Diese Ausgaben müßten kritische Ausgaben nach dem Vorbild der Editionspraxis Heinrich Meiers sein, was man bisher jedoch von keiner der englischsprachigen Buchausgaben behaupten kann. (Einige Vorträge finden sich jetzt in kritischer Edition in der "Straussianischen" Philosophiezeitschrift "Interpretation".) Eine Reihe für das Verständnis der philosophischen Politik Straussens zentraler Texte, die bisher nie in Buchform oder nur an entlegener Stelle veröffentlicht wurden, sollen zugänglich gemacht werden, 59 Alfons Söllner: Leo Strauss. German Origin and American Impact, in: Peter Graf Kielmansegg et al. (Hrsg.): Hannah Arendt and Leo Strauss. German Emign!s and American Political Thought After World War II, Cambridge/Washington, D. C. 1995, s. 132 f. 60 Vgl. dazu den Sammelband von Kenneth L. Deutschilohn Murley (Hrsg.): Leo Strauss, the Straussians, & the American Regime, Lanham, MD 1999. In diesem Band werden die unterschiedlichen Ansätze einzelner Strauss-Schüler im Kontext ihrer Analysen des amerikanischen Systems analysiert. 61 Siehe Clemens Kauffmann : Leo Strauss zur Einführung, Harnburg 1997; Meier: Die Denkbewegung (wie Anm. 58).
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z. B. die Aufsätze "The Spirit of Sparta and the Taste of Xenophon" (Social Research 1939), der bisher nur in französischer Übersetzung in Buchform vorliegt62, "Farabi's Plato" (1945), "On a New Interpretation of Plato's Political Philosophy" (Social Research 1946), "On the Intention of Rousseau" (Social Research 1947), leider nicht "On Collingwood's Philosophy of History" (Review of Metaphysics 1952). Außerdem wäre die Publikation einer Reihe von Seminar- und Vorlesungsmanuskripten nützlich, vor allem über Texte, zu denen Strauss sonst nichts veröffentlichte. Ein weiteres Desiderat ist eine umfangreichere Briefwechselpublikation als sie bisher erfolgt ist. 63 Weiterhin sehr hilfreich (und meines Wissens bisher nicht in Angriff genommen) wäre die Erstellung einer Forschungsbibliographie, die sämtliche in den verschiedensten Sprachen zu Strauss publizierten Artikel und Bücher enthalten müßte. Im Horizont seiner Philosophie, dergemäß Anonymität ein Charakteristikum der Philosophie ist, muß die Forderung nach einer biographischen Darstellung über Strauss als fast blasphemisch erscheinen, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine solche Darstellung durch Sammlung der bisher weit verstreuten Informationen ebenfalls ihren Wert hätte. Auch wenn sie nicht zu den dringendsten philosophischen Forschungsdesiderata gehört, wäre eine solche biographische Studie ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens.
111. Eric Voegelin Eine ausführlichere Darstellung der Grundzüge des Voegelinschen Denkens erspare ich mir an dieser Stelle. Einen ersten Überblick bietet die jüngst erschienene konzise Einführung in die zentralen Argumentationslinien Voegelins von Michael Henkel.64 Es sollen lediglich kurz jene Elemente seines Denkens erwähnt werden, die seine Attraktivität für Konservative v. a. in den USA begründen. Politisch stand für Voegelin die sog. Ordnungsproblematik (die Frage weltlicher und geistlicher Ordnung) im Zentrum des Interesses, geistlich die Frage der "energischen Besinnung der Kirchen", die mit einer Verabschiedung von allem Fundamentalismus einhergehen müsse. Philosophisch, vor allem im Zusammenhang mit seinen Forschungen zur Bewußtseinsproblematik, ging es ihm um die "Restauration des Philosophierens" angesichts der trübseligen Situation der Gegen62 Leo Strauss: Le discours socratique de Xenophon suivi de Le Socrate de Xenophon en appendice L'esprit de Sparte et Je gofit de Xenophon, hrsg. v. Olivier Sedeyn, Paris 1992. 63 John Murley und John Alvis bereiten z.Zt. eine Ausgabe des Briefwechsels von Willmoore Kendall und Leo Strauss vor, im Sammelband The Political Thought of Willmoore Kendall. Dieser Briefwechsel im Umfang von 64 Briefen umfaßt die Jahre 1949 bis 1967 (freundliche Mitteilung von John A. Murley). 64 Siehe Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Harnburg 1998. 14 Schrenck·Notzing
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wartsphilosophie, die er weitgehend mit Gnosis identifizierte, wie er überhaupt in der Gnosis das Wesen der Modeme erblickte. 65 In den gnostischen Ideologien sah Voegelin eine überhebliche Revolte gegen das klassischchristliche Verständnis des Menschen. Das was Voegelin als pneumapathologisches Bewußtsein bezeichnete, fand er in nahezu allen modernen politischen Denkströmungen, als da sind Anarchismus, Behavioralismus, Biologismus, Konstitutionalismus, Existentialismus, Faschismus, Hegelianismus, Liberalismus, Marxismus, Positivismus, Progressivismus, Psychologismus, Szientismus und Utilitarismus.66 Voegelin, der als einer der Hauptvertreter der Neuen Wissenschaft der Politik im Sinne einer sog. normativ-ontologischen Politiktheorie gilt67 , gründete seine politische Wissenschaft auf einer explizit christlichen und philosophischen Anthropologie, die ihn gegen die verschiedenen Ansätze eines sozialwissenschaftliehen Positivismus an das Selbstverständliche erinnern ließ, nämlich an die Tatsache der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur. Insgesamt kann Voegelins Werk als Antwort auf die geistige Unordnung unserer Zeit gesehen werden. In der Tatsache, daß diese geistige Unordnung andauert, liegt auch die fortdauernde Bedeutung des Voegelinschen Denkens begründet. Die Forschungslage zu Voegelin erscheint mir insgesamt recht erfreulich. Wie im Falle Straussens ist die Verfügbarkeit von Voegelins Schriften gut und verbessert sich stetig, es ist also eine erste Voraussetzung für die wissenschafltiche Auseinandersetzung erfüllt. 1993 erschien in englischer Übersetzung eine Ausgabe des Briefwechsels von Strauss und Voegelin mit einem umfangreichen und nützlichen Kommentarteil, dessen Autoren sich vor allem mit den unterschiedlichen Antworten von Strauss und Voegelin auf das theologisch-politische Problem befassen. Bis zum Jahre 2000 sollen auch die acht Bände der "History of Political Ideas", editorisch betreut von Ellis Sandoz, erscheinen, während parallel in Deutschland eine ganze Reihe von Einzelveröffentlichungen der Schriften Voegelins unter der Leitung von Peter J. Opitz in Verbindung mit dem Eric-Voegelin-Archiv in München herausgebracht werden. 68 Zunächst erschien Anfang der 90er Jahre eine Neuausgabe der "Neuen Wissenschaft der Politik", Voegelins berühmte 65 Vgl. Eric Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, Chicago/ London 1987, S. 107- 32. 66 Michael Franz: Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt. The Roots of Modern Ideology, Baton Rouge/London 1992, S. 8. 67 Siehe Kurt Lenk: Methodenfragen der politischen Theorie, in: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bann 1991 (Schriftenreihe Bd. 299), S. 998-1001. 68 Eine Besprechung der bis 1994 erschienen Bände bei Hans-Christo! Kraus: Eric Voegelin redivivus? Politische Wissenschaft als Politische Theologie, in: Critic6n 146 (April/Mai/Juni 1995}, S. 105- 109.
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Walgreen-Vorlesungen in Chicago, der eine Edition des Briefwechsels über das Buch folgte. 69 1995 erschienen so z. B. zwei Studien Voegelins zu Morus und Machiavelli und 1997 eine Auseinandersetzung mit dem Evangelium in Beziehung zur Philosophie von 1970, in der Voegelin angesichts der kulturellen Unordnung der Gegenwart eine Rückbesinnung auf die klassische Vernunfttradition fordert. 70 Darüber hinaus wurde jüngst auch Voegelins Frühschrift über den autoritären Staat Österreichs von 1936 erneut aufgelegt. 71 In den letzten Jahren sind eine Reihe von Monographien zum Werk Voegelins vor allem in den USA erschienen, von denen hier nur exemplarisch einige in den neunziger Jahren erschienene Werke erwähnt seien. So erschien 1992 Michael Pranz' vorzüglich zur Einführung geeignete Schrift72 und in den folgenden Jahren Studien von Geheimnis und Mythos in Voegelins Philosophie sowie zu seiner Theologie.73 Von besonderem Interesse ist John Ranieris Studie, da ihr der Nachweis gelingt, daß Voegelins Erfahrungs- und Bewußtseinsphilosophie tatsächlich niemals getrennt von gesellschaftlichen Belangen verstanden werden kann. Ranieri weist überzeugend nach, daß deshalb die Frage nach der Natur und der Möglichkeit der "guten Gesellschaft" stets im Zentrum der Aufmerksamkeit Voegelins stand, auch und gerade dann, wenn er sich philosophisch der Ergrundung des Zusammenhanges von Bewußtsein und Wirklichkeit zuwandte. Voegelins Auffassung, die gegenwärtige soziale und politische Unordnung sei auf eine fundamentale Unkenntnis der Wirklichkeit zurückzuführen, führt Ranieri zu der für seine Untersuchung leitenden Frage, inwieweit eine Gesellschaft überhaupt in der Lage ist, die Wahrheit der Wirklichkeit, d. h. in Voegelins Verständnis der Ordnung, in ihren Institutionen und Praktiken zu verkörpern. Ranieris Arbeit ist von seiner Einsicht getragen, Voegelins Werk repräsentiere "a continuing therapeutic effort to reclaim the sources of authentic political community and to address the ills that beset us today."74 Ranieris Aufnahme der Voegelinschen Position, dergemäß die 69 Eric Voegelin/Alfred Schütz/Leo Strauss/Aron Gurwitsch: Briefwechsel über ,,Die Neue Wissenschaft der Politik", Freiburg 1993. 70 Eric Voegelin: Die spielerische Grausamkeit der Humanisten: Studien zu Niccol6 Machiavelli und Thomas Morus, München 1995; Eric Voegelin: Evangelium und Kultur. Das Evangelium als Herausforderung, München 1997. 71 Erich Voegelin: Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das Österreichische Staatsproblem (Forschungen Staat und Recht, Bd. 119), Wien 1997. 72 Franz: Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt (wie Anm. 66). 73 Glenn Hughes: Mystery and Myth in the Philosophy of Eric Voegelin, Columbia/London 1993; Michael P. Morrissey: Consciousness and Transcendence. The Theology of Eric Voegelin, Notre Dame 1994. 74 lohn J. Ranieri: Eric Voegelin and the Good Society, Columbia/London 1995, s. 7. 14•
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Bewußtseinsphilosophie das Herzstück einer Philosophie der Politik ist, führt ihn zu der Schlußfolgerung, daß Voegelins tiefgründigster Beitrag zur politischen Theorie in dessen Wiederentdeckung der transzendenten Dimension des politisch-sozialen Lebens und in seiner Restauration der politischen Philosophie bestehe. 75 Das problematische Verhältnis Voegelins zur Philosophie wird andererseits in Einschätzungen deutlich, Voegelin sei neben Carl Schmitt der entschiedenste politische Theologe dieses Jahrhunderts.76 Die zentrale Rolle der Verständigung über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von Religion und Philosophie in Voegelins Werk wird auch aus der erhellenden Auseinandersetzung deutlich, die Voegelin und Strauss über mehrere Jahrzehnte miteinander führten. 77 Zumindest eine Studie eines Historikers behandelt sowohl Strauss als auch Voegelin und deutet beide als Rebellen gegen die Modeme, die nach einer postliberalen Ordnung gesucht hätten. Ted V. McAllister78 geht davon aus, daß es für ein angemessenes Verständnis des Konservatismus notwendig sei, hinter die jeweiligen politischen Tagesmeinungen auf die grundlegenden philosophischen Überzeugungen, die Weltanschauungen zurückzugehen. Strauss und Voegelin gelten ihm neben Richard Weaver, Russell Kirk und Robert Nisbet als "Gründer", deren Bücher halfen, die konservative Bewegung nach dem 2. Weltkrieg anzutreiben und zu definieren. Die beiden seien dabei, so McAllisters nicht unproblematische Einschätzung, die zwei am wenigsten konservativen Intellektuellen (!). Seine Konservatismusthese lautet: "Conservatism is a reactionary (!) movement that emerges only when cherished traditions, folkways, beliefs, and norms appear threatened, but once constituted conservatism must penetrate to the philosophical issues in order to do battle with the powers of innovation." Die intellektuellen Konservativen mögen keine Philosophen sein, doch bräuchten sie Philosophen. Sowohl Strauss wie Voegelin hätten amerikanische Probleme mit europäischen Augen betrachtet. 79 McAllisters Buch ist insgesamt aufschlußreich und brauchbar, doch ist der wissenschaftliche Ertrag durchaus unterschiedlich einzuschätzen, was z. T. durch die etwas verwirrende Begrifflichkeit bedingt ist. So kommt er einerseits zu dem Ergebnis, Strauss verdiene (mehr als Voegelin?) das Etikett "Konservativer", während er andererseits im Schlußkapitel überraschenderweise behauptet, Strauss und Voegelin Ebenda, S. 237. Henkel: Erle Voegelin zur Einführung (wie Anm. 64), S. 127 f, 135 f. 77 Der Briefwechsel sowie ausführliche Kommentare aus unterschiedlicher Perspektive finden sich in: Peter Emberley/Barry Cooper (Hrsg.): Faith and Political Philosophy. The Correspondence Between Leo Strauss and Erle Voegelin, 19341964, University Park, PA 1993. 78 Ted V. McAllister: Revolt Against Modemity. Leo Strauss, Erle Voegelin, and the Search foraPostliberal Order, Lawrence 1995. 79 Ebenda, S. X-XI, XII. 75
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seien Reaktionäre, und ihren "Konservatismus" nunmehr in Anführungszeichen setzt. 80 McAllister läßt nach eigenem Bekunden offen, den genauen Einfluß der beiden Philosophen auf das Denken bestimmter Konservativer zu beschreiben und nachzuweisen, eine Aufgabe, die noch der Erfüllung harrt, auch wenn sich, zumindest was Strauss betrifft, einige erste Ansätze dazu in Germana Paraboschis einführender Schrift (ohne eigentlichen Forschungsertrag)81, bei Robert Devigne82 und in Shadia B. Drurys problematischer, über weite Strecken journalistisch gehaltener Studie83 finden. Paraboschi kontrastiert dabei Strauss und seine Schule mit denjenigen Strömungen der Alten Rechten, die sich in der einen oder anderen Form an Burke und der geschichtlichen Weltauffassung orientieren, während Strauss' politische Philosophie einen "konservativen Abschied von der Geschichte" darstelle. Es ist aber andererseits doch signifikant, daß in einer immerhin 450 Seiten umfassenden jüngeren Konservatismus-Anthologie Strauss nur en passant und Voegelin überhaupt nicht erwähnt wird. 84 Anders als im Falle von Strauss gibt es sogar Voegelin-Forschungszentren; so gibt es an der Universität Manchester ein "Centre for Voegelin Studies" beim Department of Religions and Theology85 , das von Dr. Geoffrey Price geleitet wird, der auch zusammen mit Stephen A. McKnight einen Sammelband mit den Referaten der ersten von zwei Voegelin-Konferenzen, die bisher in Manchester stattfanden, herausgegeben hat. 86 Die Referate der zweiten Konferenz werden gegenwärtig zur Veröffentlichung vorbereitet und erscheinen voraussichtlich 1999. Ebenfalls von G. Price herausgegeben wird ein über das Internet verbreiteter Eric Voegelin Newsletter, der in der Regel fünf mal jährlich erscheint und bibliographische Aktualisierungen, Nachrichten über Konferenzen sowie Rezensionen zu einschlägigen Werken bietet, zuletzt z. B. eine fruchtbare Diskussion über Probleme der Rhetorik Voegelins im Zusammenhang mit seiner philosophischen Politik.87 Frühere Ebenda, S. 262. Germana Paraboschi: Leo Strauss e Ia destra americana (Gli Studi, Bd. 58, Filosofia e scienze sociali), Rom 1993. Siehe dazu die informative Rezension von Randall E. Auxier: Straussianism Descendant? The Historieist Revival, in: Humanitas 912 (1996), im Internet unter www.access.digex.net/-nhi.parabos.htm. 82 Robert Devigne; Recasting Conservatism: Oakeshott, Strauss, and the Response to Postmodernism, New Haven 1994. 83 Shadia B. Drury; Leo Strauss and the American Right, New York 1997. 84 Vgl. Jerry Z. Muller (Hrsg.): Conservatism. An Anthology of Social and Political Thought from David Hume to the Present, Princeton 1997. 85 Centre for Voegelin Studies, Department of Religions and Theology, University of Manchester, Manchester M 13 9PL, Eng land. 86 Stephen McKnight/Geoffrey L Price (Hrsg.): International and Interdisciplinary Perspectives on Eric Voegelin, Columbia- London 1997. 87 Anfragen an [email protected]. bzw. [email protected] 80 81
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Ausgaben dieses elektronischen Nachrichtenblattes finden sich im Internet als Voegelin-Research News unter vax2.concordia.ca/-vorenews. Price hat auch eine ausgesprochen nützliche 180seitige Bibliographie von und über Voegelin publiziert, die für jede Voegelin-Forschungsarbeit eine unverzichtbare Hilfe darstellt. 88 An der Louisiana State University in Baton Rouge gibt es ein von Ellis Sandoz geleitetes Eric Voegelin Institute for American Renaissance Studies, über dessen Arbeit man sich auf der Website http:/ /www2.artsci.Isu.edu/voegelin/voegelin.html. informieren kann. 89 Neben Konferenzen u. a. auch im ehemaligen Ostblock stehen Publikationen im Zentrum der Arbeit, vor allem die Herausgabe von "The Collected Works of Eric Voegelin", von deren 34 vorgesehenen Bänden bisher bereits 11 erschienen sind. Die Eric Voegelin Society veröffentlicht ebenfalls jährlich einen Newsletter (Anfragen an Ellis Sandoz, email: evelli @unix 1.sncc.lsu.edu). Neben dem Voegelin-Archiv der Hoover Institution in Stanford, das den Nachlaß Voegelins enthält, sind Erlangen und München weitere für die Voegelin-Forschung wichtige Orte. In Erlangen befindet sich die Eric-Voegelin-Bibliothek, die aus ca. 5000 Bänden bestehende Privatbibliothek Voegelins, die auf Anfrage für Wissenschaftler zugänglich ist. 90 In München befindet sich das Eric-Voegelin-Archiv, das von Peter J. Opitz geleitet. Das Archiv spielt die zentrale Rolle für neue deutsche Ausgaben und Übersetzungen von Voegelins Schriften in der Reihe "Periagoge" im Wilhelm Fink Verlag, als deren bisher letzter Band Anfang 1999 "Der Gottesmord. Zur Geschichte und Gestalt der modernen politischen Gnosis" erschien. Darüber hinaus veröffentlicht das Archiv seit 1996 eine Aufsatzschriftenreihe, die sog. Occasional Papers, mit Texten von oder über Voegelin, von denen bis dato zwölf erschienen sind, und die die neueste Forschung zu einzelnen Aspekten des Voegelinschen Werkes zugänglich machen (www.lrz.uni-muenchen.de/-voegelin-archiv). 91 Zuletzt erschienen u. a. eine Studie Dante Germinos92 , die eine anregende Ver88 Geoffrey Price: Eric Voegelin: A C1assified Bibliography, Bulletin of the John Ry1ands University Library of Manchester, 76/2 (Sommer 1994), 180 S., ISBN 0-86373-122-8, erhältlich für f. 11.50 (Euroscheck) über Miss H. Boyes, Administration Department, The John Ry1ands University Library of Manchester, Oxford Road, Manchester M13 9PP, UK. 89 Ellis Sandoz: Voegelin's Philosophy of History and Human Affairs, with Particular Attention to Israel and Revelation and Its Systematic Importance, in: Canadian Journal of Politica1 Science 3111 (März 1998), S. 62. 9 Kontakt: Dr. Helmut Klumpjan, Institut für Politische Wissenschaft, Glückstr. 5, 91054 Erlangen, email: [email protected]. 91 Bestellungen über Prof. Dr. Peter J. Opitz, Eric-Voegelin-Archiv, GeschwisterScholl-Institut für Politische Wissenschaft an der Universität München, Oettingenstraße 67, D-80538 München. 92 Dante Gennino: Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence (Occasional Papers, Bd. 7), München 1998.
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teidigung der Gnosis-Konzeption Voegelins als analytisches Instrumentarium der Politikwissenschaft zum Verständnis zerstörenscher Gewalt bietet, und Thomas Hallwecks Versuch, die Konzeption der Gnosis für literaturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen. 93 Insgesamt fallt auf, daß trotz der in den letzten Jahren in erheblichem Umfang betriebenen Voegelin-Forschung diese vor allem von Politikwissenschaftlern und Religionswissenschaftlem, weniger von Philosophen durchgeführt wird. Ob dafür allein die Tatsache ausschlaggebend ist, daß Voegelin über unmodische Themen schrieb und die grundlegendsten Annahmen des philosophischen Zeitgeistes verletzte, nicht zuletzt dadurch, daß er auf intransigente Weise die Offenheit des Menschen für den "göttlichen Grund" einforderte, sei hier dahingestellt. McAllister ist jedenfalls der Auffassung, daß Voegelin der Philosoph der Wahl für jene Gruppe der Antimodemisten sei, die sich weigerten, postmodern zu werden. 94 So mag in der Tat Voegelins Behauptung, die Welt sei grundsätzlich intelligibel, dazu beigetragen haben, daß er im Rahmen des sog. postmodernen Diskurses in der philosophischen Forschung, so weit ich sehe, keine Rolle spielt. Dagegen wird z. B. im Rahmen der historisch-politischen Forschung der m. E. nicht unproblematische und kontroverse Versuch unternommen, den Nationalsozialismus im Anschluß an Voegelin als "politische Religion" zu deuten. 95 Eric Voegelins Deutungsansatz gilt dabei neben denjenigen Raymond Arons und Hannah Arendts als einer der fruchtbarsten für die Entwicklung einer umfassenden "Theorie der Despotien des 20. Jahrhunderts", die jedoch nach wie vor ein wissenschaftliches Desiderat darstellt. 96 Die Fülle des Voegelinschen Werkes, die bisher noch nicht einmal vollständig publiziert worden ist, bringt es mit sich, daß noch zahlreiche Aspekte näher erforscht werden müssen, nicht zuletzt die Überprüfung der Tragfähigkeit der Voegelinschen Begrifflichkeit und Deutungsmuster sowie seiner Interpretation der geschichtlichen Abläufe. Die Aneignung von und Auseinandersetzung mit Voegelins Werk durch die Zunft der Philosophen steht m. E. noch aus, hier dürften sich noch weite Perspektiven ergeben, vor allem im Zusammenhang mit dem Projekt der Wiedergewinnung der prädogmatischen Wirklichkeit und dem Problem des ideologischen Bewußt93 Thomas Hollweck: The Romance of the Soul. The Gnostic Myth in Modem Literature (Occasiona1 Papers, Bd. 8), München 1998. 94 McAllister: Revo1t Against Modernity (wie Anm. 78), S. 222 f. 95 Siehe z.B. die Beiträge in Michael Ley/Julius Schoeps (Hrsg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1996. Vgl. Henkel: Eric Voegelin (wie Anm. 64), S. 88f. 96 Siehe Hans Mai er: , Totalitarismus' und , Politische Religionen'. Konzepte des Diktaturvergleichs, in: Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung (Schriftenreihe, Bd. 336), Bann 1996, s. 129.
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seins. Insbesondere käme es für die Entwicklung einer tragfähigen philosophischen Anthropologie darauf an, die Ansätze Voegelins aufzugreifen und neu zu durchdenken. 97 Auch die Literatur- und Kulturwissenschaften haben, soweit ich sehe, die intensive Auseinandersetzung mit den Thesen und Forschungsergebnissen Voegelins noch vor sich. In der Zukunft dürfte trotz der möglicherweise nur vorübergehenden Rückzugsgefechte des Sozialismus die Voegelinsche Ideologiekritik ein wichtiger und fruchtbarer Ansatz der Analyse geistiger Strömungen und Störungen bleiben. 98
97 Vgl. Zdravko Planinc: The Uses of Plato in Voegelin's Philosophy of Consciousness. Reflections Prompted by Voegelin's Lecture, ,Structures of Consciousness', in: Voegelin-Research News 2/3 (Sept. 1996). 98 Vgl. Franz: Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt (wie Anm. 66), s. 123-135.
Marktprinzip und Kulturverfall in konservativer Perspektive Von Johann Baptist Müller Bouvard voit l'avenir de l'humanite en beau. L'homme moderne est en progres ... Disparation du mal par Ia disparation du besoin. Gustave Flaubert: Bouvard et Pecuchet.
Wenn Marion Gräfin Dönhoff sich heute darüber beklagt, daß das "Humane und Kulturelle ... an den Rand gedrängt" 1 wird, "weil sich alles auf die Wirtschaft konzentriert" 2 und wenn Heiner Müller darüber lamentiert, in wie starkem Maße in unserer Gesellschaft das "Geld der einzige Wert" 3 ist, so sind diese Klagen keineswegs neu. Immer schon haben bedeutende Autoren sowohl die ästhetischen als auch die ethischen Defizienzen in den Blick gerückt, die sich aus der rigiden Überantwortung der Lebenswelt an das ökonomische Kalkül ergeben. Schon Friedeich Schiller warf der frühen Industriegesellschaft vor, sich zum "lärmenden Markt des Jahrhunderts"4 zu entwickeln. Nun sei "der Nutzen ... das große Idol der Zeit"5 , dem "alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen"6 . In dieser Sozietät sind die Menschen auch Montesquieu zufolge in Gefahr, ihre außerökonomischen Wertvorstellungen über Bord zu werfen. In denjenigen Ländern, "wo man nur vom Handelsgeist beseelt ist"7 , widerfahre "allen sittlichen Tugenden"8 das Schicksal, zum Tauschob1 Stuttgarter Nachrichten, Nr. 159, 14. Juli 1998. Vgl. dazu auch Klaus Koch: Diesseits des Kapitalismus. In: Merkur 52 (1977), S. 763. 2 Ebd. 3 Heiner Müller: Für immer in Hollywood. In: Lettre international, Nr. 4, Frühjahr 1994, S. 4. 4 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Schriften zur Philosophie und Kunst. München 1964, S. 69. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Aus dem Französischen. Zweiter Band. Herausgegeben von Ernst Forsthoff. Tübingen 1951, S. 3. 8 Ebd.
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jekt herabgewürdigt zu werden. Auf diese Weise werden "selbst die kleinsten Dinge, die die Menschlichkeit gebietet, ... nur gegen Geld getan oder gewährt"9 . In gleicher Weise zeichnet Charles Baudelaire das Schreckbild einer Gesellschaft, in der "die Verrohung der Herzen" 10 gang und gäbe ist, in der die Menschen "in der Umklammerung einer allgemeinen Animalität" 11 ihrer Würde verlustig gehen. Die engagierte Bereitschaft, sich ganz mit dem Prinzip des ökonomischen Kalküls abzugeben, dringe in alle Lebensbereiche ein. In den Augen des geldbesessenen Bürgers werde alles, "was nicht ein einziges Streben nach Reichtum ist, als unendlich lächerlich" 12 angesehen. Die allgemeine Verachtung treffe alle diejenigen, "die es nicht verstehen ... Geld zu machen" 13 . Auch das Familienleben werde auf diese Weise in Mitleidenschaft gezogen. "Deine Tochter, bereits im Kindesalter heiratsfähig, wird in der Wiege träumen, daß sie mit einer Million zu Verkauf stehe, und du selbst, o Spießbürger ... wirst nichts dagegen einzuwenden haben." 14 Was Wunder, wenn in diesem ökonomischen Pandämonium die Ehefrau zurVerwalterindes Geldschrankes 15 herabgewürdigt wird. Für Jacob Burckhardt gibt sich die vom schieren Kommerz bestimmte Gesellschaft als eine Sozietät zu erkennen, in der vor allem die Kunst nur noch ein Schattendasein fristen kann. Eine Ordnung, deren konstitutives Prinzip der wirtschaftliche Wettbewerb ist, dränge alle ästhetischen Werte ins Abseits. "Die geistige Produktion in Kunst und Wissenschaft hat alle Mühe, um nicht zu einem bloßen Zweige großstädtischen Erwerbs hinabzusinken, nicht von Reklame und Aufsehen abhängig, von der allgemeinen Unruhe mitgerissen zu werden." 16 Betrübt und entsetzt fragt der große Historiker: "Soll gar alles zum bloßen business werden?" 17 Daß in der kapitalistischen Tauschgesellschaft alle kulturellen Werte der wirtschaftlichen Berechnung geopfert werden, dieser Auffassung stimmt auch Wemer Sombart zu. Zu denjenigen, die als "Seinswerte" 18 in 9
Ebd.
° Charles Baudelaire:
Lichtblitze (Fusees). In: Intime Tagebücher und Essays. Aus dem Französischen. München 1978, S. 29. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 30. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Herausgegeben von Rudolf Marx. Stuttgart 1935, S. 203. 17 Ebd. 18 Wemer Sombart: Deutscher Sozialismus. Berlin 1934, S. 21. Das Erscheinungsjahr dieses Buches könnte zu dem Fehlschluß führen, daß sich Sombart in 1
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Gefahr sind, unter die Räder des ökonomischen Utilitarismus zu geraten, zählt er "Schönheit, Stärke, Güte, Weisheit, künstlerische Begabung" 19• In der vollkommen durchkommerzialisierten Sozietät erhalte "der Mensch des Geistes ... erst eine Stelle und Ansehen ... wenn er ein hohes Einkommen bezieht"20• In ihr gelten "ein Dichter, ein Komponist, ein Bildhauer oder Maler, ein Arzt, ein Rechtsanwalt ... so lange als unbedeutend, als sie das Gegenteil nicht durch einen gewichtigen Steuerzettel erweisen können"21 . Mit seiner geharnischten Kulturkritik gibt sich Wemer Sombart als gelehriger Schüler von Friedrich List zu erkennen. Auch für ihn läßt die gleißende Sonne des Marktprinzips alle kulturellen Pflanzen verdorren. "Wer Schweine erzieht ... ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. " 22 Die Kritik an einer Gesellschaft, in der das ökonomische Kalkül zur ubiquitären Gestaltungskraft aufstieg, wurde nicht zuletzt auch von konservativen Autoren formuliert. Wenn sich Hans Delbrück dagegen wehrt, daß "das Leben der Menschheit zu einem Jahrmarkt erniedrigt wird'm, so hat er allen seinen Gesinnungsfreunden aus dem Herzen gesprochen. Sie alle haben sich vehement dagegen gewehrt, das soziale Beziehungsgespinst im Sinne von Adam Smith zu einer "commercial society"24 umzugestalten, in der "every man ... a merchant"25 ist. Sie weigerten sich auch, der quasitheologischen Verheißung eines Frederic Bastiat, derzufolge der Finger Gottes über dem Marktgeschehen waltet, Sukkurs zu erweisen. Sein "digitus dei est hic"26 widersprach ihren Prinzipien. In gleicher Weise standen sie denjenigen Autoren äußerst skeptisch gegenüber, die in der Bedürfnisentgrenzung das Unterpfand für eine stetige ihm für den Nationalsozialismus ausspricht. Vgl. dazu Timm Genett: Comeback des ersten Starsoziologen? Reflexionen zu Werner Sombart. In: Berliner Debatte/Initial 9 (1998), s. 101 ff. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Friedrich List: Das nationale System der politischen Ökonomie. Herausgegeben von K. Th. Eheberg. Stuttgart und Berlin 1925, S. 128. 23 Hans Delbrück: Politische Korrespondenz. In: Preußische Jahrbücher 74 (Oktober bis Dezember 1893), S. 198. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller: Bedürfnisentgrenzung in liberaler und konservativer Perspektive. In: Welche Dinge braucht der Mensch? Herausgegeben von Dagmar Steffen. Zweite Auflage. Frankfurt am Main 1996, S. 94ff. 24 Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Edinburgh 1870, S. 10. 25 Ebd. 26 Frederic Bastiat: Harmonies economiques. Paris 1850, Titelblatt.
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kulturelle Höherentwicklung der Menschheit erblickten27 . Aus diesem Grunde lehnten sie die Zukunftshoffnungen des historischen Progressismus ab. An die prognostizierten "immense improvements"28 und "great advances"29 eines Lord Macaulay vermochten sie nicht zu glauben. Auch gegenüber der Behauptung eines John Stuart Mill, demzufolge die Menschheit einem "high degree of moral and intellectual excellence"30 entgegenstrebe, standen sie äußerst skeptisch gegenüber. Stattdessen richteten sie ihre unnachsichtigen Blicke auf die kulturellen Kosten des Marktgeschehens. Die konservativen Auroren nehmen die nachteiligen Folgen des Marktprinzips auch unabhängig von ihrer politischen Ordnungsvorstellung in ihren gemeinsamen kritischen Blick. Zwischen denjenigen, die einer illiberalen Ausprägung ihres Ideenkreises und denjenigen, die dem liberalen Konservatismus das Wort reden, sind an diesem Punkte keine Differenzen auszumachen 31 . Schon in der Romantik sind alle Argumente versammelt, die die Parteigänger des Konservatismus gegen eine durch und durch ökonomisierte Gesellschaft formulieren. Wenn das wirtschaftliche Kalkül zur allgemeinen Richtschnur des Verhaltens avanciert, kommt es Novalis zufolge zur seelischen Verarmung der Menschen. Im "Drucke des Geschäftslebens"32 bleibe "keine Zeit zum stillen Sammeln des Gemüts, zur aufmerksamen Betrachtung der inneren Welt" 33 . Der "habsüchtige Mensch"34 wende sein "ganzes Dichten und Trachten den Mitteln des Wohlbefindens"35 zu. Auf diese Weise siege die Ichsucht über alle gemeinschaftsorientierten Überlegungen. Statt über das bonum commune zu reflektieren, machen die Menschen den rigiden "Eigennutz zur Leidenschaft"36 und zur "Maxime des höchsten Verstandes"37. 27 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Bedürfnis und Gesellschaft. Stuttgart 1971, S. 33ff. 28 Lord Macaulay: Sir James Mackintosh (1835). In: Historical Essays. London 1936, s. 288. 29 Ebd. 30 lohn Stuart MilZ: Speech on Perfectibility. In: Autobiography. Edited by Harold J. Laski, London 1969, S. 291. 31 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Liberaler und autoritärer Konservatismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 125 ff. 32 Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Novalis' Werke. Vierter Teil. Herausgegeben von Hermann Friedemann. Berlin, Leipzig, Wien und Stuttgart o. J. s. 133. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Novalis: Anthropologische Fragmente. In: Novalis' Werke. Dritter Teil, S. 173. 37 Ebd.
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Auch für Clemens Brentano ist in der dem Gewinnprinzip ausgelieferten Gesellschaft ein Nützlichkeitsdenken im Spiel, das die Menschen seelisch verarmt. "Du stehst im Cirkel, und zwar in dem kleinsten-Arbeit um Geld, Geld um Brod, Brod um Nahrung, Nahrung um Stärke zur Arbeit; hier ist Arbeit Mittel und Zweck, indeß du der Zweck und nie das Mittel seyn müßtest. " 38 Alle Lebensbezüge werden in einen rein ökonomischen Rahmen eingespannt, das menschliche Dasein auf ein "metrisches Leben" 39 reduziert. Es entfaltet eine so unheilvolle Fruchtbarkeit, daß die Sozialbeziehungen antichristliehen Geist atmen. "So lebt, so raisonniert ihr Herrn Bürger, und wer ein Kaufmann obendrein ist, der geht ab von der Wiege unter Gottes Geleite wie ein Fruchtballn, gut oder schlecht conditioniert, wird . . . von den Spediteurs gemißhandelt, von den Fuhrleuten bestochen oder verHilscht."40 Auch für Adam Müller krankt die frühe Industriegesellschaft an dem kategorialen Fehler, sich dem Marktprinzip zu verschreiben. Seiner Auffassung zufolge sieht insbesondere das "hellere Auge die Strudelgewalt des Marktes wachsen und wachsen"41 • In dieser Sozietät werden alle überkommenen Wertemuster zugunsten eines primitiven Ökonomismus kassiert. Was Wunder, wenn nun "die Persönlichkeit über die Sachen, das Sein über das Haben"42 gesetzt wird, die Menschen "den Geist der Freiheit über den tierischen Drang der Notdurft"43 stellen. Adam Müller hält dafür, daß das moderne System der Bedürfnisse auch die Sphäre des Staates mit seinem Ökonomistischen Ungeist infiziert. Nun hätten auch "der Staatsdienst, der Kriegsdienst, das Lehramt . .. den Charakter der Gewerbe und der Lohnarbeit angenommen44 • Auch die Bestimmung des Begriffes Staat werde im Horizonte wirtschaftlicher Kategorien vorgenommen. Vor allem die liberale Staatslehre lege eine ostentative Verachtung für alle nichtökonomischen Staatsdefinitionen an den Tag. "Die Staatsgelehrten dieser Zeit haben, wenn sie über den Staat reden, beständig das Gewühl und die ewig wechselnden Erscheinungen des Marktes vor der Seele. " 45 Wie die deutschen Romantiker, so klagen auch die englischen Konservativen darüber, daß Staat und Gesellschaft auf den Holzweg der kulturzerstörenden Ökonomisierung geraten. So hält John Ruskin dafür, daß der ökono38 Clemens Brentano: Godwi oder Das Steinerne Bild der Mutter. Ein verwildeter Roman. Herausgegeben von Anselm Ruest. Berlin 1906, S. 41. 39 Ebd., S. 40. 40 Ebd., S. 41 f. 41 Adam Müller: Agronomische Briefe (1812). In: Ausgewählte Abhandlungen. Zweite Auflage. Herausgegeben von Jakob Baxa. Jena 1931, S. 163. 42 Ebd., S. 171. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 168.
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mische Fortschritt eindeutig durch kulturelle Verarmung erkauft werde. "But all events, if we have thus lost in men, we have gained in riches; instead of happy human souls, we have at least got pictures, china, horses, and are ourselves better off than we were before."46 Letzten Endes habe das "Law of demand and supply"47 einen "vulgar faith of magnitude and multitude"48 hervorgebracht, der die "total ignorance of the finer and higher arts"49 zeitige. Die alle Menschen erfassende Gier nach Reichtum lasse auch den christlichen Mitleidssinn verkümmern. Die Marktpartizipanten seien "too selfish and too thoughtless to take pains for any creature"50. Auch in den Augen von Matthew Arnold ist die kapitalistische Tauschgesellschaft durch ein gravierendes Mißverhältnis zwischen den überkommenen Werten und dem durchökonomisierten Verhalten der Bürger gekennzeichnet. Er beklagt, daß die Mehrzahl von ihnen den materiellen Wohlstand als den alleinigen Gradmesser der Kulturhöhe Englands gelten läßt. "Never did people believe anything more firmly, than nine Englishmen out of ten at the present day believe, that our greatness and welfare are proved by our being so very rich." 51 Ihr ganzes Trachten sei auf die unablässige Vermehrung ihres Wohlstandes aus. "The people . . . give their lives and thoughts to becoming rich." 52 In einer Kultur, in der alles am Maßstab des Ökonomischen gemessen wird, erfahrt der Mensch seine Wertschätzung nicht durch das, was er ist, sondern durch das, was er besitzt. "It is the same fashion of teaching a man to value hirnself not on what he is, not on his progress in sweetness and light, but on the number of the railroads he has constructed, or the bigness of the tabernacle he has built. " 53 Nur wer das Netz seiner materialistischen Vorurteile über eine derart pervertierte Wertausrichtung wirft, kann übersehen, daß auf diese Weise die Idee der menschlichen Vervollkommnung in ihr schieres Gegenteil verkehrt wird. "Perfection . . . consists in becoming something rather than in have something, in an inward condition of the mind and spirit, not in an outward set of circumstances."54 John Ruskin: The Crown of Wild Olive. Sunnyside 1886, S. 200. John Ruskin: Unto this Last and other Essays. London and New York 1948, s. 279. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 John Ruskin: The Crown of Wild Olive S. 169, Vgl. dazu auch: "The bible teils you to have pity on the poor." (Ebd. S. 170.) 51 Matthew Amold: Culture and Anarchy. Edited by John Dover Wilson. Cambridge 1960, S. 51. Vgl. dazu auch Gertrude Himmelfarb: On Liberty and Liberalism. The Case of John Stuart Mi!!. San Francisco Ca!. 1990, S. 291ff. 52 Ebd., S. 52 53 Ebd., S. 65 54 Ebd., S. 48 46 47
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Im Mittelpunkt der von Thomas Carlyle55 formulierten Kritik an der bedürfnisentgrenzenden Konkurrenzgesellschaft56 steht ebenfalls der Vorwurf, daß ihr Ziel der Gewinnmaximierung und die mit ihr einhergehende Hoffnung auf eine Steigerung des materiellen Wohlbefindens, die Beziehungen der Menschen untereinander denaturiert. Dabei komme kaum jemand auf den Gedanken, daß die Ökonomisierung der Sozialrelationen recht eigentlich die Umwertung aller Werte in sich schließe. "Cash payment the sole nexus; and there are so many things which cash will not pay. Cash is a great miracle; yet it has not all power in Heaven, nor even on Earth. " 57 Carlyle zufolge, dessen Kulturkritik auch von Friedrich Engels gelobt wurde 58 , nehmen die ökonomischen Kategorien in der ewig gültigen Werteskala durchaus keinen Höchstplatz ein. "Soul is not synonymaus with stomach."59 Dabei gefährdet die Schwerkraft der um sich greifenden Ökonomistischen Denkweise auch diejenige Wertewelt, die der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung Form und Stabilität verleiht. Für Carlyle gibt sich das materialistische Nützlichkeitsdenken als eine Kraft zu erkennen, die die über dem Individuum stehenden Institutionen zerstört. Als Anwälte einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft haben vor allem die Liberalen Schuld auf sich geladen. "Liberals ... will ultimately carry their point, and dissever and destroy most existing institutions of society."6 Carlyle wendet die Erkenntnis aller Konservativen, daß der Bereich des Politischen kaum auf das Prokustesbett des ökonomischen Kalküls gelegt werden kann, in die Mahnung an seine Zeitgenossen, dem Staate seine ethische Würde zu belas-
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55 Carlyle gab sich nicht gerade als Freund der liberalen Demokratie zu erkennen. In einem Brief an Alexander Herzen vom 13. April 1855 schreibt er: "Wenn man nicht bei manchen tödlichen Krankheiten am Körper der Politik eine brennende Krisis als wohltätig ansehen könnte, würde ich selbst sehr viel lieber Zarismus oder das Großtürkenturn sehen als die bloße Anarchie . .. zu der ,parlamentarische Diskussion', freie Presse und Zählung der Stimmen führen wird." In: Europa und Rußland. Herausgegeben von Dimitrij Tschizewskij und Dieter Groh. Darmstadt 1959, s. 433. 56 Vgl. dazu auch Peter Allan Dale: The Victorian Critic and the Idea of History. Carlyle, Amold, Pater. Cambridge, Mass./London 1977, S. 15ff. 57 Thomas Carlyle: Chartism. In: Historical and Political Essays. Leipzig 1916, s. 173. 58 Friedrich Engels lobt Carlyle dafür, daß er "das Evangelium des Mammon" kritisierte. (Die Lage Englands. ,Past and Present' by Thomas Carlyle. London 1843. In: Deutsch-französische Jahrbücher. Paris 1844. Neu herausgegeben Frankfurt 1973, S. 269). Vgl. dazu auch Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: Kar! Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band li. Berlin 1952, S. ll 0. 59 Thomas Carlyle: Sartor resartus. Introduction by W. H. Hudson. London and New York 1956, S. 122. 60 Ebd., S. 175.
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sen. In nahtloser Übereinstimmung mit Edmund Burke, der sich vehement dagegen wehrte, im Staate nur ein "agreement in a trade of pepper and coffee, calico or tobacco"61 zu erblicken, warnt Carlyle davor, ihn zu einem "mere weaving-shop and cattle-pen"62 zu degradieren. Die negativen Auswirkungen der Marktwirtschaft werden auch im deutschsprachigen Konservatismus des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Das Antlitz der konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft schaut einen Othmar Spann zufolge mit ausgesprochen erschreckenden Zügen an. Für ihn, der sich Adam Müller zutiefst verpflichtet fühlte 63 , stellt sich der Kapitalismus als die "Sintflut der Äußerlichkeit"64 dar. Seine Physiognomie erhalte ihre unverwechselbaren Konturen durch einen gravierenden "Mangel an Geistig-Sittlichem"65 . Auf diese Weise gleiche diese Gesellschaftsordnung dem "Ixion, der statt der Göttin eine Wolke umarmt"66 • Wie Othmar Spann, so stimmt auch Moeller van den Bruck die von den Anwälten des kapitalistischen Wirtschaftssystems gehegten Hoffnungen auf die segensreichen Wirkungen des Marktprinzips radikal herunter. Seine gesamte Wertewelt sei einem primitiven Nützlichkeitsdenken ausgeliefert worden. Es leide an seiner "Entartung durch Materialismus"67 . Wolle man den ganzen Abstand ermessen, der die kapitalistische Lebensweise von einer vernünftig natürlichen trennt, müsse erkannt werden, daß in der modernen Wirtschaftsgesellschaft dem Feuerbachsehen Prinzip gefrönt werde, demzufolge "der Mensch ist, was er ißt"68 . Ihre Ökonomielehre sage "dem Menschen nur, wie er wirtschaften, aber nicht, wie er leben sol1"69 . Auch für den deutschen Konservatismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit den kultur- und gesellschaftszerstörenden Wirkungen der Konsumgesellschaft ein konkreter Bezugspunkt gewonnen, um sie in eine negative Perspektive rücken zu können. 61 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France. Hrsg. A. J. Grieve. London/New York 1967, S. 93. 62 Thomas Carlyle: Latter-Day Pamphlets. London 1899, S. 18. Vgl. dazu auch Benjamin Disraeli: Sybil or the two Nations. With an Introduction by Walter Sichel. London and New York 1970, S. 69 und 65. 63 Othmar Spann: Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre. 23. Auflage. Leipzig 1933, S. 95 ff. 64 Othmar Spann: Der wahre Staat. Dritte Auflage. Jena 1931 , S. 67. 65 Ebd. S. 97. 66 Ebd. S. 67. 67 Moeller van den Bruck: Der politische Mensch. Herausgegeben von Hans Schwarz. Breslau 1933, S. 140. 68 Ebd., S. 144. Vgl. dazu Ludwig Feuerbach: "Der Mensch ist, was er ißt". In: Die Naturwissenschaft und die Revolution. In: Gesammelte Werke. Band 10. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer. Zweite Auflage. Berlin 1982, S. 367. 69 Ebd., S. 141.
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So hat für Arnold Gehlen die Entgrenzung der Bedürfnisse keineswegs zu einer kulturellen Höherentwicklung geführt. Ihm zufolge resultierte sie stattdessen in kultureller Entsublimierung. "Die ,konstitutive Änderung', die von der Industrie- und Konsumkultur bewirkt wird, besteht in unbegrenzbaren Ansprüchen, in geistiger Eintrocknung und in einer unfrohen, melancholischen Antriebslage."70 Zur Physiognomie dieses Kulturverfalls gehört auch, daß diejenigen Werte, die auf der überkommenen Ethikskala eine eindeutig negative Bewertung erfuhren, heute kein pejoratives Vorzeichen mehr aufweisen. "So vollzieht sich eine noch nicht ausgelotete Änderung der Konstitution des westlichen Menschen, eine Änderung in der Richtung hochquellender Natürlichkeit und Entkultivierung mit Einschüssen der Perfidie und Tücke, die auch zur Natur gehören"71 . Die Sicherheit, mit der früher gegenüber der gesetzesübertretenden Sozialschicht Distanz gehalten wurde, gehört heute der Vergangenheit an. "Eine auf Glücksvermehrung und Lebensqualität hinwirkende Maschinenwelt ... muß ja wohl auf ihrer Rückseite unerwartete Gegnerschaften und kriminelle Aktivitäten längst vergangener Dynamik, ja sogar deren Halb-Legitimierung entstehen lassen."72 Aufgrund ihrer moralischen Orientierungslosigkeit ist in der modernen Produktions- und Konsumgesellschaft jegliches Sensorium dafür abhanden gekommen, "was gut und böse ist und ob der Baum der Erkenntnis noch der Baum des Lebens ist'm. Eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der auf die Steigerung des Konsums fixierten kapitalistischen Gesellschaft findet sich nicht nur im europäischen, sondern auch im amerikanischen Konservatismus. Alle seine Repräsentanten sind mit John H. Halloweil der Auffassung, daß dieser mit zu hohen kulturellen und sozialen Kosten verbunden ist. "In bis search for bodily weil being and comfort ... modern man appears not simply to have lost bis soul but to have forgotten that he has a soul to lose. " 74 Zu denjenigen Amerikanern, die die Auffassung Hallowells schon im 19. Jahrhundert teilten, gehörte nicht zuletzt Orestes Brownson. Seiner Abscheu vor der materialistischen Entartung der amerikanischen Gesellschaft gab er in seiner Besprechung des Buches "Past and Present" von Thomas Carlyle herzhaften Ausdruck. "We have lost or been losing our faith in God, in heaven, in Iove, in justice, in eternity, and been acquiring faith only in ... mere theories of supply and demand, wealth of nations, self-supporting, 70 Amold Gehlen: Lebensqualität oder die Herrschaft der Umgestülpten. In: Die Welt, Nr. 192, 18. August 1973. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 lohn H. Hallowell: Main Currents in Modern Political Thought. New York 1958, s. 620.
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labor-saving governments."75 Diese verkehrte Wertewelt entlarvt sich am krassesten, wenn man den Bedeutungswandel der Begriffe Himmel und Hölle in den Blick nimmt. "We have abandoned our old notions of heaven and hell; and have come ... to place our heaven in success of money matters, and to find infinite terror which men call hell, only in not succeeding in making money."76 Dieser blasphemische Wertewandel habe es vermocht, daß "the Iove of Gold ... the Iove of God"77 ersetzte. Auf diesen Kulturverfall hingewiesen zu haben, dafür gebühre besonders Thomas Carlyle Dank78 . In den kulturkritischen Denkbahnen Brownsons bewegt sich auch lrving Babbitt. Auch er zeichnet ein ausgesprochen abschreckendes Bild der dem Geiste des Kommerzes ergebenen amerikanischen Gesellschaft. Dabei siedelt er seine Kritik im Horizonte der puritanischen Lebensweise an, die die Welt des "early America" bestimmte. Diejenigen Amerikaner, die sich in dieser Zeit ihrem ethischen Ideal verpflichtet fühlten, seien weit davon entfernt gewesen, sich einem utilitaristisch-ökonomistischen Verhaltensstil zu ergeben. Die heutige Gesellschaft gebe sich dagegen als "standardized and commercialized melodrama"79 zu erkennen. Nicht zuletzt ihre Oberschicht fühle sich einem primitiven Besitzindividualismus verpflichtet. Letzten Endes sei sie zu einer "raw plutocracy"80 verkommen. Dabei bestehe ihr weltanschaulicher Hauptirrtum darin, den ökonomischen Fortschritt mit dem kulturellen zu verwechseln. Babbitt spricht in diesem Zusammenhang von der "confusion between moral and material progress"81 . In völliger Übereinstimmung mit Thomas Carlyle beklagt Babbitt auch, daß der Geist der wirtschaftlichen Kalkulation alle Gesellschaftsbeziehungen bestimme und damit denaturiere. "Cash payment ... cannot serve as a nexus between men. " 82 75 Orestes Brownson: The Present State of Society. In: Orestes Brownson: Selected Essays. Introduction by Russell Kirk. New York/Chicago/Los Angeles 1955, s. 36f. 76 Ebd. S. 36. Brownsons in einem theologischen Horizont vorgenommene Analyse des Kapitalismus beweist, daß Walter Benjamin mit seiner Abhandlung "Kapitalismus und Religion" durchaus Vorläufer hatte. Daß "im Kapitalismus eine Religion zu erblicken" ist, dieser Auffassung war schon Brownson. (Walter Benjamin: Kapitalismus und Religion. In: Gesammelte Schriften. Band VI. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1985, S. 100.) 77 Ebd., S. 54. Henry Adams stellte in kulturkritischer Absicht das mittelalterliche Ideal der Jungfrau Maria dem modernen Dynamo gegenüber. Vgl. dazu: The Dynamo and the Virgin. In: The Education of Henry Adams. Boston and New York 1927. s. 378. 78 Ebd., S. 36. 79 lrving Babbitt: Democracy and Leadership (1924). Indianapolis 1979, S. 269. 80 Ebd., S. 229. 81 Ebd., S. 240. 82 Ebd., S. 234.
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Im heutigen Amerika ist es vor allem Daniel Bell83 , der die Wertewelt des gegenwärtigen Kapitalismus als defizient bezeichnet. In seinem konsumorientierten Utilitarismus, in seiner ,,Jagd nach Befriedigung privater Wünsche"84, gebe er sich als ein "auf gesellschaftliche Bedürfnisse zerstörerisch wirkender Hedonismus"85 zu erkennen. Dabei sei es nicht zuletzt auch das "materielles Wohlergehen und Luxus"86 versprechende "System des Marketing" 87 , das die herkömmlichen Moralvorstellungen bedrohe und zerstöre. Den Anwälten dieser fehlerhaften Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sei anzulasten, die Augen vor den "historischen Konsequenzen eines ,ausschweifenden Systems' samt seiner sozialen Freizügigkeit und Libertinage" 88 zu verschließen. Dabei habe der diese defiziente Ordnung stützende Liberalismus sich schon immer außerstande gezeigt, das Verhältnis zwischen der privaten und der öffentlichen Moral auf einen vernünftigen Nenner zu bringen. Er sei in höchstem Maße unfähig, eine "coherent philosophy of moral obligation and of the proper distinctions between the public and private good"89 zu fonnulieren. Dabei sei seine Morallehre so zwanghaft auf das egoistische Individuum ausgerichtet, daß der Topos des Gemeinwohls notwendigerweise aus dem Blick gerät. "In the sphere of moral conduct (in particular, personal and sexual relations) it has sought to Iimit the incursions of public morality int the private sphere, and insisted on the complete free choice of personal decision in matters of Iife-style. "90 83 Anthony Giddens weist darauf hin, daß sich Daniel Bell "nur im Hinblick auf einen einzigen Aspekt der modernen Gesellschaft als Konservativen" bezeichnet (Jenseits von links und rechts. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1997, S. 59). Allein "mit Bezug auf das kulturelle System der Gesellschaft" (ebd.) sei er zu den Konservativen zu rechnen. Ansonsten habe er sich vom Konservatismus losgesagt (ebd.). 84 Daniel Bell: Die Zukunft der westlichen Welt. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main 1979, S. 315. 85 Ebd. Gilles Lipovetsky zufolge übersieht Bell, daß der Hedonismus einer tiefgehenden Veränderung unterliegt. Heute sei der "Kult der geistigen, psychischen und sportlichen Entwicklung . . . an die Stelle der Gegenkultur getreten" (Narziß oder die Leere. Aus dem Französischen. Harnburg 1955, S. 165). Die Postmoderne zeichne sich dadurch aus, daß sie "synkretistisch . . . zugleich cool und hard, gemeinschaftsorientiert und verödet, psychologisch und materialistisch" (ebd. S. 166) sei. Letzten Endes habe man davon auszugehen, daß das "heroische Zeitalter des Hedonismus ... vorüber" (ebd.) sei. 86 Ebd., S. 103. 87 Ebd. 88 Ebd. Vgl. dazu auch Hugh Segal: Beyond Greed. A Traditional Conservative Confronts Neoconservative Excess. Buffalo, N.Y. 1998. S. 29 89 Daniel Bell: Resolving the Contradictions of Modernity and Modernism. In: Society, March/April 1990, S. 47. 90 Ebd. 15'
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Für nicht wenige konservative amerikanische Autoren sind in der vom Marktprinzip beherrschten Gesellschaft vor allem die herkömmlichen Familienwerte in Gefahr, unter die Räder der Ökonomistischen Weltanschauung zu kommen. Christopher Lasch zufolge läßt "die Spannung zwischen der Familie und der ökonomischen . .. Ordnung, die die Kinder und Jugendlichen in einer früheren Phase der bürgerlichen Gesellschaft vor dem vollen Druck des Marktes schützte, ... langsam nach"91 . Da in der gegenwärtigen Gesellschaft die "Gefühlsintensität innerhalb der Familie"92 verlorengegangen ist, "sozialisiert die Familie ... die jungen Menschen zu unkomplizierten, emotionsarmen Beziehungen, wie sie auch die Außenwelt bestimmen"93. Der emotionale Familienzusammenhalt verdampft, das do ut desPrinzip bestimmt wie in der Gesamtgesellschaft auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. "Der Kapitalismus . . . hat den Konflikt zwischen der Gesellschaft und der Familie auf ein Minimum reduziert . . . Je bedrohlicher und unsicherer die Welt wird, je weniger Schutz vor äußeren Gefahren die Familie zu bieten imstande ist, desto schwächer wird jede Form von Loyalität. " 94 In dem Maße, in dem "die moderne kapitalistische Gesellschaft . . . bei jedermann narzißtische Züge"95 evoziert, kommt es Christopher Lasch zufolge auch zu einer Aushöhlung der "elterlichen Autorität"96. Der pater familias gibt sich in der durchökonomisierten Marktsozietät als dysfunktionales Moment zu erkennen. Dabei setzen sich amerikanische Neo-Konservative auch nachhaltig mit den ideologischen Prämissen derjenigen auseinander, die einer ungezügelten Marktwirtschaft das Wort reden. Robert H. Bork zufolge verhindere die These, daß der Wettbewerb nur positiv zu bewertende Wirkungen bevorbringe, die Einsicht, in wie starkem Maße dem Markte auch destruktive Potenzen innewohnen. "Free market economists are particularly vulnerable to the libertarian virus . . . Benefits do not invariably result from free market exchanges.'m Die rigiden Anwälte des marktwirtschaftliehen Gedanken seien einem Pars-pro-toto-Denken erlegen. "Libertarians . . . con91 Christopher !Asch: Geborgenheit. Die Bedrohung der Familie in der modernen Welt. Aus dem Amerikanischen. München 1981, S. 18. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Christopher !Asch: Das Zeitalter des Narzißmus. Aus dem Amerikanischen. München 1980, S. 288. 96 Ebd. Daß das Geschäftsleben negativ auf die Familienstrukturen einwirkt, betonen Daniel R. Millerund Guy E. Swanson. Sie schreiben: .,Entrepreneurial conditions foster a kind of egocentricity in outlook" (The Changing American Parent. A study in the Detroit Area. New York 1958, S. 207.). Das hat zur Folge, .,that bureaucratic wives are more likely than entrepreneurial wives to have some children instead of being childless" (ebd., S. 204).
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fuse the idea that markets should be free with the idea that everything should be available on the market. "98 Dieses durch und durch fehlerhafte Denken führe notwendigerweise dazu, daß auch pornographische Erzeugnisse und Drogen als normale Handelsware angesehen werden99 . So votiert Milton Friedman 100 für die staatliche Freigabe des Rauschgifthandels und Murray N. Rothbard 101 für diejenige pornographischer Erzeugnisse. Denjenigen amerikanischen Neo-Konservativen, die die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zugleich anerkennen und kritisieren, wurde von den Anwälten des uneingeschränkten Wettbewerbs der Vorwurf gemacht, sich in den Fangnetzen unlösbarer Widersprüche verfangen zu haben. So lastet ihnen vor allem George Gilder an, ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zum amerikanischen Wirtschaftssystem aufzuweisen. "Perhaps the deepest misconception of the Neo-Conservatives is their attitude toward capitalism. Many Neo-Conservatives believe that capitalism is desirable for its freedom and democratic possibilities, but ultimately flawed and self-contradictory. Captitalism is said to be based on self-interest and consumerism, which finally erode the moral preconditions of the system itself." 102 Dabei übersähen diese in wirklichkeitsnegierenden Kategorien denkenden Neokonservativen, daß allein der ungezügelte Wettbewerb den Menschen zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen imstande ist. Aus diesem Grunde trage jegliche Kritik an ihm das Stigma des Illegitimen auf der Stirn. "To defend capitalism ... you have to celebrate and defend business." 103 Stattdessen gefallen sich die neokonservativen Autoren in der moralischen Herabwürdigung der Geschäftswelt. "Most Conservatives ... tend to Iook down on the ,money-grubbing' bourgeoisie" 104• Seine Einwände gegen den amerikanischen Neokonservatismus summieren sich für Gilder zu einer Bilanz, die eine dezidierte Distanznahme erfordert. "That is why I am no Ionger a Neo-Conservative." 105 97 Robert H. Bork: Sloughing Towards Gomorrah. Modem Liberalism and American Decline. New York 1996, S. 151. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Vgl. dazu Milton Friedman: An Open Letter to Bill Bennett In: The Wall Street Journal, September 7, 1989. 101 Murray N. Rothbard: For a New Liberty. The Libertarian Manifesto. New York and London 1978, S. 103f. 102 George Gilder: Why I am not a Neo-Conservative. In: National Review, March 5, 1982, S. 220. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. Vgl. dazu auch John Langnan S. J.: The New Conservatism. Culture and Politics in the United States. In: The Month. A Review of Christian Thought and World Affairs. September 1981, S. 311. 15 Schrenck·Notzing
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Der argumentative Spieß der liberalen Gegner des kapitalismuskritischen Konservatismus wird allerdings von seinen Parteigängern umgekehrt. Sie sind darauf aus, Widersprüche im Denken derjenigen festzustellen, die einerseits für den Erhalt der Institution Familie aus sind und andererseits einem ungezügelten Wettbewerb das Wort reden. Dabei greift Charles Taylor vor allem viele Wortführer der amerikanischen Rechten an. So sehr sich "rechts orientierte Konservative amerikanischen Schlages" 106 als "Befürworter traditioneller Gemeinschaften" 107 gerierten, so sehr treten sie auf der anderen Seite "für eine ungezügelte Form kapitalistischen Unternehmertums ein" 108 . Dies habe aber "mehr als jeder andere Faktor dazu beigetragen, ... die historischen Gemeinschaften aufzulösen" 109 . Auf diese Weise sprächen sie einem ganz und gar antikonservativen Atomismus das Wort, "der weder Grenzen noch Loyalitäten kennt'.! 10, der "auf den kleinsten Wink mit der Bilanz hin Bergwerke zu schließen oder Biotope zu zerstören"111 in der Lage ist. Wenn man die konservative Kultur- und Gesellschaftskritik in den Blick nimmt, muß auch das von Eugen Rosenstock-Huessy und Gertrude Himmelfarb vorgebrachte Argument in den Blick gerückt werden, daß die marktwirtschaftliche Zivilisation an ihrem Anfang im Spannungsfeld von überlieferter Ordnung einerseits und dem Tauschprinzip andererseits ihre Konturen gewann. In dieser Zeit waren noch nicht alle Gesellschaftssektoren vom ökonomischen Kalkül bestimmt, in das Korsett der wirtschaftlichen Aufwands- und Ertragsrechnung gezwängt. Eugen Rosenstock-Huessy zufolge bestanden "während des ganzen letzten Jahrhunderts ... zwei Zivilisationen nebeneinander"' 12• Dabei habe die industrielle Revolution "zu den noch bestehenden alten Werten der Gesellschaft . .. lediglich etwas Neues hinzugefügt" 113 • In dieser Zeit sei eine "Flucht aus der technischen Welt noch möglich" 114 gewesen. Bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein habe man "Invasionen in das Territorium der vorindustriellen Welt" 115 hinein unternehmen und die "moralischen Sicherungen und Hemmungen, 106 Charles Taylor: Das Unbehagen an der Modeme. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1997, S. 107. 107 Ebd. los Ebd. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Eugen Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch. Mit einem Vorwort von Walter Dirks. Freiburg im Breisgau 1964, S. 35; Vgl. dazu auch J. C. D. Clark: English Society 1688-1832. Cambridge 1986, S. 77. 11 3 Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd. S. 37.
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physischen Instinkte und Talente der vorkapitalistischen Zeit" 116 in Anspruch nehmen können. Heute dagegen komme man kaum um die Erkenntnis herum, daß .,die Ausbeutung der Vergangenheit . . . ihr Ende erreicht" 117 hat. Um diese These zu verifizieren, nimmt Gertrude Himmelfarb vor allem die Viktorianische Epoche in ihren Blick. Während in der Gegenwart das Konkurrenzprinzip die letzten Reste eines genuin konservativen Gesellschaftsverständnisses tilge, sei in diesem Abschnitt der englischen Geschichte der ökonomische Individualismus durch das überlieferte Moralsystem gezügelt worden. Das Konstruktionsmuster, das dem Wertesystem dieser Gesellschaft zugrundelag, gibt sich Frau Himmelfarb zufolge als ein mixturn compositum aus marktwirtschaftliehen Prinzipien und konservativchristlichen Moralvorstellungen zu erkennen . .,If Victorian England did not succumb to the moral and cultural anarchy that is said to be the inevitable consequence of economic individualism, it is because of powerful ethos that kept individualism in check, as it also kept in check the anarchic impulses in human nature." 118 Dadurch sei dieser Epoche der Gegensatz zwischen dem Gemeinwohl und dem Egoismus der Wirtschaftsbürger erspart geblieben . .,Self-interest stood not in opposition to the general interest"119. Derjenige, der sich in dieser Zeit auf seine eigenen Kräfte besann, dachte gleichzeitig an die Bedürfnisse der überindividuellen Entitäten . .,Self-help was seen in the context of the community as well as the family." 120
Ebd. Ebd. 118 Gertrude Himmelfarb: The De-Moralization of Society. From Victorian Virtues to Modern Virtue. New York 1994, S. 256. 119 Ebd. 120 Ebd. Vgl. dazu auch Gertrude Himmelfarb: Victorian Minds. A Study of Intellectuals in Crisis and Ideologies in Transition. Chicago 1968, S. XI (lntroduction). 116 117
Konservatismus in Österreich Literaturbericht
Von Lotbar Höbelt Jeder Bericht über den Stand der Forschung zu unserem Thema im Österreichischen Teil des deutschen Sprachraums stößt auf eine Schwierigkeit, die uns möglicherweise auch in Bayern begegnet oder im Rheinland, aber nicht in Sachsen oder Preußen. Es gab und gibt in Österreich keine konservative, sprich: nur-konservative oder auch bloß primär konservative Partei. Dieser Befund gilt nicht bloß heute. Die Bruchlinien ("cleavages") der Politik, die Grenzen zwischen den weltanschaulichen Lagern verlaufen zwischen freisinnig-antiklerikal und dem politischen Katholizismus, den Christlichsozialen bzw. Christdemokraten. Es kann sich also bloß darum handeln, die spezifisch konservativen Gruppen oder Persönlichkeiten aus diesen "auch-konservativen" Parteien herauszuschälen. Die Traditionspflege, wie sie von den Repräsentanten dieser Strömungen lange Zeit betrieben wurde, kommt diesem Vorhaben nicht gerade entgegen. Denn bevorzugter Bezugspunkt waren gerade nicht die konservativen, sondern die "fortschrittlichen" Aspekte ihrer Geschichte, sprich: das Jahr 1848 als nationalliberales Fanal bzw. die christliche Arbeiterbewegung. Nicht einmal eine dezidiert gegnerische Beschäftigung mit dem Konservativismus, wie sie die "Junkerfresser" von Wehler bis Puhle in der BRD vorexerziert haben, fand in Österreich statt. (Der "Habsburg-Kannibalismus" war zwar politisch noch bis in die sechziger Jahre wirksam, hat seinen historiographischen Niederschlag jedoch bloß in ein paar Jahren nach 1918 gefunden, am nachhaltigsten vielleicht in den Büchern von Viktor Bibi.) Bei der Beschäftigung mit der Geschichte des alten Österreich stand die Außenpolitik bzw. das Nationalitätenproblem im Vordergrund, nicht die innere Geschichte, die nach 1918 stark an Relevanz verloren zu haben schien; der gesellschaftspolitische Diskurs wurde für Zeitgenossen wie Historiker vielfach vom nationalen überlagert, Quellen wie Literatur müssen deshalb oft gegen den Strich gelesen werden. Auch die "Zeitgeschichte" widmete sich zwar lange Zeit fast ausschließlich dem Bürgerkriegstrauma von 1934, nahm die Rechte aber primär als konspirativ-krimi-
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nelles Phänomen ins Visier. (Um den Begriff "Austrofaschismus" entspann sich so eine Debatte, die mehr Hitze als Licht erzeugte.) Soweit sich unter diesen Bedingungen nennenswerte Beiträge zu unserem Thema finden, sind sie zumeist Produkt dreier Entstehungsphasen: zum einen der nach einer ersten Welle von Enthüllungsbüchern einsetzenden vertieften Beschäftigung mit den plötzlich offengelegten Schätzen der Archive in der zweiten Hälfte der Zwischenkriegszeit; zum anderen einer Reihe von Dissertationen aus den Jahren um 1960, als das Universitätsleben die Enge der ersten Nachkriegsjahre hinter sich ließ, zumindest die akademischen Lehrer (wie z. B. der sudetendeutsche Benediktinerpater Hugo Hantsch) sich ihrer Wurzeln in der Monarchie aber noch bewußt waren; schließlich den letzten zehn bis zwölf Jahren, als die von außen über Österreich hereinbrechende Konjunktur von "Fin de siecle-Vienna" ihren Gewinn schließlich auch für die politische Geschichte der Habsburgermonarchie abwarf.
* Von den vor-konstitutionellen Protagonisten des Österreichischen Konservativismus hat Staatskanzler Fürst Mettemich noch unter dem Eindruck des Zusammenbruchs von 1918 seine unübertroffen positive Würdigung als Schöpfer und Verfechter eines "sozialkonservativen Systems" durch Heinrich v. Srbik erfahren, der damit eine alte Debatte wiederaufnahm, aber abschlägig beschied, ob Mettemich bzw. das mit ihm identifizierte bürokratische System nicht eher als eine Spielart des aufgeklärten Absolutismus zu betrachten sei. (1883 war Mettemich in den Spalten der konservativen Tageszeitung, des "Vaterland", noch von seinem illegitimen Enkel, Graf Biome, gegen diesen Vorwurf verteidigt worden.) 1 Paul Müller hat 1934 über Fürst Windisch-Grätz, den Bezwinger des revolutionären Wien und Stammvater der altkonservativen Richtung der fünfziger Jahre, der in seiner Person die Funktionen eines Wrangel und eines Gerlach vereinigte, eine aus dem böhmischen Familienarchiv geschöpfte, höchst materialreiche Arbeit vorgelegt. 2 Über Windisch-Graetz' Schwager Fürst Felix Schwarzenberg, den Vollender und Überwinder der Gegenrevolution, liegt mit Stefan Lipperts Kieler Dissertation seit kurzem eine politische Biographie vor, die seine konstitutionellen Ambitionen vermutlich überzeichnet, vor allem aber unter dem Umstand leidet, daß der Arbeitsstil des Premiers einer Dokumentation seiner Tätigkeit nicht förderlich war. 3 Gottfried Mayer hat mit dem ersten Teil einer Biographie des Bischofs Feßler eine - etwas irreführend 1
Heinrich v. Srbik: Mettemich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., Wien
1925.
2 Paul Müller: Feldmarschall Fürst Windischgrätz. Revolution und Gegenrevolution in Österreich, Wien 1934.
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übertitelte - Studie über den Beginn des "ultramontanen", "neurömischen" Katholizismus am Übergang von der Geistesströmung zur praktischen Politik geschrieben. 4 In das ständisch-konservative Element in den Ländern hat Archivdirektor Hans Schlitter unmittelbar nach dem Umbruch eine Sonde vorangetrieben; nunmehr liegen dazu auch die Fallstudien von Ralph Melville vor. 5 Über die zentrale Figur dieses Milieus, den Grafen Leo Thun (Unterrichtsminister von 1849-60) hat Christoph Thienen mit seiner Grazer Dissertation den Anfang einer Biographie beigesteuert; 6 einer Bearbeitung hant in diesem Zusammenhang insbesondere der umfangreiche Schriftverkehr des Grafen Heinrich Clam, des Führers der böhmischen Konservativen von den sechziger bis in die achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Den besonderen Reiz dieses Unterfangens dürfte - wie bei Thienen zu Recht anklingt - das Neben- und Gegeneinander obrigkeitlicher-autoritärer Strukturen und korporativer Selbstverwaltungsideen ausmachen. Über die Gründung des , Vaterland', des konservativen Zentralorgans, erschien 1970 in Brünn (!) eine in wenigen Exemplaren vorliegende Arbeit und Quellensammlung von Antonin Okac; eine vom selben Autor vorbereitete Edition der Briefe Belcredis blieb bis heute unveröffentlicht. 7 Einer der Wortführer des pronociert katholischen Tiroler Konservativismus, Johann Nepomuk v. DiPauli, hat 1931 aus der Feder seines Sohnes eine Würdigung erfahren, die auf der Auswertung zum Teil seither verloren gegangener Quellen beruht. 8 Von den (in Österreich ja zumeist unveröffentlichten) Dissertationen sind für die Entstehungsphase der politischen Parteien drei hervorzuheben: Friedrike Glanners auf Grund seiner (in Brünn bzw. Innsbruck aufliegenden) Tagebücher gearbeitete Biographie des ständischen "Gegenkönigs" des Vormärz, des Freiherrn Viktor Andrian v. Werburg; Wolfgang Mertals Biographie über den ersten als Konservativen ein3 Stefan Lippert: Felix Fürst zu Schwarzenberg. Eine politische Biographie (Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft, Beiheft 21), Stuttgart 1997. 4 Gottfried Mayer: Österreich als katholische Großmacht. Ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära, Wien 1989. 5 Hans Schlitter: Aus Österreichs Vormärz, 4 Teile, Wien 1920; Ralph Melville: Adel und Revolution in Böhmen, Mainz 1998. 6 Christoph Thienen-Adlerflycht: Graf Leo Thun im Vormärz, Graz 1967. 7 Antonin Okac: Rakousky Problem a Iist Vaterland, 2 Bde., Brünn 1970. Aus den böhmischen Archiven geschöpft ist auch die Edition von Ernst von Rutkowski: Der Verfassungstreue Großgrundbesitz, Bd. 1: 1880-1900, München 1983, bzw. Bd. 2: 1900-1904, München 1991. Der Herausgeber verfügt über ähnliche Sammlungen auch zur Geschichte der konservativen Gegner der Verfassungstreuen, ihre Edition dürfte freilich noch geraume Zeit beanspruchen. 8 Johann Nepomuk Frh. v. DiPauli: Anton Freiherr von DiPauli (Schiern Schriften, Bd. 19), Innsbruck 1931.
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zustufenden Premier, den Grafen Richard Belcredi (1865-67); schließlich Lotts bei Srbik gearbeitete Studie über die divergierenden außenpolitischen Orientierungen der Tiroler und der böhmischen Konservativen an Hand ihrer Presse. 9 An modernen Darstellungen liegt die elegante Zusammenfassung aus der Feder des Sorbonne-Professors Jean Paul Bled vor, die auch einen Abschnitt über die polnischen Konservativen in Galizien enthält; 10 aus regionaler Sicht ein Beitrag über das Netzwerk der konservativen Politik in der Steiermark, wo sich im Zuge des Kulturkampfes nach 1868 eine besonders starke Mobilisierung der katholischen Bauern konstatieren läßt. (Material dazu findet sich auch in der Festschrift ihrer Zeitung, des "Grazer Volksblattes", aus dem Jahre 1927.) 11 Eine bemühte und ausführliche, diesmal sogar publizierte Dissertation liegt über eine regionale Sonderentwicklung vor, den Salzburger Hofrat Georg Lienbacher und seine "Deutschkonservativen" (die sich vom slawophilen föderalistischen Kurs ihrer Gesinnungsgenossen bald abwandten). 12 Zeitgenössische Biographien von Kirchenfürsten liegen einige vor, sind schon von ihrer Zielsetzung her jedoch meist nicht auf historischen Erkenntnisgewinn ausgerichtet. 13 Für die klassische Phase der parlamentarischen Zweikampfes von (Deutsch-)Liberalen und slawisch-klerikal-föderalistischen "Konservativen" in der Habsburgermonarchie liegt mit den Briefsammlungen des Wieners Universitätsbibliothekars Paul Molisch und des Prager Professors (und ehemaligen Reichsratsabgeordneten) Arthur Skedl interessantes Material vor. Die Ministerpräsidenten Graf Karl Hohenwart ( 1871) und Eduard Taaffe (1879-93) 14 haben jedoch noch keinen Biographen gefunden. (Der Nachlaß 9 Friedrike Glanner: Viktor Franz von Andrian-Werburg, phil. Diss. (masch.) Wien 1961); Wolfgang Mertal: Graf Richard Belcredi, phil. Diss. (masch.), Wien 1962; Walter Lott: Der Kampf um die Führung in Deutschland und die konservative Presse Österreichs von 1860 bis 1866, phil. Diss. (masch.) Wien 1935. 10 Jean-Paul Bled: Les Fondements du Conservatisme Autrichien 1859-1879, Paris 1988. Bled hat seither auch eine Biographie Franz Josephs und eine Buch über Wien vorgelegt. 11 Edith Marko-Stöckl: Die Entwicklung des katholisch-konservativen Lagers in der Steiermark 1861-1874, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 87 (1996), S. 219-254; Karl Schwechler: 60 Jahre Grazer Volksblatt Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung in Steiermark, Graz 1927. 12 Friedrich Steinkellner: Georg Lienbacher. Salzburger Abgeordneter zwischen Konservatismus, Liberalismus und Nationalismus 1870-1896, Salzburg 1984. 13 Cölestin Wolfsgruber: Friedrich Kardinal Schwarzenberg, 2 Bde., Prag 1906/ 16; Konrad Meindl: Leben und Wirken des Bischofs Franz Joseph Rudigier von Linz, 2 Bde., Linz 1891/92; Rudolf Zinnhobler (Hrsg.): Bischof Franz Joseph Rudigier und seine Zeit, Linz 1987; Franz Frh. v. Oer: Fürstbischof Johann Baptist Zwerger von Seckau, in seinem Leben und Wirken dargestellt von seinem Hofkaplan, Graz 1897.
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Hohenwart im Österreichischen Staatsarchiv bietet dafür allerdings auch nur rudimentäre Ansätze.) Für staatsrechtliche Fragen von Interesse, für unseren Zusammenhang jedoch kaum ist die recht umfangreiche Diskussion rund um den von Hohenwart angepeilten Ausgleich mit den böhmischen Konservativen. 15 Der Amerikaner William Jenks (Univ. of Virginia) hat eine solide Darstellung von Taaffes Regierungsbündnis, dem sogenannten "Eisernen Ring", auf Grund der gedruckt vorliegenden Quellen, insbesondere von Zeitungen und Parlamentsberichten, geliefert. Zu Taaffes Sturz bietet den besten Einblick ein wenig bekannter Artikel von Eduard Heller. 16 Für die sozialpolitischen Bestrebungen der Konservativen bietet den besten Einstieg aus komparatistischer Sicht ein Beitrag von Margarethe Grandner, die legislativen Details sind bei K. Ebert nachzulesen. 17 Über den führenden Philosophen und Publizisten im Hintergrund, den mecklenburgischen Konvertiten Karl von Vogelsang (die politische Akademie der ÖVP trägt seinen Namen!) bietet Allmayer-Becks Büchlein den besten Überblick, Wiard Klopps Biographie eine ausführliche Dokumentation. Das Umfeld erhellt weiters Klopps Edition der Briefe Gustav Biomes, des Vorkämpfers der Sozialgesetzgebung im Herrenhaus. 18 Reinhold Knoll steuert einige interessante Aspekte der innerkirchlichen Debatte bei, ist in den Details der politischen Geschichte aber nicht sattelfest. 19 (Von Vogelsang wären in privaten Sammlungen überdies noch mehr Korrespondenzen zu heben.) Über den Aufstieg der Christlichsozialen entstanden unmittelbar vor und nach dem 2. Weltkrieg eine Reihe von Dissertationen. Das Selbstbewußtsein, das aus ihnen spricht, läßt sich illustrieren mit einem Zitat des Mühl14 Paul Molisch (Hrsg.): Briefe zur deutschen Politik in Österreich, Wien 1934; Arthur Skedl (Hrsg.), Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe, Wien 1922. 15 Lothar Höbelt: Der Reichsrat 1861-1918, in: Geschichte der Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. VIII, Wien 2000. 16 William Jenks: Austria under the Iron Ring, 1879-1893, Charlottesville 1965; Eduard Heller: Zum Sturz des Ministeriums Taaffe, in: Historische Studien. A. F. Pribram zum 70. Geburtstag dargebracht, Wien 1929, S. 197-234. 17 Margarethe Grandner: Conservative Social Politics in Austria, 1880-1890, in: Austrian History Yearbook 27 (1996), S. 77-107; Kurt Ebert: Die Anfange der modernen Sozialpolitik in Österreich. Die Taaffesche Sozialgesetzgebung für Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnungsreform 1879-1885, Wien 1975. 18 Johann Christoph Allmayer-Beck: Vogelsang. Vom Feudalismus zur Volksbewegung, Wien 1952; Wiard Klopp: Leben und Wirken des Sozialpolitikers Kar! Freiherrn von Vogelsang, Wien 1930; Wiard Klapp (Hrsg.): Briefe des Grafen Gustav Biome an den Freiherrn Kar! von Vogelsang, in: Jahrbuch der Leo-Gesellschaft 1926, s. 142-302. 19 Reinhard Knall.· Zur Tradition der christlichsozialen Partei. Ihre Früh- und Entwicklungsgeschichte bis zu den Reichsratswahlen 1907, Wien 1973.
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viertler Theologen Norbert Miko, der im Vorwort zu seiner sehr lesenswerten Arbeit den Endsieg über den Liberalismus 1949 wie folgt feiert: "Der materialistische Freisinn ist bei allen ernst zu nehmenden politischen Kreisen abgetan." Und: "Es gibt heute keine Partei, die sich gegen eine gesunde Sozialpolitik stellt."20 Die Arbeit stützt sich in einem für die Zeitverhältnisse höchst ungewöhnlichen Maß auf Quellenstudien im Brixner Diözesanarchiv, nur die Nennung des Jahres 1907 im Titel ist etwas irreführend, stammt das Gros des Materials doch aus den neunziger Jahren. Interessantes Material beinhalten auch einige weitere Arbeiten aus diesem Umkreis.21 Den Charakter der Christlichsozialen als einer ursprünglich vom linken Flügel der Liberalen herkommenden Bewegung sui generis, die sich den politischen Katholizimus nur in Verbindung mit dem Antisemitismus leisten konnte (und umgekehrt), hat John Boyer am besten erfaßt und in zwei bahnbrechenden, bisher nur auf Englisch vorliegenden Bänden zur Geschichte ihres Aufstiegs in Wien dargestellt. 22 Deren eigentliche Wendung zum politischen Katholizismus fiel erst in die Jahre um 1908, nach ihrer Vereinigung mit den Konservativen zur Reichspartei - einer Reichspartei, deren Versuch, auch tatsächlich zur tragenden Achse einer agrarischkonservativen (multinationalen) Regierungskombination zu werden, freilich um dieselbe Zeit scheiterte. Die regionalen Aspekte der Entwicklung um die Jahrhundertwende leuchten der Tiroler Archivar Richard Schober mit seiner Dissertation bzw. der Edition der Papiere des katholisch-konservativen Tiroler Landeshauptmannes Theodor v. Kathrein aus.Z3 Rauchs Dissertation bzw. die entsprechenden 20 Norbert Miko: Die Vereinigung der christlich-sozialen Reichspartei und des katholisch-konservativen Zentrums im Jahre 1907, phil. Diss. (masch.) Wien 1949. 21 Alois Adler: Die christlichsoziale Bewegung in der Steiermark von den ständischen Anfangen zur Volkspartei, phil. Diss. (masch.) Graz 1956; Walter Stöger: Das Verhältnis der Konservativen zur christlichsozialen Partei, phil. Diss. (masch.), Wien 1948 - beide basierend im wesentlichen auf der Auswertung der Parteipresse. Unergiebig sind dagegen August Ernst: Die christlichsoziale Partei und die Österreichische Sozialpolitik bis 1918, phil. Diss. (masch.), Wien 1948 bzw. Gottfried Pfaffenberger: Die "Reichspost" und die christlichsoziale Bewegung, phil. Diss. (masch.), Wien 1948 (letztere sogar ohne Fußnoten!). 22 Boyer: Political Radicalism in late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago 1981; derselbe: Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897-1918, Chicago 1995. 23 Richard Schober: Beiträge zur inneren Geschichte Tirols von 1900-1914 unter besonderer Berücksichtigung der Katholisch-Konservativen Partei, phil. Diss. (masch.), Innsbruck 1971 (zum Teil publiziert in: Tiroler Heimat 37-39, 1974-76); derselbe (Hrsg.): Theodor Freiherr von Kathrein (1842-1916). Landeshauptmann von Tirol. Briefe und Dokumente zur katholisch-konservativen Politik um die Jahrhundertwende, Innsbruck 1992.
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Bände von Harry Slapnickas Dokumentation werfen ein Schlaglicht auf die Entwicklung in Oberösterreich, wo der Übergang von Konservativen zu Christlichsozialen reibungslos vonstatten ging; ähnliches gilt für Salzburg, wo für die Jahre vor 1914 ebenfalls eineneuere Studie vorliegt; in der Steiermark erwiesen sich die Konservativen den Christlichsozialen sogar bis zum Schluß der Monarchie überlegen. 24 Aus dem entgegengesetzten politischen Eck stammen so manche Beiträge der Dornbirner Geschichtswerkstatt, die sich aus einer relativ orthodox linken Perspektive der Vorarlberger Zeitgeschichte widmet. 25 Ein spezielles Kapitel in der Geschichte des Österreichischen Konservativismus, ein hypothetisches und legendenumwobenes, stellt der Kreis um den 1914 ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand dar. Für einen essayistischen Zugang bietet sich das Alterswerk des Remigranten Robert Adolf Kann an; zwei wertvolle weiterführende Beiträge dazu stammen aus der Feder von Sam Williamson (Präsidenten der University of the South) und von Günter Kronenbitter, der demnächt eine größere Studie über die k.u.k.Militärelite vor dem l. Weltkrieg vorlegen wird?6 Die beherrschende Figur des - wie auch immer definierten - Konservativismus der Zwischenkriegszeit stellt zweifellos Bundeskanzler (1922-24 und 1926-29) lgnaz Seipel dar, der als katholischer Prälat der Restauration einer liberalen Wirtschaftsordnung die Wege ebnete. Über ihn existiert ein großer interpretativer Essay von Klemens von Klemperer, der sich vielfach jedoch über die Niederungen der Alltagspolitik erhebt, und eine Teiledition seiner Tagebücher von Rennhofer. 27 In vielen Schriften von Bewunderern Seipels schwingt leider ein ungerechtfertigt apologetischer Tonfall mit. Der Nachweis überlegener politischer Taktik wird offenbar zuweilen als 24 Gerhard Rauch: Die christlichsoziale Vereinigung und die Katholisch-Konservativen Oberösterreichs 1907-1914, phil. Diss. (masch.), Wien 1964; Harry Slapnicka: Christlichsoziale in Oberösterreich, Linz 1984; Rupert Klieber: Politischer Katholizismus in der Provinz. Salzburgs Christlichsoziale in der Parteienlandschaft Alt-Österreichs, Salzburg 1994; Manfred Gaar: Franz Hagenhofer. Das Wirken eines steirischen Bauemführers, phil. Diss. (masch.), Graz 1974. 25 Leo Haffner: "Der Liberalismus bringt keinen Segen". Martin Thumher - ein Leben für den Konservativismus, in: Dombimer Statt-Geschichten, Domhirn 1987, S. 83-121; Werner Bundschuh: Bestandsaufnahme Heimat Domhirn 1850-1950, Bregenz 1990, S. 61ff. 26 Sam Williamson: Influence, Power and the Policy Process: The Case of Franz Ferdinand, 1906-1914, in: The Historical Journal 17 (1974), S. 417-434; Robert A. Kann: Erzherzog Franz Ferdinand Studien, Wien 1977; Günther Kronenbitter: Haus ohne Macht? Erzherzog Franz Ferdinand (1863-1914) und die Krise der Habsburgermonarchie, in: W. Weber (Hrsg.): Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln 1998, S. 169-208. 27 Klemens von Klemperer: lgnaz Seipel. Christian Statesman in a Time of Crisis, Princeton 1972; Friedrich Rennhofer: Ignaz Seipel, Wien 1978.
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geradezu ehremührig empfunden. Eine Life & Times-Biographie steht aus. Es mangelt an eingehenden Studien zur christlichsozialen Partei in der 1. Republik, die unter unserem Gesichtspunkt interessant wären. Die Edition der (bloß im stenographischen Original vorliegenden) Protokolle ihres Klubvorstandes ist im Zeichen des in den siebziger Jahren seinen Höhepunkt erreichenden Interesses an den Krisenjahren 1933/34 in Angriff genommen worden, inzwischen aber steckenge blieben. 28 Die "Heimwehren", die paramilitärischen Selbstschutzverbände, angesiedelt zwischen Freikorps und Stahlhelm, die 1930 als eigene Partei antraten und einen großen Teil der alten Eliten zumindest zeitweise in ihren Reihen vereinigten, bildeten insofern einen Sonderfall, als sie den Anspruch erhoben, die alten Lagergrenzen von national-liberal und katholisch-konservativ zu transzendieren, daran aber schließlich auch zerbrachen. Ihrem schillernden und heterogenen Charakter wird am besten der Glücksfall eines akribischen Sammler der Erlebnisgeneration gerecht. Eine Reihe von Einzelstudien geht Putschversuchen und Auslandskontakten nach, trägt zur Einordnung in die langfristigen Trends der Österreichischen Politik jedoch wenig bei?9 Für die Theorie und Praxis des "Ständestaates" zwischen 1934 und 1938 setzt am zentralen Punkt seiner Verfassungsprojekte Helmut Wohnout an. Der mit dieser Praxis höchst unzufriedene Theoretiker des Ständestates, Othmar Spann, wurde von seinen Schülern mit einer Werkausgabe gewürdigt.30 Die vorliegenden Dollfuß- und Schuschnigg-Biographien quellen leider meist vor Pathos über und gehen völlig im Konflikt mit dem Nationalsozialismus auf (bis hin zur ein wenig peinlichen Wortschöpfung "Staatswiderstand"). Schuschnigg, der später als Politologieprofessor in St. Louis wirkte, hat zwar kurz nach Kriegsende Memoiren veröffentlicht, ist dem Thema aber nicht mehr systematisch zu Leibe gerückt. Für die Nachkriegszeit liegen mit den Büchern von Heinrich Drimmel und Alexander Vodopivec zwar zeitgenössische Einschätzungen aus konser28 Walter Goidinger (Hrsg.): Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932-1934 (Studien und Quellen zur Österreichischen Zeitgeschichte 2), Wien 1980. Das Manuskript eines weiteren, von Rudo1f Jerabek bearbeiteten Bandes, liegt seit längerem vor, ist aber noch nicht erschienen. 29 Walter Wiltschegg: Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Vo1ksbewegung?, Wien 1985; Ludger Rape: Die Österreichischen Heimwehren und die bayerische Rechte 1920 bis 1923, Wien 1977, Lajos Kerekes: Abenddämmerung einer Demokratie. Mussolini, Gömbös und die Heimwehr, Wien 1966. 30 Helmut Wohnout: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich (Studien zu Politik und Verwaltung 43), Wien 1993; OthmarSpann-Gesamtausgabe, hrsg. v. Walter Heinrich/Hans Riehl, 21 Bde., Graz 19631979; Jo Hanns Piehier (Hrsg.): Othmar Spann oder Die Welt als Ganzes (Monographien zur Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte 4), Wien 1988.
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vativer Sicht vor. 31 Der Adenauer-Biographie von Schwarz steht aber z. B. kein entsprechendes Opus über Julius Raab (Kanzler von 1953-1960) gegenüber. Die wissenschaftliche Erforschung zumal der Zeit nach dem Abschluß des Staatsvertrages von 1955 steckt noch in den Kinderschuhen. Beachtenswerte Ansätze dazu finden sich zumal im Umkreis der Salzburger Haslauer-Stiftung, die sich in mehreren Sammelbänden insbesondere der Ära des Bundeskanzlers Josef Klaus (1964-70) angenommen hat, der eine zweifellos konservative Grundstimmung mit "sachlichem", technokratischen Zugang zur Politik verband. 32 Über die beiden bürgerlichen Parteien liegen mit Reichhold bzw. Piringers Werken kompetente, im Falle der FPÖ sogar bemerkenswert offenherzige und auf Quellenzugang basierende Darstellungen vor, 33 Kriechbaumer und Reiter haben Studien zur Programmentwicklung vorgelegt. 34 Die Rinnengeschichte der ÖVP, die Aufschluß geben könnte über das Wesen und das Geschick konservativer Strömungen, leidet unter der Unschriftlichkeit der Bauern und der Geheimniskrämerei der Wirtschaft, die gelernt hat, ihren Einfluß hinter dem Nimbus der Sozialpartnerschaft zu verstecken, während der ÖAAB (Arbeiter- und Angestelltenbund) vergeblich über seinen Charakter als Beamtenverein hinwegtäuscht. Allerdings: Ehre, wem Ehre gebührt: Die im Umfeld der Politischen Akademie der ÖVP angesiedelten Institute haben sich um die Erfassung und Aufbereitung von Quellen (inkl. der Befragung von Zeitzeugen) in jüngster Zeit in überdurchschnittlichem Maße verdient gemacht. 35 31 Heinrich Drimmel: Die Häuser meines Lebens. Erinnerungen eines Engagierten, Wien 1975; Alexander Vodopivec: Wer regiert in Österreich. Ein P.olitisches Panorama, Wien 1960; derselbe: Die dritte Republik. Machtstrukturen in Osterreich, Wien 1976. 32 Die Transformation der Österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung von Bundeskanzler Dr. Josef Klaus (Veröffentlichung der Dr. Wilfried Haslauer-Bibliothek 1), Salzburg 1995; Robert Kriechbaumer (Hrsg.): Die Ära Josef Klaus. Österreich in den "kurzen" sechziger Jahren, Bd. 1: Dokumente, Wien 1998. 33 Robert Kriechbaumer: Von der Illegalität zur Legalität. Gründungsgeschichte der ÖVP, Wien 1985; Ludwig Reichhold: Geschichte der ÖVP, Graz 1975; Kurt Piringer: Die Geschichte der Freiheitlichen. Beitrag der Dritten Kraft zur Österreichischen Politik, Wien 1982; an der Vorgänger-Partei der FPÖ, dem VdU (Verband der Unabhängigen 1949-56), hat sich der Verfasser selbst versucht: Lothar Höbelt: Von der Vierten Partei zur Dritten Kraft. Die Geschichte des VdU, Graz 1999. 34 Robert Kriechbaumer: Parteiprogramme im Widerstreit der Interessen. Die Programmdiskussionen von ÖVP und SPÖ 1945-1986 (Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 3), Wien 1990; Erich Reiter: Programm und Programmentwicklung der FPÖ, Wien 1982. 35 Die Protokolle der Zeitzeugen-Gespräche werden seit einiger Zeit in den Bänden der Zeitschrift: Demokratie und Geschichte (ab 1997) veröffentlicht.
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Chancen bieten sich der Erforschung des Österreichischen Konservatismus vor 1918 v. a. durch den inzwischen viel verlockenderen Zugang zu den böhmischen Archiven. Die erstaunlichsten Lücken weist hingegen vermutlich die Parteiengeschichte der 1. Republik auf. Hier wäre vielleicht bei einer Fortsetzung der Goidinger-Edition anzusetzen. Ein weites Feld bietet sich für alle hier behandelten Epochen bei Lokalstudien, die meist verdienstvollen, aber an Vergleichen wenig interessierten Amateuren überlassen werden. Das "post-moderne" politische Klima der Jahrtausendwende, das jeglichen linearen Fortschrittsoptimismus relativiert und konservative Ansätze auch in traditionell progressiven Milieus immer deutlicher zutage treten läßt, könnte so manchen dieser Vorhaben vielleicht sogar ganz günstig sein. Ein Sammelband, der einen Einstieg in die Problematik darstellt, wird wohl noch in diesem Jahrhundert erscheinen.36
36 Robert Rill/Ulrich Zeller-Zellenberg (Hrsg.): Konservativismus in Österreich, Graz 1999.