Ernst Wilhelm Hengstenberg: Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts 9783161521102, 9783161517327

Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869), Professor für Altes Testament an der Berliner Universität und Herausgeber der ei

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German Pages 671 [673] Year 2013

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Einleitung
Zum Stand der Forschung
Zu dieser Arbeit und ihren Quellen
1 Hengstenberg und die Erweckungsbewegung
1.1 Bonn – Basel – Berlin
1.2 Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung
1.3 Tholuck und Hengstenberg: verschiedene „Individualitäten“ – unterschiedliche Theologie
1.3.1 Erfahrung und Offenbarung: Tholucks ‚Lehre von der Sünde und vom Versöhner‘
1.3.2 Offenbarung vor Erfahrung: Hengstenbergs Korrektur der Erweckungstheologie
1.4 Hengstenberg als Erweckter
EXKURS: Der evangelische Bücherverein
1.5 Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus
2 Hengstenberg und die Theologie
2.1 Theologie und Glaube
2.1.1 Der Streit zwischen Neander und Hengstenberg über die Stellung der Theologie
2.1.2 Konfessionelle Theologie? – Ein Hengstenbergbild von 1830
2.2 Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“
2.2.1 Die messianischen Weissagungen und das Alte Testament (1829)
EXKURS: Wer war der Verfasser der Artikel über Schleiermacher?
2.2.2 Die Halben und der Ganze – Schleiermacher im Licht von D.F. Strauß (1836)
2.2.3 Ob Schrift? Ob Geist? – das Erbe Schleiermachers (1845)
2.2.4 Wider die Kanonisierung Schleiermachers (1869)
2.2.5 Zusammenfassung
2.3 Hengstenberg als Alttestamentler
2.3.1 Heilige Schrift
2.3.1.1 Inspiration und Offenbarung
2.3.1.2 Geschichte und heilige Geschichte
2.3.2 Historische Forschung
2.3.2.1 Kritische Forschung und Forschungskritik
2.3.2.2 Apologetische Arbeiten
2.3.3 Theologische Auslegung
2.3.3.1 Übersicht über die Kommentare und ihre Eigenart
2.3.3.1.1 Überblick
2.3.3.1.2 Allgemeine Auslegungsgrundsätze
2.3.3.2 Gegenwartsrelevanz als Charakteristikum theologischer Auslegung
2.3.3.2.1 Grundsätzliches
2.3.3.2.2 Der Kommentar zur Offenbarung des Johannes
2.3.4 Zusammenfassung: Hengstenbergs Exegese zwischen Tradition und Innovation
EXKURS: Hengstenbergs Bibliothek in Chicago
2.4 Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie
2.4.1 Theologische Triebkräfte
2.4.1.1 Kämpfender Glaube
2.4.1.2 Gottes Gegenwart in der Welt
2.4.2 Theologische Einflüsse
2.4.3 Theologischer Fluchtpunkt
2.4.4 Theologische Isolation?
2.5 Hengstenberg als theologischer Lehrer
2.5.1 Charakterisierung
2.5.2 Vorlesungstätigkeit
2.5.3 Die Hengstenberg-Schule
2.5.4 Zur Wirkungsgeschichte Hengstenbergs im angelsächsischen Raum
3 Hengstenberg und die Kirche
3.1 Von der Erweckungsbewegung zur Kirche
3.1.1 Die Ablehnung der Separation und die Entdeckung der Kirche
3.1.2 Die wahre Sichtbarkeit der Kirche – Auseinandersetzung mit Rothe (1838)
3.2 Kirchengemeinschaft und Bekenntnis
3.2.1 Der lutherisch-reformierte Gegensatz
3.2.2 Das Bekenntnis
3.3 Die preußische Union
3.3.1 Die Grundsatzerklärung von 1844
3.3.2 Die Herausforderungen: Bekenntnisfreie Union und Zunahme der Separation
3.3.3 Auf dem Weg zu einer konföderativen Union
3.4 Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche
3.4.1 Das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche
3.4.2 Die Ablehnung der Evangelischen Allianz
3.5 Kirchenverfassungsfragen
3.5.1 Pia desideria – Hengstenbergs Reformagenda
3.5.2 Kirchliche Selbständigkeit und landesherrliches Kirchenregiment
3.5.3 Beiträge zur Verfassungsdiskussion der 40er Jahre
3.5.4 „Der hochwürdige Evangelische Oberkirchenrath“
3.6 Hengstenbergs kirchliches „Amt“
3.7 Zusammenfassung
4 Hengstenberg und die Politik
4.1 Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein
4.2 Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung
4.2.1 Umgang mit der Zensur
4.2.2 Schutz der Autoren
4.2.3 Verteidigung in Gerichtsprozessen
4.3 Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik
4.3.1 Zum Verständnis von Politisierung
4.3.2 Positionierung – die Jahre 1829–1832
4.3.3 Recht der Obrigkeit und christlicher Staat – Orientierung in der Revolutionszeit (1848/49)
4.3.3.1 Reaktion auf die Zeitereignisse (März/April 1848)
4.3.3.2 Das Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates
4.3.4 Christ und Parteipolitik – Nähe und Distanz zum politischen Konservatismus
4.3.4.1 Äußerungen zu politischen Ereignissen in den 50er und 60er Jahren
4.3.4.2 Konservatismus und Junkertum
4.3.4.3 Geistliche in der Politik
4.3.5 Zusammenfassung
4.4 Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß
4.4.1 Die Durchsetzung des Parteibegriffs
4.4.2 Die Zugehörigkeit zur „Partei Hengstenberg“
4.4.3 Der Einfluß Hengstenbergs als Parteihaupt
Schluß
Anhang
Literaturverzeichnis
1 Gedruckte Schriften Hengstenbergs
1.1 Veröffentlichungen in der Evangelischen Kirchenzeitung (chronologisch geordnet)
1.2 Selbständig erschienene Veröffentlichungen und außerhalb der EKZ erschienene Artikel und Aufsätze
2 Archivalien
3 Gedruckte Quellen (inklusive moderne Quellenausgaben) und vor 1918 erschienene Literatur
4 Nach 1918 erschienene Literatur
Register
1 Bibelstellen
2 Orte, Länder und Landschaften
3 Personen
4 Sachen und Themen
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Ernst Wilhelm Hengstenberg: Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts
 9783161521102, 9783161517327

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

169

Matthias A. Deuschle

Ernst Wilhelm Hengstenberg Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts

Mohr Siebeck

Matthias A. Deuschle, geboren 1970; Studium der evangelischen Theologie in Tübingen und Göttingen; 1999–2001 Vikariat; 2001 Ordination; 2005 Promotion; 2004–2010 wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kirchengeschichte der HU Berlin, 2010 Habilitation; 2010/2011 Lehrstuhlvertretung an der Theologischen Fakultät der HU Berlin, seit 2011 Pfarrer in Herrenberg-Kuppingen.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-152110-2 ISBN  978-3-16-151732-7 ISSN    0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ biblio­graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2013  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt, auf alte­rungs­beständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Otters­weier gebunden.

Friederike

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemster 2010 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen und anschließend für den Druck geringfügig überarbeitet. Aus beruflichen Gründen hat sich ihr Erscheinen etwas verzögert. Froh und dankbar gebe ich das Buch nun aus der Hand. Daß es so weit kommen konnte, bedurfte der Unterstützung von vielen Seiten. An erster Stelle sei Frau Professor Dr. Dorothea Wendebourg genannt, die mich zu einem solchen Werk ermutigt, die erste Anregung gegeben und mich in allen Phasen unterstützt hat. Darüber hinaus hat sie mir als ihrem Assistenten immer ausreichend Freiheit für die eigene wissenschaftliche Arbeit eingeräumt. Dafür sowie für die Erstellung des Habilitationsgutachtens danke ich ihr von Herzen. Die weiteren Gutachten wurden von Herrn Professor Dr. Notger ­Slenczka und Herrn Professor Dr. Martin Ohst verfaßt. Ihnen und allen am Habilitationsverfahren Beteiligten gilt mein aufrichtiger Dank. Ein wichtiger und überaus hilfreicher Gesprächspartner in der Zeit der Entstehung der Arbeit war mein Berliner Kollege und „Habilitationsbruder“, Herr Privatdozent Dr. Andreas Stegmann. Für die bereichernde und anhaltend gute Zusammenarbeit möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Dank sei auch allen, die mich auf der Suche nach Quellenmaterial unterstützt haben: Herr Prälat Dr. Bernhard Felmberg hat in großzügiger Weise wertvolle Starthilfe und wichtige Hinweise gegeben. Das Special Collection Research Center der University of Chicago Library hat mir ein Stipendium für einen Kurzzeitaufenthalt in Chicago gewährt, um die in Chicago verwahrte Bibliothek Hengstenbergs in Augenschein zu nehmen. Für die freundliche Unterstützung, die ich in Chicago erhalten habe, geht mein Dank insbesondere an Frau Direktorin Alice Schreyer und an Frau Julia Gardner. Dr. Ashley Null sage ich Dank, weil er mich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hat, und darüber hinaus für alle freundschaftliche Hilfe und Begleitung. Des weiteren haben mir bei der Quellensuche Herr Dr. Helmut Hengstenberg (Firma Hengstenberg, Esslingen), Herr Dr. Helmut Klumpjan (Gerlacharchiv, Erlangen) und Frau Pfarrerin Dr. Katharina Dang weitergeholfen. Herr Dr. Klaus vom Orde und Herr Pfarrer Dr. Björn Slenczka haben sich mir mit ihrem kritischen Urteil als Erstleser zur Verfügung gestellt. Dafür sowie für die theologische Weggemeinschaft danke ich herzlich. Frau Cornelia

VIII

Vorwort

Schäfer M. A. hat mir beim Korrekturlesen geholfen, und in PC-Fragen wurde ich in bewährter Weise von Herrn Dipl.-Inform. Hans-Peter Diehl beraten. Vielen Dank dafür! Für die Aufnahme in die Reihe und die freundliche Unterstützung bedanke ich mich bei Herrn Professor Dr. Albrecht Beutel. Den Mitarbeitern im Hause Mohr Siebeck, allen voran Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Jana Trispel und Frau Nadine Schwemmreiter-Vetter, danke ich nicht nur für die bewährt gute Zusammenarbeit, sondern vor allem auch für die Geduld, welche die letzten Schritte der Fertigstellung erforderten. Darüber hinaus gilt mein Dank denjenigen Institutionen, die mir großzügig Druckkostenzuschüsse zur Verfügung gestellt haben: Der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT hat den größten Teil übernommen. Aber auch die Zuschüsse der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Evangelischen Landeskirche in Württemberg – meiner Heimatlandeskirche – und der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberslausitz – meiner Wahlheimat für sechs Jahre – haben mich sehr gefreut, denn darin findet die mir so wichtige Verbindung von kirchlicher und akademischer Arbeit ihren sichtbaren Ausdruck. Mehr als Dank sage ich meiner Familie und vor allem meiner Frau, Pfarrerin Friederike Deuschle. In unseren Berliner Jahren ist nicht nur der Umfang dieser Arbeit, sondern auch derjenige unserer Familie und der damit verbundenen Aufgaben angewachsen. Beides miteinander zu vereinen, stellte immer wieder vor Herausforderungen. Für den gemeinsamen Weg, den intensiven Austausch in allen Bereichen und den wunderbaren Zusammenklang im theologischen Denken bin ich überaus dankbar. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Nie hatte ich geplant, ein so umfangreiches Werk zu schreiben. Die Fülle des zu verarbeitenden Materials, der Mangel an Vorarbeiten und die Sperrigkeit des Hauptprotagonisten haben dazu beigetragen, daß ein dickes Buch entstanden ist. Ich setze aber darauf, daß sich auch jeder einzelne der vier Hauptteile für sich allein gewinnbringend lesen läßt. Wenn daraus Appetit auf mehr entsteht, dann soll es mir recht sein. Sperrige Persönlichkeiten, ob man sie mag oder nicht, laden zu Entdeckungen ein – die Kirche braucht sie zu allen Zeiten. Herrenberg, am Erscheinungsfest 2013

Matthias A. Deuschle

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu dieser Arbeit und ihren Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 Hengstenberg und die Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . 1.1 Bonn – Basel – Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung 1.3 Tholuck und Hengstenberg: verschiedene „Individualitäten“ – unterschiedliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Erfahrung und Offenbarung: Tholucks ‚Lehre von der Sünde und vom Versöhner‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Offenbarung vor Erfahrung: Hengstenbergs Korrektur der Erweckungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Hengstenberg als Erweckter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EXKURS: Der evangelische Bücherverein . . . . . . . . . . . . 1.5 Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus . . . .

2 Hengstenberg und die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theologie und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Streit zwischen Neander und Hengstenberg über die Stellung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Konfessionelle Theologie? – Ein Hengstenbergbild von 1830 2.2 Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die messianischen Weissagungen und das Alte Testament (1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EXKURS: Wer war der Verfasser der Artikel über Schleiermacher? 2.2.2 Die Halben und der Ganze – Schleiermacher im Licht von D.F. Strauß (1836) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Ob Schrift? Ob Geist? – das Erbe Schleiermachers (1845) . . 2.2.4 Wider die Kanonisierung Schleiermachers (1869) . . . . . . 2.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Hengstenberg als Alttestamentler . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 5 19 27 27 51 60 63 73 81 92 98 107 110 110 122 132 133 142 146 151 171 176 179



Inhaltsverzeichnis

2.3.1 Heilige Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Inspiration und Offenbarung . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Geschichte und heilige Geschichte . . . . . . . . . 2.3.2 Historische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Kritische Forschung und Forschungskritik . . . . . . 2.3.2.2 Apologetische Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Theologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Übersicht über die Kommentare und ihre Eigenart . 2.3.3.1.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1.2 Allgemeine Auslegungsgrundsätze . . . . . 2.3.3.2 Gegenwartsrelevanz als Charakteristikum theologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2.1 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2.2 Der Kommentar zur Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Zusammenfassung: Hengstenbergs Exegese zwischen Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EXKURS: Hengstenbergs Bibliothek in Chicago . . . . . . . . . 2.4 Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie . . . . . . 2.4.1 Theologische Triebkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Kämpfender Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Gottes Gegenwart in der Welt . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Theologische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Theologischer Fluchtpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Theologische Isolation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Hengstenberg als theologischer Lehrer . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Vorlesungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Die Hengstenberg-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Zur Wirkungsgeschichte Hengstenbergs im angelsächsischen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 Hengstenberg und die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der Erweckungsbewegung zur Kirche . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Ablehnung der Separation und die Entdeckung der Kirche 3.1.2 Die wahre Sichtbarkeit der Kirche – Auseinandersetzung mit Rothe (1838) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kirchengemeinschaft und Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der lutherisch-reformierte Gegensatz . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die preußische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183 183 197 206 206 216 230 230 230 232 237 237 240 244 248 262 263 263 272 274 278 279 286 286 291 292 297 301 301 301 310 315 316 324 335

XI

Inhaltsverzeichnis

3.3.1 Die Grundsatzerklärung von 1844 . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Herausforderungen: Bekenntnisfreie Union und Zunahme der Separation . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Auf dem Weg zu einer konföderativen Union . . . . . . . . 3.4 Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche . . . 3.4.1 Das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche . . . . . . . 3.4.2 Die Ablehnung der Evangelischen Allianz . . . . . . . . . . 3.5 Kirchenverfassungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Pia desideria – Hengstenbergs Reformagenda . . . . . . . . 3.5.2 Kirchliche Selbständigkeit und landesherrliches Kirchenregiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Beiträge zur Verfassungsdiskussion der 40er Jahre . . . . . . 3.5.4 „Der hochwürdige Evangelische Oberkirchenrath“ . . . . . 3.6 Hengstenbergs kirchliches „Amt“ . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



335



343 353 366 367 377 387 387



391 399 406 413 423

4 Hengstenberg und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 427 450 452 461 465



473 474 476



488 488



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512 523 528 534 536 536 542 548

4.1 Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein . . 4.2 Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung . . . . . . . . . . 4.2.1 Umgang mit der Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Schutz der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Verteidigung in Gerichtsprozessen . . . . . . . . . . . . . 4.3 Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Zum Verständnis von Politisierung . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Positionierung – die Jahre 1829–1832 . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Recht der Obrigkeit und christlicher Staat – Orientierung in der Revolutionszeit (1848/49) . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Reaktion auf die Zeitereignisse (März/April 1848) . 4.3.3.2 Das Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Christ und Parteipolitik – Nähe und Distanz zum politischen Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.1 Äußerungen zu politischen Ereignissen in den 50er und 60er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.2 Konservatismus und Junkertum . . . . . . . . . . . 4.3.4.3 Geistliche in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Die Durchsetzung des Parteibegriffs . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Zugehörigkeit zur „Partei Hengstenberg“ . . . . . . . . 4.4.3 Der Einfluß Hengstenbergs als Parteihaupt . . . . . . . . .

XII

Inhaltsverzeichnis

Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601 601

1

Gedruckte Schriften Hengstenbergs . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Veröffentlichungen in der Evangelischen Kirchenzeitung (chronologisch geordnet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbständig erschienene Veröffentlichungen und außerhalb der EKZ erschienene Artikel und Aufsätze . . . . . . . . . . . 2 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gedruckte Quellen (inklusive moderne Quellenausgaben) und vor 1918 erschienene Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Nach 1918 erschienene Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 4

Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orte, Länder und Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen und Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



601 606 609 611 623 641 641 642 644 650

Abkürzungen Die allgemeinen Abkürzungen richten sich nach dem Duden Bd.  1: Rechtschreibung der deutschen Sprache, 20., neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim u. a. 1991, die fachwissenschaftlichen Abkürzungen nach Schwertner, S.M., Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin / New York 21994. Biblische Bücher werden nach den Loccumer Richtlinien (Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, hg. v. den Deutschen Bischöfen, dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Evangelischen Bibelwerk, Stuttgart 1971, 5 f.) zitiert. Die für Archive und Bibliotheken verwendeten Abkürzungen finden sich im Literaturverzeichnis. Darüber hinaus werden folgende Abkür­zungen benutzt: EOK Nl Sig.

Evangelischer Oberkirchenrat Nachlaß Signatur

Einleitung Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869). Hätte sich jemand Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin ‚Unter den Linden‘ nach dem Träger dieses Namens erkundigt, dann wären die Antworten, die er zu hören bekommen hätte, sicherlich sehr unterschiedlich ausgefallen. Für die einen war Hengstenberg ein „Gotteskämpfer“, ein mutiger Streiter für den Glauben und die Kirche. Für die anderen war er „das Blatt [...], auf welches man Alles schrieb, worüber man sich ärgerte“ : „Pietismus, todte Orthodoxie, Obscurantismus, Fanatismus, Jesuitismus, Bund mit allen Mächten des Rückschritts“. Beide Seiten verbanden seinen Namen mit der Evangelischen Kirchenzeitung, die er herausgab, und man wußte in der Regel auch, daß er Theologieprofessor war. Dennoch brachte man Hengstenbergs Namen nicht in erster Linie mit seinem Amt in Verbindung, sondern mit seiner positionellen Ausrichtung. So zog er auch in die Poesie ein. Von „Hengstenberger[n]“ spricht Heine in seinem ‚Wintermärchen‘, um damit den deutschen Philistergeist zu bezeichnen, der dem französischen Geist der Auf klärung, dem Geist Voltaires, feindlich gegenübersteht. Die schlichte Erwähnung des Namens genügte offensichtlich, und jeder wußte, wer oder was gemeint war. Viele kannten Hengstenberg, ohne ihn je gesehen, geschweige denn gehört oder gelesen zu haben.

   So der Titel der Leichenpredigt, die Wölbling bei der Beisetzung Hengstenbergs hielt (s. Wölbling, Leichenpredigt).    Kahnis, Gedächtniß, 423.    Ebd., 417; aussagekräftig ist auch die Zusammenstellung bei Frank, Theologie, 449: „Er ist ein Satansengel genannt worden, der böswillige Rädelsführer der lärmenden Bekenntniswühler, Austreiber des rationalistischen Dämons durch den Beelzebub einer fanatischen Orthodoxie, der getriebene Dalai-Lama der preußischen Landeskirche, dazu ein Proteus, der als Vermischung von Christus und Belial strafe, was er zehn Jahre zuvor selbst gelehrt, und renommistischer Spiegelfechter, ein Verehrer des Kreuzes in dem Sinne, daß er andere daran zu bringen sucht, ein Apologet und zugleich ein Advokat, ein Jesuit und zugleich ein Kapuziner, ein Professor und zugleich ein Inquisitor, der mit dem Hohenpriester und den Pharisäern über Christus das Todesurteil gesprochen hätte, unter kirchlichen Formen und mit biblischen Mitteln doch auf das Endliche gerichtet, sein positiver Kern unauffindlich, sein altfränkischer Glaube und seine schlaue Taktik schwer in gediegener Einheit denkbar.“    Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), Caput V: Düsseldorfer Ausgabe 4, 101,72; vgl. Ders., Atta Troll. Ein Sommernachtstraum, Caput XVIII: ebd., 54,41, wo Hengstenberg als Goetheverächter erscheint.



Einleitung

Der Plural „Hengstenberger“ wurde von Heine nicht zufällig gewählt. Hengstenberg stand für eine Gruppe, für eine Richtung, für eine Partei. Die gegensätzlichen Urteile über ihn hängen darum nicht allein mit seiner Person zusammen. Sie sind vielmehr Ausdruck der Gespaltenheit des Protestantismus im 19. Jahrhundert. Es wurde schon häufig darauf aufmerksam gemacht, daß sich der deutsche Protestantismus ab den 1830er Jahren „im Grunde [...] in zwei neue Konfessionen“ aufspaltete. Idealtypisch betrachtet zerfiel er in ein liberales und ein konservatives Lager; dazwischen gab es zahlreiche Zwischentöne. Die Spaltung des Protestantismus trug nun aber zu zwei gegenläufigen Entwicklungen bei. Einerseits löste die neue Spaltung bis zu einem gewissen Grad die frühere, die Konfessionszuordnungen des Alten Reiches, ab: Die Verbundenheit unter den Angehörigen des liberalen oder konservativen Lagers ging über die Grenzen lutherischer und reformierter, teilweise auch über diejenigen römisch-katholischer Konfessionszugehörigkeit hinweg. Indem aber beide Lager beanspruchten, die wahren Erben der Reformation zu sein, trug die Spaltung andererseits erheblich dazu bei, daß man sich neu über den Ursprung und die Eigenart der eigenen Konfession zu vergewissern suchte und dadurch die Frage nach dem Wesen der Konfession wieder auf die Tagesordnung kam. Darüber hinaus stand die Polarisierung innerhalb des Protestantismus in einem – im einzelnen differenziert zu betrachtenden – Wechselverhältnis zu den politischen Optionen der Zeit. Politische Ideen speisten sich häufig aus theologischen Konzepten und religiösen Weltbetrachtungen. Umgekehrt wirkten politische Theorien auf die kirchlichen Diskussionen ein. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die kirchliche Fraktionierung die politische nicht nur begleitete, sondern auch zu ihr beitrug. Die Auseinandersetzungen und Diskussionen zwischen dem konservativen und liberalen Lager haben die Entwicklung der evangelischen Kirchen im 19. Jahrhundert entscheidend geprägt. Aber obwohl an Untersuchungen zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts kein Mangel besteht, ist die genaue Erforschung der beiden Lager, ihrer Mentalitäten und Repräsentanten sowie ihrer Entstehung, noch bei weitem nicht zufriedenstellend geleistet. Insbesondere gilt das für die konservative Seite, deren herausragende Repräsentanten im Gedächtnis der Theologie und in ihrer Geschichtsschreibung viel weniger verankert sind als die Vertreter des theologischen Liberalismus. Um    Nipperdey, Deutsche Geschichte, 431; vgl. auch ebd., 423; ebs. Graf, Spaltung; vgl. Schieder, Sozialgeschichte, 22 f.    Vgl. die Forschungsberichte von Mehlhausen, Zur Kirchengeschichte und Dierken, Zur Theologiegeschichte.    Was die liberale Richtung angeht, fehlt insbesondere eine Untersuchung über die genuinen Schleiermacherschüler. Einen Beitrag dazu leisteten bisher v. a. Friedrich, Eichhorn (vgl. ebd., 3.31 f. mit Anm.  74) und Mehlhausen (s. die folgende Anmerkung).    Ebs. Graf, Spaltung, 162 f. – Symptomatisch ist, daß es in der von Goeters und Rogge herausgegebenen ‚Geschichte der Evangelischen Kirche der Union‘ für die Zeit vor 1875

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das Gedächtnis der Kirche steht es nicht viel besser, doch ihre Physiognomie kann das konservative Erbgut nicht verbergen: Auf ihre äußere Verfassung, ihre Religiosität, ihren Stil und ihre Sprache haben die „Normalkonservativen“ einen weitaus prägenderen Einfluß ausgeübt als die Liberalen. Ebenso dominant prägte die konservative Tradition das gängige Bild von einem Pfarrer des 19. Jahrhunderts; so kommen beispielsweise in Fontanes Romanen die Pfarrer, die selbstbewußt die traditionellen kirchlichen Lehren vertreten, in der Regel besser weg als ihre liberalen Kollegen.10 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kirchlichen Konservatismus steht also in einem deutlichen Mißverhältnis zu seiner Bedeutung für die Kirche. Damit teilt er das Schicksal des politischen Konservatismus, dessen Erforschung in Deutschland auch erst wesentlich später in Gang gekommen ist als die des Liberalismus.11 Mit der vorliegenden Untersuchung soll daher zweierlei geleistet werden: Einerseits widmet sie sich einer zentralen Gestalt des 19. Jahrhunderts. Sie will Licht in das Denken und Handeln einer zutiefst umstrittenen und – wie der Forschungsüberblick zeigen wird – bisher bei weitem unzureichend erforschten Persönlichkeit bringen. Andererseits erschöpft sich die Darstellung nicht in der Erforschung der im Titel der Arbeit benannten Person. Sie geht über das Individualbiographische hinaus. Sie will vielmehr, indem ein anerkannter Vertreter der konservativen Richtung zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, einen Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus überhaupt leisten. Diese spezifische Fragehinsicht, die bei der Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand leitend war, wird mit dem gewählten Untertitel benannt. Die Auseinandersetzung mit Hengstenberg soll vor Augen sowohl ein eigenes Kapitel über ‚Rationalismus und Vermittlungstheologie‘ als auch ein eigenes Kapitel über den kirchlichen Liberalismus in Preußen, beide von J. Mehlhausen (Mehlhausen, Rationalismus; Mehlhausen, Liberalismus), gibt. Dem steht ein kurzes Kapitel über den konservativen Protestantismus gegenüber, das den Konservatismus aber lediglich aus politischer Perspektive beleuchtet und im Grunde nur von Stahl handelt (Mau, Protestantismus).    Nipperdey, Umbruch, 78; ebd., 77 f. zur Dominanz des Konservatismus im kirchlichen Leben nach 1870. Vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, 423–427 für die Zeit vor 1870. Nipperdey hat in seiner Darstellung der ‚Deutschen Geschichte‘ schon früh dem Konservatismus, sowohl dem politischen als auch dem kirchlichen, eingehende Schilderungen gewidmet. – Die prägende Rolle des kirchlich-konservativen Milieus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg belegen zahlreiche der in dem von Kampmann herausgegebenen vierten Band der Reihe ‚Protestantismus in Preußen‘ dargestellten Lebensbilder (Kampmann, Protestantismus). 10   Vgl. dazu Beutel, Fontane, bes. 81–85. 11   Vgl. das Vorwort von Schrenck-Notzing zu Ders., Stand, 5: „Im übernationalen Vergleich steht Deutschland im Bereich der Erforschung der Geschichte der konservativen politischen Bewegung – gemessen etwa an Großbritannien oder den USA – auf der Stufe eines Entwicklungslandes.“ Ähnlich urteilt Kraus, Stand, 24 (ebenfalls im Jahr 2000) über die Erforschung der Geschichte des preußischen Konservatismus vor 1876: „Kurz gesagt: Forschungsbedarf und ertragreiche Forschungsthemen, wohin man auch blickt.“ Dem steht eine große Zahl an Liberalismusstudien gegenüber, vgl. Langewiesche, Europa, 132–137.



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führen, was im Preußen des 19. Jahrhunderts als kirchlich-konservativ gelten kann. Selbstverständlich kann die Untersuchung eines – wenn auch herausragenden – Repräsentanten im Blick auf die Erforschung des kirchlichen Konservatismus nur einen Anfang bieten. Allein im kirchlich-konservativen Milieu Preußens gibt es neben Hengstenberg viele weitere Gestalten, die einen bedeutenden Einfluß auf den Gang der Dinge in Kirche und Theologie im 19. Jahrhundert ausübten und die bis jetzt der Erforschung harren.12 Auch eingehende Milieustudien über die kirchlich Konservativen in Preußen fehlen.13 Die Arbeit über Hengstenberg versteht sich daher als ein Beitrag zur Erschließung eines weiten Feldes – in der Hoffnung, daß sie zu weiteren Untersuchungen anregt, die mithelfen, den kirchlichen Konservatismus schärfer zu konturieren. 12

  Um nur einige Desiderate zu nennen: 1. Nahezu unerforscht ist der Professor und spätere Königsberger Generalsuperintendent Ernst Wilhelm Sartorius. Sein Einfluß auf die konservative Richtung – auch auf Hengstenberg und die EKZ – dürfte erheblich gewesen sein (vgl. Kähler, Geschichte, 176 f.). 2. Viel zu wenig weiß man bisher über den Berliner Pfarrer, Hofprediger und Honorarprofessor Otto von Gerlach; erste Ansätze zu seiner Untersuchung, die Christiani geliefert hat, liegen seit über 50 Jahren fast völlig ungenutzt in der Konsistorial­bibliothek der EKBO in Berlin. 3. Anders stand es schon immer um die Erforschung seines Bruders, des Juristen Ernst Ludwig von Gerlach. In jüngerer Zeit hat H.Ch. Kraus dem Leben, politischen Denken und Handeln des bekannten Altkonservativen eine überaus gründliche und sehr anregende Untersuchung gewidmet. Was hingegen die theologische Prägung Gerlachs und seine kirchliche Stellung angeht, gibt es auch hier noch Forschungsbedarf (vgl. dazu auch Ohst, Rez. Kraus, Sp.  687–689). 4. Ähnlich steht es mit Stahl. Zwar gibt es zu ihm neben den zahlreichen Untersuchungen aus juristischer Sicht auch eine kirchengeschichtliche Darstellung, doch die Arbeit von Nabrings leidet sehr daran, daß sie Stahl als „Rezeptionstypus der Hegelschen Philosphie“ (Nabrings, Stahl, 14), näherhin als Vertreter eines „unglücklichen Hegelianismus“ (ebd. u.ö.) darzustellen bemüht ist. Dabei kommen die theologischen Traditionslinien kaum in den Blick. Auch das tatkräftige Engagement Stahls im kirchlichen Leben Berlins wird zu knapp abgehandelt. 5. Unter den Jüngeren wäre Adolf Wuttke einer näheren Betrachtung wert (vgl. dazu die wichtigen Vorarbeiten von Graf, BBKL 14; Dems., Kulturluthertum). 6. Daneben fehlen Arbeiten zu kirchlich-konservativen Führungskräften, die weniger durch ihre theologischen Beiträge als vielmehr durch ihre praktische Tätigkeit prägend gewirkt haben. Der wichtigste unter ihnen dürfte Carl Albert Ludwig Büchsel sein, der bisher nur in einer kleinen Untersuchung gewürdigt wurde (Pötschke, Büchsel). Büchsel repräsentiert einen bestimmten Typus von Pfarrer, den Fontane – nicht ohne Sympathie und Anerkennung – mit der Bezeichnung „Büchselmann“ versehen hat (s. Beutel, Fontane, 82). Vgl. zu den Genannten auch unten 4.4.2. 13   Vielversprechend dürfte in dieser Hinsicht eine Untersuchung der im Vormärz allerorten – z. B. in Trieglaff, Gnadau und Berlin – entstehenden Pastoralkonferenzen sein; daneben müßte die Zusammensetzung und Entwicklung der kirchlich-konservativen Vereine beleuchtet werden – ähnlich wie es Schwentker, Vereine im Bereich des politischen Konservatismus getan hat; lediglich für die erwecklichen Vereine gibt es Darstellungen (v. a. Althausen, Gesellschaften und jetzt Schrenk, Judenmission; vgl. auch unten 1.4); auch von den Kirchentagen existiert bislang nur eine inhaltliche Bestandsaufnahme (Kreft, Kirchentage), ihre Hintergründe, personelle Zusammensetzung sowie ihre innere Entwicklung sind kaum untersucht (ebs. schon Mehlhausen, Zur Kirchengeschichte, 174). – Viel zu wenig ist außerdem über die kirchliche Situation auf dem Land bekannt.

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Was ihre Darstellungsform angeht, bietet die vorliegende Studie keine Biographie, obgleich sie biographische Partien enthält. Eine Lebensgeschichte erzählen, wie es sich für eine Biographie gehört, kann man erst, wenn man ein klares Bild von der Person, von der man erzählen will – von ihren Prägungen und ihrer Weltsicht, von ihrem Denken und Handeln –, vor Augen hat. Die detaillierten Untersuchungen, die im Falle Hengstenbergs dazu notwendig waren und im Folgenden vorgelegt werden, würden eine erzählende Darstellungsweise sprengen. Deshalb wurde ein anderer Darstellungstyp gewählt. Bevor aber auf das Vorgehen im einzelnen eingegangen wird, ist zunächst die vorhandene Literatur zu Hengstenberg zu besprechen.

Zum Stand der Forschung Trotz des Gesagten ist die Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen über Hengstenberg wesentlich größer, als ein erster Blick in die Lexika, auch in die jüngsten, vermuten läßt. Das hängt damit zusammen, daß es sich bei den mei­ sten Studien, die sich mit Hengstenberg beschäftigen, um unveröffentlichte Dissertationen aus den 1950er bis 1970er Jahren handelt; nicht wenige von ihnen sind in den USA entstanden. Man muß grundsätzlich zwei Arten von Arbeiten über Hengstenberg unterscheiden: solche, die sich ausschließlich Hengstenberg widmen, und solche, die Hengstenberg und die Evangelische Kirchenzeitung gemeinsam untersuchen. Bei letzteren handelt es sich strenggenommen um Gruppenuntersuchungen, auch wenn die Arbeiten darüber nicht immer methodisch Rechenschaft ablegen. Sie behandeln die Evangelische Kirchenzeitung als Einheit, die Äußerungen der unterschiedlichsten Autoren werden ineinandergeblendet, Hengstenberg erscheint als Repräsentant einer Gruppe. Auf die Stärken und Grenzen dieser Untersuchungen wird unten eingegangen werden. Vorab ist aber schon festzuhalten: Es handelt sich bei ihnen nicht stricto sensu um Arbeiten über Hengstenberg, da sie zwar einen groben Eindruck des Milieus, dem Hengstenberg zugehörte, nicht aber ein klares Bild von dem Herausgeber selbst bieten können. Die vorliegende Arbeit wählt einen anderen Weg: Es sollen zur Erhebung von Hengstenbergs Standpunkt nur solche Äußerungen herangezogen werden, die tatsächlich auf ihn zurückgehen. Was das bedeutet, wird im näch­ sten Abschnitt ausführlicher dargelegt werden. Zuerst sind also die Arbeiten in den Blick zu nehmen, die sich ausschließlich Hengstenberg widmen. Hier muß aber wiederum unterschieden werden zwischen solchen Arbeiten, die ein umfassendes Bild von Hengstenbergs Wirken zeichnen und anderen, die sich nur einem Ausschnitt widmen. Was erstere angeht, ist die Zahl der Titel denkbar klein. Es gibt überhaupt nur eine einzige Monogra-



Einleitung

phie: die dreibändige Biographie aus dem 19. Jahrhundert, deren ersten beiden Bände von Johannes Bachmann stammen und die nach Bachmanns Tod von Theodor Schmalenbach vollendet wurde.14 Nach wie vor kommt keiner, der sich mit Hengstenberg und seiner Zeit beschäftigt, an diesem Werk vorbei. Die Arbeit ist schon allein deshalb unverzichtbar, weil Bachmann Quellen auswerten konnte, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als verschollen gelten müssen. Dazu gehören vor allem der Briefwechsel Hengstenbergs mit der Familie, seinem Vater und seinem Bruder Karl, sowie die Briefe an seine Braut Therese. Abschriftliche Auszüge aus letzteren finden sich immerhin in Bachmanns Nachlaß, jedoch bleibt man dabei auf die Auswahl des Biographen angewiesen. Bachmann hatte Zugang zu diesen wichtigen Quellen, weil er die Biographie in engem Kontakt mit den noch lebenden Angehörigen Hengstenbergs verfaßte. Die treibenden Kräfte hierbei waren Hengstenbergs resolute Schwiegermutter, Charlotte von Quast (1786–1879),15 und Hengstenbergs Bruder Karl. Beide sahen sich als Nachlaßverwalter des Berliner Professors. Unmittelbar nach Hengstenbergs Tod hatte Frau von Quast versucht, den Hallenser Historiker Heinrich Leo als Hengstenbergbiographen zu gewinnen; der damals bereits Siebzigjährige sah sich dazu aber nicht mehr in der Lage.16 Hengstenbergs Bruder Karl plante darauf, seinen Sohn, den Sonnewalder Superintendenten Ernst Karl Georg Hengstenberg (1837–1893), für das Unternehmen zu gewinnen. Zu diesem Zweck hütete er für längere Zeit die Briefe seines Bruders und stellte sie niemandem zur Verfügung. Doch auch aus diesem Vorhaben wurde nichts.17 Daß schließlich Bachmann die Biographie in Angriff nahm und dabei das Briefmaterial verwenden durfte, hatte einen anderen Auslöser. Immanuel Hegel, Sohn des Philosophen und langjähriger Präsident des Brandenburgischen Konsistoriums, war Vorsitzender des Hengstenberg nahestehenden „Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke“. Am 18. Juni 1872 bat er Bachmann darum, einen der zwölf wissenschaftlichen Vorträge zu übernehmen, die in den Wintermonaten regelmäßig im Evangelischen Verein gehalten wurden.18 Nach einiger Bedenkzeit schlug Bachmann dafür das Thema: „Hengstenberg und die Evangelische Kirchen-Zeitung“ vor. Der Vortrag wurde am 10. Februar 1873 gehalten und später in der EKZ veröffentlicht.19 Im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Vortrages wandte sich Bachmann auch an Karl Hengstenberg und 14

  Die ersten beiden Bände werden im folgenden mit dem Kurztitel Bachmann 1 und 2, der dritte Band aber mit dem Kürzel Bachmann / Schmalenbach 3 zitiert; zwar wurde der dritte Band nur von Schmalenbach verfaßt, ohne die Vorarbeiten Bachmanns wäre er aber nicht entstanden, darum wird Bachmann im Titel des dritten Bandes ausdrücklich genannt. Ein Plan für den dritten Band war, als Bachmann starb, noch nicht vorhanden, so A. Bachmann, geb. Strömer, Rostock 15. Nov. 1888 an Schmalenbach: Archiv der Kirchengemeinde Mennighüffen (Löhne), Nl Schmalenbach, Nr.  295. 15   Vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch 1904, 677. 16   Leo an Fr. von Quast, 6. Juni 1869: Bonwetsch, Quast, 348 f., vgl. auch die Einleitung, ebd., 347. – Frau von Quast fühlte sich auch im hohen Maße für das Fortbestehen der EKZ verantwortlich (s. Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1016). 17   Siehe unten Anm.  2 0 f. 18   I. Hegel an Bachmann, Berlin 18. Juni 1872: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 19   Bachmann, Kirchen-Zeitung, EKZ 92 (1873), Sp.  161–174.185–196, Nr.  15–18. – Hegel, der ebenso wie Carl Büchsel die Wahl des Themas erfreut begrüßte, hatte zunächst den Titel: „Hengstenbergs kirchlicher Einfluß durch die Evangelische Kirchenzeitung“ vorge-

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erkundigte sich nach Briefen des verstorbenen Herausgebers. Jener antwortete, daß er zwar „im Besitz einer ganzen Kiste von Briefen meines sel. Bruders an unseren Vater aus Bonner, Baseler und unserer Berliner Zeit“ sei, eine vorzeitige Veröffentlichung dieser Briefe aber nicht wünsche, weil sie das Interesse an der in Aussicht stehenden Biographie, zu der er seinen Sohn „ausersehen“ habe, schmälern würde.20 Bachmann mußte also zunächst auf das Briefmaterial verzichten. Sein Vortrag im Evangelischen Verein brach jedoch das Eis. Offenbar hatte er inzwischen den Entschluß gefaßt, eine ausführlichere Darstellung zu verfassen. Zu diesem Zweck sandte er den Vortrag an Hengstenbergs Neffen in Sonnewalde, der sich darauf hin dafür einsetzte, daß Bachmann die Briefe überlassen würden.21 Außerdem scheint er während seines Aufenthaltes in Berlin Kontakt zu Hengstenbergs Schwiegertochter Anna und der Schwiegermutter Frau von Quast geknüpft zu haben. Anna Hengstenberg sandte ihm jedenfalls bald danach eine Kiste mit Briefen – vermutlich die Brautbriefe – zu; die inzwischen fast 87jährige Frau von Quast stellte ebenfalls Briefe und sogar ihr Tagebuch zur Verfügung, das sie nach eigenen Angaben von 1826 bis 1869 fast ununterbrochen geführt habe. Da es sich dabei um ihr „Geheimniß vor Gott“ handele, bat sie Bachmann allerdings darum, nicht direkt daraus zu zitieren. Das ist denn auch nicht geschehen. Dieses ganze Material ist heute nicht mehr verfügbar. Das Tagebuch ging zurück an Frau von Quast; 22 an sie oder an ihre „Enkelschwiegertochter“ Anna, wie sie gerne schreibt, sandte Bachmann wohl auch die Brautbriefe zurück, von denen er lediglich handschriftlich gefertigte Auszüge behielt. Auch Karl bekam sein Material höchstwahrscheinlich selbst zurück. Der weiteren Entstehungsgeschichte der Biographie, die sich aus den Nachlässen von Bachmann und Schmalenbach minutiös rekonstruieren läßt, zu deren Entfaltung hier aber nicht der Ort ist, läßt sich entnehmen, daß nach Karls Tod der Briefwechsel zwischen ihm und seinem Bruder an Karls Tochter Anna, verheiratete Piper, ging; 23 möglichweise waren auch die Briefe an den Vater darunter, die zu diesem Zeitpunkt aber bereits ausgewertet waren. schlagen (I. Hegel an Bachmann, Berlin 19. Okt. 1872: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung). 20   K. Hengstenberg an Bachmann, Wetter 4. Nov. 1872: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. Karl Hengstenberg hoffte, daß die Biographie noch zu seinen Lebzeiten „und nach meiner Durchsicht“ (ebd.) erscheinen würde. 21   E.K.G. Hengstenberg an Bachmann, Sonnewalde 3. Apr. 1873: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. Offenbar hatte dieser schon längst den Entschluß gefaßt, die Biographie nicht zu schreiben, wenn sich ein anderer dazu berufener Verfasser fände. 22   Frau von Quast bat Bachmann mehrmals sehr dringend um die baldig Rückgabe, da sie dem Tod entgegensehe und das Tagebuch zuvor noch in das Familienarchiv in Radensleben gebracht werden solle, Fr. von Quast an Bachmann, Berlin 1. Apr. 1874 und 13. März 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. Wahrscheinlich hat sie es 1875 zurückerhalten, dann verlieren sich seine Spuren. Bachmann stand es also nur für die Arbeit am ersten Band zur Verfügung. Abschriften scheint er sich keine gemacht zu haben. 23   Vgl. P. Piper an Schmalenbach, Altona 28. Aug. 1891: Archiv der Kirchengemeinde Mennighüffen (Löhne), Nl Schmalenbach, Nr.  2 05. Karls Schwiegersohn, Prof. Piper (Hamburg), stellte die Briefe, nachdem er sie durchgesehen hatte, Schmalenbach nicht zur Verfügung, weil sie hauptsächlich die Beziehung der Brüder beträfen (ebd.). Allerdings überließ er ihm die Briefe seiner Frau, die in den 60er Jahren in Hengstenbergs Haushalt lebte, an deren Mutter – wenn auch nur unter strengen Auflagen, P. Piper an Schmalenbach, Altona 26. Aug. 1889: ebd., Nr.  350.



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Nachdem Bachmann das Manuskript für den ersten Band vollendet hatte, ließ er es noch vor dem Druck Teilen der Familie, auf jeden Fall Frau von Quast,24 zukommen. Geändert scheint er aber nichts mehr zu haben.25 Dennoch steht außer Zweifel, daß Bachmanns Darstellung deutlich an der Perspektive der Familie orientiert ist.26 Das ist nicht weiter verwunderlich, denn auch Bachmann selbst hatte als Schüler Hengstenbergs ein positives Bild von seinem Lehrer. Er war in Berlin aufgewachsen. Sein Vater, der Gesangbuchexperte und Pfarrer an der 1843 neu gegründeten Jakobigemeinde J.F. Bachmann 27, war eine einflußreiche Stimme in der konservativen Berliner Pfarrerschaft gewesen. Auch Schmalenbach, der sich nach längerer Suche bereitfand, das Werk fortzuführen,28 gehörte in Westfalen zu dem aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen konservativen Milieu.29 Trotz aller Kritik im Detail zeichnen die beiden Biographien also insgesamt ein positives Hengstenbergbild. Die Darstellung ist durchaus parteiisch. Sie ist es allerdings nicht in höherem Maße als das Gros der Biographien im ausgehenden 19. Jahrhundert. Darin unterscheidet sie sich in nichts von Wittes Tholuckbiographie oder dem Werk des Rothebiographen Hausrath. Im Unterschied zu letzterem ist Bachmann immerhin weniger polemisch, obgleich nichtsdestoweniger überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen. Entscheidend ist, daß Bachmann ausführlich die Quellen selbst zu Wort kommen läßt. Die umfangreichen wörtlichen Wiedergaben der handschriftlichen Quellen sind – soweit es überprüft werden konnte30 – sehr zuverlässig. Daß sich die Darbietung der Quellen und die eigene Bewertung gut voneinander abheben lassen, zeigt nicht zuletzt die Hengstenbergdarstellung von Lenz 31, die, was die Quellen angeht, ganz auf Bachmann aufruht, in ihrem Urteil aber streckenweise zu einer geradezu entgegengesetzten Darstellung kommt. Bachmann konnte nicht nur auf die genannten Briefwechsel zurückgreifen. Er hat auch viele Zeitzeugen befragt und eine Fülle von schriftlichen Informationen erhal-

24   Die fast Neunzigjährige hatte ihn ausdrücklich darum gebeten, s. Fr. von Quast an Bachmann, Berlin 16. Jan. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 25   Die Informationen, die ihm Frau von Quast in einem Brief vom 28. Dez. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (ohne Paginierung) zukommen ließ, konnte er nicht mehr verwenden, vgl. dazu unten 4.1. 26   Karl Hengstenberg scheint dann auch Vertrauen zu dem Biographen gefaßt zu haben; im Zuge der Entstehung der ersten Bände beantwortete er ihm noch viele Detailfragen; offensichtlich hat Bachmann ihn schließlich auch in Wetter aufgesucht, vgl. seine Briefe in: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. Ebd. finden sich auch zustimmende Voten anderer Familienangehöriger nach Erscheinen der Bände. 27   Vgl. Duntze, Berlin, 88 f. 28   Die Suche für einen Nachfolger übernahm wiederum der Neffe Hengstenbergs in Sonnewalde, der sich offenbar immer noch für das Werk verantwortlich fühlte, s. E.K.G. Hengstenberg an A. Schmalenbach, Sonnewalde, 12. Okt. 1888: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 29   Vgl. zu seiner Vita Rösche, Schmalenbach; Rahe, Schmalenbach, 149–152; er gilt als der theologische Kopf der Ravensberger Erweckungsbewegung (Ruhbach, Erweckungsbewegung, 173). 30   Im Falle der vom Kultusministerium verwahrten Personalakten war dies möglich. 31   Siehe dazu unten bei Anm.  50.

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ten.32 Es stand ihm somit ein reiches Material zur Verfügung, von dem er im Vorwort des ersten Bandes mustergültig Rechenschaft ablegt.33 Bachmann ließ daraus ein sehr detailliertes Bild nicht nur seines Hauptprotagonisten, sondern auch von dessen Zeit und Gefährten entstehen. Alleine dem ‚Hallischen Kirchenstreit‘ widmete er 107 Seiten in der Darstellung und 36 Seiten in den Beilagen – die bis heute ausführlichste und gediegenste Untersuchung zur Sache.34 Nicht zuletzt deshalb kam er in den ersten beiden umfangreichen Bänden nicht über die Mitte der 1830er Jahre hinaus. Schmalenbach konnte, was die Gründlichkeit und Ausführlichkeit anging, nicht an Bachmann anknüpfen. Der dritte Band, der von 1836 bis 1869 reicht und damit nicht nur einen sehr viel größeren, sondern auch einen überaus ereignisreichen Zeitraum abdeckt, kann sich in keiner Weise mit den Bachmannschen Bänden messen lassen. Schmalenbach orientierte sich in erster Linie an Hengstenbergs Vorworten und verschiedenen Aufsätzen in der EKZ. Weiteres Quellenmaterial berücksichtigte er nur noch am Rande.35 Lediglich in den letzten beiden Kapiteln verarbeitete er Material, das man nicht auch anderswo finden könnte.36 Was die politisch und kirchenpolitsch wichtigen 40er Jahre angeht, stehen die mei­ sten Darstellungen in ihrem Urteil über Hengstenberg nicht zuletzt deshalb auf ausgesprochen schwachen Beinen. In der vorliegenden Untersuchung wurde vor allem auf die Bachmannschen Bände zurückgegriffen, und zwar in dem Sinne, daß sie als Quelle für die verschollenen Quellen ausgewertet wurden. Die Darstellung selbst, auch die der Frühzeit Hengstenbergs, beruht aber durchgängig auf eigener Quelleninterpretation.

Neben der Bachmann-Schmalenbachschen Biographie gibt es nur noch kleinere unselb­ständig erschienene Beiträge, die Hengstenbergs Wirken umfassend zu beleuchten suchen. An erster Stelle sind die Würdigungen zu erwähnen, die entweder unmittelbar nach Hengstenbergs Tod oder 1902 zu seinem einhundertsten Geburtstag erschienen sind.37 Sie tragen sehr deutlich positionelles Gepräge und erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Diejenigen, die aus dem näheren Umfeld Hengstenbergs stammen, bewahren zum Teil mündliche Überlieferung auf, die andernorts nicht zu finden ist.38 Sie sind daher in erster Linie als Quellen zu behandeln. Gleichwohl soll unter ihnen eine Darstellung hervorgehoben werden. Das mit Abstand gelungenste Bild zeichnete 1869 der Leipziger Dogmatiker August Kahnis in seinem Nachruf in der ‚Allgemei32   Sie sind heute in Bachmanns Nachlaß verwahrt und wurden für die vorliegende Darstellung ausgewertet. 33   Bachmann 1, IX–XIII. 34   Bachmann 2, 177–283 und Beilagen, 20–56. 35   Bachmanns Witwe hatte ihm hierfür die Materialien ihres Mannes zur Verfügung gestelllt, die anschließend nach Rostock zurückgingen, vgl. A. Bachmann, geb Strömer an Schmalenbach, Rostock 15. Nov. 1888: Archiv der Kirchengemeinde Mennighüffen (Löhne), Nl Schmalenbach, Nr.  295. 36   Dabei handelt es sich vor allem um die Aufzeichnungen von Anna Piper (s. oben Anm.  23). 37   Letztere finden sich in der Hengstenberg gewidmeten Ausgabe EKZ N.F. 76 (1902), bes. Nr.  42. 38   Wölbling, Leichenpredigt; Ders., Gedächtniß; Büchsel, Ansprache; Koenig, Hengstenbergs Leben; Müller, Hengstenberg; Schmieder, Hengstenberg; Tauscher, Eben Ezer; Ders., Erinnerungen.

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nen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung‘.39 Kahnis gehörte auch zur konservativen Richtung, allerdings nicht zum näheren Umfeld Hengstenbergs. Ihm gelang es, ein umfassendes, kritisches und zugleich empathisches Bild von Hengstenberg zu zeichnen, das in vielen Punkten nach wie vor unüberholt ist. Viele Einseitigkeiten und Fehlurteile in jüngeren Darstellungen hätten vermieden werden könnten, wenn man die Darstellung Kahnis’ berücksichtigt hätte. Auf die verschiedenen Lexikonartikel, in denen Hengstenbergs Leben und Wirken dargestellt wird, muß hier nicht eingegangen werden, da sie keine eigenständigen Forschungsbeiträge liefern oder von Autoren verfaßt wurden, die ihre Sicht andernorts ausführlicher dargelegt haben.40 Aus jüngerer Zeit sind aber zwei weitere Darstellungen erwähnenswert. Die eine stammt von Friedrich Weichert und wurde in dem Sammelband ‚Berlinische Lebensbilder‘ veröffentlicht.41 Weichert bietet eine ausgewogene Darstellung, deren Proprium es ist, daß sie Hengstenbergs Stellung als Herausgeber in der Auseinandersetzung mit den staatlichen Behörden besondere Aufmerksamkeit zukommen läßt. Die andere Darstellung jüngeren Datums wurde bisher kaum wahrgenommen, da sie sich in einer Arbeit über den Hengstenbergschüler Hävernick verbirgt. Die von Karsten Ernst verfaßte Studie mit dem etwas nebulösen und Tholuck entlehnten Titel „Auferstehungsmorgen“ widmet sich nicht nur dem kurzen Leben des Alttestamentlers Hävernick, sondern mindestens ebenso ausführlich der Geschichte und vor allem der Vorgeschichte der deutschen Erweckungsbewegung sowie der Rolle, welche die EKZ innerhalb der Er­ weckungsbewegung spielte.42 Darüber hinaus bietet sie einen gründlichen Überblick über die Theologie und die kirchliche Stellung von Hävernicks Lehrer Hengstenberg.43 Insbesondere die Haltung Hengstenbergs zu den Themenbereichen Union und Bekenntnis wird genau und kenntnisreich beschrieben.44 Ernsts Ausführungen stellen den einzigen eigenständigen Forschungsbeitrag

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  Kahnis, Gedächtniß.   Von den ausführlicheren Artikeln seien erwähnt: Bachmann, RE3 7; Ranke, ADB 11; der anonyme Artikel im Kirchlichen Handlexikon 3 sowie Mehlhausen, TRE 15. Aufmerksamkeit verdient der Artikel in der 11. Aufl. der Encyclopaedia Britannica, Bd.  13, da er eine vollständige Übersicht nicht nur über die deutschen, sondern auch über die auf englisch erschienenen Werke Hengstenbergs bietet. 41   Weichert, Hengstenberg; verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die kurze Darstellung der EKZ in: Weichert, Kirchenpresse, 418–421. – In den ‚Westfälischen Lebensbildern‘ hat 1934 Wilhelm Zoellner ein Hengstenbergporträt veröffentlicht. Zoellner stützt sich auf die Bachmannsche Darstellung und legt – aus zeitgeschichtlich verständlichen Gründen – den Schwerpunkt auf Hengstenbergs Haltung zum Verhältnis von Kirche und Staat (Zoellner, Hengstenberg). 42   Ernst, Auferstehungsmorgen, 95–165. 43   Ebd., 168–195. 44   Hier lehnt Ernst zu Recht die Wulfmeyersche These von Hengstenberg als einem „Konfessionalisten“ ab, siehe dazu unten bei Anm.  53. 40

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aus jüngerer Zeit dar, der sich zum Ziel setzt, ein Gesamtbild von Hengstenberg zu entwerfen. Eine eigene Gattung innerhalb der Gruppe der Gesamtdarstellungen bilden die Hengstenbergabschnitte in den einschlägigen Darstellungen der Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Die ältesten stammen aus den 1850er Jahren.45 Es dürfte kaum eine Epoche geben, in der die Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung ihre eigene Gegenwart so exzessiv kommentiert und analysiert hat.46 Die Darstellungen sind daher durchweg positionell. Sie bieten teilweise erhellende Einsichten und geben Auskunft über das zeitgenössische Hengstenbergbild, abgesehen davon sind sie aber vor allem im Blick auf ihre Verfasser aufschlußreich und in dieser Hinsicht selbst als Objekt der Theologiegeschichtsschreibung zu betrachten. Von den neueren theologiegeschichtlichen Darstellungen ist lediglich diejenige von Hirsch erwähnenswert.47 Hirsch hat Hengstenberg unter der Überschrift „Neupietismus“ zwei Abschnitte gewidmet, in der er Hengstenberg als wirkungsmächtigen Typus darstellt.48 Seine Quellenbasis ist zwar schmal, gleichwohl bietet er eine originelle, im großen und ganzen zuverlässige und auf jeden Fall nach wie vor lesenswerte Darstellung des Theologen Hengstenberg.49 Auf der Schwelle zu den Arbeiten, die Hengstenbergs Wirken unter einem bestimmten Aspekt darstellen, steht die Darstellung von Max Lenz in der ‚Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin‘50. 45   Kahnis, Protestantismus, 208–212; Schwarz, Theologie1, 65–98. – Hundeshagen, Protestantismus, ist etwas älter (1. Aufl. von 1846), aber geht in seinem kurzen Abschnitt über die „theologisch-kirchliche Reaction“ (ebd., 282–296) nicht speziell auf Hengstenberg ein. Lesenswert ist ferner die Darstellung des Neanderschülers Schaff, Germany, 300–319; in etwas späterer Zeit wird Hengstenberg thematisiert bei Jörg, Geschichte, 22–26; Baur, Kirchengeschichte, 420–430, Nippold, Handbuch, 327–337; Hase, Kirchengeschichte, 400–415; Frank, Theologie, 441–451 Kähler, Geschichte, 148–152; Seeberg, Kirche, 142– 147, um nur einige der einflußreichsten Darstellungen zu nennen. 46   Eine Untersuchung zu der Funktion der Theologiegeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert steht noch aus; Ansätze bietet Nüssel, Theologiegeschichte, 204–212. 47   Hirsch, Geschichte 5, 118–130. – Zu den anderen ist zu sagen: Stephan / Schmidt, Geschichte, 166–171 reproduziert nur Bekanntes; Elert, Kampf, 87–93.229 f. erfaßt zwar Hengstenbergs Grundintention einigermaßen zutreffend, seine Quellenkenntnis ist aber verschwindend gering und seine Interpretation daher im einzelnen voller Fehlurteile. 48   Hirsch, Geschichte 5, 120–122. 49   Selbstverständlich wird Hengstenberg auch in fast allen neueren kirchen- und allgemeinhistorischen Überblicksdarstellungen zum 19. Jahrhundert erwähnt. Eigenes Profil lassen dabei lediglich die Darstellungen zur preußischen Kirchengeschichte erkennnen, v. a. Wendland, Kirchengeschichte, 215–237; Loock, Kirche, 412–417 – eigene Forschungsbeiträge bieten sie aber nicht, der Überblick von Loock weist zudem zahlreiche Fehler auf, was Hengstenbergs Biographie angeht; nur als Negativfolie erscheint Hengstenberg bei Friedrich, Eichhorn. 50   Lenz, Geschichte 2/1, 327–337.

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Lenz beschreibt nicht nur Hengstenbergs akademische Wirksamkeit, sondern zugleich seinen Werdegang und seine kirchenpolitische Stellung. Er greift dafür vor allem auf die Bachmann-Schmalenbachsche Biographie zurück, verwendet sie aber äußerst selektiv und interessengeleitet. Aus eigenem Quellenstudium kennt er die Akten des Kultusministeriums und der Universität. Doch selbst hier ist seine Darstellung nicht durchgängig zuverlässig und vor allem tendenziös.51 Lenz ordnete sein Material einem fertigen Hengstenbergbild zu: Demzufolge war Hengstenberg wie überhaupt die ganze konservative Richtung wissenschaftlich impotent; sein Einfluß und sein Ruf beruhten ausschließlich auf einem ausgeprägten Machtinstinkt und dem skrupellosen Umgang mit Andersdenkenden. Lenz knüpfte damit nahtlos an das Hengstenbergbild der liberalen Theologiegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts an. Seine Darstellung ist alles andere als ein Muster sachlicher Historiographie. Gleichwohl haben sie viele spätere Autoren unkritisch abgeschrieben.52

Die Arbeiten, die Hengstenbergs Wirken nur unter einem bestimmten Aspekt beleuchten, zerfallen wiederum in zwei Gruppen. Die einen untersuchen Hengstenbergs kirchenpolitisches Engangement und seine Stellung in und zu der Kirche, die anderen analysieren seine Arbeiten zum Alten Testament. Hengstenbergs kirchliche Ansichten werden am ausführlichsten in der bei Hans-Joachim Schoeps in Erlangen entstandenen Dissertation von Hans Wulfmeyer aus dem Jahr 1970 untersucht, die den Titel „Ernst Wilhelm Hengstenberg als Konfessionalist“ trägt.53 Der Titel der Arbeit bildet zugleich ihre Hauptthese: Es soll erwiesen werden, daß Hengstenberg „[v]on Anfang an“ (294) Konfessionalist war. Darunter scheint Wulfmeyer zu verstehen, daß der Herausgeber der EKZ von 1827 an „die Richtung auf das ‚Grundbekenntnis der lutherischen Reformation‘ zum Christusevangelium“ (294) genommen habe. Die schwammige Formulierung ist kennzeichnend dafür, daß die Arbeit trotz ihres Titels den Konfessionalismusbegriff nicht näher präzisiert. Auch auf das Verhältnis zu anderen konfessionellen Theologen und theologischen Konzeptionen wird nicht eingegangen. Stattdessen setzt sie sich zum Ziel, „Hengstenberg ganz im Zusammenhang der preußischen Kirchenpolitik zu sehen“ (293). Sie bietet daher einen Durchgang durch vierzig Jahre preußischer Kirchengeschichte und ordnet den einzelnen kirchengeschichtlichen Ereignissen die ausführlich zitierten und kaum kritisch analysierten Stellungnahmen Hengstenbergs, überwiegend aus den Vorworten der EKZ, zu. Wer keinen direkten Zugriff auf die EKZ hat, kann sich bei Wulfmeyer daher einigermaßen vollständig über die Themen und Thesen des ‚Vorwort-Hengstenberg‘ informieren. Schon dabei werden dem unbefangenen Leser Zweifel an der These der Arbeit kommen, da er viele Äußerungen Hengstenbergs entdecken wird, die gar nicht zu einem „Konfessionalisten“ passen. Wulfmeyer sieht das auch, daher wendet er einen 51

  Vgl. dazu unten 4.1 und 4.4.3.   Unter anderem Franz Schnabel in seiner einflußreichen ‚Deutschen Geschichte‘ (s. Schnabel, Geschichte 4, 382–388.485–492). Jüngstes Beispiel für eine ganz von der Lenzschen Sicht bestimmte Darstellung ist der Beitrag von Wilhelm Gräb in der 2010 erschienenen Universitätsgeschichte (Gräb, Theologie, 71–73). 53   Wulfmeyer, Hengstenberg – hierauf beziehen sich im Folgenden die Seitanangaben im Fließtext. 52

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Trick an: Alle Aussagen, die Hengstenbergs Treue zum lutherischen Bekenntnis stark machen, gelten ihm als authentische Äußerungen des Theologen Hengstenberg; alle Aussagen, die eine Hochschätzung anderer Konfessionen oder gar der Union erkennen lassen, werden dem Kirchenpolitiker Hengstenberg zugeordnet und als Zugeständnisse an die Umstände der Zeit minder wichtig genommen. – Die vorliegende Untersuchung wird (v. a. in Teil 3) erweisen, daß weder Wulfmeyers Vorgehen noch seine These von Hengstenberg als einem „Konfessionalisten“ haltbar ist. Ein grundsätzliches Problem von Wulfmeyers Arbeit besteht zudem darin, daß er den Theologen Hengstenberg gar nicht richtig in den Blick bekommt, weil er die Wirksamkeit Hengstenbergs als Professor völlig ausblendet.

Eine wesentlich zuverlässigere Analyse von Hengstenbergs Sicht der Kirche und seiner Stellung innerhalb der konfessionellen Theologie bietet Holsten Fagerberg in seiner Studie über ‚Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts‘.54 Fagerberg zufolge kann Hengstenberg selbst noch nicht als Vertreter der konfessionellen Theologie gelten, sondern trägt nur zu ihrer Ausbildung und Etablierung bei. Zwar ist Fagerbergs Quellenbasis schmal und sind einzelne Urteile nicht haltbar; weil er Heng­ stenberg aber im Kontext der konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts betrachtet, hat er einen guten Blick für die ihm eigentümliche Stellung.

Zwischen 1960 und 1979 sind nicht weniger als drei Monographien über den Exegeten Hengstenberg erschienen, die sich jedoch erstaunlicherweise gegenseitig so gut wie gar nicht berücksichtigen, obwohl sie alle aus der Feder von Amerikanern stammen.55 Davis untersucht in seiner bei Otto Weber in Göttingen entstandenen Dissertation Hengstenbergs Hermeneutik und vertritt die These, daß sich die Auslegung des Berliner Alttestamentlers in erster Linie durch das erstrebte Ziel, Erbauung für die Gegenwart zu bieten, auszeichne. Kritisch wird dazu vermerkt, daß dieses Anliegen in Spannung zur historischen Auslegung stehe und Gefahr laufe, den Bibeltext zu vereinnahmen. Davis legt seiner Untersuchung Hengstenbergs alttestamentliche Monographien 56 und ausgewählte Artikel aus der Kirchenzeitung zugrunde. Wie er die Auswahl der Artikel trifft, ist unklar; schwerer wiegt jedoch, daß er Hengstenberg Artikel unterschiebt, die nachweislich von Hävernick oder sogar von Scheibel stammen.57 Der systematische Zugang seiner Arbeit hat zur Konsequenz, daß er nicht nur frühe und späte Schriften Hengstenbergs, sondern 54

  Fagerberg, Bekennntnis, 35–49 und 82 f.   Davis, Hermeneutics (1960); Taylor, Old Testament (1966); Nafzger, Struggle (1979). Davis wird von den beiden anderen gar nicht zur Kenntnis genommen. Nafzger erwähnt Taylor zwar nebenbei (vgl. z. B. Nafzger, Struggle, 15, Anm.  2 ), doch setzt er sich nicht gründlich mit ihm auseinander. 56   Allerdings nicht alle, es fehlen: Hengstenberg, Ägypten; Ders., Bileam und Ders., Prediger; außerdem wird von der ‚Christologie‘ nur die überarbeitete 2. Auflage benutzt. 57   Z.B. Davis, Hermeneutics, 17, Anm.  1 (ein Artikel von Scheibel); 18, Anm.  1 und 2 (Artikel von Hävernick). 55

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auch sämtliche verschiedenen Gattungen auf eine Ebene stellt. Daß dabei kein kohärentes Bild entsteht, überrascht nicht. So gut wie ganz ausgeblendet werden der theologiegeschichtliche Kontext und die Diskurse, in denen Hengstenberg stand.

Im Unterschied zu Davis betrachtet Taylor in seiner an der Yale University eingereichten Dissertation Hengstenbergs Hermeneutik nur als einen Teil seiner exegetischen Arbeit insgesamt. Letztere untersucht er anhand von Hengstenbergs alttestamentlichen Hauptwerken. Allerdings greift er dabei nur auf deren englische Übersetzungen zurück.58 Von den zahlreichen EKZ-Artikeln, in denen Hengstenberg alttestamentliche Themen behandelt, wird nur ein einziger berücksichtigt. Daneben stützt Taylor sich überwiegend auf die Urteile der – spärlich vorhandenen – Sekundärliteratur.59 Er bietet gleichwohl ein aussagekräftigeres und aufs Ganze gesehen auch zutreffenderes Bild als Davis. Seine Arbeit ist zudem aufschlußreich in Hinblick auf die Rezeption Hengstenbergs im angelsächsischen Raum. Dennoch überzeugt ihre Gesamtperspektive nicht. Taylor geht von der unbelegten These aus, Hengstenbergs Ziel sei gewesen, die Auslegungsart der altprote­ stantischen Orthodoxie neu zu beleben60, und kommt schließlich zu dem wenig überraschenden Ergebnis, daß ihm das nicht gelungen sei.

Am überzeugendsten ist die letzte der drei Arbeiten, die an der Harvard Divinity School eingereichte Dissertation von Samuel H. Nafzger. Sie untersucht „Hengstenberg’s Understanding of Criticism“61, d. h. seine Auseinandersetzung mit dem theologischen Rationalismus und der historischen Kritik. Den Hintergrund bilden die Diskussionen über die Leistungsfähigkeit der historisch-kritischen Methode im 20. Jahrhundert. Analog zu Davis legt auch Nafzger sowohl die alttestamentlichen Monographien als auch die entsprechenden EKZ-Artikel Hengstenbergs zugrunde, jedoch trifft er die methodisch richtige Entscheidung, sich auf solche Artikel zu beschränken, die unumstritten Hengstenberg zuzuschreiben sind. Ein Defizit ist in diesem Zusammenhang, daß er die wichtige Arbeit von Kriege (s.u.) nicht kennt; auch darüber hinaus werden jüngere Hengstenbergdarstellungen kaum einbezogen. Hervorzuheben ist, daß Nafzger unterschiedliche Auflagen von Hengstenbergs Werken berücksichtigt, wie er überhaupt an einem möglichst differenzierten Bild von Hengstenbergs Arbeit interessiert ist. Im Gegensatz zu Taylor betont er, daß Hengstenberg nicht einfach die Schriftlehre der Orthodoxie habe wiederbeleben wollen, Hengstenberg habe vielmehr bewußt auf Methoden und Arbeitsweisen der historischen Kritik zurückgegriffen, sei dabei aber darum bemüht gewesen, die Schrift nicht der Vernunft unterzuordnen. Sein Interesse sei es gewesen, der destruktiven „Pseudokritik“ eine wahre, der Schrift angemessene Form historischer Kritik entgegenzustellen. Was 58   Die erste Auflage der ‚Christologie‘ ist in Taylors Bibliographie nur in der deutschen Version vertreten, sie wird darum auch nicht berücksichtigt; die neutestamentlichen Arbeiten Hengstenbergs hat Taylor von vornherein ausgeschlossen. 59   Das heißt vor allem auf die Überblicke über die Geschichte der alttestamentlichen Disziplin (Diestel, Geschichte; Kraus, Geschichte u. a.). 60   Darum stellte er (Taylor, Old Testament, 10–17) zunächst die Schriftlehre der Orthodoxie dar. In Anlehnung daran wird Hengstenberg eine enge Inspirationslehre zugeschrieben, für die es in Hengstenbergs Werk aber gar keinen Anhalt gibt, vgl. dazu unten 2.3.1.1. 61   So der Untertitel von Nafzger, Struggle.

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Hengstenbergs Verständnis der historischen Kritik und sein Verhältnis zum theologischen Rationalismus angeht, bringt die Arbeit von Nafzgar also neue und bedenkenswerte Gesichtspunkte ins Spiel.

Zu den drei genannten Monographien ist in jüngster Zeit die Untersuchung von Klaus Beckmann getreten, welche die Sicht des Alten Testaments und des Judentums aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Theologen des 19. Jahrhunderts beleuchtet und dabei auch Hengstenberg ein Kapitel widmet.62 Beckmann geht es im Unterschied zu den englischsprachigen Monographien, von denen er nur Davis’ Arbeit zu kennen scheint, nicht um Hengstenbergs Auslegungsmethode, sondern um die Bedeutung, die der Berliner Alttestamentler dem Alten Testament und dem Judentum für das christliche Selbstverständnis zumißt. Dabei entsteht ein methodisches Problem. Außer Hengstenberg werden in der Studie nämlich nur Nicht-Alttestamentler (Schleiermacher, C.I. Nitzsch, A. Neander, D.F. Strauß, J.Ch.K. v. Hofmann) untersucht (vgl. 25 f.), deshalb wird auch der Altte­stamentler Hengstenberg a priori auf seine publizistische und kirchenpolitische Tätigkeit reduziert (27, Anm. 52). Glücklicherweise hält Beckmann diese methodische Einschränkung nicht streng durch,63 und so bietet der kurze Abschnitt über Hengstenbergs exegetischen Umgang mit dem Alten Testament einige wichtige Einsichten (244–248). Beckmanns Schwerpunkt liegt jedoch auf der „politischen Bedeutung“, die dem Alten Testament seiner Ansicht nach für Hengstenbergs Denken zukommt. Die Überlegungen gehen von der verbreiteten These aus, daß Hengstenberg seine Theologie in den Dienst einer politischen Ideologie gestellt habe (s. v. a. 249.269). Leider wird die These mehr vorausgesetzt als begründet, das Ergebnis ist somit bereits im Ansatz enthalten. Dennoch kommt Beckmann das Verdienst zu, darauf hingewiesen zu haben, daß man den Alttestamentler Hengstenberg nicht isoliert wahrnehmen darf, sondern ihn im Rahmen der theologischen und politischen Diskussionen seiner Zeit betrachten muß. Was Beckmann zu Hengstenbergs Ansichten über das Judentum schreibt, bleibt hingegen an der Oberfläche und bringt Hengstenbergs spezielle Sichtweise nur unscharf in den Blick – in erster Linie deshalb, weil ihm die zentralen Quellen entgangen sind.64

Was die Arbeiten betrifft, die Hengstenberg im Kontext der Evangelischen Kirchenzeitung betrachten, sind vor allem drei Monographien zu nennen. Die erste ist mit Abstand die wichtigste, Anneliese Krieges Untersuchung über die „Geschichte der Evangelischen Kirchen-Zeitung unter der Redaktion Ernst-Wil62   Beckmann, Wurzel, 239–270 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Text. 63   Er muß selbstverständlich auch auf exegetische Werke und Zeitschriftenartikel zurückgreifen. 64   Hengstenberg hat 1857 und 1867 umfangreiche Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und christlicher Kirche sowie zur Zukunft des jüdischen Volkes in der EKZ veröffentlicht (s. unten im Literaturverzeichnis); Beckmann erwähnt sie mit keinem Wort und greift für seine Darstellung lediglich auf Hengstenbergs ‚Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde‘ zurück. Der erste Aufsatz wurde auch separat veröffentlich, allerdings gemeinsam mit einem Aufsatz zum Thema ‚Opfer‘, daher wird man auf ihn nicht so leicht aufmerksam (s. Hengstenberg, Opfer).

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helm Hengstenbergs“65. Die in der Regel nur in einer schlecht lesbaren Microfilmausgabe zugängliche Dissertation, die Impulse von Emanuel Hirsch aufnimmt, gehört neben der Biographie von Bachmann und Schmalenbach zu den unverzichtbaren Grundlagenwerken für jede Beschäftigung mit Hengstenberg und der EKZ.66 Kriege hat sich der Mühe unterzogen, anhand des Hengstenbergschen Redaktionsnachlasses (s. dazu unten) die anonymen Verfasser der Artikel in der EKZ so umfassend wie möglich zu identifizieren. Das Ergebnis hat sie im Anhang ihrer Dissertation, der (als Teil IV.) einen eigenen Band bildet, veröffentlicht. Neben dem Verfasserverzeichnis findet sich dort auch eine Übersicht über alle identifizierten Autoren. Selbstverständlich konnte Kriege nicht alle Verfasser identifizieren. Da sie sich hauptsächlich auf die Redaktionskorrespondenz stützte und andere Hinweise nur ab und zu einbezog, sind ihr auch einige identifizierbare Artikel, darunter nicht wenige von Hengstenberg selbst, entgangen. Auf der anderen Seite lassen sich auch nicht alle Identifizierungen halten.67 Doch solange man ihre Ergebnisse in kritischer Weise rezipiert, schmälert dies den Wert der Arbeit kaum. In minutiöser Kombinationsarbeit hat sie viel Licht in die Zusammensetzung des Mitarbeiterkreises der Zeitung gebracht. Darüber hinaus bietet sie in den teilweise mehrere Seiten umgreifenden Fußnoten viele Transkriptionen von Briefen aus dem Redaktionsnachlaß. Kriege gibt also ein Hilfsmittel an die Hand, mit dessen Hilfe sich der Kreis um Hengstenberg binnendifferenziert wahrnehmen läßt. Leider nutzt sie es selbst nicht. Sie stellt die Geschichte der EKZ dar und geht dabei den verschiedenen Auseinandersetzungen nach, an denen die Zeitung beteiligt war. Dabei wird das Organ aber als Einheit betrachtet, und die Stellungnahmen der unterschiedlichen Autoren werden ineinandergeblendet. Im Ergebnis entsteht daher eine interessante Milieuschilderung anhand eines publizistischen Organs. Zu selten geht Kriege aber auf die Differenzen und Spannungen ein, die innerhalb der Mitarbeiterschaft der EKZ existierten. Kriege hat, was in unserem Zusammenhang erwähnenswert ist, ihrer Untersuchung über die Kirchenzeitung einen umfangreichen Abschnitt über Hengstenbergs Werdegang bis zur Gründung der EKZ vorangestellt (6–35). Hier schöpft sie vor allem aus der Bachmann-Schmalenbachschen Biographie und folgt im Urteil vielfach Lenz. Der Abschnitt bietet daher wenig Neues. Wichtiger sind ihre Untersuchungen zum Kreis der Zeitungsgründer und ihrer ersten Mitarbeiter (35–79). Was die Darstellung der Haltung der Kirchenzeitung zu den verschiedensten Themen und Streitfragen des 19. Jahrhunderts angeht, so hat Kriege zwar eine ungeheure Materialfülle zusammengstellt, die Analysen sind aber häufig ungenau. So bietet das Werk Krieges unverzichtbare Vorarbeiten für eine genauere Untersuchung des konservativen Milieus, das durch die EKZ repräsentiert wird – Vorarbeiten, die bisher jedoch kaum weitergeführt worden sind. 65   Kriege, Kirchen-Zeitung – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 66   Arbeiten über die Geschichte der EKZ hatten zuvor Bachmann, Kirchen-Zeitung und Bonwetsch, Anfänge vorgelegt. Bachmanns bereits erwähnte Ausführungen gingen, teilweise wörtlich, teilweise überarbeitet und korrigiert, in die Hengstenbergbiographie ein und sind damit überholt; Bonwetsch stellte Äußerungen aus den ersten Jahren der EKZ aus dem Redaktionsnachlaß zusammen. 67   Vgl. zu einem prominenten Beispiel unten 2.2.1 EXKURS.

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In gewisser Weise an Kriege angeknüpft haben zwei Arbeiten über die EKZ, die beide 1972 erschienen sind. Die ebenfalls bei Hans-Joachim Schoeps in Erlangen und fast gleichzeitig mit der Arbeit von Wulfmeyer entstandene Dissertation von Wolfgang Kramer mit dem Titel „Ernst Wilhelm Hengstenberg, die Evangelische Kirchenzeitung und der theologische Rationalismus“ untersucht den „Kampf Hengstenbergs und der EKZ gegen den theologischen Rationalismus“68 . Der Titel ist jedoch mißverständlich, denn der theologische Rationalismus im strengen Sinne wird gar nicht behandelt; ebensowenig werden spätrationalistische Erscheinungen wie die ‚Lichtfreunde‘ einbezogen. Vielmehr wird in drei Kapiteln (II.–IV.) die Haltung der EKZ zu Schleiermacher, Hegel und seiner Schule sowie zur Leben-Jesu-Forschung untersucht (vgl. ebd., IV f.). Dabei stellt Kramer die Sicht Hengstenbergs in der Regel getrennt von den anderen Autoren der EKZ dar; außerdem wird das Verhältnis Heng­ stenbergs zu ihm nahestehenden Theologen, etwa zu Tholuck und Neander, beleuchtet. Insofern ist die Studie differenzierter als die Arbeit von Kriege. Die Tatsache, daß die Abschnitte über Hengstenberg nicht sonderlich ausführlich sind, entspricht dem Befund, daß sich Hengstenberg mit dem „Rationalismus“ und dem Hegelianismus selbst gar nicht so intensiv auseinandergesetzt hat, wie gemeinhin angenommen wird. Nur das Verhältnis zu Schleiermacher nimmt, zu Recht, eine bedeutende Stellung ein. Ähnlich wie Wulfmeyer zitiert Kramer sehr ausführlich aus den benutzten Quellen. Er behandelt das Material insgesamt umsichtiger als ersterer, dennoch finden sich auch bei ihm kaum eingehende Textanalysen. Die Untersuchung kommt zu dem wenig überraschenden Ergebnis, daß die Stelllung Hengstenbergs und der EKZ „zum theologischen Rationalismus im weitesten Sinne [...] wesentlich differenzierter ist als es sich in der Forschung bisher darstellte“ (297). Im Blick auf Hengstenberg wird behauptet, daß „der Kampf gegen den Rationalismus [...] die Konstante im theologischen und geistigen Wirken dieses ‚Sprechers‘ der Kirche bildete“ (300). Was bei Wulfmeyer als kirchenpolitisches Motiv und als Nebensache eingeschätzt wird, übernimmt bei Kramer nun die zentrale Stellung. Doch Kramers Arbeit belegt diese Sicht ebensowenig wie Wulfmeyer die seine, vielmehr handelt es sich hier wie dort um eine petitio principii: Der Fokus, den die Untersuchung wählt, prädisponiert das Ergebnis. Die überragende Bedeutung des „Rationalismus“ für Hengstenbergs Denken kann Kramer nur auf die Weise behaupten, daß er dessen Position im Kontext der EKZ nivelliert. Überdies muß Kramers Intention, „den Theologen“ (II) Hengstenberg in den Blick zu nehmen, allein schon daran scheitern, daß er dessen theologisches Werk im strengen Sinne gar nicht berücksichtigt, sondern nur auf die Beiträge in der EKZ zurückgreift. Im Verhältnis zum theologischen Rationalismus fehlt darum die Perspektive, die Nafzger behandelt. Gleichwohl bietet die Arbeit eine gute Übersicht über die vielfältigen geistigen Auseinandersetzungen, in denen sich die EKZ betätigte.

Sehr viel stärker als Milieustudie gibt sich die an der Univerity of Oregon eingereichte hi­storische Dissertation von Marshall K. Christensen: „Ernst Wilhelm Hengstenberg and the Kirchenzeitung Faction. Throne and Altar in nineteenth century” zu erkennen. 68

  Kramer, Hengstenberg, IV – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext.

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Zwischen den einzelnen Autoren der EKZ wird kaum differenziert. Trotz einiger überzeugender Einzelurteile bleibt die Untersuchung sehr an der Oberfläche. Hengstenberg kommt nur als einer unter vielen vor. E.L. von Gerlach, F.J. Stahl, H. Leo und andere werden ebenso häufig zitiert. Methodisch problematisch ist, daß Christensen für Stahl und Gerlach auch Beiträge aus der „Kreuzzeitung“ und Reden aus ihrer politischen Tätigkeit heranzieht. Dadurch gerät der Untersuchungsgegenstand aus dem Blick; das spezifische Profil der „Kirchenzeitung faction“ im Unterschied zur „Kreuzzeitungspartei“ kann gar nicht hervortreten. Daß Christensen der sozialgeschichtlichen Perspektive mehr Raum einräumt als die bisher genannten Autoren, ist positiv zu würden; jedoch ist er zu fixiert auf die politische Betrachtung des Kreises um die EKZ, und so kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß die Tatsache, daß die „Kirchenzeitung faction“ auf lange Sicht keine „politically viable force“ (192) wurde, im Charakter der EKZ begründet liegen könnte. Die theologischen und religiösen Aspekte bleiben völlig unterbelichtet. Dazu treten viele Fehlinterpretationen. Was Christensen speziell zu Hengstenberg schreibt, hat er im besten Fall aus Bachmann, nicht selten aber aus zweiter und dritter Hand geschöpft (vgl. v. a. 16–29).

Zuletzt wurde die soziale und politische Rolle der EKZ an versteckter Stelle, nämlich in der von Katharina Dang 1990 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation mit dem unverkennbar zeitbedingten Titel „Sozialer Kampf und Predigt insbesondere im Spiegel der Evangelischen Kirchenzeitung (1827–1848/49) und von Predigten der Ber­liner Hofprediger“ behandelt.69 Dang konzentriert sich dabei ganz auf die politische Funktion der EKZ, insbesondere 1848 und in den Folgejahren. Sehr viel differenzierter als Christensen arbeitet sie das spezifische Profil der EKZ heraus; zudem hat sie neue Quellen erschlossen, die einen Blick auf die Diskussionen unter den Vordenkern der EKZ im Revolutionsjahr erlauben. Zu Recht betont sie die Rolle Ger­lachs. Hengstenberg selbst kommt nur im Rahmen seiner Herausgebertätigkeit vor. Dang behandelt also nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirksamkeit Hengstenbergs, den aber gründlich. Zu Unrecht wurde die Arbeit bisher meist übersehen.70

Überblickt man die bisherige Hengstenbergliteratur, tritt vor allem ein Aspekt in den Vordergrund: In der Regel wird jeweils eine Seite Hengstenbergs – die des Kirchenpolitikers oder die des Theologen und Alttestamentlers – isoliert und völlig unabhängig von der anderen Seite betrachtet. Nicht wenige Fehlurteile beruhen auf einer solchen verengten Per­spektive. Besonders beliebt ist die Variante, Hengstenberg als Verkörperung des Kreises um die EKZ zu betrachten. Dabei wird entweder alles als Hengstenbergs Meinung ausgegeben, was in der EKZ geschrieben wurde, oder man beschränkt sich auf den ‚Vorwort-

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  Vgl. zu der durch den historischen Kontext bedingten Fragestellung ebd., 1–8.   Die kurze und ähnlich ausgerichtete, aber viel oberflächlichere und tendenziöse Darstellung von Gabriel, Fortschritt wird hingegen zu Unrecht häufig berücksichtigt. Sie bietet keinen eigenständigen Forschungsbeitrag. 70

Zu dieser Arbeit und ihren Quellen

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Hengstenberg‘. In beiden Fällen erhält man bestenfalls eine Facette von Heng­ stenbergs geistiger Welt. Die einseitige Betrachtung schlägt sich auch in der Auswertung der ungedruckten Quellen nieder. Kriege, Wulfmeyer, Kramer, Christensen und andere haben nur den Redaktionsnachlaß in ihre Betrachtung einbezogen, Lenz hingegen nur die Akten der Universität Berlin und des Kultusministeriums. Nur Bachmann und – mit Einschränkungen – Schmalenbach griffen noch auf den ganzen Umfang der zur Verfügung stehenden Archivalien zurück. In der vorliegenden Darstellung soll die verengte Betrachtung aufgebrochen werden.71 Darauf ist nun näher einzugehen.

Zu dieser Arbeit und ihren Quellen Der Überblick über die Literatur führt zu zwei methodischen Grundentscheidungen, die für die vorliegende Arbeit leitend sind: Erstens darf man sich nicht nur auf eine Seite von Hengstenbergs Wirken beschränken. Die isolierte Betrachtung entweder des Herausgebers und Kirchenmannes oder des Theo­logieprofessors führt zu einer künstlichen Abstraktion und verstellt den Blick für die Zusammenhänge, die zwischen beiden Seiten selbstverständlich existierten.72 Das hat Konsequenzen für die Auswahl der Quellen. In der vorliegenden Untersuchung werden Quellen aus allen Wirkungsbereichen Hengstenbergs möglichst umfassend herangezogen: Sowohl seine exegetischen Werke als auch seine Beiträge zur Kirchenzeitung werden berücksichtigt. Was das handschriftliche Ma­terial angeht, werden sowohl der Redaktionsnachlaß als auch die Aktenbestände der Universität Berlin sowie der preußischen Verwaltung benutzt. Die parallele Auswertung der Quellen klärt nicht nur viele bisher offene historische Einzelfragen, sondern führte auch zu einer neuen Gesamtperspektive. Die zweite Grundentscheidung besteht darin, daß Hengstenberg nur solche Aussagen zugeschrieben werden, die tatsächlich von ihm stammen. Das scheint selbstverständlich zu sein. Jedoch wird diese Grundregel historischer Forschung im Blick auf Hengstenberg vielfach sistiert. Das hat einen ganz einfachen praktischen Grund: Die EKZ verfolgte das Anonymitätsprinzip, d. h. die meisten Artikel sind nicht namentlich gekennzeichnet.73 Man behilft sich darum häufig 71

  Dabei werden zahlreiche Angaben aus der genannten Literatur revidiert oder korrigiert; es wird aber darauf verzichtet, jeweils alle falschen Angaben aufzulisten, lediglich die typischen und besonders gravierenden Fehlinterpretationen werden an den entsprechenden Stellen erwähnt. 72   Darauf hat schon Zöckler in seinem Jubiläumsbeitrag von 1902 hingewiesen (Ders., Hengstenberg, Sp.  985). 73   Aus Gründen, auf die unten unter 4.2 eingegangen werden wird.

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mit der Aussage: Was der Herausgeber unkommentiert aufgenommen habe, müsse auch seine Meinung widergeben. Dabei stützt man sich auf die Beobachtung, daß sich Hengstenberg in Anmerkungen bisweilen ausführlich von Artikeln di­stanzierte. Allerdings ist der Umkehrschluß nicht zulässig. Hengstenberg hat sich immer wieder dagegen gewehrt, „daß man ihn nach der beliebten Manier“ mit einzelnen Autoren „in eine Person verschmelze“74. Doch ganz davon abgesehen, kann die Tatsache, daß Hengstenberg eine Position in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der EKZ sah, für die historische Forschung nicht leitend sein. Denn zum einen legte Hengstenberg dabei ein ganz bestimmtes Konzept von Übereinstimmung zugrunde, nämlich die Übereinstimmung in den von ihm sogenannten Grundfragen; zum anderen muß man damit rechnen, daß er Positionen für übereinstimmend hielt, die es aus kritischer Sicht nicht sind. Dazu kommt, daß davon auszugehen ist, daß Hengstenberg angesichts seiner Arbeitsbela­stung gar nicht alle Aufsätze bis ins Detail studiert hat.75 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich denn auch, daß die Perspektive der EKZ in vielen Fragen weniger homogen ist, als man gemeinhin annimmt.76 Das kann aber erst hervortreten, wenn man jeden Autor für sich, also auch Hengstenberg für sich betrachtet. Es geht somit nicht länger an, Hengstenberg Artikel in den Mund zu legen, für die nicht mit Gründen plausibel gemacht werden kann, daß sie von ihm stammen. Auch manches frei vagierende Hengstenbergwort wird auf diese Weise aufgegeben werden müssen.77 Die Konsequenz aus dieser Grundentscheidung ist allerdings, daß man sich dem mühsamen Geschäft der Identifizierung der Hengstenbergartikel unterziehen muß.78 Dafür hat Kriege wertvolle Vorarbeiten geleistet. Gleichwohl wur74   Hengstenberg, Anmerkung, EKZ 10 (1832), Sp.  168; vgl. auch Ders., Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  15, wo sich Hengstenberg darüber beschwert, daß man der Redaktion „überhaupt zu voreilig alle Mängel der Ev. K. Z. zur Last legt, welche zum Theil grade von ihr am Tiefsten empfunden werden“. Daß sich Hengstenberg im Sinne des Presserechtes vor alle Autoren stellte (s. dazu unten 4.2), ist eine andere Sache. 75   Er gestand dies in späterer Zeit gegenüber Studenten ein, vgl. Sternberg, Erinnerungen, Sp.  8. 76   Siehe dazu auch unten 4.4.2. 77   Ein Beispiel hierfür ist die Aussage, daß jeder christliche Glaubenssatz unvernünftig sei, nicht an sich, aber unserer Vernunft, weil sie durch den Fall selbst unvernünftig geworden sei. Sie wurde in der Regel aus Hirschs Darstellung (Geschichte 5, 214) abgeschrieben (z. B. von Loock, Kirche, 417), obwohl Hirsch selbst nur sagt, daß Hengstenberg den Satz habe „drucken“ lassen. Allerdings bringt schon Hirsch die Aussage anschließend als Voraussetzung für Hengstenbergs Denken in Anschlag. Der Satz stammt aus einem Aufsatz gegen D. F. Strauß, der wahrscheinlich von Adolf von Harleß stammt: EKZ 18 (1836), Sp.  382– 396.401–403, Nr.  48–51 (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 34). 78   Im Unterschied zu anderen Autoren, z. B. E.L. von Gerlach oder Göschel, hat Hengstenberg seine Artikel nie selbst aufgelistet. Gerlach hat eine – gleichwohl kritisch zu beleuchtende – Liste seiner Artikel an Bachmann geschickt, s. E.L. v. Gerlach an Bachmann, Berlin 19. Jan. 1876: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (ohne Paginierung) – die Aufstellung stimmt nicht ganz mit der bei Kraus, Gerlach im Literatuverzeichnis ge-

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den für die vorliegende Untersuchung noch einmal alle Jahrgänge der EKZ von 1827 bis 1869 auf Artikel Hengstenbergs hin durchgesehen. Dadurch konnte die Zahl der Artikel, die Hengstenberg zugeschrieben werden müssen, insgesamt vergrößert werden.79 Eine Übersicht findet sich im Literaturverzeichnis. Zur Identifizierung wurden verschiedene Kriterien verwendet. Eines der wichtigsten, die Analyse des Schreibstils, brachte Hengstenbergs Dorpater Kollege J.H. Kurtz schon 1858 auf den Punkt: „Hengstenbergs Denk- und Schreibweise ist so markirt und charakteristisch, dass ich mich anheischig machen möchte, auch wenn er nur eine Seite schreibt, sie sofort als seines Geistes Kind zu erkennen.“80 Daneben geben häufig Querverweise zwischen verschiedenen Artikeln oder Parallelen zu Hengstenbergs Vorworten oder zu seinen exegetischen Werken Aufschluß. Hinzu treten externe Verweise, wie sie beispielsweise der Redaktionsnachlaß bietet. In einigen Fällen, besonders bei sehr kurzen Artikeln und Mitteilungen, die nicht die von Kurtz beanspruchte Länge von einer Seite einnehmen, bleiben trotz hoher Wahrscheinlichkeit Zweifel. Sie wurden im Literaturverzeichnis (mit *) gekennzeichnet. Überdies sei nicht verschwiegen, daß natürlich nicht mit letzter Sicherheit gewährleistet werden kann, daß tatsächlich alle Hengstenbergartikel gefunden wurden – wie überhaupt die hier vorgelegten Zuschreibungen der weiteren Forschung zur Überprüfung anheimgestellt sind.81 Da die EKZ 82 als eine bedeutende Quelle im folgenden häufig erwähnt werden wird, sei an dieser Stelle auf einige äußere Charakteristika hingewiesen: Die Evangelische Kirchenzeitung erschien zweimal wöchentlich, jeweils mittwochs und samstags. Eine Ausgabe bestand in der Regel aus vier Quartseiten mit acht Spalten. Ihre Beiträge ordneten sich drei Sparten zu: Aufsätze, Rezensionen und Nachrichten. Längere Aufsätze wurden auf mehrere Ausgaben verteilt. Hatte Hengstenberg viel druckfertiges Material in petto, konnte er eine Ausgabe um eine vierseitige Beilage erweitern. Jede Ausgabe trug eine Nummer und das Datum. Eine Besonderheit besteht in der Jahrgangsbezeichnung. botenen überein. Göschel hat selbst eine Liste seiner Publikationen bis 1852 veröffentlicht, vgl. Haubold, Göschel, 156. 79   Insgesamt 132 Artikel, dazu kommen ausführliche Vorworte in 41 Jahrgängen. 80   Kurtz, Söhne Gottes, VI, Anm.*; Keil bietet ebd. auch eine kurze Charakterisierung des Stils. 81   Es wurde darauf verzichtet, alle Autoren von EKZ-Aufsätzen in den Fußnoten in eckige Klammern zu setzen. Wenn Artikel mit Namen angegeben werden, dann beruht dies auf bewußter Zuschreibung, deren Gründe allerdings nicht in jedem Einzelfall aufgelistet werden können. In der Regel hilft ein Blick in Krieges Aufstellung oder in die Spezialliteratur zu den betreffenden Personen weiter. 82   Die Evangelische Kirchenzeitung wird in dieser Arbeit so abgekürzt, wie es sich in den modernen Abkürzungsverzeichnissen eingebürgert hat und wie es teilweise auch im 19. Jahrhundert üblich war: EKZ. Hengstenberg selbst hat immer die Abkürzung „Ev. K.Z.“ verwendet. Auch bei dem ausgeschriebenen Titel wird die heute übliche und nicht die ursprüngliche Form: „Evangelische Kirchen-Zeitung“ gewählt.

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Einleitung

Da der erste Jahrgang im Juli 1827 eröffnet wurde, wurden auch alle folgenden Jahrgänge halbjährig durchnumeriert. Jeder Jahrgang hat also zwei Nummern. Im folgenden wird aus der EKZ immer unter Angabe dieser Halbjahrgangsnummer, der Jahreszahl und der Spalte zitiert. Wird auf ganze Artikel verwiesen, werden zudem die Nummern der Ausgaben angefügt.83 Hengstenbergs häufig als „Thronreden“ bezeichnete Vorworte, die zu Beginn jedes Kalenderjahres gedruckt wurden, umfaßten nicht selten mehr als 40 oder auch 50 Spalten, das ausführlichste nimmt 96 Spalten ein84. Das hieß praktisch, daß regelmäßig alle Januarausgaben nur mit dem Vorwort gefüllt waren. Bei der Lektüre der Vorworte, aber auch bei allen anderen längeren Aufsätzen, muß man sich klarmachen, daß die teilweise weitläufig argumentierenden Ausführungen in der EKZ ursprünglich nicht am Stück gelesen werden konnten; man war – im Unterschied zu den späteren Lesern – gezwungen, mitunter mitten im Spannungsbogen abzubrechen und auf die neue Ausgabe zu warten. Im Zusammenhang der für die vorliegende Arbeit maßgeblichen Quellen ist noch einmal auf die erste Grundentscheidung zurückzukommen, daß Quellen aus allen Bereichen von Hengstenbergs Wirksamkeit herangezogen werden sollen. Was heißt das für das handschriftliche Material? Wie bereits erwähnt, muß ein großer Teil des Briefmaterials als verschollen gelten,85 kann aber teilweise aus Bachmanns Biographiebänden rekonstruiert werden. Eine Fundgrube für zeitgenössische Informationen über Hengstenberg und seine Beziehungen bietet zudem der bislang in keiner Arbeit herangezogene Nachlaß des Biographen Bachmann, der in der Universitätsbibliothek in Rostock verwahrt wird. Darüber hinaus konnten weitere – teilweise bekannte, teilweise unbekannte – Hengstenbergbriefe in den verschiedensten Archiven ausfindig gemacht werden.86 Allerdings kam dabei ein weiterer Quellenverlust 83   Daraus kann man ableiten, über welchen Zeitraum sich das Erscheinen erstreckt hat. Aus den Nummern läßt sich mittels Teilung durch zwei zudem leicht die Kalenderwoche errechnen, in der der betreffende Artikel erschienen ist. 84   EKZ 72 (1863), Sp.  1–96, Nr.  1–8. – Es gilt grob die Regel: Je älter Hengstenberg, desto länger das Vorwort. 85   Da der Familienzweig des hier behandelten Hengstenberg mit seiner Enkelin endet (s. u. Anm.  89), muß das vorhandene Briefmaterial über die Familien von Hengstenbergs Geschwistern oder die Verwandten seiner Frau weitervererbt worden sein. Recherchen im Zuge dieser Arbeit haben aber nichts zutage gebracht. Sehr wahrscheinlich haben die Schriftstücke die Weltkriege nicht überlebt. – Für hilfreiche Hinweise zur Rekonstruktion der Familienverhältnisse der weit verstreuten Sippe Hengstenberg danke ich Dr. Helmut Hengstenberg, der mir (gedruckte) Familiennachrichten aus dem Firmenarchiv der Firma Hengstenberg (Esslingen) zugänglich gemacht hat. Der Gründer der zunächst unter dem Namen „Hengstenberg Weinessig“ bekannt gewordenen Firma, Richard Alfried Hengstenberg, war übrigens ein Sohn von Hengstenbergs Cousin Wilhelm Hermann Alfried (gest. 1870). 86   Einzelne Hengstenbergbriefe finden sich auch verstreut in Briefausgaben seiner Korres­ pondenzpartner, am wichtigsten sind: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen; Kaiser, Rudelbach.

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ans Licht. Die Hengstenbergbriefe, die nach den Findemitteln im Erlanger Gerlacharchiv verwahrt werden und die teilweise bis Anfang der 1990er Jahre dort benutzt wurden, sind nicht mehr alle auffindbar. Immerhin gelang es, einige wichtige unter diesen aus dem Jahr 1848 in Kopie an anderer Stelle ausfindig zu machen.87 Außer dem Briefmaterial wurde auch die Aktenüberlieferung der preußischen Kultusverwaltung, die sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin befindet, und der Berliner Universität im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin ausgewertet. Zudem wurde der in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin verwahrte Redaktionsnachlaß herangezogen. Er trägt den mißverständlichen Titel „Nachlaß Hengstenberg“, umfaßt aber nur denjenigen Teil des Nachlasses, der Heng­ stenbergs Herausgebertätigkeit betrifft. Dementsprechend finden sich darin auch kaum Briefe Hengstenbergs, sondern vor allem diejenigen seiner Mitarbeiter sowie Leserzuschriften.88 Im Unterschied zu den privaten Briefen verblieb die Redaktionskorrespondenz aus der Zeit der Herausgebertätigkeit Hengstenbergs offenbar zunächst in seinem Privathaus. 1909 trat nämlich Therese Hengstenberg, Enkelin und letzter überlebender direkter Nachkomme Hengstenbergs,89 mit der Frage an den Generaldirektor der Königlichen Biblio­ thek, Adolf von Harnack, heran, ob er in seiner Bibliothek Platz für „die umfangreiche Korrespondenz meines Großvaters des Professors E.W. Hengstenberg in Betreff der von ihm begründeten und bis zu seinem Tod herausgegebenen Evang. Luth. Kirchenzeitung“90 habe. Sie wolle in ein engeres Quartier umziehen und könne die Korrespondenz nicht mitnehmen. Harnack reagierte zu87

  Dafür danke ich Pfarrerin Dr. Katharina Dang (Berlin), die Kopien jener Briefe besitzt. Sie wurden unten 4.3.2.1 verwendet und mit dem Vermerk „Kopie aus dem Gerlacharchiv“ versehen. – Möglicherweise sind die besagten Hengstenbergbriefe nur innerhalb des Gerlacharchivs verlegt worden. Für Hilfe bei der Suche danke ich dem Kustos des Archivs Dr. Helmut Klumpjan. 88   Der Nachlaß umfaßt 6964 Blatt und enthält ca. 6000 Briefe von 1790 unterschiedlichen individuellen Absendern, darüber hinaus Schreiben von Behörden, Institutionen u. a.; 47 Blatt stammen von Hengstenbergs Hand (vgl. Nl Hengstenberg, Findbuch und Graf, Spaltung, 186 f. mit Anm.  71); die Angaben bei Wulfmeyer, Hengstenberg, II; Ders., Nachlaß, 208 und Kramer, Hengstenberg, II sind überholt (vgl. dazu auch unten 4.4.2). – Briefausschnitte aus dem Nl Hengstenberg hat Bonwetsch in den zwei Bänden ‚Aus vierzig Jahren Deutscher Kirchengeschichte‘ veröffentlicht (im folgenden abgekürzt als Bonwetsch 1 und 2). Die Ausgabe ist allerdings nicht ohne Fehler und die Stückelung der Zitate problematisch (vgl. dazu auch Ernst, Auferstehungsmorgen, 387–389); im Zweifelsfall wurde daher auf die Originale zurückgegriffen. – Briefe von H. Leo und G.H. Schubert aus dem Nl Hengstenberg hat Bonwetsch separat veröffentlicht (Bonwetsch, Leo; Ders., Schubert, 389–398); zu der geplanten Ausgabe der Briefe E.L. v. Gerlachs (vgl. Bonwetsch 1, 12) ist es nicht gekommen; gerade Gerlachs Briefe aber gehören zu den bedeutendsten Stücken des Nachlasses. 89   Therese Hengstenberg (geb. 10. Okt. 1867) unterschrieb noch 1910 mit ihrem Mädchennamen, war also offensichtlich nicht verheiratet. 90   Th. Hengstenberg an Harnack, Meran 17. Mai 1909: Staatsbibliothek PK Berlin, Acta

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Einleitung

nächst nicht. Erst nach einem zweiten Vorstoß nahm er im Januar 1910 das „wertvolle[...] Geschenk“ im Namen der Bibliothek an.91 In der vorliegenden Untersuchung soll Hengstenbergs Denken und Handeln in seinen unterschiedlichen Bezugsfeldern dargestellt und analysiert werden. Auf diese Weise sind vier Teile entstanden, die zwar im Zusammenhang gesehen werden wollen und erst so ein Gesamtbild ergeben, die aber dennoch auch separat gelesen werden können.92 Die Aufteilung in die vier Themenbereiche Erweckungsbewegung, Theologie, Kirche und Politik wurde vorgenommen, um die durchgehenden Linien im Denken Hengstenbergs hervortreten zu lassen.93 Eine chronologische Darstellung findet daher nur innerhalb der einzelnen Teile ihren Platz. Das hat den Nachteil, daß bestimmte Ereignisse in mehreren Teilen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten vorkommen.94 Gleichwohl sind die Vorzüge dieser Darstellung ungleich höher zu veranschlagen: Gedankengänge lassen sich stringent verfolgen und Entwicklungen klarer aufzeigen. Nicht zuletzt findet das Vorgehen darin seine Bestätigung, daß sich kirchengeschichtliche Darstellungen zum 19. Jahrhundert generell nicht in ein strenges chronologisches Korsett pressen lassen.95 Abgesehen davon ist auch die Reihenfolge der vier Teile nicht völlig unchronologisch. Teil 1 behandelt vor allem den jungen Hengstenberg, die folgenden Kapitel umgreifen jeweils die ganze Lebensperiode, allerdings rückt der zeitliche Schwerpunkt der Darstellung von Teil 2 zu Teil 3 weiter nach hinten. Teil 4 erweitert schließlich die Perspektive hin zur „Partei Hengstenberg“. Ob das Verfahren angemessen ist, kann sich KB III C 9 Bd.  21, f.  115. – Erstaunlicherweise war schon ihr der genaue Titel der EKZ nicht mehr vertraut. 91   Harnack an Th. Hengstenberg, Berlin 7. Januar: ebd., f.  255. Zuvor hatte Therese Hengstenberg noch einmal persönlich bei Harnack vorgesprochen, vgl. dies. an dens., 5. Jan. 1910: ebd., f.  251 – damals wohnte sie noch in dem Haus ihres Großvaters, Roonstraße 7. 92   Bezüge zwischen den verschiedenen Teilen werden durch Querverweise auf die jeweiligen Abschnitte kenntlich gemacht; wird nur auf eine Anmerkungsziffer verwiesen, bedeutet dies, daß sich Verweis und Anmerkung in demselben Teil befinden. – Es soll nicht verschwiegen werden, daß zwei kleinere Themenbereiche, die zur Charakterisierung Hengstenbergs nicht so zentral sind, aber gleichwohl interessant zu sein versprechen, für zukünftige Forschungen aufgespart wurden: Hengstenberg und die Freimaurer; Hengstenberg und die Juden. 93   Den Hengstenbergdarstellungen, die rein chronologisch vorgehen, z. B. der Bachmann-Schmalenbachschen Biographie oder der Arbeit Wulfmeyers, gelingt es in der Regel nicht, den roten Faden einer bestimmten Frage zu verfolgen. 94   Zum Beispiel die Gründung der EKZ oder der ‚Hallische Kirchenstreit‘. 95   Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte ‚Geschichte der Evangelischen Kirche der Union‘ (s. oben Anm.  8 ), die zwar vorgibt, chronologisch zu verfahren, aber nicht ohne Querschnitte und Rückblenden auskommt. In jüngster Zeit hat Friedrich, Umbruch einen neuen Weg beschritten und das ganze Jahrhundert unter drei verschiedenen Dimensionen dargestellt (vgl. zur Begründung ebd., 9–12). Dieses Gliederungsprinzip hat Ähnlichkeiten mit dem hier gewählten.

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aber erst im Rückblick zeigen. Daher wird die Frage im Schlußteil wiederum aufgenommen werden. Die vorgenommene Einteilung erlaubt nicht nur die Konzentration auf jeweils einen thematischen Schwerpunkt, sie ermöglicht auch, unterschiedliche Personenkonstellationen in den Blick zu nehmen. Es ist nicht damit getan, eine Gestalt der Kirchen- und Theologiegeschichte ganz allgemein im Kontext des 19. Jahrhunderts zu verorten. Entscheidend für ihre Prägung und ihre Entwicklung sind jeweils ganz konkrete Begegnungen und Beziehungen, ihr geistiges und soziales Umfeld. Insofern ist Hausrath im Ansatz zuzustimmen, wenn er seiner Rothebiographie den Titel gibt: ‚Richard Rothe und seine Freunde‘96 . In den vier Teilen der Arbeit wird daher auch jeweils Hengstenbergs Verhältnis zu einzelnen Personen besonders in den Blick kommen: z. B. zu Tholuck und Neander (1. und 2.1.1), zu Schleiermacher und dessen Schülern (2.2), zu Hofmann und Kahnis (2.3), zu Gerlach (3.1 und 4.3), zu Rothe (3.1.2), zu Stahl (3.2 und 4.3.2). Daneben wird möglichst genau und lebensnah untersucht, wann, wo und in welcher Form sich Hengstenberg mit neuen theologischen Entwürfen, wichtigen kirchlichen Bewegungen und gesellschaftlichen Umbrüchen konfrontiert sah. Es wurde darauf verzichtet, eine geschichtliche Übersicht als Einleitung an den Anfang zu stellen. Der Zeitraum der Untersuchung umgreift ungefähr fünfzig ereignisreiche Jahre. Ein Überblick müßte in diesem Rahmen zwangsläufig zu ungebührlichen Verkürzungen führen; außerdem würde ein solcher nur die reichlich zur Verfügung stehenden Gesamtdarstellungen zum 19. Jahrhundert vermehren. Die Darstellung konzentriert sich daher auf ihren eigentlichen Gegenstand. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die geschichtlichen Kontexte bei seiner Erforschung immer präsent waren und jeweils dort in die Darstellung einfließen, wo ihre Vergegenwärtigung für den Gang der Untersuchung notwendig ist. Der Hauptvorteil der thematischen Gliederung ist, daß Hengstenbergs Denkbewegungen im Zusammenhang verfolgt werden können. Sie dient damit dem Ziel der Arbeit: Hengstenbergs Position zu verstehen und auf ihre innere Plausibilität hin zu befragen. Freilich kann es nicht darum gehen, ihm ein „weißes Kleid an[zu]ziehen“, wie es in einer dankenden Zuschrift an Bachmann heißt.97 ‚Tout comprendre, c’est tout perdonner‘ gilt nicht für die historische Forschung. 96   Allerdings hätte Hausrath auch Rothes Gegner genauer in den Blick nehmen müssen. Hausrath hat viel Material verarbeitet, das heute nicht mehr zur Verfügung steht. Umso schwerer wiegt, daß er es mit dem Belegen von Zitaten nicht so genau nimmt und seinen positionellen Vorlieben freien Lauf läßt; vgl. zur Kritik der schwungvoll geschriebenen und durchaus unterhaltsamen, teilweise ins Karikierende gehenden Geschichtskonstruktion auch Maser, Kottwitz, der Hausrath im Blick auf Baron von Kottwitz „gehässige[...] Unkenntnis“ (ebd., 180, Anm.  109) attestiert. 97   H. Funk an Bachmann, Lübeck 26. Okt. 1876: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung.

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Einleitung

Das Verstehen soll vielmehr dazu beitragen, ein insgesamt klareres Bild von den Entwicklungen und Geschehnissen der Epoche zu bekommen. Dieser größere Horizont ist freilich nicht Teil der Arbeit. Die grundsätzlichen Debatten über die neuzeitliche Gestalt des Christentums und über das Verhältnis von Chri­ stentum und Moderne werden nicht explizit aufgegriffen. Das heißt nicht, daß solche Fragestellungen nicht immer wieder anklingen würden. Hengstenberg lebte in einem Jahrhundert der gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüche. Die Pluralisierung der religiösen Lebenswelten, die durch das Auseinandertreten von kirchlicher und außerkirchlicher Religiösität und das Auf kommen neuer Formen von „Säkularreligion“ hervorgebracht wurde,98 trat im Laufe des 19. Jahrhunderts immer deutlicher hervor. Zugleich gilt – auch wenn man dem Paradigma der Säkularisierung nicht generell das Wort reden möchte 99 –, daß die bewußt religiöse Weltsicht zunehmend an Einfluß verlor. Dazu kamen die enormen sozialen Veränderungen im Zeitalter der Revolutionen und der Indu­ strialisierung.100 In diesem Kontext war für Hengstenberg die entscheidende Frage, wie sich das Chri­stentum behaupten würde und wie eine angemessene Gestalt von Theo­ logie und Kirche aussehen müßte. Damit trat er in Konkurrenz zu anderen Entwürfen. Doch sollen weitergehende Theorien zu der Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Entwürfe zur tatsächlichen Entwicklung und Gestalt des neuzeitlichen Christentums stehen, hier nicht entwickelt werden, da sich solche Theorien in der Regel systematisch-theologischen oder religionssoziologischen Konzeptionalisierungen verdanken. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich darauf, Hengstenbergs Position möglichst präzise zu beschreiben.

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  S. Nipperdey, Umbruch, 136–153; Ders., Deutsche Geschichte, 440–451.   Vgl. zur Säkularisierungsdebatte zusammenfassend Schieder, Sozialgeschichte, 16–19 und die ausführliche Diskussion des gegenwärtigen Forschungsstandes in dem Sammelband Lehmann, Säkularisierung; zur Bedeutung der Säkularisierung aus juristischer Perspektive Heckel, Säkularisierung, der zudem zu Recht auf die theologischen Befangenheiten beim Umgang mit dem Thema hinweist (ebd., 876–880). 100   Stellvertretend für die vielen Darstellungen zum Thema sei nur auf Greschat, Zeitalter verwiesen. 99

1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung 1.1  Bonn – Basel – Berlin Zum Wintersemester 1819 nahm der gerade 17 Jahre alt gewordene Ernst Wilhelm Hengstenberg sein Studium an der im Jahr zuvor gegründeten Bonner Universität auf. In der vorab vor Professoren der Universität abgelegten Maturitätsprüfung zeichnete er sich durch überdurchschnittliche Leistungen aus, obwohl er nie eine Schule besucht hatte. Stattdessen hatte ihn sein Vater Johann Heinrich Karl Hengstenberg (1770–1834) unterrichtet, der neben seinem Pfarramt kleinere wissenschaftliche Studien betrieb und dabei vor allem seine Vorliebe für Geschichte, Geographie und Poesie pflegte. Später, als der Vater älter geworden war, hatte Ernst Wilhelm weitgehend auf eigene Initiative gelernt und sich mit Hingabe in lateinische und griechische Klassiker vertieft. Sowohl der Studienort als auch das Studienfach waren naheliegend. Bonn war von Freiheit Wetter, einem oberhalb des Dorfes Wetter an der Ruhr – zwischen Wuppertal und Dortmund – gelegenen Ortes, wo der Vater Pfarrer war, nur wenige Tagesmärsche entfernt. Mit der Gründung der Bonner Universität waren zudem alle zuvor noch bestehenden Universitäten in den preußischen Westprovinzen aufgehoben worden, so daß es selbst für andere Studiengänge als den der evangelischen Theologie keine Alternative gegeben hätte. Daß Ernst Wilhelm Theologie studieren wollte, schien ohne große Überlegungen festzustehen. Nicht nur sein Vater hatte Theologie studiert, sondern bereits vor ihm konnte die Familie Hengstenberg auf eine bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Kette von Pfarrern blicken, die einem Pfarrhaus in Ergste in der Grafschaft Limburg in Westfalen entstammte. Wie seine Vorfahren war auch Heng­ stenbergs Vater reformiert. Er hatte zunächst eine Pfarrstelle in Fröndenberg versehen, wo Ernst Wilhelm am 20. Oktober 1802 zur Welt gekommen war, 1808 hatte er schließlich die reformierte Gemeinde in Freiheit Wetter übernommen. Zur Wahl des Studienfaches bedurfte es also keines besonderen inneren Impulses. Hengstenberg folgte der Familientradition. So gab er später als    Vgl. dazu und zum Folgenden Bachmann 1, 1–24. Zur Geschichte der Universität Bonn Bezold, Geschichte; Braubach, Kleine Geschichte.    Unter seinen Veröffentlichungen, zu denen auch mehrere Lieder gehören, hat vor allem die ‚Geographisch-poetische Schilderung sämmtlicher Deutschen Lande‘ (Essen 1819) eine gewisse Verbreitung erreicht.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Grund für seine Entscheidung an: „Schon in meiner frühen Jugend hatte mir der Wunsch meiner Aeltern und das Beispiel meines Vaters Lust und Liebe zum Studium der Theologie eingeflößt [...]“. Nach sieben Semestern schloß Hengstenberg im Januar 1823 sein Studium in Bonn mit einer Promotion im Bereich der Orientalistik an der philosophischen Fakultät ab. Sein Studienabschluß sowie sein Studienverlauf zeigen, daß er sich während seiner Bonner Jahre immer weiter vom Studium der Theologie, für das er sich 1819 eingeschrieben hatte, entfernt hatte. Man kann nicht sagen, daß eine bewußte Entscheidung dahinter stand. Es war nicht unüblich, sich durch das Studium von Sprachen, Philosophie und Geschichte eine breite Grundlage für das Theologiestudium zu erarbeiten. In Hengstenbergs Fall war diese Grundlegung allerdings zur Hauptbeschäftigung geworden. Ausschlaggebend war dafür einerseits seine stupende Sprachbegabung – er hatte bereits mit zehn Jahren begonnen, Latein zu lernen, beim Eintritt ins Studium beherrschte er bereits Französisch, Latein, Griechisch, Hebräisch und ein wenig Italienisch –, und andererseits der Bonner Orientalist Georg Wilhelm Friedrich Freytag (1788–1861), der Hengstenbergs Begabung wie auch seine Begeisterung für die Sprachen früh erkannte und bewußt förderte. So geriet der junge Student der Theologie mehr und mehr auf die Bahnen der Philologie.    Hengstenberg, Lebensplan: Bachmann 1, 329–332, hier 329; vgl. Hengstenberg, Vitae Suae Curriculum: Bachmann 1, 326. Ein Original des mit den Promotionsthesen vom 18. Jan. 1823 gedruckten ‚Vitae Suae Curriculum‘ befindet sich in den Akten des Kultusministeriums, die auch eine maschinenabschriftliche Version des Lebensplanes enthalten, der wahrscheinlich Ende Jan. 1823 entstanden ist (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert). Im folgenden werden jedoch beide Dokumente sowie die Promotionsthesen nach der zuverlässigen Transkription in Bachmann 1 zitiert.    Über Hengstenbergs Studium, den Umfang und die Art der besuchten Lehrveranstaltungen geben die Briefe an seine Eltern detailliert Auskunft. Sie finden sich – größtenteils wörtlich zitiert – bei Bachmann 1, 65–109.    Vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 151; auch die Erwerbung des philosophischen Doktorgrades als Vorstufe für die eigentlich theologischen Grade war für die wissenschaftliche Lauf bahn bis weit ins 19. Jh. hinein Standard. Allerdings legte man in der Regel zunächst das Erste Examen bei der Landeskirche ab (vgl. ebd., 64 f.); darauf verzichtete Hengstenberg.    Vgl. Hengstenberg 1, Lebensplan: Bachmann, 329 f.: „Obgleich treu meinem einmal gefaßten Entschlusse, der Theologie alle meine Kräfte zu widmen, kam ich doch bald theils durch eignes Nachdenken, theils durch den Rath meiner verehrten Lehrer, vorzüglich des Herrn Professors Freytag, dessen liebevoller und wahrhaft väterlichen Fürsorge ich mich gleich anfangs zu erfreuen hatte, zu der festen Ueberzeugung, daß das Studium der Theologie nur dann mit glücklichem Erfolge betrieben werden könne, wenn ihm manche Vorstudien in einem gewissen Umfange vorausgeschickt seien; und so entschloß ich mich denn, mich vorläufig diesen ganz hinzugeben [...]“. Daß diese Sicht tatsächlich auf Freytag zurückgehen dürfte, belegt ein Gutachten Freytags für einen Stipendienantrag Hengstenbergs vom 29. Juni 1821, in dem Freytag schreibt, daß sich Hengstenberg so dem Theologiestudium widmen wolle, daß „er sich in der ersten Hälfte erst eine allgemeine Bildung verschaffen und das betreiben will, was als Einleitung in die Theologie betrachtet werden kann. Nach meiner Ansicht ist dieses der richtigste Weg, den ein junger Mann betreten kann, die Einseitigkeit wird verhindert [...]“ (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert).

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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Freytag, der seit 1819 als erster Vertreter seines Faches in Bonn wirkte, las neben dem Arabischen auch über alttestamentliche Bücher, denn die theologische Fakultät hatte in diesem Bereich nur wenig zu bieten. Im ersten Semester besuchte Hengstenberg eine Jesajavorlesung bei ihm, die ihn zwar nicht überzeugte, aber dazu führte, daß er sich schon bald ganz auf Freytags eigentliches Fachgebiet hinüberziehen ließ. Freytag erhoffte sich viel von Hengstenberg, der „als Arabist Hervorragendes zu leisten versprach“, und lobte ihn als seinen besten Schüler.10 Mit ähnlicher Frequenz, wie Heng­ stenberg in Freytags Veranstaltungen anzutreffen war, hörte er auch Karl Friedrich Heinrich, den er „für den ersten Philologen in Deutschland“11 hielt. Im Winter 1820 wird er seinem Wunsch entsprechend von Heinrich in das philologische Seminar aufgenommen, dem ansonsten nur reine Philologen angehörten.12 Dazu trat seit Sommer 1821 die intensive Beschäftigung mit der Philosophie, die in Bonn erst mit der Berufung Christian August Brandis’ (1790–1867) im April 1821 einen bedeutenden Vertreter erhalten hatte.13 Brandis, an den sich Hengstenberg sogleich anschloß, dürfte neben Freytag den größten Einfluß auf die wissenschaftliche Entwicklung des jungen Theologen genommen haben. Sein Schwerpunkt lag im Bereich der antiken Philosophie, doch auch zum gründlichen Studium der Kantischen und Fichteschen Schriften regte er seine Studenten an. Von Hegel war Brandis unbeeindruckt. Seine eigene Prägung hatte er durch Jacobi und Schelling erhalten, aber auch und besonders durch Schleiermacher, auf dessen jüngst erschienene Glaubenslehre er Hengstenberg schon früh aufmerksam machte.14 Auch Brandis hatte von Hengstenberg eine hohe Meinung und lobte den „Umfang und die Sicherheit seiner Kenntnisse, sein Streben nach scharfer Begriffsbestimmung und sein[en] Sinn für den systemathischen Zusammenhang in philosophischen Lehrgebäuden“15. 

  Bezold, Geschichte, 248.   Bachmann 1, 67 f.    Bezold, Geschichte, 248. 10   Hengstenberg an die Eltern, Bonn 16. Dez. 1819: Bachmann 1, 70. 11   Brief an die Eltern, Bonn 29. Jan. 1820: Bachmann 1, 71; vgl. Bezold, Geschichte, 232–234. 12   Bachmann 1, 75. 13   Zu Brandis, der selbst Theologie, Philologie und Philsophie studiert hatte, vgl. Bezold, Geschichte, 228–230 und v. a. Trendelenburg, Brandis. Er war von der Berliner Akademie mit der Herausgabe der Aristotelesausgabe betraut worden. In theologischen Fragen stand er Twesten, Nitzsch und vor allem Schleiermacher nahe, dessen Staatslehre er aus dem Nachlaß herausgab (vgl. Trendelenburg, Brandis, 16 f.). 14   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 84 (1869), Sp.  28. 15   So in einem Empfehlungsschreiben für Hengstenberg: „Sehr bald nachdem ich mein hiesiges Lehramt angetreten, ward mir dieser junge Mann näher bekannt u. veranlasste mich durch den selbstthätigen Eifer, mit dem er sich meinen Vorlesungen über die Geschichte der älteren Philosophie u. über die Aristotelische Metaphysik Theil nahm [sic!], wöchentlich einen Abend mit ihm und einigen seiner Freunde die vorgetragenen Gegenstände näher zu erörtern und zu besprechen. Der Umfang und die Sicherheit seiner Kenntnisse, sein Streben nach scharfer Begriffsbestimmung u. sein Sinn für den systemathischen Zusammenhang in philosophischen Lehrgebäuden haben mir in jenen Unterhaltungen sehr grossen Genuss gewährt. Obgleich dieselben ihrem Zweck gemäss, vorzüglich auf Gegenstände der älteren Philosophie gerichtet waren, so veranlassten sie doch häufig genug auch über neuere Philosophie zu reden, um mir die Ueberzeugung zu gewähren, dass Herr Hengstenberg in ihr, besonders durch ein sehr gründliches Studium der Kantischen und Fichteschen Schriften einen tüchtigen Grund für fernere Forschungen gelegt u. keineswegs bloss philosophische Lehr

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

So wird die theologische Fakultät in Hengstenbergs Bonner Briefen an seine Eltern so gut wie gar nicht erwähnt. Seit ihren Anfängen zeichnete sie sich dadurch aus, daß die Auf klärungstheologie in ihr nicht mehr zur Dominanz gelangen konnte.16 Stattdessen nahm sie eine vermittelnde Richtung ein, die Schleiermacher folgte. Neben den jüngeren Ordinarien Friedrich Lücke, Karl Heinrich Sack und Johann Karl Ludwig Gieseler lehrte als älterer Kollege Johann Christian Wilhelm Augusti. Zu ihnen gesellte sich im Sommer 1821 Carl Immanuel Nitzsch. Einzig den Kirchenhistoriker Gieseler kann man mit gewissem Recht als „Vertreter des historisch-kritischen Rationalismus“17 bezeichnen, und er ist zugleich der einzige, der in Hengstenbergs Studienberichten lobende Erwähnung findet.18

Es spricht alles dafür, daß Hengstenberg mit dem Abschluß seines Studiums nicht zufrieden war. Er hatte die philosophische Magisterprüfung und das Doktorexamen zwar mit Bravour bestanden,19 seine Dissertationsschrift war ihm aufgrund einer erfolgreichen Preisarbeit über einen arabischen Schriftsteller erlassen worden, und der Minister forderte ihn bereits auf, seinen Lebensplan einzureichen, doch jetzt scheint dem Doktor der Philosophie wieder seine ursprüngliche Absicht, Theologe zu werden, deutlich ins Bewußtsein getreten zu sein. So schrieb er in seinem Lebensplan an den Minister bereits Ende Januar 1823: „Mein sehnlichster Wunsch aber ist es, jetzt mich mit Eifer und Fleiß auf das Studium der theologischen Wissenschaften zu legen und meine früheren Beschäftigungen zwar keineswegs aufzugeben, allein sie doch mehr in den Hintergrund treten zu lassen.“20 Als Wunsch­ort für dieses Studium nannte er schon zu diesem Zeitpunkt Berlin.21 meinungen historisch in sich aufgenommen.“ (Brandis an Rehfues, Bonn 17. Jan. 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert). 16   Vgl. die Charakterisierung der Fakultät bei Bezold, 180–191 und bei Ritschl, Fakultät, 4–6.7–14.86 f. 17   Bezold, Geschichte, 185. 18   Hengstenberg an den Vater, Bonn 6. Juni 1820: Bachmann 1, 74 f.; Ders. an die Eltern, Bonn 10. Dez. 1821: Bachmann 1, 80. Er hat sich ihm dennoch nicht angeschlossen, wie er im Rückblick schreibt: „[…] Lücke und Gieseler, die es noch immer nicht verschmerzen zu können scheinen, daß ich nicht ihr Schüler gewesen, werden eher gegen, als für mich wirken […]“ (Ders. an den Vater, Basel 13. Juni 1824: Bachmann 1, 149). 19   Der außerordentliche Regierungsbevollmächtigte für die Universität Bonn Ph.J. von Rehfues (vgl. Varrentrapp, Schulze, 324) bezeichnet Hengstenberg gegenüber dem Ministerium als „einen der hoffnungsvollsten jungen Männer, welche hier ihre Bildung genossen [...]. Es ist nur eine Stimme, daß die Facultät seit ihrer Existenz noch keine Promotion vorgenommen, welche einen so würdigen Mann getroffen habe.“ (Rehfues an Altenstein, Bonn 4. März 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1; vgl. Bachmann 1, 98). 20   Hengstenberg, Lebensplan: Bachmann 1, 331. – Am 22. Januar 1823 hatte ihn Minister Altenstein aufgefordert, „mich mittelst des Herrn Rehfues von Ihrem weiteren Lebensplane in nähere Kenntniß zu setzen“ (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert); er dürfte dieser Aufforderung kurze Zeit später gefolgt sein. Bereits seit 1820 hatte Hengstenberg ein jährliches Stipendium von 50 Talern vom Mini­sterium erhalten (s. ebd. die diesbezüglichen Anträge und Bewilligungen), vgl. dazu unten 4.1. 21   Hengstenberg, Lebensplan: Bachmann 1, 331.

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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Ein weiteres Zeugnis für diese Sicht der Dinge bieten seine Bonner Doktorthesen, die sich mit philologischen und philosophischen Fragen beschäftigen.22 Sie wurden bisher häufig herangezogen, um den Unterschied zwischen Heng­ stenbergs Bonner Ansichten und seiner späteren Berliner Position aufzuzeigen, schreibt er doch in These 2: „Die theologische Interpretation des Alten Testaments ist von keinem Werte.“23 Doch gilt es hier dreierlei zu beachten: Erstens gibt Hengstenberg kurz später zu bedenken, daß man die Thesen als das lesen müsse, was sie sind: als Spitzensätze, die zur Diskussion in einer Disputation anregen sollen. Zweitens gesteht er ein, daß sich jene These vor allem dem Einfluß Freytags verdanke.24 Drittens aber zeigt der Zusammenhang der Thesen und das mit ihnen eingereichte ‚Curriculum Suae Vitae‘, daß es dem Promovenden vor allen Dingen darum ging, die Bedeutung der philologischen Studien für die Theologie hervorzuheben. Wenn die Thesen überhaupt etwas über Hengstenbergs theologische Einstellungen zu erkennen geben, dann nur so viel, daß er eine rein theologische Beschäftigung mit den Texten des Alten Testaments, welche die philologischen Fragen ausblendet, ablehnte.25 Dementsprechend betonte er bereits in seinem den Thesen mitgegebenen curriculum vitae nachdrücklich die Notwendigkeit philologischer Kenntnisse für die theologische Bildung: „Aber eingedenk der Tatsache, daß sich das Studium der Theologie, wenn es recht eingerichtet wird, auf das Studium der Philologie und Philosophie stützt, beschloß ich, mich vor allem diesen Fächern zu widmen.“ Bezogen auf das Alte Testament bedeute dies: „Da ich erkannte, daß eine solide Theologie vor allem das Studiums der im strengen Sinne so genannten orientalischen Sprachen benötigt, weil ohne deren Hilfe der Zugang zu jener ersten und letzten Quelle der Theologie nicht ausreichend offensteht,

22   Hengstenberg, Theses Controversae: Bachmann 1, 328 f. Thesen „theologischen [...] Inhalts“ (Bachmann 1, 96) sind strenggenommen nicht darunter, denn auch bei den Thesen zum Alten Testament geht es – wie These 2 (s.o.) bekräftigt – nur um Philologie. Die Reihe behandelt zunächst philologische Fragen (Th. 1–12), dann den Zusammenhang von Philologie und Philosophie (Th. 12) und schließlich philosophische Themen (Th. 13–23). 23   „Theologica Veteris Testamenti interpretatio nihili est.“ (Bachmann 1, 328). 24   „Am 18. habe ich promoviert und mich mit sechs Opponenten über vier Stunden lang tapfer herumge­stritten. Auch Professor Sack opponierte ex corona. Ich hatte nämlich auf Verlangen des Prof. Freytag, obwohl höchst ungern, eine thesis gegeben: ‚theologica Veteris Testamenti interpretatio nihili est‘ [...] Ueber­haupt hat diese thesis eine große Celebrität erlangt. Bedächte man, was eine thesis ist und sein soll, und wüßte man überhaupt, auf welche unschuldige Weise ich dazu gekommen bin, so würde man kein solches Aergernis daran nehmen. Doch wollen die Herren es nun einmal so nehmen, so sage ich von Herzen: habeant sibi. Thut man doch gerade, als habe ich das Dasein Gottes geleugnet!“ (Hengstenberg an einen unbekannten auswärtigen Freund: Bachmann 1, 97). 25   Vgl. seine dritte These: „Keiner ist Theologe, der die hebräische Sprache nicht gut kennt.“ – „Nemo theologus, qui linguam Hebraicam non bene novit.“ (Bachmann 1, 328).

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

setzte ich das Studium der hebräischen Sprachen unter der Leitung des berühmten Professors Freytag fort.“26

Die Betonung der Notwendigkeit von philologischen Studien im Blick auf die Theologie war für Hengstenberg mehr als eine rein wissenschaftliche Feststellung. Sie diente ihm, wie die beiden Zitate zu erkennen geben, gleichzeitig zur Rechtfertigung seines persönlichen Bildungsweges. Hengstenberg stand nach Abschluß seines Studiums vor dem Dilemma, daß er sich dem Minister für eine theologische Lauf bahn empfehlen wollte, seine bisher erworbenen wissenschaftlichen Meriten aber ausschließlich dem Bereich der Philologie entstammten. Doch nur sie waren ihm Garant für seine weitere Karriere. Insofern ist es gut nachvollziehbar, daß er – beides kombinierend – die Bedeutung der Philologie für die Theologie in den Vordergrund rückte. Gleichzeitig erklärt sich von daher, warum er dies später nicht mehr in diesem Maße tun wird. Warum er seinen Blick nun ganz auf die Theologie richten wollte und sich dem Mini­ster auf diese Weise präsentierte, begründete Hengstenberg in seinem ‚Lebensplan‘ nicht. Für einen Studenten der Theologie war dies auch nicht unbedingt notwendig. Eher könnte man fragen, warum er nicht die Möglichkeiten nutzte, die sich im Bereich der Orientali­stik, nicht zuletzt durch die Föderung Freytags, boten.27 Eine eindeutige Antwort darauf bieten die Quellen aber auch nicht. Die Vermutung liegt nicht fern, daß die orientalischen Studien Hengstenberg nicht mehr befriedigten.28 Vielleicht war ihm auch deutlich geworden, daß sein Weg eine Richtung genommen hatte, die seinem ursprünglichen Plan nicht entsprach. Zwar war die Entscheidung für das Theologiestudium, wie bereits erwähnt, vor allem der Familientradition und dem Einfluß des Vaters zu verdanken und insofern nicht besonders originell gewesen, für das Studium der Orientalistik hatte er sich jedoch gar nie bewußt entschieden. 26   „At intelligens, theologiae studium, si recte instituatur, niti studiis Philologiae et Philosophiae, his disciplinis ante omnes me tradendum statui.“ (Hengstenberg, Vitae Suae Curriculum: Bachmann 1, 326) „Intelligens vero, theologiam solidam maxime egere studio linguarum Orientalium strictius ita dictarum, cum sine earum ope accessus ad primum illum et ultimum theologiae fontem non satis pateat, linguae Hebraicae studium continuavi sub auspiciis Cl. Freytagii [...]“ (ebd., 337). 27   Laut Bachmann 1, 114 hatte Hengstenberg auch schon im Jan. 1823 einen „Antrag des Ministeriums: ‚auf zwei Jahre auf Staatskosten nach Paris zu gehen, um sich dort für das Orientalische auszubilden,‘ [...]“ abgeschlagen. In den Akten des Ministeriums finden sich dazu keine Angaben, Bachmann beruft sich auf einen – heute nicht mehr auffindbaren – Brief Hengstenbergs an einen Freund (Keetmann). Allerdings gibt Hengstenberg in seinem Lebensplan den Hinweis, daß er sich durchaus vorstellen könne, im Anschluß an seine Theologieausbildung in Berlin „sich eine Zeit lang in Paris“ aufzuhalten (in: Bachmann 1, 331). 28   Ähnliches sagt er, allerdings im Rückblick, über seine philosophischen Studien: „Meine ganze zu nehmende Richtung hat sich schon zu Ende des letzten Winters, den ich in Bonn zubrachte, entschieden. Dort hatte ich schon die Nichtigkeit der Philosophie erkannt und mich von ihren lästigen Fesseln befreit [...]“ (Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Pfingsten 1825: Bachmann 1, 108).

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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Festzuhalten ist jedenfalls, daß für Hengstenberg beim Abschluß des Bonner Studiums der Entschluß feststand, sich nun entschieden der Theologie zuzuwenden und das Versäumte nachzuholen. Warum aber gerade in Berlin? Die Antwort fällt leicht, wenn man die Alternativen betrachtet. Seit 1818 – und bis 1866 – gab es in Preußen sechs Universitäten: Berlin, Bonn, Breslau, Greifswald, Halle und Königsberg. Universitäten außerhalb Preußens kamen für Hengstenberg auch später nicht ernsthaft in Betracht.29 Bonn schied aus zwei Gründen aus: Einmal hatten die theologischen Ordinarien schon in den zurückliegenden Jahren keine Faszination auf ihn ausüben können, des weiteren wäre es ihm in Bonn unmöglich gewesen, sich von Freytag und der Orientalistik zu emanzipieren.30 Mit Halle stand es, was die Anziehungskraft der theologischen Fakultät anging, nicht besser. Als Gralswächter des Rationalismus bot die Fakultät Hengstenberg schwerlich eine Alternative zu Bonn. Breslau, Greifswald oder gar Königsberg lagen in zu großer Distanz zur Heimat, kamen also auch nicht in Frage. So empfahl sich Berlin wie von selbst. Dazu kam, daß von den preußischen Universitäten die aufstrebende Berliner Universität Mitte der 20er Jahre die meisten Studenten hatte.31 In unmittelbarer Nachbarschaft zur Königlichen Bibliothek bot sie zudem bessere Arbeitsmöglichkeiten als jede andere, und nicht zuletzt hatten die theologischen Lehrer einen weit ausstrahlenden Ruf: Außer Schleiermacher lehrten dort Marheineke und Neander. De Wettes Lehrstuhl war noch unbesetzt und sollte erst im April 1823 mit Tholuck als außerordentlichem Professor einen gewissen Ersatz bekommen. Darauf wird später zurückzukommen sein.32 29   Einerseits weil er sich – die akademische Lauf bahn anvisierend – die Option offen halten wollte, irgendwann nach Bonn und damit in die Nähe der Familie versetzt werden zu können, andererseits empfand er wohl auch eine innerliche Bindung an Preußen. 30   Sein zwiespältiges Verhältnis zu Bonn zeigt sich später in einem Brief vom 13. Juni 1824 (Basel) an den Vater, in dem er den durch Eylert angeregten Versuch des Vaters, für Hengstenberg eine Stellung in Bonn zu erreichen, mit folgenden Einwänden quittiert: „Die Nachrichten, die Du mir in Deinem lieben Briefe aus dem Briefe von E. mittheilst, haben mich sowol erfreut, als befremdet. Denn ich muß Dir gestehen, daß ich sehr an dem glücklichen Gelingen Deiner Bemühungen zweifele. Wahrscheinlich wirst Du schon in Bonn nicht ganz die gewünschte Unterstützung gefunden haben. Denn die theologische Facultät, auf die es doch ziemlich viel ankommt, weil E. wol nur auf die Besetzung der theologischen Facultät großen Einfluß hat, wird sich schwerlich zu meinen Gunsten vereinigt haben. […] Freytag wird auch nicht recht wissen, wie er sich dabei benehmen soll, da seine Liebe zu mir und seine Liebe zu sich selbst in Collision kommen. Hätte ich ihm vorher schreiben können, so würde ich ihm gezeigt haben, daß wir sehr gut nebeneinander bestehen können […]“ (Bachmann 1, 149). – Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus stimmig, daß sich Hengstenberg gleichwohl vorstellen konnte, Freytag in Bonn zu vertreten (vgl. Bachmann 1, 142 f.). 31   Vgl. Turner, Universitäten, 224; für die Zeit nach 1830 Titze, Datenhandbuch 1/2, 31 f. 32   Der Oberhofprediger Wilhelm von Hengstenberg, ein entfernter Vetter, der in der Berliner Anfangszeit viel gemeinsam mit E.W. Hengstenberg unternahm, mutmaßt im Rückblick bezüglich der Wahl Berlins: „ich möchte glauben, seinem damals soeben aufge-

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Daß Hengstenberg die Universität mit den besten Arbeitsmöglichkeiten und einer vielversprechenden theologischen Fakultät aufsuchen wollte, hing vor allem damit zusammen, daß er in einem Punkt seinem bisher eingeschlagenen Weg treu bleiben wollte: Ermutigt durch die Förderung Freytags und Brandis, durch seine erfolgreiche Preisarbeit und sein gelungenes Doktorexamen strebte er nach wie vor ein akademisches Lehramt an, nun aber ein theologisches. Auch das gab er dem Minister unmißverständlich zu verstehen: „Da ich nun womöglich mich zu einem academischen Lehramt vorzubreiten denke, so habe ich mir aus dem Kreise der theologischen Wissenschaften vorzüglich die Exegese und die Kirchengeschichte zu einer gelehrten Behandlung ausgeschieden. [...] Da ich in der Kirchengeschichte schon insoweit eine Uebersicht erlangt habe, daß ich mit Erfolg zu den Quellen selbst zurückgehen kann und da auch die Exegese einen literarischen Apparat erfordert, wie man ihn an wenigen Orten findet, so wünsche ich sehr, mich einige Zeit in Berlin auf halten zu können, theils um die dortige Bibliothek zu benutzen, theils um einigen, wenn auch nur wenigen, Vorlesungen dortiger Professoren beizuwohnen.“33

Indes, die Berliner Pläne zerschlugen sich. Zwar stellte das Ministerium einen Antrag an den König, Hengstenberg eine außerordentliche Unterstützung von 400 Talern für ein Jahr zu gewähren, damit er sich in Berlin der theologischen Wissenschaft widmen könne, und machte sich damit die Empfehlung des für die Bonner Universität zuständigen außer­ordentlichen Regierungsbevollmächtigten uneingeschränkt zu eigen, der an Hengstenberg gerühmt hatte, „daß in seinem ganzen Wesen und Streben ein besonderer Ernst ist, und man darf vielleicht behaupten, daß selten die schönsten Hoffnungen schon so frühe und fest begründet wurden“34. Friedrich Wilhelm III. sah zu einer finanziellen Förderung jedoch keinen Anlaß.35 Hengstenberg, durch die königliche Entscheidung „zwar etwas überrascht, doch keinesweges entmuthigt“36 , mußte sich anders orientieren, und schon am 25. Juli 1823 berichtete er dem Ministerium von einer durch Freytag vermittelten Gelegenheit, als Privatlehrer nach Basel zu gangenen christl. Glaubens-Leben habe die damals hier herrschende Athmosphäre (?) mehr zugesagt als die Bonner Luft u. andererseits habe das Erkennen dessen, was Männer wie Schleiermacher, Neander und Marheinecke gegenüber, der Kirche auf dem Gebiete theologischer Wissenschaft Noth thun u. das Erkennen der von Gott ihm verliehenen Gaben und Gnaden wesentlich mit dazu beigetragen.“ (W. v. Hengstenberg an J. Bachmann, Berlin 17. Jan. 1873: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung). 33   Hengstenberg, Lebensplan: Bachmann 1, 331. 34   Rehfues an Altenstein, Bonn 4. März 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert (abgedruckt bei Bachmann 1, 97 f.). Rehfues stützt seine Empfehlung auf Gutachten Freytags und Brandis’, die sich ebenfalls in den Akten finden. Der Antrag des Ministeriums datiert vom 9. Mai. 35   Friedrich Wilhelm an Altenstein, Berlin 15. Mai 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert. Vgl. Bachmann 1, 114 f. 36   Hengstenberg an das Ministerium, Wetter in der Gft. Mark Datum unleserlich, wohl: 17. Juli, eingegangen am 25. Juli 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (abgedruckt bei Bachmann 1, 116 f.). Ebd. auch die folgenden Zitate.

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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gehen. Ein junger Herr, der cand.theol Stähelin,37 wünsche, „daß ich auf ein Jahr zu ihm nach Basel kommen möge, um ihm Unterricht im Arabischen, Syrischen und Chaldäischen zu ertheilen.“ „Ich würde dadurch Zeit erhalten, mich dort ein Jahr lang sorgenfrei durch Privatstudium für meinen künftigen Beruf auszubilden, wozu mir die dortige Bibliothek die nöthigen Hülfsmittel liefern würde. Selbst der Unterricht, den ich zu geben hätte, würde für mich die beste Vorbereitung auf meinen künftigen Beruf seyn. Nach Verlauf dieses Jahres wünschte ich dann um Michaelis 1824 nach Berlin zu gehen, um mich dort als Privatdocent in der Theologie und in den Orientalischen Sprachen habilitiren zu können.“

Der Minister hatte gegen Hengstenbergs Plan keine Bedenken, legte ihm aber in einem Schreiben an seinen Vater 38 , der den Antrag unterstützt hatte, nahe, sich in Basel jeder Verbindung zu „der diesseitigen K.[öniglichen] Regierung anstößigen Männern“ zu enthalten und daher jeden Kontakt mit der Universität in Basel zu meiden,39 „um seiner künftigen Anstellung im diesseitigen K.[öniglichen] Staatsdienste keine Hindernisse in den Weg zu legen“. Im übrigen sei „es dem Ministerium genehm, daß Ihr Sohn sich demnächst bei der hiesigen theologischen Fakultät habilitiren will, und darf er bei seinem Vorhaben auf die Unterstützung des Ministerii hoffen.“ Der von Anfang an auf ein Jahr begrenzte Aufenthalt in Basel änderte also nichts an Hengstenbergs Vorhaben, sich über kurz oder lang an der Berliner theologischen Fakultät zu habilitieren. Im Gegenteil: Gerade in Basel hoffte er, ein günstiges Umfeld für die Vorbereitung auf seine akademische Lauf bahn zu finden. Berlin geriet ihm dabei keinen Moment aus dem Blick. Bei dem jungen Privatlehrer für orientalische Sprachen, der am 26. September 1823 in Basel eintraf,40 handelte es sich also um einen hoffnungsvollen und ambitionierten Doktor der Philosphie, dessen erste Veröffentlichung in der Fachwelt mit großem Wohlwollen aufgenommen worden war,41 der sich im Blick auf seine weitere akademische Lauf bahn sowohl der Unterstützung seiner Leh37   Es handelt sich dabei um den späteren Theologieprofessor Johann Jakob Stähelin (1797– 1875). Stähelin wurde über Hermann Ball aus Elberfeld, den er in Tübingen getroffen hatte, auf Hengstenberg aufmerksam, bevor er die Anfrage an Freytag richtete (vgl. Bachmann 1, 115). 38   Ministerium an Pfr. Hengstenberg, Berlin 4. Aug. 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert (abgedruckt bei Bachmann 1, 118). 39   In Basel hatten neben de Wette auch noch andere Liberale Zuflucht vor den preußischen Behörden gesucht; vgl. Bachmann 1, 116 und unten Anm.  56. 40   Auszüge aus der sehr lebendigen Schilderung der Reise, bei der es – häufig in Gesellschaft mit anderen Studenten – über Heidelberg, Tübingen und die schwäbische Alb zum Bodensee ging, findet sich bei Bachmann 1, 119–123. Theologisches erscheint darin nicht, obwohl Hengstenberg in Tübingen mit Ernst Gottlieb Bengel und Johann Christian Friedrich Steudel zusammentraf. 41   Vgl. zu den erschienenen Rezensionen Bachmann 1, 98 mit Anm.  *).

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

rer als auch des preußischen Kultusministeriums sicher wissen durfte, von dessen theologischen Anschauungen aber bisher so gut wie gar nichts bekannt war, einmal abgesehen von einigen Thesen, die aber nicht im eigentlichen Sinne als theologische gelten dürfen und sich im wesentlich dem Einfluß seines Lehrers Freytag verdanken. Man darf vermuten, daß Hengstenberg zu diesem Zeitpunkt in der Tat noch keinen ausgeprägten theologischen Standpunkt vertrat, sondern nach wie vor stark von der Frömmigkeit im Elternhaus und der Theologie des Vaters geprägt war.42 Ganz anders der junge Doktor der Philosophie, der ein Jahr später in Berlin ankam, um sich dort zu habilitieren. Er würde schon bald mit theologischen Anschauungen hervortreten, mit denen er auf andere Weise Anstoß erregen und für die er bekannt werden sollte. Es erstaunt daher kaum, daß schon Heng­ stenbergs Biograph besonderes Augenmerk auf den Baselaufenthalt gelegt hat.43 Laut Bachmann sollte Basel „sein Damaskus werden, wo es auch ihm wie Schuppen von den Augen fiel und er den Herrn erkannte mit aufgedecktem Angesicht“44. Die jüngere Forschung hat diese Sicht bestritten, was im Blick auf die starke Formulierung nicht verwundern dürfte. Ob man – was zu dieser Bestreitung gehört – dem Baseler Aufenthalt aber tatsächlich kaum eigenständige Bedeutung für Hengstenbergs Entwicklung einräumen darf, die wesentlichen Impulse für seine Entwicklung vielmehr bereits in Bonn45 oder erst in Berlin46 zu suchen sind, ist eine nach wie vor unentschiedene Frage, zumal die Arbeiten, die sie bejahen, kaum triftige Gründe dafür angeben.47 Einschneidend kann die Zeit in Basel für Hengstenberg auch dann gewesen sein, wenn man in ihr keinen „Durchbruch, ziemlich nach Art des alten Hallischen Pietismus“48 , findet. Was hat es also mit dem Baseler Aufenthalt auf sich? Hengstenberg tat in Basel zunächst das, was er sich vorgenommen hatte: Er verwirklichte seinen Entschluß, sich „mit Eifer und Fleiß auf das Studium der 42   Vgl. zur inneren Haltung Hengstenbergs während seiner Studienzeit in Bonn die Zeugnisse bei Bachmann 1, 99–109. Charakteristisch ist, daß er während dieser Zeit kaum einmal einen Gottesdienst besucht zu haben scheint. Später wird er rückblickend urteilen: „Ich hatte in meiner Jugend nie beten gelernt“ (ebd., 100). 43   Zuvor betonten bereits die Leichenpredigt (Wölbling, Gotteskämpfer, 5) und die ersten Nachrufe auf Hengstenberg die Bedeutung des Baselaufenthaltes (Schmieder, Hengstenberg, Sp.  750 f.; Kahnis, Gedächtniß, Sp.  419). 44   Bachmann 1, 109. 45   Kramer, Hengstenberg, 6. 46   So Wulfmeyer, Hengstenberg, 28 mit der Bestreitung der Bachmannschen Sicht ebd., 24–28 und schon Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 18–20. 47   Erstaunlicherweise wird es hauptsächlich mit dem „nüchterne[n] Verstand“ (Wulfmeyer, Hengstenberg, 27) des „Verstandesmensch[en]“ (Kramer, Hengstenberg, 6) Hengstenberg begründet, daß ihm eine so plötzliche Entwicklung oder gar „eine Erweckung“ (ebd.) nicht zugetraut wird. Auf derselben Linie liegt es, wenn der spätere Hengstenberg als Fremdkörper in der Erweckungsbewegung beschrieben wird, vgl. dazu unten 1.4. 48   Hirsch, Geschichte 5, 120; Hirsch dürfte hier einfach die Bachmannsche Sicht fortgeschrieben haben.

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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theologischen Wissenschaften zu legen“. Neben den drei Stunden Unterricht, die er dem cand. Stähelin täglich erteilte, blieb ihm dafür ausreichend Zeit, die er zum einen in intensive Hebräischstudien und zum anderen in die Erarbeitung von Kenntnissen im Bereich der Exegese und Kirchengeschichte investierte.49 Seinen Briefen lassen sich abgesehen von einigen Werken, die er seinem Selbststudium zugrunde legte, vor allem die Fortschritte entnehmen, die seine Bemühungen machten. Bereits Ende Januar 1824 scheint er sich ein recht umfassendes Bild von der zeitgenössischen Exegese gemacht zu haben. Dabei war er zu der Erkenntnis gekommen, daß eine rein grammatisch-historische Auslegung des Neuen Testaments, „ohne selbst vom christlichen Geiste beseelt zu sein“, ihrem Gegenstand nicht angemessen sei.50 Lange noch schwankend war er in seiner Beurteilung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament. Weder die ältere Ansicht, nach der AT und NT unproblematisch aufeinander zu beziehen seien, noch jüngere Ansichten – wie die Schleiermachers –, nach denen das Christentum vom AT weitgehend unabhängig sei, wollten ihm einleuchten.51 Unverkennbar ist freilich, daß er sich den theologischen Fragen mit 49

  Schon im Oktober 1823 schreibt er an die Eltern: „Alle meine übrige Zeit verwende ich auf meine theologischen Studien, in denen ich sehr gut fortschreite“ (Bachmann 1, 141). Brandis berichtet er am 4. Febr. 1824 von seinen Beschäftigungen (ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167): „Auch das will ich nicht zu dem Unangenehmen in meiner Lage rechnen, daß ich mit Arbeiten überhäuft bin, weil das in der Natur der Dinge liegt und wohl immer so bleiben wird. Ich gebe an den meisten Tagen drei Stunden, zu denen die sorgfältige Vorbereitung ebenso viele Zeit wegnimmt, zuweilen noch mehr. Drei Stunden täglich verwende ich auf das Hebräische, besonders auf genaues Studium der Grammatik, deren bis ins Kleinste gehende Kenntniß mir zu meinen künftigen Vorträgen über dieselbe durchaus erforderlich ist. Den ganzen Abend verwende ich dann auf meine eigentlich theologischen Studien und vorzugsweise auf Exegese und Kirchengeschichte, die mir immer anziehender werden, je mehr meine Kenntnisse in ihnen zunehmen.“ 50   Brief an W. Keetmann, Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 159 f. Im Gegensatz zu „der trockengelehrten Leipziger Schule“ (ebd., 159) vertritt er nun die Auffassung: „Diese grammatisch-historische Auslegungsart ist zwar gewiß die einzig richtige – aber es kommt darauf an, wie sie ausgeübt wird, und die von den Leipzigern aufgestellte Behauptung, daß das N. T. durchaus ebenso ausgelegt werden müsse, wie die heidnischen Schriftsteller, kann ich nicht für richtig halten. Denn ohne selbst vom christlichen Geiste beseelt zu sein, wird kein Exeget Etwas leisten, und seien seine grammatisch-historischen Kenntnisse noch so groß“ (ebd., 159 f.). Neben dem Galaterkommentar des Leipzigers Winer hatte er exegetische Werke von Paulus, Rosenmüller, Kühnöl, Keil und – mit besonderer Freude – von Georg Christian Knapp studiert. Zudem hatte er de Wettes ‚Theodor‘ und Steffens ‚Über die falsche Theologie‘ sowie Neander gelesen (ebd.). 51   Brief an W. Keetmann, Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 159: „Denn gerade über das A. Test. und über sein Verhältniß zum Neuen habe ich bis jetzt am Wenigsten ins Reine kommen können. Auf der einen Seite erscheint mir der Abstand des Christentums vom Judentum so ungeheuer groß zu sein, daß ich unmöglich der Ansicht der älteren Theologen, zu der auch jetzt die meisten Rationalisten, aber aus ganz andren Ursachen, sich bekennen, beitreten könnte, nach welcher das Judentum eine vollkommene Vorbereitung des Christentums und das Christentum nur eine Vollendung des Judentums sein soll; auf der andren Seite kann ich auch der Schleiermacherschen Ansicht, durch welche außerdem das Christentum eher verherrlicht als gefährdet würde, nicht entschieden beitreten, weil sie mir mit einigen deut-

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

einem sowohl wissenschaftlich als auch existentiellen Ernst widmete und sich nun auch die Begeisterung einstellte, die ihm seine früheren Studien allem Anschein nach nicht hatten bieten können. Während sein bisheriger Werdegang den Eindruck erweckt hatte, als ginge es ihm vor allem um wissenschaftlichen Fleiß und Ehrgeiz, so weisen seine Aussagen nun auf einen Erkenntniszweck hin, der über das reine Interesse an der Wissenschaft hinausgeht: „Alle Zeit, die ich nur von meinen orientalischen Studien übrig behalten kann, verwende ich auf das Studium der Theologie, die mir täglich theurer wird. Ich habe lange gedarbt und mich mit elender Speise behelfen müssen; aber desto größer ist jetzt auch mein Verlangen nach der erquik­kenden Himmelsspeise, die mir jetzt dargeboten wird. Ich freue mich, daß mein Wirken in eine Zeit fallen wird, die die reichsten Hoffnungen gewährt. Ueberall ist die Empfänglichkeit für das Höhere wieder angeregt; überall zeigen sich Spuren eines neu erwachenden religiösen Lebens. Mag dem Reinsten auch noch manches Unlautere sich beimischen; das Böse zeigt sich immer neben dem Guten. Das morsche Gebäude der Theologie ist eingestürzt und fröhlich wird man jetzt, nachdem der Schutt weggeräumt worden, einen neuen und herrlichern Bau auf dem Grunde beginnen, den keine Zeit erschüttert. Möchte auch ich dereinst würdig gehalten werden, an diesem Bau mitzuarbeiten! Nur diese Hoffnung verleiht mir noch einen fröhlichen Blick auf die Zukunft, und nur sie läßt mich nicht erliegen unter der Last des schon Gelernten und des noch zu Lernenden. Wahrlich, der Beruf eines Gelehrten ist der elendeste unter allen, wenn man ihn nicht von einem höhern Standpunkte und die Wissenschaften blos als Mittel zu höheren Zwecken betrachtet.“52

Schon bald erklärte sich Hengstenberg bereit, nicht nur Stähelin zu unterrichten, sondern auch in der Baseler Missionsanstalt den zukünftigen Missionaren Arabischunterricht zu erteilen.53 Er sah dies als weitere Möglichkeit an, sich für den künftigen Lehrberuf vorzubereiten. Eine besonders enge Beziehung zur Missionsanstalt scheint er dabei nicht geknüpft zu haben, und einzelnen Personen wie beispielsweise dem Direktor Christian Gottlieb Blumhardt oder dem neu als Lehrer aufziehenden Rudolf Stier stand er kritisch bis ablehnend gegenlichen Ausdrücken des N. Test. zu streiten scheint.“ An Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167: „Denn obgleich der Grundstein meiner Ueberzeugung unerschütterlich feststeht […], so befinde ich mich doch in manchen keineswegs unwichtigen Dingen in einem Schwanken, aus dem ich mir bisher nicht heraushelfen konnte: besonders gehört dahin die Untersuchung über das Verhältniß des Judenthums zum Christenthum. Die Schleiermachersche Ansicht, welche ungefähr mit der des Gnostikers Marcion zusammenfällt, hatte für mich früher viel Annehmliches; alleine sie streitet zu sehr mit den deutlichsten Aussprüchen des N.T., als daß ich ihr noch beistimmen könnte. Die Ansicht der älteren Theologen hingegen thut dem doch auf geschichtlichem Wege zu erforschenden Sinne des alten T. zu viele Gewalt an. Die Schwierigkeit der Sache zeigt sich erst recht, wenn man ins Einzelne eingeht. Ich wünschte umso mehr hierüber zur Klarheit zu gelangen, weil gerade die Erklärung des a.T. zumeist der Gegenstand meiner Bestrebungen seyn wird.“ Vgl. dazu unten 2.2.1. 52   Brief an den Vater, 13. Juni 1824, Basel: Bachmann 1, 169 f. 53   Vgl. Bachmann 1, 136–139. Hengstenberg erwähnt den Unterricht in den ebd. zitierten Briefen an die Eltern, aber auch in dem Brief an Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167; vgl. auch Anm.  56.

1.1  Bonn – Basel – Berlin

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über.54 Der Kontakt zu seinen Schülern und der lebendige Umgang mit der Bibel, wie er ihn an Jahresfesten und in Prüfungen erlebte, trugen jedoch dazu bei, daß er die anfänglichen Vorurteile gegen die Missionsanstalt fallen ließ und sich gegen Ende seiner Baseler Zeit bewundernd darüber äußerte, „wie sehr das Ganze von echt christlichem Geiste beseelt ist“. Er mußte – entgegen früheren Befürchtungen – feststellen, daß die Schüler an der Missionsanstalt „nicht in den Ketten irgend einer finsteren Dogmatik liegen, sondern durch den freien Geist der gläubigen Liebe getrieben werden“55. Hatten ihn beim Studium der neutestamentlichen Exegese vor allem diejenigen Arbeiten überzeugt, die nicht nur trockene Gelehrsamkeit ausstrahlten, sondern „von christlichem Geiste beseelt“ waren, so war es diese Art des Umgangs mit der Bibel, die ihn auch an der Missionsanstalt faszinierte. Die Lehrtätigkeit sowie das theologische Selbststudium ließen Hengstenberg wenig Zeit für das gesellschaftliche Leben in Basel. Zwar hielt er sich nicht streng an die Weisungen des Ministers, sich von den in Basel im Exil lebenden Deutschen fernzuhalten, sondern suchte in der ersten Zeit gerade zu ihnen Kontakt. Doch verständlicherweise waren die als Opfer der Demagogenverfolgungen in Basel gestrandeten Gelehrten vor allem an politischen Themen interessiert,56 und das in einer Weise, die das Interesse des jungen Doktors an politischen Fragen eher hemmte als föderte.57 Dazu kam in diesen Kreisen eine 54

  Vgl. Hengstenberg an seine Eltern, Basel 23. Nov. 1823: Bachmann 1, 135 (zu Blumhardt); ders. an Keetmann, Basel 8. Juli 1824: Bachmann 1, 163 f. (zu Stier); Blumhardt hielt Hengstenberg theologisch für zu „befangen“, an Stier kritisiert er die Bejahung der allegorischen Auslegungsart und seinen „geistlichen Stolz“. 55   Hengstenberg an Keetmann, Basel 8. Juli 1824: Bachmann 1, 165 f.; dort auch das vorige Zitat sowie eine sehr anschauliche und wenig beschönigende Schilderung eines Jahresfestes sowie der Examina. 56   Vgl. zur Demagogenverfolgung Nipperdey, Deutsche Geschichte, 282–285; Clark, Preußen, 459–463. – Am 24. Mai 1824 wurde in Preußen per Kabinettsordre „allen königlichen Unterhanen bey Verlust der Anstellungsfähigkeit und bei fiskalischer Androhung gegen Eltern und Vormündern, das Studium auf gedachten Universitäten“, nämlich Basel und Tübingen, untersagt (UA HU Berlin, Theolog. Fak. 18, f.  2 ). Darauf wandte sich sogleich Hengstenbergs besorgter Vater an den Minister, schilderte ihm, daß sich sein Sohn immer von der Universität in Basel ferngehalten „und bloß in der obern Klasse des Missionsinstituts einigen Unterricht im Arabischen ertheilt“ habe; gleichwohl werde er seinen Baselaufenthalt sofort abbrechen, wenn das Ministium dies wünsche (Pfr. Hengstenberg an Altenstein, 1. Juli 1824: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 [unpaginiert]). 57   Hengstenberg an Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167: „Natürlich schloß ich mich von Anfang an meist an die hier angestellten Deutschen an. Denn das Rescript von Berlin konnte und wollte ich nicht so auslegen, als ob man dadurch meine persönliche Freiheit beeinträchtigen wolle. Aber, obgleich gewiß mehr recht tüchtige und brave Leute unter ihnen sind, so sah ich doch bald, daß ein wahres Verhältniß zwischen mir und ihnen nicht möglich war. Bei allen hat das Politische alles andere verschlungen und durch die erlittenen Verfolgungen, sind die meisten zu einem Extrem hingetrieben, daß [sic!] ich durchaus nicht billigen kann. Aus dieser politischen Befangenheit geht dann nothwendig Intoleranz gegen fremde Meinungen, die im Umgange äußerst beschwerlich ist, hervor. Dazu kommt noch eine gewisse Bitterkeit gegen das Christenthum, die durch die Art

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

„gewisse Bitterkeit gegen das Christenthum“, die in ihrer Unversöhnlichkeit abschreckend auf ihn wirkte: „Glaube nur, die Dogmatik dieser Liberalen ist ebenso strenge, wie die eines orthodoxen Lutheraners im 17. Jahrhundert.“58 Hengstenberg war in seiner Bonner Zeit an politischen Themen nicht uninteressiert gewesen. Doch schon in seinem letzten Semester in Bonn war eine Ernüchterung eingetreten, die sich in Basel verstärkte: „Nachdem ich einmal das philosophische Fieber glücklich überstanden habe, wende ich mich immer mehr der Geschichte zu und kann daher nicht ihre überspannten Hoffnungen von der Zukunft theilen. Daß es auch in politischer Hinsicht besser werden muß und wird, davon bin ich zwar fest überzeugt, aber getrennt von einer Verbesserung des religiösen Zustandes, der ich freudig entgegensehe, hat für mich die politische gar keinen Werth; ja die äußere Freiheit erscheint mir sogar als verderblich, wenn sie nicht durch die innere, die nur durch die Religion und zwar nur durch eine geoffenbarte, nicht durch eine Vernunftreligion, von der man zwar hier Viel spricht, die aber in Wahrheit gar nicht existiert, bedingt wird.“59

Die Begegnungen mit den Deutschen verstärkten alles in allem nur das Gefühl der Einsamkeit. „Allein, daß ich mich hier doch nicht wohl fühle, liegt wohl mehr in meiner Individualität, wie in den äußeren Verhältnissen“, klagt er gegenüber Brandis.60 Nachdem er zuvor immer in enger Gemeinschaft mit der Familie oder mit den Studienfreunden gelebt hatte und selbst auf seinen Reisen in den Semesterferien nur selten allein war, kam ihm Basel wie ein „Exil“ vor.61 Sowohl für seine theologischen Fragen wie auch für seine persönlichen Bedürfnisse fehlte ihm der Austausch. Erst nach und nach wich im Frühjahr 1824 die „trübe Stimmung“62 , die ihn den Winter über begleitet hatte. Wenn der Aufenthalt in Basel für Hengstenbergs Entwicklung entscheidend war – und im Rückblick wird er dies selbst immer wieder betonen 63 – , dann wie es hier in die Erscheinung tritt, noch gefördert wird.“ Vgl. auch den Brief an Keetmann, Basel Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 157; vgl. zum Umgang mit den Deutschen in Basel Bachmann 1, 123 f. – Selbst dem aus Preußen vertriebenen de Wette stattete Hengstenberg einen Besuch ab. 58   Hengstenberg an W. Keetmann, Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 157. 59   Hengstenberg an W. Keetmann, Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 157; vgl. auch unten Anm.  93. 60   Hengstenberg an Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167. 61   So im Rückblick Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Pfingsten 1825: Bachmann 1,119; vgl. auch Hengstenberg an einen unbekannten Baseler Freund, Berlin 2. Pfingsttag 1825: Bachmann 1,156. Zu Hengstenbergs geselliger Lebensweise in Bonn s. ebd., 33– 40.43–64. 62   Hengstenberg an Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167 und Ders. an dens., Basel 5. Apr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  168 (über „die trübe Stimmung, welche mich diesen Winter sehr gequält hat“). 63   Hengstenberg an Keetmann, Basel Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 158: „Es ist dies Jahr für mich ein sehr wichtiges gewesen; der frohe Glaube hat bei mir in ihm den bangen Zweifel überwunden und mein Beruf, zu dem mich von Kindheit an eine dunkle Ahnung hinzog, tritt mir jetzt mit immer größerer Klarheit vor die Seele. O wenn ich doch nur bald mich

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nicht im Sinne einer plötzlichen Bekehrung, sondern vielmehr durch einen inneren Reifungsprozeß, der dadurch geprägt war, daß er, den bisherigen Beziehungen sowie der helfenden Begleitung entnommen und auf sich selbst gestellt, Halt und Austausch in der Lektüre theologischer Bücher suchen mußte. So erklärt sich seine Vorliebe für theologische Literatur, die sowohl wissenschaftlich als auch erbaulich ist. Da er zugleich während seines Baseler Aufenthaltes den Blick nie von Berlin abwandte, war es kein Zufall, daß es gerade Bücher Berliner Autoren waren, denen er wichtige Impulse verdankte. Aus seiner exegetischen und kirchenhistorischen Literatur hebt er nämlich immer wieder besonders zwei Autoren hervor: Neander und Tholuck. Ende Januar 1824 schreibt Hengstenberg an seinen Studienfreund Wilhelm Keetmann: „Recht dringend muß ich Dich bitten, die Neanderschen Schriften zu lesen. Ich kann Dir nicht sagen, welchen Genuß sie mir gewährt, wie oft sie mich aus meiner traurigen Stimmung gerissen haben, mit der ich Viel zu kämpfen habe [...]. In jeder Zeit des Christentums hat es einzelne Männer gegeben, die über ihrer Zeit standen und von ihren Gegensätzen nicht berührt wurden. Ein solcher Mann ist Neander. Er gehört nicht der streitenden Kirche an, deren Treiben so Manchen im Glauben wankend macht, sondern der unsichtbaren Kirche. Besonders empfehle ich Dir seinen Chrysostomus.“64

Neanders Schriften müssen einen großen Eindruck auf Hengstenberg gemacht haben, denn schon früh verbindet er seinen Blick auf Berlin mit dem Wunsch, in näheren Kontakt zu Neander zu treten.65 Bereits im Oktober 1823 hatte Dem ganz hingeben könnte, wofür ich immer mehr erglühe und was nur allein meinem Leben noch Werth giebt! Aber da muß erst die harte Schale durchbissen werden. Und wer weiß, ob ich nicht zu Grunde gehe, ehe ich zum Kern gelange.“ Hengstenberg an einen unbekannten Baseler Freund, Berlin 2. Pfingsttag 1825: Bachmann 1,155: „Ich sehe jetzt ein, daß der Aufenthalt in Basel, obgleich reicher für mich an Schmerzen als an Freuden, mir nicht vergeblich gewesen ist, sondern mir von der göttlichen Vorsehung zur Läuterung und Prüfung bestimmt war. Obgleich fest überzeugt von der Wahrheit und Göttlichkeit des Christentums und entschlossen, seinem Dienste mich hinzugeben, glaubte ich doch, als ich nach Basel kam, noch immer, mein früheres politisches Streben mit dem Christentum verbinden zu können.“ Vgl. auch Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Pfingsten 1825: Bachmann 1, 108.119 (s.u. Anm.  93). 64   Brief an W. Keetmann, Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 160. 65   Brief vom 23. Nov. 1823, Basel: Bachmann 1, 142 (Empfänger dort ungenannt): „Dann freue ich mich darauf, den Professor Neander kennen zu lernen, den ich durch den echt christlichen Sinn, der sich in seinen trefflichen Schriften ausspricht, lieb gewonnen habe und der unter den jetzt lebenden Bearbeitern der historischen Theologie wol den ersten Rang behauptet.“ Ein halbes Jahr später hofft er, vom Direktor der Baseler Missionsanstalt eine Empfehlung zu bekommen: „Auch denke ich, durch ihn manche Empfehlung nach Berlin zu erhalten, besonders an Neander, mit dem ich sehr in nähere Verhältnisse zu kommen wünsche“ (Brief an den Vater, Basel 2. Juni 1824: Bachmann 1, 138); vgl. den Brief an Keetmann, Basel 8. Juli 1824: Bachmann 1, 163 und ebd., 158. Im Rückblick wird Hengstenberg bekennen, zwar nie zu Neanders Füßen gesessen zu sein, aber „doch durch seine Schriften einst in heftigen Kämpfen des alten und des neuen Lebens vielen Segen erhalten“ zu haben (Vorwort, EKZ 48 [1851], Sp.  17).

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Hengstenberg Neanders ‚Denkwürdigkeiten‘ gelesen, doch wahrscheinlich war es speziell die Lektüre des ‚Chryso­stomus‘, die ihn für diese Art der Theologie erwärmt hatte.66 Das war sicher kein Zufall, denn das Buch trägt alle Eigenheiten von Neanders kirchengeschichtlicher Darstellungsweise: Es ist konzentriert auf das Leben eines Menschen, der in der Geschichte der Kirche eine wichtige Rolle spielt. Neander beschreibt Chrysostomus mit Einfühlung und Wärme, läßt ihn häufig selbst zu Wort kommen und macht sein Denken und Handeln auf eine Weise durchsichtig, daß sich auch die Glaubenden seiner Zeit darin wiederfinden können. Wenn er über den Kirchenvater sagt, daß „es sein eifriges Streben war, die Religion zur innigen Herzensangelegenheit aller Christen zu machen“67, dann läßt er ihn damit aussprechen, was ihm selbst Zentrum seines Arbeitens war. Den ‚Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Christenthums‘ (1823) hatte Neander die Meinung vorangestellt, „daß die Kirchengeschichte, wenn sie gründlich untersucht und unbefangen, nicht durch die Brille irgend einer dogmatischen oder philosophischen Schule betrachtet wird, am meisten dazu dient, das Eigenthümliche und Göttliche in dem Wesen des Christenthums und den Wirkungen desselben an’s Licht zu setzen, und dadurch das Herz zu erwärmen und zu erbauen“68 .

Wenn man Neander einen „Pectoraltheologen“ genannt und damit das Motto auf dem Widmungsblatt des ersten Bandes seiner ‚Allgemeine[n] Geschichte der christlichen Religion und Kirche‘ von 1826 – „Pectus est, quod theologum facit“69 – zum Leitwort gewählt hat, dann mit guten Gründen. Was ihn von seinem Göttinger Lehrer Gottlieb Jakob Planck (1751–1833), dessen Name sich mit der nüchtern-kritischen, aber eben auch troc­kenen aufgeklärt-pragmatischen Kirchengeschichtsschreibung verbindet, unterscheidet, ist just die Betrachtung des Christseins als Herzensangelegenheit, die sowohl den Blick des Forschers bei der Auswertung der Quellen als auch seine Intention bei der Darstellung bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt leitet er in der Tat eine neue Epoche der Kirchengeschichtsschreibung ein. „Kirchengeschichte wurde bei ihm zur Geschichte des christlichen Lebens, dem christlichen Leben der Gegenwart verwandt, ohne mit der Gegenwart verwechselt werden zu können.“70 Neander war überzeugt davon, daß man das christliche Leben in seiner ganzen 66   Neander, August (Hg.), Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Christenthums und des christlichen Lebens, Erster Band, Berlin 1823; Ders., Der heilige Johannes Chrysostomus und die Kirche, besonders des Orients, in dessen Zeitalter, 2 Bde., Berlin 1821 f. 67   Neander, Chrysostomus 1, 188. 68   Neander, Denkwürdigkeiten, III. 69   „Es ist das Herz, das zum Theologen macht.“ Neander, Allgemeine Geschichte 1/1 (1826), Widmungsblatt. Das Stichwort „Pectoraltheologie“ u. a. bei Mehlhausen, TRE 24, 241. Eine ausgewogene Würdigung des Werkes von Neander bietet Selge, Neander; vgl. auch Ders., Kirchenhistoriker, 410–419; unbefriedigend ist die Darstellung bei Hirsch, Geschichte 5, 116–118. 70   Selge, Neander, 235 f. Ob man ihm darum gleich die Ehre eines „Vaters der neueren

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Mannigfaltigkeit darstellen müsse und daß die Kirchengeschichte gerade dann, wenn sie „nicht durch die Brille irgendeiner dogmatischen oder philosophischen Schule betrachtet wird“, das „Eine in dem Mannigfaltigen erkennen läßt“71. Seine Darstellungen sollten daher immer beidem, „den Forderungen der Wissenschaft und jene[n] großen praktischen Bedürfnissen“ entsprechen, und die „Geschichte der Kirche Christi“ als „eine durch alle Jahrhunderte hindurch ertönende Stimme der Erbauung“72 zur Anschauung bringen. Hengstenbergs Äußerung über Neanders Schriften zeigt, daß ihm das gelungen ist. Wissenschaft und Erbauung – Schriften, die beide Aspekte verbanden, machten in Hengstenbergs Baseler Zeit einen tiefen Eindruck auf ihn. So gewann er mit der Zeit auch einen Zugang zu Tholuck. Stand er Tholucks „düstere[r] Ansicht vom Christentum“73 anfangs noch kritisch gegenüber, so scheint ihm die Begegnung mit den in Basel lebenden Deutschen Anlaß gegeben zu haben, der Tholuckschen Haltung zuzustimmen.74 Besonders angetan war er von Tholucks Römerbrief kommentar, der „meist Gelehrsamkeit und christlichen Sinn auf eine glückliche Weise“ vereinige 75, also wiederum beide Seiten zusammen­bringt. Zunehmend richtete er seinen Blick darum nicht mehr nur auf Neander, sondern auch auf Tholuck. Durch die Lektüre von Neanders und Tholucks Schriften hat sich Hengstenbergs Blick auf seinen weiteren Weg verändert. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, wie er gegen Ende der Baseler Zeit seinen Wunsch, in Berlin zu arbeiten, beschreibt. Es ist nun nicht mehr die rein wissenschaftliche Aussicht, die ihm Berlin reizvoll erscheinen läßt, sondern er empfindet nun „auch eine große Neigung, das dortige religiöse und theologische Leben durch eigene Anschauung kennen zu lernen“76 . „Besonders würde das dortige [scil. Berliner] rege wissenschaftliche und religiöse Leben für mich viel Anziehendes haben; obgleich an letzterem in Berlin sich viele Auswüchse zeigen mögen, so ist dies doch nicht der Fall, insofern es mit der Universität in Verbindung steht.“77

Zum wissenschaftlichen Interesse tritt nunmehr das anziehende religiöse Leben; für eine Verbindung von beidem stehen Neander und Tholuck. Kirchengeschichtswissenschaft“ angedeihen lassen muß (Uhlhorn, RE3 13, 686), ist fraglich. 71   Neander, Denkwürdigkeiten, III f. 72   Neander, Allgemeine Geschichte 1/1, VII. 73   Hengstenberg, Basel 8. Okt. 1823: Bachmann 1, 156 (Adressat nicht genannt): „Seine düstere Ansicht vom Christentum führt ihn so weit, daß er behauptet, die Vaterlandsliebe sei nichts als eine verfeinerte Selbstsucht.“ 74   Hengstenberg an einen Freund in Basel, 2. Pfingsttag 1825: Bachmann 1, 155 f. 75   Brief an Keetmann vom 8. Juli 1824: Bachmann 1, 163. 76   Brief an Keetmann, 8. Juli 1824, Basel: Bachmann 1, 152. 77   Brief an den Vater, 13. Juni 1824, Basel: Bachmann 1, 171.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Hengstenbergs erste Kontakte zur Berliner Erweckungsbewegung entwickeln sich demnach aus der Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Publikationen der beiden Berliner Theologen. Es ist wichtig zu sehen, daß Hengstenberg die Schriften Neanders und Tholucks nicht deshalb las, weil er besonderes Interesse an den Schriften von Erweckten gehabt hätte. Es war die Art und Weise, wie sie Theologie trieben, die ihn in einer Phase der Suche in Basel faszinierte und – gemeinsam mit den genannten Erfahrungen in der Baseler Missionsanstalt – in die Nähe der Erweckungsbewegung brachte. Dazu kommt ein Weiteres: Hengstenberg war nach Basel gekommen, um seine theologische Bildung voranzubringen. Naturgemäß studierte er deshalb eifriger als zuvor die Bibel. Die Beschäftigung mit den Schriften Neanders und Tholucks halfen ihm nun aber auch, die Wahrheit der heiligen Schrift neu zu entdecken, nämlich als eine Wahrheit, die sich in der Erfahrung bestätigt. Von Hengstenbergs neu gewonnenen Schrifteinsichten legt eine Quelle ganz besonderer Art Zeugnis ab. Aus seiner Baseler Zeit hat sich ein Heft mit Notizen erhalten, das bisher von der Forschung unbeachtet geblieben ist.78 Außer Ge­ legenheitsexzerpten aus verschiedenen theologischen und orientalistischen Fachbüchern enthält es ein längeres zusammenhängendes Stück, das sich deutlich von den Exzerpten abhebt.79 Überschrieben ist es mit dem Titel „Neander Anthropologie und Christologie [sic!]“. Es bietet jedoch kein Exzerpt einer Schrift Neanders, sondern eine kurzgefaßte Darstellung der neutestamentlichen Anthropologie und Christologie, die – wie sich aus dem Vergleich mit etwas späteren Äußerungen Hengstenbergs ergibt – offensichtlich von ihm selbst stammt. Daß es sich im Unterschied zu den übrigen Eintragungen aus der Baseler Zeit um kein Exzerpt handelt, ergibt sich schon an der äußeren Form: Während die Exzerpte in der Regel mit einigermaßen genauen bibliographischen Angaben versehen sind und größtenteils aus Stichworten und kürzeren Gedanken bestehen, handelt es sich bei dem vorliegenden Stück um eine zusammenhängende Abhandlung ohne jegliche Verweise auf Literatur. Zwar enthält der zweifellos von Hengstenbergs Hand stammende Text zahlreiche Kürzel und Abkürzungen, doch ist er aus einem Guß formuliert. Ein Rätsel stellt indes die Überschrift dar, denn es gibt kein Buch von Neander, das sich ausschließlich mit Anthropologie und Christologie beschäftigt oder gar einen solchen Titel getragen hätte. Man muß daher vermuten, daß sich Hengstenbergs Einsichten zur Anthropologie und Christologie in ihrer Grundausrichtung Neander verdanken, ohne von einem einzelnen Buch abhängig zu sein. Doch was könnte Hengstenberg gelesen haben, um zu seiner Darstellung angeregt worden zu sein? Zum Zeitpunkt, als er die Eintragungen vornahm – wahrscheinlich im Herbst 1823 80 –, lagen bereits mehrere Werke Neanders 78

  University of Chicago Library, SCRC, Ms 206.   Ebd., f.  18r–28v. 80   Auf die Eintragungen folgen ab f.  31r „Collectaneae zu einer praktischen Darstellung der Auslegungsart des Origenes“; Hengstenberg berichtet im Okt. 1823 von Basel aus an seine Eltern: Bachmann 1, 141: „Ich habe eine sehr weitaussehende kirchenhistorische Arbeit begonnen, eine genetische Entwickelung der Auslegungsart des Origenes [...]“. Vor den 79

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vor, die in Frage kommen. Zu denken wäre an Neanders Chryso­stomusdarstellung (1821), an seine Darstellung des christlichen Lebens in den ersten drei Jahrhunderten in den ‚Denkwürdigkeiten‘ (1823) oder an das Vorwort zu seiner Edition von Augustins ‚Confessiones‘ (1823).81 Vor allem letzteres, in dem sich Neander gegen das Spekulieren wendet und das Gnw~ ci seauto /n als besten und sichersten Weg für die religiöse Erkenntnis, zumal die des Chri­ste ntums empfiehlt, bietet Anklänge an Hengstenbergs Aufzeichnungen.82 Darüber hinaus könnte Hengstenberg das von Neander verfaßte Einladungsprogramm zur Jahresfeier der Bibelgesellschaft von 1816 in die Hände gefallen sein, worin dieser auf die Bedeutung der Schrift für die Selbsterkenntnis eingeht.83 Von Neanders ‚Chrysostomus‘ war Hengstenberg, wie erwähnt, tief be­ein­druckt,84 jedoch bietet das Buch keine speziellen Ausführungen zur Anthropologie oder Christologie. Es waren sehr wahrscheinlich Themen, die sich in Neanders Publikationen immer wieder finden – die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis für die wahre Frömmigkeit, die Abwehr von Spekulation und die christliche Demut als Überwindung des menschlichen Stolzes –, die auf Hengstenberg anregend wirkten und ihn dazu veranlaßten, seine Überlegungen mit dem Namen Neanders zu verbinden.

Hengstenbergs Ausführungen bestehen aus einer Einleitung und zwei Teilen, die den neutestamentlichen Befund darstellen, einem ersten über die Anthropologie und einem zweiten über die Christologie. In beiden Teilen werden zahlreiche Bibelverse auf griechisch aufgelistet. Kleine Einleitungen, Überleitungen oder auch etwas ausführlichere Kommentare rahmen das Netz von Belegstellen. Zentral ist die Einleitung, die von der Wichtigkeit der beiden Lehren handelt und dazu notiert: „An ihnen zeigt sich das Eigenthum des Christenthums. Von dieser Seite läßt sich am leichtesten die innere Wahrheit des Christenthums erkennen, weil jeder Mensch hier durch unbefangene Be­obachtung seiner Natur prüfen und erkennen kann. Die Erkennt-

Eintragungen (f.  17v) findet sich ein Exzerpt aus C. Klaiber, Die Lehre von der Versöhnung und Rechtfertigung, Tübingen 1823, die Vorrede dieses Werkes ist auf den April 1823 datiert (vgl. unten bei 2.3.4 den Exkurs zu Hengstenbergs Bibliothek). 81   Die früheren Publikationen Neanders (vgl. dazu Schneider, Neander, 41 f.43 f.49 f.60) über die Gnosis (Heidelberg 1811; Berlin 1818), ‚Über den Kaiser Julian und seine Zeitalter‘ (Berlin 1812) und ‚Der heilige Bernhard und sein Zeitalter‘ (Berlin 1813) bieten keinerlei Anhaltspunkte für eine entsprechende Rezeption. 82   Nicht das Spekulieren, „sed simplex illud et humile gnw~ci seauto /n optima est atque tutissima via et ad omnis religionis tum in universum naturam, tum religionis potissimum Christianae indolem recte cognoscendam et ad sensus pietatis vere Christianae comparandos“ (Neander, Augustini confessionum libri, IV). 83   Laut Neander führte die heilige Schrift „den durch Verbildung entarteten Menschen, der durch erkünstelte Bedürfnisse über die wahren Bedürfnisse seines Wesens sich getäuscht hatte[,] zuerst zur Selbsterkenntniß, ließ ihn bei göttlichem Lichte die übertünchten Gebrechen seiner innern Natur wahrnehmen und theilte ihm den Kindersinn des neuen Lebens mit, ohne den, nach dem Ausspruch des Erlösers, kein Eingehen in das Reich der Reinheit und Heiligkeit, das Himmelreich, möglich ist“ (Neander, Gewichtvolle Aussprüche alter Kirchenlehrer [1816], 4 f.). 84   Vgl. oben bei Anm.  64.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

niß dieser Lehren sichert einen festen Standpunct umd bewahrt vor vielen Abwegen und Irrthum.“85

Demnach läßt sich die Wahrheit des Christentums, wie überhaupt jeder Religion, aus der Anthropologie erkennen. Denn „an und für sich“ könne es in der menschlichen Natur keine Lüge geben. Grundsätzlich müsse jeder Mensch an sich selbst seinen wahren Zustand wahrnehmen können, wenn er seine Verblendung überwinde und sich unbefangener Selbsterkenntnis öffne. Eine Religion, die den Menschen zur Selbsterkenntnis führe und ihm zudem einen Weg weise, wie er seiner eigentlichen Natur entsprechend leben könne, liefere „einen objectiven Beweis ihrer Wahrheit“ (18r) 86 . Die unbefangene Selbstbetrachtung des Menschen biete als Maßstab für die Plausibilität religiöser Rede vom Menschen „einen Prüfstein der Religion, den jeder selbst in sich hat“ (ebd.). Dem entspricht, daß der Mensch von göttlichen Dingen nie unabhängig von seiner Natur und unabhängig von seinem Verhältnis zu Gott reden sollte. Nur so werde Spekulation vermieden. Es gehe darum, wie der Mensch in seinem jetzigen Verhältnis zu Gott stehe und wie sich damit das Handeln Gottes verbinde. Selbstverständlich sind diese einleitenden Überlegungen trotz ihrer allgemeinen Beziehung auf „die Religion“ im Blick auf das Christentum formuliert, denn das Christentum erfülle diese Bedingungen am besten. Es stelle Gott von Anfang an handelnd und in Beziehung auf den Menschen dar. „Es zeigt uns Gott als Schöpfer, Erlöser und Heiliger der Menschen.“ Es bringe treffend zum Ausdruck, daß die menschliche Natur der Erlösung bedürftig sei und wie sie durch die Erlösung werden soll, „quomodo ad gratiam accedat et quomodo sua gratia vivat“ (ebd.). Die beiden folgenden Teile dienen der Beleuchtung der vorangestellten These: Der erste Teil (18r–22v) beschreibt die menschliche Natur nach dem NT, ihre ursprüngliche Gottverwandtheit und ihre Entfremdung von Gott. Der zweite Teil stellt die Erlösung und Neuschöpfung des Menschen durch Christus dar (22v–28v). Beide Teile haben das Ziel, als zutreffende Deutungen der menschlichen Lage auf die Wahrheit des Christentums hinzuweisen. Der Schwerpunkt im ersten Teil liegt auf der Erhellung des Zwiespaltes in der menschlichen Natur: Der Mensch erfährt in seinem sittlichen Streben den Unterschied „zwischen dem was er ist und dem was er seyn soll“ (18v). Das nicht erreichte Ideal verweist auf die von der Schrift bezeugte ursprüngliche Gottverwandtschaft des Menschen: „Der Mensch war bestimmt nach seiner geistigen und sittlichen Art, das Bild Gottes darzustellen“ (21v), das höchste Glück des Menschen sei die Gemeinschaft mit Gott, das größte Werk des geschaffenen 85   University of Chicago Library, SCRC, Ms 206, f.  18r. Die folgenden Belege im Fließtext beziehen sich immer auf diese Handschrift, dabei werden die im Original zahlreichen abgekürzten Wörter stillschweigend ausgeschrieben. 86   Im Original unterstrichen.

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Geistes sei es, „das Organ der ihn beseelenden Gottheit zu seyn“ (ebd.). Gut könne der Mensch darum auch nur in Abhängigkeit von Gott als der einzigen Quelle des Guten sein. In der Abwendung von Gott habe damit alles Böse seinen Grund. Der Ursprung des Bösen liegt demnach im menschlichen Willen, der sich nicht von Gott beseelen lassen will. „Dieser Gegensatz gegen den göttlichen Willen macht das Wesen des Bösen aus“ (21r). Das Wesen des Bösen sei „die sich selbst vergötternde Selbstsucht“ (22v). Dabei ist die Möglichkeit der Abwendung des Willens von Gott als Teil seiner ursprünglichen Gottebenbildlichkeit verstanden, die es fordert, daß sich der Mensch frei und nicht gezwungen Gott unterstellt (21r). Gut und Böse stehen sich also als absolute Gegensätze gegenüber: Zwischen Gottverwandtschaft und der Entfremdung von Gott, zwischen dem Leben aus der Quelle und der Selbstsucht gibt es kein Drittes: „Außer Gott nur das Böse“ (21v). Damit wird die Radikalität der Sünde betont. Doch auch bei dem von Gott entfremdeten Menschen bleibt die Anlage der Gottähnlichkeit. In der Erlösungslehre stellt sich daher die Frage, wie diese Anlage wieder Wirklichkeit wird. Die dargelegte Lehre vom Menschen weist dabei auf zwei zu vermeidende Abwege in der Soteriologie, nämlich daß man „entweder das Vorhandenseyn jenes böse Prinzips in der menschlichen Natur leugnet“ oder daß man „das unaustilgbare Bild Gottes in der menschlichen Natur nicht anerkennt“ (22r). Insbesondere die erste Ansicht wird zurückgewiesen, denn sie mache die Offenbarung überflüssig. Der geschicht­liche Christus sei ihr nichts anderes „als die vollkommene Darstellung des in der menschlichen Natur liegenden Göttlichen“ (ebd.). Doch dabei werde das Ausmaß des menschlichen Verderbens sowie der Erlösungsbedürftigkeit unterschätzt. Sündenvergebung und einen Sieg über das Böse könne sich die Menschheit nicht selbst geben. Es müsse daher in der Entwicklung der Menschheit „ein objektives Moment“ geben, wo die Einheit des Göttlichen und Menschen dargestellt wird und wo das Gute, Gott­ ähnliche wieder siegreich in die menschliche Natur eintritt (22r). Davon handelt das Neue Testament. Es zeigt dem Menschen die Mittel, „die wahre Würde zu erhalten und göttlichen Geschlechts zu werden“ (18v). Im zweiten Teil wird Christus als der im AT verheißene Erlöser dargestellt. Dabei ist entscheidend, daß in Christi Leben und Lehre der Zwiespalt des Menschen – seine Entfremdung vom Guten – zunächst nur noch deutlicher hervortritt: „Und so fühlen wir uns dann, je mehr wir das Ideal der Heiligkeit betrachten, desto mehr von dem heiligen Gott entfremdet“ (25r). Gerade in Christus zeige sich Gott als der Gott der Liebe und der Heiligkeit. Daher bewirke er nicht durch seine Lehre, sondern durch sein Leben und Leiden die Erlösung, indem er die menschliche Natur zu ihrer verklärten, himmlischen Gestalt erhebe, woran der einzelne Mensch durch den Glauben Anteil bekomme. „In dieser neuen Schöpfung ist der Erlöser nun Alles, der Grund von Allem, sowohl in subjectiver als in objectiver Hinsicht, objectiv als Ursache der Sündenverge-

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

bung, subjectiv als Ursache der Heiligung.“ (25r) Eine solche Erlösung muß dem Menschen von außen zukommen, als „objective Tatsache“, „weil nur so der von Gott entfremdete Mensch ein festeres Vertrauen gewinnen kann“, sie stelle „aufs eindringlichste Gottes Heiligkeit und Liebe“ dar (25r). Die Erlösung realisiert sich im Leben des Einzelnen durch den Glauben, denn der Glaube ist in der Lage, „das Böse im Menschen gerade an der Wurzel anzugreifen und vom innersten Grunde aus eine ganz neue Lebensrichtung bei dem Menschen hervorzubringen“ (25v). Der Grund alles Bösen im Menschen sei die Selbstsucht, der Glaube aber bestehe in Demut und Selbstverleugnung, indem er alle Erlösung und Heiligung bei Christus finde (25v). Dabei bezeichne der Begriff „Glaube“ ein Doppeltes: Zum einen das Vertrauen auf die Realität göttlicher Dinge im Unterschied zu dem, was der Anschauung zugänglich ist, im Sinne von Hebr 11,1; zum anderen aber im speziellen, paulinischen Sinne das Vertrauen, daß Gott den Sündern durch den Erlöser Vergebung verschafft hat (27r). Durch den Glauben komme der Mensch zudem in Gemeinschaft mit dem Erlöser. An die Stelle der Selbstsucht trete „ein neues göttliches Prinzip, das pneu~ma Xristou~“ (27v). Hengstenbergs Erörterungen zur Anthropologie und Christologie bieten das früheste Zeugnis seiner theologischen Neuausrichtung. Deutlich zeigen sie den Einfluß erweckungstheologischen Denkens. Insbesondere die Betonung der Radikalität der Sündenverfallenheit und das Bemühen, die biblische Wahrheit an der menschlichen Selbsterfahrung zu erweisen, sind typische Züge. Ebenso sind die Konzentration auf die hamartiologisch bestimmte Anthropologie und die soteriologisch profilierte Christologie Kennzeichen der neuen Frömmigkeitsrichtung. Möglicherweise spiegelt sich in der Zweiteilung bereits Tholucks ‚Lehre von der Sünde und vom Versöhner‘ wieder, die im Frühjahr 1823 erschienen war und im Herbst bereits vielerorts gelesen wurde.87 Allerdings handelt es sich bei den Ausführungen Hengstenbergs nicht um eine Zusammenfassung der Lehren Neanders oder Tholucks. Allein schon die Form gibt sie als Meditation über das Neue Testament zu erkennen. Sie zeigen, daß Hengstenberg durch die Lektüre erweckungstheologischer Schriften selbst eine neue Sichtweise des biblischen Zeugnisses gewonnen hatte. Er war übrigens überzeugt, daß es sich dabei um die Sichtweise der Reformatoren handle. 1825 schilderte er seinem erstaunten Vater seine Überzeugung von der Tiefe der menschlichen Sündenverfallenheit, wie sie sich während seines Aufenthaltes in Basel entwickelt habe: Die menschliche Natur müsse durch die göttliche Gnade aufs neue für das in ihr ursprünglich einwohnende göttliche Licht empfänglich gemacht werden und als empfangende von Gott leben. Das sei – so schließt Hengstenberg – „die Lehre meiner theuren Lehrer[,] Luthers, Calvins und Me-

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  S. Witte, Tholuck 1, 293 und 317–336 sowie unten 1.3.1.

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lanchthons und was noch mehr, es ist die Lehre unseres Herrn“88 . Genaugenommen müßte man, was die Aufzählung der Reformatoren angeht, die Reihenfolge umdrehen. Was sich in Hengstenbergs frühen Überlegungen spiegelt, sind nämlich neben den Einflüssen der Berliner Erweckungstheologen vor allem Gedanken Melanchthons und Calvins 89. Beide hat er in Basel nicht nur studiert, sondern auch empfohlen. Melanchthons ‚Loci‘ und ‚Apologie‘ sowie Calvins ‚Institutio‘ böten, so schreibt er, „die Grundlagen, wo­r­auf das ganze spätere dogmatische Gebäude, freilich nicht mit Gold und Silber, sondern meist mit Stroh und Stoppeln, aufgeführt worden ist“.90 Daß die Eintragungen in Hengstenbergs Notizbuch sein theologisches Denken fortan kennzeichen, erhellt daraus, daß sich wesentliche Aspekte auch in späteren Ausführungen wiederfinden: Dabei ist nicht nur die Rede von der tiefen Wirkung der Sünde und von der Heiligkeit Gottes zu nennen, sondern auch die Beschreibung des Bösen als der dem Willen Gottes widersprechende menschliche Wille sowie die Charakterisierung der Sünde als Selbstsucht und des Glaubens als Demut.91 Mit der Auswertung der aus Hengstenbergs Baseler 88

  Hengstenberg an den Vater, 1. Pfingsttag 1825: Bachmann 1, 231; vgl. ebd., 230 f. die Ausführungen über die Sündenlehre: „Daß die menschliche Natur nur der Anregung bedürfe, kann ich nur in gewisser Hinsicht zugeben. Der erste Mensch besaß das ihm einwohnende Licht nicht als sein Eigentum sondern als freies Geschenk Gottes – nicht natura sondern gratia. Als er aus Gott heraustrat, wurde das Licht nicht verdunkelt, sondern ihm entzogen. Er behielt Nichts übrig, als was von der menschlichen Natur unzertrennlich ist, die Empfänglichkeit, es wieder zu erhalten. Selbst diese Empfänglichkeit ist bei uns, die wir ihm in Bezug auf Sündhaftigkeit und Irrtum ganz gleich sind, nicht eine thätige sondern eine ruhende. Soll sie zur Wirksamkeit kommen, so muß sie durch die göttliche Gnade geweckt oder angeregt werden. Aber diese angeregte Empfänglichkeit ist noch nichts Positives, ebenso wenig, wie das Fühlen des Hungers Sättigung; aber was sie nicht ist, das empfängt sie – Licht und Leben wird ihr von Oben, von dem Vater des Lichts.“ 89   Auch für Tholucks Sündentraktat ist Melanchthon einflußreich, vgl. Tholuck, Lehre, 113–117 und Witte, Tholuck 1, 310; daneben spielt Calvins Werk eine wichtige Rolle für Tholucks Exegese, was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß Tholuck in den 30er Jahren Calvins neutestamentliche Kommentare neu her­ausgab und damit die Reihe der Calvineditionen im 19. Jh. eröffnete (vgl. Witte, Tholuck 2, 173 und Fields, Calvins Werke, 12). 90   Hengstenberg an Keetmann, Basel 10. März 1824: Bachmann 1, 162. Im selben Atemzug nennt er später auch die Confessio Augustana, vgl. dazu unten 3.3.1. 91   Wiederholt werden die Lehren „von der Verderbtheit des Menschen und seiner natürlichen Unfähigkeit zu allem Guten, von der wahren Gottheit unsers Herrn und Heilandes, von der Seligkeit allein durch den Glauben an ihn und die Aneignung Seines heiligen Lebens und Seines versöhnenden Todes und was damit zusammenhängt“, wie hier im ersten Programmentwurf für die EKZ vom 19. Mai 1827, als die „Grundwahrheiten der Evangelischen Lehre“ bezeichnet (Bachmann 2, Anhang, 12); vgl. Hengstenberg an Therese, 16. Jan. 1828: Bachmann 2, 16: „Ich führte ihn gleich auf die beiden Hauptpunkte, die Erkenntniß der Sünde und die Erfahrung der Gnade“. Von Demut und Selbstverleugnung als Kennzeichen des Glaubens ist ebenfalls in den Brautbriefen häufig die Rede, vgl. z. B. 6. Jan. 1828: Bachmann 2, 148: „Ich hoffe nächstens einen Aufsatz über einen Gegenstand schreiben zu können, der mich schon seit längerer Zeit vielfach beschäftigt hat: ‚Das gebrochene Herz der Mittelpunkt des wahren Christentums und das einzige untrügliche Kennzeichen des wahren Christen‘: Auch da wird das Gefühl mich begleiten, wie weit das Leben noch hinter der

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Zeit stammenden Handschrift fällt also nicht nur neues Licht auf die Genese von Hengstenbergs Denken, sie bietet auch einen eindrücklichen Beleg für die ältere Aufassung, derzufolge die Ursprünge von Hengstenbergs theologischer Ausrichtung in seiner Baseler Zeit zu suchen sind. Hengstenbergs Baselaufenthalt läßt sich demnach folgendermaßen rekapitulieren: Als Hengstenberg nach Basel kam, brachte er keine profilierten theologischen Anschauungen mit, aber ein doch im großen und ganzen – auch durch das bisherige Studium nicht angetastetes – positives Verhältnis zum Christentum. Aufgewachsen im Pfarrhaus, hat er zweifellos die biblische Überlieferung von klein auf in sich aufgenommen. Darüber hinaus war er durch sein philologisches Studium im Umgang mit Texten geschult, und es stand ihm außer Zweifel, daß Theologie in erster Linie Umgang mit den Quellen, sprich: Exegese und Kirchengeschichte, bedeuten mußte.92 Er ging jedoch mit anderen Erwartungen an das Studium der Texte, als er es bisher getan hatte. Durch die Erfahrung des Alleinseins in Basel und die Suche nach Orientierung, die wohl bereits am Ende des Bonner Studiums eingesetzt haben dürfte,93 ging er mit persönlichen Fragen an die Lektüre und bevorzugte Bücher, die ihn in diesem Sinne anregten. Dabei wuchsen ihm besonders die Schriften von Neander und Tholuck ans Herz. Sie befriedigten ihm beides: die Suche nach profunder wissenschaftlicher Arbeit und die Suche nach Erbauung. Außerdem ließen sie ihn die Bibel mit neuen Augen sehen. Damit aber waren entscheidende Weichen für den weiteren Weg gestellt. Wenn Hengstenberg später verschiedentlich betonen wird, er sei „auf die freieste und selbständigste Weise, durch Schrift und Erfahrung, ohne irgend eine menschliche Auctorität“ zum Glauben an die „einfachen Grundwahrheiten des Christenthums“ gelangt und erst danach habe er die Übereinstimmung seines Glaubens mit dem kirchlichen Lehrbegriff wahrgenommen,94 dann trifft diese Aussage nur auf sein Verhältnis zur Lehre der Erkenntniß zurückbleibt. Es ist mir besonders in der letzteren Zeit zur lebendigsten Anschauung geworden, wie alles einzelne Böse bei mir in dem Mangel an Gebrochenheit des Herzens seinen Grund und seine Wurzel hat [...]“. Zur Rolle des Willens vgl. unten 2.4.1.1. 92   Bereits in seinem ‚Vitae Suae Curriculum‘: Bachmann 1, 327, bezeichnet er die biblischen Texte, für deren Lektüre die philologische Bildung dringend erforderlich sei, als „jene erste und letzte Quelle der Theologie“ – „primum illum et ultimum theologiae fontem“. 93   Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Pfingsten 1825: Bachmann 1,108: „Meine ganze zu nehmende Richtung hat sich schon zu Ende des letzten Winters, den ich in Bonn zubrachte, entschieden. Dort hatte ich schon die Nichtigkeit der Philosophie erkannt und mich von ihren lästigen Fesseln befreit – ich sah schon ziemlich ein, daß das Streben, worin ich und die mit mir Verbundenen bisher befangen gewesen waren, ein zwar aus einer guten Quelle hervorgehendes, aber doch eitles und nichtiges sei – es fiel mir schwer aufs Herz, daß es Thorheit sei, die äußere Freiheit erringen zu wollen, ehe man zur inneren gelangt ist. Ich sehnte mich nach einer Ueberzeugung, die auf einen mehr objectiven Grund gebaut, wie die bisherige, mich von der unseligen Unruhe befreie und mir eine festere Haltung gewähre, und mit dieser Sehnsucht war auch die Ahnung ihrer Befriedigung verbunden.“ 94   Hengstenberg, Herr Dr. Steudel, EKZ 8 (1831), Sp.  397.

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung

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Kirche zu. Für die grundlegende Einsicht, daß sich die Schriftwahrheit an der menschlichen Selbsterfahrung aufweisen lasse, hat er jedenfalls entscheidende Anstöße von Neander und Tholuck erhalten. Beide dürften auch dazu beigetragen haben, daß Hengstenberg bereits in Basel den Entschluß faßte, sich in Berlin besonders historischen und exegetischen Studien zu widmen. Von der dogmatischen Theologie, insbesondere ihrer spekulativen Form, erwartete er in Berlin hingegen wenig, wie sein Urteil über Marheineke belegt: „Marheinecke ist ein äußerst unklarer Kopf, der sich selbst nicht versteht, und was ihn ganz unbrauchbar macht, ist, daß er die Hegelsche Philosophie auf die Theologie überträgt.“95 Die Richtung war vorgezeichnet: Kirchengeschichte und Exegese, Neander und Tholuck sollten die er­sten Anlaufstellen werden. Lange bevor Hengstenberg nach Berlin kam, nahm er Anteil an theologischen Entwicklungen in der preußischen Hauptstadt.96

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung „Uebrigens ist es dem Ministerium genehm, daß Ihr Sohn sich demnächst bei der hiesigen theologischen Fakultät habilitiren will, und darf er bei seinem Vorhaben auf die Unterstützung des Ministerii hoffen“97 – so die vielversprechende Auskunft des Ministers an Hengstenbergs Vater vor Abreise seines Sohnes nach Basel. Fristgerecht meldete sich der Sohn daher im Juni 1824 beim Minister, übersandte ihm ein Exemplar der soeben erschienen Übersetzung der aristotelischen Metaphysik, die er gemeinsam mit Brandis verfaßt hatte,98 und teilte ihm seinen Wunsch mit, sich „bei der philosophischen Facultät in Berlin [zu] habilitiren“, „um später zu der theologischen Facultät überzugehen.“99 Bereits 95   In dem Brief an Keetmann, Basel 10. März 1824: Bachmann 1, 161 f. fährt er fort: „Seine Dogmatik ist ein sonderbares Gemisch aus dem theologischen Schulsystem und dieser Philosophie, die, an und für sich schon verworren, in seinem unklaren Kopfe noch verworrener geworden ist. Ueberhaupt ist in Bezug auf die Dogmatik für Deine Bedürfnisse in Berlin schlecht gesorgt. Außer M. wird sie noch von Schleiermacher gelesen. Aber obgleich Schleiermacher sich selbst wol versteht, obgleich Alles was er giebt klar gedacht ist, so würdest Du doch, wenn Du aus seinen Vorträgen Nutzen ziehen wolltest, nothwendigerweise vorher seine Hauptwerke, die Dogmatik, die Reden über Religion u.s.w. genau durchstudieren müssen. Denn Schleiermachers Vorträge können nur dann gehörig benutzt werden, wenn man sie in ihrem ganzen Zusammenhange, in dem sie erst ihre Bedeutung gewinnen, einsehen kann. Das ist aber durch das bloße Anhören einer Vorlesung gar nicht möglich.“ 96   Vgl. auch Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Pfingsten 1825: Bachmann 1, 170: „Als ich nach Berlin kam, war meine Ueberzeugung schon ebenso ausgebildet als sie jetzt ist; nur hat sie mehr Wärme und Leben gewonnen.“ 97   Ministerium an Pfr. Hengstenberg, Berlin 4. August 1823: s. oben Anm.  38. 98   Aristoteles Metaphysik, übersetzt von E.W. Hengstenberg; mit Anmerkungen und erläuternden Abhandlungen von Ch.A. Brandis, Bonn 1824. 99   Hengstenberg an Minister Altenstein, Basel 8. Juni 1824: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert); vgl. Bachmann 1, 147.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

im November des Vorjahres hatte sich Hengstenberg für den Umweg über die philosophische Fakultät entschieden.100 Der Grund war rein äußerlicher Art. Um sich an der theologischen Fakultät habilitieren zu können, mußte er zunächst das Lizentiatenexamen ablegen.101 Bis dahin würde aber einige Zeit verstreichen, in der er weder lehren noch auf eine Unterstützung für seine Lehrtätigkeit hoffen konnte. Habilitierte er sich jedoch an der philosophischen Fakultät, würde er schon bald auch unterrichten und das Ministerium um finanzielle Hilfe bitten können. Der Umweg würde so zur Abkürzung, wie er dem Vater mitteilt: „Ich werde mich an der philosophischen Facultät habilitieren müssen, weil ich nicht Licentiat der Theologie bin. Auch ist dies deswegen gut, weil in der Philosophischen Facultät die Beförderung schneller geht, wie in der theologischen.“102

Natürlich wollte Hengstenberg keine rein philologischen Vorlesungen halten. Über seinen Freund Keetmann, der inzwischen in Berlin studierte, ließ er daher bei Neander und Tholuck in Erfahrung bringen, ob man an der philosophischen Fakultät in Berlin Lehrveranstaltungen über das Alte Testament anbieten könne.103 Sein Lehrer Freytag hatte das in Bonn regelmäßig getan. Die Antwort Neanders, von Keetmann übermittelt, war nicht ablehnend, jedoch solle er sich mit der theologischen Fakultät ins Benehmen setzen. Da Neander keinesfalls „einem trockenen Philologen die Behandlung des A.T. anvertrauen“ wollte, war er beruhigt zu erfahren, daß Hengstenberg bereits eifrig theologische Studien betrieben hatte. Auch von Tholuck übermittelte Keetmann einen herzlichen Willkommensgruß.104 Mit diesen Aussichten verließ der Doktor der Philosophie Basel und kam Anfang Oktober in Berlin an, wo er sein Quartier in der Taubenstraße 26 bezog – nur wenige Straßenzüge vom Universitätsgebäude ‚Unter den Linden‘ entfernt. Bereits am 22. Oktober wurde der Habilitationsakt mit einem öffentlichen Vortrag abgeschlossen.105 Hengstenberg sprach „über die nahe Verwandtschaft der semitischen Völker in Bezug auf Sprache, Charakter, Religion und

100   Brief aus Basel vom 23. Nov. 1823, der Empfänger bleibt bei Bachmann ungenannt: „Ich werde mich in Berlin im Anfang in der philosophischen Facultät habilitiren und im ersten halben Jahre ein Hebraicum, entweder Grammatik oder die Psalmen, und dann Syrisch und Arabisch lesen“ (Bachmann 1, 142). 101   Vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 66 f. Das Lizentiat entsprach dem Doktorgrad der anderen Fakultäten. 102   Hengstenberg an seinen Vater, Basel 2. Juni 1824: Bachmann 1, 146. Nur als Privatdozent konnte ihm das Ministerium eine Unterstützung unabhängig von der Zustimmung des Königs gewähren (vgl. Bachmann 1, 202). 103   Hengstenberg an Keetmann, Basel 8. Juni 1824: Bachmann 1, 152. 104   S. Keetmann an Hengstenberg, [Berlin]: Bachmann 1, 153 f. ohne Angabe des Datums. 105   Bachmann 1, 201.

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung

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Dichtkunst“ – ein um seines unverfänglichen Charakters willen gewähltes Thema.106 Damit war die erste Hürde genommen und der frisch gekürte Privatdozent konnte so­gleich mit Vorlesungen beginnen. Von den Hörergeldern ließ sich freilich nicht leben, im Arabischkolleg hatte er zwei, im Syrischen drei Hörer – von weiteren Lehrveranstaltungen sah er mit Blick auf die Vorbereitungen für das theologische Lizentiatenexamen ab –,107 doch eine außerordentliche Unterstützung durch das Ministerium in Höhe von 100 Talern schaffte eine, wenn auch nur kleine Erleichterung.108 Die Hoffnung, mit Neander und Tholuck in näheren Kontakt zu kommen, erfüllte sich ebenfalls. Bereits Anfang November wurde er von Neander zu seinen Sonntagabendversammlungen eingeladen.109 Am 30. November meldete er dem Vater: „Ich besuche Tholuck ziemlich oft.“, und schon im Januar bemerkte er in einem Brief über denselben ganz beiläufig, daß er ihn „fast täglich sehe“.110 Bei den beiden Bekanntschaften blieb es natürlich nicht, sondern durch ihre Vermittlung und weitere Kontakte erweitere sich rasch sein Bekanntenkreis, und binnen weniger Wochen öffneten sich Hengstenberg die Kreise der Berliner Erweckungsbewegung. Die Erweckungsbewegung, die Hengstenberg im Herbst 1824 in Berlin kennenlernte, hatte ihre große Sturm-und-Drang-Phase bereits hinter sich.111 In 106

  Hengstenberg gibt diese Begründung explizit für die Wahl eines ähnlich gearteten Themas („über die Entwickelung der Arabischen Poesie“) für den Probevortrag vor der Fakultät: „Ein solches rein gelehrtes Thema schien mir nothwendig, um bei Niemandem anzustoßen“ (Brief an den Vater, Basel 2. Juni 1824: Bachmann 1, 147; vgl. 201). 107   Hengstenberg an seinen Vater, Berlin Anfang Nov. 1824: Bachmann 1, 201 f. 108   Bereits am 23. Okt. richtete er als Privatdozent ein Gesuch an das Ministerium mit der Bitte um finanzielle Hilfe, da nur wenige Studierende das Hebräische, Syrische und Arabische besuchten und daher wenig Honorar zu erwarten sei. Der Minister wies am 1. Nov. die außerordentliche Remuneration an (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1; vgl. Bachmann 1, 206 f.). Das Gesuch ist das erste einer langen Kette von Bitten um materielle Unterstützung, die Hengstenberg in regelmäßigen Abständen an das Ministerium senden mußte. Bereits am 24. Nov. teilt er dem Minister mit, daß seine Einkünfte nicht ausreichten; die nächste Bittstellung datiert vom Febr. 1825 usw. (s. GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1), Näheres dazu s. unten 4.1. 109   „Am Sonnabende besuchte ich Neander und wurde von ihm, was mich außerordentlich freute, da ich ihn aus seinen Schriften so sehr lieb gewonnen hatte, mit großer Liebe aufgenommen und gleich auf den folgenden Abend eingeladen. Es war eine größere Gesellschaft da; ich saß neben ihm und wir sprachen den ganzen Abend mit einander. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, ihm recht nahe zu kommen.“ (Hengstenberg an den Vater, Berlin Anf. Nov. 1824: Bachmann 1, 203); vgl. dazu auch unten Anm.  237. 110   Hengstenberg an seinen Vater, Berlin 30. Nov. 1824 und 13. Jan. 1825: Bachmann 1, 205 und 206. 111   Zur Erweckungsbewegung in Berlin s. Wendland, Erweckungsbewegung; Wendland, Erwachen; Althausen, Gesellschaften, bes. 8–45; einschlägig sind außerdem die Biographien von Beteiligten, s. neben Bachmann 1, 178–195 z. B. auch Maser, Kottwitz; Petrich, Thadden, 11 f.14–20; Witte, Tholuck; M. Funk, Elsner; Kulke, Dreger. Aus ihrer eigenen Erinnerung berichtet Henriette Funk, die Tochter Samuel Elsners, in einem Brief an

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

den Jahren nach den Befreiungskriegen hatte sie Gestalt angenommen, während einzelne ihrer Protagonisten – wie bespielsweise Baron Hans Ernst von Kottwitz (1757–1843) und der Kaufmann Samuel Elsner (1778–1856) – bereits zuvor ihre Aktivitäten in Berlin entfaltet hatten. Die Ur­sprünge der Bewegung sind vielgestaltig. Pietistische Kreise gab es in Berlin seit dem späten 17. Jahrhundert. Sie lebten auch im 18. Jahrhundert – allerdings in kleinerer Zahl – fort. Ab 1784 traten sie in Verbindung zum örtlichen Ableger der Deutschen Chri­ stentumsgesellschaft.112 Eine besondere Rolle spielten daneben die Herrnhuter, die seit 1747113 eine Gemeinde in der preußischen Hauptstadt hatten. Sie umfaßte zwar wenig Mitglieder, aber zu ihren Gottesdiensten im Betsaal in der Wilhelmstraße 136, wo seit 1816 Prediger Anders wirkte, versammelten sich viele Gläubige.114 Eine Art Kristallisationspunkt für die verschiedenen Gruppen bildete zudem seit Ende des 18. Jahrhunderts die Bethlehemskirche, ihrer Entstehung nach auch Böhmische Kirche genannt. Prediger Johann Jänicke (1748– 1827), der dort seit 1779 tätig war und 1792 ihr erster Prediger wurde, war eine charismatische Gestalt, von seinen Anhängern liebevoll „Vater“ oder auch „Papa Jänicke“ genannt.115 Im Jahr 1800 gründete er das erste deutsche Missionsseminar. Selbst durch einen Prediger der Brüdergemeine bekehrt und kurzzeitig im Seminar der Herrnhuter in Barby als Lehrer beschäftigt, stand er im engen Kontakt mit den Brüdern in Berlin. Seine schlichte und spontane Predigtweise zog zunächst vor allem die niederen Schichten an, von 1816 an und besonders nach 1818 versammelten sich aber zunehmend auch Adlige um ihn, die zuvor den in diesem Jahr verstorbenen Justus Gottfried Hermes (1740–1818) in der St. Gertraud-Kirche am Spittelmarkt (auch: ‚Spittelkirche‘) gehört hatten.116 Daß aus den verschiedenen erbaulichen Versammlungen und den Anhängern erwecklicher Prediger eine Bewegung in Gang kam, dazu bedurfte es freilich besonderer Impulse. Einer entsprang dem gesellschaftlichen Klima nach den Befreiungskriegen. Alles drängte auf Neuanfang und Auf bruch. Allerdings war Bachmann, Lübeck 9. Nov. 1874: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. Ihre Schilderung ähnelt dem Rückblick des 1846 nach Berlin gekommenen Büchsel, Zustände. 112   Vgl. Kulke, Dreger; Wendland, Erweckungsbewegung, 5–10.13–18; vgl. zur Arbeit der Christentumsgesellschaft Weigelt, Diasporaarbeit, 125–129.131. 113   Lisco, Zur Kirchen-Geschichte, 364 nennt mit 1747 das Jahr der offiziellen königlichen Duldung; Meyer, TRE 7, 228 bezeichnet das Jahr der ersten Ansätze zur Bildung der Sozietät, 1745, als Entstehungsdatum; vgl. zum Kontext Weigelt, Diasporaarbeit, 113–115. 114   Vgl. Wendland, Erweckungsbewegung, 9 f.; Bachmann 1, 187; Lisco, Zur KirchenGeschichte, 364. 115   Zu Jänicke s. Wendland, Erweckungsbewegung, 16–18 (das Todesjahr ebd., 16, ist in 1827 zu korrigieren); Wittich, BBKL 2, 1440 f.; Althausen, Gesellschaften, 26–30 sowie den Nekrolog in der EKZ 1 (1827), Sp.  180–184, Nr.  23 von Leopold von Gerlach (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 1) und die Biographie aus dem 19. Jh. von Ledderhose. Eine Schildung ironisch-kritischer Art findet sich bei Gutzkow, Knabenzeit, 97–99, dessen Eltern auch zu den Hörern Jänickes zählten. 116   Vgl. Wendland, 17.

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung

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man sich hinsichtlich der Strategien, die dabei zum Einsatz kommen sollten, nicht einig.117 Im wesentlichen gab es zwei Alternativen: Die einen setzten auf Reformen, die tiefgreifende Einschnitte in die bisherige Gesellschaftsordnung vorsahen und völlig neue Wege beschritten. Die anderen versprachen sich mehr vom Rückgriff auf die Zeit vor den großen Umbrüchen in Europa, vor Napoleon und der Fran­zösischen Revolution, und der behutsamen Weiterentwicklung bewährter Ordnung. Für die ersteren stehen die Namen der großen preußischen Reformer Stein und Hardenberg. Letztere versammelten sich um eine Gruppe von Konservativen, die sich mit den Gedanken des Publizisten Adam Müller und vor allem des Staatsrechtlers Karl Ludwig von Haller beschäftigten,118 dessen ‚Restauration der Staats­wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt‘ (1816–1822) schließlich auch das Schlagwort zur Kennzeichnung ihrer Bemühungen bilden sollte. In den Konzeptionen der konservativen Denker spielten religiöse Aspekte eine tragende Rolle. Die von konservativ-romantischem Gedankengut angeregten Zeitgenossen – sie gehörten insbesondere der jüngeren Generation an – versammelten sich in Berlin beim Gastwirt Mai in der Schloßfreiheit; die wöchentliche Abendgesellschaft firmierte daher unter dem Namen ‚Maikäferei‘. Viele ihrer Teilnehmer wurden schließlich von der religiösen Erweckung ergriffen.119 Dazu war aber noch ein zweiter Impuls nötig. Dieser war religiöser Art. Im Zusammenhang der konservativen Auf bruchsstimmung nach den Befreiungskriegen war die Rückbesinnung auf die religiösen Wurzeln der Gesellschaft eine wichtige Komponente. Damit verband sich, daß viele der aus den Befreiungskriegen zurückkehrenden jungen Männer in den großen Umbrüchen Gott selbst am Werk sahen. Das hatte Auswirkungen auf ihr Gottesverständnis. In den erlebten Wirren und der Kriegsnot, aber auch in der Erfahrung der Befreiung zeigte sich ihnen kein rational begreif bares höch­stes Wesen, sondern der äußerst wirksame, in die Zeitläufte eingreifende Gott der Geschichte. Die eher „beschaulich geartet[e], [...] auf das Glück des einzelnen, der still und genügsam dahinlebte“120, gerichtete Art der Frömmigkeit der Auf klärungszeit wurde dadurch stark erschüttert.

117   S. zum Folgenden Clark, Preußen, 373–399.459–469; Clark, Revival; Schildt, Konservatismus, 42–50. 118   Vgl. E.L. v. Gerlach, Aufzeichnungen 1, 101–103; dazu Kraus, Gerlach, 74–91.120– 126. 119   Vgl. E.L. v. Gerlach, Aufzeichnungen 1, 94 f. Für die Anfangszeit dieses Kreises wird von Gerlach zwar „das Kirchlein des alten Hermes“ als „ein geistlicher Mittelpunkt“ bezeichnet, doch er fügt hinzu, es sei „aber im ganzen kein voller Ernst mit dem Christentum“ unter seinen Angehörigen auszumachen gewesen (ebd., 95). S. auch Wendland, Erweckungsbewegung, 24–26; Kraus, Gerlach, 74–76. 120   Holl, Bedeutung, 348.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Der religiöse Impuls bekam seine konkrete Ausrichtung 121 schließlich durch die Erweckung, die sich in der römisch-katholischen Kirche Bayerns vollzog und mit den Namen Sailer, Goßner, Boos und Lindl verbunden ist.122 Zahlreiche Berliner reisten nach München zu Goßner, um sich selbst ein Bild zu machen, und nicht zufällig sahen viele der jungen Berliner Konservativen in dieser Begegnung den Auslöser für eine religiöse Lebenswende, die sie fest im religiösen Milieu beheimatete.123 Es waren die Jahre 1814–1824, in denen sich die Berliner Erweckungsbewegung formierte. Teil dieser Entwicklung war die Entstehung von vier bedeutenden Gesellschaften, in denen sich die Berliner Erweckten trafen und die gewissermaßen das institutionelle Rückgrat der ansonsten organisatorisch kaum greif baren Bewegung bildeten; dabei handelt es sich um die Preußische Hauptbibelgesellschaft (1814), den Hauptverein für christliche Erbauungsschriften (1814), die Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden zu Berlin (1822) und die Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden (1824).124 Ihre Anfänge reichten zurück in die Zeit der französischen Besatzung. Die entscheidenden Anregungen zur Gründung von rechtlich verfaßten Gesellschaften kamen aber schließlich aus der englischen Erweckungsbewegung, wo es in den religious societies bereits zahlreiche Vorbilder gab. Der Einfluß aus England ist neben den bereits genannten Impulsen ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor bei der Bildung der Bewegung. Es ist typisch für ihre Entstehung, daß sie nicht auf eine Person, ein Ereignis oder eine Gruppe zurückgeführt werden kann, sondern daß verschiedenste Anregungen zusammenflossen. Entscheidend war, daß sich ein Netz von Personen bildete, die – auf unterschiedliche Weise angeregt – ein gemeinsames religiöses Erleben und eine gemeinsame Frömmigkeit verband. Durch sie entfaltete die Bewegung in ihren ersten Jahren eine starke Dynamik.

121   Holl hebt zu Recht hervor – was Darstellungen über die Erweckungsbewegung nur selten erwähnen – , daß die Erfahrungen der Befreiungskriege gleichwohl auch unter den religiös Denkenden nicht zwangsläufig zur Erweckung führten. Vielmehr geht wie im Politischen so auch im Religiösen „die Entwicklung der Frömmigkeit von Anfang an in zwei scharf getrennte Linien auseinander“ (Holl, Bedeutung, 352): neben der erweckten stand „diejenige Frömmigkeit, die Fichte, Arndt und Schleiermacher in der Unglückszeit Preußens zu wecken suchten“ (ebd., 355). 122   Vgl. Weigelt, Erweckungsbewegung; Beyreuther, Erweckungsbewegung, 32 f.; Aland, Berlin. 123   S. Wendland, Erweckungsbewegung, 26–28; Aland, Berlin, 117–120; die ersten, die sich 1816 auf den Weg machten, waren Adolf von Thadden und Karl von Lancizolle (Petrich, Thadden, 17 f.; Wendland, Erweckungsbewegung, 27; vgl. E.L. v. Gerlach, Aufzeichnungen 1, 97). 124   Vgl. Althausen, Gesellschaften; ein kurzer, aktualisierter Überblick bei Maser, Kottwitz, 160–172; zur Judenmissionsgesellschaft vgl. Clark, Conversion, bes. 124–175 und Schrenk, Judenmission.

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung

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Hengstenberg bekam von diesen ersten Jahren nur noch die Folgen mit. Als er 1824 nach Berlin kam, hatte sich die Bewegung bereits konsolidiert. Die „fieberhafte Erregung“125, die in den Anfängen viele ergriff, war in ruhigere Bahnen gelangt. Sicherlich war auch Hengstenberg von der Auf bruchsstimmung nach den Kriegen nicht unberührt geblieben. In Bonn hatte er sich den Burschenschaften angeschlossen und bei Ereignissen wie der Amtsenthebung von Ernst Moritz Arndt nicht nur reges Interesse gezeigt, sondern durch Teilnahme an Protesten auch selbst Partei ergriffen.126 Um an den Befreiungskriegen eigenen Anteil genommen zu haben, war er indes zu jung. Auch hatte er während seiner Studentenzeit nie in einem ähnlich romantisch-konservativen Milieu verkehrt, wie es in Berlin existierte. Ebensowenig hatte er miterlebt, wie dort das christliche Leben in teilweise enthusiastischer Begeisterung neu auf blühte. Er war auch, was ganz entscheidend ist, im Unterschied zu vielen Berliner Erweckten nicht über Schleiermacher zur Erweckungsbewegung gekommen. Sein Erfahrungshintergrund war ein anderer. Man kann diesen Punkt kaum stark genug betonen. Doch welches Bild bot sich ihm bei seiner Ankunft 1824? Die Erweckungsbewegung hatte bereits viele Anhänger, selbst am königlichen Hof, und zunehmend zählten sich auch Pfarrer und Theologen dazu.127 Außerdem hatte sie die Universität erreicht. Nicht mehr nur Neander, sondern auch Tholuck und seit 1822 Gerhard Friedrich Abraham Strauß (1786–1863) wirkten dort in ihrem Sinne. Dazu kam eine immer größer werdende Zahl von Studenten, die dem erweckten Milieu entstammten. Auch unter den Professoren und Dozenten anderer Fakultäten gab es zahlreiche Sympathisanten, wie beispielsweise die Juristen Friedrich Karl von Savigny, Moritz August von Bethmann-Hollweg und Karl Wilhelm von Lancizolle.128 Sicherlich war es auch in den zwanziger Jahren in Berlin – sowohl gesellschaftlich als auch kirchlich gesehen – eine Minderheit, die sich den erweckten Kreisen zugehörig fühlte, die Erweckung war aber kein gesellschaftliches Randphänomen. Sie hatte bereits eine feste Stellung im Leben der Hauptstadt. Zugang zu den Kreisen der Erweckten bekam Hengstenberg zunächst über Neander. Dieser war es auch, der das Fortkommen des jungen Gelehrten nach Kräften förderte.129 Nicht zuletzt aufgrund seiner Unterstützung hatte die Fakultät bereits im Januar 1825, also noch vor Hengstenbergs theologischem Lizentiatenexamen, dem Ministerium den Vorschlag gemacht, ihn zum Interims-

125

  Wendland, Erweckungsbewegung, 28.   S. Bachmann 1, 28–40, zur Amtsenthebung Arndts ebd., 36 f. 127   S. Wendland, Erweckungsbewegung, 59–61.74 f.; Bachmann 1, 187 f.265 f. 128   S. Wendland, Erweckungsbewegung, 20 f.36–41; Bachmann 1, 265 f. 129   Dafür blieb ihm Hengstenberg zeitlebens – trotz späterer Differenzen – dankbar, vgl. dazu unten 2.1.1. 126

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

leiter des alttestamentlichen Seminars zu machen,130 einen Vorschlag, den das Ministerium jedoch mit Verweis auf Alter und die noch ausstehende Lizentiatur des Privatdozenten Hengstenberg als „ganz unstatthaft“ zurückwies.131 Mit besonderer Betonung des „Dr. phil.“ und der Bemerkung, daß jener Dr. phil. Hengstenberg „von seiner theologisch-wissenschaftlichen Tüchtigkeit noch keinen öffentlichen Beweis abgelegt hat“, wird auch ein weiteres Gesuch der Fakultät abgelehnt. Sie hatte den – von Neander wärmstens empfohlenen132 – Antrag gestellt, Hengstenberg das theologische Lizentiatenexamen zu erlassen, da er „in seinem Hauptfache“ – dem Alten Testament – „schon zwey Mahl und einmal sogar auf der hiesigen Universität examiniert worden“ sei,133 „und ihn sofort zur Einreichung einer Disputation und zur öffentlichen Disputation aufzufordern“134. Nach der Ablehnung des Antrags blieb Hengstenberg nichts anderes übrig, als sich dem Examen zu unterziehen. Am 11. April 1825 legte er die Prüfung ab, am 16. April fand der öffentliche Promotionsakt mit Disputation statt. Daß Neander ihm auf diesem Weg in die theologische Fakultät jegliche Unterstützung zuteil werden ließ, war Hengstenberg sehr bewußt, wie er kurz darauf gegenüber Tholuck bemerkt: „Neander thut alles mich zu empfehlen; ich erkenne es an als eine der größten Gnadenerweisungen des Herrn gegen mich, daß er mir die Liebe des herrlichen Mannes erworben hat. O wie fern bin ich noch der Selbstverläugnung und Liebe, die ich an ihm bewundere.“135

130   Antrag der Theologischen Fakultät, Berlin 18. Jan. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  11, f.  76.79.80, unterzeichnet von Strauß, Neander und Schleiermacher; vgl. zum Kontext unten 4.1. 131   Minister Altenstein an die Theologische Fakultät, Berlin 8. Febr. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1, unpaginiert (Extract) bzw. ebd., Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  11, f.  84 (Konzept). 132   Bachmann 1, 214 f. 133   Das erste Mal bei seinen Doktorexamen in Bonn durch Freytag (Bachmann 1, 94), das zweite Mal bei seiner Habilitation an der Philosophischen Fakultät in Berlin durch Bellermann (ebd., 201). 134   Theologische Fakultät an das Ministerium, Berlin 15. Febr. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (vgl. Bachmann 1, 214). Ebd. (vgl. Bachmann 1, 215 f.) auch die Ablehnung des Ministeriums – „der zu befürchtenden Exemplification wegen“ – an die Theologische Fakultät, Berlin 28. Febr. 1825. Zu tieferen Motiven der Ablehnung vgl. unten Teil 4.1. 135   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 18. Apr. 1825: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 113 („des Herrn“ korrigiert nach dem Original: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 370). Ebd. auch die Angabe zur Datierung des Examens, wofür Bachmann noch keine Belege auffinden konnte (Bachmann 1, 218). Vgl. zum ganzen Vorgang Bachmann 1, 214–219. Der Termin der Disputation, 16. April, 11 Uhr im Auditorium maximum, geht auch aus einem Brief an Bädecker hervor, der Hengstenberg just an diesem Tag gemeinsam mit Hoffmann von Fallersleben einen Besuch abstatten wollte (Hengstenberg an Karl Bädecker, [Berlin] 15. Apr. 1825: Stadt- u. LaBi Dortmund, Autograph Nr.  6786).

1.2  Ankunft in Berlin: Universitätskarriere und Erweckungsbewegung

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Jedoch war dies erst der Anfang. Neander unterstützte Hengstenberg auch in den kommenden Jahren regelmäßig bei seinen Anträgen um finanzielle Hilfen beim Ministerium und trug entscheidend dazu bei, daß der Privatdozent am 31. Januar 1826 schließlich zum Extraordinarius befördert wurde und trotz mehrerer Versetzungsversuche von seiten des Ministers auch später in Berlin bleiben konnte.136 Der positive Eindruck, den Hengstenberg durch die Lektüre der Neanderschen Schriften gewonnen hatte, bestätigte sich so in der persönlichen Begegnung. Nach dem ersten Berliner Jahr konnte er Brandis melden: „Ich erwartete viel von Berlin, aber ich habe mehr gefunden als ich erwartete. [...] Am meisten verdanke ich Neander, an den ich mich, obgleich in manchen Ansichten von ihm abweichend, vorzüglich angeschlossen habe. Seine Einfalt, seine Selbstverläugnung, seine Demuth und Liebe und dabei seine wissenschaftliche Tiefe zogen mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihm hin. Er hat mir viele Beweise seiner Liebe gegeben, hat alles gethan mir einen Wirkungskreis zu verschaffen und auch bis jetzt auf jede Weise mit Rath und That unterstützt.“137

Sowohl Neanders Charakter als auch die Art seines wissenschaftlichen Arbeitens übten einen bleibenden Einfluß auf Hengstenberg aus, selbst dann noch, als es zwischen ihnen – bei der Frage des Verhältnisses von Theologie und Glaube – zu Meinungsverschiedenheiten kam.138 Während sich der Anschluß an Neander insgesamt reibungslos gestaltete, war die Annäherung an Tholuck von einer intensiven Auseinandersetzung geprägt. Der Kontakt bahnte sich langsamer an, wurde aber auf die Länge der Zeit gesehen enger. Hengstenberg war noch kein halbes Jahr in Berlin, da brach Tholuck zu seiner ersten Englandreise auf. Während dieser Zeit – vom 25. Februar bis zum 2. Oktober 1825 – wohnte Hengstenberg in Tholucks Wohnung in der Neustädter Kirchstraße 7, was darauf schließen läßt, daß sich bereits ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Privatdozent und dem nur wenig älteren Extraordinarius entwickelt hatte. Wie Hengstenberg zu Tholuck stand, drückte er 136   S. dazu unten Teil 4.1. Von Neanders Reaktion auf eine mögliche Versetzung des jungen Freundes berichtet Hengstenberg: „Neander war selbst schmerzlich bewegt und ich habe bei dieser Gelegenheit seine große Liebe zu mir erst kennengelernt“ (Hengstenberg an Tholuck, Berlin 24. Juli 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 687; bei Bonwetsch, Aus den Anfängen, 117 f. ausgelassen). 137   Hengstenberg an Brandis, Berlin 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169. Vgl. auch Ders. an einen ungenannten Freund in Basel, Berlin 2. Pfingsttag 1825: Bachmann 1, 232: „Meine Sehnsucht nach Berlin war sehr groß und ich fand mich im Ganzen in meinen Erwartungen keineswegs getäuscht. Neander kam mir von Anfang an mit der größten Liebe entgegen und hat mir dieselbe bis auf diese Stunde erhalten. Sein Umgang ist mir besonders deshalb sehr heilsam, weil er frei ist von Einseitigkeiten, die sich in der theologischen Welt auf allen Seiten hervordrängen, zumal da ich von Natur zu Einseitigkeiten geneigt bin. Seine demüthige Selbstverleugnung, die nie das Eigne sucht, ist mir ein Vorbild, das ich nie zu erreichen hoffen darf.“ 138   S. dazu unten 2.1.1.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

im bereits oben mit Blick auf Neander zitierten Schreiben an Brandis offenherzig aus: „Mit Tholuck habe ich viel verkehrt und sein Umgang ist für mich sehr bildend und fördernd gewesen, doch konnte ich mich nicht so an ihn anschließen wie an Neander, weil bei ihm das Menschliche noch weit mehr hervortritt und weil unsre Individualitäten gar zu verschieden sind. Für die Erweckung des schlummernden geistigen Lebens ist niemand so geeignet als er; nicht so gut wirkt er vielleicht auf die, bei denen das geistige Leben schon erweckt ist und die sich seiner Übung genug hingeben.“139

Den Grund für die langsamere Annäherung sieht Hengstenberg demnach in den verschiedenen „Individualitäten“, den unterschiedlichen Charakteren beider Männer. Doch war dies nur die eine Seite. In Berlin zeigte sich nämlich nun auch, daß die Anregungen, die Hengstenberg in Basel von Neander und Tholuck empfangen hatte, keine kritiklose Übernahme der erweckungstheologischen Konzepte implizierte. Hengstenbergs eigenes theologisches Profil gibt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gerade im Vergleich mit Tholucks Denken zu erkennen.

1.3  Tholuck und Hengstenberg: verschiedene „Individualitäten“ – unterschiedliche Theologie Betrachtet man den Werdegang der beiden Berliner Dozenten rein äußerlich, dann stechen zunächst weniger die Unterschiede als vielmehr die Gemeinsamkeiten ins Auge. 1799 geboren, war Tholuck nur drei Jahre älter als Hengstenberg und gehörte damit auch zu der Generation, die nicht aktiv an den Befreiungskriegen teilgenommen hatte. Erstaunliche Parallelen zeigen sich im Bildungsweg: Wie bei Hengstenberg war es auch bei Tholuck zunächst die Sprachbegabung, die sein Interesse lenkte. Bereits als Jugendlicher soll er sich 19 Sprachen mehr oder weniger korrekt angeeignet haben, wofür sein mehrsprachig verfaßtes Tagebuch beredtes Zeugnis ablegt. Besondere Vorliebe hegte er für orientalische Sprachen, insbesondere für das Arabische. 140 So kam er nach Berlin zunächst weniger wegen der Möglichkeiten, die ihm die Universität bieten konnte, sondern vielmehr weil er mit dem berühmten Orientalisten und ehemaligen preußischen Gesandten in Konstantinopel Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) in Kontakt zu kommen wünschte. Erst durch ihn wurde sein Interesse für die christliche Religion geweckt, so daß er sich schließlich für das Studium der Theologie immatrikulierte.141 139

  Hengstenberg an Brandis, Berlin 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169.   Witte, Tholuck 1, 25–27; vgl. auch ebd., 16 f. (Einlage) das Faksimile aus Tholucks Tagebuch. 141   Witte, Tholuck 1, 51–81. 140

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Hengstenberg war zwar von Anfang an auf das theologische Studium zugegangen, doch wie oben dargelegt, nahm er dann zunächst auch den – bis zur Habilitation in Berlin führenden – Umweg über die orientalischen Sprachen; beide lassen sich gewissermaßen als Quereinsteiger in die Theologie beschreiben. Was die Berliner Fakultät angeht, so war es im Falle Tholucks ebenfalls Neander, der die stärkste Anziehungskraft ausübte, während Schleiermacher ihn wenig interessierte.142 Ausgehend von diesem Bildungsweg ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich beide insbesondere der Exegese und der Geschichte zuwandten, als sie ihre Lehrtätigkeit aufnahmen. Dies geschah bei Hengstenberg – rechnet man seine Tätigkeit als Privatdozent der Philosophie mit – im Alter von 22 Jahren, bei Tholuck mit nur 21 Jahren, was auch für damalige Verhältnisse sehr jung war. Doch nicht nur der Beginn, auch der Inhalt der ersten Lehrveranstaltungen weist eine frappierende Affinität auf: Tholuck las zunächst über die Geschichte der Hebräer und die Psalmen (Sommer 1821), darauf über die Christologie des Alten und des Neuen Testaments sowie über die klassischen messianischen Stellen des Alten Testaments (Winter 1821/22).143 Hengstenberg bot in seinem ersten Semester als Privatdozent der Theologie Veranstaltungen über die Geschichte der Hebräer und über die Psalmen an (Winter 1825/26).144 Seit Juni 1827 arbeitete er an einem Heft „über die Messianischen Weissagungen“145 , das schließlich sein bedeutend­stes Werk, die ‚Christologie des Alten Testaments‘, werden sollte. Tholuck, der selbst ein solches Werk geplant und deshalb von Hengstenberg vorab informiert worden war, begrüßte das Unternehmen und legte es gern in dessen, „hierzu viel tüchtigere[...], Hände“146 – schließlich hatte er in Halle nun den neutestamentlichen Lehrstuhl inne, während er in Berlin den vakanten Lehrstuhl de Wettes vertreten hatte, den im Herbst 1828 Hengstenberg übernehmen würde. Bei so vielen Gemeinsamkeiten kann es kaum erstaunen, daß sich die beiden Gelehrten schnell näher kamen, zumal wenn es um fachwissenschaftliche Fragen ging. Nicht zufällig ist es nach Hengstenbergs Auskunft „das Menschliche“, das die Annäherung erschwerte. In der Tat bestanden im Blick auf familiäre Prägung und Charakter erhebliche Unterschiede zwischen beiden. Hengsten142

  Witte, Tholuck 1, 62.103–105.   Witte, Tholuck 1, 191 f.; nach seiner Lizentiatenpromotion im Dez. 1820 hatte Tholuck im Winter 1820/21 nur verkürzte Vorlesungen angeboten. 144   Bachmann 1, 244; Verzeichnis der Vorlesungen, Winterhalbjahr 1825; vgl. Hengstenberg an Tholuck, Berlin 16, Juni 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 509; Hengstenberg lehrte laut dieser Mitteilung zu diesem Zeitpunkt noch gleichzeitig an der philosphischen Fakultät. 145   Bachmann 2, 161. 146   Tholuck an Hengstenberg, Halle s.d. [1827]: Nl Hengstenberg, Mappe Tholuck I, 82: „Deinem schriftst. Unternehmen erbitte ich den Segen von oben u. lege es gänzlich in deine, hierzu viel tüchtigeren, Hände. Wenn deine Arbeit fertig ist, könte ich dir einige Auszüge über einzelne Stellen in philol. Hins. mittheilen. Ich freue mich herzlich über dieses dein Unternehmen.“ Vgl. auch Bachmann 1, 161. 143

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

berg stammte aus einem westfälischen Pfarrhaus, Tholuck hingegen wuchs als Sohn eines Breslauer Juweliers ohne kirchlichen Hintergrund auf. Tholucks Gefühlswelt unterlag seit seiner Kindheit den größten Schwankungen, sprühend-genialische Ausbrüche und depressive Rückzüge in sich selbst wechselten sich ab.147 Zwar besaß auch Hengstenberg – wofür besonders seine Briefe Zeugnis ablegen – eine hohe Emotionalität, und auch er litt nicht selten unter Niedergeschlagenheit,148 doch nach außen wirkte er ruhiger, verschlossener und weniger zugänglich. Außerdem vollzug sich seine innere Entwicklung gleichmäßiger und bei weitem nicht so sprunghaft wie bei Tholuck. Kein Wunder also, daß Hengstenberg in der ersten Zeit zunächst vor allem die Verschiedenheit der „Individualitäten“ wahrnahm. Wie sah es aber im Bereich ihrer theologischen Ansichten aus? Lange vor seiner Ankunft in Berlin hatte Hengstenberg Tholucks frühe Veröffentlichungen gelesen: Tholucks Abhandlung ‚Ueber das Wesen und den sittlichen Einfluß des Heidenthums [...] mit Hinsicht auf das Christenthum‘149 in Neanders Denkwürdigkeiten von 1823 – eine Art religionsgeschichtliche Verortung des Christentums unter ethischer Perspektive –, seinen Römerbriefkommentar von 1824,150 vor allem aber den 1823 zwischen diesen beiden Büchern – zunächst anonym – erschienenen wirkungsmächtigen Traktat ‚Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder Die wahre Weihe des Zweiflers‘. Man hat das bis 1871 in neun Auflagen erschienene Buch zu Recht als „Standardtraktat“151 der deutschen Erweckungsbewegung bezeichnet. Hengstenbergs Auseinandersetzung mit Tholuck und der von ihm repräsentierten Erweckungstheologie läßt sich daher am besten an seiner Stellung zu diesem Werk zeigen, das „von dem vier und zwanzig jährigen Jünglinge im ersten Herzensdrange des neu gefundenen Glaubens für eine diesem Glauben fast gänzlich entfremdete theologische Welt geschrieben“152 worden war. Dazu muß zunächst Tholucks ‚Lehre von der Sünde‘ etwas ausführlicher analysiert werden.

147

  Vgl. Witte, Tholuck 1, 1–15 und passim.   Vgl. Bachmann 1, 167 und v. a. die Nachrichten aus der Baseler Zeit, außer den genannten (s.o. bei Anm.  62) erwähnt auch J.J. Stähelin an Bachmann, Basel 15. Nov. 1872, eine „eingetretene Geistesbedrückung, Melancholie, die aber nie sehr stark war“ (UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung). 149   In: Neander, Denkwürdigkeiten, 1–246; vgl. Witte, Tholuck 1, 473, Nr.  3, wo allerdings nicht der Titel der ersten Aufl. genannt wird und das Erscheinungsjahr (in 1823) sowie die Seitenangabe zu korrigieren ist. Hengstenberg hat das Buch sofort im Oktober 1823 gelesen (s. Bachmann 1, 156, Anm.). 150   Tholuck, Römer; vgl. Witte, Tholuck 1, 474, Nr.  1; zu Hengstenbergs Lektüre s.o. bei Anm.  75. 151   Wenz, Erweckte Theologie, 253. Die genaue Auflistung der Auflagen bei Witte, Tholuck 1, 473 f., Nr.  4. 152   So Tholucks eigene Angabe im Vorwort zur siebten Auflage, s. Tholuck, Werke 1, VII. 148

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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1.3.1  Erfahrung und Offenbarung: Tholucks ‚Lehre von der Sünde und vom Versöhner‘ Wenn sich die ‚Lehre von der Sünde‘ laut Tholucks Rückblick in erster Linie an die „theologische Welt“ richten sollte, dann darf man dies nicht zu eng auffassen und schon gar nicht den faktischen Leserkreis daraus ablesen, denn „[b]ewußt auf der Grenze zwischen wissenschaftlicher und erbaulicher Diktion angesiedelt“153, sprach das Werk sowohl Theologen als auch in großer Zahl gebildete Laien an.154 Allerdings lassen sich in dem bereits am Titel ablesbaren zweiteiligen Auf bau der Schrift sowie in den einzelnen Teilen klassische dogmatische Loci wiederfinden: Die erste Hälfte behandelt Protologie und Hamartiologie, die zweite Christologie und Soteriologie, daneben gibt es auch Seitenblicke auf die Ekklesiologie155 und einen eschatologischen Ausblick am Schluß156 . Tholuck hat das Buch – mit Ausnahme der Anhänge – in wenigen Wochen, gewissermaßen in einem Zug niedergeschrieben.157 Ursprünglich sollte es ein Traktat für den Hauptverein für christliche Erbauungsschriften mit dem Titel ‚Glaubst du, daß du ein Sünder bist?‘ werden, heraus kam ein sehr viel umfangreicheres und das Niveau eines Erbauungstraktates weit übersteigendes Buch,158 dessen Titel bewußt an de Wettes ‚Theodor oder des Zweiflers Weihe. Die Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen‘ (1822) anknüpfte.159 Neu an Tholucks Werk war nicht so sehr die literarische Form – ein Briefwechsel zwischen den Jünglingen Guido und Julius, der jedoch der Länge und der Diktion der Briefe wegen die angestrebte Fiktion streckenweise sprengt –, sondern vielmehr der „erfahrungstheologische Ansatz“160. Allerdings ist damit zu wenig 153

  Wenz, Erweckte Theologie, 254.   Zur Aufnahme des Buches vgl. Witte, Tholuck 1, 317–336. 155   Tholuck, Lehre, 206–208. 156   Nicht zufällig endet das Buch mit der Szene an Antons Totenbett (Tholuck, Lehre, 210–214). – Vgl. zur systematischen Methode Tholucks auch Kim, Lehre, 4 – die Aussage, das Buch sei „einem dogmatischen Kompendium vergleichbar“ (ebd., 152), verkennt allerdings die Bedeutung der gattungsspezifischen Merkmale. 157   So seine eigene Auskunft (Tholuck, Werke 1, VIII), allerdings beschäftigte ihn der Plan des Buches bereits im Oktober 1822, vollendet war das Werk am 30. März (Witte, Tholuck 1, 293). 158   Dieser Entstehungskontext wird in den Darstellungen mit Ausnahme von Kähler, Geschichte, 132 immer übersehen. Den Anstoß für den Traktat hatte Samuel Elsner gegeben (vgl. Tholuck, Werke 1, VII), ein Traktat unter jenem Titel ist in der Reihe des Vereins später tatsächlich – anonym, aber sicher aus anderer Hand – unter der Nr.  17 erschienen. 159   Wenn Tholuck, Werke 1, VIII behauptet, der Titel sei erst später dazugekommen und eine polemische Absicht habe ihm fern gelegen, dann kann das nur heißen, daß der Titel nicht von Anfang an feststand, denn schon während seiner Arbeit sprach er in den Tagebüchern von seinem „Antitheodor“ (Witte, Tholuck 1, 292). Selbst die „Bildungsgeschichte“ zweier Jünglinge beschreibend, drängte sich ihm der Vergleich mit dem viel gelesenen Buch de Wettes wohl früh von selbst auf. 160   Kaufmann, Rationalismus, 53. So ist der Ausgangspunkt für den Briefwechsel, daß 154

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

gesagt. Zwar spielt die Reflexion auf das eigene Erleben eine zentrale Rolle in der Darstellung, doch geht es Tholuck – ganz ähnlich wie später den Erlanger Theologen161 – letztlich um die Vermittlung des subjektiven Erlebens mit den Aus­sagen der Schrift.162 Mit der Betonung des eigenen Ich, das sich nicht nur im Denken, sondern insbesondere im Fühlen selbst bewußt wird und bei allem Reden von Gott und der Welt als unhintergehbare Instanz berücksichtigt werden muß, teilt das Buch Schleiermachers Grundanliegen, doch andererseits steht es noch ganz auf dem Boden des alten Offenbarungsglaubens. Der subjektbezogene Ansatz zeigt sich in erster Linie in der Sündenlehre des ersten Abschnittes, während die offenbarungstheologische Sicht vorwiegend den zweiten Abschnitt der Schrift (‚Von dem Versühner‘) bestimmt.163 Im ersten Abschnitt bietet sich Julius, der gerade seine Wiedergeburt erfahren und da­r­auf hin das Theologiestudium begonnen hat, um das, „was er erfahren habe, nun auch seinem Zusammenhang nach, kennen zu lernen“ (11), dem Freund „als ein hölzerner Wegweiser auf dem Pfade“ (11) zum Himmel an. Mehr als ihm den Weg weisen, kann er nicht, da nur die göttliche Weisheit selbst „durchs Erleben zum Erkennen“ (12) führe. Allerdings führt der Weg zunächst nicht hinauf, sondern hinab, denn das, was Julius der Suche voranstellt, „als die Angel alles menschlichen Wissens, ist die Delphische Inschrift: Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntniß möglich, und keine Weisheit ist verwerflicher als die, welche die Augen uns aussticht, damit wir in unser eignes Innere nicht schauen“ (12 f.). Es geht also zunächst hinab, „in die Tiefen der Erkenntniß Deiner selbst“ (13). Zu dieser Erkenntnis soll einerseits die Diskussion der Frage nach dem Ursprung des Bösen verhelfen,164 andererseits aber vor allem die Erkundung des eigenen Ich, denn nirJulius’ „Herz [...] aus Erfahrung [habe] kennen lernen, was Wahrheit sei, aus einer Erfahrung, so gewiß nur irgend eine andre seyn könne“ (Tholuck, Lehre, 10). 161   Vgl. Hirsch 5, 426, der das „Ineinssetzen von persönlicher Erfahrung, Schrift und Bekenntnis“ als die „Grund- und Hauptaussage der Erlanger Theologie“ beschreibt (s. dazu auch Slenczka, Glaube, 15 f.) – das Bekenntnis spielt charakteristischerweise bei Tholuck hier wie später keine große Rolle. 162   Wenz, Erweckte Theologie, 256, nennt dieses Bemühen die „dogmatische[...] Zweideutigkeit“ des Buches. 163   Vgl. den programmatischen Satz am Anfang des zweiten Abschnitts: „Wer seine Seligkeit noch nicht anders messen kann, als nach flüchtigen Gefühlen – gleichsam über dem Moraste des Lebens flackernden Irrlichtern –, oder nach einzelnen aus großen Vergehungen entkeimenden Vorsätzen und Entschlüssen – gleichsam den Wahrzeichen untergegangener Fahrzeuge und Herzen –, der ist noch nicht auf den Fels gegründet, welcher ist das Wort von der Versöhnung, das allem Wandel im Menschen ein Ende macht und ihn in der Zeit die Ewigkeit erleben läßt.“ (Tholuck, Lehre, 73) In dieselbe Richtung weisen die langen Ausführungen zu der Frage, ob eine göttliche Offenbarung möglich sei (ebd., 89–96). In den folgenden Abschnitten werden die Zitate aus Tholucks ‚Lehre von der Sünde‘ mit Angabe der Seiten direkt im Text belegt. 164   Während die Beantwortung der Frage in der ersten Auflage noch stark an der biblischen Folge von Schöpfung und Fall orientiert ist, stellt Tholuck in den späteren Auflagen die

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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gendwo anders als im eigenen Ich, und zwar im selbstbezogenen Willen, nimmt das Böse seinen Ausgang. Auf diese Weise fügen sich die für Tholucks Sündenlehre maßgeblichen biblischen Texte zusammen: „So darf ich denn sagen: das dritte Capitel der Genesis und das siebente des Römerbriefes, das sind die zween Pfeiler, auf denen des lebendigen Christenthums Gebäude ruht, das sind die zwei engen Pforten, durch die der Menschen zum Leben eingeht.“ (40) Für Guido, der sich schließlich daran macht, die Tiefen seiner Seele auszuloten, heißt dies praktisch: Er beginnt, Tagebuch zu schreiben (64).165 Die Ergründung des eigenen Ich führt jedoch nicht bruchlos zur Gotteserkenntnis. Zunächst entsteht eine Unruhe, die, soll sie nicht in Verzweiflung enden, die Suche nach dem Evangelium in Gang setzt. Noch fällt es Guido schwer, „das Historische und Faktische“ am Christentum zu glauben, lieber möchte er es als „schöne, erhabene Idee betrachten“ (66). Darum braucht er weitere Belehrung, liest Luthers Auslegung des ersten Bußpsalms166 , die Bibel und – fast so gerne – Matthias Claudius. Indes, der entscheidende Anfang ist getan: „Wie segensreich ist es mir geworden, daß Du mich zur Sünde führtest, um von da aus das ganze Evangelium kennen zu lernen.“ (66) Im zweiten Abschnitt nimmt Julius seinen Freund mit auf den Weg zum Versöhner, auf einen Weg, der auch bei ihm selbst zunächst durch die Unruhe und Gottesferne geführt, an dessen Ende das cor inquietum aber Ruhe gefunden habe. Dieser Weg führt nun allerdings nicht mehr ins eigene Herz, sondern zur biblisch-dogmatischen Lehre vom Erlöser, denn es ist „jene objective Versöhnung“, die „eine subjective werden muß“ (181).167 Im Anschluß an die Verortung von Jesu Erscheinung innerhalb allgemein-menschheitsgeschichtlicher Hoffnungen auf einen Erlöser entfaltet Tholucks Julius in klassischer Manier die Lehre von den drei Ämtern, um anhand dieser Gliederung das Werk Christi darzulegen. Die Durchführung ist allerdings weniger klassisch. In der Darlegung des hohenpriesterlichen Amtes wird die Anselmsche Satisfaktionslehre einer deutlichen Kritik unterzogen (133–136). Ausführungen zum königlichen Amt fehlen völlig. Bemerkenswert sind die ausführlichen Überlegungen zur Möglichkeit der Offenbarung innerhalb der Darstellung des prophetischen philosophische Diskussion voran, die usprünglich Bestandteil von Guidos Antwort war (vgl. zu den Umstellungen auch Kim, Lehre, 60). Damit wird die Argumentation philosophisch vermittelbar und dem erfahrungstheologischen Ansatz eher gerecht. Doch bleibt auch hier „die Schrift die Löserin des größten Räthsels“ (Tholuck, Werke 1, 16). 165   Dies ist nur einer von vielen autobiographischen Zügen (vgl. Witte, Tholuck 1, 293 f.; Kim, Lehre, 30–33), Tholuck selbst nennt die Schrift den „Reflex der eigenen inneren Entwicklungsgeschichte“ (Tholuck, Werke 1, VIII). Die Bedeutung des Tagebuchschreibens für Tholuck kann man der Darstellung von Witte, Tholuck überall entnehmen. Das Tagebuch befindet sich heute im Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle/S.). 166   Tholuck, Lehre, 66 f. (vgl. WA 1, 158–166). 167   In den späteren Auflagen schreibt Tholuck an dieser Stelle: „es muß eine objective Erlösung der Welt da seyn, daran der Glaube an meine eigne groß gezogen wird.“ (Lehre, 8. Aufl., 85).

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Amtes (89–96). Hier wie zu Beginn des zweiten Abschnittes zeigt sich, daß Tholuck nach wie vor bemüht ist, nicht direkt bei der Schrift einzusetzen. Die Offenbarung des Erlösers soll vermittelt werden mit den in allen Religionen sowie auch bei einigen Philosophen anzutreffenden Hoffnungen auf Offenbarung und Erlösung. Sie alle speisen sich nämlich aus der dem Menschen von Anfang an eingepflanzten Sehnsucht nach „einem Schlangentödter und Wiederhersteller“ (76). Der Begriff, die Idee eines Erlösers war also schon vorhanden, doch die konkrete Gestalt des Erlösers mußte offenbart werden: „Allerdings trägt der Mensch das Ideal einer vollendeten Menschheit in seiner Brust; aber wo ist der, welcher ohne besondere Offenbarung einen Christus ahnete, ehe er erschien, welcher erkannte daß die Knechtsgestalt das Insigne des Sohnes Gottes ist?“ (92 f.) „So etwas war bis dahin noch nicht in der Menschen Herz gekommen“ (81).

Eine ähnliche Vermittlung zeigt sich auch gegen Ende des Buches, wo es darum geht, wie Guido schließlich zum Glauben findet. Auch hier ist es nicht die Schrift, die unmittelbar wirkt. Wiederum wird sie eingebunden in menschliche, nun: soziale Vollzüge. Der Durchbruch Guidos geschieht nämlich charakteristischerweise nicht beim Studieren der Bibel und auch nicht bei der Lektüre Luthers, sondern in der Begegnung mit der Gemeinde der Jünger Jesu: „Doch, mein Julius! ich schreite nun noch zur Beschreibung von etwas anderem, was einen entschiedneren Einfluß auf mein Denken und Leben gehabt hat, als das System und mein Forschen. Ich habe eine Gemeinde wahrer Jünger Christi kennen lernen.“ (189)

Die Begegnung mit dieser Gemeinschaft, dem Kreis um den als Baron von Kottwitz stilisierten Patriarchen Abraham, bewirkte, was weder „System noch Forschen“ erreichen konnte – „was ich bisher in diesem Kreise der Abrahamiten lernte, das, ich sage es noch einmal Julius! geht über Bücher und System“ (197 f.) – : Guido erkennt seinen Erlöser und erfährt das neue Leben, und zwar auf demselben Weg wie zuvor schon sein Studienfreund Otto, der ihn mit dem Patriarchen bekannt gemacht hatte: 168 „aus dem Abbilde lernte er das Urbild verstehen. [...] Es war ihm würklich, als sähe er nun den lebendig gewordenen Christus in seinem Patriarchen vor sich, und Erklärungen und Auslegungen der Schrift, die ihm kein Buch gegeben hatte, gab ihm auf einmal der Anblick dieses geheiligten Lebens.“ (197) 169 168   Die Passagen spiegeln Tholucks eigene Erfahrung wider und sind durchsichtig auf Tholucks Verhältnis zu Baron von Kottwitz. 169   Vgl. auch die Bezeichnung des Patriarchen mit den Worten „als sei er von Gott zum Stellvertreter auf die Erde gesandt“ (Lehre, 195). – Das Motiv der Vermittlung des Urbilds Christi durch die Gemeinschaft der Gläubigen zeigt Affinitäten zu Schleiermacher Ausführungen in den ‚Reden‘, allerdings dürfte hier in erster Linie ein Einfluß Herrnhuts vorliegen, wo die Gemeinde als „lebendige Bibel“ verstanden wurde (vgl. Meyer, TRE 7, 231,2 f.); auch Anklänge an die reformatorische Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen sind nicht von der Hand zu weisen.

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Es ist demnach das Leben des wahren Jüngers Jesu, an dem sich die Wahrheit der Schrift erweist. Ein solches Leben ist der Resonanzboden für die bereits studierten Erkenntnisse, die jedoch, da sie nur den Verstand erreichen, nicht zur Gewißheit führen konnten. Die Botschaft der Schrift scheint nicht bis ins Herz vordringen zu können, erst die Begegnung mit einem geisterfüllten Zeugen führt zu innerer Vergewisserung, sie ist das Medium für das innere Zeugnis des heiligen Geistes. So wird auch in der zweiten Hälfte des Buches das offenbarungstheologische Anliegen erfahrungstheologisch unterfüttert; dabei verdeckt die rhetorische Kraft des Traktates manche theologische Unausgeglichenheit. Alle diese Vermittlungsbemühungen zeigen jedoch deutlich Tholucks apologetisches Interesse.170 Ihm geht es in erster Linie darum, einen unbestreitbaren Bezugspunkt für den Glauben im Subjekt dingfest zu machen.171 Die Erfahrung der Sünde – so die im ersten Abschnitt entfaltete Grundthese – müsse jedem evident werden, der sich vorbehaltlos seinen inneren Widersprüchlichkeiten stelle.172 Ebenso müsse die historische Erscheinung des Erlösers jedem einleuchten, der erst einmal die den Menschen innewohnende Idee der Erlösung aufgrund ihrer Bezeugung in Philosophie- und Religionsgeschichte erkannt und ihre Verlebendigung im Leben eines wahren christlichen Zeugen erfahren habe. Der apologetische Gewinn dieser Argumentation hat jedoch in beiden Fällen seinen Preis. Indem Tholuck bei der subjektiven Erfahrung innerer Zerissenheit ansetzt, bleibt offen, wie es von der Erfahrung des Selbst zur der als Sünde qualifizierten Erfahrung, mit anderen Worten: wie es von den – nicht als solche durchschauten – Sündenerfahrungen zur – bewußten – Sündenerkenntnis kommt. Tholuck bietet diesbezüglich keine Antwort, obwohl sie ihm aus seinem Römerbriefstudium eigentlich bekannt gewesen sein müßte. Doch daß das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde führt, spielt für seine Darstellung keine tragende Rolle. Nur implizit fordert diese Einsicht insofern ihr Recht, als Tholuck für die 170   Vgl. Tholucks Intention im Rückblick, den neu gefundenen Glauben „für eine diesem Glauben fast gänzlich entfremdete theologische Welt“ zu beschreiben (s.o. bei Anm.  152) und Beilage 1. 171   Wenn Axt-Piscalar, Freiheit, 9 meint, das „manifeste[...] Interesse an der Sündenerkenntnis“ diene nur „als Medium zur Vergewisserung der individuellen Freiheit des Subjektes“, dann dreht sie den Spieß um. Für Tholuck sind die Freiheits- und Unfreiheitserfahrungen des Subjektes – auch vor dem biographischen Hintergrund seines eigenen Erlebens – so evident, daß er auf ihnen die Sündenerkenntnis als Ausgangspunkt für den Glauben auf baut. Es ist nicht die Sündenerfahrung, sondern die von Tholuck generell vorausgesetzte intensive Selbsterfahrung des Menschen, die eine gar nicht so „fromme Bastion gegen den Pantheismus darstellt“ (ebd.). Indem Axt-Piscalar ihrer Analyse nur die 8. Aufl. zugrunde legt, entgeht ihr zudem, wie Tholuck im Vergleich zur ersten Auflage die Bedeutung der Selbsttätigkeit des Menschen in den späteren Auflagen deutlich zurücknimmt (vgl. dazu die – allerdings nicht sehr tiefschürfende – Analyse von Kim, Lehre, 38–42). 172   Auch dies ist ein Reflex von Tholucks eigener Entwicklungsgeschichte, wie sie bei Witte, Tholuck 1 nachzulesen ist.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Deutung der Sündenwirklichkeit nicht ohne die biblischen Bezüge auskommt. Analog verhält es sich mit der Entstehung des Glaubens. Das Hören auf die Schrift und die Verkündigung des Freundes spielen zwar eine wichtige Rolle, aber erst der erlebte Eindruck bringt den Durchbruch. Insgesamt bleibt also unklar, „wem der eigentlich lebenserhellende Primat beim Zustandekommen des Erlösungsbewußtsein zukommt, dem auf sich gerichteten Vollzug individueller Selbsterforschung oder der heiligen Schrift.“173 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die erste Beilage, die Tholuck seinem Werk nachschickt: ‚Über den Werth der verschiedenen Arten von der Wahrheit des Christenthums zu überzeugen, oder über das wechelseitige Verhältnis der Apologetik, Dogmatik und christlicher innerer Erfahrung‘ (215– 225). Tholuck vertritt darin die These, daß, um den „ganzen Menschen“ zu bekehren, ein Zusammenwirken von Apologetik als historischer Disziplin, kritischer Dogmatik als theologischer Philosophie und christlicher innerer Erfahrung nötig sei. Die „Hauptstütze“, die „Basis des Turmes“ liege allerdings in letzterer, denn es zeige sich, daß „das christliche Leben am Ende der Grundstein aller wahren Ueberzeugung ist“ (222). Dabei gilt auch hier, daß der Mensch die Lehre vom überwiegenden Verderben nicht bezweifeln kann, „weil er die unmittelbarste Erfahrung davon in seinem Herzen hat“. Allerdings erst dann, wenn er die Versöhnung als Tat Gottes in seinem Inneren erfährt, ist seine Überzeugung „auf Facta seines Innern“ gegründet (225). Dies deckt sich genau mit der Entwicklungsgeschichte Guidos: Gewißheit entsteht erst im Glauben an Christus. Tholuck scheint sich also bewußt zu sein, daß die Sündenerfahrung als alleinige Basis der Argumentation nicht ausreicht. Sündenerfahrung, Sehnsucht nach Erlösung und Wiedergeburt sind erst zusammengenommen die Grunderfahrungen, auf denen alles andere aufruht (224 f.). Insofern wird die im ersten Abschnitt des Traktates suggerierte Evidenzkraft des Sündenbewußtseins im nachhinein relativiert und in der Beilage explizit korrigiert. Von der Sünde aus das Evangelium kennenzulernen, bedeutet im Gesamtzusammenhang des Traktates nicht, daß das Sündenbewußtsein „die erkenntnistheoretische Prämisse und das konstruierende Prinzip der theologischen Inhalte“174 darstellt. Die Sündenerfahrung ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung auf dem Weg zum Heil. Neben ihr wird die Erfahrung der Versöhnung und Widergeburt in die Konzeption einbezogen, die Bedeutung der Schrift rückt damit jedoch weiter in den Hintergrund. Geht man von der ersten Beilage zur Sündenlehre aus, so kommt der Erfahrung des christlichen Lebens ein erkenntnistheoretisches Prä im Verhältnis zur Schrift zu. 173

  Axt-Piscalar, Freiheit, 24.   Axt-Piscalar, Freiheit, 23. In Axt-Piscalars Studie wirkt dieser Schluß nur deshalb so einleuchtend, weil sich ihre Analyse auf den ersten Abschnitt des Traktates beschränkt. Diese Interpretationsbahn ist zudem seit Hirsch, Geschichte 5, 108 f. vorgezeichnet. 174

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Allerdings soll das „Forschen“, sollen „Bücher und System“ gegenüber der Erfahrung nicht entwertet werden. Auch das gehört zu den Zweideutigkeiten des Traktates, daß sowohl der erfahrungs- als auch der offenbarungstheologische Ansatz nicht zu Abwertung der Vernunft führen soll. Schon allein die Annahme, daß das „Ideal einer vollendeten Menschheit“ (92) in jeder Brust wohne, führt Tholuck zu der zentralen These: „So ist es denn unbestreitbar: Schrift und Vernunft klingen durch einander, aber doch zusammen, wie die Saiten auf dem Psalter“ (93). Ausführlich wird sie in der sechsten Beilage entfaltet. Während die erste Beilage das Thema Erfahrung und Offenbarung thematisiert, geht Tholuck in der sechsten unter dem Titel ‚Ueber Vernunft und Verstand und ihr Verhältniß zur Offenbarung‘ (295–315) auf das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung ein. Ausgangspunkt sind eine doppelte Abgrenzung und die bereits bekannte These: „In einem folgenden Jahrzehend dürften die Vernunftbekämpfer eben so belächelt werden, als in dem gegenwärtigen jene Vernunftfreunde des achtzehnten Säculum. Schrift und Vernunft klingen durcheinander und doch zusammen, wie die Saiten im Psalter.“ (295)

Dabei ist es nicht unwichtig, daß als Vernunftbekämpfer der Vorreiter des neu erwachenden Luthertums, Claus Harms, als Vernunftfreund hingegen das Enfant terrible der Auf klärungstheologie, Karl Friedrich Bahrdt, genannt wird. Tholuck möchte sich zwischen diesen Extremen bewegen, wie auch der ganze Luther von keiner der beiden Seiten rechtmäßig in Anspruch genommen werden dürfe (305). Demnach soll die Offenbarung nicht ungeprüft übernommen werden. Sie muß sich am individuellen Selbst des Menschen erweisen, „da sein eigenes Seyn ihm das gewisseste ist was er hat“ (296), und demzufolge ist diejenige Offenbarung „ihm die wahre“, die „den Zwiespalt [scil. der Willensneigung] in seinem Innern aufs gelungenste“ zu lösen im Stande ist (ebd.). Allerdings darf das, was den Zwiespalt des Herzens ausgleicht, auch dem Erkenntnisvermögen nicht widersprechen. Insofern kommen Vernunft und Verstand neben der Erfahrung zum Zug. Grundlegend ist dabei einerseits die Vorstellung, daß das Erkenntnisvermögen beschränkt sei, wovon unser eigenes Inneres Zeugnis ablegt (301). So sei das Gewissen „die Erscheinung eines Gottes aus einer anderen Welt im Menschen“ (298) 175 und der Verstand werde „vieles, ja das meiste in der Offenbarung als über sich liegend anerkennen, aber was in sich widersprechend ist, wird er eben so wenig anzunehmen vermögen, weil dies sein ganzes Wesen zerstören würde.“ (301). Andererseits räumt Tholuck mit Luther ein, daß unsere Erkenntnis von unseren Willensneigungen abhängt, und unterscheidet insofern die Vernunft der Nicht-Wiedergeborenen von der der Wiedergeborenen (306). Das ist wohl so zu verstehen, daß, was die Offenbarung 175

  Zur Anknüpfung an Kant vgl. die knappen Bemerkungen von Kim, Lehre, 129 f.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

angeht, die Vernunft im konstruktiven Sinne nur als wiedergeborene tätig werden kann. Die Ausführungen der sechsten Beilage sind weniger wegen der sachlichen Lösungen, die Tholuck bietet, als vielmehr wegen ihres symptomatischen Charakters interessant: Die Sündenlehre zeugt von dem Ringen ihres Verfassers mit dem Thema Vernunft und Offenbarung, das noch nicht wirklich zum Ende gekommen ist.176 Keinesfalls setzte „Tholuck sein ‚erwecktes‘ Christentum in der ‚Lehre von der Sünde‘ in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur neueren rationalistischen Theologie“177, ganz im Gegenteil leidet das Werk letztlich gerade an dem Versuch, den Gegensatz zu überbrücken. Damit steht es in einer Linie mit Tholucks früheren und späteren Auseinandersetzungen mit dem Rationalismus. Bereits in seinem sechsten Semester als Privatdozent (Winter 1823/24) las er die „Geschichte der Theologie des 18. Jahrhunderts mit Aufweisung der Grundsätze des Rationalismus und des Supernaturalismus“178 und fand damit zu einem seiner Lebensthemen.179 Ab 1832 veröffentlichte er in der EKZ den ‚Abriß einer Geschichte der Umwälzungen, welche seit 1750 auf dem Gebiete der Thologie in Deutschland statt gefunden‘180 – eine Vorform des 1839 in den ‚Vermischten Schriften‘ publizierten Aufsatzes181, in dessen Einleitung dem Rationalismus „zum Theil ein ächtes Bedürfnis nach einer dem Wesen des 176   Darauf weisen Tholuck nahestehende Kritiker, u. a. Scheibel, schon kurz nach dem Erscheinen des Buches hin, Witte, Tholuck 1, 324–330. – Tholuck hat in den späteren Auflagen die sechste Beilage völlig überarbeitet, so daß ihre Vorgängerversion kaum wiederzuerkennen ist. Sie trägt schließlich als fünfte Beilage den Titel ‚Ueber das Verhältniß der Vernunft zur Offenbarung‘ und enthält bedeutende Passagen zu Tholucks Hermeneutik (vgl. dazu Lauster, Prinzip, 125–127). 177   So Kaufmann, Rationalismus, 54 f., der seinen Beitrag zu einer „bisher nicht geleisteten werkgeschichtlichen Rekonstruktion“ (ebd., 49) von Tholucks Sicht des Rationalismus dadurch unterläuft, daß er seiner Analyse der Sündenlehre nicht die – gerade in diesem Punkt später stark veränderte – erste Auflage der Schrift, sondern die achte zugrunde legt. Außerdem wird die sechste Beilage nicht einbezogen. Daneben wird zu viel Gewicht auf die Theaterschrift von 1824 gelegt, die in erster Linie Tholucks eigene Erfahrungen im Umgang mit Romanliteratur bearbeitet und daher biographisch zu verstehen ist (vgl. Witte, Tholuck 1, 368–373 und 7). Ebensowenig wird das streng antiauf klärerische Tholuckbild von Dörfler-Dierken, Tholucks Konstruktion, in dem Tholuck ganz aus kirchenpolitischer Perspektive unter Vernachlässigung seiner Theologie gezeichnet wird, den Quellen gerecht. Wie Kaufmann ihrer Ansicht nach „Tholucks Selbststilisierung“ (ebd. 185) aufsitzt, so schließt sie sich unkritisch den Stilisierungen der Tholuckgegner an. 178   Witte, Tholuck 1, 192, das ist Kaufmann, Rationalismus, entgangen. 179   Vgl. zu Tholuck als Kirchenhistoriker Kirn, Glaube. 180   EKZ 10 (1832), Sp.  345–366, Nr.  44–46; EKZ 13 (1833), Sp.  697–709.713–716, Nr.  88–90; 769–773.777–782.785–788, Nr.  97–99; EKZ 23 (1838), Sp.  441–444.449– 452.457–459, Nr.  56–58; Sp.  737–739.745–750.753–755.761–776.782–784, Nr.  93–98. 181   Tholuck, Abriß; vgl. Witte, Tholuck 2, 172 und Kaufmann, Rationalismus, der aber offenbar diese Vorform übersehen hat, deren Erscheinungsort von Bedeutung ist, wenn es darum geht, Tholucks Position als „Distanzierung von dem [...] Programm einer lutherisch orthodoxen ‚Repristinationstheologie‘ im Umkreis Hengstenbergs, der Gebrüder Gerlach und der ‚Evangelischen Kirchenzeitung‘“ (ebd., 46) darzustellen.

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Christenthums angemesseneren Wissenschaft“182 zugestanden wird, ein Bedürfnis, das Tholuck teilt.183 1840 schreibt er über seine Haltung, er habe „von Anfang an“ „stets die gute Zuversicht bekannt, daß der Christenglaube auch vor der Vernunft oder vielmehr als Vernunft sich rechtfertigen werde.“184 Tholucks schon früh einsetzende und ihn sein Leben lang begleitende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rationalismus weist darauf hin, daß er ihn trotz seiner Abgrenzungsbemühungen gerade nicht los wird.185 Dabei erging es Tholuck ähnlich wie Schleiermacher186 , und zugleich erwies er sich durchaus als Kind der Erweckungsbewegung, die – wie die neuere Forschung gezeigt hat – nicht nur in Abgrenzung zur Auf klärung gesehen werden darf. Gerade in der Abweisung des rationalistischen Geistes blieb die Erweckung doch in vielen Zügen ihrem Gegenüber verhaftet und zeigte – bewußt oder unbewußt – vielfältige Berührungspunkte.187 Tholucks ‚Sündenlehre‘ ist demnach auch insofern der „Standardtraktat“ der Erweckungsbewegung, als sich an ihr die für die Erweckungsliteratur typische Konstellation ablesen läßt: Sie versucht, die „Subjektivität als epochales Para182   Tholuck, Abriß, 2. In der ersten Fassung des Aufsatzes fehlt diese Einleitung, Tholuck setzt stattdessen mit der Bemerkung ein: „Nur Deutschland hat erlebt, wozu uns die Geschichte kein zweites Beispiel gibt, daß die Priester der christlichen Religion selbst mit ungeweihter Hand die alten Heiligthümer zertrümmert, und dem Volke, welches sie einzuweihen bestimmt waren in die Geheimnisse des Glaubens, erklärt haben, daß es keine mehr gebe.“ (EKZ 10 [1832], Sp.  345). 183   1838 – in der ersten Fassung – gibt er dementsprechend zu bedenken, daß die Beschreibung des Übergangs aus der Periode der Verneinung „in die eines durch den Zweifel in allen seinen wissenschaftlichen Gestaltungen hindurchgegangenen Glaubens“ bis jetzt nur „Gegenstand der Hoffnung und der Ahnung“ sei (EKZ 23 [1838], Sp.  784). 184   Tholuck, Vorwort des Herausgebers, Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt 10 (1840), 1–11: 6. Vgl. ebd. auch den vorhergehenden Satz: „Denjenigen meiner Berliner Freunde, welche meine theologische Entwickelung kennen, wird nicht unbekannt seyn, wie ich von Anfang an das Bedürfniß einer freien Stellung der Wissenschaft gegenüber nicht habe verläugnen können.“ 185   Treffend formuliert Witte, Tholuck 1, 193: „Tholuck selbst hatte in seiner der deutelnden und grübelnden Reflexion trotz alles stürmischen Enthusiasmus entschieden zuneigenden Natur so viele Anknüpfungspunkte für den Rationalismus, daß ihn derselbe gerade je mehr er ihn für sein persönliches religiöses Leben als einen Feind floh, als wissenschaftliche Erscheinung um so mehr zur Prüfung und näheren Durchdringung aufforderte.“ Ähnlich zu Tholucks Römerbrief kommentar, Witte, Tholuck 1, 344: „Und er kannte nicht nur, er würdigte auch die Tragweite des historisch-kritischen Apparates, der im Kampfe gegen die positive Bibeldeutung aufgefahren wurde. Sein natürlicher Mensch empfand sogar unverkennbare Sympathien mit dem Gegner, und ein rationalisierender Zug ist ihm zeitlebens geblieben.“ Vgl. auch Kirn, Glaube, 119, der zu Recht darauf hinweist, daß schon Hase, Kirchengeschichte, 514.517 f. Tholuck als einen Vermittlungstheologen behandelt hat. 186   Vgl. Schäfer, Rezeption. 187   Ebs. schon Schwarz, Theologie1, 112; Ernst, Auferstehungsmorgen, 142 f.; vgl. Gäbler, Historische Einordnung, 162–165 mit dem Resümee: „Die Diskontinuität zwischen Auf klärung und Erweckung war weniger tief als die Erweckten selbst vorgaben“ (ebd., 165) – genau das gilt für Tholuck auch!

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

digma der Neuzeit“188 ernst zu nehmen und zeigt darin ihre Verwandtschaft mit Konzepten der Romantik und des jungen Schleiermacher. Die Betonung der Erfahrung führt aber gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten der Vernunft im Bereich der Religion, die nicht allein als Abgrenzung verstanden werden kann. Gerade in seiner frühen Schrift befindet sich Tholuck der Auf klärung gegenüber noch völlig im Klärungsprozeß. Das Verhältnis zur Auf klärung bleibt für die Theologen der Erweckungsbewegung virulent. Gleichzeitig sticht die für die Erweckten typische Anknüpfung an reformatorische Theologie ins Auge, wobei Tholuck nicht nur für die Fassung der Sündenlehre, sondern vor allem bei der Darstellung der Christologie und bei der Auseinandersetzung um die Leistungsfähigkeit der Vernunft auf Luther rekurriert.189 Aus dieser komplexen Konstellation erklärt sich die bereits erwähnte dogmatische Zweideutigkeit der Schrift.190 Darüber hinaus hat sicherlich auch der biographische Charakter der Schrift das Seine dazu getan. Der Erfolg der ‚Lehre von der Sünde‘ dürfte daher auch weniger auf ihrer theologischen Stringenz als vielmehr auf ihrer ausdrucksstarken, von der Romantik beeinflußten Rhetorik beruht haben. Sie sprach mehr die Emotionen als den Intellekt an – auch dies ein typischer Zug für jene Art von Literatur. Der beschriebene Mischcharakter von Tholucks Traktat rief zwangsläufig massive Kritik hervor – sowohl von rationalistischer Seite als auch aus den eigenen Reihen, in denen Tholucks problematische Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Vernunft nicht unbemerkt geblieben war.191 Sie führte zu einer grundlegenden Überarbeitung der Schrift, bevor sie 1825 in einer zweiten Auflage erscheinen konnte. Tholuck befand sich gerade in England, als die zweite Auflage im Druck war. Daher begleitete Hengstenberg, der während dieser Zeit in Tholucks Wohnung lebte, den Fortschritt.192 Von Tholucks Ermächtigung, Verbesserungen an der Schrift vorzunehmen, machte Hengstenberg – von Kleinigkeiten abgesehen – allerdings keinen Gebrauch. Es erschien ihm unmöglich in eine Schrift, die so sehr den „Stempel der Subjectivität“ trägt, einzugreifen.193 188

  Wenz, Schleiermacher, 37.   Tholuck, Lehre, 66 f. 101–103. 305–307. 190   S.o. mit Wenz, Erweckte Theologie, 256. 191   Witte, Tholuck 1, 324–335 stellt ausführlich die Kritik von Scheibel, Friedrich Christlieb Döring, Christian Huldreich Rennecke und Rudolf Stier dar. 192   Am 25. April erwartete er noch den ersten Druckbogen, am 16. Juni hatte er bereits elf erhalten. S. Hengstenberg an Tholuck, Berlin 18. Apr. 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 370 und die folgende Anmerkung. 193   Hengstenberg an Tholuck, 16. Juni 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 509 (bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 115 nur stark gekürzt): „Der Druck Ihrer Schrift über die Sünde schreitet rasch voran; bis jetzt sind 11 Bogen fertig. Ihre gütige Erlaubnis zu Aenderungen habe ich nur insoweit benutzt, als ich an einigen Stellen, wo mir die Construction etwas hart schien, eine leichte Emendation angebracht habe. Weiter zu gehen erlaubt der 189

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Auch Hengstenberg stand der ‚Lehre von der Sünde‘ nicht unkritisch gegenüber, ob­gleich er sich auch bei der zweiten Lektüre vom Duktus des Buches fasziniert zeigte: „Obgleich das Ganze mich bei dieser zweiten Lesung ebenso angezogen hat wie bei der ersten, so kann ich doch nicht bergen, daß in dem ersten Bogen manches vorkommt was mir nicht gefällt. Möchten Sie das dort Geschriebene doch einem Ihrer erfahrenen christlichen Freunde zur Prüfung vorgelegt haben!“194

Gegenüber Tholuck brachte Hengstenberg vor allem stilistische Kritik an der überladenen, bildreichen Sprache zum Ausdruck. Daß dies jedoch nicht die einzigen Vorbehalte waren, wird deutlich, wenn man den theologischen Standpunkt betrachtet, der sich in Hengstenbergs erster theologischer Publikation, die ebenfalls 1825 erschien, abzeichnet. Im Anschluß an die eingehende Betrachtung von Tholucks ‚Lehre von der Sünde‘ läßt sich nun Hengstenbergs Verhältnis zur Erweckungstheologie Tholuckscher Prägung differenziert beschreiben.

1.3.2  Offenbarung vor Erfahrung: Hengstenbergs Korrektur der Erweckungstheologie „Schrift und Geist, äußeres und inneres Wort, sie sollen in jedem Christen durcheinander klingen wie die Saiten im Psalter.“ Mit diesem Satz, der in seiner Formulierung die Tholucksche These vom Gleichklang von Vernunft und Offenbarung aufnimmt – „Schrift und Vernunft klingen durcheinander und doch zusammen, wie die Saiten im Psalter.“ – schließt Hengstenberg seine kleine Schrift mit dem Titel ‚Einige Worte über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere, nebst Stellen aus Luther’s Schriften‘ ab.195 Gewiß ist dieser Satz bewußt in Anlehnung an Tholuck gebildet. Heng­ stenberg verfaßte seine Schrift im September 1825, in den vorangehenden Sommermonaten hatte er den Fortschritt von Tholucks zweiter Auflage Bogen um Bogen verfolgt. Die charakteristische Wendung von den Saiten im Psalter erscheint bei Tholuck gleich zweimal.196 Es ist daher kein Zufall, daß sie nun bei Hengstenberg auftaucht, zumal auch er sich mit dem Thema Offenbarung beschäftigt.197 Charakter der Schrift nicht, die (es soll dies nichts weniger als ein Tadel seyn) so sehr den Stempel der Subjectivität trägt.“ 194   Hengstenberg an Tholuck, 16. Juni 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 509; daß von der ‚Lehre von der Sünde‘ die Rede ist, ergibt sich aus dem Kontext des Briefes. 195   Sie ist abgedruckt bei Bachmann 1, 334–354, Im Folgenden kurz: Ueberordnung. 196   Tholuck, Lehre, 93.295. 197   An Tholucks Schrift erinnert auch die – freilich unter den Erweckten auch sonst verbreitete – Rede von der Kirche als „einer weiten Flur voll verdorrter Gebeine, die nicht eher wieder lebendig werden, bis der Odem des Herrn in sie kommt“ (Ueberordnung: Bachmann 1, 335; vgl. Tholuck, Lehre, III–V).

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Hengstenbergs Schrift über das äußere und innere Wort erschien als Einladungspro­gramm für die 11. Stiftungsfeier der Hauptbibelgesellschaft am 13. Oktober 1825 in der Dreifaltigkeitskirche. Sie war seine erste wichtige theo­ logische Veröffentlichung, gleichwohl erschien sie – wie Tholucks erste Auflage des Sündentraktats – anonym. Nach Hengstenbergs eigener Aussage ist sie zusammen mit den Lizentiatenthesen vom April 1825 re­präsentativ für die „Richtung[,] welche meine Überzeugungen genommen haben“198 . Die Schrift geht aus von der These, daß es im Christentum zu allen Zeiten zwei Grundirrtümer gegeben habe: die einseitige Hervorhebung des Äußeren und die einseitige Hervorhebung des Inneren.199 In ihrem Hauptteil wendet sie sich dann aber vor allem gegen die zweite Variante, die Hervorhebung des Inneren, wobei Luthers Verhältnisbestimmung von Innerem und Äußerem als vorbildlich vorgestellt wird.200 Darum besteht der zweite Teil der Schrift aus Lutherzitaten, die einerseits die Notwendigkeit der Überordnung des äußeren Wortes und andererseits die Notwendigkeit der Ergänzung des äußeren Wortes durch das innere, den Glauben, belegen.201 Die Kritik an der Überbetonung des inneren Wortes muß im Zusammenhang mit dem Adressatenkreis der Schrift gesehen werden. Sie richtet sich an die Freunde der Preußischen Hauptbibelgesellschaft, also vor allem an Kreise der Erweckungsbewegung.202 Die Gefährdung der Erweckten bringt Heng­ stenberg zum Ausdruck, indem er mahnt, daß die Überbetonung des inneren Wortes gerade in Zeiten „des neu erwachenden christlichen Lebens“ ensteht. „Jeder […] fühlt sich erfüllt von Gottes Geiste.“203 Dabei steht man in der Gefahr, einer Selbsttäuschung zu unterliegen, denn auch der Christ ist nicht frei von Sünde. Aufgrund seiner subjektiven Wahrnehmung kann er daher nicht unterscheiden, ob sich in ihm nun tatsächlich der Geist Gottes regt oder ob es nur menschlicher Geist ist. Daher braucht auch der wiedergeborene Christ das äußere Wort als kritische Instanz für seine innere Erfahrung. 198   Hengstenberg an Brandis, Berlin 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169: „Die Richtung welche meine Überzeugungen genommen haben, werden Sie aus den beiden beiligenden Drucksachen ersehen. Das Programm der Bibelgesellschaft ist von mir; meinen Nahmen habe ich nicht hinzugesetzt weil ich im Drange vieler Arbeiten es übereilen und in Zeit von 4 Tagen vollenden mußte.“ Gegenüber dem Vater äußert sich Hengstenberg dahingehend, daß die Schrift aus „gegründeten Ursachen“ (Hengstenberg an den Vater, Berlin 11. Okt. 1825: Bachmann 1, 246) ohne Namensnennung erschien. Zweifellos war er sich bewußt, daß die Richtung, zu der er sich mit seinen Aussagen bekannte, beim Ministerium auf Mißfallen stoßen würde. 199   Ueberordnung: Bachmann 1, 334 f. 200   Ueberordnung: Bachmann 1, 335–341. 201   Ueberordnung: Bachmann 1, 341–354. 202   Der Trägerkreis der Preußischen Hauptbibelgesellschaft ist vorwiegend im erweckten Milieu zu suchen. Die Gesellschaft steht nicht zwischen Auf klärung und Erweckung (mit Maser, Kottwitz, 162 f. gg. Althausen, Gesellschaften, 78). 203   Hengstenberg, Ueberordnung: Bachmann 1, 335.

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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Unter „innerem Wort“ versteht Hengstenberg also letztlich die subjektive Erfahrung, die sich im Blick auf das Gottesverhältnis zum Ausdruck bringt: beim Christen das fromme Gefühl, an dem der Mensch vermeint, etwas über sein Verhältnis zu Gott ablesen zu können, beim Nichtchristen die Art und Weise, wie der Mensch auf dem Wege natürlicher Gotteserkenntnis Gott zu erfassen sucht. Dabei ist entscheidend, daß Hengstenberg in dieser Hinsicht zwischen Erfahrung und Erkenntnis keinen Unterschied macht. Im Auge hat er die im Menschen selbst angesiedelte Instanz, die über Gott Aufschluß geben soll, also ebenso die Vernunft wie die „christliche[...] innere[...] Erfahrung“, „das christliche Leben“, das nach Tholuck „am Ende der Grundstein aller wahren Ueberzeugung ist“204. Mit dieser Parallelisierung von Vernunft und christlicher Erfahrung erklärt sich eine weitere Besonderheit der Schrift. Man hat in ihr nämlich, ungeachtet des konkreten Anlasses, wiederholt das erste Zeugnis für Hengstenbergs Kampf gegen den Rationalismus sehen wollen,205 und für diese Sicht lassen sich durchaus Argumente anführen. Am auffälligsten ist die Auswahl der Lutherzitate im zweiten Teil der Schrift. Bekanntlich hat sich Luther mit der Frage des inneren und äußeren Wortes am intensivsten in seinen Schriften gegen die Schwärmer befaßt, beispielsweise in der gegen Karlstadt gerichteten Abhandlung ‚Wider die himmlischen Propheten‘206 . Nun muß überraschen, daß Hengstenberg aus keiner der antischwärmerischen Schriften, sondern aus exegetischen Werken Luthers, aus Vorlesungen und Predigten, zitiert.207 Beim genauen Zusehen behandeln seine Zitate nämlich auch gar nicht das Verhältnis von innerem und äußerem Wort, sondern das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Allerdings wäre es ein Irrtum, wenn man von diesem Befund auf die Auf klärung als anvisierten Gegner schließen wollte. Hengstenberg vesteht unter dem inneren Wort eben nicht nur die christliche Erfahrung, sondern auch die autonome Vernunft, kurz: das sich selbst auslegende Subjekt. Nicht die Rationalisten, sondern die Erweckten will er auf die Gefahr des Subjektivismus aufmerksam machen. Angesprochen sind die Erweckten, die sich ihrer offenen Flanke und ihrer Verwandtschaft mit dem Geist der Auf klärung nicht bewußt sind.208 Die offene Flanke gegenüber dem Rationalismus läßt sich, wie oben gezeigt wurde, deutlich an Tholucks Sündenlehre aufzeigen. Hengstenberg scheint 204

  Tholuck, Lehre, 215.222.   Vgl. z. B. Kramer, Hengstenberg, 15 f.; ähnlich Wulfmeyer, Hengstenberg, 33. 206   WA 18, 62–125.134–214. 207   Das erklärt sich daher, daß sich Hengstenberg als Exeget zunächst nur mit Luthers Schriftauslegungen befaßte (vgl. dazu unten 2.4.2). 208   Aussagen wie diese, daß Hengstenberg „vom Boden der Erweckungstheologie aus die Gefährlichkeit des Rationalismus vor Augen [führe]“ (Kramer, Hengstenberg, 16) gehen demnach an dem entscheidenden Punkt vorbei: Hengstenberg bearbeitete gerade den Boden, von dem aus seiner Sicht zufolge allererst gegen den Rationalismus gekämpft werden kann. 205

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

nicht entgangen zu sein, daß die Betonung der christlichen Erfahrung in Tholucks Schrift Gefahr lief, die Bedeutung der Schrift zu konterkarieren. Damit beraubt sich die erweckte Theologie nach Hengstenbergs Auffassung aber des einzigen Dammes gegen die Fluten der Auf klärung, denn ohne äußeres Wort können menschliche Vernunft und im Menschen wirkender Geist Gottes nicht unterschieden werden.209 Der Grund dafür ist die Sündhaftigkeit des Menschen, die auch im Christenleben nicht ausgelöscht ist. Im Unterschied zu Tholuck weitet Hengstenberg die radikale Sündenverfallenheit gerade auch auf das Gebiet der Erkenntnis aus. Zwischen Schrift und natürlicher Vernunft kann kein Gleichklang enstehen: „Die menschliche Vernunft ist in göttlichen Dingen blind.“210, und es gehört zur Sündhaftigkeit, daß die Vernunft auch noch die christlichen Erfahrungen trübt. Daß Hengstenberg die Vernunft wesentlich kritischer sieht als Tholuck, zeigt sich insbesondere am Urteil über die Vernunft des Wiedergeborenen. Während Tholuck für die Vernunft des Wiedergeborenen Luthers Aussage heranzieht, daß „sie ein schön herrliches Instrument und Werkzeug Gottes“211 sei, betont Hengstenberg an Luthers Ansicht die generelle Vernunftkritik: „Da ihm [scil. Luther] nun aber zu diesem Verderben auch die Verfinsterung der menschlichen Vernunft gehörte, so wurde ihm dieselbe eben so wenig durch den Glauben an Christum gänzlich aufgehoben, wie die Sünde. Weil also die Vernunft des natürlichen Menschen und des Christen in gewisser Hinsicht sich gleich bleiben, so redet Luther fast immer von der Vernunft im Allgemeinen, und beschuldigt sie des anmaßenden Widerstrebens gegen die göttliche Wahrheit.“212

Hengstenberg hat sich von seiner Lutherrezeption nicht durch Tholucks Verdikt abbringen lassen, daß eine solch einseitige Aufnahme der Lutheraussagen unrecht habe,213 denn im Gegensatz zu Tholuck betont er das simul iustus et peccator, welches bei jenem in der Tat unterbelichtet war. Unter dem Stichwort „inneres Wort“ verhandelt Hengstenberg demnach das auch für Tholuck maßgebliche „epochale Paradigma“ der Subjektivität. Dabei geht es ihm um die Frage, ob das Subjekt, ganz gleich ob fromm oder nicht, aus sich heraus und unter Betrachtung seiner eigenen Gemütsverfassung unter Ab209

  Ueberordnung: Bachmann 1, 340: „denn wer diejenige Erkenntniß seiner selbst besitzt, die nur der göttliche Geist gewährt, der weiß, wie sehr er eines äußeren bedarf, welches ihn die trügerischen Gaukelspiele seiner Vernunft von den Eingebungen des h. Geistes unterscheiden lehret.“ Ebd., 344: „Denn der göttliche Geist wird bei dem Gläubigen mit der Vernunft zu Einem geistigen Leben verbunden, und durch diese Verbindung wird die Nothwendigkeit eines Dritten begründet, welches die Vermischung des Verbundenen verhüte.“ 210   Hengstenberg Theses theologicae, Nr.  X II: Bachmann 1, 333: „Ratio humana coeca est in rebus divinis.“ 211   Tholuck, Lehre, 307; vgl. WA.TR 3, 105,15, Nr.  2938b. 212   Ueberordnung: Bachmann 1, 341, 213   Tholuck, Lehre, 305.

1.3  Tholuck und Hengstenberg

77

sehung von der Offenbarung wahre Aussagen über Gott machen kann, wenn doch der Mensch als Sünder, der er auch als Wiedergeborener bleibt, sich selbst auf Gott hin nie ganz durchsichtig wird. Menschliches und Göttliches gehen in der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis durcheinander. Um sie scheiden zu können, braucht man einen Maßstab, laut Hengstenberg: das äußere Wort. Nur im Licht der Schrift kann das von Tholuck zur Basis der Apologetik erklärte christliche Leben wahrhaft aussagekräftig werden. Umgekehrt wird die Schrift erst dann lebendig – so Hengstenberg gegen Ende seiner Abhandlung – , wenn sie im inneren Leben, im Glauben einen Resonanzboden findet, andernfalls entstehe nämlich „eine kalte, herzlose Rechtgläubigkeit“, ein „starres Festhalten an dem in seiner Vereinzelung todten Buchstaben“.214 Auf den Zusammenklang kommt es an, bei dem jedoch die Schrift den Akkord vorgibt: „Schrift und Geist, äußeres und inneres Wort, sie sollen in jedem Christen durcheinander klingen wie die Saiten im Psalter. [...] Dann, wenn wir nicht mehr am Menschenworte hangen, sondern einzig an dem Wort des lebendigen Gottes, wird die große Zeit herannahen, wo nur Ein Hirte sein wird und nur Eine Heerde.“215

Der Vergleich von Hengstenbergs theologischer Erstlingsschrift mit dem Traktat des 24jährigen Jünglings „im ersten Herzensdrange“ zeigt deutlich die Option, vor die Hengstenberg die Erweckungstheologen stellte: Vermittlungsversuche der Tholuckschen Art führen nach seiner Beurteilung in eine Sackgasse – zu nahe verwandt waren sie dem auf klärerischen Subjektivitätsparadigma, zu ähnlich den subjektivitätstheoretischen Argumenten Schleiermachers. Er forderte daher eine entschiedene Zuwendung zum Objektiven. Im Blick auf Tholucks Forschungen zum Alten Testament bringt er diesen Unterschied unmißverständlich zum Ausdruck: „Sollte ich in Berlin bleiben, so würde ich mich mehrere Jahre fast ausschließlich mit dem A.T. beschäftigen und dächte dann mit einer Reihe A.Tlicher Arbeiten hervortreten zu können. Ich halte mich umso mehr dazu für verpflichtet, weil sonst von hieraus wenig für das tiefere Verständniß des A.T. zu erwarten ist. Tholuck hat sich fast ganz vom A.T. abgewandt und hebt auch zu wenig das Objective in demselben hervor.“216

Das Stichwort „objektiv“ markiert die von Hengstenberg intendierte theologische Wende. Negativ ist es dadurch gefüllt, daß es der Konzentration des wissenschaftlichen Interesses auf das Subjekt seit der Mittes des 18. Jahrhunderts entgegengesetzt wird. Was besagt es aber positiv? In der Abhandlung von der ‚Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere‘ ist nicht vom Objektiven die Rede, sondern vom äußeren Wort. Charakteristischerweise versteht Hengstenberg das Schriftwort dabei als eine äußere Norm, welche die durch Sünde getrübte subjektive Erkenntnis214

  Beide Zitate: Ueberordnung: Bachmann 1, 335.   Ueberordnung: Bachmann 1, 354. 216   Hengstenberg an Brandis, Berlin 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169. 215

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

weise des Menschen korrigiert und zurechtbringt, mit anderen Worten: Das Wort wird in erster Linie als Gesetz verstanden. Das Evangelium als lebendigmachende und glaubensweckende Kraft spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Deutlich ist aber, daß das in der Schrift verbürgte Offenbarungswort als objektives Gegenüber betrachtet wird. Ein halbes Jahr später äußert sich Hengstenberg in einem anderen Kontext genauer zur Frage des Verhältnisses von Subjektivem und Objektivem. In der Schrift ‚Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘ (1826), auf die später verschiedentlich zurückzukommen sein wird,217 behandelt er das Thema unter dem Begriff „Mysticismus“. In Übereinstimmung mit der Einladung zum Stiftungsfest, aber noch deutlicher wird der Ansatz beim Subjekt kritisiert und herausgestellt, daß die christliche Religion weder im Gefühl noch in der Erkenntnis bestehe: „Das Gebiet der Religion ist ihm [scil. dem Christen] weder Verstand noch Gefühl, sondern er nimmt an, daß der heilige Geist anknüpfend an die in der innersten Tiefe des Menschengeistes noch übrig gebliebenen Reste des göttlichen Ebenbildes, ohne die der Mensch kein Mensch, sondern ein Teufel sein würde, durch die er aber, weil das göttliche Ebenbild durch den Fall verdunkelt worden, nicht ohne unmittelbaren göttlichen Beistand wieder zu Gott zurückgelangen kann, sich von dort aus über Gefühl, Verstand und Willen gleichmäßig verbreite und in dem Menschen die durch die Sünde gestörte Harmonie wieder herstelle.“218

Entsprechend könne das Gefühl auch keine Erkenntnisquelle für die Religion sein. Wer dies behauptet, sei in Wahrheit Mystiker: „Der Mystiker findet diese [scil. die Erkenntnisquellen] in seinem Gefühle; nicht bedenkend, daß das Gefühl eben sowohl durch die Sünde verderbt worden ist, wie alle anderen Kräfte der Seele, wähnt er durch das Gefühl, welches doch einen Theil seiner verdunkelten Vernunft bildet, Gott erkennen und zu ihm gelangen zu können. Der Gott, zu dem er gelangt, ist nicht ein objektiver, geschichtlicher Gott, sondern ein Gebilde seiner Einbildungskraft, weshalb ihm auch sein Glaube im Leiden keinen Trost und im Tode keine Freudigkeit zu gewähren vermag. Der Mysticismus ist der Geschichte feind; nimmt er auf die heilige Geschichte Rücksicht, so verflüchtigt er sie durch allegorische Deutung, läugnet die objective Wahrheit der Thatsachen, und findet überall nur symbolische Darstellung innerer Zustände.“219

Unüberhörbar wird nun auch Schleiermacher als Vertreter des Subjektivismus angegriffen und mit dem Mystikerhut versehen.220 Wiederum wird der so ver217   Sie ist vor Ostern 1826 verfaßt worden (vgl. Bachmann 1, 271) und abgedruckt in Bachmann, 1, 354–376, im Folgenden kurz als ‚Ministerialverfügung‘ bezeichnet; vgl. zu ihrem Anlaß und zu ihrer Stoßrichtung Deuschle, Erweckung, 85–91 und unten 2.3.1.1 und 3.1.1. 218   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 361. 219   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 361. 220   Vgl. auch Ministerialverfügung: Bachmann 1, 363, wo sich Hengstenberg gegen „die Ansicht einiger neueren Theologen und ihrer Anhänger“ wendet, „welche [...] das Gefühl

1.3  Tholuck und Hengstenberg

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standene „Mysticismus“ auf eine Stufe mit dem Rationalismus gestellt, denn beide „sind ein Erzeugniß des menschlichen Stolzes, der das Verderben der menschlichen Natur nicht anerkennen will“221 und stattdessen von einer ungetrübten Erkenntnisfähigkeit des Menschen, sei es mittels des Gefühls oder des Verstandes, ausgehe.222 Deutlicher als zuvor wird das Objektive nun konkretisiert als „Wahrheit der Tatsachen“, als die geschichtlich verbürgte Offenbarung Gottes: „Der Christ hingegen betrachtet als die einzige Erkenntnißquelle der Religion die heilige Schrift, deren Sinn ihm durch den heiligen Geist geöffnet worden. Er glaubt an Gott, so wie er sich geschichtlich offenbaret hat, im alten Bunde, als der Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs, und das Oberhaupt der irdischen Theokratie; im neuen Bunde, als der, welcher durch Christum die Welt mit sich versöhnt hat. Er weiß von keiner Idee der Versöhnung, sondern er verehrt als seinen Heiland und Seligmacher Jesum Christum [...]. Für seine ganze Lehre und sein ganzes Leben bildet die Schrift seine Richtschnur; sein Wunsch ist nicht über sie hinaus etwas zu wissen, sondern ihren Sinn immer tiefer zu ergründen. Er weiß, daß alle diejenigen, welche die Richtschnur für Lehre und Leben nicht in der Schrift suchen, sondern im Verstande oder im Gefühle, den jetzigen Zustand der menschlichen Natur nicht kennen, welcher durch die Sünde verdunkelt und verderbt, nicht geeignet ist das Göttliche rein in sich aufzunehmen, sondern es durch Vermischung mit dem Menschlichen trübt, und daher einer äußern unumstößlich gewissen und durch die Sünde nicht getrübten Offenbarung bedarf; er weiß, daß das Christenthum nur dann seine heiligende und beseligende Kraft beweisen kann, wenn Subjectives und Objectives in ihm geschieden bleiben, wenn man der Geschichte ihre einfache und unumstößliche Wahrheit läßt, daß z. B. die Hauptlehre des Christen­ thums, die Lehre von der Versöhnung, nur dann den Menschen beruhigen, ihn über sich selbst erheben und wieder mit Gott vereinigen kann, wenn die durch Christi Leben, Leiden und Sterben geleistete, stellvertretende Genugthuung durchaus als eine objective, historische Thatsache aufgefaßt, und dann durch subjective Aneignung, vermitvon dem ganzen übrigen Geistesleben abtrennend, behaupten, daß aller Irrthum nur Werk des reflectirenden Verstandes, im Gefühl hingegen nichts als Wahrheit sei [...], welche die Religion, die doch auf den ganzen Menschen wirken soll, auf das Gefühl, als das ihr eigen­ thümliche Gebiet beschränken, und die Religion mit der Kunst in Verbindung setzend, wähnen, daß ein Mensch Religion haben könnte, ohne Gott durch seinen Wandel zu verherrlichen [...]; sie ertödtet das Wahrheitsgefühl, indem sie behauptet, daß alle, auch die schriftmäßigen Begriffe von Gott nur insoweit Geltung haben, als sie aus dem Gefühle hervorgegangen sind oder auf dasselbe einwirken. Es ist daher zu wünschen, daß diese Richtung, als dem wahren Christenthum gefährlich, ferner keinen Eingang finden möge.“ Vgl. auch die Kritik an Twestens „Ansicht daß die Religion im Gefühle allein bestehe“ (Hengstenberg an Brandis, Berlin 1. Dez. 1826: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  170). – Es ist ein Mangel der Arbeit Kramers, daß er das Verhältnis von Hengstenberg zu Schleiermacher erst vom Jahr 1827 an verfolgt und den Artikel über Schleiermacher in der EKZ von 1829 zum eigentlichen Ausgangspunkt wählt (Kramer, Hengstenberg, 20–24 bzw. 24–43), vgl. dazu unten 2.2.1. 221   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 362. 222   Beide Abwege des Christentums, die einseitige Hervorhebung der Anschauung und des Gefühls sowie die einseitige Hervorhebung des Verstandes, beschreibt Hengstenberg ausführlicher in einem Artikel ‚Ueber My­stizismus‘, EKZ 1 (1827), Sp.  145–147.153–156.161– 167.169–175, Nr.  19–22.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

telst des durch den heiligen Geist gewirkten Glaubens in dem Menschen lebendig gemacht wird.“223

Das Objektive sind demnach die in der Geschichte unverbrüchlich bezeugten Heilsereignisse, die in der Schrift unverfälscht bezeugt und ausgelegt werden. Die Geschichtlichkeit wird für Hengstenberg in Auseinandersetzung mit subjektivistischen oder idealistischen Konzeptionen zum unhintergehbaren Prüfstein für die Wahrheit. Er bleibt also nicht beim Bibelwort als der äußeren Norm stehen. Das Bibelwort muß, um wahrhaft objektiv zu sein, von geschichtlichen Tatsachen handeln. Nur dann ist es etwas anderes als ein Hirngespinst, wenn dem Menschen Gottes geschichtliches Wirken von außen begegnet. Eine solche, auf Geschichtlichkeit gebaute Objektivität hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Schrift und für die Konzeption der Theologie insgesamt. Da­rauf wird später zurückzukommen sein (s.u. 2.). Im Moment genügt es, die Alternative deutlich gemacht zu haben, die Hengstenberg den theologischen Strömungen seiner Zeit aufdrängt – nicht zuletzt derjenigen Strömung, der er selbst zugehörte. Stellt man seine theologischen Äußerungen zum Thema Vernunft und Offenbarung in Rechnung, kann man ungefähr ermessen, wie Hengstenberg den Tholuckschen erfahrungsorientierten Ansatz bewertet hat. Er knüpfte an Tholucks Sündenlehre an, ging aber über sie hinaus, indem er ihre Aussagen nicht nur auf Verstand und Gefühl, sondern ebenso auf die christliche Selbsterfahrung und Selbstreflexion bezog. Muß die Gotteserkenntnis beim Subjekt ihren Ausgang nehmen, ist dies – so Hengstenberg – nur um den Preis der Ermäßigung der Sünde möglich. Hält man hingegen an der Radikalität der Sünde fest, dann kann die subjektive Wahrnehmung göttlicher Wirklichkeit immer nur zu „Gebilden der Einbildungskraft“, „zum Götzendienst“ führen.224 Es kommt darum für Hengstenberg alles darauf an, daß die geschichtlich verbürgte Offenbarung das Wesen des Christentums bestimmt. Die allgemeinmenschliche oder christliche Selbsterfahrung kann, so waren auch schon seine Notizen in Basel konzipiert, nur als Prüfstein für die Plausibilität der christlichen Wahrheit, nicht aber als Konstruktionsprinzip dienen. Insofern Tholucks Anschauung die letztere Variante zu unterstützen schien, stieß er auf Hengstenbergs Widerspruch. Tholuck und Hengstenberg repräsentieren also nicht nur zwei völlig verschiedene „Individualitäten“, sondern auch zwei Alternativen von erweckter Theologie. Hengstenbergs Konzeption bedeutete nichts weniger als eine grundsätzliche Korrektur an Tholucks Theologie und bestimmten, auch über Tholuck hinaus verbreiteten, theologischen Implikaten der Erweckungsbewegung. Sie forderte nicht zuletzt ein Ausscheiden der Derivate Schleiermacherscher Theo223

  Ministerialverfügung: Bachmann 1, 362.   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 361. – Deutlich ist dabei der Bezug auf Calvins Rede von der „fabrica idolorum“ (Calvin, Institutio I, 11,8: OS 3, 96,29 f.). 224

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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logie,225 welche nach Hengstenbergs Ansicht ihrerseits noch der Auf klärung und der mit ihr verbundenen anthropologischen Wende verhaftet war. Damit forderte er, was die Erweckungsbewegung bisher nicht hervorgebracht hatte: eine wirkliche Alternative zur Auf klärung.226 Es ist also festzuhalten, daß sich Hengstenberg zunächst nicht, wie immer wieder behauptet, gegen Vertreter der Neologie oder Auf klärung wandte, er wandte sich vielmehr gegen mit der Auf klärung verwandte Theologiekonzepte einzelner Erweckungstheologen. Dabei blieb er ihnen auf dem Feld religiöser Praxis eng verbunden, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. Abgrenzung und Anknüpfung verlaufen in den verschiedenen Bereichen nicht synchron: Während die theologische Zäsur, die zwischen Hengstenbergs Ansichten und denen Tholucks klaffte, einschneidender war als die zwischen der Auf klärungs- und Tholucks Erweckungstheologie, blieb Hengstenberg, was die Frömmigkeit anging, mit Tholuck auf gleichem Terrain. Hier sah er sich selbst in Kontinuität zu dem neu erwachten religiösen Leben der nachnapoleonischen Zeit und dessen Wurzeln im 18. und 17. Jahrhundert.227 Daß dies für ihn keinen Widerspruch darstellte, wird unten (1.5) gezeigt werden. Zunächst ist aber Hengstenbergs Verwurzelung im erweckten Milieu in den Blick zu nehmen.

1.4  Hengstenberg als Erweckter Hengstenberg blieb bei aller Kritik an Tholucks theologischem Ansatz sowohl ihm als auch dem erweckten Milieu in Berlin insgesamt eng verbunden, ja er 225   Die unterschiedliche Stellung zu Schleiermachers Theologie machte Hengstenberg später auch für den Unterschied zwischen seiner und Neanders Haltung verantwortlich; im Nachruf auf Neander (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 48 [1851], Sp.  17) schreibt er über die Differenzen: „Ihre Hauptwurzel hatten sie darin, daß Neander seinen Ausgang von Schleiermacher’schem Grunde nahm, und sich von da aus mühsam zu einem entschiedeneren Glauben an das Wort Gottes hindurchrang, während es dem Herausgeber und seinen Freunden gegeben war von demjenigen auszugehen, was Neander mit seinen gleichgesinnten Zeitgenossen errungen hatte.“ 226   Nach Gäblers Urteil gilt für die Erweckungsbewegung allgemein, auch für die Bewegungen in Westeuropa und Nordamerika: „Eine wirklich theologische Gegenposition zur Auf klärung wird nirgends geboten“ (Gäbler, Auferstehungszeit, 165). 227   Darum führen die zahlreichen Versuche, die Entwicklung Hengstenbergs vom Erweckten zum konfessionellen Lutheraner als eine Ablösung des einen durch den anderen sehen zu wollen, in die Irre. Selbst Maser, der sich zunächst vorsichtig ausdrückt: Hengstenberg sei „von der Erweckungsbewegung erfaßt worden, bevor er zum Konfessionalisten wurde“, spricht im Zusammenhang von Hengstenbergs Programm für die Bibelgesellschaft von 1825 von seinem Übergang zum Konfessionalismus (Maser, Kottwitz, 203 f.). Abgesehen davon, daß das Bekenntnis darin mit keinem Wort erwähnt wird, müßte man auch fragen, wann dann Hengstenberg eigentlich der Erweckte gewesen wäre, nur von 1824 bis 1825?

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

muß selbst als Erweckter betrachtet werden. Gängigerweise wird diese Sicht bestritten. Die Zugehörigkeit zur Er­weckungsbewegung wird, wenn überhaupt, nur als Episode im Werdegang des großen Führers der Konfessionellen betrachtet.228 Vielfach übernommen wurde die Meinung Lenz’, derzufolge Hengstenbergs Eintritt in das erweckte Milieu zu keinem Zeitpunkt von echter Überzeugung getragen gewesen, sondern politischen Interessen und karrierebewußter Berechnung geschuldet gewesen sei. Selbst die Heirat Hengstenbergs mit einer Tochter aus erwecktem Hause sei nichts anderes als eine „Parteisache“ gewesen: „Wie die regierenden Häuser durch Ehebündnisse ihre politischen Allianzen zu befestigen suchten, so erhielt der Bund zwischen dem Führer der Orthodoxie und den preußischen Landjunkern dadurch seine matrimoniale Sanktion.“229 Allerdings war Hengstenberg, was Lenz geflissentlich übersieht, zum Zeitpunkt seiner Verlobung, im Juni 1826, noch keineswegs „der Führer der Orthodoxie“. Auch von einem Gegensatz einer am Bekenntnis orientierten Kirchlichkeit Hengstenbergs und der frommen inneren Erregung der Erweckten, wie ihn Lenz zeichnet, kann nicht die Rede sein, ganz abgesehen davon, daß das Bekenntnis in den Veröffentlichungen Hengstenbergs zu dieser Zeit noch gar keine entscheidende Rolle spielte. Doch auch dieses Deutungsschema, das Hengstenberg in seiner späteren Stellung der – statisch verstandenen – Erweckungsbewegung der frühen Jahre entgegenstellt, ist verbreitet, insbesondere bei denen, die – im Unterschied zu Lenz – mit der Erweckungsbewegung sympathisieren. Für Vertreter dieser Richtung wird Hengstenberg nicht nur als Fremdling im Kreise der Erweckten gesehen, sondern darüber hinaus für das Ende der Erweckungsbewegung verantwortlich gemacht: Demnach endete mit Hengstenberg „die große, schöne pietistische Erweckungsbewegung in Berlin in trockener Theologie“230. Doch mit solchen Gegenüberstellungen verbaut man sich die Sicht. Sie übernehmen zudem unkritisch die Beurteilungen der konservativen Theologie durch ihre zeitgenössischen Gegner. Das Entweder-Oder – entweder Erwek­ kungsbewegung oder „Führer der Orthodoxie“ – paßt nicht zu den historischen Entwicklungen der 20er und 30er Jahre. Die Berliner Erweckungsbewegung war keine in sich ruhende Größe, sondern – wie die Bezeichnung zu Recht hervorhebt – eine Bewegung 231, eine Bewegung, die sich wandelte und deren 228   So Wulfmeyer, Hengstenberg, 33.44 f.; Christensen, Hengstenberg, 23 f.; Kantzenbach, Erweckungsbewegung, 91; Beyreuther, Erweckungsbewegung, 33. – Eine ähnliche Diskussion über den bleibenden Einfluß der Erweckungsbewegung gibt es im Blick auf den schlesischen Lutheraner Scheibel, vgl. Maser, Kottwitz, 197–207. 229   Lenz, Geschichte 2/1, 344; weniger schroff aber in ähnliche Richtung gehen die von Lenz abhängigen Äußerungen Krieges: Sie geht davon aus, Hengstenberg habe die Ideen der Erweckten nur äußerlich übernommen (Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 19 f.87.90). 230   Wendland, Erweckungsbewegung, 76; vgl. Ders., Erwachen, 28.32; auch Kantzenbach, Kottwitz, 26 hat die Tendenz. 231   Dies betont zu Recht auch Maser, Kottwitz, 238 f.

1.4  Hengstenberg als Erweckter

83

Zukunft davon abhing, wie sie sich wandeln würde. Andererseits entstanden das konservative protestantische Milieu und die konfessionelle Theologie nicht voraussetzungslos. Sie wuchsen auf dem Boden der Erweckungsbewegung, ja, sie waren die Erweckungsbewegung in transformierter Gestalt.232 Hengstenberg stand an diesem Übergang und war an der Transformation wesentlich beteiligt. Ausgangspunkt und bleibender Bezugspunkt war für ihn jedoch die Zugehörigkeit zu den Kreisen der Berliner Erweckten. Von den zeitgenössischen Beobachtern hat dies Kahnis am deutlichsten gesehen, der rückblickend über Hengstenberg sagt: „Die letzte Grundlage seiner Theologie war die Ueberzeugung, daß des Christenthums Mittelpunkt das neue Leben der Gemeinschaft mit Gott durch Christum sei“ – und damit die Grunderfahrung aller Erweckten 233. Man bekommt Hengstenbergs Verwurzelung in der Berliner Erweckungsbewegung sehr deutlich in den Blick, wenn man sein Umfeld und seine Beziehungen in den Jahren nach seiner Ankunft in Berlin möglichst konkret und lebensnah betrachtet. Als Quellen stehen in erster Linie seine Briefe zur Verfügung, die sich in der Bachmannschen Darstellung erhalten haben. Dabei handelt es sich zunächt um die Briefe an den Vater, von 1827–1829 treten an deren Stelle die Briefe an seine Braut Therese. Selbstverständlich sind diese Quellen kritisch zu lesen, doch wäre es verfehlt, sie mit Lenz 234 unter den Generalverdacht der Heuchelei zu stellen. Neander und Tholuck hatten Hengstenbergs erste Schritte auf dem Weg in die Berliner akademische Welt begleitet. Neander kümmerte sich mit großer Zuneigung um den jungen Gelehrten, und Hengstenberg stand nicht nur dem Werk Neanders, sondern auch seiner Person mit hoher Achtung gegenüber.235 Neander wiederum schätzte die erweckte Frömmigkeit und repräsentierte durch sein Leben und Werk selbst die auf Erbauung zielende Form des Glaubens, doch er lebte vor allem in der akademischen Welt, war daher nicht tiefer eingebunden in die Netzwerke der Erweckten. Nur bei der Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Missionen unter den Heiden war er beteiligt, die Mission unter den Juden hielt er für überflüssig. Zwar versammelte auch er an 232

  Vgl. auch Ernst, Auferstehungsmorgen, 137 f.   Kahnis, Protestantismus, 208, der im Anschluß an das Zitat hinzufügt: „Das nannte man in den ersten Jahrzehnten [scil. des 19. Jhs.] Pietismus.“; ebs. in seinem Nachruf auf Hengstenberg Kahnis, Gedächtniß, 421 f. 234   „Seine Briefe aus dieser Zeit und den Jahren, wo er zum Ordinariat gelangte, haben ganz die Tränenseligkeit, die den Pietisten als das echte Zeichen eines wahren Christen galt. Aber es klingt bei ihm nicht ganz echt“ (Lenz, Geschichte, 2/1, 335). 235   Hengstenberg an Therese, Berlin 7. Nov. 1827: Bachmann 2,17 f.: „Am Sonntag Abend war ich bei Neander. Du mußt ihm auch recht gut sein; denn er thut mir viel Gutes. Ich betrachte die große Liebe, mit der er mich vor allen Anderen überschüttet, als eine unverdiente Gnade des Himmels. Selten hat Gott wol einen Seiner Knechte schon hier auf Erden so gereinigt und geheiligt, als ihn; ich habe ihn noch fast nie anders, namentlich in der letzteren Zeit nicht, gefunden, als mit gebrochenem Herzen.“ 233

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

jedem Sonntagabend Studenten und zudem an Samstagabenden führende Persönlichkeiten aus den frommen Kreisen in seiner Wohnung, doch hatten jene Runden weniger den Charakter von Erbauungsveranstaltungen.236 Studenten, die mit einer solchen Erwartung zu Neander gekommen waren, zeigten sich enttäuscht über seine professorale Unnahbarkeit.237 Für Hengstenbergs Eintritt in das erweckte Milieu spielte Neander daher keine große Rolle. Er übernahm vielmehr die Rolle des väterlichen Freundes und akademischen Mentors. Ganz anders Tholuck. Seine Studentenversammlungen an den Donnerstag­ abenden waren gezielt als Erbauungsveranstaltungen mit Gesang, Gebet, Schriftlesung und freien Ansprachen gestaltet.238 Auch verkehrte er gern und häufig in den Häusern erweckter Persönlichkeiten. Von Anfang an verband ihn eine enge Beziehung mit Baron von Kottwitz, der entscheidenden Anteil an seiner Entwicklung hatte.239 So war es selbstverständlich, daß über ihn auch Hengstenberg in Kontakt mit Kottwitz und anderen Vertretern der Er­wek­ kungsbewegung kam. Auch das Verhältnis zwischen Hengstenberg und Tholuck gestaltete sich anders als das zu Neander. Am 2. Oktober 1825 kehrte Tholuck aus England zurück. Hengstenberg, der bis dahin in dessen Wohnung gelebt hatte, bezog bereits einen Tag zuvor gemeinsam mit seinem Bruder Karl, mit Ferdinand von Quast – seinem zukünftigen Schwager 240 – sowie dem Lizentiaten Böhl eine Wohnung im Haus des Weinhändlers Habel Unter den Linden 30. Die Beziehung zu Tholuck intensivierte sich in diesem Wintersemester. Am Tag seiner Promotion, dem 4. März 1826, schreibt Tholuck in sein Tagebuch: „Hengstenberg ging mit nach Hause; ich bot ihm das Du an. Er schien dadurch weit vertraulicher geworden“241. Auch nach Tholucks Versetzung nach Halle, wohin er am 29. März 1826 auf brach, blieben beide durch fortwährenden 236   Vgl. Bachmann 2,18; Keil, Lebensbeschreibung (s. Anm.  237); Wendland, Erweckungsbewegung, 72 f., der allerdings die Wochentage umgekehrt zuteilt. 237   S. Carl Friedrich Keil in seiner Lebensbeschreibung: „Auf die freundliche Einladung von Professor Neander hin besuchte ich auch dann und wann denselben an den Sonntagabenden, wo immer eine beträchtliche Anzahl von Studierenden versammelt war und von Einzelnen theologische Fragen über diesen und jenen Punkt der Kirchengeschichte oder über den Sinn einzelner Stellen des Neuen Testamentes gerichtet wurde [sic!], die er wie vom Katheder herab dozierend beantwortete. Aber zu einer Unterhaltung über theologische Fragen und kirchliche Zustände, die alle Anwesende hätte interessieren können, kam es niemals.“ (Siemens, Keil, 280). Ein ähnliches Bild ergibt die ganz andere Schilderung Gutzkows (Gutzkow, Kastanienwäldchen, 22–24). Das Interesse Neanders an jedem einzelnen Studenten wird hingegen von Eberlein, Erdmann, 36 f. hervorgehoben. 238   Witte, Tholuck 1, 194; Wendland, Erweckungsbewgung, 73. 239   Witte, Tholuck 1, 125–173, bes. 170. Vgl. auch die Rolle, die Kottwitz alias Abraham in Tholucks Sündenlehre spielt (Tholuck, Lehre, 191–214). 240   S. zu ihm unten Anm.  316. 241   Transkribiert bei Witte, Tholuck 1, 448; Original: Tagebucheintrag, Sonntag 5. März 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, Aa: 8 (ohne Paginierung): „Hgst. gg. nach Hause, ich bot ihm Du an. Er schien dadurch weit vertraulicher geworden u. erzählte mir gleich v. [...] u. v. s. Familie.“

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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Brief kontakt verbunden. Regelmäßig legte Tholuck seinen Studenten, die nach Berlin wechselten, in besonderer Weise die Veranstaltungen Hengstenbergs ans Herz.242 Die Briefe 243, in denen sich eine Freundschaft unter Gleichen ausdrückt, er­staunen durch die Offenheit, in der beide ihre Gefühle und auch ihre Kritik aneinander ausdrücken. Persönliches Befinden, Krankheiten, Hengstenbergs und Tholucks Verlobung spielen darin eine größere Rolle als theologische Fragen, wenngleich auch diese nicht ausgespart werden. Die Briefe sind jedoch sehr viel mehr Zeugnis für das geistliche Leben der beiden als für ihr theologisches Denken. Die Freundschaft blieb nicht ohne Spannungen und Krisen und, wie sich schon zu Beginn abzeichnete und oben dargelegt wurde, waren ihre theologischen Wege nicht identisch, doch keine Beziehung aus den ersten Berliner Tagen Hengstenbergs hat so lange und so beständig angehalten wie die zu Tholuck.244 Tholuck öffnete Hengstenberg während seines ersten Semesters die Türen in die Häuser der Erweckten. Doch schon bald – Tholuck war bereits im Februar 1825 nach England aufgebrochen – pflegte Hengstenberg selbst die Kontakte. Am 18. April vermeldet er an Tholuck: „Den Baron sehe ich ziemlich oft, und es ist mir in seiner Gegenwart jedesmahl als ob ein Ausfluß seines Glaubens und seiner Liebe in mich überginge. Noch so eben war ich bei ihm um ihn nach Aufträgen an Sie zu fragen. Er grüßt Sie mit dem Gruße der herzlichsten innigsten Liebe.“245

Während Tholucks Abwesenheit weiteten sich Hengstenbergs Kreise. Bald war er auch schon im Hause des Geheimen Obertribunalrats Schmalz anzutreffen; Tholuck trat erst später in Kontakt zu dieser Familie, mit welcher „der ganze 242

  S. Bachmann 2, 38, Anm.   Hengstenbergs Briefe finden sich im Tholuckschen Nachlaß im Archiv der Franckeschen Stiftung, Halle; Auszüge aus fast allen dort auf bewahrten Briefen hat Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 113–127 veröffentlicht. Allerdings ist die Sammlung nicht vollständig, sie bricht 1837 ab, während sich aus Hengstenbergs Nachlaß entnehmen läßt, daß der Briefwechsel weiterging. In Letztgenanntem in der Staatsbibliothek, Berlin, finden sich die Briefe Tholucks; eine Auswahl daraus hat – stark verkürzend – Bonwetsch, Briefe 2, 84–98 herausgegeben. 244   Noch in seinem letzten Lebensjahr verbrachte Hengstenberg gemeinsam mit Tholuck mehrere Ferienwochen im Harz (Wölbling, Gedächtniß, 634). Nach Hengstenbergs Tod antwortete Tholuck dem Biographen Bachmann mit den einleitenden Worten: „Das ist mir ja eine rechte Freude, wenn ich noch irgend etwas im Dienste meines seeligen Freundes zu thun vermag.“ (Tholuck an Bachmann, Halle 22. Nov. 1872: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann). 1840 bekräftigte Tholuck im Vorwort, Litterarischer Anzeiger 10 (1840), Sp.  9 –11, öffentlich, daß er sich totz verschiedener theologischer Ansichten mit Hengstenberg auf einem gemeinsamen Glaubensgrunde wisse. Vgl. zum Kontext dieses Vorworts und den Krisen der Beziehungen, insbesondere in den Jahren 1835 und 1840, Kramer, Hengstenberg, 109–119. 245   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 18. Apr. 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 370; gekürzt bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 113 f. Auch Tholuck sandte über Hengstenberg verschiedentlich Nachrichten an Kottwitz, s. z. B. Tholuck an Hengstenberg, s.l. [England] 27. Juli 1825: SBB PK, Nl Hengstenberg, Mappe Tholuck I, 73. 243

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Zirkel der Berliner Erweckten […] mehr oder weniger enge Beziehungen“ pflegte, woraus auch Tholucks unglückliche Verlobung mit Adele Schmalz hervorgehen sollte.246 Tholuck war also nicht der alleinige Türöffner. Bereits im Januar 1825 hatte Hengstenberg Adolf von Senfft-Pilsach wiedergetroffen. Die beiden Brüder Adolf (1815–1882) und Ernst von Senfft-Pilsach (1795–1882) hatten als Kinder einige Zeit im Hengstenbergschen Pfarrhaus in Freiheit Wetter gewohnt.247 Nach den Befreiungskriegen waren sie dann in die Kreise der Berliner Erweckungsbewegung gekommen, 1822 war der Ältere, Ernst, auf die elterlichen Güter nach Pommern gezogen, wo er erweckliche Versammlungen abhielt und schon bald in Konflikt mit den Behörden geriet.248 Später wurde er selbst Oberpräsident von Pommern. Aber nicht nur dieser Kontakt aus früheren Zeiten führte in die erweckten Kreise. Hengstenbergs Studienfreund aus Bonn, Wilhelm Keetmann, aus der Brüdergemeine stammend, gehörte ebenfalls in jenes Milieu. Keetmann wohnte überdies im Haus des frommen Geschäftsmannes Samuel Elsner in der Spandauer Straße.249 In diesem Haus, das zugleich Sitz der Traktatgesellschaft war und in dem viele Fäden der Erweckten zusammenliefen, wurde Hengstenberg bald regelmäßiger Gast.250 Hengstenberg war also, insbesondere durch die Bekanntschaft mit Kottwitz und Elsner, in engste Verbindung mit Schlüsselpersonen der Erweckungsbewegung getreten. Schon allein die Tatsache, daß weder er sich von jenen noch jene sich von ihm jemals distanzierten, sollte vorsichtig machen bezüglich des Urteils, Hengstenberg sei kein Erweckter gewesen. Gerade Elsner wird Hengstenberg auch auf dem mit der Kirchenzeitung eingeschlagenen Weg begleiten und unterstützen.251 Jedoch sagen Beziehungen, Freundschaften und vereinzelte Kontakte noch nicht alles über das Verhältnis einer Person zu einer religiösen Bewegung. Zwar wird man gerade die persönliche Verbindung bei einer netzwerkartig organisierten Bewegung wie der der Erweckten nicht gering veran246   S. Witte, Tholuck 1, 439: „Hengstenberg, mit dem Tholuck in diesem Winter ganz besonders gern und intim verkehrte, ging bei Schmalzens aus und ein.“ Dort auch das Zitat. – Die Verlobung, die damit verbundenen inneren Kämpfe Tholucks und die Trennung sind auch Thema des Briefwechsels zwischen Hengstenberg und Tholuck in den Jahren 1826– 1827. 247   S. Bachmann 1, 13.206; zu den Brüdern v. Petersdorff, ADB 54; Haake, Senfft von Pilsach und Wendland, Erweckungsbewegung, 32. 248   S. Deuschle, Erweckung, 93 f. 96 mit Anm.  74. 249   S. Bachmann 1, 205. 250   Vgl. Hengstenberg an den Vater, Berlin [10.] Okt. 1825: Bachmann 1, 251: „Tholuck ist seit acht Tagen wieder hier; seine Gesundheit ist noch immer nicht wiederhergestellt. Mit ihm und Neander bin ich viel zusammen. Auch verkehre ich viel im Hause des Baron von Kottwitz und des Kaufmanns Elsner. Auch bei Strauß habe ich kürzlich einige Abende zugebracht.“ Im Hause Elsner lernte Hengstenberg auch seine zukünftige Braut kennen (s.u.). 251   S. zu Elsner unten 2.1.1 und 2.5.1; vgl. zu Kottwitz’ Verhältnis zu Hengstenberg nach 1830 Maser, Kottwitz, 204.

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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schlagen dürfen, doch ist darüber hinaus nach dem Engagement und der von Hengstenberg selbst zum Ausdruck gebrachten Haltung zu fragen. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang vor allem, welche Versammlungen und Gottesdienste Hengstenberg besuchte und in welchen Gesellschaften er mitarbeitete. Tholuck hatte Hengstenberg für die Dauer seines Englandaufenthaltes nicht nur die Wohnung überlassen, er hatte ihn auch dazu bestimmt, die Erbauungsversammlungen, die jeden Donnerstag in eben dieser Wohnung stattfanden, weiterzuführen. Hengstenberg sah sich dazu nicht in der Lage, und bekam dabei Unterstützung von Neander.252 Allerdings heißt dies nicht, daß Hengstenberg erwecklichen Treffen generell ablehnend gegenüber gestanden hätte. Seine Kritik an der Tholuckschen Art von Versammlung traf vielmehr das unklare Verhältnis von erbaulichem und akademischem Interesse. Seiner Meinung nach muß es bei Versammlungen mit Studenten um wissenschaftliche Themen gehen, denn gerade für die im Glauben zu stärkenden Studenten sei es nötig, ihnen Gelegenheit zu geben, die Vereinbarkeit von Glaube und Wissenschaft zu erleben. Erbauungsstunden „mit Ausschließung des Wissenschaftlichen“ konnten das nicht leisten. Im akademischen Kontext hielt er daher diese Art von Veranstaltung, die er ansonsten durchaus befürwortete und auch immer wieder selbst besuchte, für „überflüssig“253. Ähnlich wie Neander richtete er deshalb 1827 freitägliche Studentenabende in seiner Wohnung ein, bei denen die wis252   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 18. Apr. 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 370 (leicht gekürzt bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 114; Wörter in eckiger Klammer verdorben und schon von Bonwetsch erschlossen): „Die Leitung der donnerstäglichen Versammlungen zu übernehmen war mir unmöglich; ich schreibe Ihnen, geliebter Freund, darüber mit der Offenheit, wie sie dem Christen ziemt. Ich habe durch die Erfahrung die Ueber[zeugung ge]wonnen, die jedoch keineswegs auf Objectivität Anspruch macht, daß Versammlungen, die einzig [Erbauung], mit Ausschließung des Wissenschaftlichen, zum Zweck haben, für Studierende auf Universitäten [überflüs]sig sind. Es erzeugt sich dadurch zu leicht eine gemachte Frömmigkeit; man conformirt [sich dem herrs]chenden Ton, anstatt alles der freien Wirkung des Geistes zu überlassen, der, wie der Sauer[teig die] ganze Masse durchdringt, zu seiner Zeit auch im Äußern sich zeigen wird – man spricht von Erfahrungen, die man nicht gemacht hat, oder macht Erfahrungen, um davon zu sprechen. Zudem sind die Versammlungen zu sehr auf Ihre Individualität gegründet, als daß nicht jeder, der sie fortzusetzen unternähme, mancherlei Mißdeutungen von Seiten derer zu erwarten hätte, die nicht geeignet sind, den schweren Unterschied zwischen dem allen gemeinsamen Geiste und der verschiedenen Individualität zu machen. Dazu kommen dann noch die subjektiven Ihnen hinreichend bekannten Gründe. – Dennoch wollte ich nicht meiner eigenen Entscheidung folgen, sondern frug Neander um seinen Rath, der mir entschieden die Fortsetzung abrieth. Ich bitte Sie recht sehr, was ich hier gesagt habe, nicht einem Mangel an Liebe gegen Sie beizulegen; Sie würden daran Unrecht thun. [...] Die Versammlungen werden jetzt ohne bestimmte Form alle 14 Tage bei Grundemann Lehrer am Waisenhaus gehalten. Außderdem sehen sich die Verbundenen am Sonntag beim Baron, in den Missionsstunden und außerdem. Denen, die sich an mich anschließen wollen, bin ich mit Liebe entgegengekommen.“ 253   S. die vorige Anmerkung.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

senschaftliche Beschäftigung mit dem Glauben im Zentrum stehen sollte. Bald schon reichte der Platz für die Studenten kaum noch aus. Anders als Neander lag ihm nicht daran zu dozieren. Im Gegenteil, in einem Brief an seine Braut klagte er: „Ich hatte die Unterhaltung großentheils alleine zu führen, da die Studenten, wenn so viele da sind, gar nicht leicht zum Sprechen zu bringen sind, und die Folge war natürlich eine schlaflose Nacht.“254 Vierzehntägig versammelten sich zudem samstags polnische Studenten evangelischen Bekenntnisses in seiner Wohnung, deren Betreuung er übernommen hatte und die nicht dem erweckten Milieu angehörten.255 Hengstenberg besuchte selbstverständlich den Sonntagsgottesdienst. Aber welchen? Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kirchspiel scheint für ihn keine Rolle gespielt zu haben. Im ersten Jahr gehörte er zur Neuen Kirche am Gendarmenmarkt, seit seinem Umzug in Tholucks Wohnung war die Dorotheenstädtische Kirche für ihn zuständig. Das blieb auch so, als er 1826 in die Wohnung Unter den Linden 30 und 1829 in die Dorotheenstraße umzog.256 Weder die Prediger der Neuen Kirche (K.G. Schleemüller und S. Marot 257) noch die der Dorotheenstädtischen Kirche (S.C.G. Küster, D.G.G. Mehring, K.H. Brunnemann 258 ) finden in seinen Briefen aus jenen Jahren irgendeine Erwähnung. Doch nicht allein daraus läßt sich schließen, daß Hengstenberg den Gottesdienst nicht nach Kirchspielzugehörigkeit auswählte. Bereits seit dem 18. Jahrhundert war die Parochialpflicht in Berlin nur noch auf Trauungen und Beerdigungen bezogen gewesen, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich selbst diese Bindung noch weiter gelockert.259 Im 18. Jahrhundert waren es Personalgemeinden wie die der Reformierten, der französischen oder böhmischen Auswanderer sowie die Militärgemeinden gewesen, die zunehmend auch die Kirchspielzugehörigkeit der lutherischen Gemeinden aushöhlten, im 19. Jahrhundert kamen das parochieübergreifende Wirken der erwecklichen Gesellschaften und das Entstehen neuer Stadtteile ohne Kirchen als weitere Faktoren hinzu. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts bekamen die Parochien wieder einen höheren Stellenwert. 254   Hengstenberg an Therese, Berlin 11. Nov. 1827: Bachmann 2, 39. Vgl. ebd., 37–40. – Zu Hengstenbergs Verhältnis zu seinen Studenten s.u. 2.5.1. 255   S. Bachmann 2, 36 f.; Hengstenberg an Therese, Berlin März 1828: Bachmann 1, 37: „Das ausschließliche Zusammenkommen mit schon erweckten Studenten macht leicht einseitig und versagt manchen Blick in das menschliche Herz.“ Vgl. dazu auch unten 2.5.1. 256   Die Zugehörigkeit von Straßen zu ihren Kirchspielen findet sich bei Lisco, Zur Kirchen-Geschichte, 382–390. 257   Lisco, Zur Kirchen-Geschichte, 57. 258   Lisco, Zur Kirchen-Geschichte, 39. 259   S. dazu Lisco, Zur Kirchen-Geschichte, 315 f. Kritisch zu dieser Situation äußert sich Büchsel, Berliner Amtsleben, 79. F.W. Krummacher vermerkt, „daß der Berliner nur durch das kirchliche Aufgebot und den Tod daran erinnert würde, daß er überhaupt einer Parochie angehöre“ (Krummacher, Selbstbiographie, 179).

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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Man kann also davon ausgehen, daß Hengstenberg – wie in Berlin üblich – den Gottesdienst besuchte, dessen Prediger er am meisten schätzte. Daraus ist zu schließen, daß er regelmäßig im Dom anzutreffen war, denn G. Friedrich A. Strauß schätzte er nicht nur als Fakultätskollegen, sondern besonders auch als Prediger.260 Damit stand Hengstenberg nicht alleine da. Strauß war schon bald nach seinem Amtsantritt als vierter Domprediger im Jahre 1822 zum „Modeprediger der Stadt“261 avanciert. Seine Predigten zeichneten sich durch einen klaren, gut strukturierten Gedankenauf bau aus, seine Sprache war unkompliziert, zudem verstand er es, reformatorische Lehre mit Fragestellungen seiner Zeit zu verbinden.262 Hengstenberg hatte aber auch eine hohe Meinung von dem zweiten Domprediger, Franz Theremin,263 und darüber hinaus scheint er von dem ersten Domprediger, Konsistorialrat F. Ehrenberg, zumindest einen positiven Eindruck gewonnen zu haben.264 Es ist also sehr wahrscheinlich, daß Hengstenberg in der Regel den Gottesdienst im Dom besuchte. Daneben wandte er sich sonntags auch hin und wieder zur St. Gertraud-Kirche am Spittelmarkt, die seit jeher ein Treffpunkt der Erweckten war. 1824 war dort Friedrich Gustav Lisco Prediger geworden. Nachdem Hengstenberg ihn zum ersten Mal gehört hatte, schrieb er: „Diesen Morgen habe ich zum ersten Male Lisco, predigen hören, der mir ganz besonders gefallen hat, aber auch lange nicht so schön gepredigt haben soll. Er legte das 3. Capitel im Ev. Johannis aus. Es ist ein angenehmes Gefühl in Lisco’s Kirche, daß die Mehrzahl der Gemeine aus Christen besteht.“265 Ob Hengstenberg auch zur Bethlehemskirche Kontakte pflegte, ist nicht bezeugt. Allerdings zeigte er sich sehr erfreut über die Berufung Goßners als Nachfolger des 1827 verstorbenen Jänicke.266 260

  Hengstenberg an Brandis, Berlin 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169: „Auch Strauß, den ich schon früher kannte, hat mich sehr angezogen; er wirkt trefflich, mehr jedoch als Geistlicher, wie als Professor.“ Vgl. auch Bachmann 1, 203.281; 2, 19 f. 261   Wendland, Erweckungsbewegung, 71. Henriette Funk, die Tochter Elsners, bietet in ihrem für Bachmann verfaßten Rückblick ein übereinstimmendes Bild: „Strauß, Theremin, füllten den Dom“ (Henriette Funk an Bachmann, Lübeck 9. Nov. 1874: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung). 262   Vgl. v. a. Strauß’ – allerdings erst aus dem Jahre 1843 – stammenden Predigtband: Sola. Predigten über die Rechtfertigung durch Glauben. 263   Vgl. Hengstenberg an Therese, Berlin 24. Febr. 1828: Bachmann 2, 21: „Ich hörte diesen Morgen eine sehr schöne Predigt bei Theremin, bei der ich Nichts mehr bedauerte, als das Du, meine heiß Geliebte, sie nicht hören konntest. Er predigte über meinen Lieblingsspruch: ‚So Jemand will Mein Jünger sein, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge Mir nach!‘ Seine letzteren Predigten sind so voller Geist und voller Kraft, daß ich jedesmal glaube, noch nie eine so schöne Predigt von ihm gehört zu haben.“ Vgl. auch ders. an dies., Berlin Ende April 1827: Bachmann 2, 22; ders. an dies., 12. Aug. 1827: Bachmann 2, 21; ders. an dies. 20. und 22. Okt. 1828: Bachmann 2, 152.158. 264   Vgl. Hengstenberg an Therese, Berlin 15. Aug. 1827: Bachmann 2, 24. 265   Hengstenberg an Therese, Berlin 19. Aug. 1827: Bachmann 2, 24. 266   Vgl. Bachmann 2, 22 f. und Hengstenberg an Tholuck, Berlin 6. Dez. 1828: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 955 = Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 125. Selten ging er auch bei Prediger Arndt in den Gottesdienst (davon schreibt Elsner am 14. Okt. 1834, Ab-

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Was den Gottesdienst anging, so traf Hengstenberg seine Wahl demnach so, wie es typisch war für die Erweckten Berlins – ein weiteres Indiz dafür, daß er sich ganz jener Richtung zugehörig fühlte. Kritik an oder auch nur eine Distanzierung gegenüber den genannten Erweckungspredigern ist in den Anfangsjahren nicht zu finden.267 Sowohl ihre Art zu predigen als auch der Inhalt ihrer Verkündung sprachen Hengstenberg an und fanden seine Zustimmung. Darüber hinaus fügt sich gut in dieses Bild, daß Hengstenberg die in den Jahren 1814–1824 entstandenen erwecklichen Gesellschaften unterstützte. Der organisatorische Kopf der Berliner erwecklichen Gesellschaften war Samuel Elsner.268 Er war nicht nur bei der Gründung aller vier Gesellschaften beteiligt, sondern auch zeitlebens für mehrere der Gesellschaften tätig. Die von ihm seit 1817 bis zu seinem Tode herausgegebenen ‚Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes‘ waren – ab 1827 gemeinsam mit der Evangelischen Kir­ chenzeitung – das wichtigste Publikationsorgan der Berliner Erweckten. In ihnen wurden die Jahresberichte der Gesellschaften abgedruckt und von den Erfolgen der Missionstätigkeit in nah und fern berichtet. Die besondere Liebe Elsners galt aber der Bibel- und Traktatgesellschaft.269 In seinem Haus in der Spandauer Straße wurden die Traktate gelagert und von hier aus mit dem königlichen Privileg der Portofreiheit verschickt. Von 1814–1855 war er Sekretär der Bibelgesellschaft und damit unter anderem zuständig für die jährlich vorzutragenden Geschäftsberichte. Hengstenberg bekam als regelmäßiger Gast des Hauses von Anfang an Einblicke in Elsners Tätigkeit. Bald schon wurde er selbst einbezogen und von Elsner aufgefordert, das Programm für die Stiftungsfeier der Hauptbibelgesellschaft im Oktober 1825 zu verfassen. Auch die Reaktion auf die Ministerialverfügung über Mystizismus, Pietismus und Separatismus soll auf Anregungen Elsners zurückgegangen sein.270 Doch dabei blieb es nicht. Hengstenberg übernahm schließlich selbst Funktionen in den Gesellschaften. schrift in: H. Funk an Bachmann, 13. Aug. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann). 267   Wenn sich Hengstenberg später kritisch gegenüber Strauß äußert, dann nur über dessen Bemühen, sich von Streitigkeiten möglichst fernzuhalten, nicht über dessen Verkündigung. Und selbst Theremin, von dem sich Hengstenberg später zunehmend distanziert, äußert noch im Okt. 1845 gegenüber Varnhagen von Ense, „er könne im Dogma wohl der ‚Evangelischen Kirchenzeitung‘ beistimmen, aber in ihrem Verfahren nimmermehr“ (Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten 3, 224). 268   Zu Samuel Elsner s. v. a. die Biographie aus der Feder seines Enkels M. Funk und die handschriftlichen Aufzeichnungen der Tochter Henriette Funk im Nl Bachmann: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann; darüber hinaus Althausen, Gesellschaften, 35– 43; ihm folgend jetzt Schrenk, Judenmission, 88–91. 269   S. auch Althausen, Gesellschaften, 43: „Zu Elsner geht man, wenn man in praktischen Fragen Rat braucht. Er weiß zu helfen und zu organisieren. Er vermittelt Verbindungen zu seinen vielen Briefpartnern und ist das Zentrum vor allem für die Mission mit dem gedruckten Wort.“ 270   Siehe zu beiden Schriften oben 1.3.2. – Elsner setzte Hengstenbergs Programm von 1825 auch gegen Widerspruch in der Gesellschaft durch (vgl. Bachmann 1, 245 f.).

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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Als Tholuck nach Halle zog, mußte er im März 1826 sein Amt als Sekretär der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden aufgeben. Hengstenberg wurde sein Nachfolger, war zunächst Sekretär der Gesellschaft und von 1828–1830 Direktionsmitglied.271 1827 verfaßte er den Jahresbericht der Gesellschaft.272 Länger dauerte sein aktives Engagement in der Gesellschaft zur Beförderung der Missionen unter den Heiden, der späteren Berliner Missionsgesellschaft.273 Vom Sommer 1827 bis zu seinem Tod gehörte er dem Komitee an, das die Geschäfte führte.274 Sein besonderes Interesse galt dem Missionsseminar. Zu Lebzeiten Jänickes hatte die Gesellschaft aus Rücksicht auf ihn keine eigenen Missionare ausgebildet. Nach Jänickes Tod aber wurde nun ein eigenes Seminar gegründet, und Hengstenberg beteiligte sich aktiv an der Suche nach einem geeigneten Kandidaten für den Posten des Direktors.275 Ab 1831 war er auch im Unterrichtsrat, einer Art Aufsichtsrat für das Seminar, und wahrscheinlich auch an den Prüfungen beteiligt,276 wofür er aus seiner Zeit in Basel ja bereits eine gewisse Erfahrung mitbrachte. Er sorgte zudem dafür, daß die Missionsschüler ab 1837 Zugang zu ausgewählten – sowohl theologischen als auch medizinischen – Vorlesungen an der Universität bekamen.277 Vor 1831 unterstützte er Otto von Gerlach, der am Seminar lehrte und am intensivsten an der konzeptionellen Gestaltung arbeitete, nach Kräften. Gerlachs Plan, das Seminar als eine Art Kommunität zu ge­stalten, deren Mitglieder, die Missionsschüler, durch Anbindung an eine Pfarrstelle zu verschiedensten seelsorgerlichen Aufgaben herangezogen werden könnten, wurde insbesondere von Hengstenberg aufs nachdrücklichste unterstützt. Aus der Idee wurde jedoch nichts, weil Gerlach die dafür ins Auge gefaßte Pfarrstelle an der Friedrichwerderschen Kirche nicht erhielt.278

271   Hengstenberg wird bereits im Jahresbericht von 1826 als Sekretär genannt, woraus man eigentlich schließen müßte, daß er diese Funktion bereits im Vorjahr ausgeübt hatte (vgl. Schrenk, Judenmission, 382 mit 380, Anm.  1). Althausen, Gesellschaften, 116 geht daher vom Jahr 1825 aus. Nach Witte, Tholuck 1, 217 war aber Tholuck bis zu seinem Umzug nach Halle Sekretär, und es gibt auch keinen Grund, warum dieser das Amt bereits vorher hätte aufgegeben haben sollen. Wahrscheinlich wurde der Jahresbericht – wie für 1827 belegt (vgl. Bachmann 2,42) – erst im Frühjahr veröffentlicht, als bereits absehbar war, daß Hengstenberg die Nachfolge antreten würde. 272   Vgl. Bachmann 2, 42. 273   Zur Berliner Missionsgesellschaft s. Richter, Geschichte, zu ihren Anfängen aber Althausen, Gesellschaften, 155–229. 274   Bachmann 2, 43; Richter, Geschichte, 23. 275   Vgl. Hengstenberg an Therese, Berlin 2. und 28. Nov. 1827: Bachmann 2, 44. Zur Gründung des Missionsseminares und den Auseinandersetzungen mit Jänickes Schwiegersohn Rückert Althausen, Gesellschaften, 194–202. 276   Althausen, Gesellschaften, 208.212. 277   Bachmann 2, 44 und Richter, Geschichte, 36. 278   Vgl. zu Otto von Gerlachs innovativen Ideen und seiner Rolle im Missionsseminar Althausen, Gesellschaften, 204–213.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Hengstenberg war in erster Linie Berater der Missionsgesellschaft „in den kirchlichen und theologischen Fragen“279, anfangs kam er wohl auch noch häufig zu den Sitzungen des Komitees, später – als seine anderen Geschäfte zunahmen – konnte er sich dazu nicht mehr verpflichten. Er blieb aber zeitlebens einflußreiches Mitglied des Komitees.280 Hengstenberg gehörte auch dem Komitee der Traktatgesellschaft an. Wiederholt verteidigte er sie in der Evangelischen Kirchenzeitungen gegen Vorwürfe und überzogene Auflagen von seiten der Behörden.281 Auf Reisen stattete er sich bisweilen mit einem Vorrat aus dem Elsnerschen Fundus aus, um die Schriften unterwegs zu verteilen.282 In den 30er Jahren wurden auf sein Betreiben auch Schriften Goßners von Elsner gedruckt. Außerdem brachte er die Idee auf, Lebensbeschreibungen frommer Fürsten aus J.J. Mosers Sammlungen auszuziehen und zu drucken.283 Im Lauf der Zeit kam Hengstenberg schließlich zu der Überzeugung, daß neben den kurzen Traktaten, die speziell zu diesem Zweck verfaßt oder zusammengestellt worden waren, auch erbauliche Schriften älterer Autoren in vollem Umfang preiswert auf den Markt gebracht werden sollten. Bereits 1830 kündigte er daher eine Neuausgabe von Johann Arndts ‚Wahrem Christenthum‘ an.284 Später entstand aus diesen Aktivitäten der Evangelische Bücherverein, über dessen Projekte regelmäßig in der Kirchenzeitung berichtet wurde.

EXKURS: Der evangelische Bücherverein Der evangelische Bücherverein nahm 1846 seine Tätigkeit auf.285 Vorangegangen war ein Aufruf Hengstenbergs im Vorwort der EKZ, in dem er die Abhängigkeit der Gemeinden von der Persönlichkeit der jeweiligen Geistlichen beklagte und als Gegenmit279

  Richter, Geschichte, 23.   Richter, Geschichte, 23.24, Anm.  u nd 176; Bachmann 2, 44 f. 281   EKZ 1 (1827), Sp.  392.397–400, Nr.  49 f. (vgl. Bachmann 2, 338) – aus dem Titel des Aufsatzes ergibt sich Hengstenbergs Mitgliedschaft im Komitee: Über die Tractaten-Gesellschaft zu Berlin. Von einem Mitglied des Comitté dieser Gesellschaft. 282   Hengstenberg an Therese, Berlin 11. März 1829: Bachmann 2, 146: „Das ist doch noch ein kleines Reisevergnügen.“ 283   S. die Auszüge aus Elsners Tagebuch vom 5. Mai 1836, 27. Jan. und 8. Mai 1838 als Beilage eines Briefes von Henriette Funk an Bachmann, Lübeck 13. Aug. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (vgl. Bachmann 2, 339 mit Anm.  42); vgl. zu Moser und seinen Schriften Uhrig, BBKL 6; das Projekt kam allerdings nicht zustande. 284   EKZ 6 (1830), Sp.  288 (vgl. Bachmann 2, 338 f.). 285   Eine Geschichte des Evangelischen Büchervereins in Berlin wurde noch nicht geschrieben und soll an dieser Stelle auch nicht geboten werden. Die wesentlichen Informationen finden sich in den Akten des Kultusministeriums: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B (unpaginiert); vgl. auch Lisco, Kirchen-Geschichte, 342. – Im Folgenden wird der Bücherverein nur insoweit geschildert, als er in Zusammenhang mit Hengstenberg stand. 280

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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tel die Verbreitung von guten, erbaulichen Schriften vorschlug.286 Sie sollten dazu dienen, daß, „wo durch die kräftige Predigt des Wortes Leben bereits erweckt worden ist, dies erhalten werde, auch wenn diese Predigt wieder verstummt“. Darum sollten die Geistlichen für Anschaffung und Verbreitung guter Schriften sorgen, „die einst vielleicht ihre Nachfolger werden und ihrer Arbeit in dem Herrn ihren Bestand sichern sollen.“287 Mitinitiator des Unternehmens war Wichern, der die Druckerei des Rauhen Hauses „zum Mittelpunkt einer großen, das christliche Volk in Norddeutschland mit regenerierenden Thätigkeit“288 machen wollte. Im November 1844 hatte er die hierfür nötigen praktischen Fragen mit Hengstenberg in Berlin besprochen: Zur Finanzierung wollte man zinsfreie Darlehen gewinnen, die in Form von Druckwerken zurückgezahlt werden sollten. Hengstenberg sollte die Werbung in der EKZ übernehmen.289 Die Herstellungskosten suchte man so gering wie möglich zu halten.290 Gedacht war dabei an „eigentliche Erbauungsbücher“291, an die „Classiker der Evangelischen Kirche“292 . Dazu gehörten nach Hengstenbergs Ansicht Luthers ‚Postillen‘, Scrivers ‚Seelenschatz‘, Heinrich Müllers ‚Schlußkette‘293 und sein ‚Herzenspiegel‘, des weiteren Valerius Herbergers ‚Herz-Postillen‘ und seine ‚Magnalia Dei‘.294 Daneben könnten auch Werke zur Kirchengeschichte, insbesondere zur Reformationsgeschichte – wie beispielsweise Meurers Leben Luthers – Berücksichtigung finden.295 Als Hengstenberg mit seinem Plan an die Öffentlichkeit trat und um Unterstützung warb, muß er bereits eine Zahl von Helfern gefunden haben, denn schon 1846 konnte von der Gründung des Vereins und dem Erscheinen der ersten Bücher berichtet werden.296 Zur Finanzierung war man auf zinslose Darlehen oder Subskriptionen angewie286

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  59–61.   Ebd., Sp.  60. 288   So in einem Brief Wicherns vom 4. Nov. 1844: Wichern, Gesammelte Schriften 1, 353 f. 289   Vgl. ebd., 354. – Vielleicht war es auch erst Wicherns Initiative, der auf seinen Reisen gezielt für das Druckereiprojekt warb, die Hengstenberg den Anstoß gab, der Förderung von Erbauungsliteratur nun eine konkrete Gestalt zu geben. 290   In Aussicht genommen war ca. 3 Pf. pro Druckbogen, EKZ 36 (1845), Sp.  60. 291   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  60; vgl. Ders., Kraft der Wahrheit, XIX f.: „Solcher Erbauungsschriften, wie der von Luther, Arndt, Müller, Scriver, mag sich nicht leicht eine der Schwesterkirchen rühmen.“ 292   So eine spätere Formulierung im Vorwort der EKZ 52 (1853), Sp.  27. In diesem Zusammenhang regte Hengstenberg an, bei den Visitationen ein größeres Augenmerk auf die kirchlichen Bücher zu legen und die vom Bücherverein verlegten Werke zu empfehlen (ebd., Sp.  24) 293   Gemeint sind die Predigtbände Müllers: Apostolische Schlußkette (1663) und Evangelische Schlußkette (1672), vgl. Schmidt, RGG3 4, 1169. 294   Vgl. zu den beiden Schriften Herbergers Cohrs, RE3 7, 696. 295   Hengstenberg, Vorwort EKZ 36 (1845), Sp.  60 – Pfarrer Moritz Meurer war ein Mitarbeiter der EKZ (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung, Verfasserverzeichnis, 14). 296   Hengstenberg, Bücherverein, EKZ 39 (1846), Sp.  451–453, Nr.  52. – Die Genehmigung des Vereins, die bereits am 12. Juni 1845 beantragt worden war, erfolgte am 16. Jan. durch den König und am 30. Jan. 1846 durch das Kultus- und Innenministerium. In den Statuten hieß es, der Verein habe den Zweck, „für einen möglichst geringen Preis die Herausgabe bewährter kirchlicher Schriften, älterer sowohl als neuerer Zeit, zu veranstalten und deren Verbreitung in der Gemeinde zu fördern, desgleichen zu neuen Arbeiten auf dem Gebiet der kirchlichen Literatur Anregung zu geben“. Zum Vorstand des Vereins gehörten neben Hengstenberg unter anderem Leopold von Gerlach (als Vorsitzender), F.K. von Bülow, 287

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

sen.297 Wichtig war, daß der König ein zinsfreies Betriebskapital von 6000 Reichstalern vorschoß.298 Außerdem gewährte man dem Verein Portofreiheit für die Bestellung, nicht allerdings für die Versendung von Büchern. Noch entscheidender mußte allerdings sein, daß die Bücher einen guten Absatz fanden. Darum wurde die Lesergemeinde der EKZ und anderer christlicher Zeitschriften lebhaft zum Kauf – auch auf Vorrat – ermuntert.299 Daneben sollten Hilfsgesellschaften Beiträge einsammeln, um die Bücher auch kostenlos verteilen zu können. Von einer Zusammenarbeit mit der Druckerei des Rauhen Hauses war nun allerdings keine Rede mehr.300 Bei der Auswahl der Druckwerke wurde Hengstenbergs Vorschlägen offensichtlich großes Gewicht beigemessen. Zunächst erschien Luthers Großer Katechismus, sodann unter dem Titel ‚Speners christliche Unterweisung‘ die ‚Einfältige Erklärung der christlichen Lehre nach der Ordnung des kleinen Catechismi Lutheri‘ Speners, die laut der sehr wahrscheinlich von Hengstenberg selbst stammenden Ankündigung in der Kir­ chenzeitung „beste und populäre und dabei tiefeingehende Darlegung des evangelischen Glaubens nach allen seinen Seiten und seiner Begründung in der heiligen Schrift, ein treffliches Heilmittel für die in unserer Zeit auch unter den Gutwilligen so weit verbreitete Unkenntniß und Unklarheit“301. Es folgten Luthers ‚Hauspostille‘ und Heinrich Müllers ‚Erquickstunden‘. Auch wurde 1846 eine neue, besonders schön ausgestattete Ausgabe von Arndts ‚Wahrem Christentum‘ in Angriff genommen und 1847 vollendet; der bereits 1830 von Hengstenberg neu aufgelegte Klassiker gehörte nach wie vor zu seinen am meisten gelobten Erbauungsbüchern.302 Nach umfangreichen Vorarbeiten und monatelangen Recherchen in vielen Bibliotheken Deutschlands bis hin nach St. Gallen erschien 1851 schließlich der ‚Unverfälschte[...] Liedersegen. Gesangbuch für Kirchen, Schulen und Häuser‘.303 In enger Absprache mit dem Vereinsvorstand war das Stahl, Bindewald und Schede (s. das Schreiben vom 12. Juni 1845 an die zuständigen Ministerien sowie die Statuten: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B [unpaginiert]). 297   Hengstenberg selbst gewährte dem Verein in den 50er Jahren insgesamt 2400 Reichstaler an Darlehen, die er ihm nach seinem Tod durch testamentarische Verfügung schließlich ganz überließ (Vorstand des Ev. Büchervereins an Minister v. Mühler, Berlin 8. Nov. 1869: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B [unpaginiert]). 298   S. von Thile an Hengstenberg, Berlin 29. März 1845: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B (unpaginiert); vgl. Lisco, Kirchen-Geschichte, 343. – Generalleutnant von Thile, Vorstand der Bibelgesellschaft, gehörte zu den eifrigsten Förderern des Büchervereins im Umfeld des Königs; nach Niederlegung seines Amtes übernahm er es, eine Niederlassung des Vereins zu leiten (s. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 [1853], Sp.  32). 299   Auch der Evangelische Oberkirchenrat empfahl gelegentlich die Neuerscheinungen, wie z. B. in dem Zirkular, Berlin 9. Juli 1856: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B [unpaginiert] die Bilderbibel. 300   Die Bücher wurden in der Regel in Berlin gedruckt. Warum die Kooperation mit Wichern nicht zustande kam, ist unklar. 301   Hengstenberg, Bücherverein, EKZ 39 (1846), Sp.  452. 302   Über alle genannten Erscheinungen wird in EKZ 39 (1846), Sp.  451–453 berichtet – der Artikel schließt sachlich an Hengstenbergs Vorwort von 1845 an und stammt aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls von ihm. Eine genaue Übersicht über die verlegten und verteilten Druckwerke bieten die Jahresberichte, die sich in den Akten – allerdings nicht komplett – erhalten haben (s.o. Anm.  285). 303   Vgl. Bachmann, Gesangbücher, 231; 1853 folgte eine zweite, danach viele weitere Auflagen.

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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Liederbuch, das allen Bereichen christlichen Lebens dienen sollte, unter der Redaktion von G.Chr.H. Stip zusammengestellt worden.304 Des weiteren wurde 1849 ein Gebetsbuch mit stattlichen 586 Seiten gedruckt, „enthaltend sämmtliche Gebete und Seufzer Dr. Martin Luther’s, wie auch Gebete von Melanchthon, Bugenhagen, Matthesius, Habermann, Arnd und anderen gotterleuchteten Männern“305. Als weitere Großprojekte folgten 1852 schließlich ein Evangelienbuch mit Bildern 306 und 1855 eine umfangreiche Bibelausgabe mit 327 Bildern. Die Verantwortung für die Bildauswahl hatte Victor Aimé Huber übernommen, der zu diesem Zweck in mehreren Aufsätzen grundsätzliche Erwägungen über „erbauliches Bilderwesen“ angestellt hatte.307 Bis 1851 hatte der Verein bereits 93.200 Bücher gedruckt und 54.804 davon verteilt. Zehn Jahre später legte der Jahresbericht (1862) von 246.550 verlegten und 219.863 verbreiteten Büchern Rechenschaft ab. Spitzenreiter waren über all die Jahre Müllers ‚Erquickstunden‘, die bis Ende 1861 in sieben Auflagen 29.000 mal gedruckt wurden, und Arndts ‚Wahres Christentum‘, das im gleichen Zeitraum und mit der gleichen Auflagenanzahl 33.500 mal erschien. 1862 hatte der Verein 16 Titel im Programm. Das Konzept sah vor, nur eine begrenzte Anzahl von Büchern, diese aber in hoher Zahl zu verbreiten.308 Dazu gründete der Verein Agenturen, von denen es 1862 in Preußen 169 und im Ausland 81 gab, unter anderem eine in New York und eine in Rußland.309 Seine Niederlassung hatte der Verein zunächst in der Klosterstraße 71, dann in der Gertraudenstraße 22. 1862 verlegte er seinen Standort in das Vereinshaus des „Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke“ in die Oranienstr. 106.310 Der Bücherverein entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer dauerhaften Einrichtung, und seine Druckwerke wurden vielerorts verteilt. Erst Anfang der 60er Jahre stagnierte der Absatz. Den304

  Über die Entstehung des Liedersegens geben folgende Artikel Aufschluß: EKZ 39 (1846), Sp.  505–51; EKZ 40 (1847), Sp.  328–333, Nr.  33; EKZ 41 (1847) Sp.  865–872, Nr.  89; EKZ 49 (1851), 489–493.497–502, Nr.  53 f. 305   So die Ankündigung EKZ 45 (1849), Sp.  848. 306   ‚Evangelienbuch, d.i. die Episteln und Evangelia mit den Summarien und Collecten auf alle Sonn- und Festtage, mit angehängter Passionsgeschichte, Geschichte der Zerstörung Jerusalems und Luthers kl. Katechismus, 84 Bilder‘ (s. EKZ 59 [1856], 632; ein Prospektdruck findet sich auch in den Akten [s. Anm.  285]) – den Evangelien war jeweils eine kurze lehrartige Zusammenfassung angefügt, d. h. man konnte mit dem Buch beispielsweise Hausgottesdienste veranstalten. Der Jahresbericht vom Juni 1851 gibt an, man habe als Mitarbeiter bei der Auswahl und Redaktion der Holzschnitte J. Schnorr von Carolsfeld gewinnen können; vgl. auch Baumann, Huber, 328 f. 307   Huber, Die Bilder zum Evangelienbuch des Evangelischen Büchervereins, EKZ 51 (1852), Sp.  657–662.665–667, Nr.  70 f.; Ders., Die Bilderbibel des Evangelischen Büchervereins [...], EKZ 57 (1855) Sp.  1065–1071, Nr.  104; Ders., Ueber volksthümliches erbauliches Bilderwesen, EKZ 58 (1856), Sp.  341–351.353–364, Nr.  34–36; Ders., Noch einmal über volksthümlich christliche Kunst, EKZ 60 (1857), Sp.  249.257–264.270–283.289–296, Nr.  23–27; vgl. Baumann, Huber, 328–330. – Die Ankündigung des Werkes: EKZ 59 (1856), Sp.  632. 308   Die Erstauflage betrug in der Regel 5000 Stück. 309   S. zu den vorstehenden Angaben die entsprechenden Jahresberichte in den Akten (s. Anm.  302); vgl. zur Entwicklung in den ersten Jahren auch EKZ 45 (1849), Sp.  848. – Die meisten Agenturen, nämlich 323, hatte der Verein im Jahr 1856 (s. den Jahesbericht von 1862). 310   S. Hülle, Verein, 34.75. – Später zog der Buchladen in das ebenfalls vom Evangelischen Verein erworbene Nachbarhaus; eine Photographie des schließlich ‚Evangelische Vereins-Buchhandlung‘ genannten Lokals aus der Zeit nach 1888 in: Elm/Loock, Berlin, 624.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

noch hielt er sich noch viele Jahre, bevor er 1890 mangels Rentabilität vom „Hauptverein für christliche Erbauungsschriften in den preußischen Staaten“ übernommen wurde und damit zu seinen Ursprüngen zurückkehrte.311

Mit seinem Einsatz für den Druck und die Verbreitung von erbaulicher Literatur sowie der Initiierung des Evangelischen Büchervereins folgte Hengstenberg den Spuren Elsners und seines Traktatvereins.312 Die Auswahl der Schriften orientierte sich vor allem an den Zielen, der Erbauung zu dienen und die Mündigkeit der erweckten Christen zu fördern. Auch in den 40er und 50er Jahren stand Hengstenberg demnach ganz im Einklang mit den Zielen der Berliner Erweckungsbewegung. Dies bestätigt nicht zuletzt ein Blick auf die gedruckten bzw. von Hengstenberg vorgeschlagenen Autoren: Der von der Tübinger Orthodoxie im 17. Jahrhundert bekämpfte Johann Arndt, dem die pietistische Frömmigkeit entscheidende Impulse verdankt,313 nimmt stets den ersten Rang ein. Seine ‚Vier Bücher vom Wahren Christentum‘ werden bereits 1830 in der EKZ als ein Buch gelobt, „von dem man kühn behaupten darf, daß es nach der heiligen Schrift in unserem Deutschen Vaterlande den meisten Segen verbreitet habe, dem unzählige Gebildete und Ungebildete, Hohe und Niedrige die erste Anregung verdanken, noch weit mehrere Förderung in der Heiligung, Trost und Stärkung in mancherlei Anfechtung, ein Buch voll Geist und Leben, voll Hoheit und voll Einfalt, voll Ernst und voll Liebe, ein reiner Bach, abgeleitet aus dem lauteren Quelle [sic!] des Wortes Gottes.“314

Neben Arndt treten außer den Reformatoren und Spener vor allem solche Autoren, die – wie Christian Scriver und Heinrich Müller – als Vorläufer des Pietismus gelten können. Die von Arndt herkommende, im Pietismus besonders betonte und in der Erweckungsbewegung neu belebte praxis pietatis war demnach auch Hengstenbergs Herzensanliegen. Alles in allem gibt es also keinerlei Anzeichen dafür, daß Hengstenberg sich im erweckten Milieu als Fremder empfunden hätte. Es ist auch nur natürlich, daß er in den Kreisen, in denen er nach seiner Ankunft in Berlin zunächst heimisch wurde, seine Braut fand. Ihre Mutter, Frau von Quast (geb. 1786), gehörte zu 311

  Ursprünglich sollten die Bestände des Vereins an die Buchhandlung der Berliner Stadtmission übergehen. Das war naheliegend, denn A. Stoecker war inzwischen im Vorstand des Büchervereins. Konsistorium und Ministerium hielten es aber für angemessener, daß der Verein an die Traktatgesellschaft übergeben werde, und so geschah es dann auch, vgl. Immediat-Vorstellung des Vorstandes des Ev. Büchervereins an den König, Berlin 12. Febr. 1889 und König Wilhelm an den Kultusminister, Neues Palais 27. Nov. 1889: GStA PK, I. HA Rep.  76 III, Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B (unpaginiert). 312   Die bereits vor Entstehung des Vereins erschienenen Publikationen hatte man als Privatinitativen in Angriff genommen, nachdem man sich klar geworden war, daß die Traktatvereine dazu nicht in der Lage sein würden (vgl. EKZ 6 [1830], 48, Nr.  6 ). 313   Vgl. Wallmann, Pietismus, 14–21. 314   Hengstenberg (?), (Berlin.), EKZ 6 (1830), Sp.  48.

1.4  Hengstenberg als Erweckter

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denjenigen Frauen, die ihr Haus zu einem Kristallisationspunkt erwecklicher Frömmigkeit gemacht hatten.315 Von Radensleben bei Neuruppin, wo die von Quasts ein Gut besaßen, nach Berlin war es nicht weit, und so fand ein reger Austausch mit den Berliner Erweckten statt. Im Hause Elsners lernte Hengstenberg die Familie im Winter 1825/26 kennen, schon zum nächsten Pfingstfest wurde er nach Radensleben eingeladen. Daß sich die von Quasts für Hengstenberg interessierten, könnte unter anderem damit zusammenhängen, daß sich der Sohn des Hauses, Ferdinand von Quast – der spätere erste preußische Konservator 316 – zu diesem Zeitpunkt für das Theologiestudium entschieden hatte. Was lag näher, als zu einem Theologieprofessor, dem man sich geistlich verwandt fühlte, engeren Kontakt zu suchen? Therese von Quast lebte 1826 in Berlin bei Frau von Redern, um sich auf die Konfirmation vorzubereiten. Hengstenbergs Rat war wohl ausschlaggebend dafür, daß sie den Unterricht bei Strauß besuchte.317 Die Verlobung der beiden ließ nicht lange auf sich warten. Durch die drohende Versetzung Hengstenbergs nach Königsberg zur Eile gezwungen, stimmten die Eltern von Quast der Verbindung zu und machten anschließend ihren Einfluß beim Minister geltend, um die Versetzung zu verhindern.318 Am 29. Juni 1826 verlobte sich Hengstenberg mit der erst vierzehnjährigen Therese von Quast. Der Vorsatz, die Verlobung noch geheim zu halten, wurde aufgegeben, als Frau von Quast keinen anderen Weg sah, als sie dem Minister zu eröffnen, um ihn von der Versetzung Hengstenbergs abzubringen. Hengstenberg profitierte also in der Tat von seiner noch jungen Verbindung zum preußischen Adel. Daß es so kommen würde, 315   Neben ihr sind v. a. Frau von Redern und Frau von Oertzen zu erwähnen (vgl. zu letzterer und ihren drei Töchtern, von denen eine E.L. v. Gerlachs Frau wurde, Gerlach, Aufzeichnungen 1, 116 f.; Wendland, Erweckungsbewegung, 53). Die Stellung der Frauen innerhalb der Erweckungsbewegung, deren Häuser wie Salons im erwecklichen Kleid erscheinen, ist bisher nicht zureichend erforscht. – Zu Frau von Quast vgl. Bachmann 1, 278–282; Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1008.1016. Als Bachmann seine Biographie schrieb, lebte Frau von Quast noch. Sie stellte ihm Briefe und ihr Tagebuch zur Verfügung (s.o. unter, ‚Zum Stand der Forschung‘ im Einleitungsteil). Seit Ende der 40er Jahre war sie ständiger Gast und hatte ein eigenes Zimmer im Hause Hengstenberg. Die Briefe der Hochbetagten an Bachmann aus den Jahren 1873–75 finden sich in Bachmanns Nachlaß UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann. Interessant ist auch ihr Briefwechsel mit Leo, wovon allerdings nur Leos Briefe erhalten sind (vgl. Bonwetsch, Quast). 316   Ferdinand von Quast (1707–1777) blieb nicht lange bei der Theologie, ihn zog es zur Kunst; 1843 wurde er der erste preußische Konservator, eine gewisse Berühmtheit erlangte er dadurch, daß er den Entwurf für die Thesentüren aus Bronze für die Wittenberger Schloßkirche lieferte (vgl. Bergau, ADB 27, 30). 317   Bachmann 1, 281. 318   Vgl. hierzu und dem Folgenden unten Teil 4.1. Ob Frau von Quast die treibende Kraft bei der Verlobung war oder ob sie durch die Umstände zu einem schnellen Entschluß getrieben wurde, geht aus der Formulierung, mit der Hengstenberg ihren Anteil beschreibt, nicht eindeutig hervor, vgl. Hengstenberg an seinen Vater, 2. Juli 1826: Bachmann 1, 286: „Die Mutter konnte ihr Herz nicht länger verschließen und nach der Einwilligung von Vater und Mutter erhielt ich von Thereschen unter vielen Thränen das Jawort.“

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

war aber bei seinem Eintritt in das Berliner erweckte Milieu keineswegs abzusehen. Betrachtet man Hengstenbergs Lebensumfeld und sein Engagement für erweckliche Vereine und Literatur sowie seine kirchliche Einbindung, besteht also kein Anlaß, ihn von den anderen erweckten Berlinern abzusetzen. Daß er auch theologische Kritik an ihnen übte, widerspricht dem nicht. Hengstenberg fühlte sich der Erweckungsbewegung zugehörig und wurde auch von Außen­ stehenden – nicht zuletzt von Minister von Altenstein – als „Pietist“ wahrgenommen.319 Andere Einschätzungen verdanken sich der Rückprojektion einer späteren Haltung Hengstenbergs und der Bestimmung dieser Haltung als unvereinbar mit der erwecklichen Frömmigkeit. Damit verbindet sich zumeist ein statisches Verständnis der Erweckungsbewegung, welches die Zeit unmittelbar nach den Befreiungskriegen für normativ hält. Mit diesen Anfängen der Erwek­ kungsbewegung hatte Hengstenberg in der Tat nichts zu tun, denn was ihn in erster Linie von anderen Mitgliedern der christlichen Erneuerung unterschied, war sein Alter: Er hatte, wie bereits erwähnt, den Auf bruch nach den Befreiungskriegen nicht miterlebt, außerdem war er nicht durch Schleiermachers Schule gegangen. So war auch der subjektivitätstheologische Ansatz für ihn keine aufregende Neuigkeit mehr, sondern eine bereits seit längerem etablierte theologische Richtung. Ihren Zusammenhang mit der Erweckungsbewegung nahm Hengstenberg wahr, doch er hielt diesen Zusammenhang im Blick auf ihr Wesen nicht für konstitutiv, wie im folgenden Abschnitt deutlich werden wird.

1.5  Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus Die neue religiöse Bewegung, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts innerhalb und am Rande der deutschen Kirchen entwickelte, wurde erst in späterer Zeit auf den Begriff „Erweckungsbewegung“ gebracht.320 Die Zeitgenossen benutzten diese Bezeichnung nicht, sie sprachen stattdessen schlicht von „Pietisten“.321 Insbesondere unter den Gegnern der Erweckten war diese Cha319   Auch E.L. von Gerlach ordnete Hengstenberg, als er ihn kennenlernte, ganz der „Neandersche[n] Schule“ zu (vgl. Schoeps, Neue Quellen, 129). 320   Die Werke der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verwenden die Bezeichnung noch nicht (vgl. z. B. Kahnis, Protestantismus, 125–212; Hase, Kirchengeschichte, 397–411; Baur, Kirchengeschichte, 112 f. Nippold, Handbuch 3 3/1,1, 114–131). Nach Ernst, Auferstehungsmorgen, 2 f. kommt die Bezeichnung erst zu Beginn des 20. Jhs. auf, was er unter anderem durch das Erscheinen von Artikeln mit dem Titel „Erweckungsbewegung“ in den theologischen Lexika belegt. 321   Vgl. nur den Sprachgebrauch in den Akten des Kultusministeriums, wo Phänomene der Erweckungsbewegung durch­gängig unter dem Titel Pietismus verhandelt werden, z. B.

1.5  Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus

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rakterisierung gebräuchlich,322 doch auch die Erweckten selbst benutzten bisweilen die Bezeichnung „Pietismus“ für ihre eigene Frömmigkeitsrichtung.323 Auch Hengstenberg wurde von seinen Gegnern mit Vorliebe zu den „Pietisten“ gerechnet.324 Wenn damit gesagt werden sollte, daß Hengstenberg zur Erweckungsbewegung gehörte, dann ist dies – wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt wurde – zutreffend. Allerdings hat der Sprachgebrauch bis in die jüng­ste Zeit dadurch für Verwirrung gesorgt, daß sich Hengstenberg wiederholt und vor allem ab 1840 sehr kritisch über den Pietismus geäußert hat. Man hat daraus gefolgert, Hengstenberg habe sich nach einer gewissen Zeit von der Erwek­ kungsbewegung distanziert. Der erweckte Hengstenberg sei nur eine Episode gewesen.325 Als Zeugnis dafür wird Hengstenbergs Vorwort in der EKZ von 1840 geltend gemacht,326 in dem er sich erstmals ausführlich und kritisch mit dem Pietismus auseinandersetzt. Seine deutlichen Worte haben schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen unter den Erweckten zu Irritationen geführt.327 Doch beruht die Annahme, Hengstenberg habe sich mit seiner Pietismuskritik auch von der Erweckungsbewegung distanziert auf einer Äquivokation.328 Die folgende Untersuchung des genannten Vorworts soll dies erweisen. Es verdient genaue Betrachtung, weil es sowohl Hengstenbergs Haltung zum Pietismus als auch sein Verständnis der Erweckungsbewegung präzise zum Ausdruck bringt. Seine Analyse bildet daher den Abschluß des Themenkomplexes „Hengstenberg und die Erweckungsbewegung“. Hengstenberg äußerte sich 1840 nicht zum ersten Mal kritisch über den Pietismus. Bereits in seiner Schrift über die ‚Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘ von 1826 räumte er ein, daß die pietistische Richtung „dem Christenthum nach gewissen Beziehungen eben so gefährlich

GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IIIa Nr.  5 Bd.  1; vgl. zur vulgären Verwendung der Bezeichnung auch Gerlach, Aufzeichnungen 1, 159; Kahnis, Protestantismus, 208 f., zum Pietismusbegriff insgesamt Wallmann, Pietismus, 7–11. 322   Vgl. nur die polemischen Schriften von Weidemann und Märklin. 323   Z.B. Büchsel, Zustände, 24. 324   So Weidemann, Pietisten, 34–46; Ders., Revolutionaire, 12, aber auch Schleiermacher und Twesten (vgl. die Briefe bei Heinrici, Twesten, 414 und 419 f.). 325   Vgl. die Belege oben unter Anm.  228. 326   EKZ 26 (1840), 1–62, Nr.  1–8. 327   Elsner notiert in seinem Tagebuch: „Hengstenberg hat mit seinem Vorwort zur Kirchen-Zeitung viel Anstoß gegeben, weil er so sehr gegen Pietismuß losgeht – wobei Franke und Spener ganz schlecht wegkommen und Zinzendorf erhoben wird. Das thut mir weh. Denn wenn Spener und Franke nicht gewesen wären, so möchte es doch noch viel trauriger stehen. Es scheint mir doch sehr anmaßend so zu verfahren.“ (Auszüge als [unpag.] Anlage zu dem Brief H. Funks an Bachmann, 13. Aug. 1875 im Nl Bachmann: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann). Zustimmend äußert sich Vilmar (Vilmar an Hengstenberg, Marburg, 17. Mai 1840: Bonwetsch 2, 101). 328   Anfällig für Äquivokationen sind daher auch alle Äußerungen in der Literatur, in denen Hengstenberg pauschal als Pietist oder Nicht-Pietist bezeichnet wird.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

werden kann und geworden ist, als der Unglaube“329. Der Grund dafür sei, „daß an die Stelle einer lebendigen Herzensfrömmigkeit eine gemachte Frömmigkeit trat, ein Scheinwesen und Scheindienst, der ohne Kraft und ohne Wahrheit war.“330 Außerdem bestehe im Pietismus die Gefahr, daß man mehr auf die Größe der Sünde als auf die Größe der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit sehe. Das führe dazu, daß der Mensch beginne, „das Gesetz, dessen Heiligkeit er erkennt, durch eigene Kraft zu erfüllen.“331 Ein solcher Abweg sei zu vermeiden, obgleich man anerkennen müsse, daß er sich meist bei solchen finde, „die auf einen guten Grund Heu und Stoppeln gebaut haben“332 . Die Kritik war deutlich, doch nahm sie in der Schrift von 1826 nur wenig Raum ein. Hengstenberg ging es in erster Linie darum darzustellen, warum der lebendige Glaube, der gegenwärtig vielerorts erwache, nicht mit diesen Abwegen identifiziert werden dürfe. Denn bei solchem Glauben handle es sich um das „wahre Christenthum“. Es gehe nicht an, daß man jeden als Pietisten abqualifiziere, der der Überzeugung sei, „daß die menschliche Natur kein in sich abgeschlossenes Ganze [sic!] bildet, daß Gott, in dem, der sich als Sünder erkennt, und sich nach Erlösung sehnt, den Glauben wirkt, der das Verdienst Christi ergreift, daß der Mensch durch diesen Glauben mit der übersinnlichen Welt in Verbindung tritt und Kräfte der zukünftigen Welt und die Gewißheit eines ewigen seligen Lebens erhält, das hier in der Zeit schon begonnen und durch den Tod nicht unterbrochen wird, daß diese Gewißheit ihm fester und unumstößlicher ist, als die Ueberzeugung, daß er seinem niederen Wesen nach der Sinnenwelt angehört, daß dieser Glaube als ein neues Lebensprincip, wenn auch nicht plötzlich, doch nach und nach seine ganze Natur umbildet, daß er durch denselben wahrhaft gute Werke zu thun vermag und ein Kind Gottes wird, während in seinem natürlichen Zustand alle scheinbar guten Werke nur glänzende Laster waren, und er ein Kind des Zornes, angehörend dem Reiche der Finsterniß, wie er jetzt durch die Gnade in das große Gottesreich versetzt und ein Miterbe der Herrlichkeit Jesu Christi geworden ist.“333

Neu an Hengstenbergs Äußerungen von 1840 ist nun zweierlei: Erstens wird die theologische Kritik, die 1826 nur nebenbei geäußert wurde, ausführlich dargelegt und erörtert. Zweitens korrigiert Hengstenberg – und das ist seine einzige Meinungsänderung 334 – die historische Beurteilung des Pietismus. War er zunächst der Meinung gewesen, daß es sich bei den problematischen Zügen des Pietimus um Spätfolgen handle, die „das Werk der theuren Männer Gottes 329   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 363; ähnlich scharf und inhaltlich entsprechend äußert sich Hengstenberg in dem Artikel ‚Ueber Mystizismus‘ (vgl. o. Anm.  222) über den Pietismus, EKZ 1 (1827), Sp.  164 f.; dort wird bereits angekündigt, daß er das Thema möglicherweise später „zum Gegenstande einer besondern Behandlung machen“ werde (Sp.  165). 330   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 363 f. 331   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 365. 332   Ministerialverfügung: Bachmann 1, 363. 333   Ministerialverfügung: Bachmann, 1, 364. 334   Vgl. EKZ 26 (1840), Sp.  9 ; gegen Fagerberg, Bekenntnis, 43 f.

1.5  Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus

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Spener und Francke an vielen Orten“ zerstört hätten 335 , so gesteht er nun – bei bleibender Verehrung der beiden – ein, daß er „im ersten schwachen Keime [...] doch schon bei ihnen“ entdeckt habe, „was nachher bei ihren Nachfolgern weit mehr entwickelt hervortrat.“336 War er zunächst der verbreiteten Meinung gefolgt, daß es sich beim Pietismus um eine „Fortbildung der Reformation in ihrem Geiste“ handle, sah er nun, in Folge der Lektüre von Schriften Zinzendorfs und „der besseren orthodoxen Gegner des Pietismus, namentlich eines Löscher“ (Sp.  9 ) 337 : „der Pietismus hatte eine Seite – und dies war grade dasjenige, was ihn zum Pietismus machte, ihn von anderen Gestaltungen der Religiosität innerhalb der Kirche unterschied – wonach er dem Rationalismus verwandt, dieser nur consequente Fortbildung seines Principes war.“ (Sp.  9 )

Welches war nun jene problematische Seite? Sie bestehe in dem „Streben, den Menschen auf dem Gebiete der Religion überall zu eigenem Thun zu führen“ (Sp.  10). Der Fehler bestehe darin, daß der Akzent „statt auf das, was Gott in Christo für uns gethan“, auf die Pietität gelegt werde, so „daß das thätige Chri­ stenthum als etwas angesehen wird, was man selbständig betreiben und fördern könne und müsse, kurz in einer [...] wenn auch noch so verborgenen Werkgerechtigkeit.“ (Sp.  4) Dies qualifiziere den Pietismus in dogmatischer Hinsicht, und darauf kommt es Hengstenberg an. Dezidiert wendet er sich gegen alle, die den Pietismus nur durch seine „Vorliebe für Privatversammlungen zur Erbauung“ (Sp.  3) gekennzeichnet sehen. Entscheidend sei vielmehr ein inhaltliches Merkmal: „Der Pietismus ist hauptsächlich eine im mißverstandenen Interesse der Frömmigkeit unternommene Reaktion gegen das sola fide“ (Sp.  4).338 Die Folge sei, daß die Rechtfertigungslehre zurück- und an ihre Stelle der Bußkampf trete, welcher die Erfahrung der Gnade verdunkle: „Der eine erzwungene große Bußkampf verwandelt das ganze Leben in eine Reihe von kleinen Bußkämpfen, die nur zuweilen durch einzelne Gnadenblicke unterbrochen werden. Wer einmal systematisch dazu angelernt worden ist, in sich zu wühlen, der verlernt es so leicht nicht wieder [...]. Man wühlte beständig in sich herum, fühlte sich immerwährend den Puls, und brachte es nie zur wahren Freudigkeit, immer nur zu einzelnen freudigen Momenten“ (Sp.  12).

335

  Ministerialverfügung: Bachmann 1, 363.   Vorwort, EKZ 26 (1840), Sp.  9, vgl. Sp.  27 – alle folgenden Spaltenangaben im Text beziehen sich auf das Vorwort von 1840. 337   Hengstenberg rechnet E.V. Löschers ‚Vollständiger Timotheus Verinus, oder Darlegung der Wahrheit in den bisherigen pietistischen Streitigkeiten‘ (2 Teile, Wittenberg 1718) und J.A. Bengels ‚Abriß der Brüdergemeine‘ „zu den bedeutendsten theologischen Erzeugnissen des achtzehnten Jahrhunderts“ (EKZ 26 [1840], Sp.  1, Nr.  1). 338   Hierin liege auch der Grund warum, „[i]n der Katholischen Kirche [...] der Pietismus als eine einzelne verkehrte Richtung und Parteiung nicht auf kommen [kann], weil die Kirche als solche ein bedeutendes pieti­stisches Element in sich trägt“ (ebd.). 336

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Daß diese Beschreibung in erster Linie am in Preußen wirksamen Pietismus Spenerscher und Franckescher Prägung orientiert ist, erkennt man daran, daß Hengstenberg explizit die Brüdergemeine ausnimmt.339 Letztere habe die Rechtfertigung als Zentrum bewahrt, „Zinzendorf stand hier von Anfang an mehr auf reformatorischem Grund und Boden“ (Sp.  13), auch wenn die alleinige Betonung der Christusbeziehung wiederum zu Einseitigkeiten führte. Doch bestehe der Unterschied darin, daß das, was die Brüdergemeine „als Kardinalpünktlein einzig hervorhob, wirklich das Kardinalpünktlein, das Herz des Christenthums ist, während der Pietismus ein zwar nothwendiges, aber unter­ geordnetes Moment zur Hauptsache erhob“ (Sp.  17 f.). Darum gelang es der Brüdergemeine, in der „harten und langen Winterszeit des Unglaubens [...] die großen Räume der Kirchen zu erwärmen“ (Sp.  19). Sie bildete eine Brücke zur Erweckungsbewegung,340 während für den Pietismus gilt: „Der Pietismus hat sich verlaufen wie ein Bach im Sande“, dem Rationalismus gegenüber habe er sich „völlig ohnmächtig“ gezeigt und „kaum je ist die Festung der Kirche ihren Feinden so feige überliefert worden, wie damals“ (Sp.  18) 341 – lediglich in Württemberg hätten sich größere Gemeinschaften erhalten (vgl. Sp.  30). Hengstenberg untermauert seine Grundthese, indem er weitere Merkmale des Pietimus darstellt, die sich als Folge des einen Grundfehlers erweisen. Zuerst nennt er die Geringschätzung der Lehre, die zwar als Reaktion auf „die damalige Orthodoxie mit ihrer dürren Scholastik und ihrer fleischlichen Polemik eine gewisse Wahrheit“ auf ihrere Seite hatte, doch übersehen ließ, daß „die reine Lehre der erste und wichtigste Schatz der Kirche“ (Sp.  20) sei. Der Pietismus verkannte, „daß das engherzige Nützlichkeitsprincip, in die Glaubenslehre eingeführt, zuerst diese als Wissenschaft, dann aber auch den Glauben selbst zerstören müsse, indem dieser Maßstab ein rein subjectiver und also auch von jeder Engherzigkeit der Subjecte, von jedem unvollkommenen Zustande derselben abhängiger ist.“ (Sp.  20). Mit der Glaubenslehre verlor aber auch die 339   Für Hengstenbergs Sprachgebrauch ist kennzeichnend, daß er unter Pietismus im strengen Sinne nur die von Spener und Francke ausgehende Richtung versteht; damit nimmt er den ursprünglichen und bis ins 19. Jh. hinein üblichen Sprachgebrauch auf (vgl. Wallmann, Pietismus, 8). Ebensowenig wie Zinzendorf ist daher Bengel von dieser und der folgenden Kritik betroffen (vgl. dazu auch die in Anm.  337 genannte Beurteilung). Abgesehen von Bengel, der für Hengstenbergs Exegese eine wichtige Rolle spielte (vgl. unten 2.2.3; 2.3.3.1; 2.3.4 Exkurs und 2.4.2), scheint ihm der württembergische Pietimus überhaupt wenig vertraut gewesen zu sein. – Die zitierte Charakterisierung weist zudem darauf hin, daß Hengstenberg den Spenerschen Pietismus im Licht des hallischen Pietismus wahrgenommen haben dürfte. 340   So auch schon im Vorwort EKZ 8 (1831), Sp.  6. Ebs. Hengstenberg, Schriftprinzip, EKZ 36 (1845), Sp.  434. Für eine Vorliebe Hengstenbergs für die Brüdergemeine gibt es verschiedene Belege, s. Bachmann 1, 105 f.; vgl. Wilhelm von Hengstenberg an Bachmann, Berlin 17. Jan. 1873: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 341   Ganz ähnlich formuliert Hengstenberg später, EKZ 62 (1858), Sp.  27: „Der Pietismus macht die Kirche wehrlos und überliefert sie ihren Feinden.“

1.5  Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus

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Polemik an Bedeutung. Man habe – mit Folgen bis in die Gegenwart – verlernt, „daß die Gegner der Wahrheit widerlegen, ein eben so edles und unter Umständen noch edleres Geschäft sey, als Waisenhäuser zu erbauen“ (Sp.  20 f.). Mit der Geringschätzung der Lehre ging die Geringschätzung der theologischen Gelehrsamkeit im Pietismus einher. „Wir behaupten zuversichtlich, von der Reformation an hat sich die Theologie in Deutschland nie in einem so traurigen Zustande befunden, wie derjenige ist, den man als das Produkt des Pietismus betrachten kann, etwa in den Jahren 1730–1760.“ (Sp.  21). Alles, was nicht in erkennbarer Beziehung zur Frömmigkeit stand, habe der Pietismus für unnütz erklärt und sich damit von den weltlichen Wissenschaften und Künsten abgeschnitten. Anstatt diese „zu durchdringen und ihm untertan zu machen“, erhoben sich nun jene „gegen ihn und engten ihn mehr und mehr ein, bis sie ihn endlich ganz in einige abgelegene Winkel zurückdrängten“ (Sp.  22). Des weiteren erwähnt Hengstenberg „die einseitige Hervorhebung der subjektiven Frömmigkeit der Geistlichen“, die „den ersten Grund zu der Unkirchlichkeit“ gelegt habe, welche zur Zeit des Rationalismus bestimmend geworden sei (Sp.  25), und schließlich wird eine Überschätzung der Privatversammlungen zur Erbauung kritisiert, die mit der Geringschätzung der kirchlichen Versammlungen einhergehe (Sp.  26 f.). Bei aller Ausführlichkeit der von Hengstenberg vorgetragenen Kritik am Pie­ tismus darf man allerdings die Pointe nicht übersehen: Sie liegt in der These, daß es den so bestimmten Pietismus gar nicht mehr gibt: „der Hauptsache nach, auf die allein die Frage gerichtet seyn kann, ist der Pietismus völlig geschwunden. [...] Wohin wir nur irgend blicken, wir vermögen im Ganzen und Großen nichts von Pietismus zu entdecken.“ (Sp.  28). Natürlich gebe es „hie und da vereinzelte pietistische Erscheinungen und Momente“, wie auch der Pietismus „zu allen Zeiten sporadisch vorkäme“ und „der Durchgang durch pietistische Zustände“ (Sp.  29) bei vielen stattfände, und so „Manchem von denen, welche jetzt einem Christenthum ohne Buße und gründlicher Verläugnung nachtrachten, möchte man eine tüchtige Dosis von Pietismus wünschen [...]. Als Weg ist der Pietismus ganz gut, nur nicht als Ziel.“ (Sp.  30) 342 In den letzten Worten mag Hengstenbergs eigene Erfahrung mitschwingen. 1828 erwähnt er, daß auch er eine Zeit der zerknirschenden Selbstbeobachtung durchgemacht habe, die schließlich der Erfahrung der Rechtfertigung gewichen sei.343 Doch damit ist gerade nicht die Zugehörigkeit zu einer be­sonderen 342   Schon 1826 gesteht Hengstenberg der überspannten pietistischen Sündenbetrachtung zu, daß sie sich als „Uebergang bei den meisten, welche aus dem Reich des Sünde in das Reich der Gnade übergehen“, finde, nur dürfe man dabei nicht stehen bleiben (Ministerialverfügung: Bachmann 1, 365). 343   Berlin, den 6. Juni 1828 schreibt er an Tholuck (Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 123 = AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 912) über (G.D. ?) Krummacher, „daß er nie zu einer wahren und gründlichen Erfahrung der Recht­fertigung allein um des Verdienstes Christi gelangt, immer in einem verderblichen Selbstwirken und falschen Mysticis­mus be-

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Frömmigkeitsrichtung verbunden. Hengstenberg versteht den Durchgang durch diesen Zustand als durchaus organische Entwicklung – wenn man nur nicht in ihr stecken bleibt. Der Hauptsache nach aber werde die Frömmigkeit der Gegenwart nicht mehr von einer pietistischen Selbst- und Weltwahrnehmung bestimmt. „Das in unserem Jahrhundert erwachte christliche Streben trat in ganz andere Gegensätze“, „den Indifferentismus, den Unglauben, die offenbare Gottlosigkeit“ müsse man als sein Gegenüber wahrnehmen (Sp.  28). Hengstenberg beschreibt sodann „die christliche Bewegung in Deutschland“ (Sp.  28 f.) – die Erweckungsbewegung – in Abgrenzung zum Pietismus: Hinsichtlich der Rechtfertigungslehre sei sie „in die Fußstapfen der Reformatoren, und nicht der pietistischen Theologen des achtzehnten Jahrhunderts getreten“, der „frömmelnde, unwissenschaftliche Charakter, den die Dogmatik und die ganze Theologie unter den Händen des Pietismus annahm“, sei Vergangenheit. „Je strenger wissenschaftlich jede auf dem Grunde des Glaubens beruhende wissenschaftliche Bemühung ist, desto freudiger wird sie begrüßt. Das engherzige und bornierte Verwerfen ganzer der Heiligung fähiger Gebiete des Lebens und der Wissenschaft, das sich der Pietismus zu Schulden kommen ließ, wird sich bei uns nicht nachweisen lassen“ (Sp.  29). Separatistische Bestrebungen lägen fern. Der öffentliche Gottesdienst werde „von Niemandem fleißiger und eifriger besucht, als von denen, die die Welt Pietisten nennt. Die Kirchlichkeit ist zum charakteristischen Merkmal der Christlichkeit geworden“. Im Einzelfall werde zwar ein falscher Lehrer, nicht aber die Kirche verlassen (ebd.). Bei der Beschreibung der gegenwärtigen christlichen Bewegung in Deutschland, zu der Hengstenberg sich durch Verwendung der ersten Person Plural bekennt, kommt der Fluchtpunkt der Argumentation in den Blick. Anlaß für sein Vorwort war eine Schrift des Calwer Diakons Märklin über den modernen Pietismus gewesen.344 Darin war die Er­weckungsbewegung als ein Wiederaufleben des Pietismus in moderner Form gekennzeichnet und verurteilt worden.345 Darauf hin hatten es Märklins württembergische Gegner offensichtlich unternommen, den Pietismus gegen den Angriff des Diakons zu verteidigen. fangen geblieben ist. Das ist eine der verderblichsten Grundkrankheiten unserer Zeit, an der ich selbst lange Zeit dar­nieder gelegen habe, nun aber durch Gottes Gnade dadurch befreit worden bin, nur daß in meinem Körper das Unwesen noch fortdauert.“ 344   Märklin, Pietismus. – Märklin, der mit D.F. Strauß befreundet war, gibt als Anlaß für seine Schrift an, „daß der Pietismus allmählich wieder zu einem bedeutenden Gliede in der religiösen Entwicklung unserer Tage geworden ist“ (ebd., III). Es gehe ihm darum nachzuweisen, daß der Pietismus „keineswegs eine adäquate Darstellung des Christlichen ist, und daß man also auch wohl ein guter Christ und Protestant seyn kann, ohne ein Pietist zu seyn“ (ebd., Vf.). 345   Während Märklin dem historischen Pietismus noch eine gewisse Berechtigung zugestehen möchte, weil bei ihm erstmals das fromme Selbstbewußtsein ins Zentrum der Wahrnehmung getreten sei, kritisiert er am modernen Pietismus, daß er durch seine ortho­doxen Lehransichten wieder das Gegenständliche, die sinnliche Erkenntnis betone und damit regressiv auf eine überholte Entwicklungsstufe des religiösen Bewußtseins zurückfalle, sich

1.5  Spätere Distanzierung? – Hengstenberg und der Pietismus

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Hengstenberg hält nichts von diesem Vorgehen. 346 Seine Strategie ist die konsequente Hi­storisierung des Pietismus. Nach der Auf klärung stehe man vor ganz anderen Herausforderungen, gegen die der Pietismus nicht nur keine Handhabe biete, sondern für die er auch selbst mitverantwortlich sei. Darum gelte es nun, sich von dem Begriff „Pietismus“ zu lösen, der von den Gegnern ausschließlich als polemische Waffe eingesetzt werde und das „biblisch-kirchliche Christenthum“ als eine Partei unter vielen erscheinen lasse.347 Statt defensiv die Errungenschaften des Pietismus zu verteidigen, müssen man endlich offensiv die Lehre der Gegner angreifen. Hengstenberg tut dies in einem zweiten Teil seines Vorworts dann auch ausgiebig, und er tut dies nicht im Namen einer bestimmten religiösen Gruppierung, sondern im Namen des wahren Christentums.348 Damit tritt der für Hengstenberg entscheidende Unterschied zwischen Pietismus und Erweckungsbewegung zutage: Während für den Pietismus die Vorordnung des Lebens vor die Lehre konstitutiv zu seinem Wesen gehört, ist dies bei der Erweckungsbewegung nicht der Fall. Zwar spielte bei ihr die lehrmäßige Durchdringung des Glaubens zunächst keine große Rolle, sie speiste sich – nicht zuletzt Dank des Zinzendorfschen Erbes – schlicht aus dem Glaubenserbe der Reformatoren, doch zeigt sich in ihr auch kein antitheologischer Affekt. Die Erweckungsbewegung ist in Hengstenbergs Augen im Gegensatz zum Pietismus offen für eine an der Lehre orientierte Ausrichtung und Justierung. Sie zieht sich nicht zurück auf das Gebiet des Lebens, sondern konfrontiert alle Bereiche menschlichen Lebens, auch Wissenschaft und Kultur, mit ihrem Anspruch, das wahre Christentum zu repräsentieren.349 Keine Frage, hier sah Hengstenberg sein eigenes Betätigungsfeld. Er wollte der als biblisch-kirchliches Christentum bezeichneten Erweckungsbewegung zu einer selbstbewußten Polemik verhelfen und sie auf ein theologisches Fundament stellen, das ihr entsprach. Ein solches mußte sich seiner Ansicht nach sowohl von subjektivitätstheoretischen als auch von idealistischen Begründungskonzepten unterscheiden, wollte man die hamartiologischen Grundüberzeugungen der Bewegung nicht preisgeben und in einen Selbstwiderspruch geraten. Einen solchen mithin in einen Selbstwiderspruch zwischen subjektiver Glaubensform und objektiven Inhalten verwickle, s. Märklin, Pietismus, bes. 40–44. 346   Die „vaterländischen Gegner“ Märklins seien „meist gar zu sehr nur auf Abwehr bedacht gewesen. Sie haben auf ihrem eigenen Gebiete sich mühsam vertheidigt, statt den Krieg dahin zu spielen, wohin er gehört, in das Herz des feindlichen Landes“ (EKZ 26 [1840], Sp.  45, Nr.  6 ). 347   Märklin habe „diesen Namen nur einer ihm widerwärtigen Denkweise angeheftet [...], um sie zu brandmarken. [...] Was der Verf. unter dem Namen des Pietismus bekämpft, ist nicht Anderes als das biblisch-kirchliche Christenthum“ (ebd., Sp.  30). 348   Ebd., Sp.  45–62. 349   Dieser Aspekt klingt auch schon in Tholucks Sündenlehre im ‚Vermächtnis‘ des Patriarchen Abraham an, vgl. Tholuck, Lehre, 201.

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1  Hengstenberg und die Erweckungsbewegung

Selbstwiderspruch nahm er – zumindest in Ansätzen – an Tholucks Sündenlehre wahr. Doch jenen Selbstwiderspruch erachtete Hengstenberg als nicht zwingend. In seinen Augen war die erweckliche Frömmigkeit, da sie nicht auf eine bestimmte Theologie festgelegt war, offen für Korrektur. Daß Hengstenberg die Erweckungsbewegung als theologiefähig und nicht – wie den Pietismus – als theologiefeindlich wahrnahm,350 hing wohl damit zusammen, daß er sie zunächst in Gestalt der Theologen Neander und Tholuck kennengelernt hatte, denn selbstverständlich gab es auch andere Tendenzen. Allerdings ist es doch charakteristisch für die Berliner Bewegung, daß selbst Personen wie Baron von Kottwitz oder der Geschäftsmann Elsner bei aller Di­ stanz zur herrschenden Universitätstheologie doch nie auf den Gedanken gekommen wären, sie für unwichtig zu halten. Nicht umsonst suchte der eine Einfluß zu nehmen auf die Besetzungen von Lehrstühlen 351 und unterstützte der andere die Studenten mit Freitischen.352 Hengstenberg konnte sich also durch wichtige Vertreter der Erweckungsbewegung, mit denen er in Kontakt stand, in seiner Sicht von der Theologie- und Wissenschaftsfähigkeit der Erwek­ kungsbewegung bestätigt fühlen. Wie sich Hengstenberg eine Theologie vorstellte, die sich weder die Geringschätzung der theologischen Wissenschaft durch den Pietismus noch die Wissenschaftlichkeit des Zeitalters der Auf klärung zum Vorbild nehmen wollte, wird im folgenden zu klären sein. Festzuhalten ist zunächst, daß sich Hengstenberg 1840 mit seinem Vorwort in der EKZ nicht von der Erweckungsbewegung distanzierte.353 Auch war die theologische Kritik am historischen Pietismus bei ihm nicht völlig neu, obgleich sie in dieser Deutlichkeit zuvor nicht ausgesprochen worden war. Die öffentlich Distanzierung vom historischen Pietismus hatte das Ziel, den Glauben der Erweckten als den wahrhaft kirchlich-biblischen zu charakterisieren und seine Wissenschaftsfähigkeit hervorzuheben.

350   Die Frage, inwiefern Hengstenbergs Bild vom Pietismus und inbesondere die Behandlung Speners historisch zutreffend ist, muß hier nicht behandelt werden. 351   Vgl. Maser, Kottwitz, 172–175. 352   Vgl. Funk, Elsner, 57 und H. Funk an Bachmann, Lübeck 13. Aug. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann. 353   Ähnlich urteilt auch Fagerberg, Bekenntnis, 44 f.

2  Hengstenberg und die Theologie Erwartungsfroh schreibt der zweiundzwanzigjährige Hengstenberg aus Basel an seinen Vater: „Das morsche Gebäude der Theologie ist eingestürzt und fröhlich wird man jetzt, nachdem der Schutt weggeräumt worden, einen neuen und herrlichern Bau auf dem Grunde beginnen, den keine Zeit erschüttert. Möchte auch ich dereinst würdig gehalten werden, an diesem Bau mitzuarbeiten!“

Später wird er sich weniger optimistisch über die Entwicklungen innerhalb der deutschen Theologie äußern, doch in einer Hinsicht bleibt diese Aussage charakteristisch: Hengstenberg versteht sich als Theologe in einer Übergangszeit und sieht sich dazu berufen, am Neubau der wissenschaftlichen Theologie mitzuarbeiten. Die Geringschätzung der wissenschaftlichen Theologie oder die Abwertung der Theorie zugunsten der kirchlichen Praxis sind seine Sache nicht. Ganz im Gegenteil: Er sieht darin, wie gezeigt, die Hauptirrtümer des Pietismus, vor denen es in der gegenwärtigen Zeit des „neu erwachenden religiösen Lebens“ zu warnen gelte. Doch im Unterschied zum Pietismus sei die Er­weckungsbewegung eben theologiefähig. Hengstenbergs erste Veröffentlichungen zeigen den Versuch, das geistliche Leben, das er in der Berliner Erweckungsbewegung kennen und schätzen gelernt hat, theologisch auf einen festen Grund zu stellen (siehe Teil 1). Die logische Folge des „Wiederaufleben[s] des christlichen Glaubens“ ist für ihn „der Wiederauf bau einer christlichen Theologie“. Hengstenbergs prominente Position als Herausgeber der Kirchenzeitung führt dazu, daß man ihn zumeist nur als Kirchenpolitiker wahrnimmt. Doch damit geht man an seinem Selbstverständnis vorbei. Er sieht sich in erster Linie als wissenschaftlicher Theologe – auch dort, wo er sich zu kirchlichen und politischen Fragen äußert. Deshalb ist sein Verständnis von Theologie und seine theologische Arbeit genauer in den Blick zu nehmen, das heißt: Hengstenberg als Professor des Alten Testaments. Daß er sich dem Alten Testament widmete, hatte nicht nur mit seinem Bildungsweg zu tun, sondern hing auch damit zu

  Hengstenberg an seinen Vater, Basel 13. Juni 1824: Bachmann 1, 169 f.   Ebd., 169.    So das spätere Votum im Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  11.    Siehe dazu unten 4.3.5. 

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2  Hengstenberg und die Theologie

sammen, daß ihm die Notwendigkeit eines theologischen Neubaus gerade hier am dringlichsten erschien. Hinsichtlich der alttestamentlichen Disziplin sah er sich in seiner ersten Publikation dann sogar gezwungen, sein Urteil über den gegenwärtigen Zustand der Theologie ein wenig zu korrigieren. Noch sei nicht die Zeit des Neubaus. Noch sei von dem Grundsatz auszugehen, „dass vor Aufführung des neuen Gebäudes der Schutt gründlich hinweggeräumt und der Boden gesäubert werden müsse; dadurch hat seine [sc. des Verfassers] Arbeit eine zerrissene Gestalt und einen zeitlichen Charakter erhalten; vielleicht aber wird der Unternehmer der vollkommeneren es ihm einigen Dank wissen, wenn er nun ungehindert den neuen Bau selbst beginnen kann.“

In der Tat sind gerade Hengstenbergs alttestamentliche Studien von der ständigen Ausein­andersetzung mit der bisherigen Theologie geprägt, sie tragen einen „zeitlichen Charakter“. Deshalb hat es auch sein Recht, wenn man seine theologische Arbeit vor allem als Gegenbewegung gegen die herrschende Gestalt der historisch-kritischen Exegese beurteilt hat. Jedoch hat diese Opposition in Hengstenbergs Perspektive nicht die Destruktion, sondern den Neubau vor Augen. Vor allem richtet sie sich nicht gegen die Theologie als wissenschaftliche Disziplin, sondern nur gegen das, was Hengstenberg als „morsche“ Theologie bezeichnet. Darunter versteht er, was die Bearbeitung des Alten Testaments angeht, in er­ster Linie die Theologie des Rationalismus. Allerdings richtet sich Hengstenberg nicht nur gegen einen einzigen Gegner. Daß seine Opposition zum Rationalismus nicht exklusiv ist, zeigt sich schon daran, daß er – im Unterschied zu Tholuck – an einer genauen historischen Beurteilung des Rationalismus gar nicht interessiert ist. Es geht ihm um das Prinzip, um ein Prinzip nämlich, das er nicht nur im Rationalismus, sondern auch im Pietismus, bei Schleiermacher sowie in Kreisen der Erweckungsbewegung und im römischen Katholizismus diagnostiziert und als dessen vollkommenster Ausdruck ihm schließlich der von Fichte ausgehende und in der Hegelschule kulminierende ‚Pantheismus‘ gelten wird: das „Princip der Subjektivität“.    Hengstenberg an seinen Vater, [Berlin] 1. Pfingsttag 1825: Bachmann 1, 238: „Kein Theil der Theologie ist in unserer Zeit so vernachlässigt und fordert so sehr die ungetheilte Kraft, wie die Auslegung des A. T., die mit dem jetzigen Stande der gesammten Theologie durchaus nicht in Uebereinstimmung steht.“    Hengstenberg, Christologie1 1/1, IV.    Z.B. Bleek, Einleitung, 24–26; Kahnis, Grundwahrheiten, 6.    Es liegt daher in der Natur der Sache, daß Kramer den im Titel seiner Studie (‚Ernst Wilhelm Hengstenberg, die Evangelische Kirchenzeitung und der theologische Rationalismus‘) benannten Rationalismus sehr weit fassen und unter diese Überschrift auch Schleiermacher, Hegel, D.F. Strauß u. a. subsumieren muß.    Vorwort EKZ 18 (1841), Sp.  4; Vorwort EKZ 68 (1861), Sp.  30. – In der Anfangszeit der EKZ schreibt Hengstenberg selbst keinen Grundsatzartikel zur Auseinandersetzung mit dem Rationalismus (abgesehen von der kleinen Betrachtung ‚Über den Unterschied des Rationalismus und des Evangelischen Christenthums in praktischer Hinsicht‘. EKZ 1 [1827], Sp.  121–125, Nr.  16), die Artikel zum Rationalismus stammen zunächst v. a. von Sartorius

2  Hengstenberg und die Theologie

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Für die Darstellung und Beurteilung von Hengstenbergs Theologie spielt es daher keine Rolle, ob er den Rationalismus nun historisch gerecht oder ungerecht behandelt hat. Was er bekämpft, sind nicht bestimmte historische Vertreter, sondern eine Grundrichtung, die er mit „Überschätzung des Menschlichen“10 charakterisiert, also jede Art von Geistesrichtung, welche nach seiner Ansicht die „gänzliche[...] Verderbtheit des Menschen“11 nicht ausreichend berücksichtigt. Charakteristischerweise setzt sich sein erster Beitrag in der EKZ, der sich programmatisch diesem Thema widmet, nicht mit dem Rationalismus, sondern mit dem römischen Katholizismus auseinander.12 Das Spezifische des evangelischen Glaubens, das ihn von Anfang an in Gegensatz zum römischen Katholizismus gebracht habe, bestehe nämlich – so Hengstenbergs Grundthese – in der Erkenntnis der radikalen Sündenverfallenheit des Menschen, die alle menschliche Kräfte, das Erkenntnisvermögen ebenso wie den Willen, korrumpiert habe. Jene für die Entstehung reformatorischen Denkens maßgebliche Einsicht setze die evangelische Theologie nun aber auch und gerade in Opposition zum theologischen Rationalismus.13 und Steiger, doch auch später wird der Rationalismus in den Vorworten zumeist nur als Typus erwähnt. Ausführlich äußert sich Hengstenberg hingegen zum Katholizismus, zum Pietismus, zu Schleiermacher und seinen Schülern, zu D.F. Strauß u. a., wobei es immer um das – rationalistisch genannte – Prinzip der Subjektivität geht. 10   EKZ 1 (1827), Sp.  27.29.30. Nafzger, Struggle, ist daher zuzustimmen, wenn er dasjenige, was Hengstenberg bekämpft, ganz allgemein als die „Theologie des natürlichen Menschen“ bestimmt (ebd., 97–147 und 231–239). Daß Hengstenberg in der Beurteilung der Positionen im einzelnen durchaus Unterschiede macht, zeigt sich sowohl in seinen theologischen Arbeiten (s. dazu unten 2.3) als auch in der Ausrichtung der EKZ (vgl. dazu Kramer, Hengstenberg, bes. 297–301; wenn Kramer ebd., 300, den „Kampf gegen den Rationalismus [...] die Konstante im theologischen und geistigen Wirken“ Hengstenbergs nennt, ist zu beachten, daß unter Rationalismus der benannte Typus und nicht ein historisches Phänomen zu verstehen ist.). 11   EKZ 1 (1827), Sp.  12. 12   Hengstenberg, Ueber das innere Verhältniß der Evangelischen Kirche zu der Römischen, EKZ 1 (1827), Sp.  4–7.9–15.17–22.25–31.33–39.41–44, Nr.  1–6. Dieser Artikel ist überhaupt der erste in der EKZ und muß als Standortbestimmung der EKZ verstanden werden, denn laut Vorwort spricht er „die Stellung aus, welche wir gegen die Hauptrichtungen der Zeit behaupten“ (Sp.  4). Er ist damit gerade nicht exklusiv gegen den römischen Katholizismus gerichtet. Eine Inhaltsangabe des Artikels bietet Wulfmeyer, Hengstenberg, 240– 248, zur Entstehung desselben vgl. Bachmann 2, 47 f. 13   „Der Grund alles Irrthums […] ist der Wahn, daß der Mensch nach dem Sündenfall entweder ganz oder theilweise die Kräfte besitze, die er vor dem Sündenfall besaß. [...] Dieser Irrthum äußert sich auf doppelte Weise, indem er theils dem menschlichen Erkenntnißvermögen die Kraft beilegt, Gott zu erkennen, theils dem menschlichen Willen, Gott lieben und sich mit ihm vereinigen zu können; er zieht sich, wie schon bemerkt worden, durch die ganze Geschichte. Die Pharisäer sowohl wie die Sadducäer, die Glieder der Römischen Kirche sowohl wie die Rationalisten haben an ihm ihren Antheil, und aus diesem einen Irrthum gehen alle ihre einzelnen sündigen Irrthümer hervor.“ (EKZ 1 [1827], Sp.  12 f.). Eine ausführliche Begründung für die Lehre von der völligen Verderbtheit der menschlichen Natur bietet Hengstenberg 1831 in dem Aufsatz ‚Herr Dr. Steudel [...]‘, EKZ 8 (1831), Sp.  361– 374.377–399, Nr.  46–50.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Der Ausgangspunkt von Hengstenbergs Theologie läßt sich demnach klar bestimmen. Die Frage ist aber, wie er sich auf dieser Grundlage und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen theologischen Entwürfe den Neubau der Theologie konkret vorstellt. Um sie zu klären, werden daher folgende Aspekte untersucht: 1. Wie bestimmt Hengstenberg die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie? Hierüber kommt es 1830 zu einer Auseinandersetzung mit Neander. 2. Was setzt Hengstenberg der neuzeitlichen Erkenntnis von der Unhintergehbarkeit des Subjekts entgegen? Dies wird besonders deutlich an der Art, wie er Schleiermacher und dessen Schüler kritisiert. 3. Wie sieht der neue Bau aus, den Hengstenberg auf den Trümmern des Vorhergehenden errichten will? Dazu hat er sich nicht allgemein-abstrakt geäußert. Auch hat er keine Dogmatik vorgelegt, und nur selten hat er explizit Fragen der theologischen Prinzipienlehre behandelt. Was Hengstenberg positiv zum Bau der Theologie beitragen wollte, ist in seinen Arbeiten auf dem Gebiet der alttestamentlichen Exegese und Einleitungswissenschaft zu suchen. 4. Welche Einflüsse und Grundlinien lassen sich – abgesehen von den in Teil 1 bereits dargestellten – an Hengstenbergs Theologie aufweisen? 5. Zuletzt ist Hengstenbergs Wirksamkeit als theologischer Lehrer zu betrachten. Wie füllte er seinen Beruf aus? Welchen Einfluß hatte er auf die Studenten und welche Schüler hat er hervorgebracht?

2.1  Theologie und Glaube 2.1.1  Der Streit zwischen Neander und Hengstenberg über die Stellung der Theologie Hengstenbergs Auffassung von der Aufgabe und dem Charakter der Theologie zeigte sich in einer Auseinandersetzung mit ausgerechnet demjenigen Kollegen, dessen Theologie für den jungen Hengstenberg in Basel die höchste Anziehungkraft gehabt hatte: August Neander. Der Disput entzündete sich am Umgang der Evangelischen Kirchenzeitung mit theologischen Gegnern. Hengstenberg hatte sich Ende 1826 als Herausgeber für die EKZ gewinnen lassen, am 4. Juli 1827 war ihre erste Nummer erschienen.14 Nach Meinung ihrer Initiatoren sollte die Zeitschrift keinen eigentlich wissenschaftlichen Charakter tragen, sondern „einer allgemeineren Belehrung und Besprechung über Gegenstände, welche allen gebildeten Gliedern der Kirche von Interesse sind,“15 dienen. Dreierlei Arten von Beiträgen waren dafür vorgesehen: Aufsätze, literarische Anzeigen und Nachrichten.16 Die Darstellung des eigenen Standpunktes sollte zwar 14

  Siehe zur Gründung der EKZ unten 4.2.   Plan zu einer neuen evangelischen Zeitschrift und Kirchenzeitung: Bachmann 2, Anhang, 7, Nr.  2b (für die Mitarbeiter bestimmt, vgl. dazu Bachmann 2, 66 f.), Original: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). 16   Vgl. die endgültige Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 17, Nr.  5 ; auch bei Mehnert, Programme, 47 f. 15

2.1  Theologie und Glaube

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nicht ausschließlich, aber auch „im Gegensatz gegen besonders verbreitete Irrtümer im Glauben und Leben unsrer Zeit“17 geschehen. Bei aller Notwendigkeit der Polemik wolle sie sich aber „des Urtheils über Personen enthalten“ und „alle Persönlichkeiten [d. h. persönliche Angriffe] vermeiden“18 . Die EKZ bewegte sich also zunächst auf einer Grenzlinie zwischen Populartheologie und christlicher Erbauung. Besonderer Wert wurde auf die Aktualität und die konkrete Ausrichtung auf die Bedürfnisse der christlichen Leser gelegt. Es dauerte allerdings einige Jahre, bis die Kirchenzeitung das diesen Vorgaben entsprechende Profil fand.19 In diesen Zusammenhang gehört der Disput mit Neander. In einem aufsehenerregenden Schritt sagte sich Neander am 3. März 1830 mit einer Erklärung, die in der EKZ erschien,20 von derselben los. Zwar war dies – soweit erkennbar – überhaupt der erste und einzige Beitrag Neanders zur Kirchenzeitung, doch stand er immerhin auf der 1827 verbreiteten Liste derer, die ihre Mitarbeit zugesagt hatten, an erster Stelle.21 Auslöser für den Schritt waren Artikel, die sich mit den beiden wichtigsten theologischen Strömungen der Zeit befaßten, mit Schleiermacher und mit dem Rationalismus. Im Dezember 1829 war ein Artikel mit dem Titel ‚Ueber Schleiermacher‘ erschienen, dessen Untertitel ‚Auch ein Sendschreiben‘ auf den Anlaß hinwies: Besprochen wurde Schleiermachers ‚Zweites Sendschreiben an Lücke‘.22 Im Januar 1830 war schließlich unter der Rubrik „Nachrichten“ der berühmt-berüchtigte Bericht über die Zustände an der Hallischen theologischen Fakultät aus der Feder Ernst Ludwig von Gerlachs veröffentlicht worden, in dem Äußerungen aus Kollegmitschriften der beiden den Rationalismus repräsentierenden Hallischen Theologen Gesenius und Wegscheider zitiert wurden.23 Daraus entwickelte sich der sog. „Hallische Streit“, dessen Einzelheiten hier aber keine Rolle spielen.24 17   Plan zu einer neuen evangelischen Zeitschrift und Kirchenzeitung: Bachmann 2, Anhang, 8, Nr.  2b. 18   Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 18, Nr.  5. 19   Siehe dazu unten Teil 4.3.2. 20   Neander, Erklärung über meine Theilnahme an der Evangelischen Kirchenzeitung, und die Gründe, mich von derselben ganz loszusagen, EKZ 6 (1830), Sp.  137–139, Nr.  18. 21   Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 18, Nr.  5. 22   Ueber Schleiermacher. (Auch ein Sendschreiben.), EKZ 5 (1829), Sp.  769–775.777– 782.785–790.793–798, Nr.  97–100; vgl. dazu unten Abschnitt 2.2.1. 23   Gerlach, Der Rationalismus auf der Universität Halle, EKZ 6 (1830), Sp.  38–40.45– 47, Nr.  5 f. 24   Die ausführlichste Darstellung der Hallischen Angelegenheit, die in so gut wie allen Überblickswerken über das 19. Jahrhundert erwähnt wird, bietet nach wie vor Bachmann 2, 177–283; daneben Kriege, Kirchen-Zeitung, 128–162 und aus jüngerer Zeit Kraus, Gerlach, 133–151. Die Frage, ob man die Auseinandersetzung als „Streit“, „Kirchenstreit“, „Theologenstreit“ oder einfach als „Hallische Angelegenheit“ bezeichnet, ist sekundär; nur bei der Benennung als „Hallische Denuntiation“ muß man sich bewußt sein, daß sie direkt

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2  Hengstenberg und die Theologie

Wichtiger ist die Beobachtung, daß sich Neander den in den Artikeln der Kirchenzeitung behandelten Theologen persönlich verbunden fühlte. Gesenius hatte er bereits 1806 in Göttingen kennengelernt; der Alttestamentler war ihm bei seiner Umsiedelung nach Göttingen behilflich gewesen.25 Zuvor hatte Neander bei Schleiermacher in Halle studiert und von ihm – wie er noch Jahrzehnte später bekennen wird – die grundlegenden Anregungen erhalten.26 Es war also kein Zufall, daß Neander gerade jetzt das Wort ergriff.27 Überdies hatte Neander schon einige Zeit zuvor öffentlich seinen Unwillen über diejenigen zum Ausdruck gebracht, „welche Häupter oder Knechte der Partheien und Schulen sind“28 , und damit der Kirchenzeitung einen unmißverständlichen Seitenhieb erteilt.29 Ein Gräuel sei ihm „jegliches Papstthum, sey es ein staatskirchliches, dogmatisches, pietistisches oder philosophisches, ein orthodoxes oder ein heterodoxes.“30 Die Erklärung, die Neander bereits am 22. Februar verfaßt hatte,31 ließ Hengstenberg gemeinsam mit einer ‚Gegenerklärung der Redaction‘32 aus seiner Feder erscheinen. Darauf reagierte Neander mit einem Separatdruck der Erklärung – „[z]um Besten und zur Unterstützung armer Studiosen der Theologie“33 –, der eine Replik auf Hengstenbergs Gegenerklärung vom 7. März beigefügt war. Nachdem letztere von Hengstenberg in der EKZ vom 3. und 7. April 1830 besprochen worden war,34 ließ Neander die Schrift im Juni in zweiter Auflage ausgehen,35 nun um ein Nachwort vermehrt, das insbesondere auf der zeitgenössischen Polemik gegen Gerlach und die EKZ entstammt und damit Partei ergreift; außerdem handelt man sich mit ihr die Frage ein, was genau unter einer Denuntiation zu verstehen ist (vgl. dazu die apologetischen Ausführungen bei Bachmann 2, 238–240). 25   Vgl. Selge, Neander, 274 f. 26   Vgl. Schneider, Neander, 23 und v. a. Neanders Rückblick aus dem Jahr 1850: Neander, Jahrhundert, 223–229. 27   Im Sommer 1829 war bereits Wegscheiders Dogmatik unter dem Titel ‚Grund und Gehalt des Rationalismus‘ in der EKZ kritisch besprochen worden (EKZ 5 [1829], Sp.  521– 526.529–533.537–540.545–550, Nr.  66–69), worauf Neander jedoch nicht eingeht. Daß es Neander vor allem um Schleiermacher geht, zeigt sich in seiner zweiten Schrift, wo er den verteidigt, den „der Geist Gottes als Werkzeug gebraucht hat, eine neue Epoche der theologischen Entwicklung anzuregen“ (Neander, Erklärung [2. Aufl.], 11). 28   Neander, Geschichte 2/2, VII (Vorwort vom 20. Sept. 1829). 29   E.L. von Gerlach sieht sich dadurch veranlaßt, Hengstenberg zu einer Replik in der EKZ aufzufordern, vgl. Gerlach an Hengstenberg, Halle 19. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 28. 30   Neander, Geschichte 2/2, VII (Vorwort vom 20. Sept. 1829). Zur Entwicklung Neanders im Spiegel der Vorworte zu seiner ‚Allgemeinen Geschichte‘ vgl. Selge, Kirchenhistoriker, 416–419. 31   EKZ 6 (1830), Sp.  140. 32   EKZ 6 (1830), Sp.  140–149, Nr.  18 f. 33   Neander, Erklärung, Titelblatt. 34   Hengstenberg, Gegen Dr. Neander’s rechtfertigende Erörterung der Erklärung über seine Theilnahme an der Ev. K.Z. […], EKZ 6 (1830), Sp.  2 09–216.217–224, Nr.  27 f. 35   Neander, Erklärung (2. Aufl.). – Aus dieser zweiten Auflage werden im Folgenden die

2.1  Theologie und Glaube

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das Verhältnis von Wissenschaftlichkeit und Bekenntnisbindung der Theologie einging und damit eine Brücke zum Jubiläum der Confessio Augustana schlug. Damit war der Streit im wesentlichen ausgefochten. Wenn Neander im Einladungsprogramm der Stiftungsfeier der Hauptbibelgesellschaft im Oktober 1830 den Faden noch einmal aufnahm 36 und Hengstenberg im Vorwort der EKZ 183137 auf den Streit zurückblickte, dann waren dies nur noch kleinere Nachbeben. Doch worum drehte sich der Streit? Neanders Kritik am Vorgehen der EKZ richtete sich im Kern dagegen, daß in den genannten Artikeln „die zwischen den wissenschaftlichen Theologen obwaltenden Differenzen [...] vor den Richterstuhl der Laien, welche einer theologisch-wissenschaftlichen Bildung ermangeln, gebracht werden.“38 Die Bezeichnung „Laie“ markiert hier also nicht den Unterschied zum Geistlichen – Neander ist ein vehementer Verfechter des allgemeinen Priestertums –, sondern zu denjenigen, welche sich im vollen Sinne eine „theologisch-wissenschaftliche“ Bildung angeeignet hätten.39 Dies sei aber nur für Geistliche und theologische Lehrer notwendig. Es sei geradezu ein Vorzug der Laien, daß sie sich „um die wissenschaftlichen Untersuchungen und Streitigkeiten [...] gar nicht zu bekümmern“40 brauchten. Ihr Glaube sei unabhängig von den Meinungen der Theologen, sie seien dazu berufen, „unabhängig von denselben ihre Ueberzeugung aus dem göttlichen Wort selbst sich zu bilden“. Für sie komme es nicht darauf an, „was dieser oder jener Theologe lehrt, sondern was Christus und die Apostel lehren“. Zwar bildeten sich auch die Laien von den wesentlichen Fragen der christlichen Lehre eine Meinung, doch auf einer ganz anderen Ebene. Sie seien völlig außerstande, „ein bestimmtes theologisches System und einzelne Lehrmeinungen in dem Zusammenhange dieses Systems“41 zu beurteilen. Die Theologie sei ein ihnen „fremdes Gebiet“. Der Glaube sei umso gewisser, je weniger er dieses Gebiet betrete. Die Laien hätten sich auf dem Gebiet des praktischen Christentums zu bewähren, in dem „durch die Liebe thätigen Glauben, der sich in dem Berufe eines jeden wirksam“ zeige und nicht in ein fremdes Werk eingreife: Replik und das Nachwort zitiert, die Erklärung hingegen nach ihrem ursprünglichen Erscheinungsort, der EKZ. 36   Neander, Kommen des Herrn; Ausschnitte daraus bei Schneider, Neander, 113–115. 37   Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  21–26. – Vgl. zu der Auseinandersetzung auch Schneider, Neander, 104–115, Bachmann 2, 244–254 und Kayser, Neander, die die Streitschriften paraphrasieren, aber die tieferen Ursachen für die unterschiedlichen Positionen nicht wahrnehmen. Kaysers Darstellung schöpft überdies lediglich aus der Sekundärliteratur, berücksichtigt nicht alle Schriften und kommt über eine holzschnittartige Beschreibung von Hengstenberg und Neander nicht hinaus. 38   EKZ 6 (1830), Sp.  137. 39   Erklärung (2. Aufl.), 9. 40   EKZ 6 (1830), Sp.  138 (auch die beiden folgenden Zitate). 41   Erklärung (2. Aufl.), 10.

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2  Hengstenberg und die Theologie

„Wir können ja nicht wünschen, daß eine solche Zeit wiederkehre, da man, wie einst im 4. Jahrh. zu Constantinopel, in den vornehmen Gesellschaften, in den Bäckerläden und den Buden der Trödler von den arianischen Streitigkeiten mitsprach, und den Forderungen des practischen Christenthums nachzustreben sich desto weniger angelegen sein ließ.“42

Die Theologie als „wissenschaftliche Form der Ueberzeugung“43 begleite zwar den Glauben, aber sie dürfe sich – im Unterschied zum Glauben – keinerlei Bindung unterwerfen. Da die Vermischung „dessen, was der wissenschaftlichen Entwickelung der Glaubenslehre und dessen, was dem allgemeinen, christlichen Glaubensleben angehört, in früheren Jahrhunderten die Quelle vieler gewaltsamen Hemmungen der christlichen Glaubensentwickelung und vieler Verirrungen und Verunreinigungen des allgemeinen christlichen Lebens geworden“ sei, könne er, Neander, „die schärfere Sonderung jener beiden Stücke, welche die neuere Zeit herbeigeführt hat, für nicht anders als heilsam halten“44. Mit der positiven Bezugnahme auf die Sonderung zwischen Glaubenslehre und Glaubensleben stellt sich Neander in die Tradition Semlers, der die Unterscheidung von Theologie und Religion zu einem Prinzip der theologischen Wissenschaft gemacht hatte.45 Darin, daß Schleiermacher Semlers Unterscheidung aufgenommen habe, sieht Neander – wie er sich später äußern wird – einen Grund dafür, daß ersterer als richtungsweisend für die neuere Theologie angesehen werden müsse.46 Nach Neanders Auffassung setzt sich der christliche Geist im Lauf der Geschichte sowohl im Glaubensleben als auch in der Wissenschaft von selbst und unabhängig voneinander durch. Deshalb sei es wichtig, daß sich beide, Glaube und Wissenschaft, völlig frei und nur nach ihren eigenen Gesetzen entfalten können. Die Wissenschaft dürfe keinerlei dogmatischer Beschränkung unterliegen, sondern müsse allein den wissenschaftlichen Standards ihrer Zeit genügen. „Ist die Theologie eine Wissenschaft, so muß sie sich frei entwickeln nach denselben Gesetzen, wie alle andere Wissenschaften. Das Wesen der Wissenschaft schließt jede von außen her gegebene Schranke und Norm ihrer Entwickelung aus.“47 Daß der christliche Geist dabei auch auf Abwege 42   Erklärung (2. Aufl.), 17 (auch das vorhergehende Zitat). Hengstenberg lobt hingegen jene Zeit, wenn auch nicht „die fleischliche Art [...], wie dies größtentheils geschah“ (EKZ 6 [1830], Sp.  217). 43   EKZ 6 (1830), Sp.  138. 44   EKZ 6 (1830), Sp.  138 f. 45   Vgl. Hornig, Semler, 272: „Dabei wurde der Theologiebegriff als Bezeichnung für eine veränderliche, korrekturbedürftige und entwicklungsfähige wissenschaftliche Fachangelegenheit verstanden, die als solche nicht dem einzelnen Christen, sondern nur dem zukünftigen Lehrer und Geistlichen zur Aufgabe gemacht werden kann, während der Religionsbegriff die von allen Christen im praktischen Leben zu bewährende Glaubensüberzeugung, Frömmigkeit und Nächstenliebe bezeichnet.“ 46   Neander, Jahrhundert, 233.239. 47   Erklärung (2. Aufl.), 30; ganz analog entfaltet Neander diese Sicht in dem kurz vor

2.1  Theologie und Glaube

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geraten kann, kalkuliert Neander ein, er sieht darin aber unentbehrliche Durchgangsstationen auf dem Weg zu größerer Klarheit. Demnach war selbst der Rationalismus ein notwendiger Gegensatz gegen „eine todte Begriffsorthodoxie, gegen eine Buchstabenknechtschaft, welche des lebendigen Geistes ermangelte“, aus dem „eine dem lebendigen Christenthume entsprechende Glaubenslehre gereinigt und verklärt hervorgehen“48 sollte. Neander ist von der Zuversicht getragen, daß in der Theologie wie in allen Wissenschaften „der Irrthum in sich selbst zu Grunde gehen und die Wahrheit durch die ihr inwohnende Macht siegen werde.“49 Äußere Schranken sind dabei nur hinderlich. Selbst die Heilige Schrift kann der Theologie nicht als „eine äußerlich gegebene Erkenntnißquelle und Norm“50 aufgezwungen werden, vielmehr müsse sie die freie Entwicklung zu einer inneren Bejahung dieser Autorität führen. Auch die Übereinstimmung von Theologie und christlichem Leben, auf die es Neander ankommt, werde sich von alleine einstellen.51 Von selbst münde der Prozeß schließlich ein in eine „theologia regenitorum“, „denn die Theologie ist nichts, wenn sie sich vom Christenthum losreißt, und das Christenthum kann nicht anders als durch das Hineinleben und von diesem aus verstanden werden“52 . Freilich kann der Prozeß nicht erzwungen werden, doch ereigne er sich beispielsweise in der gegenwärtigen Zeit, „in welcher durch eine gewaltige Krisis eine neue Schöpfung in der Kirche sich vorbereitet.“53 Für Neander steht die Übereinstimmung der unabhängig voneinander exi­ stierenden Größen Glaube und Theologie also am Ende des theologischen Denkweges, nicht am Anfang. Dieser Denkweg muß immer wieder neu gegangen werden, jede Generation muß sich die Wahrheit im Kampf der Gegensätze neu aneignen. „Denn es steht in keines Menschen Macht, die Wahrheit in der Wissenschaft als etwas Fertiggewordenes dem sich entwickelnden Geschlecht zu überliefern.“54 Die Universitäten sind dazu da, die „geistige[...] Selbstthätigkeit“55 entwickeln zu helfen, auf die die sich bildenden Theologen bei der Beseinem Lebensende verfaßten Rückblick auf die theologischen Entwicklungen der letzten 50 Jahre. Mit Schleiermacher betont er die Notwendigkeit der Einsicht, „daß weder die Wissenschaft den Glauben, noch der Glaube die Wissenschaft kann meistern wollen, sondern jede dieser Mächte frei nach ihrem eigenthümlichen Wesen und Gesetz sich entwickeln muß, um zu jenem Einklange zwischen Leben und Wissenschaft hinzuführen, ohne welchen es keine gesunde Theologie geben kann.“ (Neander, Jahrhundert, 239). 48   Erklärung (2. Aufl.), 15. 49   Erklärung (2. Aufl.), 31. 50   Erklärung (2. Aufl.), 30. 51   Einen Beleg hierfür sieht Neander im Rückblick in Schleiermachers Theologie, die mit dem neu erwachten religiösen Leben am Beginn des Jahrhunderts korrespondierte, Neander, Jahrhundert, 237 f. 52   Erklärung (2. Aufl.), 33. 53   Erklärung (2. Aufl.), 12; ähnliche Aussagen im Rückblick: Neander, Jahrhundert, 265–268. 54   EKZ 6 (1830), Sp.  139. 55   EKZ 6 (1830), Sp.  139.

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2  Hengstenberg und die Theologie

wältigung dieser Aufgabe angewiesen sind. Fragt man, worauf Neander seinen – unverkennbar auf klärerischen – Entwicklungsoptimismus stützt, dann wird man auf sein Geschichtsverständnis verwiesen.56 Dem Lauf der Geschichte entnimmt Neander die Erkennt­nis, daß es Gottes Wille war, die Theologie „auf diese Weise zu dem für das Heil der Kirche erforderlichen Ziele“57 zu führen. Dabei sieht er – im Unterschied zu Hegel – nicht eine a priori erkannte Idee in der Geschichte sich verwirklichen, „vielmehr erkennen wir in der Geschichte eben die Offenbarung und den Entwickelungsgang der Idee.“58 Anders ausgedrückt: Im Gang der Geschichte und in der Lenkung der Kirche gibt sich der Geist Gottes zu erkennen – allerdings nur dann, wenn die „Subjektivität des Geschichtsschreibers den sich offenbarenden Geist des Christenthums“59 treu in sich aufnimmt, wenn der Theologe sich in das Christentum hineingelebt hat. Hier liegt nun allerdings auch die Problematik von Neanders Geschichtsdeutung. Da er jede philosophische oder dogmatische „Brille“60 ablehnt, bleibt unklar, woran man den „Geist des Christentums“ erkennen soll. Der antiinstitu­ tionelle Impetus von Neanders Kirchengeschichtsbetrachtung gibt ihr einen spiritualistischen Zug. Die These, daß sich die theologische Wissenschaft zwangsläufig in die richtige Richtung entwickle, ist daher längst nicht über jeden Zweifel erhaben. In ihr spiegelt sich der Ertrag der religionstheoretischen Debatten der Auf klärung61 – die unhintergehbare Unterscheidung von Religion und Theologie – in einer für den Pektoraltheologen Neander charakteristischen Brechung. Demgegenüber muß Hengstenbergs Einspruch gegen Neander als Widerspruch gegen die neuzeitliche Unterscheidung von Religion und Theologie verstanden werden, auch wenn diese theoretische Dimension nicht explizit benannt wird. Denn zunächst widerspricht Hengstenberg schlicht Neanders Gegenüberstellung von ungebildeten Laien mit ihrem nicht theologisch-wissenschaftlich reflektierten Glauben und wissenschaftlich gebildeten Theologen. Zwar gesteht auch Hengstenberg zu, daß es eine Art von wissenschaftlichem 56   Vgl. dazu auch Selge, Neander, 255–259. In Neanders Entwicklungsgedanke klingt deutlich Semlers Sicht von der Perfektibilität des Christentums an (vgl. dazu Hornig, Semler, 277). 57   Neander, Erklärung (2. Aufl.), 31: „Hat Gott es so angeordnet, daß das Christenthum eine Theologie als Wissenschaft bilden muß, und daß diese dem Gedeihen der Kirche dienen soll, so können wir schon daraus mit Sicherheit schließen, daß er diese Wissenschaft nach den nothwendig durch ihn selbst in dem Wesen des menschlichen Geistes angelegten Gesetzen sich entwickeln lassen wolle, und sie gerade auf diese Weise zu dem für das Heil der Kirche erforderlichen Ziel führen werde.“ 58   Erklärung (2. Aufl.), 24 – mit diesem Gedanken, Offenbarung in der Geschichte oder Offenbarung als Geschichte, schlägt Neander einen Ton an, der durch das ganze Jahrhundert klingen sollte (vgl. dazu unten 2.3.1.1 zu Hengstenberg und Hoffmann). 59   Neander, Geschichte 2/3, XI. 60   Neander, Geschichte 1/1, VII; vgl. auch oben 1.1. 61   Vgl. zum weiteren Kontext Beutel, Auf klärung, bes. 279 f.

2.1  Theologie und Glaube

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Diskurs gibt, an dem die Laien völlig außerstande sind, sich zu beteiligen. Doch bei den zur Diskussion stehenden Fragen drehe es sich nicht „um dogmatische Subtilitäten und Schulausdrücke“, sondern um „die allgemeinsten, von der christlichen Kirche aller Jahrhunderte als Bestandtheile des Laienglaubens anerkannte Catechismuswahrheiten.“62 Was diese angehe, so seien die Laien nicht nur urteilsfähig, sondern sogar zum Urteil verpflichtet.63 Aufgabe der Theologen sei es nämlich, die Lehre der Kirche wissenschaftlich zu begründen. Kommen die Theologen ihrer Pflicht nicht nach, weil sie die kirchliche Lehre „im Wesentlichen für irrig halten“, verletzen sie das Recht der Kirche, die sie hierzu berufen hat.64 Dieses Recht ist aber kein abstraktes Recht der Kirche, sondern das Recht der durch ihre Glieder konstituierten Gemeinschaft, also auch jedes einzelnen Gliedes. Darum habe neben der Gesamtkirche auch jedes einzelne Glied das Recht, „über die Lehre ihrer Theologen zu wachen“65. Zudem sei jedes Kirchenmitglied verpflichtet, aktiv das Beste der Kirche zu fördern und Gefahren von ihr abzuwenden. Hengstenbergs Auffassung von der Theologie unterscheidet sich also charakteristisch von Neander: Seiner Ansicht nach begleitet die Theologie den Glauben nicht als dessen freie wissenschaftliche Form, sondern sie ist dazu da, den in der Kirche gepflegten Glauben zu unterstützen und zu stärken, indem sie ihm wissenschaftlich Rückhalt gibt. Wenn Hengstenberg von kirchlichem Glauben oder Glauben der Kirche spricht, ist allerdings zu beachten, daß er hierunter kein kirchlich-autoritär abgegrenztes Depositum von Glaubenssätzen versteht. Es handelt sich dabei um den Glauben, den die wahre Kirche zu allen Zeiten darum vertreten habe, weil der Heilige Geist zu allen Zeiten in wunderbarer Übereinstimmung einzelnen Menschen den Sinn der Heiligen Schrift auf dieselbe Weise aufgeschlossen habe.66 Ausdruck dieser Übereinstimmung sind die 62   EKZ 6 (1830), Sp.  141. Den Unterschied zwischen Katechismuswahrheiten und theologischen Spezialfragen hält Hengstenberg auch später fest und nennt als Beispiel die Apokryphenfrage. „In Bezug auf die einfachen Katechismuswahrheiten“ gestehe er dem christlichen Volk eine bedeutende Stimme zu und meine, „daß auch die theologischen Fakultäten sich seiner Controlle nicht entziehen dürfen.“ Aber in Fragen wie die nach der Verbindlichkeit der Apokryphen, „die ohne Theologie schlechterdings nicht gründlich entschieden werden können“ dürfe man die theologischen Fakultäten „als die geordneten Pfleger der theologischen Wissenschaft“ nicht außer acht lassen (Hengstenberg, Noch einmal über die Apokryphen, EKZ 54 [1854], 294). Katechismuswahrheiten kann er schließlich als „Hauptsachen“ beschreiben, die sich klar aus der Schrift ergeben und auf denen die Einheit der Kirche ruht, während für alle andere Fragen die freie Forschung nötig sei (Ders., Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  657). 63   Möglicherweise klingt hier die Funktion des Katechimus an, die ihm nach der Konkordienformel (‚Vom summarischen Begriff ‘, BSLK, 836, 18–25) zugeschrieben wird. 64   EKZ 6 (1830), Sp.  143. 65   Ebd. 66   EKZ 6 (1830), Sp.  215; als Beispiele für diese Übereinstimmungen werden dort Calvin, Luther, Augustin, Arndt, Spener und Francke genannt.

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2  Hengstenberg und die Theologie

„Catechismuswahrheiten“ als die „Grundwahrheiten des Evangelii“67, zu deren Wahrheit jeder Christ „durch Schrift und Erfahrung“68 gekommen ist. Der kirchliche Glaube ist also keine vom Glauben der einzelnen Gläubigen abzuhebende Größe, sondern nichts anderes als der einstimmige Chor der Glaubenden. Nun habe aber jeder Christ, sofern er eine gewisse Bildung besitze, auch das Bedürfnis, das „auf höhere Autorität“, nämlich auf die Autorität der Schrift „als sicher Angenommene gründlicher und klarer einzusehen“, insofern sei er „bis zu einem gewissen Grade auch Theologe“69. Der Unterschied zwischen Laientheologen und wissenschaftlich gebildeten Theologen sei also nur ein gradueller, was man auch an solchen Studierenden und Geistlichen sehen könne, die die von Neander vorausgesetzte wissenschaftliche Bildung nur sehr bruchstückhaft vorweisen könnten. Es sei darum völlig unmöglich, daß sich der Glaube des Einzelnen unabhängig von der wissenschaftlichen Diskussion entwickle – „es sey denn, daß man durch Erfindung einer eigenthümlichen Theologensprache die ausschließlich für Theologen bestimmten Schriften den Laien unzugänglich machte.“70 Auch die Erfahrung lehre: „Die Irrlehren der Theologen bleiben ja nicht etwa in dem engen Kreise einer gelehrten Zunft eingeschlossen, sie vergiften Stadt und Land.“71 Hengstenberg besteht also auf der untrennbaren Beziehung zwischen Theologie und Glauben – im Guten wie im Schlechten. Darum fordert er, daß diejenigen Wahrheiten, die jeden einzelnen Christen zum Christen machen, auch von denjenigen, die diese Wahrheiten erklären, verteidigen und befördern sollen, vertreten und nicht bekämpft werden. Den Idealismus Neanders, daß sich die vom Laienglauben emanzipierte Theologie von alleine in Übereinstimmung mit ihm entwickle, teilt Hengstenberg nicht. Der Zeit des Rationalismus kann er im Ganzen nichts Gutes abgewinnen, auch wenn er einzelne Einsichten des Rationalismus durchaus als heilsam bewertet.72 Insbesondere sieht er die dem Rationalismus ausgesetzten Studenten nicht zur „geistigen Selbsttätigkeit“ angeregt, sondern – mangels Alternativen – zu Autoritätsglauben verdammt.73

67

  EKZ 6 (1830), Sp.  141 f.   EKZ 6 (1830), Sp.  142. 69   EKZ 6 (1830), Sp.  211; daß mit der höheren Autorität die Schrift gemeint ist, ergibt sich aus Sp.  222. 70   EKZ 6 (1830), Sp.  210. 71   EKZ 6 (1830), Sp.  143. 72   EKZ 6 (1830), Sp.  216: „Daß die lebendige Entwickelung der Theologie aus dem Rationalismus große Vortheile gezogen habe, gestehen wir zu, aber auf dieselbe Weise wie wir auch nach der Schrift annehmen, daß der Mensch durch den Sündenfall, der wie alles Böse der göttlichen Gnade zum Mittel diente, zu einer höheren Stufe der Vollendung gelangt sey“. Die Vorteile, die Hengstenberg v. a. in seinen exegtischen Arbeiten benennt (vgl. unten Abschnitt 2.3.1.2), wären seiner Ansicht nach aber auch ohne den Rationalismus zu erreichen gewesen. 73   EKZ 6 (1830), Sp.  147. 210 f. 68

2.1  Theologie und Glaube

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Aus diesem Grund faßt es Hengstenberg als besonderes Verdienst der Kirchenzeitung auf, „daß sie im Gegensatze gegen die in Folge des Rationalismus eingetretene Abtrennung der theologischen Facultäten von der Kirche, darauf gedrungen hat, es müsse an die Lehrmeinungen der Theologen noch ein anderer Maaßstab angelegt werden, als der bloß gelehrte.“74 Theologische Fakultäten sind demnach nicht zuerst als Bildungseinrichtungen des Staates zu begreifen, sondern als Einrichtungen des kirchlichen Lehramtes. Daher hat der Landesherr auch nicht nur eine allgemeine Aufsichtspflicht über sie, sondern steht als Haupt der Landeskirche in besonderer Beziehung zu ihnen und muß prüfen, ob die Fakultäten ihrer kirchlichen Pflicht nachkommen.75 Mit Einschränkung der Gewissensfreiheit habe dies nichts zu tun: „Wir wollen nicht Beschränkung der Lehrfreiheit im Allgemeinen, noch viel weniger, was fern sey, der Gewissensfreiheit; wir verlangen nur für unsere Kirche diejenige Lehr­ einheit, die in ihrem Wesen begründet liegt, deren Entziehung grade eine ungerechte Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit ist. Wir wollen namentlich die rationalistischen Lehrer nicht im Geringsten in ihrer Lehrfreiheit kränken; wir wünschen vielmehr, daß sie ihnen im allerhöchsten Grade gewährt werde – Religionsspott freilich kann selbst der Staat als solcher nicht dulden – aber nicht innerhalb der Kirche, sondern außerhalb derselben.“76

Auch wenn die Theologie der Kirche diene, habe sie noch genügend mit den von außen an sie herangetragenen Infragestellungen zu kämpfen und sie von sich aus aufzunehmen und zu behandeln, allerdings würden den werdenden Theologen dann „zugleich die Waffen dargeboten [...], mit denen dieser Kampf, dessen practische Entscheidung allein ein Werk Gottes ist, auf dem wissenschaftlichen Gebiete glücklich bestanden werden kann“77, d. h. Lehrende und Lernende kämpfen von demselben Grund aus um ihren gemeinsamen Glauben. Hengstenberg widerspricht also sowohl der prinzipiellen Unterscheidung von Theologie und Laienglaube als auch der Verselbständigung der theologischen Fakultäten gegenüber der Kirche. Damit aber geht er in der Tat hinter die Entwicklung seit Semler zurück. Es ist nicht ganz deutlich, ob sich Hengstenberg der Grundsätzlichkeit der Meinungsverschiedenheit mit Neander bewußt war. In einem Rückblick auf die Auseinandersetzung im Vorwort der EKZ von 1831 sieht er als Neanders Hauptfehler dessen Unwilligkeit an, sich mit seiner Lossagung von der EKZ auch gleichzeitig öffentlich „über die Verderblichkeit des 74

  EKZ 6 (1830), Sp.  144.   EKZ 6 (1830), Sp.  144–148. Die allgemeine Aufsichtspflicht, auf die Hengstenberg zunächst eingeht, beruht auf den Bestimmungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, II 11 § 32 (ed. Hattenhauer, 550). Im Verhältnis des Landesherren zur evangelischen Kirche komme ihr aber nicht die entscheidende Bedeutung zu. 76   EKZ 6 (1830), Sp.  148. 77   EKZ 6 (1830), Sp.  148; vgl. auch Sp.  211. 75

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2  Hengstenberg und die Theologie

Rationalismus und über seinen diametralen Gegensatz gegen das Christenthum seiner inneren Ueberzeugung gemäß auszusprechen“78 . Doch damit war der Punkt gar nicht getroffen. Zwar bekämpfte Neander den Rationalismus in seinen Schriften, doch wenn es darum ging, die Lehrfreiheit zu verteidigen, dann kämpfte er Seite an Seite mit dem Rationalismus und teilte dessen Grundüberzeugungen.79 So war es ganz natürlich, daß er im Kampf mit Hengstenberg keinen Grund sah, sich vom Rationalismus zu distanzieren. Ganz bewußt war sich Hengstenberg allerdings, mit der Art und Weise, wie in der Kirchenzeitung theologische Fragen behandelt wurden, den in solchen Dingen herrschenden stillschweigenden Konsens verlassen zu haben. Die Zeitung habe „von Anfang an die bisherige Kampfesweise verlassen; sie hatte den Kampf aus der Schule in die Kirche, aus der Wissenschaft in’s Leben eingeführt“80. Indem sie nun einzelne Theologen und ihr System angriff, habe sie endgültig „die in neuerer Zeit herrschend gewordene[...] Trennung des gelehrten und practischen Berufes“ hinter sich gelassen.81 Damit aber brachte Hengstenberg die theologische Welt gegen sich auf, wie Neanders Hamburger Verleger Friedrich Perthes treffend beschreibt:

78

  Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  23.   Zu Recht betont Selge, Neander, 252 f.: „N.[eander] war von der Wurzel her und blieb ein Mann der Frei­heit von Glauben und Wissenschaft und hielt darin den rationalistischen Lehrern und Freunden aus Hamburg, Halle und Göttingen die Treue, zu denen Gesenius gehört hatte, obwohl er in der Theologie von Anfang an einen anderen Weg gegangen war.“ Vgl. auch Neander an E. Hermann, 10. April 1830: Schneider, Neander, 111: „Ich denke, ein jeder, der meine erste Erklärung aufmerksam lesen will, muß wohl sehen können, daß ich keineswegs dem Rationalismus das Wort reden will, sonst würde ich mich ja ganz anders über das Verhältnis desselben zur evangelischen Kirche ausgesprochen haben. Es handelt sich aber hier allerdings von einem Punkt [sic!], in welchem auch ein evangelisch gesinnter Theolog mit dem Rationalisten übereinstimmen kann, von der theologischen Freiheit und der Unabhängigkeit der theologischen Entwicklung vom Staat“. 80   Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  3. 81   Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  4; vgl. auch schon Hengstenberg, Ueber das innere Verhältniß, EKZ 1 (1827), Sp.  9 : „Vor Gott gilt allerdings nicht die Lehre, die für sich betrachtet etwas todtes und werthloses ist, sondern das Leben. Aber irrig und falsch ist die unnatürliche Trennung, die man zwischen Lehre und Leben setzen will. Die menschliche Seele, in der Lehre und Leben ihren Sitz haben ist ein ungetheiltes Ganze [sic!]; derselbe heilige Geist ist es, der den Willen heiligt und den Verstand erleuchtet.[...] so wie die Lehre aus dem Leben hervorgeht, so übt sie hinwiederum auf das Leben eine rückwirkende Kraft aus.“ In dem Artikel kritisiert Hengstenberg zudem die Semlersche Unterscheidung von Privatreligion und Kirchenglaube, indem er die Meinung verurteilt, daß man auch dann noch in der Kirche bleiben müsse, „wenn die Privatüberzeugung mit der öffentlich ausgesprochenen Lehre der Kirche in geradem Widerspruche stehe.“ (ebd., Sp.  6 ); vgl. auch den Artikel ‚Über den Unterschied des Rationalismus und des Evangelischen Christenthums in praktischer Hinsicht‘. EKZ 1 [1827], Sp.  121–125, Nr.  16 sowie EKZ 10 (1832), Sp.  168 Anmerkung, wo Hengstenberg die „Losreißung der Theologie von der Kirche“ beklagt und gesteht, daß er auch selbst sich immer wieder an „das ihm und der Gemeinde Gemeinsame, den einfachen und unbedingten Glauben“ erinnern lassen müsse. 79

2.1  Theologie und Glaube

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„Hengstenbergs Auftreten hat unsere Theologen so aus aller Fassung gebracht, daß sie nicht in dem Unglauben, sondern in der Kirchenzeitung den eigentlichen Todfeind des Christentums zu sehen glauben, über Hengstenberg herfallen und Röhr und Wegscheider laufen lassen. Ich kann nicht helfen, mir kommt es vor, als wenn in manchen der wackeren Männer wenigstens vorübergehend der Professor den Christen überwältigt hätte.“82

Neander hat die in seinen Schriften gegen Hengstenberg vorgetragene Unterscheidung von (Laien-) Christ und Professor zeitlebens vertreten und die unbeschränkte Lehrfreiheit der Theologie bei jeder gebotenen Gelegenheit betont. Darum blieb er der Kirchenzeitung gegenüber grundsätzlich ablehnend eingestellt. Dennoch betonte er in allen seinen Streitschriften die bleibende Verbundenheit mit deren Herausgeber. In der Tat scheint das persönliche Verhältnis zwischen Hengstenberg und Neander trotz der aufsehenerregenden Kontroverse keinen großen Schaden genommen zu haben. Der zum engen Umfeld der beiden gehörende Kaufmann Elsner schreibt im Sommer: „die Differenz zwischen Hengstenberg und Neander mag sich auswärts anders ausnehmen. Hier sind beide Freunde und gehen wohl der Hauptsache nach auf einem Weg“. Elsner selbst sieht Hengstenberg sachlich im Recht und verurteilt die Trennung von gelehrter Theologie und praktischem Leben im Glauben auf seine Weise: „Neander sitzt immer wie im Mauseloch und weiß nicht was auf Erden vorgeht.“83 Neanders Weltfremdheit war freilich theoretisch fundiert: Auch künftig betonte er bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit der Freiheit des Katheders und die Verderblichkeit von kirchlichen Parteien sowie seine Ablehnung der als starr und unbeweglich beurteilten Orthodoxie. Allerdings sandte er bereits in der Vorrede der ‚Geschichte der Pflanzung und Leitung der christlichen Kirche durch die Apostel‘ (1832) wieder öffentlich versöhnliche Signale aus, indem er bekräftigte, daß er auch „in dem Eifer für eine bestimmte Form [...]den zum Grunde liegenden Eifer für das Wesen zu achten und zu lieben“ wisse und nie etwas mit denen gemein haben werde, „welche solchem Eifer sein Recht nicht widerfahren lassen, oder ihm gar, statt ihn mit der dem Sinn und Eifer für das Heilige stets gebührenden Achtung anzuerkennen, fremdartige Triebfedern und Absichten, mit jesuitischer Art die Gesinnung Andrer zu verdächtigen, unterschieben“84. In ähnlicher Weise brachte er noch kurz vor sei82

  Perthes, Perthes 2, 235.   Samuel Elsner an seinen Schwiegersohn (Pastor J.Ä. Funk, Lübeck), 5. Aug. 1830 als Auszug bei Henriette Funk an Bachmann, 9. Nov. 1874: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 84   Neander, Geschichte der Leitung und Pflanzung, X. Außerdem betont er, daß die wissenschaftlichen Differenzen die Gemeinsamkeit „in dem, was höher ist, als die Wissenschaft, nicht stören sollten“ (ebd., IX). Hengstenberg versteht Neanders Äußerungen im Sinne des Versuchs einer Wiedergutmachung und schreibt an Rudelbach, 12. Juli 1832: Kaiser, Rudelbach, 98: „Ist Ihnen Neanders Apostolisches Zeitalter schon zu Gesicht gekommen? Seine Äusserung in der Vorrede ist sehr erfreulich. Er möchte es jetzt gern wieder gut machen, dass er durch seinen Einfluss meine Academische Wirksamkeit so sehr geschmä83

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2  Hengstenberg und die Theologie

nem Tod zum Ausdruck, daß er sich trotz aller Unterschiede mit Hengstenberg im Glauben eins wußte.85 Umgekehrt hat auch Hengstenberg Neander während des Streits stets als „seinen theuren älteren Freund“ oder den „nach wie vor verehrten und geliebten Gegner“86 bezeichnet. Nach dessen Tod widmete er ihm einen warmen Nachruf in der EKZ: „Möge unser Ende seyn wie dieses Gerechten, dessen Leben wir stets verehrt haben, wenn wir in der Lehre glaubten nicht ihm, sondern dem Worte Gottes folgen zu müssen. Er hat in der Kirchengeschichte dadurch eine neue Bahn gebrochen, daß es ihm gegeben war überall Christum zu erblicken, auch da wo sein Bild uns nur verdunkelt und entstellt entgegentritt.“87

2.1.2  Konfessionelle Theologie? – Ein Hengstenbergbild von 1830 Der Streitschriftenwechsel zwischen Neander und Hengstenberg bildete nur einen kleinen Ausschnitt aus der viel umfassenderen Debatte, die der nicht einlert, sie meist auf diejenigen beschränkt hat, welche ganz meinen Standpunct theilen. Das wird nun freilich ebenso schwer angehen, als es ihm gelingen wird, den überwiegenden Einfluss, welchen er Schleiermacher durch seine unbedingte Empfehlung verschafft hat, zu mässigen. Aber es macht seinem Herzen Ehre, oder richtiger, es ist ein Beweis für die Kraft des Geistes Christi, dass er es auch nur wünscht. Lieb würde es mir sein, wenn Sie eine Anzeige des Buches für die K.Z. übernehmen wollten. Ich glaube, man muss ihm mit Liebe entgegenkommen und ihm zeigen, dass man Antheil an seinem Wirken nimmt. Freilich bietet auch dies Buch wieder Vieles dar, was im Geiste der Liebe gerügt werden muss.“ 85   Im Rückblick auf die Zeit der Restauration schreibt er dort, ohne Hengstenberg zu erwähnen, aber dennoch deutlich auf ihn anspielend: „Es ist eine christliche Gemeinschaft, ein christliches Zusammenwirken für gemeinsame Heilszwecke möglich, wo solche Verschiedenheiten in der Ansicht von der Stellung der Gegenwart in der kirchlichen Entwickelung zur Zukunft stattfinden, beide Theile aber darin übereinstimmen, daß sie nur von der Aneignung der Heilsthatsachen in dem Glauben an Jesus als Weltheiland die Wiedergeburt jedes Einzelnen, des Volks und der Kirche im Ganzen erwarten können; wenngleich die Einen mehr einer neuen Schöpfung entgegensehen, die sich von dem Einen Grunde aus bilden sollte, die Anderen mehr nach einer Wiederherstellung des Alten sich sehnen.“ (Neander, Jahrhundert, 252; vgl. dazu auch Ders., Geschichte, VIII). 86   EKZ 6 (1830), Sp.  2 09; Vorwort EKZ 8 (1831), Sp.  21. 87   Vorwort, EKZ 48 (1851), Sp.  19, vgl. auch Sp.  17 f.; vgl. auch die warme Erinnerung an den „selig[en] Neander, dessen Andenken im Segen bleibt, der Unzähligen den Weg zu Christo gewiesen hat, dessen hochgehaltenes Panier der ‚historische Christus‘ war“ im Rückblick auf die Universitätsgründung (Vorwort, EKZ 68 [1861], Sp.  32). – Zu beachten ist ferner, daß sich Hengstenberg trotz wiederholter Aufforderung durch E.L. von Gerlach dagegen gewehrt hat, Neanders „Nebeltheologie“, wie sie Gerlach nannte, in der EKZ öffentlich anzugreifen. Die Aufforderung zieht sich wie ein cantus firmus durch die Briefe des Jahres 1830 (Ger­lach an Hengstenberg, 21. März; 28. April; 1. Aug.; 10. Okt., 5. Nov. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Ger­lach, Ludwig v., Bogen 35.37.47.49.51). Den Unterschied zu Neander als einen grundsätzlicheren beurteilend, tadelt er Hengstenbergs Nachsicht: „Ich fürchte, daß Sie Neander, nicht zu sehr lieben, aber seine offenbaren Abweichungen von wesentlichen Wahrheiten zu sehr toleriren.“ (Gerlach an Hengstenberg, Halle 28. Apr. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 37).

2.1  Theologie und Glaube

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mal sechs Spalten füllende Artikel Gerlachs ausgelöst hatte.88 Dabei trat die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses von Professor und Christ, gelehrter Theologie und gelebtem Glauben schon sehr bald in den Hintergrund.89 Es waren zwei Themen, die schließlich – entweder getrennt oder im Zusammenhang betrachtet – die Diskussion dominierten: zum einen, ob die Regierung das Recht habe, gegen den Rationalismus auf den Universiäten einzuschreiten,90 und zum anderen, welche Bindekraft für die wissenschaftliche Theologie von den Bekenntnisschriften ausgehe. Mit diesen Themen war die Unterscheidung von Theologie und Glaube wieder zu ihrem ursprünglichen Kontext zurückgekehrt, war es doch Semlers Anliegen gewesen, die Theologie aus den Fesseln der Tradition zu befreien und sie „zugleich von fragwürdigen Ansprüchen auf religiöse Verbindlichkeiten ihrer Ergebnisse“91 zu entlasten. Die Normierung der Theologie durch die Bekenntnisschriften, wie sie im konfessionellen Zeitalter herrschend war, sollte damit beseitigt werden. Doch es waren nicht nur sachliche Gründe, die die Frage nach der Bekenntnisbindung der Theologie ins Spiel brachten. Auftrieb erhielt das Thema in erster Linie durch das anstehende Augustana-Jubiläum im Juni 1830. So ist es ganz typisch, daß Neander seine Erklärung im Juni noch einmal neu erscheinen ließ und – erst jetzt – im Anhang die Frage nach der Verbindlichkeit der konkreten Bekenntnisnorm stellte, indem er auf die CA einging.92 In der Folge drehte sich eine ganze Reihe von Schriften und Artikeln um dieses Thema, von denen die kurze Abhandlung von Daniel von Coelln und David Schulz ‚Ueber theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Be88   Bachmann bietet eine Bibliographie von fast 60 selbständigen Schriften, die im Zusammenhang mit dem Hallischen Streit erschienen sind, zudem nennt er eine Vielzahl von Zeitungsartikeln, die sich wahrscheinlich sogar noch vermehren ließe (Bachmann 2, Anhang, 45–56). 89   In der EKZ erscheinen jedoch im Jahr 1830 noch eine ganze Reihe von Artikeln, die sich mit dem Verhältnis von Laien und wissenschaftlicher Theologie beschäftigen, EKZ 6 (1830), Sp.  2 01–205, Nr.  26 (‚Schreiben eines Laien [...] über die Erklärung des Herrn Dr. Neander [...]‘). Sp.  225–227, Nr.  29 (‚Bemerkungen eines Laien über die Lehrfreiheit in der Evangelischen Kirche‘). Sp.  305–310, Nr.  39 (‚Ueber die Rechte der Laien in Glaubenssachen, nach Protestantischen Grundsätzen‘, gez. Dr. E. S-s = Sartorius). Sp.  625–630, Nr.  79 (‚Ueber das Verhältniß der Laien zu dem durch die Hallische Angelegenheit neu angeregten Kampfe‘). 90   Vgl. dazu v. a. Bretschneider, Sendscheiben an einen Staatsmann über die Frage: ob evangelische Regierungen gegen den Rationalismus einzuschreiten haben, Leipzig 1830; auch in Neanders Beiträgen und Hengstenbergs Antworten spielte diese Frage bereits eine nicht unwichtige, wenn m.E. auch nicht die entscheidende Rolle. 91   Hornig, Semler, 273. Vgl. auch Beutel, Auf klärung, 394–396. 92   Vgl. Erklärung (2. Aufl.), 35–40. Auch das Bekenntnis kann für Neander als äußere Norm die Theologie nicht binden, vielmehr muß sich in ihr von selbst die Grundwahrheit des Bekenntnisses durchsetzen, die Neander in CA 4 ausgedrückt sieht. Im Ganzen bleibe das Bekenntnis aber als menschlicher Buchstabe unvollkommen. – Vgl. zur Diskussion über die Verbindlichkeit der CA im Umfeld ihres Jubiläums Mehlhausen, Wirkungsgeschichte, bes. 103–118.

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2  Hengstenberg und die Theologie

schränkung durch symbolische Bücher‘ einen besondern Rang einnimmt, weil durch sie auch Schleiermacher sich genötigt sah, in die Diskussion einzugreifen.93 Was Hengstenberg angeht, fällt in dem Zusammenhang nun ein Doppeltes auf: Erstens hat sich Hengstenberg in dieser Debatte mit keinem eigenen Beitrag mehr zu Wort gemeldet. Zweitens spielt in Hengstenbergs Auseinandersetzung mit Neander die Frage nach der Rolle der Bekenntnisschriften nur eine untergeordnete Rolle. In Hengstenbergs erster ‚Gegenerklärung‘ ist – im Unterschied zu Gerlachs Artikel94 – nicht davon die Rede, daß die Lehre durch die Bekenntnisschriften normiert sein soll, vielmehr geht Hengstenberg nur von der Voraussetzung aus, daß die Einheit der Lehre, die eine Kirche zur Kirche mache, in den Bekenntnisschriften niedergelegt sei.95 Derjenige aber, der die Lehre der Kirche „im Wesentlichen für irrig halte“ oder offen seinen „Gegensatz gegen die Kirchenlehre bekenne[...]“, könne insofern kein Lehrer künftiger Diener der Kirche sein, als die Studierenden das Recht hätten, „von ihren Lehrern zu verlangen, daß sie ihnen die reine in der Kirche geltende Lehre rein vortragen“.96 Auf die Bekenntnisschriften selbst kommt es Hengstenberg in dieser Argumentation nicht an, sondern nur auf die Einheit in der Lehre, die als Übereinstimmung in den „Grundwahrheiten des Evangelii“ in der Schrift, im Katechismus, aber auch in den Bekenntnisschriften ihren Ausdruck findet.97 Es war nun Neander, der in seiner Schrift vom 7. März erstmals eine konkrete Bekennt­nisschrift ins Spiel brachte. An Luthers Vorrede zu den Visitationsartikeln von 1527, „zu der ersten Schrift, die als eine Art symbolischer in der evangelischen Kirche entstand“98 , zeige sich, daß auch Luther das ausformulierte Bekenntnis als menschlich und daher irrtumsfähig betrachtet habe. Es komme daher für den Landesherrn nicht als Maßstab in Betracht und könne die theologische Lehre nicht beschränken. Selbstverständlich weist Hengstenberg die hi­ storische Interpretation zurück, nach der schon die Reformatoren eine – von Neander immer als tot bezeichnete – „unwandelbare Einheit der überlieferten Lehre“99 nicht gewollt hätten, indem er – zu Recht – auf die Rolle der Bekennt93   Von Coelln / Schulz, Lehrfreiheit; Schleiermacher, An die Herren DD. D. v. Cölln und D. Schulz, KGA I,10, 395–426; vgl. dazu Ohst, Historische Einführung, ebd., LXXXVIII–CXII und v. a. Ders., Schleiermacher, bes. 158–174. 94   Gerlach betont am Ende seines Artikels, daß mit dem Lehrprivileg der theologischen Professoren „die Pflicht der reinen Lehre nach den Bekenntnißschriften der Kirche verbunden seyn muß“ (EKZ 6 [1830], Sp.  47). 95   Vgl. EKZ 6 (1830), Sp.  146. 96   Die Zitate aus EKZ 6 (1830), Sp.  143.147.149. 97   Die Bekenntnisschriften werden in dem Artikel außer in den in den beiden vorhergehenden Anmerkungen genannten Stellen noch dreimal erwähnt: EKZ 6 (1830), Sp.  144 als die Grundsätze einer Kirchengemeinschaft; Sp.  145 als Quelle dafür, daß Kircheneinheit qua Lehreinheit kirchlicher Grundsatz sei und Sp.  147 im Zusammenhang damit, daß die Theologen die Kirche nach Schrift und Bekenntnis zu richten hätten. 98   Neander, Erklärung (2. Aufl.), 21 f. 99   Neander, Erklärung (2. Aufl.), 21.

2.1  Theologie und Glaube

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nisse in den Kirchenordnungen und auch in Luthers eigener Praxis der Pfarrstellenbesetzung aufmerksam macht.100 Allerdings unternimmt Hengstenberg keinen Versuch, diese Praxis zu aktualisieren, es kommt ihm nur auf den Grundsatz an, daß für die Reformatoren die Einheit der Lehre für die äußere Kirche unabdingbar war und sie die „wesentlichen Lehren des Christenthums, wie sie in den Bekenntnißschriften niedergelegt sind,“ für unabänderlich hielten, während „Irrthümer in Nebensachen“101 in den symbolischen Büchern von rechtgläubigen Kirchenlehrern nie bestritten wurden. Daran wird deutlich: Hengstenberg hat in der Kontroverse mit Neander kein Interesse, irgendeine Sammlung von Bekenntnisschriften, gar in ihrem ganzen Umfang oder in wortwörtlicher Bindung zur Maßgabe der rechten Theologie zu machen. Es geht ihm lediglich darum, daß es möglich sein muß, dort, „wo die Abweichung von dem Lehrbegriffe der Kirche eine so totale, eine so klare ist, daß gar kein Irrthum des Verstandes statt finden kann“102 , einem theologischen Lehrer das Lehramt zu entziehen. Es kommt ihm, um den Begriff noch einmal aufzunehmen, lediglich auf die Übereinstimmung in den „Grundwahrheiten“ an. Daß es sich bei der Bindung an das Bekenntnis um eine buchstäbliche, äußerliche Verpflichtung handle, hat Hengstenberg hier wie auch später nie vertreten.103 Deutlich wird jedoch, daß Hengstenberg 1830 noch einen ganz unbestimmten Bekenntnisbegriff gebrauchte; auf konkrete, historische Bekennt­nis­schriften nahm er so gut wie gar keinen Bezug.104 Das Bekenntnis erscheint vielmehr als die Bündelung der zentralen Wahrheiten der Schrift, als die Katechismuswahrheiten. Davon, daß Hengstenberg „in den geistigen Auseinandersetzungen und Kämpfen, die ihren ersten Höhepunkt in der ‚Halleschen Sache‘ und ihren Folgen hatten, endgültig zum Konfessionalisten geworden“105 sei, kann daher gar keine Rede sein. 100

  EKZ 6 (1830), Sp.  222 f.   EKZ 6 (1830), Sp.  222 mit Anm. 102   EKZ 6 (1830), Sp.  224. 103   Der Begriff „Buchstabenknechtschaft“, der von den Verfechtern der Lehrfreiheit in diesem Zusammenhang stereotyp verwendet wird, ist in erster Linie ein Kampf begriff. Neander greift gerne auf ihn zurück (z. B. Erklärung [2. Aufl.], 15), hat darin aber ein Vorbild in Schleiermacher, der in der Auseinandersetzung mit dem Kreis um die EKZ den Kampf zwischen Geistherrschaft und Buchstabenknechtschaft ausmachen will (zahlreiche Belege bei Ohst, Schleiermacher, 145–152); vgl. auch unten 2.2.5. 104   Typisch ist die pauschale Rede von der „reinen evangelischen Lehre“ (EKZ 8 [1830], Sp.  12), dem „Mittelpunkt des evangelischen Lehrbegriffes“ (EKZ 25 [1839], Sp.  665) bzw. „dem Lehrbegriffe unserer Kirche“ (EKZ 8 [1831], Sp.  397) sowie den „einfachen Grundwahrheiten des Christenthums“ (ebd.). Daß hinter diesen Formulierungen eine bestimmte Bekenntnishermeneutik steht, wird unten 3.2.2 gezeigt. 105   Wulfmeyer, 77, vgl. auch 57.67.73 und passim. Wulfmeyer, der Hengstenbergs diffuse Redeweise gar nicht wahrnimmt, kann für seine Sicht auch keine Quellen aufweisen. Er verbucht vielmehr die Aufsätze von Sartorius und Guericke zum Augustanajubiläum in der EKZ so, als wären sie von Hengstenberg (vgl. zu diesem methodischen Problem oben im 101

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2  Hengstenberg und die Theologie

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß das Jahr 1830 mit dem Hallischen Streit und dem Augustana-Jubiläum eine wichtige Etappe bei der Ausbildung des Konfessionalismus bildete,106 nur: An Hengstenberg läßt sich das nicht nachweisen.107 Die Theologie, wie sie sich in ihrer Grundausrichtung im Streit mit Neander zu erkennen gibt, läßt sich darum auch nicht als konfessionell bezeichnen. Am ehesten paßt die Bezeichnung „kirchliche Theologie“108 , wenn man sie in dem oben beschriebenen unbestimmten Sinne versteht: als eine Theologie, die den Grundkonsens der wahren Kirche zu allen Zeiten festhält, nicht allerdings im Sinne einer auf den Zweck der Kirchenleitung hin ausgerichtete Theologie im Sinne Schleiermachers.109 Aber auch dieser – im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gerne gebrauchte – Begriff schillert.110 Nicht umsonst spricht Hengstenberg im Blick auf das Gegenüber zur rationalistischen Theologie zunächst polemisch einfach nur von „evangelischer“ oder „christlicher“ Theologie.111 Welche Bezeichnung aus heuEinleitungsteil, 3.). Gegen Wulfmeyer wendet sich zu Recht auch Ernst, Auferstehungsmorgen, 124. 106   Das tat es schon allein dadurch, daß man sich wieder mit der CA befaßte, vgl. dazu das anschauliche Bild, das M. Kähler von seinem Vater im Jahr 1830 zeichnet, dem sich entnehmen läßt, daß man in jener Zeit Theologie studieren konnte, ohne auch nur einmal die Augustana in die Hand genommen zu haben (Kähler, Geschichte, 148 f.). Wichtig war das Jahr 1830 vor allem aber auch wegen der Separierung der Breslauer Lutheraner – wie wenig Konfessionalist Hengstenberg anfangs war, zeigt die distanzierte Haltung, die Hengstenberg ihnen gegenüber einnahm (vgl. dazu unten 3.2.1). 107   Es ist bezeichnend, daß Gerlach Anfang Juni noch befürchtet, in der EKZ werde gar kein Artikel zum Augustanajubiläum erscheinen: „Wird die EKZ das Jubiläum der Augsb[urger] Conf[ession] vorüber gehen lassen, ohne etwas in Bezug darauf zu geben?“ (Gerlach an Hengstenberg, Halle 4. Juni 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 41). Die Befürchtung erwies sich dann aber als unbegründet, am 16. und 19. Juni erschien der Festaufsatz aus der Feder von E.W.Ch. Sartorius unter dem Titel ‚Die Augsburgische Confession 1530 und 1830‘ (vgl. dazu auch Wulfmeyer, 67–70). Es zeigt sich daran, daß Gerlach, der sehr viel stärker die rechtliche Seite in der Auseinandersetzung mit den Rationalisten im Auge hatte, dem Bekenntnis als Rechtsurkunde von Anfang an einen höheren Stellenwert einräumte. 108   So z. B. Bachmann 2, 255; vgl. dazu unten 2.4.4. 109   Mit der Bezeichnung „kirchlich“ ist also weniger der Zweck als vielmehr der Inhalt der Theologie bezeichnet. Darüber hinaus bildet „kirchlich“ hier nicht den Gegensatz zu „akademisch“, wie es bei G. Calixt und in Abwandlung bei Semler der Fall war (vgl. Wallmann, Theologiebegriff, 154–161). 110   Kahnis beispielsweise ordnet Hengstenberg im Unterschied zur vermittelnden der kirchlichen Theologie zu, die für ihn aber gleichzeitig die konfessionelle ist (Kahnis, Protestantismus, 210.247–253) und andern­orts mit der „gläubigen Theologie“ (Kahnis, Grundwahrheiten, 126) gleichgesetzt wird. Mit „gläubiger Theologie“ wird aber zumeist – und auch bei Kahnis, Grundwahrheiten, 4 – die Vermittlungstheologie bezeichnet. Zu Recht weist Traub, Kirchliche Theologie, darauf hin, daß im 19. Jh. ihrem Selbstverständnis nach so gut wie alle Theologen ‚kirchliche Theologen‘ waren – allerdings verstanden sie darunter sehr Verschiedenes; vgl. auch Hirsch, Geschichte 5, 171. 111   So programmatisch in seinem ersten Aufsatz: Ueber das innere Verhältniß, EKZ 1 (1827), v. a. Sp.  42 f.

2.1  Theologie und Glaube

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tiger Sicht angemessen ist, wird sich erst im weiteren Verlauf der Untersuchung feststellen lassen.112 Bei seinen zeitgenössischen Gegnern jedoch war Hengstenberg von nun an als Verfechter der Katechismuswahrheiten verschrieen. Die Behauptung, im Dienst der Kirche stehende theologische Lehrer, welche die grundlegenden Lehren des Katechismus ablehnten, usurpierten ihr Amt, erntete reichlich Spott. 1831 erschien in Röhrs Kritischer Prediger-Bibliothek ein Beitrag mit dem Titel ‚Ausdeutung des sechswöchentlichen Katechismus-Unterrichts, den Irrlehrern dieser Zeit ertheilt von der Redaction der evangelischen Kirchenzeitung‘113. Dabei handelt es sich um die bissige Erläuterung einer umlaufenden polemischen Lithographie gleichen Titels. Die Beschreibung der Lithographie ist schon lange bekannt,114 auch gelang es in jüngerer Zeit, die am Druck und der Verbreitung des Bildes beteiligten Personen aufzudecken,115 den oben dargestellten konkreten Sitz im Leben der Karikatur – Hengstenbergs Auseinandersetzung mit Neander und sein Verweis auf die Katechismuswahrheiten – kannte man aber bislang nicht. Darüber hinaus konnte man bisher nur auf die Beschreibung des Bildes zurückgreifen, da die Lithographie selbst nicht mehr vorlag.116 Im Zuge der Recherchen zu dieser Arbeit, ist es aber gelungen, das Spottbild in den Beständen der Einblattdrucke der Staatsbibliothek Berlin ausfindig zu machen.117 Dort war es zwar all die Jahre über mit dem korrekten Titel verzeichnet, allerdings unter einer falschen Jahreszahl („um 1843“) abgelegt. Neben den Entstehungshintergründen steht nun also auch das Bild selbst vor Augen (siehe Anhang): Die Lithographie zeigt einen Hörsaal, in dem Hengstenberg in Dominikanerkutte hinter dem Katheder steht; hinter seinem Rücken hängt das Bild eines mit der Tiara gekrönten Tieres an der Wand118 , über seinem Kopf schwebt eine Fahne, auf der die Eingangsworte der Bannandrohungsbulle gegen Luther abgedruckt sind. Zu seiner Rechten steht ein Regal, dessen zweites Brett mit „Hengstenbergii Opera Omnia“ überschrieben ist, darunter aber nur einen einzigen Band der ‚Christologie‘ enthält. Die anderen Bretter sind vorwiegend mit erbaulicher Literatur – Missionsberichten und Traktaten – sowie Exemplaren der EKZ angefüllt. Dazwischen findet sich der mit einer Kette und einem 112

  Siehe dazu unten 2.3 und den Schlußteil.   Kritische Prediger-Bibliothek 12 (1831), 756–772; der Beitrag erschien daneben noch in anderen Zeitschriften (vgl. Vincent, Wegscheider, 259, Anm.  694). 114   Sie wird schon in Bachmanns Bibliographie zum Hallischen Kirchenstreit genannt (Bachmann 2, Anhang, 47, Nr.  12). 115   Vincent, Reuss, 152 f.; Ders., Wegscheider, 255–262; Ders., Leos „geistige Metamorphose“. 116   Vgl. Vincent, Wegscheider, 259: „Diese Lithographie ist nicht mehr auffindbar.“ 117   SBB PK, Sig.: Yb 15352m. Für hilfreiche Hinweise danke ich Herrn Sven Schlünzig. 118   Ursprünglich war es ein gekrönter Teufel, er wurde aber in einen Eselskopf abgeändert, vgl. Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 275 f. mit Anm.  78. 113

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2  Hengstenberg und die Theologie

Schloß gesicherte Kommentar Gesenius’ zum Propheten Jesaja. Vor dem Regal sitzt ein junger Mann, der in ein Kollegheft schreibt. Wie alle Personen ist er mit einer Zahl versehen, der am Rand der Lithographie einige Buchstaben aus dem Namen der auf diese Weise leicht zu identifizierenden Person zugeordnet sind. Er ist zudem mit dem Beinamen „Credulus“ versehen – es handelt sich um den Hengstenbergschüler Hävernick, dem nachgesagt wurde, seine Kollegmitschriften aus Vorlesungen von Gesenius und Wegscheider an Gerlach weitergegeben zu haben; 119 vor ihm stehen zwei gestikulierende jüngere Herren, ganz offensichtlich Tholuck und Gerlach.120 In der Mitte des Bildes befindet sich ein kleiner Scheiterhaufen, auf dem „Ad maiorem Dei gloriam“ Schriften von Wegscheider, H. Zschokkes ‚Stunden der Andacht‘, die Schullehrerbibel von Dinter, der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe und ein mit dem Titel ‚Ueber Weissagungen‘ versehenes Buch von Schleiermacher verbrannt werden; alle Titel nehmen auf Artikel aus der EKZ aus den Jahrgängen 1829/30 Bezug.121 Auch die Herren im Auditorium sind eindeutig zu entschlüsseln: Dort sitzen und stehen Wegscheider, Gesenius, Röhr und Bretschneider – letzterer im Talar – sowie Dinter, Schleiermacher, Goethe und Krug.122 Auf einer Wolke in langen Gewändern schweben Schiller und Tzschirner von rechts in das Bild. Aus dem Hintergrund werfen Ullmann und K.F.A. Fritzsche Schriften in Richtung Katheder. Darüber hinaus sind in dem an vielen weiteren Details reichen Bild Porträts des Ketzermeisters Konrad von Marburg (gest. 1233) und des In119   Tatsächlich stammten nur mündliche Informationen von Hävernick (Ernst, Auferstehungsmorgen, 96–98; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 132; Bachmann 2, 207) – möglicherweise hat auch erst die Karikatur für die Verbreitung des anderslautenden Gerüchtes gesorgt. 120   In Gerlachs Jacke steckt ein mit „BRE“ [= Bretschneider] beschriftetes Heft, unter dem Arm trägt er ein Konvolut „Contra Gerlach & Consorten“, und das als Sprechblase fungierende Blatt in seiner Hand sagt: „Herr Bruder, der Credulus hat mich doch betrogen und ich falle meinen Collegen in die Hände“; Tholuck äußert: „Wir sind natürlich ganz einig, Herr Bruder, doch kommt man allmählig weit sicherer zum Ziel.“ 121   Vgl. EKZ 4 (1829), Sp.  145–149.153–157.161–165.225–238.305–309.313–317, Nr.  19– 21.29 f.39 f. (‚Ueber die Stunden der Andacht [...]‘); 5 (1829), Sp.  521–526.529–533.537– 540.545–550, Nr.  66–69 (über Wegscheiders ‚Institutiones‘); EKZ 5 (1829), Sp.  769– 775.777–782.785–790.793–798, Nr.  97–100 (‚Ueber Schleiermacher‘, s. dazu unten 2.2.1 mit dem Exkurs); 6 (1830), Sp.  73–78.81–92, Nr.  10–12 (‚Briefwechsel zwischen Schiller und Göthe‘); ebd., Sp.  153–158.161–164, Nr.  2 0 f. (‚Dinter’s Leben [...]‘), vgl. auch 2 (1828), Sp.  9 –12.17–22.25–29.33–37.41–44, Nr.  2 –6 (‚Dinter und seine Schullehrer-Bibel‘). Außerdem wird ein Bild von E.G.A. Böckel, Hauptpastor an der Jakobikirche in Hamburg (s. Merzdorf, ADB 2, 769) verbrannt, dessen Augustanapredigten in der EKZ im September 1830 besprochen wurden (EKZ 7 [1830], Sp.  609–613.617–622, Nr.  77 f.) und der schon davor, im Mai 1830, einen Streit mit Tholuck im Intelligenzblatt der Hallischen ALZ (s. Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 274 mit Anm.  68) ausfocht. 122   Von links nach rechts, bei Letzterem handelt es sich um Wilhelm Traugott Krug. Vgl. auch die Beschreibung des Bildes durch Leo an Reuss, Rudolstadt 15. Sept. 1830: Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 274 f. und in Reuss’ Lebenserinnerungen bei Vincent, Reuss, 152 f.

2.1  Theologie und Glaube

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quisitors Jakob von Hoog­straeten (gest. 1527) an den Hörsaalwänden zu finden. Die Front der Zuhörerbänke wird von den Bibelstellen Joh 8,32 und Eph 4,15 geziert.123 Über dem Bücherregal hängt zudem eine Europakarte, die nur die Orte Berlin, Halle, Herrnhut und Rom verzeichnet. Sie sind durch eine Straße verbunden und sollen den Zielpunkt der „pietistischen“ Machenschaften, Rom, aufweisen.124 Die Ausdeutung in Röhrs Kritischer Prediger-Bibliothek, durch die das Bild bekannt wurde, ist fast noch polemischer als das Bild selbst: Hengstenberg stehe, so heißt es darin, „mit gesenktem Haupte, docentenartig vorgeworfenen Armen und mit Augen da, in deren stierendem Blicke weniger das Feuer einer überirdischen Erleuchtung, als die Kälte eines über Verkehrtem brütenden Dumpfsinnes sichtbar ist, und überschüttet die gegenüber sitzende Schaar seiner Katechismus-Schüler mit den Schätzen der Weisheit, welche ihm von den äußerst gespaltenen Lippen herabgährt.“125

Die Traktate werden als „erbaulich-verdummend[...]“ bezeichnet, die bei den Verlegern Neanders, Tholucks und Hengstenbergs – u. a. Perthes und Oehmigke – verlegten Schriften pauschal als „fromme[r] Unsinn[...]“ abqualifiziert. Hengstenberg und den Seinen wird „religiöser Fanatismus“ und „ehrgeizige[r] Dünkel“ unterstellt, ja sie werden als „die gefährlichsten Feinde“ des gereinigten Glaubens der Protestanten dargestellt. Wer die Karikatur hergestellt hat, weiß man nicht. Allerdings ist bekannt, wer ihren Druck und ihre Kommentierung veranlaßt hat: Es war der Hallenser Historiker Heinrich Leo, der zu dieser Zeit noch den Auf klärern nahestand,126 123   Joh 8,32: „und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“; Eph 4,15: „Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe [...]“. 124   Die Behauptung, die erwecklichen Kreise seien als „Agenturen des römischen Hofs“ (Weidemann, Pietisten, 7) zu betrachten, gehört zu den stehenden Topoi der Polemik gegen die Erweckten ebenso wie ihre Bezeichnung als Jesuiten (vgl. z. B. Vincent, Wegescheider, 402 und 381, Anm.  1024). Vgl. auch Wegscheiders Aussage, der Weg führe über das (erweckte) Genf nach Rom (Wegscheider an Reuss, Halle 29. Dez. 1833: ebd., 393). Schon 1828 nimmt Hengstenberg die Polemik der Gegner in einem Brief an Tholuck auf, indem er ironisch sich und Tholuck zur „Congregation“ der „protestantischen Jesuiten“ zählt (Hengstenberg an Tholuck, Berlin 8. März 1828: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 122). 125   Kritische Prediger-Bibliothek 12 (1831), 758 f. – die folgenden Zitate ebd., 759 f.772. 126   Vgl. aber Leo an Reuss, Halle 30. Juni 1830: Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 267 f.: „Ohngeachtet nun mein Rationalismus um ein gutes Theil verschieden ist von dem des Mannes mit den Waßerstiefeln, ich meine des Herrn Dr. Wegscheider [...].“ und Leo an Reuss, Rudolstadt, 15. Sept. 1830: ebd., 273: „Wir Hegelianer stehen in dieser Sache mit den Rationalisten zwar gleich gegen die Pietisten [...], stehen aber doch im eigentlich dogmatischen und vollends in kirchlich-politischen Ansichten zu fern um ganz aus ihrem Intereße herausschreiten und uns in ihr Intereße ganz herein versetzen zu können.“ und dazu Vincent, ebd., 258 f. Schon im März hatte Leo einen bissigen Artikel ‚Ueber die neueste religieuse Parteiung in Preußen‘ in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, in dem unter anderem Spottverse über Hengstenberg zitiert wurden, z. B.: „Freund! Wie fang’ ich es an, den störrigen Hengst zu bezwingen? – Gibst du ihm Hallisches Salz, gleicht er dem Ochsen am Berg!“ (s. Vincent, Wegscheider, 242–244).

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2  Hengstenberg und die Theologie

wenig später aber selbst Anschluß an erweckte Kreise fand127 und schließlich einer der treuesten Mitarbeiter der in der Lithographie so verspotteten EKZ wurde.128 Am 30. Juni 1830 berichtete Leo dem Straßburger Alttestamentler Eduard Reuss, ihm sei besagte Zeichnung, „darstellend den Mann von der Redaction der evangelischen Kirchenzeitung, wie er den Gegnern [...] Catechismus Unterricht ertheilt“, angeboten worden.129 Eine Veröffentlichung in Halle sei aber schwierig, da man aufgrund der großen Ähnlichkeit der gezeichneten Personen einen „Injurienprozeß“ nach preußischem Recht befürchten müsse, der „der antipietistischen Sache außerordentlich schaden würde“130. Daher bat er Reuss um Auskunft darüber, ob sich in Straßburg ein Buch- oder Kunsthändler finden lasse, der den Druck der Zeichnung übernehme, und wie sich die Rechtslage nach französischem Recht gestalte: Ob man im Falle einer Anzeige die Quelle der Zeichnung nennen müsse, und wenn nicht, ob gleichwohl eine Geldstrafe zu befürchten sei, und wenn ja, wie hoch diese sein würde. „Es würden sich nämlich allenfalls Mittel finden laßen eine etwaige Geldstrafsumme von hier aus für den äußersten Fall zu garantiren.“131 Reuss selber dürfte aber als Auftraggeber des Druckes nicht bekannt werden, da man seine Verbindungen nach Halle kenne. Käme Straßburg als Druckort nicht in Frage, würde man sich in den Niederlanden umsehen. Zudem ist dem Brief zu entnehmen, daß Leo Reuss nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen „von älteren Freunden“ des Straßburger Alttestamentlers, also offensichtlich Wegscheiders und Gesenius’, um diesen Gefallen bittet.132 Reuss gab aus Straßburg grünes Licht für die Unternehmung. Aus dem Briefwechsel zwischen Leo und Reuss ergibt sich, daß im Laufe des nächsten Quartals Druck und Verteilung der Lithograhie generalstabsmäßig geplant wurden: Sie sollte eine Auflage von 800–1000 Abzügen haben und 16 Gulden preußischer Courant oder zweidrittel Taler kosten. Ein Leipziger Buchhändler sollte die Verteilung übernehmen, dem müßten – nach vorhergehender geheimer Absprache – die Drucke aber unaufgefordert zugehen. Bei schneller Verteilung könne man möglicherweise dem Verbot im Falle eines Prozesses zuvorkommen, ansonsten müßten die Stücke unter der Hand verkauft werden, was aber dem Absatz nicht schaden dürfte: „Sehr viele haben sich Sammlungen aller in

127   Vgl. Vincent, Leos „geistige Metamorphose“ und zu Leos Vita von Maltzahn, Leo, 18–38. 128   Vgl. Kramer, Hengstenberg, 229–243 und das Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  2 0–44, Nr.  3–6 zum gemeinsamen Kampf Leos und Hengstenbergs gegen die „Hegelingen“. 129   Leo an Reuss, Halle 30. Juni 1830: Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 269. 130   Ebd., 270. 131   Ebd. 132   Ebd.; vgl. Vincent, ebd., 256 und 275, wo Wegscheider als „der eigentliche heimliche Auftraggeber“ bezeichnet wird.

2.1  Theologie und Glaube

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der pietistisch-rationalistischen Angelegenheit erschienenen Piecen angelegt“ und würden auch im Falle eines Verbots zugreifen.133 Die Zusendung des Druckes verzögerte sich allerdings. Leo war nämlich auf den Gedanken gekommen, gleichzeitig mit der Zeichnung einen „noch bißigeren Text[...] von etwa zwei Druckbogen“134 nach Straßburg zu senden und dort drucken zu lassen. Da ihm dies aber nicht gelingen wollte, bat er schließlich Reuss um die Abfassung einer entsprechenden Deutung des Bildes mit dem Hauptzweck, „Hengstenberg zu drangsaliren“.135 Außerdem gab es noch Probleme mit der Versendung, da der Postdirektor in Halle ein Bruder des „Pietisten“ Göschel war und dadurch die Gefahr bestand, daß man nach Auftauchen der Zeichnung möglicherweise mit Erfolg danach fahnden würde, wer ein solches Stück nach Straßburg aufgegeben habe. Leo nutzte daher eine Ferienreise nach Thüringen, um das Bild am 15. Sept. 1830 von Rudolstadt aus auf den Weg zu bringen.136 Es wurde schließlich Sommer 1831, bis die Drucke in Halle verteilt werden konnten und die – am Ende tatsächlich von Reuss verfaßte – bissige ‚Ausdeutung‘ erschien.137 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Hallische Angelegenheit, nicht zuletzt durch die Julirevolution, schon lange an Aktualität verloren, und Leo begann sich bereits den zuvor verachteten „Pietisten“ zuzuwenden.138 Gleichwohl hat er allem Anschein nach die Unternehmung auch dann nicht auffliegen lassen, und leider verraten die Quellen nicht, ob er sie später Hengstenberg gebeichtet hat. Sowohl der Titel der Lithographie als auch die Tatsache, daß sie Leo erst zu einem Zeitpunkt angeboten wurde, als bereits die Diskussion zwischen Hengstenberg und Neander um die Stellung der wissenschaftlichen Theologen entbrannt war, zeigen unzweifelhaft, daß sie sich Hengstenbergs Rede von den Katechismuswahrheiten in seiner Erklärung gegen Neander verdankt. Dieser Zusammenhang wurde bisher nicht gesehen. Wahrscheinlich waren bereits Leo und Reuss nicht mehr darüber im Bilde. Leo verfolgte den Streit als Nichttheologe ohnehin aus einer gewissen Distanz,139 und Reuss war geographisch zu weit entfernt, um genauen Einblick in die Diskussion haben zu können. Seine ‚Ausdeutung‘ orientiert sich daher auch ganz an dem in der Zeichnung Darge133

  Leo an Reuss, Halle 18. Aug. 1830: Vincent, ebd., 271 f. – das Zitat: 272.   Ebd., 272. 135   Leo an Reuss, Rudolstadt 15. Sept. 1830: ebd., 273. 136   Ebd., 273 f. – In diesem Brief erläutert Leo zudem die Details der Zeichnung. 137   Mitte Mai war sie noch nicht in Halle angekommen, vgl. Vincent, Wegscheider, 261 Anm.  700. 138   Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 260–262; Vincent, Wegscheider, 261 f. 139   Er deutete das Bild daher folgendermaßen: „Die Ev. Kirchenz. hat einmal geäußert die ration. Profeßoren müßten sich erst noch im Katechismus unterrichten laßen, und bei den Katholiken muß dem wirklichen Uebertritt ein mehrwöchentlicher Katechismusunterricht vorausgehn. Dies sind die Motive, welche der Auffaßung des Blattes zu Grunde liegen.“ (Leo an Reuss, Rudolstadt 15. Sept. 1830: Vincent, Leos „geistige Metamorphose“, 273 f.). 134

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2  Hengstenberg und die Theologie

stellten und vermittelt nicht den Eindruck, als wäre er ein intimer Kenner der Diskussion um die „Hallische Sache“ gewesen. Auch sind ihm wichtige Züge der Karikatur entgangen: So ist es auffällig, daß Hengstenberg extrem jung, ja fast knabenhaft dargestellt wird; dem entspricht, daß ihm Wegscheider ein Blatt mit der Aufschrift: „Bleibe zu Jericho bis dein Bart gewachsen ist. 2 Sam 10,5“ entgegenhält. Auch die anderen Vertreter der „pietistischen“ Fraktion erscheinen jugendlich, während die Herren im Auditorium durchweg einen älteren und ehrwürdigen Eindruck machen. Damit brachte der Karikaturist zutreffend zum Ausdruck, daß es sich bei den Erweckten um eine neue, jüngere Generation handelte, die sich der Generation ihrer Lehrer selbstbewußt entgegenstellte. Beide, die Karikatur wie ihre Ausdeutung, geben aber sehr anschaulich wieder, wie man Hengstenbergs Auffassung des Verhältnisses von Glaube und Theologie in den Reihen der Gegner in Halle und anderswo wahrgenommen hat. Sie prägten das Bild von Hengstenberg als einem päpstlichen Großinquisitor, der seine Gegner vom Katheder aus belehrt und die Schriften Andersdenkender – und vielleicht nicht nur deren Schriften? – ungerührt dem Feuer zum Fraß überantwortet.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“ Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, sind Hengstenbergs Theologie und Frömmigkeit auf dem Boden der Berliner Erweckungsbewegung erwachsen, gleichwohl kritisierte er schon früh die subjektivistische Färbung der Theologie, wie sie ihm insbesondere bei dem jungen Tholuck begegnete. Bei seinem Einspruch gegenüber Tholuck handelte es sich indessen nicht nur um eine mehr oder weniger bedeutende Modifikation der Erweckungstheologie, sondern Hengstenberg stellte sich damit grundsätzlich gegen jeden Versuch, Theologie vom menschlichen Subjekt aus zu entwickeln. Sein offenbarungstheologischer Standpunkt mußte daher mit allen Gestalten von Theologie in Konflikt geraten, die sich um eine positive Integration subjektivitätstheoretischer Erkenntnisse bemühten, um auf diese Weise die Kluft zwischen theologischem Denken und moderner Selbsterfahrung zu schließen. Schleiermacher hatte hier, indem er in seiner Dogmatik bei der religiösen Subjektivität ansetzte, bahnbrechend gewirkt. Eine Auseinandersetzung Hengstenbergs mit seinem Ber­liner Fakultätskollegen schien daher sachlich unabwendbar. Allerdings ist auffällig, daß Hengstenberg erst nach Schleiermachers Tod die offene Konfrontation mit Schleiermacher und seinem Erbe sucht. In der Kritik an Schleiermachers Theologie wird der Ansatz von Hengstenbergs Ablehnung des Subjektivitätsparadigmas besonders deutlich.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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2.2.1  Die messianischen Weissagungen und das Alte Testament (1829) Hengstenbergs philosophischer Lehrer in Bonn, Ch.A. Brandis, hatte von Schleiermacher wichtige Anregungen empfangen und war sich mit ihm in der philosophischen Erkenntnislehre weitgehend einig.140 Daher empfahl er dem jungen Hengstenberg die Lektüre der Glaubenslehre schon bald nach ihrem Erscheinen. In fortgeschrittenem Alter erinnert sich Hengstenberg daran, wie er Brandis das Buch mit der Bemerkung zurückgegeben habe: „ich werde zwar wol nicht bleiben, was ich bin, und wenn ich so bliebe würde ich nicht Theologe bleiben, aber zu Dem wende ich mich nimmer“141. Dennoch scheint er sich intensiv mit Schleiermacher auseinandergesetzt zu haben.142 Als ihn in Basel die Frage umtrieb, wie das Alte und Neue Testament aufeinander zu beziehen seien, nahm er wiederum Schleiermacher zur Hand, dem er zunächt darin zustimmte, daß „der Abstand des Chri­stentums vom Judentum so ungeheuer groß zu sein“143 schien. Jedoch blieb es nicht lange dabei: „Die Schleiermachersche Ansicht, welche ungefähr mit der des Gnostikers Marcion zusammenfällt, hatte für mich früher viel Annehmliches; alleine sie streitet zu sehr mit den deutlichsten Aussprüchen des N.T., als daß ich ihr noch beistimmen könnte.“144

Schon die ersten Veröffentlichungen Hengstenbergs über das Verhältnis von Schrift und Geist lassen erkennen, daß sich der junge Berliner Alttestamentler von Schleiermacher distanziert. Expressis verbis tut er dies allerdings erst in seiner frühesten wissenschaftlichen Publikation. In dem ersten Band der ‚Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten‘ wird deutlich, warum sich Hengstenberg vom Neuen Testament aus gedrungen fühlt, andere Wege zu gehen. Der Ausgangpunkt der Meinungsverschiedenheit liegt in der Frage, ob und in welchem Grade es im Alten Testament Texte gibt, die von Christus sprechen, mit anderen, damals üblichen Worten: ob es eigentliche messianische Weissagungen gebe.145 Im Zuge der kritischen Bearbeitung der alttestamentlichen Texte waren schon früh die messianischen Texte ins Kreuzfeuer geraten. Schleiermacher knüpfte an die Erkenntnisse der Forschung seiner Zeit an,146 wenn er in der Glaubenslehre 140

  Vgl. Trendelenburg, Brandis, 17.   Vorwort EKZ 84 (1869), Sp.  28. 142   Das zeigt insbesondere der Brief an Keetmann, Basel 10. März 1824: Bachmann 1, 161, wo er darauf hinweist, daß zu einem nutzbringenden Studium bei Schleiermacher das genaue Studieren seiner Hauptwerke, der Dogmatik, der Reden u. a. unverzichtbar sei. 143   Hengstenberg an W. Keetmann, Basel Ende Jan. 1824: Bachmann 1, 159. Vgl. auch oben 1.1. 144   Hengstenberg an Brandis, Basel 4. Febr. 1824: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  167. 145   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 19–22. 146   So betont Schütte, Altes Testament, 294, daß Schleiermacher im Blick auf das Alte Testament schlicht die „Ergebnisse neologischer Arbeit“ übernehme. Man habe oft übersehen, „daß Schleiermacher keine der Aussagen der Neologie über das Altes Testament zu141

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2  Hengstenberg und die Theologie

darauf hinwies, daß niemals befriedigend nachgewiesen werden könne, daß die Propheten, bei denen man auf Christus vorausweisende Texte finden will, „Christus, so wie er wirklich gewesen, und das Christenthum, sie wie es sich wirklich entwikkelt hat, vorhergesagt haben“. Die Weissagungen unterschieden sich daher nicht von „unbestimmter Ahndung“.147 Weissagungen im Sinne von Ahnungen gebe es selbstverständlich im AT, nämlich überall dort, wo sich – wenn auch auf unvollkommene Weise – die Sehnsucht nach Erlösung artikuliere. Jedoch sei diese Art von Weissagungen nicht auf das AT beschränkt, sondern auch im Heidentum zu finden. Da es sich bei ihnen nur um „ein vorbereithendes Zuneigen zum Christenthum“ handle, könnten sie im Christentum, nachdem es einmal erschienen ist, keine wichtige Stellung mehr einnehmen. Sie erfüllten ihren Zweck in den „früheren frommen Gemeinschaften“, und, wo diese frühere Formen weiterhin gepflegt würden, erfüllten sie ihn immer noch. Für die Weissagungen bedeutet dies aber, daß „eine bis ins einzelne genaue Uebereinstimmung zwischen dem Erfolg und der Weissagung von gar keiner Wichtigkeit [ist].“148 Demgegenüber vertritt Hengstenberg die Auffassung, daß Christus und die Apostel die messianischen Weissagungen als wirkliche Weissagungen und nicht nur als „unbestimmte Ahndungen“ verstanden hätten.149 Bestreite man die Existenz solcher christologischer Texte im AT, dann greife man hiermit auch die Autorität Christi und der Apostel an. Das gelte ebenso für die Frage nach dem Grad der Übereinstimmung von Weissagung und „Erfolg“. Wenn es denn auf die bis ins Einzelne gehende Übereinstimmung zwischen der alttestamentlichen Weissagung und der Erfüllung im Geschick Jesu nicht ankomme, warum, fragt Hengstenberg, bemüht sich das Neue Testament dann darum, die Übereinstimmungen bis hinein in einzelne Züge der Jesusgeschichte aufzuweisen? Aber nicht nur der Umgang des NT mit den Weissagungen führt Heng­ stenberg zu einer anderen Sicht der Dinge. Er kann auch Schleiermachers Urteil, daß die Weissagungen keinerlei Rolle beim Zustandekommen des Glaubens spielen, nicht zustimmen.150 Zwar ist sich Hengstenberg mit Schleiermacher einig – und zitiert dafür Herder 151 –, daß man Christus alleine aufgrund der messianischen Weissagungen nicht kennen lernen könne. Doch könne dort, wo der Glaube im Entstehen sei, „die Wahrnehmung der Übereinstimmung von rückgenommen hat.“ (ebd., 295). Insbesondere die Abhängigkeit Schleiermachers von Semler läßt sich in vielen Punkten aufweisen (vgl. Beckmann, Wurzel, 47–51; die Linie andeutend Preuss, Verlust, 150). 147   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 21: KGA I, 7,1,84, 30–34. – Es wird hier immer die erste Auflage der Glaubenslehre zu Grunde gelegt, die auch Hengstenberg in seinen frühen Werken vor Augen steht. 148   Ebd.: KGA I, 7,1, 85f; zitiert: 85, 35 f.; 86, 1–3. 149   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 20. 150   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 21: KGA I, 7,1,82 f.87. 151   Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend 2, 314 (18. Brief ).

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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Weissagung und Erfüllung eine sehr segensreiche Einwirkung ausüben“152 . Außerdem dienten die Weissagungen den Glaubenden, deren Glaube ja nicht zu allen Zeiten kräftig ist, als „Stärkungsmittel“, indem sie in die Lage versetzten, „die göttlichen Heilsanstalten in ihrem Zusammenhange zu begreifen“153. Die Auseinandersetzung mit Schleiermacher nimmt nur wenig Raum in der Einleitung seiner ‚Christologie‘ ein, und man kann leicht den Eindruck bekommen, Hengstenberg arbeite sich hier an einer Marginalie der Schleiermacherschen Theologie ab. Daß es ihm um mehr geht, wird an der weitreichenden Schlußfolgerung deutlich: „wer Christo und den Aposteln wahrhaft glaubt, muss auch die Göttlichkeit des A[lten] B[undes] anerkennen, für welche sie so bestimmt und klar zeugen“154. Mit dieser Aussage spielt Hengstenberg auf Schleiermachers grundsätzliche Haltung zum Alten Testament an, denn in der Tat gehört bei Schleiermacher beides – das Verständnis der messianischen Texte und der Stellenwert des Alten Testaments überhaupt – zusammen.155 Für Schleiermacher steht mit der von Hengstenberg behaupteten Stellung der alttestamentlichen Offenbarung das rechte Verständnis des Christentums auf dem Spiel, geht es ihm doch darum, daß das eigentümlich Christliche gerade nicht schon im vorauslaufenden Judentum gefunden werden kann. So heißt es in dem folgenden § 22 der Glaubenslehre: „Das Christenthum ist ohneracht seines geschichtlichen Zusammenhangs mit dem Judenthum doch nicht als eine Fortsezung oder Erneuerung desselben anzusehen; vielmehr steht es, was seine Eigenthümlichkeit betrifft, mit dem Judenthum in keinem anderen Verhältniß als das Heidenthum.“156

Schon in den Reden lehnt Schleiermacher den Gedanken, daß das Judentum157 „etwa der Vorläufer des Christenthums wäre“, ab: „ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich“158 . Der Gedanke von der wesenhaften Ursprünglichkeit des Christentums, der in der Rede von der Urbildlichkeit Christi sein Pendant findet, gehört zum eisernen Bestand des Schleiermacherschen Denkens. Auf ihm beruht die Wesensbestimmung des 152

  Hengstenberg, Christologie1 1/1, 21.   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 22. 154   Ebd. 155   Vgl. zu Schleiermachers Urteil über das Alte Testament zuletzt ausführlich Beckmann, Wurzel, 31–135; aus den älteren Darstellungen sind Schütte, Altes Testament; Preuss, Verlust und Smend, Kritik hervorzuheben. Preuss’ Studie ist vor allem unter dem Aspekt interessant, daß Schleiermachers Praxis der Predigt alttestamentlicher Texte einbezogen wird. 156   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 22: KGA I, 7,1,88,2–6. 157   Gemeint ist hier das Judentum vor Christus, jedoch ist es typisch für Schleiermachers Darstellung, daß er das Volk Israel des Alten Testaments terminologisch nicht vom Judentum seiner Zeit unterscheidet. 158   Schleiermacher, Über die Religion: KGA I, 2,314,40–43. 153

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2  Hengstenberg und die Theologie

Christlichen, mit deren Hilfe Schleiermacher den dogmatischen und biblischen Bestand durchforstet und sichtet.159 Dabei gibt sich das rein Christliche gerade durch Ausschluß des bereits zuvor existierenden Jüdischen zu erkennen, dessen Religiösität seinen Ausdruck im Alten Testament findet. Die Vorstellung, daß bereits im Alten Testament christlich geredet wird und dies nicht nur andeutend, sondern so, daß der kommende Messias bis in Einzelheiten vorgestellt wird, widerspricht also Schleiermachers Grundauffassung im Kern. Zumal wenn – wie bei Hengstenberg – behauptet wird, daß die Weissagungen auch für den heutigen Christen eine Funktion erfüllen könnten.160 Mit der Kritik der messianischen Weissagungen tritt zugleich Schleiermachers Urteil über das Alte Testament insgesamt in den Blick, denn es liegt in der Konsequenz seiner Anschauung, daß die messianischen Weissagungen noch als verhältnismäßig besserer Bestandteil des Alten Testaments gesehen werden können, weil sich in ihnen zumindest eine dem christlichen Glauben verwandte Hoffnung finden läßt. Insofern kann man sie auf den christlichen Geist zurückführen: „wie sie das Evangelium sind vor dem Evangelium, so gehören sie auch dem Geist an vor dem Geist, d. h. den vorandeutenden Regungen desselben ehe er über alles Fleisch ausgegossen und als Gemeingeist der christlichen Kirche organisirt war.“ Anders steht es mit dem Gesetz. Denn das Gesetz kann „unmöglich [...] auf denselben Geist zurückgeführt werden.“161 Daher kann das Gesetz ebensowenig als göttlich inspiriert gelten wie die an ihm hängenden Geschichtsbücher, in denen die messianischen Weissagungen ganz gegenüber dem Gesetzlichen zurücktreten. Das Gesetz ist für Schleiermacher nun aber das Typische am Alten Testament. Insofern ist seine Schlußfolgerung konsequent, daß unter „heiliger Schrift [...] nur die neutestamentische verstanden“ wird.162 Das Alte Testament ist lediglich deshalb Teil des Kanons geworden, weil sich Christus und die Apostel einzelner seiner Schriften bedienten. Diese Entscheidung ist aber nicht unrevidierbar, vielmehr müßte aus dem Dargestellten folgen, „daß man dem neuen Testament nur die Psalmen und die messianischen Weissagungen als Anhang beifügt.“163 Weil aber in der Kirche gegenwärtig noch eine andere Ansicht vorherrscht, unterbreitet Schleiermacher diese Em­ pfehlung nicht als Lehrsatz, sondern lediglich als „Zusaz“ zum Lehrstück von der Heiligen Schrift. Schleiermachers Urteil über die messianischen Weissagungen und seine bekannten Äußerungen über das Alte Testament stehen also in engem Zusammenhang mit seinem ganzen Denken. Das hat Schleiermacher nie bestritten, 159

  Vgl. Schröder, Identität, 55–100.   Eine Bedeutung der messianischen Weissagungen in vorchristlicher Zeit und auch noch zur Zeit Jesu gesteht Schleiermacher zu. 161   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 150: KGA I, 7,1,237,36–238,5. 162   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 147: KGA I, 7,1,218,28–219,1. 163   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 150: KGA I, 7,1,238,36 f. 160

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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vielmehr wiederholt zum Ausdruck gebracht. So bekennt er in einem Brief an den ihm befreundeten Alttestamentler Friedrich Bleek, der zunächst in Berlin und dann in Bonn lehrte, daß man der „dogmatischen Adhibition des alten Testaments [...] doch entsezlich viel übles in unserer Theologie“ verdanke, und fügt hinzu: „wenn man den Marcion richtig verstanden und nicht verkezert hätte, so wäre unsere Lehre von Gott viel reiner geblieben“.164 Ähnlich äußert sich Schleiermacher in seiner Einleitung ins Neue Testament.165 Die Vorlesung hatte er 1829, nachdem Bleek Berlin verlassen hatte, erstmals übernommen, „damit sie nicht lediglich in die Hände der Hengstenbergischen Partei fiele“166 , und aus demselben Jahr stammt das Votum gegenüber Lücke: „Diese Ueberzeugung, daß das lebendige Christenthum in seinem Fortgange gar keines Stützpunctes aus dem Judenthum bedürfe, ist in mir so alt, als mein religiöses Bewußtseyn überhaupt.“167 Angesichts der prominenten Stelle, die die Bestimmung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, Christentum und Judentum für die Konzeption von Schleiermachers Wesensbestimmung des Christlichen einnimmt, muß es beinahe überraschen, daß Hengstenberg nicht ausführlicher darauf eingeht. Der Ablehnung von Schleiermachers Auffassung der messianischen Weissagungen setzt er lediglich sein später häufig wiederholtes Credo hinzu, daß man Christus und die Apostel nicht ohne das Alte Testament haben könne. Was dies für Schleiermachers Theologie insgesamt bedeutet, wird jedoch nicht ausgeführt. Der Zielsetzung der Monographie entsprechend bleibt die Kritik auf den Umgang mit den messianischen Weissagungen konzentriert. Es ist schließlich Schleiermacher selbst, der den Gegensatz in seiner vollen Schärfe und an ungleich prominenterer Stelle zur Sprache bringt: In seinem Zweiten Sendschreiben an Lücke, das im Mai/Juni 1829 in den ‚Theologischen Studien und Kritiken‘ erschien, greift Schleiermacher diejenigen an, die den messianischen Weissagungen nach wie vor eine wichtige Bedeutung für das Christentum einräumen.168 Steudel und K.H. Sack werden genannt, doch es steht außer Frage, daß das Sendschreiben auch Hengstenberg und seine kurz zuvor erschienene ‚Christologie‘169 im Blick hat.170 Schleiermacher bringt ge164

  Schleiermacher an Bleek, Berlin 23. Apr. 1830: Aus Schleiermacher’s Leben 4, 396.   Schleiermacher, Einleitung ins neue Testament, SW 1/8, 25–28; ebd., 64, kommt er wiederum auf den „eigentlich ohne Grund als Ketzer verrufenen Marcion“ zu sprechen. 166   Schleiermacher an Twesten, 31. Aug. 1829: Heinrici, Twesten, 412. 167   Schleiermacher, An Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben: KGA I, 10,354,7–10. 168   Schleiermacher, An Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben: KGA I, 10,337–394. Darauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 169   Im Sommer 1828 war zunächst die zweite Abteilung des ersten Bandes von Hengstenbergs ‚Christologie‘ erschienen, im Frühjahr 1829 schließlich die erste Abteilung (Hengstenberg an Altenstein, 6. Aug. 1828 und 27. Juni 1829: GStA PK, I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Vf Litt. H. Nr.  16, Bl. 25 u. 50), vgl. Bachmann 2, 127 Anm.*. 170   Schleiermacher räumt zwar gegenüber Twesten ein, daß er erst „hintennach angefangen“ habe „darüber zu reflektieren, in was für ein Wespennest“ er mit der „anti-alttesta165

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2  Hengstenberg und die Theologie

genüber Lücke seine Abneigung gegenüber dem „Bestreben, Christum aus den Weissagungen zu beweisen“ (354,11) zum Ausdruck. Bei jenen, die es versuchten, vermutet er einen „Mangel an frischer Zuversicht zu der inneren Kraft des Christenthums“ (354,16 f.). Doch auch abgesehen vom Beweisen zeige sich in dem Bemühen, Christus in den alttestamentlichen Weissagungen zu finden „ein Zweig einer allgemeinen Anhänglichkeit an das unvollkommene Wesen und die dürftigen Elemente des alten Bundes, der wir uns billig entschlagen sollten, wir, die wir im Besitz des vollkommneren sind“ (354, 18–21). Es ist der Gedanke, der seit den ‚Reden‘ immer wiederkehrt: Für den Christen stellt das Alte Testament nur einen überholten Zustand dar, es hat für den Glaubenden keinerlei Kraft mehr. So hält Schleiermacher fest: „Für mich wenigstens hat es keine volle Wahrheit, was unser Freund [scil. K.H. Sack] in seiner Apologetik sagt, daß das prophetische Wort auch jetzt noch, und für den Christen, der mitten im Glauben steht, eine unerschöpfliche Quelle von Belehrung und Erkenntniß sey.“ (354, 22–26)

Aufschlußreich ist nun aber der Kontext, in dem dieses Urteil steht. Schleiermacher interessiert sich in seinen Aussagen über das Alte Testament im Sendschreiben an Lücke nicht so sehr für die Eigenständigkeit des Christentums, die durch die Anknüpfung an das Alte Testament in Gefahr gerät, als vielmehr für die wissenschaftliche Anschlußfähigkeit der Theologie. Die voranschreitende hi­ storische Forschung am Alten Testament mache es unmöglich, diesen Teil der Bibel ferner als göttliche Urkunde zu betrachten. Daher sei es niemandem zuzumuten, den Glauben an Christus in irgendeiner Weise von der Offenbarungsqualität des Alten Testaments abhängig zu machen.171 Es stehe zu befürchten, „je mehr wir uns, statt die reichen Gruben des neuen Bundes recht zu bearbeiten, an das Alte halten, um desto ärger wird die Spaltung werden zwischen Frömmigkeit und der Wissenschaft“ (354,26–355,1). Daher halte er es für seine Pflicht, seine Haltung zum Alten Testament so entschieden wie nur möglich mentlichen Richtung“ seines Sendschreibens gestochen habe, doch war er sich sicher auch schon vorher bewußt, daß „[u]nsere hiesigen sogenannten Pietisten [...] über die Maßen alttestamentlich“ sind, weshalb er nun damit rechnet, daß sie ihm „förmlich Fehde ankündigen“ (Schleiermacher an Twesten, 31. Aug. 1829: Heinrici, Twesten, 414). Twesten, der Schleiermachers Haltung zum Alten Testament kritisch betrachet, erklärt sich die Schroffheit von Schleiermachers Äußerungen explizit als Reaktion auf Sacks ‚Apologie‘ und Hengstenbergs ‚Christologie‘ (Twesten an Schleiermacher, 9. Okt. 1829: Heinrici, Twesten, 417). 171   „Der Glaube an eine bis zu einem gewissen Zeitpuncte fortgesetzte besondere Ein­ gebung oder Offenbarung Gottes in dem jüdischen Volk ist schon bei dem gegenwärtigen Stande der Untersuchung über die jüdische Geschichte so wenig Jedem zuzumuthen, und es ist mir so wenig wahrscheinlich, daß er am Schluß dieser Untersuchungen mehr Stützen werde bekommen haben, daß es mir sehr wesentlich schien, auf das bestimmteste auszusprechen, wie ich es eben so deutlich einsehe als lebendig fühle, daß der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christo von jenem Glauben auf keine Weise irgend abhängig ist.“ (KGA I, 10,353,7–15).

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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auszusprechen. Die Ausführungen gehören demnach zu Schleiermachers Bemühen, den christlichen Glauben so zu erklären, „daß die Wissenschaft uns nicht den Krieg zu erklären braucht.“ (351,23 f.) Hielte man an der bisherigen Hochschätzung des Alten Testaments fest, ja betonte man weiterhin die Unverzicht­barkeit des Alten Testaments für den christlichen Glauben, dann würde das Christentum für das moderne Wahrheitsbewußtsein untragbar. Die Behandlung des Alten Testaments steht somit in engster Verbindung mit der berühmten Frage, ob der Knoten der Geschichte so auseinandergehen soll: „das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ (347,9 f.) Für Hengstenberg stand eine solche Wissenschaftlichkeit der Theologie, der man den christlichen Gebrauch des Alten Testaments opfern sollte, freilich nicht zur Debatte. Damit aber mußte er sich zu den „düstern Larven“ zählen, die Schleiermachers Art und Weise, Christentum und Wissenschaft zu verbinden, ablehnten: zu jenen „enggeschlossenen religiösen Kreisen, welche alle Forschung außerhalb jener Umschanzung eines alten Buchstaben für satanisch erklären“ (347,12–15). Daß damit die Kreise der Erweckten gemeint waren und insbesondere Theologen, die aus solchen Kreisen kamen, war für die Zeitgenossen nicht zu überhören. Einen „herben Angriff “ nannte Hengstenberg 16 Jahre später Schleiermachers Sendschreiben,172 und damit stand er nicht allein.173 Jedoch war er in besonderer Weise betroffen, da in dem Sendschreiben sein ganzes wissenschaftliches Arbeiten mit einem Federstrich für überflüssig, ja für schädlich erklärt wurde. Eine öffentliche Auseinandersetzung schien daher unvermeidlich.174 Am 5. Dezember 1829 erschien in der EKZ der bereits oben (2.1) erwähnte Artikel ‚Ueber Schleiermacher. (Auch ein Sendschreiben)‘. Wie üblich in der Kirchenzeitung war er nicht namentlich gezeichnet. Mit der Form eines Sendschreibens knüpfte der Verfasser an Schleiermacher an, inhaltlich, bei der Beurteilung von Schleiermachers Theologie, begrenzte er sich auf die Aussagen aus dem Zweiten Sendschreiben an Lücke. Da das Sendschreiben aber die Kon­ struktion der Glaubenslehre zum Thema hat, wird indirekt auch Stellung zu Schleiermachers Hauptwerk genommen. Schleiermacher selbst hat den Artikel wohl zur Kenntnis genommen, eine Entgegnung auf den „hyperevangelischen Gegner“175, wie er ihn nannte, erschien ihm aber völlig überflüssig zu sein – wie 172   EKZ 37 (1845), Sp.  762. Auch in der Forschung wird die Beziehung auf Hengstenberg oder seine Kreise weitgehend vertreten, vgl. nur Elert, Kampf, 83. 173   Vgl. nur unten die Reaktionen E.L. v. Gerlachs, Gerlach an Hengstenberg, Halle 29. Nov. 1829 (s.u. bei Anm.  188). 174   Man kann daher nicht wie Ohst, Schleiermacher, 149, Anm.  27 sagen, daß erst der nun im Folgenden zu besprechende Artikel in der EKZ die „offenen Feindseligkeiten“ zwischen den Erweckten und Schleiermacher eingeleitet habe. 175   Schleiermacher an Jonas, 13. Febr. 1831: KGA I, 10, LXXXIII, Anm.  421.

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2  Hengstenberg und die Theologie

er ja überhaupt nicht viel von dem Hin und Her von Streitschriften hielt.176 Daß es trotzdem zu einer literarischen Kontroverse kam, war das Werk seines Schülers und Freundes Ludwig Jonas, der im Juni 1830 eine Broschüre mit dem Titel ‚Sendschreiben an den Herrn Verfasser des in der Evangel. Kirchenzeitung No. 97. seqq. 1829 enthaltenen Sendschreibens über Schleiermacher‘ veröffentlichte, die zudem an Neanders Erklärung anknüpfte. Der Verfasser des Kirchenzeitungsartikels antwortete darauf mit einer ‚Rechtfertigung des Sendschreibens über Schleiermacher‘, worauf Jonas eine kleine Schrift ‚Gegen die Rechtfertigung des Sendschreibens über Schleiermacher‘ herausbrachte.177 Der Artikel ‚Ueber Schleiermacher‘178 greift aus dem Zweiten Sendschreiben vor allem drei Themen heraus. Erstens geht er auf Schleiermachers Aussagen zur Stellung der Schrift und zu den Konsequenzen der historischen Forschung für das Alte Testament und den Kanon überhaupt ein. Zweitens bespricht er Schleiermachers Stellung zu den modernen Naturwissenschaften, insbesondere im Blick auf die Schöpfungslehre, und drittens und damit zusammenhängend wird Schleiermachers Verhältnis zum Rationalismus in theologischer und kirchenpolitischer Hinsicht erörtert. Alle drei Themen durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und moderner Wissenschaft. Dabei wird Schleiermachers Position, wie sie in seinem Sendschreiben zum Ausdruck kommt, als theologisches Rückzugsgefecht beschrieben: In seinem Bemühen, die christliche Glaubenslehre mit der Wissenschaft „unverwickelt“ zu lassen, gebe Schleiermacher ureigenes christliches Terrain preis. Doch dazu bestehe keinerlei Anlaß. Daß der Glaube an die Göttlichkeit des Alten Testaments dem Gebildeten nicht einleuchte, sei kein Wunder, denn zu allen Zeiten sei „der Glaube nicht Jedermanns Ding“ (Sp.  786). Bei näherem Hinsehen bestünden zudem erhebliche Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der historischen Kritik. Es sei an der Zeit, „dem baaren Unglauben die Maske der Wissenschaftlichkeit zur genauen Untersuchung abzunehmen“ (Sp.  787). Schleiermacher aber weiche dem Kampf mit dem „aus Geschichtsforschung und höherer Critik zusammengesetzte[n] Thier des Abgrundes“ aus, indem er „sich für seine Person freue, schon zum Voraus sich in den Harnisch des Gefühls gesteckt zu haben und die Umschanzungen des alten Buchstabens, die Bollwerke von Canon und Kirchenlehre gar wohl entbehren und dem Feinde überlassen zu können.“ (Sp.  781). Dabei könne doch der Feind der „Flotte der Gläubigen“, die aus „vom heiligen Geiste durch das Wort Gottes wiedergeborenen und über dessen Wahr176

  Vgl. Schleiermacher, An Dr. Lücke. Erstes Sendschreiben: KGA I, 10, v. a. 310,30– 313,16. 177   Jonas, Sendschreiben; [Anonym], Rechtfertigung; Jonas, Gegen die Rechtfertigung. Vgl. zu der literarischen Kontroverse Beckmann, Wurzel, 13–20 und Traulsen, KGA I, 10, LXXIX–LXXXIV. Letzterer bietet auch Schleiermachers Äußerungen zu der Sache. 178   EKZ 5 (1829), Sp.  769–775.777–782.785–790.793–798, Nr.  97–100. – Die folgenden Angaben im Fließtext beziehen sich hierauf.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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heit unmittelbar versicherten [...] evangelischen Christen“ bestehe und schon seit Jahren „um jene critischen Felsen“ herumkreuze, nichts anhaben, und auch die Theologie sehe sich zunehmend in der Lage, den Ausweg aus den feindlichen Klippen zu finden (Sp.  782). Die Kritik an Schleiermacher spitzt sich also darin zu, daß er dem Ansturm der Wissenschaften nachgegeben und unverzichtbare Glaubenswahrheiten preisgegeben habe. In der ‚Rechtfertigung des Sendschreibens‘ wird der Vorwurf noch deutlich verstärkt und darauf hingewiesen, daß Schleiermacher selbst gelehrt habe: „Wenn die Theologie und andere Wissenschaften streiten, so darf die Theologie nicht nach diesen, noch dürfen diese nach der Theologie corrigirt werden, sondern dieser Widerspruch soll dem Theologen nur eine Aufforderung sein, sein System ohne Rücksicht auf die andern Wissenschaften (deren Resultate er ja nicht untersuchen kann), vom rein theologischen Standpunkte aus zu prüfen.“179

„Aber gerade mit dieser schönen Theorie“ stehe Schleiermacher selbst, „seinem Sendschreiben zufolge, praktisch in Widerspruch.“180 Ohne Not gebe er „Artikel der Theologie, ehe die Naturwissenschaften zur Uebergabe aufforderten, freiwillig verloren“, ohne die Naturwissenschaften im Umkehrschluß zur Überprüfung ihrer eigenen Aussagen aufzufordern. Vielmehr nehme er ihre Ergebnisse für bare Münze, „folglich – das ist der würdige Schluß – muß die Theologie anderes Geld prägen.“ Mit „priesterlicher Autorität“ werde das Opfer der alten Lehren verlangt „im Namen der heiligen Naturwissenschaft.“181 Der Artikel ‚Ueber Schleiermacher‘ und seine ‚Rechtfertigung‘ bieten also erstmals eine ausführliche Auseinandersetzung der EKZ mit Hengstenbergs Berliner Kollegen. Dabei erscheint Schleiermachers Umgang mit dem Alten Testament nur als ein Aspekt im Rahmen seiner Haltung gegenüber den ‚alten Lehren‘ des christlichen Glaubens überhaupt. Gleichwohl wird wiederum – wie schon in Hengstenbergs ‚Christologie‘ – Kritik an Schleiermachers Aussagen über die messianische Weissagungen geübt. Möglicherweise vom selben Verfasser stammt zudem ein weiterer Artikel in der Januarausgabe der Kirchenzeitung, der ausdrücklich ‚Schleiermacher’s Behauptung der Unkräftigkeit und Entbehrlichkeit der messianischen Weissagungen‘182 zum Thema hat, aber lange nicht so gewichtig ist wie der erste Artikel. War es also Hengstenberg selbst, der hier die Auseinandersetzung mit Schleiermacher suchte? Die neueren Darstellungen lassen keinen Zweifel daran. Alle gehen von Hengstenbergs Verfasserschaft der Schleiermacherartikel aus.183 Doch dafür gibt es keinerlei Beleg. Im 179

  [Anonym], Rechtfertigung, 14.   Ebd. 181   Ebd., 16. 182   EKZ 6 (1830), Sp.  17–21.25–31, Nr.  3 f. 183   Z.B. Beckmann, Wurzel, 13–16; Kramer, Hengstenberg, 25; Gabriel, Fortschritt, 180

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2  Hengstenberg und die Theologie

Gegenteil, es kann als sicher gelten, daß Hengstenberg die Artikel nicht selbst verfaßt hat.

EXKURS: Wer war der Verfasser der Artikel über Schleiermacher? Auffällig ist zunächst, daß zur Zeit des Erscheinens des Artikels und auch später im 19. Jahrhundert niemand eine Verfasserschaft Hengstenbergs erwähnt oder auch nur in Erwägung zieht, obwohl das Send­schreiben viel Beachtung gefunden hat.184 Daß sich das in neuerer Zeit geändert hat, geht ein­zig und allein auf die Darstellung von Anneliese Kriege zurück, die sowohl im Text ihrer Arbeit als auch im Verzeichnis der EKZ-Artikel, das sie im Anhang bietet, Hengstenberg als Verfasser bestimmt.185 Keine der neueren Darstellungen gibt eigene Gründe dafür oder eine andere Quelle als Kriege an.186 Dabei wurde bisher übersehen, daß Krieges Urteil auf zwei sehr schwachen Beinen steht. Das eine Bein ist ein Verweis auf die Darstellung Bachmanns, in der von einer Zuschreibung des Artikels an Hengstenberg aber gar keine Rede ist.187 Bleibt nur das andere Bein. Dabei handelt es sich um einen Brief Ernst Ludwig von Gerlachs an Heng­ stenberg vom 29. November 1829. Dieser Brief ist in der Tat bedeutend: Hengstenberg wird darin aufgefordert, bei der Auswahl der Artikel stärker auf die brennenden Fragen der Gegenwart einzugehen. Unter den Vorschlägen für re­levante Themen heißt es unter anderem: „Mit welchem lebendigen Interesse u[nd] Segen würde ein gediegener (wenn auch nicht tief ins Gelehrte eingehender, aber nicht allzu kurzer u[nd] recht auf dem practischen Felde bleibender, bekennender) Aufsatz aus Ihrer Feder über Schleiermachers Ver­hältniß zur H. Schrift, zum Alten Testament, zu den Rationalisten, wie er diß so deutlich neuerlich ausgesprochen hat, in Berlin, Halle, Bonn, ja in ganz Deutschland gelesen werden.“188 Kriege zieht aus diesem Satz den naheliegenden Schluß, daß der alsbald erscheinende Artikel, der zwar nicht ganz, aber doch im groben zur Empfehlung Gerlachs paßt, aus der Feder des hierzu Aufgeforderten stammen muß.189 Doch es ist völlig unmöglich, daß Gerlachs Brief den Anstoß für die Abfassung des Artikels gegeben hat, wie ein Blick auf die Chronologie zeigt. Der Artikel erscheint nämlich nicht 154; Ohst, Schleiermacher, 149, Anm.  27; Ders., KGA I, 10, LXXIX setzt immerhin ein „aller Wahrscheinlichkeit nach“ hinzu. 184   Keiner der direkt an der Diskussion Beteiligten, zu denen neben Jonas und Neander auch Schleiermacher mit einigen brieflichen Äußerungen (s. Ohst, KGA I, 10, LXXXI, Anm.  406; LXXXIII, Anm.  421; LXXXXIV; Heinrici, Twesten, 419 f.) zählt, nennen Hengstenberg als Verfasser. Ebensowenig die späteren Darstellungen: F.Ch. Baur, Kirchengeschichte, 456; Bachmann 2, 249. 185   Kriege 1, 187 und 2, 10. 186   Kramer, 25 bietet immerhin zusätzlich Krieges Beleg, den Brief E.L. von Gerlachs (s. Anm.  188). 187   Kriege 2, 10 verweist auf Bachmann 2, 249, wo aber nur von dem „Angriff der Kirchen-Zeitung auf Schleiermacher“ die Rede ist und Hengstenberg gerade nicht als Verfasser genannt wird. 188   E.L. von Gerlach an Hengstenberg, Halle 29. Nov. 1929: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 27 (kursiv im Original unterstrichen); ein Auszug daraus bei Kriege 1, 187, Anm.  3. 189   Für Kriege 1, 187 ist der Sachverhalt so selbstverständlich, daß sie die anonyme Verfasserschaft nicht einmal erwähnt.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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nur bald nach der Aufforderung, sondern zu bald danach: Am Sonntag, dem 29. November schreibt Gerlach an Hengstenberg, und schon am kommenden Samstag, dem 5. Dezember erscheinen die ersten sieben Spalten des Artikels. Selbst wenn man unglaublich kurze Post­laufzeiten ansetzen würde, ist die Zeitspanne viel zu eng. Ein EKZ-Artikel mußte, wie sich sowohl aus dem Entstehungsprozeß erschließen als auch aus zahlreichen Beispielen belegen läßt, spätestens acht Tage vor seinem Erscheinen in schriftlicher Form vorliegen.190 Das wäre hier nicht der Fall gewesen. Heng­sten­berg erhielt den Brief Gerlachs frühestens am Montag oder Dienstag. Selbst wenn er sich sofort an die Abfassung eines Artikels gemacht hätte, wäre er frühestens drei Tage vor dem Erscheinen fertig gewesen. Dazu kommt, daß Hengstenberg just in dieser Woche mit dem Gesangbuchstreit beschäftigt war und sich mit der Zensur um die Veröffentlichung eines Artikels zu diesem Thema streiten mußte.191 Außerdem war das Semester im Gange. Hengstenberg las unter anderem die Enzyklopädie – „fast das schwerste aller theologischen Collegien“, wie er schreibt.192 Selbst wenn er sich von Gerlachs Aufforderung hätte anregen lassen, hätte er den Artikel also auf keinen Fall bis zum Ende der Woche zum Druck bringen können. Gerlachs Artikel scheidet demnach als Aus­löser aus, und Krieges Zuschreibung des Artikels steht ohne Belege da. Freilich könnte Hengstenberg dennoch der Verfasser sein. Es wäre nicht das einzige Mal, daß Gerlach in Halle einen Gedanken hatte, der in Berlin ebenfalls gedacht wurde.193. Doch gegen Hengstenbergs Verfasserschaft erheben sich weitere Bedenken. Er­ stens spricht Hengstenberg später immer davon, daß er den Artikel „aufgenommen“ habe: Gegenüber Neander betont er, er sei weit entfernt davon, „die großen Verdienste des Herrn Dr. Schleiermacher um Theologie und Kirche zu verkennen“ und würde sich „nie zur Aufnahme eines Aufsatzes verstanden haben, in welchem dieselben abgeläugnet oder übergangen worden wären.“ Allerdings seien ihm „einige[...] spitzige[...] Ausdrücke“ in dem Artikel erst „nachher aufgefallen“194. Zweitens erscheint in der literarischen Fiktion der Schreiber des Sendschreibens als eine Person, die sich nicht zu der alttestamentlichen Wissenschaft berufen fühlt.195 Als Adressat wird ein „gelehrte[r] 190   Vor dem Druck mußte ein Artikel einerseits die Zensur passieren, andererseits korrigiert werden. So schreibt Hengstenberg am 27. Nov 1829, daß er gerade einen Artikel zum neuen Gesangbuch zur Korrektur bekommen habe (Hengstenberg an E.L.v. Gerlach: Wulfmeyer, 308); der Artikel sollte am 2. Dez. erscheinen und lag bereits am 25. Nov. der Zensur vor (GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 Ober-Censur-Col­legium: Acta betr. die Censur der in Berlin erscheinenden evangelischen Kirchen-Zeitung [ab Dez. 1829]). Oder: Am 12. Februar gab Hengstenberg einen Artikel in Druck, der in der Nr.  15, also am 20. Febr. 1830 er­scheinen sollte (Hengstenberg an L.v. Gerlach, Berlin 12. Febr. 1830: Gerlacharchiv Erlangen, Fasz. Ax, trans­kribiert bei Wulfmeyer, 309). Bestätigt wird der Zeitraum durch einen Brief Elsners an seinen Schwiegersohn (Pastor J.Ä. Funk, Lübeck), Berlin 5. Aug. 1830, laut dem Hengstenberg geäußert habe, bis zum Druck eines neuen Artikels brauche es „8 Tage“: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung. 191   S. dazu unten Teil 4.2.1. 192   Bachmann 2, 378, der 429 zu Anm.  6 keine Auskunft darüber gibt, ob das Zitat in einem Brief an Therese oder an den Vater (beide Herbst 1829) steht. 193   Vgl. Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 27. Nov. 1829: Wulfmeyer, 306 f.: „überhaupt haben wir uns hier so ineinander hineingelebt, daß die in Ihrem letzten Briefe geäußerte Besorgnis sich gewiß als unbe­gründet zeigen wird“. 194   EKZ 6 (1830), Sp.  213 f.; vgl. EKZ 37 (1845), Sp.  762. 195   EKZ 5 (1829), Sp.  781.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Schriftforscher“ fingiert.196 Im Blick auf die Frage, ob der fingierte Schreiber Laie oder Theologe ist, weist das Sendschreiben Unstimmigkeiten auf.197 Selbst wenn man davon ausgeht, daß Hengstenberg hinsichtlich der Pseudepigraphie andere Maßstäbe an die Verfasser der EKZ-Artikel anlegte als an die Autoren der biblischen Schriften, so wäre es doch verwunderlich, wenn er eine bewußte Irreführung der Leser der Kirchenzeitung befürwortet hätte. Daß es sich hier wie bei der Rede von der Aufnahme um eine konsequent durchgehaltene Stilisierung handelt, ist zwar nicht unmöglich, aber wenig wahrscheinlich. Dazu kommen innere Argumente. Inhaltlich paßt der Artikel zu Hengstenbergs Position. Die Aussagen zum Alten Testament – bei denen der Verfasser andeutungsweise auf Hengstenbergs ‚Christologie‘ verweist198 – und die Kritik an Schleiermachers Haltung zu den Rationalisten könnten von ihm stammen,199 auch ist ihm der Stil des Schreibens nicht gänzlich fern, jedoch schreibt Hengstenberg selbst kaum so geschraubt, sarkastisch und spitz. Die „spitzigen Ausdrücke“ weisen aber auf eine andere Spur. Ernst Ludwig von Gerlach, der übrigens in keinem seiner späteren Briefe Hengstenberg als den Verfasser des Schleiermacherartikels anspricht,200 merkt an, daß er dem Artikel über Schleiermacher „das Spitzige gern genommen“ hätte, „es ist nicht evangelisch [...]“201. Am 4. März geht Hengstenberg auf den – nicht nur von Gerlach – gegen die EKZ erhobenen Vorwurf der Härte und des Mangels an Liebe ein und gesteht: „Derjenige, den der Vorwurf am gerechtesten trifft, ist Steiger; ich mag ihn noch soviel ermahnen, noch so genau seine Arbeiten durchforschen und ändern, der Grundcharakter des Mangels an christlicher Liebe bleibt immerfort. Dieß macht mich oft sehr betrübt; ich weiß kein menschliches Mittel dem Uebel abzuhelfen und muß mich einzig an den Herrn halten. Von St. ist auch der Aufsatz über Dinter, den Sie spitzig finden, obgleich ich alle Spitzen – etwa ein Dritteil des Ganzen – abgebrochen zu haben glaubte.“202 Damit ist ein Hinweis gegeben, der auch Licht in die Frage nach der Verfasserschaft des Schleiermacherartikels bringt. Wilhelm Steiger, reformierter Pfarrer aus der Schweiz,203 war seit Herbst 1829 als Redaktionsassistent eine Art rechte Hand von Hengstenberg.204 1829 hatte er bereits einen aufsehenerregenden Artikel über Wegscheiders Dogmatik geliefert.205 Zahlreiche Artikel aus den Jahren 1829 und 1830 stam196

  Ebd., Sp.  787.   Ebd., Sp.  787, zählt er sich zu den „Laien“, Sp.  781 zu den „jüngeren Theologen“. 198   EKZ 5 (1829), Sp.  785. Vgl. [Anonym], Rechtfertigung, 35. 199   Das gilt in weitaus geringerem Maße von dem Artikel, der im Januar 1830 erscheint. 200   In einem Brief vom 31. Jan. 1830 fordert Gerlach Hengstenberg auf, sich von dem eindeutigen Kurs auch und gerade gegenüber Fakultätskollegen nicht abbringen zu lassen, doch wird damit nichts über den Verfasser des Artikels gesagt (Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 30; vgl. Kriege 1, 189, Anm.  1). 201   E.L. von Gerlach an Hengstenberg, Halle 2. Jan. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 29. 202   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 4. März 1830: Gerlacharchiv Erlangen, Fasz. Ax, transkribiert bei Wulfmeyer, 311 (kursiv im Original unterstrichen). 203   Vgl. zu ihm K.F. Steiger, RE3 18, 789 f. sowie den Artikel im Kirchlichen Handlexikon 6 (1900), 404 f. 204   Vgl. Bachmann 2, 187.378 und Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 27. Nov. 1829: Wulfmeyer, 308, wo außer Steiger auch noch der Judenmissionar Ludwig Otto Ehlers (vgl. Kirchliches Handlexion 2 [1889], 312 sowie Schrenk, Judenmission, 172–174.190 f.) und ein gewisser Heller als Gehilfen genannt werden. 205   ‚Grund und Gehalt des Rationalismus‘, EKZ 5 (1829), Sp.  521–526.529–533.537– 197

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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men aus seiner Feder, darunter viele Rezensionen, Kritiken und Behandlungen dogmatischer Themen.206 In die Reihe der Steigerschen Artikel würde sich auch der über Schleiermacher sowohl sachlich als auch stilistisch zwanglos einfügen. Außerdem ließe sich die Nähe zu Hengstenbergs theologischem Standpunkt dadurch einfach erklären. Was die Beurteilung der Haltung Schleiermachers zum Alten Testament angeht, so dürfte Steiger Hengstenbergs Meinung sowohl aus dessen Publikationen als auch aus persönlichem Umgang bestens gekannt und sich angeeignet haben. Daher spricht alles dafür, daß beide Artikel über Schleiermacher von Wilhelm Steiger stammen, der zu dieser Zeit – ganz im Unterschied zu Hengstenberg, der 1829 und 1830 nur wenige Beiträge für die EKZ lieferte207 – einer der produktivsten Autoren der Kirchenzeitung war.208 Diese Vermutung wird dadurch untermauert, daß Neanders Schüler Philipp Schaff, bei dem sich als einzigem Zeitgenossen eine Aussage über den Verfasser des Artikels findet, ebenfalls Steiger nennt.209

Der Artikel von 1829 scheidet also als Quelle für Hengstenbergs Theologie aus. Die Position des Sendschreibens über Schleiermacher berührt sich zwar in wesentlichen Punkten mit Hengstenbergs Sicht der Schleiermacherschen Theologie, allerdings beschränken sich Hengstenbergs frühe Äußerungen zu Schleiermacher ganz auf dessen Umgang mit der Heiligen Schrift. Grundsätzliche Kritik hat er an seinem großen Kollegen nicht geübt. Freilich bezog Hengstenberg allein schon mit der Aufnahme des Artikels Stellung, und so wurde sein Verhalten ganz unabhängig davon, ob er der Autor war oder nicht, als „uncollegialisch“210 bezeichnet. Dennoch ist es bemerkenswert, daß er auf die deutlichen An­spielungen in Schleiermachers Sendschreiben, die ihn persönlich treffen mußten, nicht selbst reagierte. Fünfzehn Jahre später wird Hengstenberg feststellen, daß die „kirchlich Gesinnten“ – und damit ist vor allem die Evangelische Kirchenzeitung gemeint – gegenüber Schleiermacher „stets die schonend­ sten Rücksichten“ beachtet hätten.211 Der Artikel von 1829, „der freilich, wie der Herausg. bald nachher offen erklärte, in der Form schärfer ausfiel, als er es 540.545–550, Nr.  66–69; vgl. dazu Vincent, Wegscheider, 224–227 und E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 29. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 27: „Ich bin Zeuge gewesen, wie hier alles auf den Artikel über Wegscheider aufmerksam war, der doch nichts enthielt, als den wohlfeilen Nachweis der Seichtigkeit des Rationalismus.“ 206   Hengstenberg zählt eine Reihe von Artikeln auf in dem Brief an E.L. v. Gerlach, Berlin 4. März 1830: Gerlacharchiv Erlangen, Fasz. Ax, transkribiert bei Wulfmeyer, 311. 207   Vgl. EKZ 4 (1829), Sp.  7, wo Hengstenberg ankündigt, bis zur Vollendung seiner ‚Christologie‘ nicht viel zur EKZ beitragen zu können. Soweit es sich ermitteln läßt, hat Hengstenberg 1829 – abgesehen vom Vorwort – tatsächlich keinen Artikel beigesteuert. 208   Für den Artikel vom Jan. 1830 ‚Ueber Schleiermacher’s Behauptung der Unkräftigkeit und Entbehrlichkeit der messianischen Weissagungen‘, EKZ 6 (1830), Sp.  17–21.25–31, Nr.  3 f., ist dies allerdings nicht ganz so sicher. Er spiegelt Erfahrungen aus der Judenmission wider und könnte daher auch von Ehlers (s.o. Anm.  2 04) stammen. 209   Schaff, Germany, 303. 210   So Ullmann laut E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, 21. März 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 35. 211   EKZ 37 (1845), Sp.  762.

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2  Hengstenberg und die Theologie

gewünscht hatte“, sei „abgedrungen“ worden „durch einen herben Angriff Schleiermacher’s in den Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Dr. Lücke“.212 Doch bei dem Artikel blieb es zunächst; danach ließ die EKZ Schleiermacher in der Tat unbehelligt. 1834 sandte Hengstenberg einen „schönen Beitrag“ Rudelbachs über Schleiermacher an seinen Verfasser zurück, da er es nach dem Tod des Kollegen für unangemessen hielt, eine kritische Besprechung seiner Theologie zu veröffentlichen.213 Von Schleiermachers Tod selbst, der sehr „erbaulich“ gewesen sei, berichtete er dem Vater: „Er hat mit seiner Familie das heil. Abendmal genommen und mit lauter Stimme ein Glaubensbekenntniß ausgesprochen, wo unter Anderm vorkam, daß er festhalte an dem Worte Gottes, und in dem Blute Christi seiner Seligkeit gewiß sei.“214 In der EKZ wird der Tod Schleiermachers jedoch mit keinem Wort erwähnt. Hengstenbergs Umgang mit Schleiermacher ist also durchaus ambivalent. Auf der einen Seite hat er keinerlei Verständnis für Schleiermachers subjektorientierte Theologie, auf der anderen Seite hält er sich zu dessen Lebzeiten mit Kritik zurück und legt Schleiermacher gegenüber mehr Rücksicht an den Tag als gegenüber anderen Gegnern. 215 Woran das lag, wird erst im Rückblick deutlich.

2.2.2  Die Halben und der Ganze – Schleiermacher im Licht von D.F. Strauß (1836) Zwei Jahre nach Schleiermachers Tod sah sich Hengstenberg durch die neue Situation, die mit dem Erscheinen von D.F. Strauß’ ‚Leben Jesu‘ entstanden war, genötigt, öffentlich zur theologischen Entwicklung Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhang wird nun deutlich, welches Verdienst er Schleiermacher zugute hielt. Er schätzte an ihm, daß er in einer Zeit, in der dies keineswegs üblich war, Christus in das Zentrum seiner Dogmatik gestellt habe. In dem – laut D.F. Strauß – „berühmten“216 Vorwort von 1836 läßt Hengstenberg die theologische Entwicklung des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts Revue passieren. Erst in den letzten acht des insgesamt 37 Spalten umfassenden Artikels kommt Hengstenberg auf Strauß zu sprechen und kritisiert insbesondere 212

  Ebd.   Schon als er von Schleiermachers Krankheit hörte, hielt er den Artikel zurück, Hengstenberg an Rudelbach, 29. März 1834: Kaiser, Briefwechsel, 99. Der Artikel erschien dann später in Brandts Homiletisch-liturgischem Korrespondenzblatt, s. Brandt an Rudelbach, 1835: Kaiser, Briefwechsel, 128. 214   Hengstenberg an seinen Vater, März 1834: Bachmann 3, 314; vgl. zu den verschiedenen Überlieferungen von Schleiermachers Tod Nowak, Schleiermacher, 449 f. 215   Die Kontinuität im Umgang mit Schleiermacher ist nicht so groß, wie Kramer, 92– 97, sie darstellt; am Ende seiner Arbeit (297) kommt er denn auch zu einem ähnlichen wie dem hier vertretenen Ergebnis. 216   Strauss, Streitschriften, 15. 213

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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dessen Anwendung des Mythosbegriffes auf die Evangelien.217 Doch es geht Hengstenberg an dieser Stelle gar nicht um die Einzelheiten der Straußschen Theologie. Entscheidend ist für ihn die Gesamtentwicklung, deren vorläufiger Höhepunkt mit Strauß erreicht wurde. Innerhalb dieser Entwicklung liegt nun aber das besondere Augenmerk auf Schleiermacher und der von ihm inaugurierten vermittelnden theologischen Richtung. Ihren Ausgangspunkt nimmt Hengstenbergs Betrachtung bei dem „Wiederaufleben des christlichen Glaubens“ (Sp.  11) in der Zeit nach den Befreiungskriegen, das im Bereich der Frömmigkeit eine Bewegung zu Christus hin (Sp.  10), in der Theologie aber eine Abkehr von dem rein vernünftig argumentierenden Rationalismus und Supranaturalismus gebracht habe. Es sei ein Fortschritt gewesen, daß in der Theologie seit dieser Zeit dem gegenwärtigen Wirken von Gottes Geist und der Erfahrung des Glaubens Aufmerksamkeit geschenkt werde. Es ist geradezu das Kennzeichen und die Stärke der „neuere[n] gläubige[n] Theologie“, daß sie sich von der neuen Religiosität des Volkes habe anstecken lassen. Doch auch ihre Schwächen führt Hengstenberg auf den „Zeitgeist“ zurück. Indem er als ihre Hauptschwäche hervorhebt, daß sie „in der Regel die beiden Testamente von einander [trennte]“ und den geheimen Wunsch hegte, „mit dem A.T. ganz unverworren zu seyn“, wird deutlich, daß von Schleiermacher die Rede ist. Doch wird Schleiermacher nicht erwähnt. Das scheint daran zu liegen, daß Hengstenberg die Erweckungsbewegung insgesamt zu jener Zeit noch ganz unter Schleiermachers Einfluß stehen sieht.218 Die genannten Schwächen wie die weiteren Kritikpunkte – „Scheidung zwischen einem göttlichen und einem menschlichen Elemente“ in den anerkannten biblischen Schriften, „Einfluß der verderbten Zeitansicht von Sünde und Heiligkeit“, „die Verflachung oder gar gänzliche Beseitigung der Lehre von Gottes Gerechtigkeit, und die einseitige Hervorhebung seiner Liebe“ u. a. (Sp.  13) – sollen jedoch darauf aufmerksam machen, daß die neue Theologie dem neuen Glaubensleben nicht in jeder Hinsicht entsprach. Es wird ihr zwar zugestanden, daß sie geeignet war, diejenigen anzuziehen, „welche von dem Zeitgeiste und dem Geiste Christi sich gleich lebhaft angezogen fühl[t]en“, und „christliche Ideen unter die Massen zu bringen“, ja, daß „sichtbar sich ihrer der Herr als eines Werkzeuges bei Vielen bedient hat“, doch war sie notwendig von „Inconsequenzen“ gezeichnet. Ihren Grund und ihre Einheit gewann jene Theologie 217   Hengstenberg kritisiert, Strauß habe den Mythosbegriff zerstört, indem er ihn auf die „historische Zeit“ angewandt habe, in der man jedoch von Sagen oder Lügen sprechen müssen. EKZ 18 (1836), Sp.  1–6.9–14.17–23.25–31.33–38.41–45, Nr.  1–6, hier Sp.  43 f. – Die in Klammern angegebenen Spaltenangaben im Fließtext beziehen sich im Folgenden hierauf. – A. Schweitzer weist darauf hin, daß Hengstenberg als einziger erkannt habe, daß man sich gegenüber Strauß’ mythischem Verständnis der Synoptiker nicht, wie vielfach üblich, auf das Johannesevangelium zurückziehen konnte (Schweitzer, Geschichte, 150). 218   Hengstenberg bestimmt die Stellung Schleiermachers ganz ähnlich wie Neander (s.o. Anm.  51).

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2  Hengstenberg und die Theologie

aus der „Subjektivität ihrer Urheber“. Volle Plausibilität besaß sie daher aber nur in ihrer Zeit, einer Zeit des Durchgangs: „Man wird die Personen der Vermittler ehren, zum Theil verehren, man wird die Gaben, die ihnen ertheilt worden, dankbar benutzen; aber ihre Schwächen wird man ihnen und ihrer Zeit lassen.“ (Sp.  14)

Schleiermacher wird also das bleibende Verdienst zugesprochen, den Glauben an Christus in geschichtlich entscheidender Stunde stark gemacht zu haben. Bis zu einem gewissen Grad entschuldigt dies die Zugeständnisse, die er Hengstenbergs Ansicht nach seiner Zeit machen mußte. Bei Schleiermacher – und nun wird er auch ausdrücklich genannt – war wissenschaftliches Denken und chri­ stozentrischer Glaube noch vereinbar, ja, garade um seiner Christologie willen war Schleiermacher bereit, vieles zu opfern: „Dieser [sc. Schleiermacher] hatte so Vieles aufgegeben, um nicht mit der jetzigen oder künftigen ‚Wissenschaft‘ in Conflict zu gerathen; aber eins, daß Gott in Christo Mensch geworden, hatte er nicht aufgeben können; denn damit war seine ganze Existenz verflochten.“ (Sp.  44)

Mit D.F. Strauß’ Erscheinen sei eine solche Haltung jedoch unmöglich geworden. „Mit siegender Gewalt, doch so, daß wir ihn aus seiner Niederlage nur lieber gewinnen, weist ihm Strauß nach, daß er mit dem Opfer der übernatürlichen Erzeugung, der Auferstehung, der Himmelfahrt u.s.w. u.s.w. die ‚Wissenschaft ‘ noch nicht befriedigt habe“ (Sp.  44 f.)

Denn das „eine große Wunder“ habe Schleiermacher stehen lassen, das „Urbild“ Jesus. Strauß nun bestreite gerade die Wissenschaftlichkeit der Urbildchristologie.219 Damit aber habe sich die Wissenschaft der Zeit gegen das Chri­ stentum durchgesetzt. Die Inkonsequenzen, die zu Schleiermachers Zeit plausibel wirkten, vermögen nun nicht mehr zu überzeugen. Nach Hengstenberg liegt der Grund dafür wiederum in der Entwicklung des Glaubenslebens. Die religiöse Grundstimmung, die nach den Freiheitskriegen das Volk ergriffen hatte und der sich bis zu einem gewissen Grade nicht einmal der Rationalismus entziehen konnte, verebbte 1830, indem die „unterbrochene geistige Verbindung mit Frankreich wieder eröffnet“ wurde (Sp.  18). Zeitgeist und religiöses Gefühl trennten sich. „Die Zaubersprüche gegen das Christenthum, daß es vergangenen Jahrhunderten angehöre, daß bei dem gegenwärtigen Stande der Bildung die Rückkehr zu ihm unmöglich sey, ja, daß es noch ferner in seiner alten Gestalt geltend machen, hieße die Sünde wider den heiligen Geist begehen, wurden wieder allgemein vernommen.“ (Sp.  18)

219

  Hengstenberg bezieht sich auf §  144 der Schlußabhandlung von Strauß’ Leben Jesu (Strauss, Leben Jesu 2, 710–720, insbes. 715–718).

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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Der Pantheismus als „der einzige consequente Gegensatz des Christenthums“, demgegenüber „der Deismus und Rationalismus namentlich nur sein Fötus sind“, sei nun hervorgetreten.220 Als wahre „Philosophie der Zeit“ sei der Hegelianismus aufgetreten, dessen pantheistischer Charakter sich allerdings erst so richtig in Hegels Schülern zeige. Damit steht Hengstenberg am Ende seiner Rückschau. Der Blick auf die Gegenwart ist erwartungsgemäß ein düsterer. Der Hegelsche Pantheismus habe sich zunächst im Alten Testament breit gemacht, wie sich an von Bohlen und Vatke zeige. Daß er auch vor dem Neuen Testament nicht halt mache, habe sich schließlich durch Strauß’ ‚Leben Jesu‘ erwiesen. Nun sei die Zeit erfüllt, von der Lichtenberg – gleichsam als Fremdprophet – geweissagt habe, es würde dahin kommen, „daß es ebenso lächerlich seyn wird, einen Gott zu glauben, als heutzutage Gespenster“ (Sp.  3).221 Bemerkenswert ist in Hengstenbergs Rückblick die neue Bewertung des Rationalismus und der unter seinem Einfluß stehenden historischen Kritik. Mehrmals weist er darauf hin, daß man sich veranlaßt finde, „auf Männer, wie de Wette, die doch noch mehr oder weniger von dem Grundsatze: das Heilige heilig, geleitet wurden, mit Wehmuth und Sehnsucht zurückzublicken.“ (Sp.  28, vgl. Sp.  36). Mehrmals wird darauf aufmerksam gemacht, daß es je länger je mehr „der Rationalismus [...] für zeitgemäß hielt, so viele christliche Elemente in sich aufzunehmen, als nur immer möglich war, ohne daß er sich selbst aufgab“ (Sp.  28; vgl. Sp.  18). Nun aber fange „ein jüngeres Geschlecht von Theologen an sich zu erheben, dem der Rationalismus noch zu christlich ist“ (Sp.  28).222 Vatkes ‚Biblische Theologie‘ gehe „weit über den Rationalismus, ja weit über das betende und opfernde Heidenthum mit seinem natürlichen Gottesbewußtseyn, mit seinem summum numen, quod deum vocant, hinaus“ (Sp.  34), bei Strauß zeige sich die „gänzlichste Erstorbenheit alles Gottesbewußtseyns“ (Sp.  36). In Strauß feiere die Philosophie, die es vermochte, ihn von allen religiösen Voraussetzungen zu befreien, einen Triumph: „Sie [sc. die Philosophie] kann doch ganze Leute machen, während andere nur halbe. Darin ist sie dem Christenthum gleich; dadurch sein einziger würdiger Gegner, der zuletzt allein mit ihm auf dem Kampfplatz bleiben wird, bis der Herr ihn umbringt mit 220

  Eingangs definiert Hengstenberg den Pantheismus als „positive Gottlosigkeit“, die der negativen folgt und „in den freigewordenen Tempel das eigene Ich“ stellt (4). 221   Vgl. Lichtenberg, Schriften und Briefe 1, 282; dazu Beutel, Lichtenberg, 175–179. Hengstenberg war aber wohl nicht der einzige, der die Lichtenbergsche ‚Weissagung‘ auf Strauß bezog, wie Strauß selbst mit Genugtuung feststellt (vgl. Strauss, Streitschriften, 9, Anm.  2 ). 222   Ganz analog dazu unterscheidet Hengstenberg bereits im Herbst 1835, als er in einem Artikel über Charlotte Stieglitz eher beiläufig zum ersten Mal auf D.F. Strauß zu sprechen kommt, zwischen der „veralteten“ Form des Rationalismus, die sich um Anpassung an den kirchlichen Glauben bemüht habe, heute aber „allein noch durch ihre Zahl bedeutsam“ sei, und dem neuen Geist, der sich „durch jugendliche Kraft, durch Geist und Consequenz“ Bahn breche (EKZ 17 [1835], 752).

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2  Hengstenberg und die Theologie

dem Geiste seines Mundes und seiner ein Ende macht durch die Erscheinung seiner Zukunft.“ (Sp.  36) 223

Die Pointe jener ausgemachten Steigerung liegt darin, daß – so Hengstenbergs rückblickende Einsicht – es zwar möglich war, mit dem alten Rationalismus Kompromisse einzugehen, wie es Schleiermacher zu seiner Zeit getan hat. Mit der neuesten Philosophie und Wissenschaft sei das aber nicht mehr möglich; dadurch sei auch Schleiermachers Vermittlungsprojekt obsolet geworden. „Die Weltgeschichte bewährt sich auch hier als das Weltgericht. Es kommt über kurz oder lang sicher der Moment, wo die durch Neigung verbundenen Elemente sich scheiden müssen“ (Sp.  14). Die Zeit der Scheidung ist in Hengstenbergs Augen nun erreicht.224 Die von ihm früher geteilte Vorstellung, nach der die Dunkelheit vergehe und ein neuer Morgen angebrochen sei, daß auf den Trümmern des Alten ein neuer Bau errichtet werden müsse, wird korrigiert, und von der Zukunftseuphorie der Erweckungsbewegung, die Hengstenberg zunächst erfaßt hatte, ist nichts mehr zu spüren. Man solle nicht glauben, „es sey die Zeit nicht mehr ferne, wo ohne alle unmittelbare göttliche Dazwischenkunft, auf dem bisherigen Wege ruhiger Entwickelung, alle Reiche der Welt unseres Herrn Christi seyn werden.“ (Sp.  1) Man dürfe sich nicht in seinen frommen engen Kreisen einschließen, von der „Evangelisirung [...] der ganzen Erde“ träumen und dabei übersehen, „was draußen vorgeht“. Wer die „Zeiterscheinungen ins Auge faßt“, sehe deutlich, daß „die Hoffnung auf eine auch nur äußerliche Rückkehr des von Christus abgefallenen gebildeten Europas zu ihm eine schwärmerische und chimärische ist“ (Sp.  2 ). Während Hengstenberg früher von einer Überwindung des unchristlichen Rationalismus aus dem Geist des wahren Glaubens ausging, spricht er nun in apokalyptischen Bildern vom andauernden Kampf des Glaubens mit dem Unglauben, von Licht und Finsternis: „Zwei Völker sind im Leibe dieser Zeit, und nur zwei. Immer fester und geschlossener werden sie sich entgegentreten. Der Unglaube wird mehr und mehr ausscheiden, was er noch von Glauben, der Glauben aber auch, was er noch von Unglauben an sich hat.“ (Sp.  44) 225

Die neue Situation fordere nun aber auch dazu auf, selbst die früheren Zugeständnisse an den Rationalismus aufzugeben und, insbesondere was die Kritik 223   D.F. Strauß hat die Rede von den halben und den ganzen Leuten in seiner Schrift ‚Die Halben und die Ganzen‘ von Hengstenberg übernommen. 224   Ähnlich epochal und mit vergleichbarer Emphase wird das Erscheinen von Strauß’ Leben Jesu auch von Hengstenbergs Intimfeind Karl Schwarz beschrieben, der dem Jahr 1835 für die Theologie „eine ähnliche Bedeutung wie das Jahr 1848 für das Staatsleben“ zuschreibt und die neueste Theologie in diesem Jahr beginnen läßt (Schwarz, Geschichte1, 4). 225   Das Vorwort endet (EKZ 18[1836] Sp.  45) mit je einem Zitat aus NT und AT, das auf die eschatologische Dimension des Kampfes verweist (Off b 22,17; Jer 23,19 f.).

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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an der Schrift angeht, Entscheidungen zu treffen: „Jetzt gilt es einen kühnen Entschluß, eine große Wahl; entweder muß man Alles aufgeben, oder man muß grade bis zu dem Punkte und durch dieselben Stationen wieder bergauf gehen, von dem und durch die man früher bergab gegangen.“ (Sp.  44). Zwar wird man sich dazu „nicht sogleich entschließen“, doch bis dahin gebe es nur ein dringendes Erfordernis, nämlich daß sich alle, „die Christo angehören wollen“, im Angesichte des gemeinschaftlichen Feindes durch „das Band der Liebe“ viel enger verbinden als früher, „daß sie ihre Differenzen unter einander frei und offen anerkennen und verhandeln können, ohne dadurch sich entfremdet zu werden.“ (Sp.  45). Wie der Kontext zeigt – vor der Aufforderung steht die Erinnerung an Schleiermachers Christusbindung – zielt der Aufsatz damit letztlich auf Schleiermachers Schüler. Wem es ernst mit Schleiermachers Christusliebe sei, der müsse sich nun konsequent gegen die neuen Richtungen stellen – selbst dann, wenn man sich auf die Abkehr von der bisherigen Art der kritischen Schriftforschung noch nicht einigen könne. Vergleicht man Hengstenbergs Vorwort mit denen der Vorjahre, dann zeigt sich ein deutlicher Stimmungswechsel. Selbst die Vorworte in den bewegten Jahren 1830 und 1831 klingen fad und langweilig im Vergleich zu dem Panorama, das 1836 entfaltet wird. Erst jetzt tritt die apokalyptische Metaphorik, für die Hengstenbergs Vorworte berühmt und berüchtigt sind, mit ungebrochener Kraft hervor. Erst jetzt zeigt sich Hengstenberg als Meister des Entweder – Oder. Diese neue Perspektive setzt aber auch Schleiermacher und seine Schüler in ein neues Licht.

2.2.3  Ob Schrift? Ob Geist? – das Erbe Schleiermachers (1845) Der Eindruck, der von Strauß’ ‚Leben Jesu‘ ausging, führte Hengstenberg dazu – so das Ergebnis des letzten Abschnittes –, sich in seinem Vorwort 1836 an die der Vermittlung von Glaube und modernem Bewußtsein verpflichteten Schüler Schleiermachers zu richten. Er forderte sie auf, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen Stellung zu beziehen. Diese Konstellation bildet nun aber den Hintergrund für die Auseinandersetzungen und Verwerfungen, welche die 40er Jahre mit sich bringen. Die Diskussionen, die in jenen Jahren zwischen den Schleiermacherianern einerseits und dem Hengstenbergschen Lager andererseits auf brachen, lassen sich nämlich als Streit um die Frage interpretieren, ob Schleiermachers „Vision eines faktisch dogmenfreien Protestantismus“226 angesichts der jüngsten Entwicklungen haltbar sei oder nicht. 226   Ohst, Schleiermacher, 166; vgl. 174; Friedrich, Eichhorn, verfolgt das Konzept unter dem Stichwort der „undogmatischen Union“ (ebd., 31). Friedrich scheint aber erstaunlicherweise der Meinung zu sein, daß es sich beim Streit um Schleiermachers Vision einer pluralistischen Kirche um eine politische Auseinandersetzung gehandelt habe, die sich lediglich in

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2  Hengstenberg und die Theologie

Schleiermacher hatte sich in seinem Zweiten Sendschreiben an Lücke dazu bekannt, er wolle im Unterschied zu den Rationalisten und ihren Gegnern „recht viel Raum machen innerhalb des Kirchlichen gegen beide Partheien, die jede von ihrem Brennpunct aus ihn immer mehr zu verengern suchen, so daß wirklich Gefahr entsteht, daß er sich doch theile“. Diesem Anliegen sollte seine Glaubenslehre durch den Aufweis des Raumes, der „noch zwischen den kirchlichen Thesen und den ihnen gegenüberstehenden häretischen“ in allen Hauptpunkten bleibe, dienen.227 Schleiermacher hatte mit diesen Äußerungen wahrscheinlich vor allem die Aufregungen im Auge, die durch August Hahns Leipziger Rationalismusthesen entstanden waren.228 Die Berechtigung seiner Befürchtungen dürfte sich ihm durch den „Hallischen Streit“ im darauffolgenden Jahr bestätigt haben. Es war daher nur konsequent, daß er in seinem Sendschreiben an Schulz und von Cölln erneut seine „Neufassung der Kirche als einer Glaubensgemeinschaft, die das größte denkbare Maß an Lehrverschiedenheit in sich zu ertragen und zu verarbeiten vermag“229, vortrug und dafür sowohl von seiten der Rationalisten als auch von seiten der EKZ kritisiert wurde, die beide – je nach ihrer Art – für die Lehreinheit der Kirche eintraten.230 Anfang der 40er Jahre erhielt der Streit um die Konzeption Schleiermachers neue Brisanz. Für Hengstenberg zeigte sich bereits an Strauß’ Auftreten, daß es unvermeidlich war, die Grenzen der Kirche scharf zu markieren, da die Kirche sonst vom Zeitgeist überflutet würde. Neue Nahrung erhielt die Meinung durch das Auftreten der „Protestantischen Freunde“ in der Provinz Sachsen. Am 29. Juni 1841 versammelten sich in Gnadau bei Magdeburg 16 Theologen, um darüber zu beraten, „wie man die gemeinsame rationalistische Glaubensauffassung in der evangelischen Landeskirche am besten vertreten und behaupten könne.“231 Zu dem Treffen hatte Lebebrecht Uhlich, ein bei Wegscheider gebildeter Pfarrer aus dem nahegelegenen Pömmelte bei Schönebeck, eingeladen. Bereits theologischen Fragen – Union und Konfession – artikuliert hätte (vgl. ebd., 456). Da er die Kirchenpolitik rein formal als „Ringen verschiedener Gruppierungen innerhalb der Kirche um Einfluß auf ihre Entwicklung“ (ebd., 11) beschreibt und dabei insbesondere die Triebfedern der konservativen Gruppierung ausblendet, bleibt seine Arbeit in den Bahnen der alten funktionalistischen Politisierungsthese (s. dazu unten Teil 4.3.1). 227   Schleiermacher, An Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben: KGA I, 10, 358,6–9.11 f. 228   Vgl. dazu z. B. Vincent, Wegscheider, 232–236; auch die Berufung Tholucks nach Halle sowie Wegscheiders gegen „Mystizismus und Fanatismus“ gerichtete Bemerkungen in der 5. Aufl. seiner ‚Institutiones‘ (s. ebd., 221–227) könnten die berechtigte Furcht vor Polarisierung begründet haben. 229   Ohst, Schleiermacher, 160. 230   Ohst, Schleiermacher, 166–170. Der Artikel ‚Ueber das neueste Sendschreiben des Herrn Dr. Schleiermacher an die Herren DD. v. Cölln und D. Schulz [...]‘ in: EKZ 8 (1831), Sp.  105–117, Nr.  14 f. stammte von Otto von Gerlach (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 18), die Anregung dazu ging aber von E.L. v. Gerlach aus (Ders. an Hengstenberg, Halle 18. Nov. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 52). 231   Brederlow, Lichtfreunde, 26; vgl. Friedrich, Eichhorn, 112, der von einem „Schutzbündnis“ spricht.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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in seinem Einladungsschreiben betonte er, daß man die „Sache des Geistes“ gegenüber „Buchstaben und Satzung“232 vertreten wolle. Später bekannten sich die Protestantischen Freunde in spätrationalistischer Manier zum Primat der Vernunft und den vernunftreligiösen Grundprinzipien Gottesglaube, Unsterblichkeit der Seele und Tugend der Menschen.233 Damit vertraten sie eine besonders in der Provinz Sachsen breit vertretene Richtung von Geistlichen, die ihre Prägung im theologischen Rationalismus erhalten hatte.234 Anlaß für den Zusammenschluß war die politische Entwicklung. Am 7. Juni 1840 hatte Friedrich Wilhelm IV. die Nachfolge seines Vaters angetreten. In den ersten Monaten seiner Regierung nährte sein Auftreten die Hoffnungen der liberalen Kräfte in Kirche und Staat, doch schon bald schlugen die Hoffnungen in das Gegenteil um, da man den Einfluß konservativer Kräfte auf den König wahrzunehmen glaubte. Der Grund waren in erster Linie Personalentscheidungen, die der König bis Ende 1840 und Anfang 1841 traf: General Ludwig Gustav von Thile, bekannt durch sein Engagement in den erweckten Vereinen und im Volksmund „Bibel-Thile“ genannt, wurde erster Kabinettsminister; Anton Graf zu Stolberg-Wernigerode, bisher Oberpräsident der Provinz Sachsen und ebenfalls der Erweckungsbewegung entstammend, berief der König als Hausminister ins Staatsministerium; Friedrich Julius Stahl, der Verfechter des christlichen Staates, erhielt einen Ruf an die Ber­liner Universität, in Königsberg wurde gegen massiven Widerstand innerhalb der Universität der Hengstenbergschüler Heinrich A. Chr. Hävernick installiert.235 Diese und ähnliche Entscheidungen förderten in der Öffentlichkeit den Eindruck, daß nun doch die bereits vor der Regierungübernahme mit Argwohn betrachtete „pie-

232   Nach Kampe, Geschichte 2, 167 heißt es in der Einladung Uhlichs: „Wir sind die Geistlichen, also Die, welche gegen Buchstaben und Satzung, Form und andres Werk des Staubes die Sache des Geistes zu führen haben. Dazu aber ist’s gut, daß man nicht allein stehe.“ Vgl. auch Brederlow, Lichtfreunde, 26. 233   Vgl. Brederlow, Lichtfreunde, 27; Kampe, Geschichte 2, 169; Friedrich, Eichhorn, 123; vgl. auch das „Glaubensbekenntnis“, das 1842 in Leipzig aufgestellt wurde (abgedruckt bei Friedrich, Eichhorn, 464 f.). 234   Akademischer Repräsentant der Richtung war in erster Linie Wegscheider, der offen mit den Protestantischen Freunden sympathisierte. Bereits 1828 hatte er denjenigen, die „einem verjährten papirenen Pabst fröhnen“, die Protestanten gegenübergestellt, welche „sich an den Geist des Protestantismus und die Perfectibilität des letztern halten wollen“ (Wegscheider an E. Reuss, Halle 27. Jan. 1828: Vincent, Wegscheider, 370). Pfarrer Sintenis, einer der 16 Theologen, rühmt Wegscheider als ‚zweiten Luther‘ (ebd., 4). Zu Recht betont Vincent den großen Einfluß von Wegscheider und anderen Rationalisten auf die Pfarrerschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (ebd., 3–5). Die theologische Richtung, aus der die Protestantischen Freunde hervorgingen, war keine Randerscheinung (so auch Ohst, Rez. Kraus, Sp.  688). 235   Vgl. dazu Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 96–103; Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 134 f.; Clark, Preußen, 503–508; Friedrich, Eichhorn, 58–63; zu den Konflikten um Hävernicks Berufung Ernst, Auferstehungsmorgen, 251–304.

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2  Hengstenberg und die Theologie

tistische“ Kronprinzenpartei das Sagen bekommen würde.236 So verwundert es nicht, daß Ende 1840 Gerüchte über ein geplantes Religionsedikt die Runde machten.237 In den folgenden Jahren führte das ungeschickte Auftreten des neuen Kultusministers Johann Albrecht Friedrich Eichhorn dazu, daß sich die Ansicht verfestigte, die Freunde und Beamten des Königs gingen „erbarmungslos daran, der Kirche ihre orthodoxe Auffassung zu oktroyieren, ihren Einfluß auch auf Neu­ernennungen in der Kir­che auszudehnen und Anhänger des althergebrachten theologischen Rationalismus zu schikanieren.“238 Dadurch wurde auch die liberale Öffentlichkeit alarmiert. Zunächst aber waren es Uhlich und seine Protestantischen Freunde, die sich angesichts der politischen Entwicklungen gegen das Verdrängen des rationalistischen Erbes aus der Kirche verbündeten.239 Wegen ihrer Berufung auf die Vernunft bekam die Gruppe um Uhlich unter Aufnahme der Lichtmetaphorik der Auf klärungszeit im Volksmund die Bezeichnung „Lichtfreunde“. Zunächst handelte es sich um eine reine Pastorenvereinigung, zu der sich ein Jahr später ebenfalls in Gnadau das konservative Pendant bildete, der „Kirchliche Centralverein für die Provinz Sachsen“240. 236   Varnhagen von Ense notiert am 18. März 1842 in seinem Tagebuch: „Wer weiß, ob wir nicht Hengstenberg noch als Minister sehen!“ (Varnhagen von Ense, Tagebücher 2, 50). 237   Brederlow, Lichtfreunde, 19; Friedrich, Eichhorn, 100, der darauf hinweist, daß es für das Gerücht keinen realen Anlaß gab (ebd., Anm.  197). 238   So urteilt auch noch Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 145, der zwar betont, daß sich der König in religionspolitischen Fragen von vielen Seiten beraten ließ, ohne sich dem Einfluß einer Gruppe ausschließlich auszusetzen, dafür aber Eichhorn und sein Ministerium ganz für den konservativen Kurs verantwortlich macht (vgl. ebd., 112–116.155–151); ähnlich Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 138.135, der aber den Einfluß Stahls höher veranschlagt. Demgegenüber hat Fried­rich, Eichhorn, 86–99 und passim überzeugend nachgewiesen, daß Eichhorn nicht „zur ‚Partei Hengstenberg‘ gehörte“ (so fälschlicherweise Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 135), sondern in erster Linie durch diplomatisches Ungeschick den Verdacht einer Hinneigung zum „Pietismus“ auf kommen ließ. 239   Anlaß für die Gründung der „Protestantischen Freunde“ war also nicht der sog. ‚Magdeburger Gebetsstreit‘, den Pfarrer Wilhelm Franz Sintenis mit seiner Ablehnung der Anbetung Christi auslöste (so die Selbststilisierung der Lichtfreunde, vgl. Uhlich, Bekenntnisse, 12 f.); er gehörte noch im wesentlichen der Ära Friedrich Wilhelms III. an (so urteilt auch Friedrich, Eichhorn, 118 f.); ebensowenig ist eine „massiv verschärft[e]“ Kampagne der EKZ auszumachen, die nach Duntze, Berlin, 62, in Anlehnung an Gabriel, Fortschritt, 163– 165 (bei Duntze mit falscher Seitenzahl angegeben) für das Entstehen der später sog. ‚Lichtfreunde‘ verantwortlich sein soll. Richtig ist, daß die EKZ von der spätrationalistischen Renaissance zunächst kaum Notiz genommen hat (so auch Friedrich, Eichhorn, 128). 240   Vgl. Lisco, Kirchen-Geschichte, 235, der allerdings die Reihenfolge der Gründung beider Gruppierungen umdreht; daran ist richtig, daß bereits seit 1826 ein informelles Predigerkränzchen im Saal der Herrnhuter in Gnadau stattfand. Auch der Centralverein war Gast bei den Brüdern, während sich die Protestantischen Freunde im Vorjahr im „dortigen [...] anständigen Gasthof “ versammelt hatten (so die Einladung Uhlichs nach Kampe, Geschichte 2, 167). Die Wahl fiel beiderseits auf Gnadau, weil der Ort an der Eisenbahnstrecke von Halle nach Magdeburg verkehrstechnisch günstig lag. Sprecher des Centralvereins wurde auf Jahre der Bierer Pfarrer Westermeier; über die Versammlungen in Gnadau, bei denen häufig wichtige Persönlichkeiten des kirchlich konservativen Milieus wie Tholuck, E.L. von

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Doch bereits bei den Treffen im Folgejahr in Leipzig und Köthen nahm auch eine bedeutende Zahl von Laien, hauptsächlich Volksschullehrer, teil, wodurch sich der Charakter der Versammlungen veränderte und das „agitatorische Moment“241 in den Vordergrund trat. Mit der Zeit nahmen die Treffen den Charakter einer Volksbewegung an, in der sich die politischen Forderungen des Vormärz Ausdruck zu verschaffen suchten. Kritik an der herrschenden Partei in der Kirche verwandelte sich in Kritik am herrschenden politischen Regime, wofür die enge Verbindung von Kirche und Staat hinreichend Anhalt gab.242 Für Hengstenbergs Einschätzung der Lichtfreunde war nun aber entscheidend, daß die Gruppierung auch in ihren theologischen Äußerungen zunehmend radikaler auftrat. Erst im zweiten Halbjahr des Jahrganges 1844 der EKZ beginnt eine intensive und scharfe Auseinandersetzung mit den Lichtfreunden,243 und das deckt sich genau mit der Entwicklung innerhalb der Bewegung der Protestantischen Freunde. Bei der Pfingstversammlung in Köthen trat nämlich 1844 der Hallenser Pfarrer Gustav Adolph Wislicenus auf und goß mit seinem Vortrag „Ob Schrift? Ob Geist?“ Öl ins Feuer. Der Vortrag selbst exi­ stiert nicht in schriftlicher Form, Wislicenus hat ihn später, die bereits existierenden Berichte über und Reaktionen auf seine Äußerungen aufnehmend, zu einer Broschüre ausgearbeitet.244 Sie verteidigt, wie bereits zuvor der Vortrag, die These, daß sich das Schriftprinzip überlebt habe. Heute sage man: „Die Vernunft hat Recht und entscheidet über die Schrift. [...] Wir haben also ein anderes Formalprinzip, als die alte Kirche hatte, allmählig angenommen, wenn es auch noch nicht so entwickelt und ausgesprochen ist, als jenes. Wir haben eine andere höchste Autorität. Sie ist der in uns selbst lebendige Geist.“ (20)

Ganz bewußt formuliert Wislicenus seine Aussage nicht als eine neue, umstürzende Erkenntnis. Sie verdanke sich vielmehr den Ergebnissen der rationalistischen Bibelwissenschaft des 18. Jahrhunderts (36). Sie habe zu Tage gefördert, daß sich die Bibel ihres historischen und disparaten Inhalts wegen nicht als Glaubensnorm eigne (25.37 f.), sie besitze keinen „übermenschlichen Charakter“ (9). Sei sie aber nur Menschenwort, dann dürfe man sich nicht unter sie beugen. Die Reformatoren hätten mit Recht die Freiheit von Menschenwort und Traditionen gelehrt, dabei aber übersehen, daß auch die Verfasser der Gerlach u. a. auftraten, wurde regelmäßig in der EKZ berichtet. Anfangs unterhielten beide Gruppierungen noch „freundliche Beziehungen“ (Friedrich, Eichhorn, 128). 241   Brederlow, Lichtfreunde, 29. 242   Vgl. Brederlow, Lichtfreunde, 31: „Mit den Schlagworten ‚Freiheit‘ und ‚Vernunft‘, die gegen die pietistische Partei verwandt wurden, konnte man auch die politische Praxis des preußischen Staates messen. Das Interesse der bürgerlichen Schichten an den Versammlungen der ‚Lichtfreunde‘ ist wohl auch auf diese politische Implikationen zurückzuführen.“ 243   In seinen Jahresrückblicken im Vorwort erwähnt Hengstenberg die Lichtfreunde erstmalig 1845 (s.u. Anm.  248). 244   Wislicenus, Schrift; ebd., III f. zur Entstehung. Die Belege hieraus im Folgenden im Fließtext.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Schrift nur Menschen waren (39). Die Bibel biete daher auch nur Zeugnisse vom Glauben früherer Zeiten. Ihr sei nur insofern zu folgen, als sie das Ziel habe „den sittlichen Geist in den Menschen zu erwecken [...]. Das Leben des heiligen Geistes in den Menschen ist also das eine große Ziel der Schrift, und der eine große Inhalt ihrer selbst. Dieses Ziel haben wir auch; mit diesem wesentlichen Inhalt stimmen wir überein.“ (39) 245

Dienen dürfe man daher allein dem Geist, dem Geist nämlich, „der von Anbeginn [...] die Menschen inbrünstig gemacht hat, die Wahrheit zu erkennen, und ihnen die Herzen aufgethan hat, sich als Brüder zu finden, – es ist der Geist, der die Menschen begeistert hat von Anbeginn, lieber im Licht als im Dämmerschein oder in der Finsterniß zu leben, sich selbst zu verleugnen mit ihren hergebrachten Vorurtheilen und ihrem Herzen und ihrem Haß und ihrer Selbstsucht, und sich dem allgemeinen Leben, der Wahrheit und der Menschheit hinzugeben.“ (32)

Dieser Geist verwirkliche sich in der gegenwärtigen Zeit, insbesondere in der Wissenschaft. Noch nie habe er „so ernstlich darauf gedacht, die Menschen wirklich zu einem Brudervolk zu machen“ (34). Der Rationalismus habe bisher noch so getan, als wolle er auf dem Boden der Schrift stehen, doch jetzt müsse der „Götzendienst [...], den man mit der Schrift treibt“ auf hören, die „Halbfreien“ müßten endlich den Mut haben, ganz frei zu werden, stehend „auf dem freien Geiste der Wahrheit, welcher fortschreitet und das Gesetz seines Fortschritts nur in sich selber trägt.“ (59). Längst habe man sich de facto von der Geltung der Bibel verabschiedet. Zwischen dem Denken der alten und neuen Zeit bestehe „eine große Kluft; erkannt von Wenigen, empfunden von Allen, erfolglos geflohen von Vielen, angeklagt und ohnmächtig bekämpft von einem Häuflein.“ (11) Es sei die Zeit, sich zu entscheiden, die Alternative laute: Ob Schrift? Ob Geist? „Es ist die Frage: Ist der Lebensgrund der Protestantischen Kirche die Protestation gegen alle und jede Gebundenheit der Gemeinde unter das Ansehen von einzelnen Menschen in Gegenwart und Vergangenheit; oder sind davon für immer ausgenommen die Evangelisten und Apostel und sonstigen Verfasser der biblischen Schriften, als Herrn unsers Glaubens? – Es ist die Frage: Soll in der Kirche das gelten, was der lebendige Geist bezeugt, oder was geschrieben steht? Will sie dem lebendigen Geist, der Wissenschaft, dem selbständigen Denken und Thun, der Macht des gegenwärtigen Lebens, ‚Teufel!‘ zurufen, oder es als heilig und göttlich anerkennen?“ (61)

Wislicenus ruft – insofern konsequent – zu seiner Verteidigung keine theologischen Autoritäten an, er verweist lediglich auf das vom Rationalismus überkommene und zum Gemeingut gewordene Erbe. Allerdings betont er, daß man 245   Es ist eine der Inkonsequenzen von Wislicenus’ Schrift, daß er sich einerseits darauf beruft, daß man in der Schrift kein Zentrum eruieren könne (21–26), doch andererseits selbst eine Hauptintention der Schrift behauptet.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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über den verschwommenen Standpunkt des Rationalismus hinauskommen müsse. Sein Geistbegriff und seine Vorstellung von der selbständigen Entwicklung des Geistes in der Wissenschaft zeigt, daß er über den Spätrationalismus, wie ihn die Lichtfreunde zunächst vertraten, hinausgeht und nun vor allem auch Anleihen in der Hegelschen Schule nimmt.246 Die Tatsache, daß er in der Auseinandersetzung mit den als „altkirchlich“ bezeichneten Gegnern auf die Alternative Schrift oder Geist zurückgreift, ist keineswegs neu. Sie wurde bereits von Schleiermacher stereotyp verwendet, wenn er von den Theologen der Erweckungsbewegung sprach.247 Jedoch radikalisiert Wislicenus die Alternative insofern, als er den Geist nun völlig von der Schrift löst und gegen die Auffassung polemisiert, man könne so an der Schrift festhalten, daß man ihren Geist als Norm anerkenne (20): „Eine Autorität ist doch nur der in der Menschheit, und auch in euch, lebendige und sich frei bewegende Geist der Wahrheit.“(22) Es ist kein Zufall, daß Hengstenberg den Lichtfreunden erst im Zusammenhang mit Wislicenus’ Auftreten größere Aufmerksamkeit zumaß. Sah er sie zuvor als Epiphänomen des untergehenden alten Rationalismus an, trat ihm nun in ihnen der Geist der neuen Wissenschaft entgegen, den er in seinem Vorwort von 1836 mit D.F. Strauß heraufziehen gesehen hatte und an dem jedes Vermittlungsprojekt scheitern mußte. Damit stellte sich aber nun erneut die Frage nach der Haltung der Schleiermacherschüler, ja sie stellte sich verschärft, da mit der Alternative von Schrift und Geist Schleiermachers polemischer Wortgebrauch erneut in den Ring geworfen worden war. Von hier aus erklärt es sich, daß Hengstenberg seine Aufmerksamkeit in der Kirchenzeitung von 1845 in bisher nie dagewesener Weise dem Erbe Schleiermachers zuwendet. Andeutungen dazu finden sich bereits im Vorwort von 1845,248 im Frühjahr wird Hengstenberg deutlicher, in ganzer Schärfe äußert er sich aber erst in der zwei246   Vgl. auch Friedrich, Eichhorn, 132; Kampe Geschichte 2, 169. Umstritten ist, ob bei Wislicenus bereits Einflüsse Feuerbachs, wie sie später in der freien Gemeinde in Halle auszumachen sind, wirksam werden (ebd., Anm.  92; Brederlow, Lichtfreunde, 10 f.30). 247   Vgl. die Belege bei Ohst, Schleiermacher, 164 f.; Reflexionen zum Verhältnis von Geist und Buchstabe, Glaube und Lehre finden sich bspw. in der dritten Augustanapredigt (Schleiermacher, Sämtliche Werke 2/2, 637–652; vgl. dazu auch Mehlhausen, Wirkungsgeschichte, 114 f.). 248   Hengstenberg kritisiert die Schleiermacherschüler, namentlich Sydow, dafür, sich auf der Provinzialsynode nicht von den Rationalisten, sprich: Lichtfreunden distanziert zu haben (EKZ 36 [1845], Sp.  43–47, Nr.  6 ); vgl. zur Provinzialsynode Neuser, Provinzialsynoden, 344–346; Friedrich, Eichhorn, 149–207, v. a. 179–188 und unten 3.5.3. Auffälligerweise spielt Hengstenberg im Vorwort von 1845 (EKZ 36 [1845], Sp.  33–43, Nr.  5 f.) die Bedeutung der Lichtfreunde herunter und deutet sie noch im Licht des älteren Rationalismus. Damit deckt sich, daß er im Grunde nur auf Uhlich eingeht, von Wislicenus’ Vortrag aber nur den Guerikeschen Bericht kennt, aus dem die Haltung des Hallenser Pfarrers noch nicht in voller Schärfe hervorgeht. Zudem dürfte die schriftliche Ausarbeitung, die ja erst 1845 erschien, radikaler gewesen sein als der Vortrag; auch könnte eine Rolle spielen, daß nach Hengstenbergs Wahrnehmung bislang kaum Verteidigungsschriften zu Gunsten der Lichtfreunde erschienen waren (ebd., Sp.  39 f.).

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2  Hengstenberg und die Theologie

ten Hälfte des Jahres, nachdem der Streit um die Lichtfreunde zum Politikum geworden war. Im Frühjahr 1845 erschien Wislicenus’ Verteidigung seines Vortrages in gedruckter Form. Inzwischen war auch das eher zögerliche Konsistorium in Magdeburg vom Kultusministerium dahin gedrängt worden, eine förmliche Befragung Wislicenus’ durchzuführen. Sie fand am 14. Mai in Wittenberg statt; seit diesem Zeitpunkt war Wislicenus beurlaubt, später folgte die Suspension (28. Juli) und im darauffolgenden Jahr die Amtsenthebung.249 Einen Tag nach dem Kolloquium in Wittenberg trafen sich die Protestantischen Freunde zu ihrer Pfingstversammlung in Köthen. Von den rund 3000 dort versammelten Teilnehmern wurde Wislicenus begeistert empfangen und gefeiert. In einer Erklärung stellten sich ca. 500 Teilnehmer namentlich hinter den in ihren Augen auf Betreiben der Konservativen in Berlin vom Konsistorium zu Unrecht zurechtgewiesenen Pfarrer, allerdings ohne seine Radikalität in allem zu teilen. Jetzt zeigte sich, daß die „Altrationalisten um Uhlich“250 im Grunde eine andere Position vertraten als „die von Hegel und Strauß geprägten Hallenser um Wislicenus“251. Gleichwohl vereinte man sich „auf dem Strom der augenblicklichen Begeisterung“ mitschwimmend, indem man die Übereinstimmung mit Wislicenus „im Prinzip“ erklärte.252 Darüber hinaus wurden die Versammlungen zunehmend zu Demon­strationen derjenigen, die mit der preußischen Regierung und den politischen Verhältnissen unzufrieden waren. Die Massenbewegung, die inzwischen entstanden war und aus der sich vielerorts kleinere Gruppen bildeten, ließ die Beteiligten für einige Zeit darüber hinwegsehen, daß sie sich vor allem der gemeinsamen Opposition, nicht aber gemeinsamen Interessen oder Einstellungen, am wenigsten gemeinsamen religiösen Anliegen verdankte. Eine Woche nach der Köthener Demonstration für Wislicenus trafen sich in Berlin am 21. und 22. Mai die Geistlichen der konservativen Richtung zu ihrer turnusgemäßen Pastoralkonferenz. Superintendent Seegemund sprach unter dem Titel ‚Ob Schrift? Ob Geist?‘ über 2 Kor 3, Stahl referierte über die Kir­ chenzucht und Hengstenberg hielt einen Vortrag ‚Über die Notwendigkeit, mit 249

  Vgl. dazu die Darstellung von Wislicenus selbst (Wislicenus, Amtsentsetzung) und bei Friedrich, Eichhorn, 213–218. 250   Brederlow, Lichtfreunde, 31; zum Verlauf ebd., 30 f. 251   Friedrich, Eichhorn, 230; zur Köthener Versammlung von 1845 ebd., 226 f., die soziale Zusammensetzung der Wislicenusunterstützer bei Brederlow, Lichtfreunde, 44. 252   Brederlow, Lichtfreunde, 31 mit Anm.  29. In der Erklärung heißt es unter anderem: „Was verschulden wir es, und was verschuldet es die protestantische Kirche, wenn eben in dieser Kirche eine Partei ihren ganzen Namen und Beruf mißversteht, und sich geberdet, als wäre sie mit ihrem starren Festhalten an Formen und Bekenntnißschriften einer vergangenen Zeit die Kirche, wir aber die Abgefallenen, die Feinde?“ (Kampe, Geschichte 2, 176) – damit gibt sie Stichwörter vor, die in den Erklärungen von 1845 (s.u.) wieder auftauchen werden.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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dem Schriftprinzip der Evangelischen Kirche mehr Ernst zu machen, nebst Auslegung von Ps. 110‘.253 Hengstenbergs Vortrag ist seine erste Reaktion auf die theologische Radikalisierung der Lichtfreunde durch Wislicenus. Sie wendet sich aber nicht an Wislicenus, da es für ihn offenkundig war, daß sich der Hallenser durch seine Thesen selbst vom Boden des reformatorischen Christentums verabschiedet hat,254 sondern fordert zur Selbstkritik der Kirchlichen auf, „ob denn unter uns das Wort Gottes sich seiner vollen Ehre erfreut“ (Sp.  433). Ganz analog zu seiner Reaktion auf Strauß wendet sich sein Blick dabei wiederum auf die Vermittler, auf Schleiermacher und seine Schüler. Der Abfall von der Schrift sei nämlich, so Hengstenberg, in der Kirche von ihren „im Ganzen und Großen treuen Söhnen“ angebahnt worden. Damit kommt Hengstenberg wie bereits 1840 (s.o.) auf die Rolle des Pietismus zu sprechen. Zinzendorf und die von ihm ausgehende Richtung der Brüdergemeine hätten zwar das Materialprinzip der Reformation, die Rechtfertigungslehre, betont, sich aber nie wirklich in die Schrift vertieft: „Er setzte an die Stelle des Wortes Gottes das christliche Gefühl, an die Stelle des: es ist geschrieben [...], das: es ist mir so, ein schlechter Tausch, da auch dem gefördertsten Christen oft sehr sonderbar zu Muthe ist.“ (Sp.  434). Der Segen dieser Verirrung sei gewesen, daß es für die Brüdergemeine keinen Anlaß gab, sich von der auf kommenden Bibelkritik in Frage stellen zu lassen, die Kehrseite bilde aber eine Eintönigkeit, die immer entstehe, „wenn man aus dem unendlich reichen Inhalt der Schrift etwas Einzelnes herausreißt“ (Sp.  436). Völlig richtig gesehen habe dies Bengel, „der Mann, der, wie wenige Theologen, seine Schuldigkeit gegen die heilige Schrift erfüllt hat“ (Sp.  437). Wie schon in dem Vorwort von 1840 zeigt sich Hengstenberg völlig überzeugt von Bengels Kritik an den Herrnhutern.255 Diesmal aber zieht er, wie man sich schon denken kann, die Linie aus: Auch Schleiermacher habe „in merkwürdiger Berührung mit Zinzendorf “ „das christliche Bewußtseyn, die innere Erfahrung, das Gefühl“ gegen den Rationalismus in Anschlag gebracht und damit zu seiner Zeit einen wichtigen Schritt zur Überwindung des kalten „Vernünfteln“ getan (Sp.  437). Jedoch führe dies, wie bei Zinzendorf, zu Einseitigkeiten. Die Schrift werde bei Schleiermacher beschnitten, „von der unreinen und un253

  Der Bericht von der Pastoralkonferenz findet sich in der EKZ 36 (1845), Sp.  464– 472.477–480, Nr.  48 f.; Hengstenberg veröffentlicht seinen Vortrag ebd., Sp.  433–440.441– 448.452–456, Nr.  45–47 und Stahl den seinigen ebd., Sp.  449–452.457–464, Nr.  47 f.; die folgenden Belege im Fließtext beziehen sich auf Hengstenbergs Vortrag. 254   So äußert er sich im Vorwort von 1843 zu den Linkshegelianern, indem er von einem „Selbstverbrennungsprozeß“ dieser Art von Rationalismus ausgeht, den man daher sich selbst überlassen könne (EKZ 32 [1843), Sp.  8 ). 255   Hengstenberg macht sich Bengels Ansicht in der Vorrede des ‚Gnomon‘ zu eigen, daß das „es ist geschrieben“ so in Verachtung geraten sei, „daß diejenigen, die sich mit der ganzen Schrift, und mit ihr allein nähren, für geistlos und thöricht gehalten werden“ (EKZ 36 [1845], Sp.  437; Bengel, Gnomon, Praefatio, § 27 [ed. Bengel / Steudel, XXXIII]); vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Bengel und Zinzendorf Mältzer, Bengel.

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2  Hengstenberg und die Theologie

reifen Subjektivität gerichtet, der auf diese Weise das Mittel ihrer Reinigung und Förderung genommen ist“ (Sp.  438). Bei Schleiermacher geschehe dies nun aber nicht mehr unreflektiert wie in der Brüdergemeine, sondern die Stellung zur Schrift weiche bei ihm prinzipiell von der älteren, der eigentlich evangelischen ab (Sp.  437). In der „gläubigen Theologie“ der Schleiermacherschüler setze sich diese Linie fort. Zwar bekannten sie sich zum Schriftprinzip der Kirche, doch auch sie nähmen die Bibel nicht als ganze ernst, sondern unterwürfen sie ihrer Subjektivität. Doch habe sich seit Schleiermachers Zeiten die Situation geändert, da durch Strauß und seine Nachfolger das Gericht über jenen vermittelnden Umgang mit der Schrift ergangen sei, ein Gericht, „das als ein göttliches betrachtet werden sollte – Strauß ist so gut ein Knecht des Herrn, wie Nebucadnezar in der Schrift so genannt wird“ (Sp.  439). Hengstenberg knüpft also an die bereits 1836 gestellte Alternative an: Man müsse sich jetzt entscheiden: Entweder Bibelforschung unter rationalistischen Prämissen bis hin zu Strauß’ und Wislicenus’ Konsequenzen oder eine andere Art der Bibelforschung, die der Schrift ganz und als ganzer die letztentscheidende Autorität zuspricht. Deutlicher als bisher betont er nun mit Bengel das tota scriptura. Zur Entscheidung gerufen sind darum nicht nur die Schleiermacherschüler, sondern auch diejenigen, „welche das Bekenntniß der Kirche in seinem ganzen Umfange annehmen“, denn auch bei ihnen liege „die eigentliche Schriftforschung“ im argen und man begnüge sich häufig mit der schnellen Erbauung (Sp.  441). Demgegenüber bleibe die Bibel jedoch „den Nützlichkeitsmenschen immer mehr oder weniger ein verschlossenes Buch“ (Sp.  442). Mit einer Mahnung an die sich auf Pastoralkonferenzen versammelnden „frommen“ Pastoren schließt Hengstenberg: „Viele suchen jetzt das Heil der Kirche in der Rückkehr zu ihren Bekenntnißschriften, aber diese kann nur auf Grund einer aufrichtigen und vollständigen Rückkehr zur heiligen Schrift erfolgen, und nur insofern heilsam seyn, als sie diese Grundlage hat.“ (Sp.  443)

Von ihrer ernsthaften Bindung an die Schrift hänge das Heil der Kirche ab. Ewig wahr bleibe Bengels Wort: „quando viget ecclesia, scriptura splendet, quando ecclesia aegrotat, scriptura situm contrahit. Itaque ecclesiae scripturaeque facies simul vel sana solet apparere vel morbida.“ (Sp.  443) 256 . Damit war eine Kirche gefordert, die der Auffassung Wislicenus’ diametral widersprach, die aber auch zu Schleiermachers Pluralismuskonzept in unaus­gleichbarem Widerspuch stand.257 256

  Bengel, Gnomon, Praefatio, § 5 (ed. Bengel / Steudel, X).   Ähnlich wie in dem Streit um die Bekenntnisbindung 1830 traf sich Hengstenberg mit seinen rationalistischen Gegnern in der Entschiedenheit, während Schleiermacher und seine Schüler elastische Lösungen bevorzugten. Wislicenus hatte jedenfalls offen ausgesprochen, daß er einer sich dem Schriftprinzip verschreibenden Kirche den Rücken kehren würde: „Sobald ich mich völlig überzeugt halten werde, daß die evangelische Kirche der Unterwür257

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Die offene Konfrontation ließ nicht lange auf sich warten. Durch Kabinettsordre vom 5. August 1845 wurden die Zusammenkünfte der Lichtfreunde verboten, sofern sie den Charakter ständeübergreifender Volksversammlungen, sprich: einer politisch gefährlichen Massenbewegung annahmen.258 In den Augen der Lichtfreunde und ihrer Sympathisanten war dies das Werk der konservativen Gegner, die damit wieder einmal ihren Einfluß auf die Regierung unter Beweis gestellt hätten. Darum erhob sich eine Welle des Protests – nicht gegen die Regierung, sondern gegen die „pietistische Partei“. Bereits am 5. Juli war in verschiedenen Zeitungen ein Protest Breslauer Bürger erschienen gegen „eine Partei [...] welche klein an der Zahl, bedeutend nur durch äußere Stützen, den freien lebendigen Glauben fesseln will an die starren Dogmen und Formeln vergangener Jahrhunderte.“259 Zu den Verfassern aus dem liberalen Bürgertum zählten auch die Theologieprofessoren David Schulz und Karl Adolf Suckau. Dem Beispiel folgten andere Städte.260 Im August schwappte der Protest nach Berlin über. Am 1. August kam es zu einer Volksversammlung ‚Unter den Zelten‘, einem Vergnügungslokal im Tiergarten am Spreeufer auf der Höhe des heutigen Kurfürstenplatzes.261 Hengstenbergs Haus auf der anderen Seite des Tiergartens vor dem Potsdamer Tor war nur gut einen Kilometer entfernt. Das Treffen, das von Sympathisanten der Lichtfreunde initiiert worden war, sollte eigentlich in kleinem Kreis stattfinden. Da aber kurz zuvor ein Konzert bei ‚den Zelten‘ stattfand, versammelten sich dann doch 500 Interessierte.262 Ein erster Redner erklärte, der Protest sei als Reaktion auf die im Vorjahr in Berlin abgehaltene Pastoralkonferenz zu verstehen, die sich auf verketzernde Weise gegen Wislicenus gestellt habe. Darauf wurde eine ‚Erklärung zur Gewissens- und figkeit unter die Schrift nicht ledig werden, und zur Freiheit des Geistes nicht wirklich und wesentlich übergehen kann, werde ich mein Amt niederlegen, und zugleich aus der Kirche selbst ausscheiden.“ (Wislicenus, Schrift, 67). Nach der Ansicht beider Seiten kann es keine Kirche geben, die sowohl für Hengstenberg als auch für Wislicenus Platz bieten kann. 258   S. Brederlow, Lichtfreunde, 35 f. Die Frage der politischen Relevanz religiöser Bewegungen und die Versuche, religiöser Bewegungen aufgrund ihrer politischen Implikationen habhaft zu werden, waren schon unter Eichhorns Vorgänger Altenstein ein virulentes Thema (vgl. dazu Deuschle, Erweckung, bes. 94 f.). 259   Spenersche Zeitung vom 5. Juli 1845, Nr.  154, wo die Erklärung in der Anmerkung abgedruckt ist (als ‚Schreiben an den Herausgeber aus Schlesien‘ auch in der EKZ 37 [1845], 535 f.). Vgl dazu Friedrich, Eichhorn, 234 f.; unterstützt wurde die Erklärung v. a. vom höheren und mittleren Bürgertum, vgl. Brederlow, Lichtfreunde, 36 Anm.  51 und Hundeshagen, Protestantismus, 377 f. 260   Vgl. die Auflistung bei Hundeshagen, Protestantismus, 377. 261   Ein Bericht über die Versammlung findet sich in der Vossischen Zeitung vom 4. Aug. 1845, Nr.  179. Von einer Verlesung einer Kabinettsordre Friedrich Wilhelms III., „worin dieser dem Minister Wöllner sein Mißfallen kundgibt“ und folgenden Vivatrufen auf Friedrich Wilhelm III. (so Bachmann/Schmalenbach 3, 128) ist dort aber keine Rede. 262   Vgl. Vossische Zeitung, 4. Aug. 1845, Nr.  179; zum Konzert im „Zelt-Etablissement“ um 16:30 Uhr wird in der Ausgabe vom 1. Aug., Nr.  177 eingeladen, die Protestversammlung dauerte von 20–22 Uhr.

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Lehrfreiheit‘ verlesen, akklamierend angenommen und in Druckexemplaren verteilt mit dem Zweck, weitere Unterschriften zu sammeln. Bei A. Benda, dem Initiator der Erklärung, gingen in den nächsten Wochen schließlich über 1500 Unterschriften ein.263 Ausdrücklich wurde betont, daß die Unterschrift an keinerlei Bekenntniszugehörigkeit gebunden sei, auch Juden könnten unterschreiben, daneben waren auch Frauen zugelassen.264 Dadurch unterscheidet sich die ‚Berliner Erklärung‘ von ihrer Breslauer Vorgängerin und von den folgenden Erklärungen. Zu den Unterzeichnern gehörten denn auch Vertreter der extremen Hegelschen Linken.265 Die Erklärung geht davon aus, daß mit der Gewissens- und Lehrfreiheit endlich Ernst gemacht werden müsse. „Religion und ihre öffentliche Aus­übung ist freie Sache des Einzelnen und der Gemeinde.“ Daher müsse man öffentlich gegen eine „gewisse Partei“ demonstrieren, die „auf ihren Einfluß trotzend, nur hierarchische Zwecke“ verfolge und durch die Verketzerung Andersdenkender „die gesellschaftlichen Bande lös[e]“.266 Die Unbestimmtheit des Protestes, sowohl was seine Unterstützer als auch was seine Basis anging, verteidigten die Initiatoren mit dem Hinweis darauf, man verlange ganz allgemein „Freiheit vom Druck“267. Seine Grundlage erläuterte man später als das „Glaubensbekenntnis vom Geiste“, dem wie alle „Freunde des Fortschritts“ auch Uhlich und Wislicenus beipflichteten. Man vertrete die Überzeugung „des endlich anbrechenden, gereinigten und lebendigen Christenthums, – die, daß der Geist über dem Buchstaben stehe, daß die Menschen nicht zu Knechten der Satzungen, sondern zu Kindern der Freiheit und des bis ans Ende der Zeiten sich immer vollständiger offenbarenden Geistes der Wahrheit und der Liebe – berufen seien.“268

Die Alternative von Geistesfreiheit und Buchstabenknechtschaft, die von Wislicenus mit der Parole „Ob Schrift? Ob Geist?“ zum Kern des Streites gemacht worden war, stand also auch hier im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, daß man bei dem Treffen vom 1. August die Ankündigung, Uhlich werde am 12. in Berlin eintreffen, mit Beifall aufnahm. 263   Am 25. August (Vossische Zeitung, Nr.  197, Beilage) waren es 1569, danach erschienen, soweit ich sehe, keine weiteren Listen (so auch Friedrich, Eichhorn, 236; wie Duntze, Berlin, 65, Anm.  57 auf über 5000 Unterschriften kommt, ist unerfindlich). Zum Vergleich: Berlin hatte damals rund 400.000 Einwohner (vgl. Bericht über die Gemeinde-Verwaltung, 26 bzw. Mieck, Reformzeit, 480). 264   Benda bestätigt diesen Grundsatz noch einmal öffentlich in der Vossischen Zeitung vom 6. Aug., Nr.  181; vgl. auch ebd., 27. Aug., Nr.  199. 265   Vgl. Friedrich, Eichhorn, 236 mit Anm.  139. 266   Vossische Zeitung, 7. Aug., Nr.  182 Beilage; orthographisch modernisiert abgedruckt bei Duntze, Berlin, 65, Anm.  57. 267   So der Bericht Vossische Zeitung, 4. Aug. 1845, Nr.  179. 268   So Treumund Volkhart im Namen der Unterzeichner der ‚Berliner Erklärung‘ in einer ausführlichen Stellungnahme, Vossische Zeitung, 27. Aug. 1845, Nr.  199; als Gesinnungsgenossen werden auch J. Ronge und R. Blum genannt. Implizit geht der Autor auf Distanz zu der im folgenden zu behandelnden ‚Erklärung der 87‘, die ebd. am 26. Aug. erschien.

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Doch dazu kam es nicht. Am 5. August wurden weitere Volksversammlungen verboten und Uhlich wurde von den vorgesetzten Behörden nicht gestattet, seine Parochie zu verlassen. Einer am 13. im ‚Tivoli‘ am Kreuzberg anberaumten Zusammenkunft wurde es polizeilich untersagt, öffentliche Reden zu halten.269 Der Protest in Form von öffentlichen Erklärungen ging jedoch weiter, nahm nun aber eine etwas andere Richtung: In der sog. Erklärung der 87, die von bekannten Persönlichkeiten unterzeichnet war, meldeten sich schließlich ganz bewußt Vertreter der evanglischen Kirche zu Wort.270 Datiert auf den 15. August und am 26. August in der Vossischen Zeitung erschienen, sollte sie der „Lösung des Kampfes“ dienen, sie gab aber – wie ihre Vorgänger – ausschließlich den kirchlich Konservativen die Schuld an den sich zuspitzenden Polarisierungen innerhalb der evangelischen Kirche. Sie ging davon aus, daß sich in der Kirche „eine Partei geltend gemacht [hat], welche starr an der Fassung des Christentums hält, wie sie solche aus den Anfängen der Reformation erhalten hat. Diese Formel ist ihr Pabst.“ Die konservative Partei strebe nach „Herrschaft in der Kirche“, ihre Repräsentanten träten zuerst „in ihrem gemeinschaftlichen Organ, der Ev.K.-Ztg.“ zusammen und übten „mit Verletzung der kirchlichen Ordnung zur Gefährdung ev. Glaubens- und Gewissensfreiheit den Kirchenbann.“ Mit letzterem wurde auf die in der EKZ veröffentlichten Protesterklärungen von Pastoren gegen Wislicenus und seine Lichtfreunde angespielt. Von theologischer Relevanz ist die Beschreibung der pluralistisch angelegten Kirchenkonzeption der Verfasser, die sich deutlich an Schleiermacher orientieren und von sich schreiben: „Sie gehen von der der Reformation zum Grunde liegenden Ueberzeugung aus, daß Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit, der alleinige Grund unserer Seligkeit ist, die Lehrformel aber der freien Entwicklung von Christus aus zu Christus hin angehört. Von dieser Ueberzeugung aus erklären sie, daß sie eine heilsame Lösung des Kampfes nur dann für möglich halten, wenn keinerlei willkürliche Ausschließungen statt finden, allen Theilen das Recht freier Entwickelung ungeklärt erhalten und eine Kirchen-Verfassung ins Leben gerufen wird, welche der Kirche dazu hilft, durch des Herrn Gnade sich selber, unter lebendiger Theilnahme der Gemeinen, in neuer Kraft zu gestalten.“

269   S.o. Anm.  258; zur Versammlung im ‚Tivoli‘, die nicht nur „geplant“ war (so Duntze, Berlin, 64), sondern wirklich mit 800–1000 Pers. stattfand und auf der Uhlich auftreten sollte, vgl. Vossische Zeitung, 15. Aug. 1845, Nr.  189. Friedrich, Eichhorn, 236 verwechselt beide Versammlungen und nennt Uhlich als angekündigten Redner für den 1. Aug. 270   Vossische Zeitung, 26. Aug. 1845, Nr.  198, hieraus auch die folgenden Zitate. Der Text ist mit „Erklärung“ überschrieben und von 87 Personen unterzeichnet. Die Bezeichnung ‚Berliner Erklärung‘, wie sie beispielsweise auch Friedrich, Eichhorn, 237 verwendet (der die Erklärung im Anhang, 465 f. unter richtigem Titel abdruckt), ist mißverständlich, weil unter diesem Titel die Erklärung vom 1. August kursierte. Man sollte deshalb von der ‚Erklärung der 87‘ oder der ‚Erklärung vom 15. August‘ sprechen.

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Nur nebenbei und ohne namentliche Nennung werden die Lichtfreunde kritisiert, indem bedauert wird, daß es als Reaktion auf die genannte Partei „leider zu den extremsten Glaubenbekenntnissen gekommen und den fremdartigsten Elementen Raum und Gelegenheit zur ärgerlichsten Einmischung gegeben worden“ sei. Aus der Gesamttendenz sowie den äußeren Umständen ergab sich aber von selbst, daß die Ablehnung „willkürlicher Ausschließungen“ zugunsten von Uhlich, Wislicenus und ihrer Anhänger formuliert worden war. Wie Schleiermacher wollten die hier sich als Vermittler Anbietenden „recht viel Raum machen innerhalb des Kirchlichen“271 und auch noch angesichts der Radikalisierung der Lichtfreunde an Schleiermachers Ideal eines gleichsam dogmenfreien Protestantismus festhalten. Zu den Verfassern der Erklärung gehörten denn auch in der Tat Schleiermachers Freund und Schüler Ludwig Jonas sowie der als Schleiermacheranhänger bekannte Super­intendent Ernst Ferdinand Sigismund Schultz,272 zu den Unterzeichnern eine ganze Reihe von Schleiermachers Gefolgsleuten.273 Besonderes Aufsehen erregte, daß auch die Bischöfe Eylert und Dräseke ihre Unterschrift gaben.274 Den Abschluß der Berliner Protestkundgebungen bildete schließlich die Eingabe des Berliner Magistrats vom 22. August, die am 2. Oktober dem König überreicht wurde.275 Während die Erklärung der 87 eine versöhnende Mittelposition einzunehmen versucht, weist die Eingabe theologisch Affinitäten zu den Äußerungen der Protestantischen Freunde auf, indem sie explizit auf den Stand der kritischen Wissenschaft hinweist und in Abweisung der „dogmatischen Formen“ und des Buchstabens den „Geist des Christenthums“ anruft, „de[n] Geist der Heiligkeit und Liebe, der Alle, die von ihm beseelt sind, von 271

  S.o. bei Anm.  227.   Vgl. Friedrich, Eichhorn, 238 und 179 f., der auch ein wenig Licht in die dunklen Entstehungshintergründe bringt (ebd., 238 f.). 273   Bellermann, Hoßbach d.Ä., E.G. Lisco, Pischon, Eltester, Sydow. Vgl. zu den Schleiermacherschülern Mehlhausen, Liberalismus, 128–130; Wendland, Kirchengeschichte, 297–299; Schwarz, Theologie1, 325 f.; Ders., Theologie4 484–501; Friedrich, Eichhorn, 240 und passim sowie Duntze, Berlin, 68. 274   Eylert war mit Hengstenbergs Vater befreundet und hatte ihn in seinen Berliner Anfängen gefördert, Dräseke hatte sich noch als Generalsuperintendent der Provinz Sachsen entschlossen gegen Sintenis gezeigt (vgl. Friedrich, Eichhorn, 115). Beide unterschreiben mit vollen Titeln als „evangelischer Bischof “ bzw. „erster Bischof der evangelischen Kirche“. Die verwirrende Wirkung schildert Büchsel an Hengstenberg, Brüssow 14. Okt. 1845: Bachmann/Schmalenbach, 129: „Der Protest gegen Sie, der von zwei Bischöfen unterzeichnet war, hat mir viel Noth gemacht. Die Leute hier glaubten darin eine officielle Erklärung des Kirchenregiments zu finden, weil die großen und schönen Titel dabei standen. Wer mein Brod isset, tritt mich mit Füßen“. Auf der anderen Seite freut sich Varnhagen von Ense über die „Unterzeichner der berühmten Erklärung, Dräseke und Eylert an der Spitze“ (Varnhagen von Ense, Tagebücher, 3, 208, vgl. 237). 275   Veröffentlicht in der Spenerschen Zeitung, 14. Okt. 1845, Nr.  240, abgedruckt auch im Bericht über die Gemeinde-Verwaltung, 245–249 und bei Gerlach, Aufzeichnungen 2, 432–439. Verfasser der Eingabe war Schulstadtrat Schulze, der auch die Erklärung der 87 unterzeichnet hatte (vgl. Duntze, Berlin, 68). 272

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allem, was nicht Er in ihnen ist, befreit und sie zu Söhnen Gottes macht und zu vollkommen Freien.“276 Die evangelische Kirche habe „durch die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein uns für immer von aller Knechtschaft, wie des äußerlichen Gottesdienstes und der guten Werke, so des Buchstabens und der Lehrformel befreit“. Man halte mit den Rationalisten, deren Überzeugung „in dem gegenwärtigen Stande unserer Bildung und dem ganzen Zustande unseres heutigen Lebens“ wurzle, die „Errungenschaften der Reformation“, „das große Prinzip geistiger und christlicher Freiheit“ fest. Demgegenüber widersprächen die Prinzipien der Gegenseite, der wiederum ausdrücklich benannten Evangelischen Kirchenzeitung, „dem Wesen des Protestantismus, so wie der Bildung und dem Bewußtsein unserer Zeit.“ Die Konservativen um Hengstenberg fürchteten zu Unrecht, daß „mit dem Buchstaben auch der Geist, mit dem Dogma auch der Glaube“ verloren gehe, und suchten im kirchlichen Dogma ihren Rettungsanker. Im Unterschied zur Erklärung der 87 zielt die Eingabe des Magistrats in letzter Konsequenz auf die Kirchenverfassungsfrage. Die Aufregung sei vor allem dadurch entstanden, daß man den Eindruck bekommen habe, „daß Ew. Königlichen Majestät Staatsbehörden, denen die Führung des Kirchenregiments anvertraut ist, im Sinne der Partei, gegen welche die Protestate gerichtet sind, verfahren und den vielfachen Aufforderungen derselben zur Einschreitung gegen die freiere Auffassung des Christenthums Folge geben möchten.“ Darum schließt die Eingabe einen dringenden Appell ein, die Kirche von der „Form eines Staatsinstituts“ zu befreien und sie in die Selbständigkeit zu entlassen. Denn nur so, in „vollkommenster Freiheit der Forschung, der Ueberzeugung und der Mitteilung“, könne der „Geist Christi“ ihr „eigentlicher Leiter“ sein. Eine neue Verfassung der Kirche, die die „lebendige[...] Theilnahme der Gemeindeglieder“ einschließe, sei daher dringend notwendig. 277 Die Eingabe des Magistrats zeigt die politische Dimension der Auseinandersetzung um die theologische Kirchenkonzeption. Der Magistrat verstand sich als Sprachrohr des liberalen Bürgertums, kirchlich-theologisch in der Tradition Schleiermachers. Der König aber, und dies wurde auch seinen Behörden unter276   Die diplomatisch geschickt formulierte Adresse kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie inhaltlich der freien Position der Lichtfreunde zuneigt (gg. Duntze, Berlin, 69, Anm.  68), allerdings nimmt sie mit dem Bekenntnis, daß „Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit der Grund unserer Seligkeit und der Herrr seiner Kirche ist“ (Spenersche Zeitung, 14. Okt. 1845, Nr.  240), auch Anleihen bei der Erkärung der 87 (ähnlich auch Friedrich, Eichhorn, 255–258, der die Eingabe aber stärker von den Lichtfreunden abheben möchte und ihr größere „Weitsicht“ als der Erklärung der 87 zuspricht, weil sie die Gefährlichkeit der Hengstenbergpartei für die Kirche klarer ausgesprochen habe). 277   Alle Zitate: Spenerschen Zeitung, 14. Okt. 1845, Nr.  240. – Die Verbindung einer „freien Auffassung des Chris­tentums“ mit der Freiheit der Kirche und ihrer presbyterialsynodalen Gestaltung war Wasser auf die Mühlen der­je­nigen, die die Forderung nach einer synodalen Kirchenverfassung mit dem Interesse an der Beseitigung des Bekenntnisses verbunden sahen und sie deshalb bekämpften.

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stellt, stand in der Tradition des erweckten konservativen Christentums. Die politische Konkurrenz zwischen Magistrat und König, die sich in der Hauptstadt vielfach bemerkbar machte, insbesondere auch auf dem Feld der Kirchenpolitik, fand in dem aktuellen Konflikt sein theologisches Pendant.278 Die Eingabe des Magistrats muß dabei als Ausdruck der selbstbewußten Wahrnehmung des Patronatsrechtes durch die städtische Obrigkeit im Sinne einer ‚protestantischen Obrigkeit‘ betrachtet werden und so wurde sie auch vom König verstanden, der dem Magistrat zwar einerseits die rechtliche Kompetenz zu einer solchen Eingabe absprach, ihm aber andererseits Versagen im Blick auf die eigenen Patronatspflichten vorwarf.279 Die deutliche Antwort des Königs, der sich über die harten Anklagen „gegen die kirchlich Gläubigen der evangelischen Kirche“, denen man höchstens vorwerfen könne, daß sie zu treu seien, „tief gekränkt“ zeigt und sich darüber empört, daß das „unerhörte Treiben“ derjeni­ gen, die zum Abfall von der Kirche auffordern, obwohl sie doch freiwillig den Eid auf das Bekenntnis geleistet hätten, mit keinem Wort erwähnt werde, muß hier nicht weiter behandelt werden.280 Als entscheidend für seine Sicht der kirchlichen Lage ist lediglich festzuhalten, daß er Hengstenberg und seine Mitstreiter vom Vorwurf, eine Partei zu sein, freispricht und stattdessen die agitatorisch auftretenden Gegner der ‚kirchlich Gläubigen‘– die Lichtfreunde – dahingehend charakterisiert, daß ihnen „nicht Ein Kriterium fehlt, was eine Partei und zwar eine sehr gefährliche Partei bezeichnet“281. 278   Vgl. dazu insbesondere Duntze, Berlin, der die kirchliche Entwicklung Berlins im 19. Jahrhundert „im Spannungsfeld von Liberalismus und Konservativismus“ von ihrer Stellung „zwischen König und Magistrat“ aus beschreibt (ebd., Untertitel und Titel). 279   Vgl. Duntze, Berlin, 71 und zum Verständnis des Patronatsrecht im Sinne einer „protestantische[n] Obrigkeit“ (ebd., 77) ebd., 47–79; zu Beginn der Eingabe nimmt der Magistrat ausdrücklich auf seine „Beziehung zu dem städtischen Kirchenwesen“ (Spenerschen Zeitung, 14. Okt. 1845, Nr.  240; vgl. Bericht über die Gemeinde-Verwaltung, 24) Bezug. Abwegig ist die Überlegung Friedrichs, daß man es in einer Zeit, als es keine Möglichkeit für die Gemeindeglieder gab, in kirchlichen Fragen mitzuentscheiden, als „‚Notordnung‘“ werten müsse, wenn städtische Vertretungskörperschaften „im Bewußtsein ihrer Übereinstimmung mit der breiten Mehrheit der Bevölkerung“ in kirchlichen Fragen Stellung bezögen (Friedrich, Eichhorn, 258). Wäre es so, wofür es keinerlei Belege gibt, dann könnte der Magistrat doch im Blick auf den König den ‚praecipuum membrum ecclesiaeGedanken‘ nicht so deutlich ablehnen. 280   Die frei gehaltene und anschließend aufgezeichnete Rede ist abgedruckt in: Bericht über die Gemeinde-Vertretung, 25–27. Der König kritisiert, daß der Magistrat in seinem Eifer so weit gehe, mit Hengstenberg einen Vertreter der Meinung zu nennen, „die ruhige Beobachter [...] und Ich Selbst, nur des zu großen Eifers in der Erfüllung beschworener Pflichten und ihrer zu engen Auffassung bezichtigen können“ (ebd., 27). Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zu der Kirchengewalt, die dem König zwar seit der Reformation zustünde, welche er aber nicht auszuüben gedenke, da er dem Grundsatz folge: „die Kirche durch sich selbst gestalten lassen“ (ebd., 25; vgl. dazu Friedrich, Eichhorn, 264 f.). Zu den Umständen der Audienz vgl. Bericht über die Gemeinde-Vertretung, 24 f. und Duntze, Berlin, 71–75; zur ebenfalls ablehnenden Haltung Eichhorns vgl. Friedrich, Eichhorn, 260 f. 281   Bericht über die Gemeinde-Verwaltung, 27.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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Als sich die Verteidiger der Gewissens- und Lehrfreiheit am 1. August im Tiergarten versammelten, war Hengstenberg wahrscheinlich schon auf dem Weg zur Erholung im „Bade“. Auf jeden Fall war er nicht mehr in Berlin, als die verschiedenen Erklärungen in der Zeitung erschienen.282 Daher ergriff zunächst F.J. Stahl mit ‚Zwei Sendschreiben an die Unterzeichner der Erklärung vom 15., beziehungsweise 26. August 1845‘ das Wort.283 Hengstenberg äußerte sich erst im Oktober, einige Zeit nach seiner Rückkehr, und zwar ausschließlich zur ‚Erklärung vom 15. August‘284. Dies erklärt sich damit, daß für ihn in erster Linie die in den Protesten vertretene theologische Position interessant war. Sein Votum richtete sich daher, ganz auf der Linie seiner Äußerungen seit 1836, ausschließlich gegen die als Urheber der Erklärung vom 15. August angesprochenen „Schüler Schleiermacher’s“ (Sp.  799 u.ö.) und thematisierte, wie sein Vortrag vom Mai, das Verhältnis von Schrift und Kirche. Angesichts der Bedeutung des Artikels, auch für Hengstenbergs Kirchenverständnis (s. den folgenden Teil 3), ist auf ihn ausführlicher einzugehen, allerdings liegt der Blickwinkel auf den für das Verhältnis zu Schleiermachers Theologie entscheidenden Passagen. Hengstenberg knüpft an die bereits früher geäußerten Urteile über Schleiermacher an. Kritisch sei vor allem sein Verhältnis zur Schrift zu betrachten. Die Stelle, welche die evangelische Kirche der Schrift einräume, teile Schleiermacher „dem ‚christlichen Bewußtsein‘, ‚der inneren Erfahrung‘ zu, ‚die Jeder über das, was er am Christenthum hat, in sich selber macht‘“ (Sp.  766). Die Heilige Schrift sei ihm ein „menschliches Buch, von großer Bedeutung, weil in ihm die ursprünglichsten Äußerungen des christlichen Bewußtseyns niedergelegt sind, doch dabei mit schweren Gebrechen behaftet“ (ebd.). Daher könne selbst die Lehre des Neuen Testaments nur nach ernster Prüfung angenommen werden, „die letzte Entscheidung aber verbleibt immer auf der einen Seite dem christlichen Bewußtseyn, auf der anderen Seite der Wissenschaft“ (Sp.  767).285 282   Bereits am 15. Juli hatte er zum Besuch des Bades beim Minister vom 1. August an Urlaub beantragt, der am 23. Juli genehmigt worden war (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  8 0). Vgl. auch seine eigene Aussage EKZ 37 (1845), Sp.  761. 283   Vgl. dazu Wulfmeyer, Hengstenberg, 145  f.; Nabrings, Stahl, 182 f. Daneben ist die Schrift von Regierungsrat Schede: ‚Das Princip der Reformation‘ (vgl. Bachmann, 3, 133) zu nennen. 284   So auch der Titel seiner Stellungnahme in der EKZ 37 (1845), Sp.  761–804, Nr.  84–87, hierauf beziehen sich die folgenden Angaben im Fließtext; die Eingabe des Berliner Magistrats als „Zwillingsschwester“ der ‚Erklärung der 87‘ wird nur am Rande erwähnt (Sp.  799). Hengstenberg scheint die Entstehungshintergründe der Erklärungen genau zu kennen, wenn er im Vorwort EKZ 38 (1846), Sp.  6 darauf hinweist, daß der Verfasser der Eingabe des Magistrats unter den Unterzeichnern der Erklärung der 87 war. Gemeint ist damit Schulstadtrat Schulze (vgl. Duntze, Berlin, 68). 285   Hengstenberg zitiert dafür ausführlich aus dem ‚Zweiten Sendschreiben an Lücke‘ (Schleiermacher, KGA I/10, 337–394) und kommentiert die Aussagen mit der Bemerkung: „Wer hätte bei diesen Äußerungen nicht den Eindruck einer Auktion, auf der die edelsten Geräthe des Hauses der heiligen Schrift, die edelsten Güter des Schatzes der christlichen Kirche eins nach dem anderen um billigen Preis losgeschlagen werden!“ (Sp.  768).

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2  Hengstenberg und die Theologie

Die Schriftlehre sei also der Ort, „wo die Wege Schleiermacher’s und die der Kirche sich am entschiedensten scheiden“ (Sp.  769). Jedoch gebe es einen Punkt, an dem sich Schleiermacher über den „natürliche Causalnexus“ und den „Naturalismus“ erhoben habe, in dem er ansonsten „wie festgebannt“ gewesen sei. Dieser Punkt jedoch bezeichnet – ähnlich hatte sich Hengstenberg schon über Zinzendorf geäußert – „den Hauptpunkt, die Persönlichkeit Christi“ (Sp.  768). Insofern habe Schleiermachers Lehre einen bedeutenden Fortschritt bedeutet. So sei diese Vermischung „der kirchlichen Wahrheit und des Rationalismus, wie sie bei Schleiermacher stattgefunden hatte, zwar in dem zweiten und einigermaßen noch dem dritten Decennium unseres Jahrhundert an der Zeit“ (Sp.  762) gewesen, inzwischen aber nicht mehr zu ertragen. Wieder­um wird auf D.F. Strauß verwiesen, der die Unhaltbarkeit von Schleiermachers Christologie angesichts der modernen Wissenschaft ausgesprochen habe.286 Die Erben Schleiermachers stünden damit vor einer neuen Situation. Entsprechend der zwei Seiten von Schleiermachers Position unterscheidet Hengstenberg nun auch zwischen den Schülern.287 Es gebe solche, „die sich von ihm zu Christus hinweisen ließen, und dann von diesem unserem einigen Meister in tieferer Erforschung seines Wortes weiter lernten – zu dieser Klasse gehören mehrere unserer bedeutendsten, am meisten in Segen wirkenden Theologen – und dann eigentliche Schüler, solche, die nicht zufrieden mit dem Grunde, den Schleiermacher gelegt, und dem Gold, Silber und Edelsteinen, die er darauf gebaut, sorgfältig und ängstlich bedacht, daß nichts umkomme, auch alles Holz, Heu und Stoppeln aufgesammelt hatten, und zum Theil grade diese Siebensachen für ihren köstlichsten Schatz hielten und sich im Besitz derselben glücklich schätzten.“ (Sp.  762)

Die Letzteren, die eigentlichen Schleiermacherianer, bilden, so Hengstenberg, „den Kern des Kometen der Erklärung“ (Sp.  774) vom 15. August. Daß man ihnen, die zwischen den Lichtfreunden und ihren Gegnern zu vermitteln suchten, den Namen „Dämmerungsfreunde oder Dämmerlinge“ (Sp.  765) gegeben habe, weise auf das allgemein verbreitete Gefühl hin, „daß mit Halbheiten und Vermittlungen auf religiösem Gebiete nichts mehr zu machen sey“ (Sp.  765). Ihre Stellung zur Schrift sei „noch immer dieselbe, jene schlecht wählerische und wühlerische, die nie zu einem rechten Geschmack der Schrift kommen läßt, bei der auch das Angenommene nur mit halbem Herzen angenommen wird und keine belebende Bedeutung gewinnen kann“ (Sp.  769). Hier, beim Umgang mit der Schrift, liegen „die Wurzeln der Differenz zwischen uns und ihnen“, doch das hätten die Schleiermacherschüler in der Erklä286   Verwiesen wird auf D. F. Strauss’ Leben Jesu: „So wenig aber auf dieser Seite der Wissenschaft, so wenig thut die in Rede stehende Christologie auf der anderen Seite dem Glauben genug.“ (Sp.  768). 287   Dieser ganz entscheidende Punkt entgeht Friedrich, Eichhorn, 251, wie überhaupt die ganze Analyse des Artikels durch Friedrich (ebd., 250–253) mehr als eine oberflächliche Lektüre nicht erkennen läßt.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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rung vom 15. August nicht offen auszusprechen gewagt (Sp.  774) und sich stattdessen auf den Vorwurf der Formelgläubigkeit zurückgezogen: Doch „[d]ie Differenz betrifft nicht, wie die Erklärung glauben machen will, gewisse in der Zeit der Reformation aufgestellte Formeln, die wir als solche festhalten, jene verwerfen, sondern sie betrifft die Substanz der Thatsachen der heiligen Geschichte und der Glaubenswahrheiten, sie liegt nicht auf dem Boden der Theologie, sondern des Glaubens, nicht auf dem Boden der Dogmatik, sondern des Katechismus; sie beginnt nicht erst bei der Augsburgischen Confession, sondern bei der heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Alten Kirche.“ (Sp.  766)

Hengstenberg führt also die innerkirchlichen Auseinandersetzungen der Zeit auf die unterschiedliche Haltung zur Schrift zurück und damit genau auf den Punkt, der mit Wislicenus’ radikaler Ablehnung des Schriftprinzips zur Eskalation der Gegensätze geführt hatte. Die Wahrung der Schriftautorität sei daher auch das einzig und entscheidende Kennzeichen der Konservativen, und so erklärt Hengstenberg, „daß unser ganzes Trachten nur dahin geht, die Schrift, die ganze heilige Schrift wieder zu innerer und äußerer Geltung in der Kirche zu erheben, daß die Bekenntnisse uns nur als Zusammenfassungen des Schriftinhaltes Bedeutung haben, die für den Einzelnen, der im Glauben steht, unnöthig, nur durch das Bedürfniß der Kirche erfordert werden.“ (Sp.  769)

Um der subjektiven Aneignung der Schrift zu entgehen, sei es notwendig, die Schrift als ganze anzunehmen, mithin sie als inspiriert anzuerkennen.288 Allerdings fügt Hengstenberg dem tota scriptura nun eine wichtige Präzisierung hinzu: „Es hat noch nie Jemand in der christlichen Kirche behauptet, daß alle Theile der heiligen Schrift gleiche Dignität haben, sondern das ist ihre Lehre, daß die heilige Schrift ein organisches Ganzes bildet, in dem alle ihre sehr mannigfachen Theile, die edlen und die minder edlen, ihre nothwendige Stelle einnehmen, alle zur vollständigen Befriedigung des Bedürfnisses der Kirche nothwendig sind. [...] Es ist der schönste Lohn, den die treue Schriftforschung davon trägt, daß sei diese wundervolle Ökonomie der heiligen Schrift immer tiefer durchschaut“ (Sp.  771).

Wer in der Schrift „überall Erbauung auf dem direktesten Wege und um den wohlfeilsten Preis sucht“, erkläre leichtfertig wichtige Abschnitte der Schrift für überflüssig, daher sei es notwendig, „auf dem geschichtlichen Boden der heiligen Schrift unbedingt heimisch zu werden.“ (Sp.  772) Als Reaktion auf den Vorwurf der Formelgläubigkeit bringt Hengstenberg also zum Ausdruck, was sich in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher von Anfang an gezeigt hat: Den Subjektivismus der Schleiermacherschen Position verortet er im Umgang mit der Schrift. Demgegenüber betont er die Objektivität der Schrift, die als organische Einheit betrachtet wird. Den Vorwurf 288

  Siehe zu Hengstenbergs Inspirationslehre unten 2.3.1.1.

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2  Hengstenberg und die Theologie

der Formelgläubigkeit oder Buchstabenknechtschaft, wie überhaupt die ganze Diskussion über die Bekenntnisbindung weist Hengstenberg zurück. Man habe die Bekenntnisse nicht in einem Akt der „Unterwerfung unter die Satzungen der Kirche“ angenommen; erst, nachdem man sie „an den einigen Prüfstein, die heilige Schrift, gehalten“ (Sp.  782) habe, habe man sich ihre Wahrheit nach und nach angeeignet. Auf diesen Punkt wird später zurückzukommen sein (s. Teil 3.2.2).289 Kennzeichen der aus der Schrift gewonnenen kirchlichen Lehre sei aber, daß sie gerade nicht Autoritätsglauben befördere, sondern „daß sie in allen ein eigenthümliches Leben gewinnt, während die Schüler menschlicher Meister, wie man zu sagen pflegt, über einen Kamm geschoren sind“ (Sp.  783). Den Vorwurf „diese Formel sei ihr Papst“ könne man damit genauso gut auf die Schleiermacherianer in ihrer „Anhänglichkeit an das System Schleiermacher’s“ anwenden. Denn Schleiermachers System sei „zu singulär, zu sehr mit der Subjectivität seines Urhebers, mit der Beschaffenheit der Zeit, in der es entstand, verwachsen“, als daß man es in freier Weise auf eine andere Zeit adaptieren könnte (ebd.). Mit der Anhänglichkeit an Schleiermacher hänge nun aber auch die Unfähigkeit der Schleiermacherianer zusammen, sich von den extremen Lehren der Lichtfreunde deutlich zu distanzieren. Denn darin, „daß sie eine Spaltung der Kirche unbedingt als der Übel Größtes betrachten, erweisen sich die Urheber der Erklärung als ächte Jünger Schleiermacher’s, aber nicht der heiligen Schrift, welche ganz andere Übel als die höchsten und unter Umständen eine solche Trennung als heilige Pflicht hinstellt“ (Sp.  793). Eine Trennung würde nämlich bedeuten, daß sich die „Schüler Schleiermacher’s [...] vorher von sich selbst, von einem Theile ihres eigenen Herzens trennen“ (ebd.) müßten. Die „Scheu vor dieser mit der äußeren verbundenen inneren Krisis, die durch die Zeit immer gebieterischer verlangt wird“ (ebd.), führe zur Furcht vor der Spaltung der Kirche. Schleiermacher habe seinerzeit dem Zweifel an der kirchlichen Lehre großen Raum gegeben, weil der Glaube in Form des kirchlichen Dogmas den Kampf mit seinen Gegnern von vornherein hätte aufgeben müssen. Er habe sich darum lediglich bemüht, seinem „Schützling“, dem Glauben, „ein Asyl zu sichern“, indem er ihm die „dunkle Kammer des Gefühls“ anwies (Sp.  795). Dadurch wäre aber der unnatürliche Dualismus von Glaube und Lehre entstanden, 289   Friedrichs Urteil, daß Hengstenbergs in diesem Zusammenhang geäußerte Auffassung vom Bekenntnis mit seiner „theologische[n] Position kaum zu vereinbaren“ sei, sondern einer „kirchenpolitischen Entscheidung“ entspringe (Friedrich, Eichhorn, 253), überrascht angesichts der Tatsache, daß sich in Friedrichs Buch nirgends Erwägungen zur theologischen Position Hengstenbergs finden. Er scheint sie Wulfmeyer entnommen zu haben, der von seiner Deutung Hengstenbergs als eines Konfessionalisten von Anfang an zu einer ähnlichen Kritik an der Position in der Stellungnahme von 1845 kommt (vgl. Wulfmeyer, Hengstenberg, 153 f.). Wie wenig kirchenpolitisch die Äußerungen sind, dürfte schon allein die Übereinstimmung mit den Aussagen auf der Pastoralkonferenz im Mai zeigen, vgl. aber v. a. den unten 3.2.2 dargelegten größeren Kontext.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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der „den einzelnen und die Kirche einem unseligen Schwanken hingibt“, indem er „das Wort und die Lehre verdächtig und unsicher macht“ (Sp.  795). Diese Zeit sei nun aber vorüber. Der letzte Grund für die pluralistische Kirchenkonzeption liegt nach Heng­ stenberg also darin, daß Schleiermacher von seiner Position aus der Argumentation der rationalistischen Gegner der kirchlichen Lehre nicht entgegentreten konnte und wollte, und so sieht Hengstenberg auch den rücksichtsvollen Umgang der Schleiermacherianer mit den Lichtfreunden als Ausdruck dafür an, daß zwischen der vermittelnden Position der Erklärung vom 15. August und der extremen Position der Lichtfreunde, von der man sich nicht deutlich distanzieren will, eine innere Verwandtschaft besteht.290 Zu dieser Verwandtschaft kommt es seiner Ansicht nach dadurch, daß Schleiermacher die Auflösung des Schriftprinzips hingenommen und demgegenüber das religiöse Gefühl ins Zentrum gestellt habe. Der Radikalisierung der Entgegensetzung von Schrift und Geist haben die Schleiermacherianer daher nichts entgegenzusetzen. Das wichtigste Ergebnis der Auseinandersetzung von 1845 ist also, daß Hengstenberg das Schleiermachersche „Prinzip des Subjektivität“, das ein Verständnis des Geistes als einen von der Schrift losgelösten Geist begünstigt, mit der Frage nach der Gültigkeit des Schriftprinzips konfrontiert.291

2.2.4  Wider die Kanonisierung Schleiermachers (1869) An Hengstenbergs Beurteilung von Schleiermachers Theologie änderte sich auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt nichts mehr: Zum einen wird an Schleiermacher stets gelobt, daß er in einer Zeit, in welcher dies alles andere als üblich gewesen sei, an der Zentralstellung der Persönlichkeit Christi festgehalten habe. „Daß Christus die beherrschende Macht sein müsse für unser geistliches Leben“, das sei Schleiermachers „Grundgedanke“, der „Grundtrieb seines Wirkens“ gewesen, schreibt Hengstenberg 1861. Zweitens wird Schleiermacher stets dafür kritisert, daß er – abgesehen von diesem Grundgedanken – glaubte, weit290

  Allerdings geht Hengstenberg davon aus, daß sich die Schleiermacherianer am Ende nicht nur gegen die „Partei der Ev.K.Z.“, sondern auch gegen die „extremsten Rationalisten, wie Wislicenus“ stellen werden, und kommentiert mit beißender Polemik: „Die Schüler Schleiermacher’s werden dann in das Centrum der Bleibenden gestellt, zur Rechten haben sie die milden und halben Freunde der Kirchenlehre, zur Linken die Anhänger des trefflichen Uhlich. Sie selbst aber, wie gesagt sind im Centrum, und leiten das Ganze mit großer Weisheit. Dann ist das Reich Gottes herangekommen.“ (EKZ 37 [1845], Sp.  799 f.). 291   Zur genaueren Beleuchtung der Problematik war Hengstenberg offensichtlich daran interessiert, einen Artikel über Schleiermachers Verhältnis zur Heiligen Schrift in der EKZ zu veröffentlichen; dafür wollte er H. Thiersch, Professor für NT in Marburg, als Autor gewinnen, der lehnte aber ab (Thiersch an Hengstenberg, Marburg 26. Dez. 1845: Bonwetsch, Briefe 2, 81–84, hier 83 f.).

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2  Hengstenberg und die Theologie

gehende Zugeständnisse an die moderne Wissenschaft machen zu müssen, was sich insbesondere an seinem Umgang mit der Schrift ablesen lasse. Schleiermacher habe in der Schrift nicht das Wort Gottes erkannt. „Er entnahm das Bild seines Christus nicht aus ihr, der ihm vielfach unsicher gewordenen, sondern aus dem Bewußtsein ‚der Gemeinde‘, wie es sich in seinem eigenen Inneren reflectirte.“292 Drittens wird stets darauf hingewiesen, daß bei rein modern-wissenschaftlicher Betrachtung jedoch früher oder später auch die Zentralstellung Christi nicht zu halten sei. Als Kronzeuge wird dabei immer auf D.F. Strauß verwiesen. Was die Beurteilung der Schleiermacherschen Christologie angeht, sind sich Strauß und Hengstenberg erstaunlich einig, obgleich sie ganz gegensätzliche Konsequenzen daraus ziehen. Hengstenberg sieht in Strauß einen konsequenten Vertreter einer ganz an der Vernunft orientierten theologischen Wissenschaft und würdigt ihn in dieser Hinsicht als klaren und scharfsinnigen Geist. Umgekehrt begrüßt Strauß Hengstenbergs Offenheit, mit der er es ablehnt, Vernunfturteile im Bereich des Glaubens als Letztinstanz anzuerkennen. Von der jeweils gegensätzlichen Warte aus lehnen beide die vermittelnde Position Schleiermachers ab. Strauß stellt darum als Reaktion auf Hengstenbergs Vorwort von 1836 fest: „So freundlich ist unsre erste Begegnung auf dem Schlachtfelde aus dem paradoxen Grunde, weil sie eine absolut feindliche ist.“293 Grundlegend für Hengstenbergs Schleiermacherwürdigung ist, daß er dessen Leistungen ganz auf die besonderen Zeitverhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts begrenzt sein läßt. Die Kehrseite der konsequenten Historisierung Schleiermachers ist darum die vernichtende Kritik an den Schleiermacherschülern, die Schleiermachers System auch unter anderen Bedingungen erhalten wollen.294 Aus diesem Grund wird Schleiermacher immer dann Thema in der Evangelischen Kirchenzeitung, wenn sich dessen Schüler auf ihn oder seine Prinzipien berufen. So auch in Hengstenbergs letztem Vorwort, das – einem Vermächtnis gleichkommend – noch einmal zu großen Teilen der Schleiermacherschen Theologie gewidmet ist.295 Äußerer Anlaß sind die Auseinanderset292

  Vorwort, EKZ 68 (1861), Sp.  31 f. (auch das vorige Zitat).   Strauss, Streitschriften, 7 f. Hengstenberg zustimmend äußert sich Strauß auch in Strauss, Die Halben, 122; dem entspricht Hengstenbergs Votum im Vorwort, EKZ 76 (1865), Sp.  39: „Strauß hat eine unverkennbare Gabe in Aufdeckung aller Halbheiten, Verschleierungen, Winkelzüge. Was er gegen Schleiermacher, Hase, Weiße, Ewald und auch gegen unsern lieben seligen Neander bemerkt, darin arbeitet er der Kirche in die Hände.“ Dem Uracher Dekan gegenüber soll Hengstenberg, als er dort Strauß’ ‚Die Halben und die Ganzen‘ stehen sah, geäußert haben: „kein Büchlein habe ihn in der neueren Zeit so sehr erfreut, wie dieses“ (Bachmann/Schmalenbach 3, 438). 294   Wie für Schwarz, Theologie1, 325 f. sind auch für Hengstenberg nicht die „Vermittlungstheologen“ oder zumindest nicht alle die eigentlichen Schleiermacherschüler, sondern diejenigen, die „den ganzen Schleiermacher in seinem vollen, lebendig-persönlichen Eindruck in sich aufgenommen [...] haben“ (Schwarz, Theologie1, 325). 295   EKZ 84 (1869), Sp.  1–88, Nr.  1–7, insbes. 27–34. Hieraus die folgenden Angaben im Fließtext. 293

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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zungen um die Feier des hundertsten Geburtstags des Berliner Theologen. Im Hintergrund geht es aber – ähnlich wie in den 40er Jahren – um die zeitgemäße Ausrichtung des Protestantismus; Hengstenberg sieht sich in diesem Zusammenhang insbesondere vom 1865 gegründeten Protestantenverein herausgefordert. 1868 entwickelte sich in Berlin die Planung einer Feier zu Schleiermachers Geburtstag zum theologischen Zankapfel.296 Dabei traten die bereits aus dem Jahr 1845 bekannten Fronten hervor: auf der einen Seite standen die Schleiermacherschüler, organisiert im Unionsverein, der zugleich der Berliner Zweigverein des Deutschen Protestantenvereins war 297 und vom Berliner Magistrat sowie vom liberalen Bürgertum unterstützt wurde; auf der anderen Seite standen die konservativ geprägten kirchlichen Behörden. Daß es nun die oberen kirchlichen Behörden, Konsistorium und Evangelischer Oberkirchenrat, waren, die jene Rolle einnahmen, die 1845 dem König zufiel, weist auf die gewandelte Zeit hin. Mit Friedrich Wilhelms Bruder Wilhelm I. hatte 1858 die ‚Neue Ära‘ begonnen. Die kirchlich-konservativen Ratgeber hatten damit zwar ihren Einfluß verloren, jedoch waren inzwischen die kirchlichen Behörden von Vertretern besetzt, die im konservativen Milieu ihre Prägung erhalten hatten. So war es nicht verwunderlich, daß das im Protestantenverein entstandene und vom Magistrat bei der Behörde zur Genehmigung präsentierte Vorhaben, einen Gedenkgottesdienst in der Nikolaikirche zu Ehren Schleiermachers abzuhalten, vom Brandenburgischen Konsistorium abgelehnt wurde. Das Hin und Her zwischen den Behörden, das man als „einen wahren Eiertanz“298 bezeichnet hat, muß hier nicht im einzelnen aufgerollt werden. Das Konsistorium argumentierte damit, daß die geplante Schleiermacherfeier von einer bestimmten Partei zur Demonstration ihrer kirchenpolitischen Ziele betrieben werde, ein Gottesdienst aber hierfür keinen geeigneten Rahmen darstelle. Gottesdienstliche Ehrungen seien im übrigen den Reformatoren vorbehalten. Der Magistrat betonte demgegen­über, daß es ihm um die Ehrung eines hochgeehrten Sohnes der Stadt gehe; man wolle Gott danken „für die Segnungen, die Seine Gnade unserer Stadt gespendet hat durch diesen Mann“299. Der Evangelische Oberkirchenrat fand den Kompromiß und genehmigte schließlich eine profane Gedenkfeier in St. Nikolai, die keinerlei gottesdienstlichen Charakter tragen durfte. Hengstenberg nutzte darauf die Gelegenheit, im Vorwort von 1869 auf die vermittelnden, nun als synkretistisch oder – in Anspielung auf die Auseinandersetzungen um die Feier in St. Nikolai – nikolaitisch bezeichneten kirchlichen Richtungen einzugehen. Die Polemik gegen die Schleiermacherschüler wird 296   Das Material dazu wurde von Duntze, Berlin, 137–143 ausgewertet und dargestellt, nach ihm das Folgende. 297   Vgl. Kirn, TRE 27, 538; zum Protestantenverein Lepp, Auf bruch. 298   Duntze, Berlin 137. 299   Nach Duntze, Berlin, 138.

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2  Hengstenberg und die Theologie

durch eine lange Auslegung von 1 Kön 18 („Was hinket ihr auf beiden Seiten?“) vorbereitet und gipfelt in der Warnung, die gegenwärtige antichristliche Strömung mit der christlichen zu vermischen. In diesem Zusammenhang geht Hengstenberg auf den vermittelnden Charakter der Theologie Schleiermachers ein. Die Pointe liegt aber wiederum nicht auf der Beurteilung Schleiermachers an sich, denn Schleiermacher sei „ein Herold, ein Zeuge Christi, ein Bahnbereiter, der Vielen den ersten Weg zu einem Ziele wies, das er selbst noch nicht klar erkante. Solche Männer soll man in Ehren halten“ (Sp.  29). Im Visier sind vielmehr diejenigen, die Schleiermacher überschätzen und „die durch Gottes Gnade längst über ihn vorgeschrittene Kirche an seine Autorität binden und mit Hülfe dieser Autorität ihre ungesunde und unheilvolle Vermitlung [sic!] und Vermischung des Unvereinbaren zur Herschaft [sic!] erheben wollen. Nicht gegen Schleiermacher, sondern gegen diese seine Knappen ist unsere Polemik gerichtet.“ (ebd.)

Wenn also Schleiermachers System dargestellt wird, dann unter der bereits bekannten Prämisse, daß es zu seiner Zeit sein Recht und seinen Nutzen hatte. Seine Theologie könne „Gegenstand der Freude und Anerkennung nur insoweit sein, als sie als der erste Anfang des Morgenrotes nach tiefer Nacht betrachtet wird“ (Sp.  34). Doch „insoweit“ ist sie nun auch tatsächlich Gegenstand der Anerkennung, und Hengstenberg lobt uneingeschränkt, daß Schleiermacher „mit Virtuosität und einem Erfolge wie wenige“ dahin gewirkt habe, „die Augen wieder für das Licht zu öffnen“ (Sp.  28). Darin liege der große Wert der Reden. Auch die weitere Entwicklung Schleiermachers wird von Hengstenberg positiv gewertet. Angestoßen von den Erfahrungen des nationalen Unglücks und der Befreiung habe Schleiermachers Werk eine bestimmte christliche Ausrichtung genommen. Zeugnis davon lege die Glaubenslehre ab, die Hengstenberg höchst paradox beschreibt. Schleiermacher vertrete darin immer noch das Gottesbild der Reden, das sich vom biblischen Gott weiter entfernt habe als der von den Rationalisten biblisch verbrämte Gott des Deismus, andererseits aber vereinige er nun das völlig Unvereinbare in einem System. „Die Glaubenslehre Schleiermachers ist eine künstliche Vermischung des allerentgegengesetztesten, der Weisheit dieser Welt und der Weisheit von oben, der Lehre der Bekenntnisse der Kirchen der Reformation und der Gotteslehre des ohne Gott lebenden Juden Spinoza, der schon durch seinen Lebensausgang dargetan hat, daß er keinen Herrn des Lebens über sich erkannte, sich selbst in den Tempel Gottes gesezt hatte, vorgebend, er sei Gott.“ (Sp.  27 f.)

Eine solche Synthese könne aber auf Dauer keine der beiden Seiten befriedigen: weder die Wissenschaft noch den Glauben. Für die Wissenschaft mußte es je länger je mehr unplausibel erscheinen, alle Erlösung an den Eintritt „eines geschichtlichen Urbildsmenschen“ zu knüpfen, „wärend es doch ein unbestreitbarer Saz [sic!] aller unbefangenen Geschichsbe­trachtung ist: es ist nicht die Art

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

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und Weise der Idee ihre ganze Fülle in Ein Exemplar auszugießen“. Schleiermacher lehrte, daß es über Christus hinaus keinen Fortschritt gebe, aber im Allgemeinen gilt doch: „das Volkomne [sic!] findet sich erst am Ende der Ent­ wickelung“ (Sp.  30). Der Glaube jedoch werde durch Schleiermachers Lehre ebensowenig befriedigt. Denn Schleiermacher kenne weder „die Sünde als Empörung gegen Gott“ noch den persönlichen Gott noch einen wahrhaftigen Gottessohn. „Sein Christus hat nur eine Natur, die menschliche“. Ein gegenwärtiges Verhältnis zu Christus könne es nicht geben. In Schleiermachers ‚Leben Jesu‘ trete denn auch wieder ein von allem Göttlichen und Wunderbaren gereinigtes Jesusbild hervor. Daß Schleiermacher, vornehmlich in seinen Predigten, auch anders reden könne, widerspreche dem nicht. „Schl. war in einer Zeit aufgewachsen, in der die Accomodation öffentliche Lehre der Kirche war, in der es nicht blos als erlaubt, sondern als Pflicht galt, sich dem Vorstellungskreise der Gemeinde anzubequemen, auf der Kanzel anders zu reden als unter der Kanzel. Dieser Regel ist auch Schl. in dem ausgedehntesten Maße gefolgt.“ (Sp.  33)

Es sei daher ganz verfehlt, Schleiermachers Theologie aus seinen Predigten gewinnen zu wollen. So habe er einerseits die Rede vom Teufel abgelehnt, sei aber andererseits bei den Kommissionsarbeiten für das Berliner Gesangbuch dafür eingetreten, sie nicht aus den Liedern zu tilgen. Hengstenbergs Kritik an Schleiermachers Christologie war nicht neu, sondern bereits zuvor Teil seines Schleiermacherbildes; jedoch erhielt sie einen schärferen Ton, da nun die 1864 erstmals erschienenen Vorlesungen Schleiermachers über das Leben Jesu herangezogen wurden.300 Wie in seinen früheren Ausführungen griff Hengstenberg dabei auf D.F. Strauß zurück, der Schleiermachers ‚Leben Jesu‘ in einer 1865 erschienenen Untersuchung einer bissigen Kritik unterworfen hatte. Dort hatte Strauß die These vertreten, die Schleiermachersche Glaubenslehre habe nur ein Dogma, nämlich das von der Person Christi, und Schleiermachers Christologie sei „ein letzter Versuch, den kirchlichen Christus dem Geiste der modernen Welt annehmlich zu machen“301. Strauß und Hengstenberg sind sich, was den vermittelnden Charakter der Theologie Schleiermachers und die darin liegende Aporie angeht, bis in die Formulierungen hinein einig. Doch während Strauß Schleiermacher für das Festhalten am christologischen Dogma rügt, da es die Kette sei, „welche den Hafen der christlichen Theologie gegen die offene See der vernünftigen Wissenschaft noch absperrt“302 , sieht Hengstenberg gerade darin sein – im Verhältnis zur geistigen Lage des Jahrhundertanfangs – großes Verdienst. Neben Strauß hat noch eine weitere Publikation Hengstenbergs Beurteilung der Schleiermacherschen Christologie beeinflußt: Ebenfalls 1865 brachte die EKZ eine Artikelfol300

  Schleiermacher, Leben Jesu.   Strauss, Christus des Glaubens, VI. 302   Strauss, Christus des Glaubens, VII f. 301

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2  Hengstenberg und die Theologie

ge von Adolf Wuttke zur ‚Geltung der Christologie in der Theologie Schleiermachers‘, die 1868 auch separat als kleine Broschüre erschien und in dieser Form von Hengstenberg nachweislich benutzt wurde.303 So erklärt sich der neue Ton. Die Stoßrichtung ändert sich aber nicht: Hengstenberg betont erneut die zu Beginn des Jahrhunderts herrschende große Diskrepanz zwischen christlicher Tradition und geltender Weltanschauung, die nur ein „erfindungsreicher Geist“ wie Schleiermacher überwinden konnte (Sp.  30). Auf diese Weise habe seine Theologie zu ihrer Zeit dem Glauben eine Bahn gebrochen. „Wenn man aber darauf ausgeht, sie als die normale hinzustellen, in ihr das Hinken auf beiden Seiten zu canonisiren, so kann das in Wahrheit nur Gegenstand eines tiefen Grauens sein.“ (Sp.  34). Unter den gegenwärtigen Bedingungen seien die Schleiermacherschüler dann nämlich gezwungen, zu den ‚Reden über die Religion‘ oder noch hinter sie zurückzugehen (Sp.  30). Hengstenberg gesteht offen, daß er Schleiermachers positive Wirkung in Berlin nicht mehr erlebt habe und „in keiner Weise aus seiner Schule hervorgegangen“ sei. Er habe den großen Theologen zu einer Zeit angetroffen, als der sich bereits gezwungen sah, für die Rationalisten und „gegen das kräftiger in der Kirche hervortretende Glaubensleben“ Partei zu ergreifen, in Schleiermachers eigenen Worten: auf die andere Seite des Schiffleins zu treten, nachdem die eine, die der Frommen, bereits zu sehr belastet war (Sp.  28).304 Auch den Predigten Schleiermachers habe er nichts abgewinnen können, „ja das Zusammensein eines Vordergrundes kirchlicher Redeweisen und eines Hintergrundes von Anschauungen, welche einem ganz andern Gebiete angehörten, stieß ihn zurück“ (Sp.  28). Daß er keine „speciellen Pietätspflichten“ (ebd.) gegenüber Schleiermacher empfindet, unterscheidet ihn daher nicht nur von den Schleiermacherschülern, sondern auch von vielen Erweckten. Umso weniger erstaunt es, daß Hengstenberg die Leistungen seines großen Kollegen der Geschichte überantwortet und seinen eigenen Weg bewußt als Alternative zu Schleiermacher versteht.

2.2.5  Zusammenfassung Hengstenberg sieht Schleiermachers Theologie dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits die Persönlichkeit Christi in ihr Zentrum gestellt, sie aber andererseits ihr Christusbild und damit ihre Bestimmung des Christlichen nicht kon-

303   EKZ 77 (1865), Sp.  1105–1111.1129–1136.1161–1174.1185–1196, Nr.  93.95.98.100 (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 165); Wuttke, Geltung. Hengstenbergs Exemplar der Broschüre (UChL, Sig. BX 4827.S4G3) trägt Randmarkierungen an Stellen, die sich inhaltlich mit Hengstenbergs Ausführungen berühren. Vgl. zu Wuttke Graf, BBKL 14. 304   Vgl. Schleiermacher, An Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben: KGA I, 10, 357,18–22.

2.2  Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem „Prinzip der Subjektivität“

177

sequent aus der Schrift entnommen habe.305 Stattdessen habe Schleiermacher „das christliche Bewußtseyn, die innere Erfahrung, das Gefühl“306 zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht. Die Schrift aber – und das ist Hengstenbergs immer wiederkehrender Vorwurf – habe damit ihre prinzipielle Stellung verloren, bei der Bestimmung des Christusbildes sei die „evangelische Geschichte“ ins zweite Glied gerückt.307 Stattdessen herrsche das „Prinzip der Subjektivität“, das sich darin erweise, daß nicht mehr die ganze Schrift gehört wird; vielmehr lasse jeder nur das gelten, was mit seinem zuvor aufgestellten zeitgemäßen Glaubenssystem übereinstimme.308 Dadurch werde aber der Glaube der Kirche von der Entwicklung des modernen Bewußtseins abhängig gemacht. Bei den Schleiermacherschülern zeige sich, daß sie Positionen wie derjenigen Wislicenus’, die das Christentum ganz auf den Geist der modernen Wissenschaft gründen, wehrlos gegenüberstünden. Der Verlust des Schriftprinzips hat nach Hengstenberg daher auch gravierende Folgen für die Kirche, deren Grenzen auf diese Weise nahezu unbestimmbar würden. Wenn Hengstenberg Schleiermacher und seine Schüler mit einer unbeirrten Penetranz an ihrem Umgang mit der Schrift mißt, dann ist dies also nicht nur der verengte Blickwinkel des aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen Bibelwissenschaftlers; vielmehr handelt es sich dabei immer auch um eine prinzipielle Anfrage an Konstruktionsprinzipen der Schleiermacherschen Theologie. Es geht mithin um die Konsequenzen dessen, daß Schleiermacher der Schriftlehre ihre prominente Position am Anfang der Dogmatik genommen hatte, weil er in ihr keine tragfähige Grundlage mehr erkennen konnte.309 An ihre Stelle trat die „historische Wesensbestimmung des Christentums“.310 Gera305

  S. oben bei Anm.  292.   EKZ 36 (1845), Sp.  437f (vgl. o. bei Anm.  255), wobei Hengstenberg immer wieder auf die Affinität zu Zinzendorf hinweist. 307   „Er [sc. Schleiermacher] machte den ganzen Boden der evangelischen Geschichte völlig wankend, um die ihm unbequemen Tatsachen beseitigen zu können, und verlangte dann doch, daß man dasjenige als ge­schichtlich gesichert anerkennen solle, dessen Beibehaltung ihm am Herzen lag“ (EKZ 85 [1869], Sp.  30). 308   Über den Schleiermacherschüler Pischon schreibt Hengstenberg 1845, man sehe, „nicht die heilige Schrift“ sei ihm „heilig, sondern nur ein Auszug aus derselben, es gibt für ihn nicht heilige Schriften, sondern nur heilige Worte in den heiligen Schriften, und für die Auswahl und Bestimmung derselben nimmt er für seine Subjectivität den freiesten Spielraum in Anspruch“ (EKZ 37 [1845], Sp.  770). 309   Die Schriftlehre findet in der Glaubenslehre bekanntlich ihren Platz innerhalb der Ekklesiologie, Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 147–150; zu Schleiermachers Schriftlehre Lauster, Prinzip, 49–65. 310   Vgl. Barth, Schleiermacher, 79: „Das Wesen des Christentums bildet das kritischkonstruktive Identitätsprinzip seiner geschichtlichen Entwicklung. [...] Will man diesen Aspekt von Schleiermachers Theologieprogramm zur altprotestantischen Orthodoxie in Beziehung setzen, so wird man sagen müssen: An die Stelle, die einst der Lehre von der Heiligen Schrift zukam, tritt nun die historische Wesensbestimmung des Christentums.“ Vgl. auch Lauster, Prinzip, 55 f. 306

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2  Hengstenberg und die Theologie

de die erste Auflage der Glaubenslehre, aufgrund deren sich Hengstenberg sein erstes Urteil über Schleiermacher bildete, hatte „ihr gedankliches Organisationszentrum in der Frage nach dem Wesen des Christentums“311. Die Beziehung auf die Erlösung in Christus charakterisiert die christliche Religion, und diese Erlösung wird als Erlösungsbewußtsein am frommen Subjekt dargelegt. Dabei nimmt die heilige Schrift insofern eine herausgehobene Rolle ein, als sie „das erste Glied in der fortlaufenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens“ und als solches „die Norm für alle folgenden“312 bildet. Nun bildet aber keineswegs die ganze Bibel in ihrem kanonischen Umfang eine „Darstellung des christlichen Glaubens“. Das Alte Testament ist davon logischerweise ausgeschlossen, da es vor Christus keinen Glauben an ihn gab (vgl. o. 2.2.1). Aber auch das Neue Testament ist nicht von Partien frei, in denen das christliche Selbstbewußtsein nur unrein zum Ausdruck kommt.313 Die religionsphämenologisch gewonnene und bewußtseinstheoretisch gefüllte Wesensbestimmung des christlichen Glaubens übernimmt somit die kriteriologische Funktion, die in der älteren reformatorischen Dogmatik der Schrift zukam, und wird gerade auch an die Schrift als Maßstab angelegt. Dies führt zur Unterscheidung von Kanon und heiliger Schrift, von Schrift und Wort Gottes. Grundlegend bleibt für Schleiermacher der Satz aus den Reden, demzufolge nicht der Religion habe, „der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte“314 ; „auch der späte Schleiermacher“ – so urteilt Lauster zutreffend – hätte „gegen jene Bemerkung kaum Einwände erhoben, wenngleich er sich selbst später weit vorsichtiger äußert“315. Demgegenüber wollte Hengstenberg der Schrift ihre grundlegende Stellung in den Prolegomena zurückerobern und sie als principium cognoscendi der Theologie im Sinne der Dogmatiken des 16. und 17. Jahrhunderts erweisen und behaupten. Schon Schleiermacher verurteilte diesen Versuch als „Buchstabenknechtschaft“. Die stereotype Ablehnung des alten Schriftprinzips unter der Bezeichnung „Buchstabengehorsam“ zugunsten eines durch den Geist bestimmten freien Protestantismus trug jedoch zu einer fatalen Polarisierung und Verzerrung der Diskussion bei, deren Auswüchse sich bei der Auseinandersetzung um Wislicenus’ Thesen zeigten. Erschwerend kam hinzu, daß dem Buchstaben in einem Atemzug sowohl die Schrift als auch die Bekenntnisschriften zugeordnet wurden 316 sowie ein – ebenso stereotyp behauptetes – starres Festhalten an einem alten Lehrbegriff. Damit wurde ein Verständnis von Schrift 311

  Barth, Schleiermacher, 80; dazu ausführlich Schröder, Identität, 12–123.   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 147: KGA I, 7,2, 218,25–27. 313   Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), § 147,2: KGA I, 7,2, 219 f.; vgl. Lauster, Prinzip, 57. 314   Schleiermacher, Über die Religion: KGA I, 2, 242,15–17. 315   Lauster, Prinzip, 49. 316   Vgl. die Feststellung Kahnis’: „Allein nachdem Hengstenberg’s Name einmal das Blatt geworden war, auf welches man Alles schrieb, worüber man sich ärgerte, sah man es für 312

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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und Bekenntnis gefördert und der Öffentlichkeit als Schreckgespenst vor Augen gestellt, das weder Hengstenberg noch irgendeiner seiner Gesinnungsgenossen vertrat – wahrscheinlich überhaupt niemand im 19. Jahrhundert. Sicherlich war es zumindest Teilen der Gegner bewußt, daß sich hinter der mit dem Kampf begriff „Buchstabenknechtschaft“ bezeichneten Position etwas anderes verbarg als ein plumper Buchstabenglaube. Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung um das Schriftprinzip kam es jedoch nicht. Wie aber stellte sich Hengstenberg die Erneuerung des Schriftprinzips vor? Selbstverständlich konnte und wollte auch er nicht ins 17. Jahrhundert zurückkehren.317 Er sah sich vielmehr vor die Herausforderung gestellt, die Schrift als principium cognoscendi der Theologie unter Aufnahme der durch die Auf klärung veränderten Situation zu verteidigen. Er wollte keinen buchstäblichen Schriftglauben, sondern eine erneuerte Schriftwissenschaft. Nur sie kann in seinen Augen einen Damm gegen das „Prinzip der Subjektivität“ bilden. Wie und mit welchem Erfolg Hengstenberg dabei vorging, ist im nächsten Abschnitt zu betrachten.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler Hengstenberg führte die Mißstände in Theologie und Kirche seiner Zeit in erster Linie darauf zurück, daß die Heilige Schrift seit Mitte des 18. Jahrhundert vom Strudel des Subjektivismus erfaßt worden sei. Als Grundübel benennt er immer wieder die seit Semler in der Theologie eingebürgerte Unterscheidung von Schrift und Wort Gottes. Sie führe zu dem wählerischen Umgang mit der Schrift, wie er bei Schleiermacher und seinen Schülern auszumachen sei, denn wenn es keine heilige Schrift, sondern nur noch heilige Worte in den heiligen Schriften gebe, dann könne jeder „für seine Subjectivität den freisten Spielraum“ in Anspruch nehmen: 318 „Die Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes führt practisch zu demselben Resultat, wie die völlige Verwerfung der canonischen Autorität der Schrift. Denn wie soll die Scheidung des Canonischen und Nichtcanonischen vollzogen werden? Will man die Professoren der Theologie zu christlichen Rabbis erheben, die beim Anfange

selbstverständlich an, daß der Mann, der für den Buchstaben der Schrift war, auch für den Buchstaben der Symbole eifre.“ (Kahnis, Gedächtniß, Sp.  423). 317   Wenn Friedrich Hengstenbergs Verweis auf die Bedeutung der Inspirationslehre in seiner Auseinandersetzung mit den Schleiermacherschülern pauschal als „Rückkehr zur altprotestantischen Schriftlehre des 17. Jahrhunderts“ (Friedrich, Eichhorn, 252) abtut, dann übernimmt er damit haargenau die polemischen Kategorien des 19. Jahrhunderts. 318   So in dem Aufsatz über die Erklärung vom 15. August über den Schleiermacherschüler Pischon (EKZ 37 [1845], Sp.  770), dort auch die Rede vom „wählerische[n] und wühlerische[n]“ Umgang mit der Schrift (Sp.  769).

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2  Hengstenberg und die Theologie

jedes Jahres zu bestimmen haben, was während desselben als Wort Gottes gelten soll?“319

Ausgehend von der Schrift als dem Prinzip von Theologie und Kirche, liege demnach „das Heil der Kirche und jedes einzelnen Gläubigen“ vor allem anderem „in dem Opfern des liebsten Kindes der modernen Theologie, der Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes“320. Die Bibel ist Wort Gottes und Heilige Schrift, sie ist – wie Hengstenberg wieder und wieder betont – heiliges Land, das man nur mit ausgezogenen Schuhen betreten dürfe.321 Um diesen Sachverhalt auszudrücken, hält es Hengstenberg auch für unvermeidlich, an der Inspiration der Schrift festzuhalten. Für seine Schriftforschung zieht Hengstenberg daraus die Konsequenzen, daß allen Teilen der Schrift in gleicher Weise Aufmerksamkeit und das Bemühen, sie zu verstehen, entgegengebracht werden müsse: Die Schrift ist ein organisches Ganzes,322 doch gibt sie das nicht jedem und vor allem nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Die Schriftforschung hat daher die Aufgabe, in die Schrift einzudringen, ihre Zusammenhänge aufzudecken, so daß – je länger je mehr – auch die unverständlichen und schwierigen Abschnitte ihren Sinn preisgeben. Sie erweist die Schrift als eine Kette, deren Glieder alle ineinander greifen.323 Aus dieser Perspektive ist nun auch verständlich, warum Hengstenberg so vehement gegen die Abwertung des Alten Testamentes streitet und sich mit ganzer Energie dem Alten Testament zuwendet. Nur wenn es erkennbar wird, daß das Alte Testament insgesamt und in allen seinen Teilen seinen unverzichtbaren Platz im Ganzen der Heiligen Schrift hat, kann man an der Autorität der Schrift festhalten. Wer hingegen das Alte Testament oder einzelne Teile preisgibt, wird auch den Rest der Schrift nicht halten können. Hengstenbergs Schriftauslegung beruht also auf Grundentscheidungen, die es zunächst zu beleuchten gilt (2.3.1). Daran anschließend ist den Konsequenzen nachzugehen, die sich aus ihnen für die praktische Arbeit am AT ergeben (2.3.2 und 2.3.3). Abschließend soll Hengstenbergs Art der Schriftforschung knapp

319   Hengstenberg, Der Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  543; im Hinblick auf das AT äußert Hengstenberg, es hätte nie „seine Stellung als Codex der göttlichen Offenbarungen und für die ganze Gemeinde bestimmt einnehmen können, wenn es dort die Aufgabe wäre, durch theologische Operationen erst die Spreu von dem Waizen zu sondern“ (Hengstenberg, Geschichte 1, 22). 320   Ebd., Sp.  535. 321   Z.B. im Vorwort der EKZ 70 (1862), Sp.  46: „Bei der heiligen Schrift ruft uns das Zeugniß der gesammten christlichen Kirche zu: ‚Ziehe deine Schuhe aus, denn hier ist heiliges Land.‘“ vgl. Hengstenberg, Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  555. 322   Vgl. dazu unten 2.3.1.2. 323   Hengstenberg, Der Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  556; Ders., Prediger, EKZ 62 (1858), Sp.  222; Ders., Jakobus, EKZ 79 (1866), Sp.  1089; Ders., Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  217 u.ö.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

181

charakterisiert werden (2.3.4). Vorab muß allerdings ein kurzer Überblick über Hengstenbergs umfangreiches alttestamentliches Oeuvre gegeben werden: Hengstenbergs alttestamentliche Werke lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite stehen die Werke mit apologetischem Charakter. Sie widmen sich vorrangig Fragen der Einleitungswissenschaften und behandeln Themen wie Echtheit, Einheitlichkeit, historischer Ort und theologische Konsistenz einzelner biblischer Bücher oder bestimmter Schriftkomplexe. In diese Gruppe gehören Hengstenbergs Erstlingswerk, die bereits erwähnte ‚Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten‘, und seine ‚Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament‘, die sich mit der Authentie des Pentateuch und des Danielbuches sowie der Integrität des Sacharia befassen; auch die Studie über ‚Die Bücher Mose’s und Ägypten‘ gehört sachlich zu den ‚Beiträgen‘. Dazu kommen mehrere Artikel in der englischen, von J. Kitto herausgegebenen ‚Cyclopaedia of Biblical Literature‘. Die ‚Christologie‘ und die ‚Beiträge‘ zählt man in der Regel zu Hengstenbergs Hauptwerken; inwiefern das berechtigt ist, muß die folgende Untersuchung zeigen. Auf der anderen Seite steht eine große Anzahl von Kommentaren zu alt- und neutestamentlichen Büchern, unter denen der vierbändige Psalmenkommentar und die Kommentare zum Johannesevangelium und der Johannesapokalypse die ersten Plätze einnehmen. Während sich die apologetischen Werke vorwiegend mit dem Pentateuch und dem prophetischen Schrifttum befassen, wenden sich die alttestamentlichen Kommentare vorwiegend Büchern der Ketubim zu.324 Eine Zwischenstellung nimmt die posthum herausgegebene Vorlesung über die ‚Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde‘ ein. Da sie die Arbeiten zu den Einleitungswissenschaften voraussetzt 325 und einen dezidiert theologischen Charakter besitzt,326 gehört sie jedoch eher auf die Seite der Kommentare. Ähnliches gilt für ‚Die Geschichte Bileams und seiner Weissagungen‘. Neben die Kommentare treten zudem die zahlreichen Aufsätze zu biblischen Themen in der EKZ. An erster Stelle sind diejenigen zu nennen, die sich ohne besonderen Bezug zu zeitgeschichtlichen Themen der Auslegung biblischer Texte widmen; sie stehen häufig im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der ausführlichen Kommentarwerke und bieten ihre komprimierte Fassung.327 Aus324   Zu den Kommentaren im einzelnen siehe unten 2.3.3.1. Eine Aufzählung der Einzelveröffentlichungen Hengstenbergs bis zu seinem Tod bietet die AELK 1869, Sp.  400; die wichtigsten atl. Werke zählt Kahnis, Gedächtniß, Sp.  419 f. auf. 325   Vgl. Hengstenberg, Geschichte 1, 16. 326   S. dazu unten 2.3.1.2. 327   So erschienen vor dem Kommentar zur Offenbarung (1849–1851) Aufsätze zum ‚Thier in der Offenbarung Johannis‘, EKZ 41 (1847), 937–942.945–952.953–957.961–965, Nr.  96– 99, über ‚Das tausendjährige Reich‘, EKZ 42 (1848), 257–261.265–270.287 f.293–296, Nr.  29–32 und über ‚Das eilfte Capitel der Offenbarung St. Johannis‘, EKZ 43 (1848), Sp.  785–791.793–799, Nr.  8 0 f. sowie das Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  3–8, Nr.  1 über

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2  Hengstenberg und die Theologie

führungen zu einzelnen Bibeltexten sind zudem regelmäßig Teil des jährlichen Vorwortes oder anderer Zeitbetrachtungen. Sie sind ebenfalls Ausfluß der exegetischen Arbeit, tragen aber stärker die Form von biblischen Besinnungen. Das In- und Miteinander von Zeitbetrachtung und Schriftauslegung wird unten eigens thematisiert werden. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit alle Werke Hengstenbergs einzeln zu behandeln. Das liegt nicht nur an ihrem Umfang, sondern vor allem daran, daß eine in die Einzelheiten gehende Analyse jener Schriften den geschulten Blick des Alt- bzw. Neutestamentlers erfordern würde. Außerdem ist es für die Frage nach Hengstenbergs kirchlichem Konservatismus ausreichend, dasjenige aus seinen Werken zu erheben, was für seinen Umgang mit der Schrift charakteristisch ist und was seine Exegese auszeichnet, denn nicht zuletzt damit hat er Generationen von Pfarrern geprägt. Für diesen Zweck wurden gleichwohl alle alttestamentlichen Arbeiten Hengstenbergs ausgewertet und zu Grunde gelegt. Aus theologiegeschichtlicher Sicht ist es jedoch sehr bedauerlich, daß sich noch kein Fachexeget den Werken Hengstenbergs in angemessener Form zugewendet hat.328 Zwar erscheint den Nachgeborenen „die ganze ungeheure Off b 6, vgl. die Vorworte EKZ 46 (1850), Sp.  6 f., Nr.  1 (zu Off b 14,14–16) und EKZ 48 (1851), Sp.  1, Nr.  1 (zu Off b 19,11–21); auch dem Predigerkommentar (1859) ging eine Kurzform voraus: ‚Der Prediger Salomo. Ein Vortrag gehalten im Auftrag des Evangelischen Vereines‘, EKZ 62 (1858), Sp.  193–199.209–214.217–223.233–240, Nr.  19–22 sowie das Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  2 –13, ebenso dem Johanneskommentar (1861–1863) mehrere Aufsätze: ‚Über den Eingang des Evangeliums St. Johannis. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz‘, EKZ 65 (1859), Sp.  609–632, Nr.  53 f.; Christus und Nicodemus. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 66 (1860), Sp.  577–595, Nr.  49– 50; ‚Die Auferweckung des Lazarus. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz‘, EKZ 70 (1862), Sp.  601–619; Nr.  51 f. und über ‚Das hohenpriesterliche Gebet Jesu‘, EKZ 73 (1863), Sp.  761–775, Nr.  64 f., daneben die Vorworte, EKZ 72 (1863), Sp.  1–32 über Joh 14 und EKZ 74 (1864), 1–21 über Johannes und die Kirche der Gegenwart; letzteres schließt die Arbeiten zu den johanneischen Schriften ab; weiter auseinander liegen der Hoheliedkommentar (1853) und der ihn im Kern schon enthaltende Aufsatz ‚Ueber das hohe Lied‘, EKZ 1 (1827), Sp.  177–180.181–189, Nr.  23 f., desgleichen der Hiobkommentar (1870/ 1875) und der Aufsatz ‚Ueber das Buch Hiob. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evangelischen Vereins in Berlin‘, EKZ 58 (1856), Sp.  153–159.169–172.177–192, Nr.  16–19. Das Vorwort, EKZ 76 (1865) und der Artikel ‚Das Evangelium des heiligen Matthäus und die moderne Kritik‘ (ebd., Sp.  337–347.361–372, Nr.  29–32) eröffnen eine lange Reihe von Artikeln zum Matthäusevangelium, so daß, hätte Hengstenberg länger gelebt, man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen aus den Matthäusvorlesungen (vgl. unten 2.5.2) erwachsenen Kommentar zu erwarten gehabt hätte (vgl. dazu auch Bachmann / Schmalenbach 3, 422). – Die Verbreitung der wissenschaftlichen Erträge durch die EKZ ist auch im Zusammenhang des Popularisierungstrends der Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehen, vgl. dazu Wischmeyer, Theologiae Facultas, 234 f. 328   Kraus, Geschichte und Reventlow, Epochen 4 tun dies auf einer verschwindend kleinen Quellenbasis. Kraus’ Beurteilung bleibt daher ganz an Nebensächlichem hängen, zudem benötigt er Hengstenberg vor allem, um für seine an der Überbetonung des Menschlichen bzw. des Göttlichen in der Schrift orientierten Systematik einen Vertreter für letzteres zu haben. Smends kurze Würdigung der ‚Christologie‘ als ein „ebenso scharfsinnige[s] wie gelehrte[s] Buch“ (Smend, Art. „Christologie [...]“, 103) im ‚Lexikon theologischer Werke‘

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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Arbeit Hengstenbergs auf dem biblischen, insbesondre alttestamentlichen Gebiete“ mit Hirschs Worten nur „als eine Episode, über welche die Forschung hinweggekommen zu sein sich freut.“329 Doch wird dabei übersehen, daß Hengstenbergs Stärke in der detaillierten Beobachtung am einzelnen Text, ausgehend von der kanonischen Textgestalt, lag. Darüber hinaus beherrschte er die Forschungsgeschichte in souveräner Weise330 und zog in seinen Werken Vertreter aller Richtungen, wenn auch nicht unparteiisch, zu Rate. Diese Einzelbeobachtungen und -ergebnisse, weniger die großen Linien und Hypothesen, wären es wert, von einem berufenen Exegeten abseits der stereotyp wiederkehrenden Pauschalbewertungen 331 begutachtet zu werden. Die folgende Darstellung rekonstruiert Hengstenbergs Arbeit als Alttestamentler nach grundlegenden sachlichen Gesichtspunkten. Da seine Sicht, was das Grundsätzliche angeht, im Großen und Ganzen konstant geblieben ist, kann darauf verzichtet werden, sein Werk genetisch-chronologisch zu behandeln. Jedoch wird, wenn sich Entwicklungen oder Veränderungen seines Denkens ausmachen lassen, an der entsprechenden Stelle darauf eingegangen.

2.3.1  Heilige Schrift 2.3.1.1  Inspiration und Offenbarung Die Ablehnung der Unterscheidung von Schrift und Wort Gottes ist für Hengstenberg gleichbedeutend mit der Anerkennung der Inspiration der Heiligen Schrift. Aufgrund der Inspiration, „auf der allein ihr göttliches Ansehen in der christlichen Kirche beruht“332 , wird die ganze Bibel als Schrift göttlichen Ursprungs, mithin als Heilige Schrift gekennzeichnet. Aus dem Umgang Jesu und der Apostel mit dem Alten Testament lasse sich zweifelsfrei erschließen, daß für sie die Inspiration der Schriften des alttestamentlichen Kanons selbstverständlich feststand.333 Auch die Kanonwerdung könne man sich gar nicht anders denkann naturgemäß nur einen kleinen Einblick geben. Zu den Arbeiten von Taylor, Davies, Nafzger und Beckmann siehe die Bewertungen oben im Einleitungsteil unter 2. 329   Hirsch, Geschichte 5, 126. 330   Die Nützlichkeit seines Psalmenkommentars in dieser Hinsicht betonte noch z. B. Diestel, Geschichte, 664. 331   Ein Beispiel dafür ist die Rede von der Berliner Fakultät zur Zeit Hengstenbergs als „Hochburg der Unwissenschaftlichkeit im Alten Testament“ und der „Hengstenbergschen Wüste“, die der im Blick auf das Alte Testament alles andere als vertrauenswürdige Harnack in die Welt gesetzt hat (Harnack, Fakultät, 161 f.) und die erstaunlicherweise auch von Alttestamentlern ohne jede Prüfung nachgesprochen wird (so z. B. Liwak, Fakultät, 181 f., Harnack ohne weitere Belege oder Begründungen zitierend). 332   Hengstenberg, Erklärung, EKZ 37 (1845), Sp.  770. 333   Hengstenberg, Der Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  534: Der Herr setze bei seinem Schriftgebrauch voraus, daß die Zuhörer davon ausgehen, „daß die Schrift nicht gebrochen werden könne, in allen ihren Aussprüchen unfehlbar und also von Gott eingegeben

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2  Hengstenberg und die Theologie

ken als so, daß nur solchen Schriften, denen man göttlichen Ursprung zuschrieb, auf Dauer maßgebliche Geltung für die Religion eingeräumt wurde: „Im Gegensatz zu der Befangenheit eines Semler und seiner Schule ist man jetzt allgemein zu der Einsicht gelangt, daß nicht bloß religiöser Inhalt, daß vielmehr die auf der Inspiration ruhende Heiligkeit das nothwendige Erforderniß der Aufnahme in den Canon war.“334

Hengstenberg beruft sich im Blick auf das Alte Testament auf den locus classicus der Inspirationslehre 2 Tim 3,16, hält jedoch zugleich fest, daß durch diese und ähnliche Bibelstellen „manche spätere Uebertreibungen des Inspirationsbegriffes nicht gerechtfertigt“ seien.335 Schon Zeitgenossen haben beklagt, daß sich Hengstenberg nie dezidiert und systematisch zum Charakter seiner Inspirationslehre geäußert habe.336 Meistens spricht er nur sehr allgemein davon, „daß die heiligen Männer Gottes vom Geiste getrieben worden sind“337. Seine einzige ausführliche Darlegung zum Thema ist die bereits im ersten Kapitel erwähnte sehr frühe Schrift ‚Über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere‘ von 1825.338 Schon innerhalb der Bibelgesellschaft, der sie als Einladungsprogramm für die Jahresfeier dienen sollten, waren die in kürzester Zeit zu Papier gebrachten Ausführungen wegen der Rede von der Irrtumsfreiheit der Apostel im Lehren umstritten.339 Zwar bieten auch sie keine genauen Aufschlüsse über den von Hengstenberg vertretenen Inspirationsbegriff, sie lassen aber sehr deutlich erkennen, welche Bedeutung die Inspiration für Hengstenberg hat. Es geht ihm dabei nämlich schlicht um die Frage, wie es möglich ist, daß sündige Menschen Gottes Wort vernehmen und niederschreiben.340 Nicht nur das Tun des Menschen, sondern auch sein Erkennen ist durch die Sünde getrübt. Das gilt, so Hengstenberg, auch für den Christen. Wie seine Heiligung immer unvollkommen bleibt, so ist auch seine Erkenntnis immer Stückwerk (338 f.). Es gibt bei ihm nichts Vollkommenes. Auch eine göttliche Erleuchtung müßte immer bis zu einem gewissen Grad durch das eigene Sinnen und Trachten des Herzens verfälscht werden. Dann aber wäre es unsey.“ Vgl. Ders., Christologie1 1/1, 22; Ders., Der Prediger Salomo, EKZ 62 (1858), Sp.  193. 334   Hengstenberg, Das Hohelied Salomonis, 256; vgl. Hengstenberg, Authentie des Daniel, 237. 335   Hengstenberg, Geschichte 1, 25. Mit den nicht näher bestimmten Übertreibungen hat er wahrscheinlich eine bis in die hebräischen Vokalzeichen gehende Verbalinspirationslehre im Blick. 336   Kahnis, Grundwahrheiten, 87; vgl. Taylor, Old Testament, 42. 337   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 158. 338   Vgl. dazu oben 1.3.2. 339   Vgl. Bachmann 1, 246: Der Vizepräsident der Gesellschaft, Rosenstiel, befürchtete, daß man daraus Fehlschlüsse auf die Lehrautorität des Papstes als Nachfolger der Apostel ziehen könnte. Hofprediger Strauß hingegen befürwortete die Formulierung. 340   Hengstenberg, Ueberordnung: Bachmann 1, 334–354, bes. 336–340, die folgenden Belege im Fließtext beziehen sich hierauf.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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möglich, das äußere, von Gott her kommende Wort und die aus dem Inneren des Menschen entspringenden Gedanken zu unterscheiden. Aus diesem Grund hob Gott bei den Aposteln „das ordentliche Verhältnis zwischen Heiligkeit und Erleuchtung auf, und ertheilte ihnen neben den ihnen und uns gemeinsamen Gaben des Geistes durch ein besonderes Wunder seiner Allmacht noch eine andere Gabe, die uns versagt ist, die Irrthumsfreiheit im Lehren.“ (340) Während diese Gabe den Aposteln auf Dauer zukam, wurde sie den Propheten des Alten Bundes nur von Zeit zu Zeit gewährt: Der Herr berief „einzelne Männer, die sich für die Einwirkungen seines Geistes besonders empfänglich zeigten, und bewirkte durch eine besondere Erweisung seiner Gnade, daß in den Stunden der Begeisterung ihr menschliches Bewußtsein ganz aufging in den göttlichen Geist, daß sie ihn schauten wie er ist und in ihm die ewigen göttlichen Wahrheiten ohne Beimischung menschlichen Irrthums. Was diese Männer geschaut hatten, wurde durch besondere göttliche Veranstaltung in Schrift gefaßt und so dem Volke ein äußeres Wort gegeben, an dem es das innere Wort prüfen und von menschenlichen Zusätzen reinigen konnte.“ (338)

Wie die „besondere göttliche Veranstaltung“ zur Verschriftlichung des Geschauten aussah, läßt Hengstenberg auch hier offen. Im Blick auf die Apostel erfährt man immerhin: „Mögen sie die göttliche Wahrheit ihrer menschlichen Eigenthümlichkeit gemäß, nach verschiedenen Beziehungen darstellen, so bleibt ihnen allen doch als ihr gemeinsamer Charakter die Freiheit von Irrthum und von Vermischung des Göttlichen und Menschlichen.“ (340) „Menschliche Eigentümlichkeit“ wird also nicht rundweg ausgeschlossen, doch kommt es Hengstenberg auf das letztere, die Freiheit von Vermischung des Göttlichen und Menschlichen, an. Denn stünde in der Schrift Menschliches und Göttliches, Falsches und Wahres vermischt nebeneinander, dann hätte man keine göttliche, keine heilige Schrift mehr. Dann wäre der selbst mit Irrtum und Sünde behaftete menschliche Geist gezwungen, Wahres und Falsches innerhalb der Schrift zu sondern. Mit der Autorität der Schrift wäre es damit aber zu Ende, besteht doch ihr Zweck gerade darin, „die trügerischen Gaukelspiele“ der menschlichen Vernunft von den „Eingebungen des h. Geistes“ unterscheiden zu lehren (340).341 Die Schrift würde, wie Hengstenberg es später ausdrückt, „zuletzt von der unreinen und unreifen Subjectivität gerichtet, der auf diese Weise das Mittel ihrer Reinigung und Förderung genommen ist.“342 Die Inspiration bildet damit die Gewähr dafür, daß die Schrift ein dem Menschen objektiv von außen Entgegentretendes ist, etwas, das von Dingen zeugt, die dem Menschen nicht von sich aus in den Sinn kommen und nicht durch den sündigen menschlichen Willen korrumpiert sind. Damit ist das Christentum aber sowohl vom Rationalismus als auch von jeder Art von Mystizismus und 341

  Siehe dazu oben 1.3.2.   Hengstenberg, Schriftprinzp, EKZ 36 (1845), Sp.  438.

342

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2  Hengstenberg und die Theologie

Spiritualismus geschieden, wie Hengstenberg in seiner zweiten frühen Schrift, in den Ausführungen zu der ‚Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘ unmißverständlich erklärt. Für den Christen stehe es fest, „daß alle diejenigen, welche die Richtschnur für Lehre und Leben nicht in der Schrift suchen, sondern im Ver­stande oder im Gefühle, den jetzigen Zustand der menschlichen Natur nicht kennen, welcher durch die Sünde verdunkelt und verderbt, nicht geeignet ist das Göttliche rein aufzunehmen, sondern es durch Vermischung mit dem Menschlichen trübt, und daher einer äußern unumstößlich gewissen und durch die Sünde nicht getrübten, göttlicher Offenbarung bedarf; er weiß, daß das Christenthum nur dann seine heiligende und beseligende Kraft beweisen kann, wenn Subjectives und Objectives in ihm geschieden bleiben, wenn man der Geschichte ihre einfache und unumstößliche Wahrheit läßt, daß z. B. die Hauptlehre des Christenthums, die Lehre von der Versöhnung nur dann den Menschen beruhigen, ihn über sich selbst erheben und wieder mit Gott vereinigen kann, wenn die durch Christi Leben, Leiden und Sterben geleistete, stellvertretende Genugthuung durchaus als eine objective historische Thatsache aufgefaßt, und dann durch subjective Aneignung, vermittelst des durch den heiligen Geist gewirkten Glaubens in dem Menschen lebendig gemacht wird.“343

Hengstenberg begründet die Notwendigkeit, von der Inspiration der Schrift auszugehen, also nicht nur äußerlich kanongeschichtlich und mit dem Beispiel Jesu und der Apostel, sondern auch aus inneren Gründen mit dem Charakter der göttlichen Offenbarung. Doch wie soll man sich die Inspiration, den Einbruch des schlechthin Anderen in diese Welt vorstellen? Hengstenberg gibt im Rahmen seiner alttestamentlichen Arbeiten immer wieder Hinweise dazu. Am ausführlichsten hat er sich in diesem Zusammenhang mit der Eigenart prophetischer Weissagung beschäftigt. Dazu gab ihm schon früh sein Werk über die christologisch gedeuteten Prophetien Anlaß. Wollte man davon ausgehen, daß die Propheten im alten Israel bereits von dem zukünftigen Messias zeugten, dann mußte auch gezeigt werden, wie das möglich sein konnte. Die unterschiedlichen Auffassungen von den messianischen Stellen sieht Hengstenberg vor allem darin begründet, daß man bei der Exegese „die prophetischen Schriften ebenso wie alle übrigen“ behandle, ohne ihren besonderen Charakter wahrzunehmen. Aus diesem Grund bemüht er sich, aus den biblischen Stellen, die von prophetischer Rede handeln, eine „richtige Theorie der Weissagung“344 zu erheben. Im Kern führt dies schließlich zu einer Rehabilitation des Verständnisses von Prophetie als Ekstase. Zu Unrecht hätten die Kirchenväter Ekstase als Kennzeichen der falschen Prophetie und „das verständige Bewustseyn“ als Merkmale wahrer Prophetie unterschieden. 343   Hengstenberg, Ministerialverfügung: Bachmann 1, 362 (vgl. dazu auch oben 1.3.2). 344   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 293, die folgenden Stellenangaben im Fließtext beziehen sich hierauf.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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„Es zeigt sich, daß auch die wahren Propheten sich in einem ausserordentlichen, von dem gewöhnlichen characteristisch verschiedenen Zustande, in einer e k] stasij befanden, in der das verständige Bewustseyn zurücktrat, und das ganze Selbstleben durch eine gewaltsame Wirkung des göttlichen Geistes unterdrückt und zu einem leidentlichen Verhalten gebracht wurde, so dass die Propheten, wie Philo sagt, Dollmetscher wären, deren Organe sich Gott zur Mittheilung seiner Offenbarung bediente.“ (294 f.) 345

Mit dem ekstatischen Charakter des prophetischen Offenbarungsempfangs hängt zusammen, daß nach Hengstenberg die „Mittheilung an die Propheten [...] immer in Gesichten ( Hâ AR: a > Ma B) oder in Träumen, also immer bei ruhender Reflexion und ruhenden äusseren Sinnen“ (299) erfolgt.346 Die Propheten sind – und darauf wiesen auch die alttestamentlichen Bezeichnungen hin – Seher (299 f.). Daraus ergeben sich aber eine ganze Reihe von Konsequenzen: Propheten sind keine Dogmatiker, sie behandeln ihren Gegenstand nicht umfassend, sie geben nicht mehr als „eben das Gesehene, ohne dass sie dasjenige einmischten, was sie nach ihrem verständigen Bewusstseyn schon früher aus den Offenbarungen anderer Gottesmänner und aus dem Volksglauben wussten“ (305). Sie legen keinen Wert auf zeitliche Abläufe, sie „waren nicht sowohl chronologische Geschichtschreiber, als Gemäldebeschreiber“ (306). Was sie sehen, stellen sie zumeist im Tempus der Gegenwart dar. Daher darf man bei der Auslegung einzelner messianischer Weissagungen weder ein vollständiges Bild des Messias erwarten noch eine genaue Vorstellung davon, wann der Messias kommen wird. Die Visionen, die die Propheten empfangen, sind unabgeschlossen und auf Ergänzung angelegt (308 f.). Die Beschreibung des prophetischen Offenbarungsempfangs als rein passive Schau ohne aktive Beteiligung des Verstandes verweist laut Hengstenberg auf die Göttlichkeit des von ihnen Berichteten.347 Dem widerspricht jedoch nicht, daß die geschauten Bilder aus dem zur Zeit des jeweiligen Propheten vorhandenen Bestand an Vorstellungen schöpften. Im Gegenteil: „Die Bilder aber, unter denen sich den Propheten die Zukunft darstellte, mussten innerhalb des Kreises ihrer Vorstellungen liegen und von den Verhältnissen, unter denen sie lebten, entnommen seyn. Denn eines Theils wirkt Gott auf die Seelen derer, welchen er sich mittheilt, nicht magisch, sondern auf eine ihren Eigenthümlichkeiten und Erkenntnissen angemessen Weise, und anderen Theiles würden die Weissagungen, wenn sie aus unbekannten Bildern zusammengesetzt wären, ihres Zweckes verfehlt haben; sie würden gänzlich unverständlich gewesen seyn.“ (312 f.)

345

  Vgl. auch ebd., 296; vgl. Philo, De decalogo 33 (ed. Cohn, 307,2 f.).   Vgl. auch Hengstenberg, Bileam, 57 und Hengstenberg, Cyclopaedia 2, 561. 347   Zum Propheten gehöre „a state of mind worked up – a state of being beside one’s self – an ecstatic transport, in which ideas were immediately imparted from Heaven” (Hengstenberg, Cyclopaedia 2, 562). 346

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2  Hengstenberg und die Theologie

Das ist der Grund, warum prophetische Weissagungen trotz ihres göttlichen Ursprungs einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Vorstellungswelt zuzuordnen sind, aus denen heraus sie verstanden werden wollen. Der Bildbestand ist in gewissem Maße der menschlichen Subjektivität zuzuordnen, allerdings ist der göttliche Charakter der Offenbarung von dieser äußeren Form nicht tangiert. So bleibt es schließlich das charakteristischste Merkmal für Hengstenbergs frühe Äußerungen, daß er die menschliche Aktivität und die Rolle der Vernunft beim Empfang der Offenbarung nahezu ausblendet.348 Insofern bieten sie einen Anhaltspunkt für jene Sicht, die Hengstenberg eine strenge, mechanische Inspirationslehre zuschreiben will.349 Allerdings wird dabei zweierlei übersehen: Zum einen beschränken sich die genannten Äußerungen ganz auf die Gattung der prophetischen Weissagung, sie bieten keine generelle Einschätzung des Inspirationsvorganges, und zum anderen nimmt Hengstenberg später gerade an seinen Ausführungen zur Beschaffenheit der Prophetie wichtige Modifikationen vor.350 Zunächst zum ersten: Man wird bei Hengstenberg kein einheitliches Inspirationsverständnis finden, weil er sich im Gegensatz dazu gerade darum bemüht, die unterschiedlichen Arten von Inspiration und Offenbarungsempfang in ihrer Eigenart angemessen zu beschreiben und für die Auslegung fruchtbar zu machen. Während man es bei den Propheten mit Ekstase und bildhafter Rede zu tun habe, finde sich bei Mose eine ganz andere Art von Offenbarung: „Die Bestimmung Mosis zum Gründer einer Öconomie und zum Gesetzgeber für dieselbe erfordert vollkommene, auch verständige, Klarheit. Daher werden ihm die göttlichen Offenbarungen in klarer, bildloser Rede, ou >  di  ai > >vigma /twn, wie Philo es ausdrückt, innerlich und äusserlich zu Theil“.351

348   Auch noch im Kommentar zur Offenbarung (1849) folgert Hengstenberg aus ihrem prophetischen Charakter, also der Tatsache, daß sie „in Gesichten der inneren Anschauung empfangen“ wurde, daß dadurch „die eigene Erfindung, die Einmischung einer üppigen Subjectivität ganz ausgeschlossen“ sei (Hengstenberg, Offenbarung 1, 70), „der Herr Jesus ist der Autor und Johannes hat die Feder geführt“ (ebd., 57). Dies schließe jedoch nicht die menschliche Vorbereitung des Verfassers aus, „namentlich ein eifriges Forschen und Suchen in der Schrift, ein tiefes Nachsinnen über die göttlichen Rathschlüsse, die Energie des Verlangens in die göttlichen Geheimnisse einzudringen“ (ebd.). 349   Siehe unten bei Anm.  369 und 370. 350   Weil Taylor, Old Testament, beides übersieht, sind auch seine Schlußfolgerungen unzutreffend; hingegen macht Nafzger, Struggle, 177–186 zu Recht auf Ersteres aufmerksam. 351   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 299; den Unterschied zwischen „der dem Moses und der den Propheten zu Theil werdenden göttlichen Offenbarung“ entnimmt Hengstenberg Num 12,5–8 (ebd.); ebs. betont Hengstenberg, Cyclopaedia 2, 561, daß die göttliche Inspiration dem Propheten „in a state extraordinary and distinguished from the general one“ zuteil werde: „This mode was different from that in which inspirations were conveyed to Moses and the apostles.“

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

189

Ebenso müsse man auch bei den Aposteln mit der „Thätigkeit des Verstandes“ rechnen, da bei ihnen „die Erleuchtung des Geistes alle Vermögen der Seele auf gleiche Weise durchdrang.“352 Wiederum anders stehe es mit dem dritten Teil des alttestamentlichen Kanons: In ihm wird das „objective[...] Gotteswort[...], wie es in Gesetz und Propheten niedergelegt ist“ durch „das Ausschütten der Seele vor Gott, wie es in den Psalmen ein heiliges Vorbild hat“, und durch „die ruhige und lehrende, bis in die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens hinabsteigende Darlegung der Weisheit“ ergänzt.353 Insbesondere bei den Psalmen nimmt daher das Element der persönlichen Empfindung einen großen Raum ein.354 Mit den Worten Luthers, die auch de Wette für seine Psalmenauslegung in Anspruch nahm, sieht Hengstenberg die „eigentliche Bedeutung der Psalmen“ darin, „daß sie uns den Heiligen des A.T. ins Herz sehen lassen, [...] daß sie uns einen tiefen Blick eröffnen in die inneren Wunder der wahren Religion.“355 Sie bieten daher auch „keine neue Lehre. Sie ruhen in dieser Beziehung auf dem Pentateuch. Die von Gott berufenen Organe zur Fortbildung der Lehre waren nicht die Psalmisten, sondern die Propheten.“356 Aus diesem Unterschied darf man nun aber nicht schließen, daß der Psalter in irgendeiner Form minderwertiger oder weniger inspiriert wäre, vielmehr hätten nur solche Lieder Aufnahme in die Sammlung gefunden, „bei denen die Gemeinde die Überzeugung von ihrer Abfassung unter besonderer Mitwirkung des Geistes Gottes hatte“357. Die Inspiration erlaubt also offensicht­lich einen unterschiedlichen Grad an menschlicher Mitwirkung, sie ist nicht zwangsläufig mit dem Ausschalten des vernünftigen Bewußtseins oder der persönlichen Empfindung verbunden.358 Welches Maß und welche Art der Rationalität bzw. der persönlichen Empfindung man bei der Auslegung eines biblischen Autors in Anschlag bringen muß, bestimmt sich demnach ganz maßgeblich nach der spezifischen Gat352

  Hengstenberg, Christologie1 1/1, 299.   Hengstenberg, Der Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  557. 354   Hengstenberg, Psalmen, Vorwort: „Die Psalmen sind Erzeugnisse heiliger Empfindung, die nur von denjenigen verstanden werden können, in denen dieselbe Empfindung lebendig wird. Dahin zu wirken ist also recht eigentlich Aufgabe des Auslegers.“ 355   Hengstenberg, Psalmen 4, 205 f. Die Psalmen zeigen, was von dem bei den Propheten ergangenen objektiven Gotteswort „in das Bewußtsein der Gemeinde übergegangen ist“ (Hengstenberg, Noch einmal über die Apokryphen, EKZ 54 [1854], Sp.  314). Für die Auslegung folgt daraus: „Je geschichtlicher und individueller wir die Psalmen auffassen, desto mehr werden sie erbauliche Bedeutung gewinnen. Denn nur so lernen wir ihnen recht ins Herz sehen.“ (Hengstenberg, Geschichte 1, 17 f.). Vgl. Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter (1528): Bornkamm, Vorreden, 66; de Wette, Commentar über die Psalmen 2, 6. 356   Hengstenberg, Psalmen 4, 205. Entsprechend trete im NT die Prophetie zurück, weil dort mit der Offenbarung Christi die Wahrheit bereits erschienen sei. „Dadurch ist der Hauptquell höherer Einsichten schon eröffnet, und die Erkenntnis und Lehre tritt in den Vordergrund. Nur für das Neue gilt noch die Prophetie“ (Hengstenberg, Offenbarung 1, 58; vgl. ebd., 56). 357   Hengstenberg, Psalmen 4, 204. 358   Ebs. Nafzger, Struggle, 177–186 gg. Taylor, Old Testament. 353

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2  Hengstenberg und die Theologie

tung, der seine Ausdrucksweise zugehört.359 Die Tatsache, daß es Formen von Offenbarung gibt, bei denen der mensch­liche Geist ganz zurücktritt, spielt demgegenüber für Hengstenberg schon bald keine zentrale Rolle mehr, wie sich insbesondere an der zweiten Ausgabe der ‚Christologie‘ zeigt, in der die Passagen zum Charakter prophetischer Weissagung völlig überarbeitet erscheinen. Hieran zeigt sich die bereits angekündigte Modifikation der frühen Auffassung. Hengstenberg bleibt auch bei der zweiten Ausgabe der ‚Christologie‘ grundsätzlich bei der Auffassung, daß Prophetie eine besondere, durch ekstatische Zustände gekennzeichnete Art der göttlichen Inspiration sei. Deutlich stärker als zuvor wird aber nun betont, daß auch beim Propheten das „verständige Bewußtsein“ nicht fehle, vielmehr gehe die prophetische Ekstase mit dem Verstand Hand in Hand, denn „mit dem Zurücktreten des Ver­standes hört auch die Verständlichkeit auf.“360 Darin liege ein charakterischer Unterschied zwischen der heidnischen und der wahren, göttlichen Prophetie. Bei ersterer werde das Verstandeselement völlig zurückgedrängt, daher nehme ein heidnischer Prophet auch keine Erinnerung aus dem ekstatischen in den normalen Zustand hinüber. Bei der letzteren nimmt das verständige Bewußtsein zwar eine untergeordnete Stelle ein, es wird „aber doch nicht cessirt, vielmehr erhöht und armirt“, es suche „der intelectuellen Anschauung so weit es geht in ihrem Fluge zu folgen“ (179). Daraus folgt: „Die Propheten waren [...] nicht bloße Werkzeuge einer über sie kommenden Macht, sie waren ihrer selbst mächtig, wußten, was sie redeten, und sprachen mit verständiger Berücksichtigung der vorliegenden Verhältnisse.“ (160) Ausdrücklich distanziert sich Hengstenberg nun von der oben genannten, Philo zugeschriebenen Ansicht, daß die Propheten reine Organe wären, deren sich Gott zur Mitteilung bediene (175 f.). Selbst innerhalb der Prophetie werden nun verschiedene Arten von geistiger Tätigkeit angenommen: Spätere Propheten wie Haggai neigten demnach bereits zu einer gewissen Schriftgelehrsamkeit (175). Die Beschreibung der prophetischen Offenbarung als Ekstase dient nun also nicht mehr dazu, die Subjektivität des Empfängers als nahezu ausgeschaltet zu verstehen. Sie bezeichnet lediglich eine besondere Art der göttlichen Offenbarung, „ein unmittelbares Vernehmen“ (180), eine „unmittelbare Anschauung des jenseitigen Zustandes, in dem an die Stelle des Glaubens an die übersinnlichen Realitäten das Schauen derselben tritt“ (172). Aus der Besonderheit des Offenbarungsempfangs folgt für die Auslegung, daß man insbesondere den bildhaften Charakter der Prophetie beachten muß, wobei Hengstenberg nun 359   Das gilt auch für unterschiedliche Schriften desselben Autors, wie Hengstenberg bei der Auslegung der Offenbarung als neutestamentlicher Prophetie geltend macht, die denselben Verfasser habe wie das Johannesevangelium (Hengstenberg, Offenbarung, 160–162). 360   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 161. Die Belege hieraus im Folgenden im Fließtext.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

191

sogar die Möglichkeit einräumt, daß das Schauen der Propheten das Wort auch „ohne die Hülle des Bildes“ (195) erfassen kann. „Indessen ist es unläugbar, daß alle geistige Anschauung, ihre Verwandtschaft mit der sinnlichen dadurch bewährend, eine Vorliebe für das Bild hat.“ (195). Doch gerade auch der bildliche Charakter bringt es mit sich, daß die prophetische Weissagung von der Vorstellungswelt des Propheten beeinflußt ist. Ausdrücklich betont Hengstenberg, „daß der bildliche Character bei den Propheten temperirt ist durch das Streben sich der Gemeinde verständlich zu machen und auf sie zu wirken“ (200). Die Verstandestätigkeit beim Empfang und der Übermittlung der Offenbarung wird damit zunehmend betont. So zeigt sich, daß es Hengstenberg bei der Beschreibung der Prophetie nicht darum geht, eine Theorie der Inspiration zu entfalten, nach der die menschliche Tätigkeit so weit wie möglich ausgeschaltet würde. Vielmehr ist die Inspiration „the general basis of the prophetic office“361, ja, der ekstatische Zustand „is still not the highest“ unter den Arten des Offenbarungsempfangs. Das ekstatische Moment wäre sogar überflüssig, wenn das Leben der Propheten und des Volkes „had already been altogether holy“362 . Je stärker der Geist den Verstand dauerhaft durchdringt, desto weniger bedarf es besonderer ekstatischer Zustände, um Gottes Wahrheit zu vernehmen. Hengstenbergs Überlegungen zur Art und Weise des prophetischen Offenbarungsempfang dienen also nicht dazu, die Inspiration der prophetischen Botschaft abzusichern. Sie zielen vielmehr auf die sachgemäße Auslegung dieser spezifischen Redegattung. Bemerkenswert ist, daß Hengstenberg zu ihrer möglichst präzisen Erfassung auch den Blick über die Theologie hinauswirft. In der zweiten Ausgabe der ‚Christologie‘ untermauert er die aus dem biblischen Befund gewonnene Beschreibung prophetischer ekstatischer Zustände durch Zitate aus Werken von Albert Steinbeck und Johann Carl Passavant.363 Beide sind zeitgenössische Ärzte und Schriftsteller, die sich in Abwehr einer rein materialistisch verstandenen Medizin mit der Wechselwirkung psychologischer und somatischer Prozesse befassen. In den Bereich der Psychologie fallen für sie auch solche Phänomene, die man heute als parapsychologisch bezeichnet, wie z. B. Hell- und Fernsehen im Traum oder im Wachzustand, erhöhte Sensibilität für bestimmte Stoffe wie Wasser, Metall und vieles mehr. Entscheidend ist dabei, daß sie jene besonderen Phänomene nicht als übernatürliche, sondern als der menschlichen Natur innewohnende, in unterschiedlicher Intensität ausgeprägte und in den mei­sten Fällen verschüttete 361

  Hengstenberg, Cyclopaedia 2, 561.   Ebd., 562 (dort auch das vorhergehende Zitat). 363   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 161–180; Steinbecks Werk ‚Der Dichter, ein Seher‘ erschien 1836, die zweite Auflage von Passavants ‚Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und das Hellsehen‘ 1837. Während Steinbecks Interesse vor allem bei der psychologischen Beschreibung von Zuständen der Begeisterung liegt, geht es Passavant um einen „Beitrag zu einer Theorie der Magie und Extase“ (Passavant, Hellsehen, IV). 362

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2  Hengstenberg und die Theologie

Möglichkeiten verstehen. Wissenschaftliche Belege dafür suchten sie mit Hilfe des sog. Lebensmagnetismus zu gewinnen, der davon ausging, daß man mit elektromagnetischen Feldern auf das Nervensystem, das man sich als ein durch ein Fluidum im Menschen bestimmtes vorstellte, Einfluß nehmen könne. Die Einzelheiten interessieren hier nicht. Wichtig ist nur, daß es sich um eine Bewegung handelt, die auf medizinischem Gebiet mit dem Hineinwirken einer geistigen in die sichtbare Welt rechnet. So schreibt Passavant am Ende seiner ‚Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und das Hellsehen‘: „Das Wunder ist nur das Durchscheinen eines höheren Daseyns in die zeitliche, aber eben darum vergängliche Weltordnung. Für diese ist es eine übernatürliche That, aber für eine höhere Ordnung, wo der Geist die Natur völlig beherrscht, die natürliche und normale.“364

Hengstenberg ist in seiner Beurteilung der biblisch beschriebenen Phänomene nie von solchen, auch damals schon sehr umstrittenen wissenschaftlichen Theorien ausgegangen, jedoch hat er auf sie eklektizistisch zurückgegriffen, um für das am biblischen Text Erhobene eine möglichst konkrete Vorstellung zu gewinnen.365 Zweifellos stand ihm die das Geistige betonende Richtung in der Abwehr eines rein materialistisch-mechanistischen Weltbildes nahe. Das Verbindungsglied zwischen Hengstenberg und dieser, theologisch durchaus nicht mit ihm auf einer Linie liegenden Bewegung 366 bildete der Erlanger Naturforscher Gotthilf Heinrich Schubert, der, aus der fränkischen Erweckungsbewegung kommend, tatkräftiger Mitarbeiter der EKZ war.367 An der Anknüpfung 364

  Passavant, Hellsehen, 348.   Von „a sort of amalgamation of theology and physical science, which is probably unique in the history of Old Testament studies“ (Taylor, Old Testament, 246) kann gar keine Rede sein. Weil Taylor mit der englischen Übersetzung der zweiten Ausgabe der ‚Christologie‘ arbeitet, muß ihm entgehen, daß Hengstenberg in der ersten Ausgabe dieselben Aussagen auch ohne die psychologischen Theorien macht. Hengstenberg hat die Werke erst später kennengelernt, daher benutzt er auch die zweite Auflage von Passavants Werk und nicht, wie Taylor (ebd., 246, Anm.  1) meint, die erste von 1821. 366   Passavant war zwar evangelisch, aber alles andere als orthodox. Mit Bischof Sailer befreundet, liebte er am römischen Katholizismus die Mysterien und Wunder, träumte von einer Vereinigung der Konfessionen und pflegte zudem mystische und theosophische Ansichten (s. Dechent, ADB 25). Charakteristisch ist, daß Hengstenberg die Partien seines Buches, in denen Passavant auf das Alte Testament und das Christentum eingeht (Passavant, Hellsehen, 195–217. 341–348), nicht berührt. An Steinbeck kritisiert er, daß er seine Materialien nicht ausreichend untersucht habe (Hengstenberg, Cyclopaedia, 561). 367   Schubert steuerte zu Steinbecks Werk eine einleitende Abhandlung mit dem Thema „Der organische Leib und die Sprache“ bei (Steinbeck, Dichter, VII–XVI). Steinbeck bekennt sich in seiner Einleitung seinerseits dazu, am meisten von Passavant beeinflußt zu sein (ebd., XXX f.). Sehr wahrscheinlich ist Hengstenberg über Schubert auf Steinbeck und über Steinbeck auf Passavant aufmerksam geworden. Zu Schubert vgl. Wölfel, BBKL 9; Kantzenbach, Erweckungsbewegung, 76–82, der auch auf die Beziehungen zwischen Schubert und Passavant eingeht (ebd., 81 f.) und Weigelt, Raumer, 35–40; zu seiner Verbindung mit Hengstenberg und der EKZ s. seinen Briefwechsel, Bonwetsch, Schubert, 389–398. 365

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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an jene zu seiner Zeit sehr aktuellen und heiß diskutierten Konzepte läßt sich ablesen, daß Hengstenberg besondere prophetische Bewußtseinszustände nicht als etwas schlechterdings Unerklärbares und mit wissenschaftlichem Denken im Widerspruch Stehendes verstand. Sie gehören geradezu zu einem Weltbild, in dem von einem wirkenden Gott ausgegangen und die Wirksamkeit Gottes nicht streng von den weltimmanenten Vollzügen getrennt wird.368 Festzuhalten ist also, daß sich Hengstenberg zwar darum bemüht, die verschiedenen Arten des Offenbarungsempfangs möglichst genau zu differenzieren, er darüber hinaus aber keine allgemeinen Aussagen zur Art und Weise der Inspiration macht. Daß er kein Vertreter einer „mechanische[n] Inspirationslehre“369 oder einer „doctrine of perfect verbal inspiration“370 war, ergibt sich aus dem Gesagten von selbst.371 Er rechnet damit, daß Vernunft und Vorstellungswelt der Offenbarungsempfänger bei der Formulierung und Verschriftlichung des Empfangenen mitwirken. Darum ist der geschichtliche Ort der biblischen Schriften für ihn von entscheidender Bedeutung. Es zeigt sich, daß Hengstenberg je länger je mehr die Inspiration nicht mehr auf den ungetrübten Empfang der Offenbarung begrenzt, sondern auch die durch die Offenbarung in Gang gesetzte menschliche Tätigkeit als vom Geist umgriffen versteht.372 368   Die Aktualität der Arbeiten von Steinbeck und Passavant für Hengstenberg muß man auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen übernatürlicher Phänomene betrachten, wie sie z. B. in der pommerschen Erweckungsbewegung gemacht wurden und Hengstenberg von daher bekannt waren. Die Beobachtung, daß schlichte Gemüter in Ekstase eine ihnen fremde, gehobene Sprache sprechen (Steinbeck, Dichter, 451–460), wird von Hengstenberg immer wieder zitiert (Hengstenberg, Christologie2 3/2, 163, Anm.*; Ders., Vorwort EKZ 70 [1862], Sp.  45). Entsprechendes wurde auch von den Versammlungen auf den pommerschen Gütern der von Belows berichtet (vgl. Wangemann, Regen, 61 f.160 f.). 369   So Schwarz, Theologie1, 74 (im Original gesperrt); Kähler, Geschichte, 181 hält Hengstenberg für den letzten „Vertreter der Verbalinspiration“, ein Urteil, das ohnehin unzutreffend ist, wie der am Ende des 19. Jhs. neu aufflammende Streit um die Inspirationslehre zeigt (vgl. Gennrich, Kampf, 89–111). 370   Dies meint Taylor, Old Testament, 257, obwohl er selbst sieht, daß sich dies mit der Beschreibung der prophetischen Weissagungen, die er fälschlicherweise als eine Theorie der Inspiration überhaupt versteht, schlecht verträgt. Demgegenüber betont Nafzger, ­Struggle, 183 zu Recht: „Hengstenberg has very little to say about how revelations received in this manner came to be written down. “ 371   Abgesehen von seiner beschriebenen Gesamtkonzeption lassen sich dafür auch explizite Aussagen anführen, in denen er sich von dem Inspirationsverständnis des 17. Jhs. absetzt. So betont er, auf evangelischer Seite habe man „stets die Zulässigkeit, ja die Notwendigkeit der freien Forschung und die Berechtigung der Kritik anerkant. Solche Annahmen, wie die in der Alten Kirche vorkommende von der Inspiration der Alexandrinischen Uebersetzung, haben unter uns nie Boden gewonnen.“ Allerdings habe sich das im 17. Jh. geändert: „Ein Calov z. B. verteidigt blindlings Alles, was in dem damals gangbaren Texte des N. T. geschrieben stand, von dessen rein zufälliger Entstehung und schwacher Begründung er gar keine Ahndung hat.“ (Hengstenberg, Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  656). 372   Vgl. die allgemeine Aussage in der Christologie2 3/2, 158: „Die vorliegende Christologie ist aus der innigen Ueberzeugung hervorgegangen, daß wir ein festes prophetisches Wort

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2  Hengstenberg und die Theologie

Was sich als bleibendes Interesse durchsetzt, ist das Fest­halten an der Offenbarung als einer Art von Mitteilung, die dem Menschen eine Wahrheit eröffnet, die nicht aus ihm oder aus der vor Augen liegenden Welt hergeleitet werden kann.373 Dies soll zum Schluß an seiner Kritik an J.Ch.K. Hofmann deutlich gemacht werden. Hofmann hatte in seinem 1841/44 erschienenen Werk ‚Weissagung und Erfüllung‘ ein anderes Verständnis von Prophetie entwickelt als Hengstenberg. In deutlicher Abgrenzung von dem Berliner Alttestamentler und in ständiger Auseinandersetzung mit ihm versuchte er, ein Verständnis von Weissagung zu gewinnen, das eine gewissere und weniger willkürliche Zuordnung von Vorhersage und Erfüllung ermöglichen sollte.374 Darum verstand Hofmann nicht mehr einzelne prophetische Worte als Weissagungen von Zukünftigem, sondern seiner Ansicht nach gibt der Geschichtsverlauf als ganzer, als Typus verstanden, Hinweise auf das Kommende. Er spricht darum von „weissagender Geschichte“375, Hengstenberg benutzt dafür den Begriff ‚Realweissagung‘. Hofmann beansprucht, mittels seiner Konzeption dem geschichtlichen Charakter der Schrift gerecht zu werden, denn sie erlaubt es nicht nur, sondern verlangt es, die bihaben, daß die heiligen Männer Gottes vom Geiste getrieben worden sind, daß sie im Geiste Christum, sein Leiden und die Herrlichkeit danach bezeugt haben“. Charakteristisch ist, daß Hengstenberg in seinem letzten Kommentar zu einem Prophetenbuch auf die Art und Weise des Offenbarungsempfangs gar nicht mehr eingeht, sondern ganz allgemein davon spricht, daß dem Propheten die Augen für die Wirklichkeit Gottes geöffnet würden (Hengstenberg, Ezechiel 1, 6). 373   Das Charakteristische am Begriff der Offenbarung ist demnach „die absolute Unzugänglichkeit für das gewöhnliche Bewußtseyn“ (Hengstenberg, Offenbarung, 51 f.). Insofern bezeichnet der Offenbarungsbegriff das Eintreten neuer Einsichten nicht nur in die Geschichte, sondern auch in das individuelle Leben: „Hiernach gehört in die Sphäre der Offenbarung auch dasjenige, was objectiv bereits offenbar und der Kirche zu eigen geworden ist, insofern als es den Einzelnen mitgetheilt wird. Denn die christliche Lehre als solche ist übervernünftig, von dem Glauben an Christum überhaupt gilt, daß Fleisch und Blut ihn nicht aus sich erzeugen und fassen kann [...]. Durchaus gewöhnlich aber bezeichnet die Offenbarung die neue Hervorbringung bis dahin völlig unzugänglicher Wahrheiten. Dies kann nur in Momenten heiliger Weihe erfolgen, in denen die Seele der erwählten Werkzeuge Gottes über sich selbst erhoben und auf ’s innigste mit Gott, dem Quell der Wahrheit verbunden wird“ (ebd.). Wie in seinen frühen Schriften gibt Hengstenberg auch 1845 noch als Kennzeichen der Inspiration an, daß sie „bei den Verfassern der heiligen Schrift das ordentliche Verhältniß zwischen Heiligung und Erleuchtung auf hob“ (Hengstenberg, Erklärung, EKZ 37 [1845], Sp.  774). 374   Der Gesamtduktus des Buches richtet sich in erster Linie gegen Hengstenberg, auch wenn andere Positionen angegriffen werden. Das zeigt sich weniger an der gegen Hengstenberg gerichteten Einführung (Hofmann, Weissagung 1, 3–5) als in den zahlreichen Seitenhieben, wo es um die Behandlung der messianischen Weissagungen der Propheten geht (ebd., bes. 200–252). Auch der betonte Hinweis, er, Hofmann, werde das alttestamentliche Wort so einfach nehmen wie es sich gibt und beispielsweise das Wort eines Propheten nicht auf die christliche Kirche oder die ewige Seligkeit beziehen (ebd., 63), könnte auf Hengstenberg gemünzt sein. 375   Z.B. Hofmann, Weissagung 1, 56.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

195

blischen Schriften ganz von ihrem historischen Kontext her zu verstehen. Die prophetische Weissagung ist als die Deutung typischer Geschehnisse und Zustände einer bestimmten Zeit zugleich Vorausdeutung auf zukünftige Erfüllungen. Die eigentliche Offenbarung liegt damit im Geschichtsverlauf, die Weissagung ist die ihn begleitende Deutung; sie ist Aufgabe der hierzu begabten Propheten. Sie sind inspiriert in dem Sinne, daß sie aus dem natürlichen Fluß der Geschichte Worte und Taten der weissagenden Geschichte zu Tage bringen können.376 Zu Recht hat man Hofmanns Konzeption mit der Bezeichnung „Offenbarung als Geschichte“377 versehen. Was jedoch die Darstellung des geschichtlichen Verlaufs und die Beurteilung der Historizität der biblischen Bücher im einzelnen angeht, steht Hofmann in vielerlei Hinsicht näher bei Hengstenberg als bei der historisch-kritischen Forschung. Den Verlauf der weissagenden Geschichte bestimmt er nämlich so, daß er schlicht der biblischen Darstellung folgt ohne Rücksicht auf die Ergebnisse der kritischen Forschung.378 Im Blick auf einzelne seiner Ergebnisse kann Hengstenberg daher durchaus positiv auf Hofmann verweisen.379 Seinen Grundansatz lehnt er jedoch in der zweiten Ausgabe seiner ‚Christologie‘ kategorisch ab.380 Genau daran aber zeigt sich einmal mehr die Pointe von Hengstenbergs Inspirationsverständnis. In einem kurzen, aber grundlegenden Aufsatz ‚Zur Auslegung der Propheten‘ von 1833 spricht Hengstenberg selbst davon, „daß die ganze heilige Geschichte eine fortlaufende Weissagung ist“.381 Die Propheten könnten Gegen376   Hofmann, Weissagung 1,56; zu Hofmanns weit gefaßtem Inspirationsbegriff vgl. ebd., 25–32. 377   Kähler, Geschichte, 188. 378   Hofmann, Weissagung 1, 62–64 und 2,1. Slenczka, Hofmann, 157 weist zu Recht auf Hofmanns „Schwanken zwischen neuzeitlichem Gestus und vorkritischer Exegese“ hin und bezeichnet Hofmanns Integration der Geschichtlichkeit als „[s]cheinhafte Modernität“. Schon Hengstenberg kritisiert dieses Schwanken, indem er darauf hinweist, daß Hofmann zwar die messianischen Weissagungen leugne, aber andere Weissagungen zugestehe und bspw. von der Echtheit des Danielbuches ausgehe. Insofern sei Hofmann „wissenschaftlich im Nachtheil gegen den Rationalismus, der überall in der Prophetie das supranaturale Element läugnet und so gut er es vermag, beseitigt“ (Hengstenberg, Christologie2 3/2, 157). 379   In seiner ‚Geschichte‘ empfiehlt Hengstenberg Hofmanns ‚Schriftbeweis‘ als geeignet für die Fortgeschrittenen, wenn sie daneben Kliefoth zu Rate zögen, und auch ‚Weissagung und Erfüllung‘ könne in geistvoller Weise Anregung gewähren (Hengstenberg, Geschichte 1, 102 f.). 380   Wie Wichern in sein Reisetagebuch einträgt, scheint Hengstenberg bereits im Herbst 1844 gegen Hofmann, der zu dieser Zeit in Rostock lehrte, polemisiert zu haben (Wichern, Gesammelte Schriften 1, 339 [28. Okt. 1844]). 381   EKZ 12 (1833), Sp.  182–191, Nr.  23 f., hier 189. Den Aufsatz bespricht Hofmann, Weissagung 1, 4 f.; es wäre zu prüfen, ob er ihm nicht sogar den Anstoß für seine Untersuchung gab, denn wiederholt nimmt er auf Hengstenbergs dort geäußertes Verständnis von Prophetie als der am Beispiel konkret werdenden Idee (vgl. dazu unten 2.3.1.2 und Davis, Hermeneutics, 49–58, dem allerdings der Zusammenhang mit der Hofmannschen Fragestellung entgeht) ablehnend Bezug (z. B. Hofmann, Weissagung 1, 56).

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2  Hengstenberg und die Theologie

wärtiges und Vergangenes auf Zukünftiges übertragen, da sich im einzelnen etwas Typisches zeige, das grundsätzlich gelte. Da alles Handeln Gottes Ausfluß seines Wesens sei, „so ist jede seiner Thaten zugleich Realweissagung, die ganze Geschichte der Thaten Gottes eine rückwärts gekehrte Prophezeihung, weshalb auch die Propheten des A.T. die Aufzeichnung der heiligen Geschichte recht eigentlich als einen Bestandtheil ihres Berufes betrachteten.“

Die Geschichte erlaubt also, so Hengstenberg, Rückschlüsse auf Gottes Handeln. Deshalb kritisiert er an Hofmann auch nicht die Annahme von – wie er es nennt – Realweissagungen. Stets habe die kirchliche Theologie anerkannt, daß „auch die Geschichte weissagende Bedeutung hat. Neben den Weissagungen im engeren Sinne erkannte sie Realweissagungen oder Typen an“382 . Der Fehler von Hofmann liege nun darin, daß er „eigentlich weissagende Bedeutung“ nur noch der Geschichte beilegen will.383 Ohne die Wortweissagung sei aber auch die Realweissagung stumm. Denn gerade die Eigenart des Wirkens Gottes in der Geschichte könne man nur mit Hilfe göttlicher Eingebung wahrnehmen; die eigentliche Offenbarung ist demnach nicht auf der Ebene der Geschichte, sondern im von Gott gegebenen Wort zu suchen. Nach Hofmann seien die Propheten aber „nichts weiter [...] als Dolmetscher der Geschichte“, die „nichts anders aussprechen, als was die jedesmalige Geschichtslage einem scharfsichtigen und ahnungsreichen Geist an die Hand gab; sie sind [...] weitsichtige Politiker, welche die in der Gegenwart liegenden Keime der Zukunft erkennen.“384 Bei Hofmann gehe es nicht um die geschichtliche Verortung der Prophetie, bei ihm werde die Weissagung vielmehr an die Geschichte gebunden. Indem er aber versuche, die Offenbarung allein aus geschichtlichen Vorgängen abzuleiten, unterscheide er sich in nichts vom Rationalismus: „Wir sind außer Stande, hier einen wesentlichen Unterschied von der alten rationalistischen Hypothese zu erkennen. Der Unterschied zwischen de Wette und Hofmann scheint nur in der Ausdrucksweise zu liegen. Bei beiden ist die Messiasidee eine patriotische Hoffnung, das natürliche Product gewisser Volkszustände. Die Weissagung ist nichts anderes als ein verkleideter Wunsch. Sie ist nicht von oben in die Gemüther des Volkes eingesenkt, sondern sie ist dem Boden des Volkes entsprossen, das in der Zukunft die Befriedigung suchte, welche die Gegenwart versagte.“385 382

  Hengstenberg, Christologie2 3/2, 150.   Ebd.; hierin sieht auch Oehler, Theologie, 56 den Hauptunterschied zwischen Hofmann und Hengstenberg. 384   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 150; vgl. Hofmann, Weissagung 1, 252, wo die Propheten Dolmetscher genannt werden. Daß Hengstenberg Hofmanns Position überspitzt darstellt, spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. 385   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 155 zu Hofmanns Ausführungen über die Entstehung des Messiasgedankens in der Zeit nach David (Hofmann, Weissagung 1, 200 f.); es sei dahingestellt, ob Hengstenberg Hofmanns Konzeption gerecht wurde. Die für seine scharfe Kritik beigebrachten Belege aus Hofmanns Werk (Hengstenberg, Christologie2 3/2, 151– 383

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

197

Die Grundfrage ist demnach, ob die Offenbarung „von oben“ kommt, dem Menschen von sich aus schlechterdings unzugänglich und von jedem Wunschdenken geschieden ist oder ob sie dem natürlichen „Boden des Volkes“ entspringt und damit auch bloße Projektion sein kann. Um diese Frage geht es Hengstenberg in letzter Konsequenz bei allem, was er über Offenbarung und Inspiration schreibt. Darum muß er die Vorstellung ablehnen, die göttliche Wahrheit erschließe sich den Propheten immanent aus der Geschichte, ohne direkten Einblick in Gottes Wirklichkeit und sein Wirken bekommen zu haben. In dieser Hinsicht ist Hengstenberg konsequenter als Hofmann. Während Hofmann so tut, als verstehe er Geschichte im Sinne des Profanhistorikers, bei der Behandlung dann aber doch von der Heilsgeschichte ausgeht,386 stellt Hengstenberg von Anfang an klar, daß nur die „heilige Geschichte eine fortlaufende Weissagung“387 ist. Die heilige Geschichte ist aber dem Menschen von sich aus nicht erkennbar. Sie im allgemeinen Geschichtsverlauf zu erkennen, dazu bedarf es besonderer Offenbarung.388 Damit aber stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und heiliger Geschichte. 2.3.1.2  Geschichte und heilige Geschichte Zu den Standardkritikpunkten, die gegen Hengstenbergs alttestamentliche Arbeitsweise vorgebracht wurden, gehört der Vorwurf, Hengstenberg habe die Geschichtlichkeit der biblischen Schriften nicht ernst genug genommen.389 Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich bereits, daß diese Kritik, zumindest in ihrer Pauschalität, nicht zutreffend sein kann. Von Anfang an betont Hengstenberg, daß die prophetische Botschaft historische „Anknüpfungspunkte“390 habe, die man kennen müsse, um sie verstehen zu können. Es ist keine Frage für ihn, daß die Offenbarung über viele Jahrhunderte hinweg in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten den Menschen zuteil geworden ist. Sie ist gerade nicht auf einmal vom Himmel gefallen: 155) lassen sich größtenteils auch anders lesen, gleichwohl gibt es neben der genannten Stelle zur Entstehung der Messiasidee noch weitere, die Hengstenbergs Anfangsverdacht nähren konnten (z. B. Hofmann, Weissagung 1, 55 f.). 386   Vgl. Hofmann, Weissagung 1, 33–40 sowie Slenczka, Hofmann, 157 f. und Behr, Hofmann, 51–56. 387   S.o. Anm.  381 (kursiv vom Verf.). Streng genommen müßte man sogar fragen, ob Hofmann nicht viel unhistorischer vorgeht, indem er die auf der Textebene erzählte Geschichte als Historie nimmt, ohne dies quellenkritisch zu belegen. 388   Vgl. Hengstenberg, Reiter, EKZ 79 (1866), Sp.  637: „Der Text der Werke Gottes bedarf des Commentars, den uns das Wort Gottes gewährt.“ 389   So schon Hofmann, Weissagung 1, 5, aber auch Kahnis, Grundwahrheiten, 90– 93.127; Diestel, Geschichte, 664.707; vorsichtiger Oehler, Theologie, 55; differenziert und Hofmanns Anschauung zuneigend Delitzsch, Theologie, 166 f.; daneben Reventlow, Epochen 4, 289, ins Extrem getrieben bei Kraus, Geschichte, 205 f. 390   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 265; vgl. Christologie2 3/2, 149.

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2  Hengstenberg und die Theologie

„Die heilige Schrift ist nicht, wie das Buch des Lügenpropheten Mohammed, auf einmal in’s Leben getreten. Ihre Abfassung geht durch eine Zeit von fünfzehn Jahrhunderten hindurch. Alle Bücher der heiligen Schrift tragen mehr oder weniger den Charakter von Gelegenheitsschriften. Die göttliche Wahrheit quillt in ihnen in der lebendigsten Weise hervor, sie wird stets in Beziehung auf die Fragen ausgespendet, welche die Gegenwart darbot.“391

Hinsichtlich der messianischen Weissagungen geht Hengstenberg beispielsweise im Pentateuch von einem „Fortschreiten zu immer grösserer Bestimmtheit und Klarheit“392 aus. Die Weissagungen der Propheten indes waren bereits von Anfang an klar, doch auch insofern geschichtlich bedingt, als sie immer unvollständig und auf Ergänzung angelegt waren: Jedem Propheten wurde „immer die Aussicht in denjenigen Theil der Zukunft eröffnet, dessen Offenbarung gerade unter gegebenen Umständen zweckmässig war.“393 Was die Propheten verkündigten, wurde zudem jeweils „durch die Bedürfnisse derer, zu denen sie reden, und durch den Effect, den sie bei ihnen hervorbringen wollen“394, bestimmt. Insofern kann man die prophetische Weissagung wie überhaupt die biblische Botschaft nicht von ihrem historischen Kontext lösen, wenn man sie richtig verstehen möchte. Nun sieht es Hengstenberg auch gar nicht als Nachteil an, daß die Schrift im Laufe der Zeit und gebunden an die jeweiligen geschichtlichen Verhältnisse gewachsen ist, die Geschichte ist ihm nicht im geringsten „eine äußerst hinderliche Größe“395. Im Gegenteil: Gerade weil in der Heiligen Schrift die göttliche Wahrheit in die unterschiedlichsten Situationen und Zeiten hineingesprochen wurde, spricht sie auch noch in späteren Zeiten und läßt sich auf eine Fülle von Lebenssituationen anwenden. Die Heilige Schrift „durfte nicht die Form eines Catechismus oder einer Glaubenslehre tragen. Die göttlichen Wahrheiten sollten in der lebendigsten Weise ins Leben treten, in Beziehung auf die größte Mannigfaltigkeit geschichtlicher Entwickelungen.“396 Es hat nämlich einen entscheidenden Vorteil, daß die Offenbarung geschichtlich-konkret und nicht in Form einer ungeschichtlichen, zeitlos gültigen Dogmatik vorgebracht wurde: „Dadurch wird die unlebendige Trockenheit vermieden, die Casuistik, die Einseitigkeit, da im Verlaufe einer so langen Zeit jede Seite nach und nach zu ihrem Rechte kommen muß, ebenso die Unvollständigkeit, die Gefahr, daß das Leben nach und nach das heilige Buch hinter sich zurückläßt.“397

391   Hengstenberg, Der Prediger Salomo, EKZ 62 (1858), Sp.  197; vgl. Ders., Der Prophet Jesaja, EKZ 56 (1855), Sp.  243. 392   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 24. 393   Ebd., 205. 394   Ebd., 203. 395   So Kraus, Geschichte, 205. 396   Hengstenberg, Der Prophet Jesaja, EKZ 56 (1855), Sp.  243. 397   Hengstenberg, Der Prediger Salomo, EKZ 62 (1858), Sp.  197.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

199

Gerade ihre Geschichtlichkeit verbürgt die bleibende Bedeutung der Schrift: „Nachdem die göttliche Eingebung durch einen so langen Zeitraum sich thätig erwiesen hatte, konnte nun die durch Gottes Geist geleitete Schriftgelehrsamkeit an ihre Stelle treten, deren Aufgabe es ist, das zunächst in Bezug auf individuelle Verhältnisse gesprochene von seiner besonderen Veranlassung loszulösen und es anzuwenden auf die neuen in den verschiedenen Zeitaltern der Kirche gegebenen Verhältnisse. Um dies mit Erfolg zu können, wird man vor Allem darnach trachten müssen, die anschaulichste Erkenntniß der Verhältnisse zu erlangen, auf welche jede Schrift zunächt berechnet war. Nur auf diese Weise wird man vollständig gewinnen, was die Schrift an Lehre und Erbauung für alle Zeiten und speciell für die Gegenwart darbietet.“398

Die Bestimmung des historischen Ortes ist für Hengstenberg also nicht eine vor allem unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten interessante Kunst, sondern hat eminente Bedeutung auch und gerade für die Verkündigung. Die Beschäftigung mit der Geschichte ist demnach völlig unverzichtbar. Man kann die Offenbarung ohne ihren historischen Kontext nicht hinreichend verstehen: „Keine [sc. Offenbarung] schwebt in der Luft, keine ist allseitig. Ueberall ist der Gegenstand der Offenbarung an die Propheten nur das, was unter gegebenen Zeitverhältnissen geeignet ist zur Ermahnung, zur Warnung, zum Troste.“399 Die Zeitverhältnisse zu erkennen sei daher „von größter Wichtigkeit“400. Heng­ stenberg sieht es als Errungenschaft der modernen exegetischen Arbeit an, daß sie in Reaktion auf „das widergeschichtliche Streben“401 der Früheren, gemeint sind unter anderem die Ausleger des Zeitalters der Orthodoxie, die geschichtliche Betrachtung zu ihrem Recht gebracht habe.402 In dieser Hinsicht will er nicht hinter die Erkenntnisse der Auf klärung zurück. Gerade in dem Bemühen, „der wirklich berechtigten geschichtlichen Auffassung“ mit Eifer gefolgt zu sein,403 sieht sich Hengstenberg, wie er in fast allen Arbeiten betont, von den Theologen der vorauf klärerischen Zeit geschieden.404 398

  Ebd.   Hengstenberg, Offenbarung 1, 54; vgl. Ders., Das Hohelied, 238. Im Kommentar zur Offenbarung tritt diese Einsicht durchgängig als die bestimmende hervor. Überall wird ihre Botschaft ausgehend von den besonderen historischen Umständen, in denen sie ergangen ist, gedeutet, damit rechnend, daß sie gerade so für vergleichbare geschichtliche Konstellationen wiederum Bedeutung gewinnen wird (vgl. unten 2.3.3.2). Vgl. auch Ders., Johannes 3, 380–382. 400   Hengstenberg, Der Prediger Salomo, EKZ 62 (1858), Sp.  197. 401   Hengstenberg, Geschichte 1, 21. 402   Ebd., 21 f.94 f.; Hengstenberg, Das Hohelied, III; Ders., Offenbarung 1, 1. 403   So seine eigene Beteuerung gegenüber entsprechenden Angriffen: Hengstenberg, Christologie2 3/2, 148; vgl. Ders., Offenbarung 1, 1 u.ö. 404   Gg. Kraus, Geschichte, 204 und Taylor, Old Testament, 46. Vgl. inbesondere die Kritik an den älteren Darstellungen der „Kirchenhistorien des A. T.“ in Hengstenberg, Geschichte 1, 94–96: Ihnen fehle das Auge für die Entwicklung, die zum Wesen der göttlichen Herablassung gehöre, und für die damit verbundene Verschiedenheit von AT und NT. Außerdem raube „[i]hre vorwiegend verständige Richtung [...] ihnen das Vermögen, sich in 399

200

2  Hengstenberg und die Theologie

Man kann also schlecht behaupten, Hengstenberg habe die Geschichtlichkeit der Bibel nicht ernst genommen. Welchen immensen historischen Aufwand er getrieben und welche Mittel er dafür zu Hilfe genommen hat, wird unten (Abschnitt 2.3.2.2) gezeigt werden. Die Kritik an Hengstenbergs Arbeit betrifft also gar nicht die Frage, ob er grundsätzlich Geschichte ernst genommen habe, sondern wie er Geschichte wahrgenommen hat. Denn er hat sich – wie Smend sehr zutreffend vermerkt –„auf seine Weise um ein geschichtliches Verständnis bemüht“405. Auf diese besondere Weise des Umgangs mit der Geschichte richtet sich dann aber auch die Kritik. Die Besonderheit an Hengstenbergs geschichtlichem Umgang mit der Schrift liegt darin, daß er die Bibel trotz ihrer ganz unterschiedlichen historischen Entstehungskontexte als ein organisches Ganzes betrachtet. Die echt geschichtliche Betrachtung führe nicht zu einer Auflösung der Schrift in eine Vielzahl unzusammenhängender und sich widersprechender Schriften,406 sondern ermögliche es vielmehr, „die wesentliche Einheit der Lehre durch so viele Jahrhunderte hindurch und bei einer solchen Menge von Schriftstellern [...], die unter den verschiedensten Umständen und äußern Einflüssen schreiben“ nachzuweisen und zu zeigen, „daß zu allen Zeiten bei den Trägern der Offenbarung dieselbe Betrachtungsweise Gottes und der Welt herrschte, nirgends ein Widerspruch statt fand, und wie schon in den ersten Anfängen der Offenbarung alle diejenigen Lehren wenigstens im Keime vorhanden waren, die später, als das Offenbarungsvolk für sie reif geworden, in vollkommener Entwicklung hervortraten.“407

Wenn sich bei konsequenter geschichtlicher Betrachtung die Einheit des biblischen Zeugnisses erweisen läßt, dann führt die historische Forschung nicht zur Bestreitung, sondern, im Gegenteil, zu Bestärkung des göttlichen Ursprungs der Schrift. Die Tatsache der Einheit der Schrift wird umso wundersamer, je weniger man sie unhistorisch als dogmatisches Lehrbuch betrachtet. Für Hengstenberg ist die geschichtliche Betrachtung also keine Verlegenheit, sondern ein wichtiges Argument für die Wahrheit der Schrift. Nicht in der Geschichtlichkeit an sich oder in der Annahme der geschichtlichen Entwicklung liege, so Hengstenberg, der Unterschied zwischen seiner Auffassung und der Ansicht derjenigen Gegner, die ihm ungeschichtlichen Umgang mit der Schrift vorwerfen:

die alten Zeiten hineinzuversetzen; es fehlt ihnen, wie ihrem ganzen Zeitalter, an historischer Anschauung.“ (ebd., 94 f.). 405   Smend, Art. „Christologie […]“, 104 (kursiv vom Verf.). 406   So der Vorwurf gegen die kritische Exegese seit Semler, die als Überreaktion auf die die Einheit in „Einerleiheit“ verwandelnde Orthodoxie verstanden wird (Hengstenberg, Geschichte 1, 21). 407   Hengstenberg, Geschichte 1, 12 f.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

201

„Die wirkliche Differenz zwischen uns besteht nur darin, daß bei ihnen der Entwicklungsprozeß ein durch mannigfache Krankheiten und Abnormitäten gestörter, bei mir dagegen ein durchaus gesunder ist, daß sie in Gesetz und Propheten neben richtigen Ideen viel unrichtige und beschränkte Vorstellungen annehmen zu müssen glauben; während ich der Erkenntniß überall zwar Unvollkommenheit, aber doch Irrthumsfreiheit beilege.“408

Hengstenberg hat darum bei der Auslegung des Einzelnen immer das Ganze im Blick. Er ist der Ansicht, daß die einzelnen biblischen Bücher schon in ihrem historischen Ursprung und nach ihrem eigenen Selbstverständnis darauf angelegt sind, ergänzt zu werden.409 Sie gehören einerseits ganz ihrer Zeit an, aber sie erschöpfen sich andererseits nicht in ihrem historischen Ort, sondern bringen grundsätzliche Wahrheiten über Gott zur Sprache, die auch übergeschichtlich Bedeutung haben. Am deutlichsten erläutert Hengstenberg den Gedanken wieder am Beispiel der prophetischen Botschaft. In dem bereits erwähnten Aufsatz ‚Zur Auslegung der Propheten‘ von 1833 liegt nämlich noch eine weitere Modifikation seiner frühen Auffassung der prophetischen Weissagung vor. Hengstenberg führt nun aus, daß die zeitübergreifende Gültigkeit der prophetischen Rede nicht auf ihren visionären und in der Dimension bloßer Räumlichkeit empfangenen Charakter zurückgehe, sondern in ihrer ideellen Verfaßtheit begründet liege. Die Propheten hätten es mit allgemeinen Wahrheiten zu tun, mit Gottes Wesen und Handeln im allgemeinen, „nicht mit Thatsachen in ihrer empirischen Besonderheit, eine Regel, die freilich zahlreiche Ausnahmen erleidet, da die bloße Darlegung der allgemeinen Wahrheiten bei dem Schwachglauben der Gemeinde Gottes nicht hingereicht haben würde, die Propheten also nicht selten um diesem aufzuhelfen, in die Details gehen mußten“410.

Bei der Auslegung müsse man daher stets die „Grundidee“ von „ihrer zeitlichen Realisierung“ unterscheiden. Den Propheten gehe es bei ihrer Botschaft nicht um mehr oder weniger bedeutende Einzelereignisse der Geschichte, sondern um Gottes Wesen: „Die Propheten sind keine Wahrsager; sie sagen keine zukünftige Begebenheit bloß als solche ohne Rücksicht auf Gottes Wesen und sein Reich vorher. Jede ihrer Verkündigungen hatte, was den Kern betrifft, die Gewähr ihrer Wahrheit schon längst vor der Erfüllung. In Gottes Wesen einzu­dringen, in seinem Lichte die ewigen Gesetze zu erkennen, nach denen er die Welt und die Kirche regiert, das ist etwas unendlich Höheres als ein für sich gleichgültiges Wissen um die Zukunft.“ (Sp.  182) 411 408

  Ebd., 22.   Das gilt auch für das Verhältnis von Altem und Neuem Testament (ebd., 14.18). 410   Hengstenberg, Zur Auslegung der Propheten, EKZ 12 (1833), Sp.  194. Die Belege im Folgenden im Fließtext. 411   Der Abschnitt wurde wortwörtlich in die zweite Ausgabe der Christologie übernommen (Ders., Christologie2 3/2, 194). 409

202

2  Hengstenberg und die Theologie

Bei der Auslegung müsse man daher über ein „abgerissenes historisches Faktum“ (Sp.  188) hinauskommen und in Unterscheidung von Wesentlichem und Einkleidung danach fragen, auf welche „in Gottes Wesen gegründete und daher stets von neuem sich realisirende Grundidee“ (Sp.  187) sich die einzelne Weissagung beziehe. Die Aufgabe der Propheten sei es, in ihrer geschichtlichen Situation und daher auch in einer konkreten, auf diese Situation bezogenen Redeweise zeitlos gültige Einsichten über Gottes Wesen und sein Handeln zu vermitteln (Sp.  184), die sich in der Geschichte Gottes mit seinem Volk ereignen.412 Hier zeigt sich nun auch, warum Hengstenberg in Abgrenzung zu Hofmann so energisch betont, man dürfe die Weissagung nicht an die Geschichte ketten.413 Die spezifische Sicht der Propheten ergibt sich eben gerade nicht aus den geschichtlichen Ereignissen, aus militärischen Niederlagen, Exil oder Vertreibung, sondern dadurch, daß die Propheten jene Ereignisse von Gott her, das Exil beispielsweise als Gericht des strafenden Gottes verstehen. Dies aber können sie nur durch ihre Einsicht in Gottes Wesen, die ihnen von oben durch den Geist gegeben ist. Das gilt nach Hengstenberg jedoch nicht nur für die Propheten, sondern ganz analog für alle biblische Geschichtsbetrachtung. Die biblische Geschichtsschreibung ist keine quasi objektive Tatsachenerzählung über vergangene Zeiten, sondern dezidiert theologische Geschichtsschreibung. Die Verfasser der heiligen Geschichte „schreiben als Theologen“414, „[i]hr Blick ist unverwandt auf die großen Thaten des Herrn gerichtet.“ (22) Darum ist die Bearbeitung der Geschichte Israels im Rahmen alttestamentlicher Wissenschaft eine „theologische[...] Disziplin“ (9), das wird sie, indem sie „das specielle Verhältniß Gottes zu diesem Volke“ (ebd.) von Anfang an mitthematisiert. Lehre und Geschichte lassen sich darum nicht auseinanderdividieren (11). Die heilige Geschichte dient, wie die Theologie überhaupt, „zu einer lebendigen Erkenntniß des Wesens und der Eigenschaften Gottes“ (14) sowie „zur Erkenntnis unserer selbst und zu dem lebhaften Wunsch, immer mehr von uns selbst frei zu werden“, sie „ist ein Spiegel unseres eigenen Innern; sie wiederholt sich in jedem Zeitalter und in jedem einzelnen Menschen. Das tua res agitur läßt sich in ihr überall vernehmen.“ (15).415 Wenn also beispielsweise Mose von der Urzeit erzählt, dann tut er dies nicht zur bloßen Dokumentation des früheren Handelns Gottes, sondern seine Darstellung 412   Hengstenberg kann so weit gehen, zu sagen, würde das Verhältnis Gottes zu seiner Gemeinde abgebrochen, dann würde „er sich selbst lassen, sich als den in ihr Werdenden ganz aufgeben, um sich in sein ewig vollkommenes Seyn zurückzuziehen“ (Hengstenberg, Zur Auslegung der Propheten, EKZ 12 [1833], Sp.  184). In dem geschichtlich sich entfaltenden Verhältnis Gottes zu seinem Volk tritt somit das ewige Sein Gottes in Erscheinung. 413   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 149. 414   Hengstenberg, Geschichte 1, 23 – hieraus auch die folgenden Belege im Fließtext. 415   Unüberhörbar schwingt in dieser Beschreibung Calvins Bezeichnung theologischer Erkenntnis als Gottes- und Selbsterkenntnis (Calvin, Inst. 1,1,1: OS 3, 31,6–8) mit.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

203

trägt bereits „durchsichtigen Charakter“ auf die Verhältnisse seiner Zeit,416 da er von der immerwährenden Gültigkeit des damals zum Ausdruck gekommenen überzeugt ist. Oder hinsichtlich des Johannesevangeliums ist es für Hengstenberg gar keine Frage: „Das Meiste ist in dem Evangelium Tendenz [...]“417. Nun wäre es aber ganz verkehrt, Hengstenbergs Interesse allein auf die Ebene der theologischen Deutung von Geschichte in jenem modernen Sinne zu verlegen, daß sich die Theologie nur für die Deutung als Zeugnis für die in ihr zutage tretenden religiösen Vorstellungen und Empfindungen zu interessieren habe. Er sucht keine Kultur- oder Religionsgeschichte hinter der biblischen Geschichte. Dadurch unterscheidet er sich von de Wette, Vatke oder der Schule F.Ch. Baurs inklusive D.F. Strauß.418 Die theologische Geschichtsbetrachtung ist nicht darum theologisch, weil sie religiöse Bewußtseinsinhalte im Mantel der Geschichte darlegt, sondern weil sie aufgrund der vom Geist geleiteten Wahrnehmung in der Geschichte selbst das Heilige sieht. Insofern beschreibt sie nicht Geschichte im Sinne der kritischen, allein auf innerweltliche Faktoren gerichteten modernen Geschichtswissenschaft, sie beschreibt aber doch wirklich Geschichte. Wie ist das zu verstehen? Hengstenberg geht davon aus, daß die Bibel von einer Geschichte erzählt, die nicht in rein innerweltlichen Kategorien zu erfassen ist; sie setzt eine Wirklichkeit voraus, welche die Raum-Zeit-Kategorien, die der empirischen Betrachtung zugänglich sind, transzendiert. So berichtet sie beispielsweise von Engelserscheinungen oder von einer sprechenden Eselin. Dabei handelt es sich aber, wie Hengstenberg verschiedentlich bemerkt, nicht um Phänomene, die „in das grobmaterielle Gebiet“419 fallen, es sind nämlich „Thatsachen, die [...] vor das Forum des inneren Sinnes gehören“420. Die Eselin Bileams hat also nicht so geredet, daß man sie – um es in modernen Kategorien auszudrücken – auf ein Tonband hätte aufnehmen können, und der Engel wäre auf einer Photographie nicht zu sehen gewesen. Die Erscheinung des Engels war vielmehr nur innerlich, für „Bileams geistliches Auge“, und auch die Stimme der Eselin nur für „Bileams geistliches Ohr“421. Dies ist nun aber keine nachträgliche Deutung. Der entscheidende Punkt ist für Hengstenberg: Die Glaubenden sehen die Ge416

  Hengstenberg, Die Söhne Gottes, EKZ 62 (1858), Sp.  415.   Hengstenberg, Johannes 3, 373. 418   Vgl. nur die Abgrenzung zu Vatke im Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  33 f. 419   Hengstenberg, Bileam, 58. 420   Ebd., 55. 421   Ebd., 58; ebs. Hengstenberg, Die angeblichen Widersprüche, EKZ 29 (1841), Sp.  499 f.505 über die Erscheinung der Engel am Grab Jesu. Gerade am Beispiel von Bileams Eselin zeigt sich besonders eklatant, wie wenig diejenigen, die über Hengstenberg spotteten, seinen Ansatz wahrgenommen haben. Varnhagen von Ense notiert in seinem Tagebuch (Varnhagen von Ense, Tagebücher 2, 80) zum Erscheinen von Hengstenbergs Bileambuch, es habe in der Kritikergesellschaft eine Diskussion gegeben, „wer es rezensiren soll? ein Orientalist, wegen der Sprache, in der der Esel gesprochen hat, oder ein Zoologe, wegen der Eselsnatur? Gott erbarme sich über die Tollheiten! Wo gerathen wir hin?“ 417

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2  Hengstenberg und die Theologie

schichte nicht im nachhinein anders als die Nicht-Glaubenden, sondern sie erleben die Geschichte bereits anders. Sie erleben sie anders, weil ihnen der Blick für Gottes Wirklichkeit gegeben ist. Und daher berichten die biblischen Autoren von Tatsachen, von „Thatsachen, zu deren Wahrnehmung freilich das Glaubens­ auge gehört“422 . Die Rede vom „Glaubensauge“ oder vom „geistlichen Auge“, die offensichtlich auf Calvin zurückgeht,423 kehrt bei Hengstenberg in diesem Zusammenhang immer wieder. Die Bibel beschreibt also die Geschichte von realer Gotteserfahrung. Das ist die Tendenz und Intention der biblischen Geschichtsschreiber. Würden heidnische Geschichtsschreiber davon berichten, würde sich ihnen dieselbe Geschichte ganz anders darstellen,424 und betrachten Geschichtsforscher die heilige Geschichte ohne das Auge des Glaubens, dann müssen sie darin zwangläufig Phantasie oder Mythen entdecken: „Ein System, welches auf der Ausschließung aller unmittelbaren Einwirkung Gottes auf die Welt beruht, nichts von einem lebendigen Gott weiß, die Liebe nicht kennt, die ihn vom Himmel her­abzwingt und Himmel und Erde mit einander verbindet, die Engel nicht schaut, welche in jedem Momente auf der Jakobsleiter auf- und absteigen, Joh. 1,52, die Hand aus den Wolken nicht, welche noch jetzt beständig die Wasser des Meeres der Welt theilt, so daß sie der Gemeinde Gottes den freien Durchgang verstatten müssen, konnte nicht eher sich zufrieden geben, bis die mythische Ansicht bei allen Urkunden der Offenbarung geltend gemacht worden, weil alle dieser Ansicht entgegenstehen.“425

Man versteht Hengstenberg nur, wenn man beachtet, daß er jene, als theologisch oder heilig apostrophierte Geschichte als wahre Geschichte betrachtet. So gilt beispielsweise für den Evangelisten Johannes beides: „Das Meiste ist in dem Evangelium Tendenz und dabei trägt doch alles streng historischen Charakter“426 . Johannes hat seiner Verkündigung bewußt die Form des Evangeliums gegeben, nicht um seine Botschaft geschichtlich zu verkleiden, sondern weil er die Geschichte Jesu von Nazareth so darstellen wollte, wie sie sich wirklich und wahrhaftig für die mit den Augen des Glaubens Sehenden zugetragen hat. Die Heilige Geschichte ist demnach wirkliche, erfahrbare Geschichte. Die Betonung der Geschicht­lichkeit hängt mit Hengstenbergs Sicht des Wirkens Gottes zusammen, das sich, einmal offenbart, immer gleich bleibt. Nur wenn die hei422   So Hengstenberg in dem das Thema grundsätzlich behandelnden Aufsatz ‚Warum wandeln wir im Glauben und nicht im Schauen?‘ (EKZ 80 [1867], Sp.  2 04). 423   Ebd., 220 führt Hengstenberg als Calvinzitat an: „es hat zwar auch der Glaube seine Augen, aber solche, die in das unsichtbare Reich Gottes durchdringen und die mit dem Spiegel des Wortes zufrieden sind.“ Vergleichbare Aussagen finden sich bei Calvin, Institutio III, 1,4; III, 2,16. 424   Siehe unten bei Anm.  428. 425   hengstenberg, Geschichte 1, 27. 426   Hengstenberg, Johannes 3, 373; vgl. auch die Bezeichnung des Johannesevangeliums als „so zu sagen die erste Apologetik“ (ebd., 360).

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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lige Geschichte wirkliche, erfahrbare Geschichte mit Gott beschreibt, dann ist es auch heute möglich, Geschichte mit Gott zu erleben.427 Wird Gott hingegen zu einem reinen Bewußtseinsgegenstand, der nicht real erfahrbar von außen in das Leben der Menschen einbricht, dann ist er auch kein Gegenüber zum Menschen. Wie bei der Lehre von der Inspiration geht es Hengstenberg also auch bei der Tatsächlichkeit der Geschichte um das von-außen-auf-uns-Zukommen Gottes. Hengstenberg entfaltet seine Auffassung von theologischer Geschichtsschreibung bewußt in Auseinandersetzung mit der Profangeschichtsschreibung, der er jede Kompetenz für die Beschreibung der heiligen Geschichte abspricht. Wenn es um Heiliges gehe, hätten die mit dem Glaubensauge verfaßten Quellen größere Verbindlichkeit als heidnische, profane Quellen, denen das Entscheidende entgehen mußte. Hinsichtlich der Haltung gegen­über der heiligen Geschichte gelte vom Anfang der christlichen Kirche an der Grundsatz: „Es wurde also gewissermaßen dieser Geschichte eine größere Sicherheit beigelegt, wie derjenigen, welche unmittelbar vor unseren Augen vorgeht. Es läßt sich nicht verkennen, daß so gewiß als es eine heilige Geschichte gibt, so gewiß auch ein solcher Charakter ihrer Hauptquellen von vornher­ein postulirt werden muß. Rein menschlicher Thätigkeit kann die Berichterstattung über Gottes Offenbarungen und Führungen nicht überlassen werden ohne diese selbst zu gefährden und ihnen einen großen Theil ihrer erbaulichen Bedeutung für die Kirche zu rauben.“428

Die Begründung für das Festhalten an der alten Unterscheidung von Welt- und Kirchengeschichte ergibt sich für Hengstenberg demnach daraus, daß Weltund Kirchengeschichte jeweils eigene Gegenstände haben, die unterschiedliche Erkenntnisvoraussetzungen fordern. Natürlich wirkt Gott laut Hengstenberg nicht nur in der Geschichte mit seinem Volk, sondern auch in der Weltgeschichte. In letzterer wirke er aber nach seiner allgemeinen, in ersterer nach seiner speziellen Vorsehung. 429 Auch im allgemeinen Geschichtsverlauf kann 427

  Vgl. oben bei Anm.  425; Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 2, 583: „Wer von Herzen an einen lebendigen, liebenden und gerechten Gott glaubt, der muss nothwendig annehmen, dass er sich auch in Segen und Strafe in diesem Leben offenbare. Die entgegengesetzte Ansicht ist, so vornehm sie sich auch geberden mag, nichts anders als practischer Atheismus.“ Vgl. auch Ders., Zur Auslegung der Propheten, EKZ 12 [1833], Sp.  184. Entsprechendes gilt auch im Verhältnis von der diesseitigen zur jenseitigen Gotteserfahrung: „Nur wo in der Geschichte ein fortgehendes Weltgericht erkannt wird, ist das Glaube an das Weltgericht ein begründeter und vernünftiger. Vollmachtsbriefe zum Glücke in der Ewigkeit sind werthlos, wenn der Aussteller sich nicht schon in diesem Leben hinsichtlich seiner Macht uns seines guten Willens ausweist.“ (Ders., Ueber das Buch Hiob, EKZ 58 [1856], Sp.  156). 428   Hengstenberg, Geschichte 1, 25f; entsprechend weist Hengstenberg der geistlichen Welt höhere Realität zu als der sichtbaren: „Wir leben in einer hinter der gegenwärtigen verborgenen Welt, die unendlich mehr Realität hat, als das, was wir mit den Augen sehen und mit den Händen greifen, die stets im Begriffe ist, in die Sichtbarkeit hineinzubrechen.“ (Ders., Triumphgesang, EKZ 64 [1859], 531). 429   Vgl. Hengstenberg, Geschichte 1, 1 f.

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man, wenn man will, einen Ausschnitt von Gottes Wirken sehen. Dazu verhilft eine sozusagen natürliche Geschichtstheologie, die aus dem Ergehen von Völkern und Einzelnen auf Gott zurückschließt, ohne eine deutende Offenbarung zu besitzen und deren Resultate daher im Rahmen einer philosophischen Gotteslehre bleiben. Wer hingegen heilige Geschichte schreiben will, bedarf der Erleuchtung Gottes, die ihm das Auge für das spezielle Wirken Gottes öffnet. Nicht selten spricht Hengstenberg dabei von der „ächt geschichtlichen Anschauung“430. Er versteht darunter eine Geschichtsbetrachtung, die dem biblischen Selbst- und Wirklichkeitsverständnis gerecht zu werden sucht. Man muß Hengstenberg zugute halten, daß er seinen theologischen Geschichtsbegriff konsequent durchhält. Gleichwohl drängt sich die Frage auf: Wie ist davon ausgehend historische Forschung möglich?

2.3.2  Historische Forschung 2.3.2.1  Kritische Forschung und Forschungskritik Den bedeutendsten Rang unter den kritischen Exegeten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm W.M.L. de Wette, Hengstenbergs Vorgänger auf dem alttestamentlichen Lehrstuhl in Berlin, ein.431 In seinem ‚Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments‘ von 1817 formulierte er den klassischen Grundsatz der wissenschaftlichen Erforschung der biblischen Schriften im Rahmen der Einleitungswissenschaft: „Da der Gegenstand der biblischen Einleitung die Geschichte der Bibel ist, so ist ihr wissenschaftlicher Charakter historisch kritisch, d. h. die Bibel wird als eine geschichtliche Erscheinung in der Reihe mit andern dergleichen Erscheinungen betrachtet, und ganz den Gesetzen historischer Untersuchung unterworfen.“432

De Wette sieht es demnach für die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel als unabdingbar an, ihre Schriften nicht anders zu behandeln als alle anderen historischen Schriften. Damit spricht er eine Ansicht aus, die sich seit Semler zunehmend durchgesetzt hatte und die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einen breiten Konsens stützen konnte. Neben de Wette bemühte sich insbesondere Gesenius in Halle darum, „die Bibel aus der theologischen Isolierung und Sonderbetrachtung herauszuholen und sie in das weite Feld der profanen Geschichte und Literatur hineinzustellen“433. Für die wissenschaftliche Behandlung der Bibel durfte daher ihre Heiligkeit kein Kriterium mehr sein; sie sei, das 430

  Z.B. Hengstenberg, Geschichte 1, 102.   Vgl. zum Programm und der Stellung de Wettes Reventlow, Epochen 4, 227–240; Smend, Alttestamentler, 38–52. 432   De Wette, Lehrbuch, 2. 433   Kraus, Geschichte, 156. 431

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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war die gängige Meinung, wie jedes andere historische Dokument zu betrachten. Auch die Unterscheidung von profaner und heiliger Geschichte war damit hinfällig geworden. Hengstenberg war sich bewußt, daß er, indem er an der Sonderstellung der heiligen Schrift und der heiligen Geschichte festhielt, dem Trend der Forschung diametral entgegenstand. De Wette war für ihn deshalb der natürliche Antipode. Bereits in seinen Bonner Thesen hatte er dessen Pentateuchhypothese abgelehnt.434 Später erklärt er, er habe „die dringende Nothwendigkeit einer Reaction auf dem Gebiete der Einleitung ins A.T. erkennend“ ursprünglich beabsichtigt, „dem Compendio des Herrn Dr. de Wette über diese Disciplin ein anderes ungefähr von gleichem Umfange entgegenzusetzen“435. Da sich jedoch die Vorarbeiten als zu umfangreich erwiesen hätten, habe er davon absehen müssen. Gleichwohl bringt Hengstenberg die Stoßrichtung seiner verschiedenen Arbeiten zur Einleitungswissenschaft immer noch damit zum Ausdruck, daß er sie unter dem Titel ‚Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament‘ erscheinen läßt.436 Unter gleichem Titel hatte de Wette seine ersten Arbeiten veröffentlicht.437 Sie beschäftigten sich – wie Bd.  2 und 3 der Heng­sten­bergschen Beiträge – mit dem Pentateuch. Im zweiten Band der ‚Beiträge‘ (1836) – also im ersten Band des zweibändigen Werkes über die ‚Authentie des Pentateuch‘ – sieht sich Hengstenberg daher veranlaßt, in einem „Prolegomena“ überschriebenen einleitenden Teil grundsätzlich zu der Entwicklung der Forschung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Stellung zu nehmen. Die Ausführungen berühren sich zum Teil eng mit dem Vorwort der EKZ von 1836, das – wie oben bereits dargestellt wurde – ganz unter dem Eindruck von D.F. Strauß’ ‚Leben Jesu‘ stand. Im Zentrum steht für Hengstenberg die Frage, wie es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer so gänzlich neuen Betrachtungsweise des Pentateuchs habe kommen können.438 Dabei leitet ihn die Beobachtung, daß viele Besonderheiten und Schwierigkeiten der biblischen Texte, die schließlich entscheidend zur Entwicklung der kritischen Exegese beigetragen hätten – Widersprüche, Anachronismen, die unterschiedlichen Gottesnamen u.v.m. –, schon lange Zeit zuvor bekannt gewesen seien. Auch einzelne der inzwischen gängigen Thesen seien schon längst vor ihren heutigen Verfechtern geäußert worden, gleichwohl hätten sie sich 434   „9. Falsa est De Wettii de Pentateucho sententia.“ (Hengstenberg, Theses Controversae: Bachmann 1, 328). 435   Hengstenberg, Authentie des Daniel, V. 436   Sie umfassen drei Bände: Authentie des Daniel; Authentie des Pentateuches 1 und 2. 437   De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament (2 Bde., Halle 1806 / 1807). 438   Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, I – im Folgenden die Belege hieraus im Fließtext. Aus der Zeit vor dem Umbruch werden von Hengstenberg besonders ausführlich Spencer, Clericus und J.D. Michaelis behandelt (ebd., IV–XX).

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2  Hengstenberg und die Theologie

zunächst nicht durchsetzen können (XX).439 Daß sie schließlich doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu allgemeiner Geltung gekommen seien, könne daher unmöglich an den Befunden selbst, sondern nur an dem gewandelten Selbstverständnis der Menschen liegen. So habe die frühere Zeit „eine grosse Pietät gegen die Vergangenheit, und somit gegen alle geschichtliche Überlieferung gehabt. Es war diese Pietät im Ganzen eine Folge der Demuth. Man glaubte die Wurzeln des eigenen Daseyns zu zerstören, wenn man der Vergangenheit zu nahe trat. Man wollte nicht ganz auf sich selbst geworfen seyn“ (XX).

Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts habe sich die Stellung zum Überlieferten nach und nach geändert, „zuerst in England, Holland und Frankreich [...], dann, seit dem Regierungsantritte Friedrichs II., auch in Deutschland“ (XXI). Das Alte, Überkommene, Hergebrachte sei nun zunehmend zum Gegenstand des Angriffs und der Kritik geworden: „Ein Triumpfgeschrei erhob sich jedesmal, wenn ein alter Bau zusammenstürzte. Dazu kam, dass dem eingebildeten Zeitgeiste mehr und mehr die Liebe schwand, welche es vermag, die eigne Individualität zur Aufnahme eines fremden zu erweitern, somit auch das Vermögen des Verständnisses. Was man nicht fassen konnte, glaubte man sich berechtigt zu verwerfen.“ (XXI)

Jedoch sei der kritische Umgang mit dem Alten für die Stellung zur Schrift noch nicht das Entscheidende. Man könne dies daran sehen, daß sich die historische Kritik zwar auch in der profanen Geschichtsschreibung etabliert habe, sie aber dort nirgends auf Dauer zu solchen Übertreibungen geführt habe wie in der Bibelwissenschaft (XXIV).440 Für letztere sei einschneidend gewesen, daß sich mit dem Verlust der Achtung vor dem Herkommen auch die Entfremdung von Gott und ein „Hang [...] zum Naturalismus“ (XXXV) durchgesetzt habe. Weil den Menschen die Erfahrung Gottes abhanden gekommen sei, war man bemüht – so schreibt Hengstenberg über Eichhorn – „alles was das Daseyn eines lebendigen und persönlichen Gottes voraussetzt, zu beseitigen“ (XXXVIII). Das von Gott entfremdete Zeitalter setzte alles daran, die Spuren Gottes aus der Geschichte zu tilgen: „Weil man in sich nichts von dem Daseyn eines lebendigen, persönlichen und heiligen Gottes erfahren hat, so sucht man seine Spuren auch aus der Geschichte zu tilgen; weil innerlich alles rein natürlich zugeht, so muss auch äusserlich alles rein natürlich zuge439   Vgl. auch Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  134: „Die ungläubige Kritik hat vielfach diese Anstöße [sc. in der Schrift] nicht erst geschaffen, sie hat sie nur aufgedeckt.“ 440   Aus diesem Grund traut Hengstenberg auch hinsichtlich der Behandlung des Pentateuchs dem bis zu einem gewissen Grade unbefangenen Blick eines Profanhistorikers mehr zu als dem eines vom Rationalismus eingenommenen Theologen (ebd., XXVI–XXXV). Dafür daß die allgemeine Geschichtsschreibung „einer bessern Zukunft entgegengeht“, liefern ihm „Werke, wie Rankes Geschichte der Päpste, die erfreuliche Bürgschaft.“ (XXXIV).

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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gangen seyn. Man hat für diese Richtung den vornehmen Namen der Bildung in Anspruch genommen. Dies aber sicher mit Unrecht“ (XXXV).

Den Hauptfehler jener Entwicklung sieht Hengstenberg darin, daß die neueren kritischen Exegeten ihre weltanschaulich-dogmatischen Karten nicht auf den Tisch legten. Sie würden so tun, „als werde man, ganz frei von dogmatischen Voraussetzungen, blos von historisch-kritischen Gründen geleitet“ (XXXIX), in Wahrheit aber sei ihre Methode ganz und gar von ihrem Weltbild geprägt,441 ihre Ergebnisse folglich „durch und durch anthropocentrisch“442 . Hengstenberg sieht also die Ursprünge der modernen historisch-kritischen Arbeit in dem gewandelten Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen, der sich immer mehr in sich selbst abschließt. Da ihm „die Liebe schwand, welche es vermag, die eigne Individualität zur Aufnahme eines fremden zu erweitern“, verlor er auch „das Vermögen des Verständnisses“ (XXI). Die Bereitschaft, das eigene Selbst durch Fremdes auf brechen zu lassen, ist für Hengstenberg demnach eine hermeneutische Grundbedingung im Umgang mit der Schrift. Der Blick, der in der Schrift anstelle von Einheit und Harmonie nur noch Unordnung und Widersprüche wahrnahm, sei daher Ausdruck „bornirter, um alles Verständniss des dem eignen Wesen fremdartigen gekommener Subjektivität“ (LVII). Mit anderen Worten: Der natürliche Mensch erkennt und versteht immer nur sich selbst. Er muß daher die Schrift an seine eigene Subjektivität assimilieren. Hengstenberg sieht diesen Assimilationsvorgang besonders deutlich in der Kritik am alttestamentlichen Gottesbild zum Ausdruck kommen, die sich in dem gängigen Urteil bündle, daß der Gott des AT „ein zorniger sey, während der Gott des N.T. der liebende Vater der Menschen“: „Man redet so viel von einem zornigen Judengott, spricht so, als ob Gott im A.T. und namentlich im Pent[ateuch] blos als zürnend erscheine. Nirgends im ganzen A. T. wird das zornig als stehendes Prädicat Gott beigelegt.“443 Bei der Rede vom zornigen Gott des AT handle es sich lediglich um eine Strategie, aus beiden Testamenten die Rede von Zorn und Strafe Gottes zu eliminieren. Er fordert daher: „Man höre aber endlich auf zu behaupten, dass die Lehre von dem Zorne Gottes blos dem A.T. eigen, dem N.T. fremd sey, und entschliesse sich, den Vorwurf gegen das Ganze der heiligen Schrift zu richten.“444 Als charakteristisch für die Assimilation der biblischen Wahrheit an die moderne Subjektivität stuft Hengstenberg auch das Verfahren der Vermittlungstheologie ein. Ihr Bemühen, dem von Gott entfremdeten Gebildeten den Glauben schmackhaft zu machen, müsse zwangsläufig dazu führen, die Schrift nicht mehr selbst reden zu lassen; denn die Fremdheit, mit der der heilige Gott – ins441   Über Vatkes Ansicht bemerkt Hengstenberg, Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  33 sie ruhe „ganz auf pantheistischem Grunde“. 442   Hengstenberg, Geschichte 1, 97 über de Wette, Ewald u. a. 443   Hengstenberg, Authentie des Penateuches 2, 457. 444   Ebd., 456.

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2  Hengstenberg und die Theologie

besondere, aber nicht nur – im Alten Testament dem von ihm entfremdeten Menschen entgegentrete, könne dieser nicht ertragen. 445 Hierin sieht Heng­ stenberg den tiefsten Grund für die die Schrift auflösende Kritik. Bei seiner Kritik der modernen Forschung geht es Hengstenberg also nicht um einzelne Ergebnisse ihrer Arbeit, sondern um deren Grundhaltung, die – theologisch – als Abkehr von Gott beschrieben wird. Die grundlegende Differenz zwischen der älteren und der neueren Schriftauslegung sei daher, wie Hengstenberg immer wieder betont, nicht im Kopf des Menschen zu suchen, sondern im Herzen, nicht im Verstand, sondern im Glauben.446 Ein Herz, das einen redenden und in der Welt wirkenden Gott nicht anerkennen will, wird auch alle Kräfte des Verstandes auf bieten, die Spuren eines solchen Gottes in der Welt unkenntlich zu machen. Das sei, so Hengstenberg, die verborgene Triebfeder der von ihm als „ungläubig“ bezeichneten Exegese. Die Bezeichnung „ungläubig“ wird von Hengstenberg also ganz streng auf das Verhalten gegenüber der Anrede Gottes in der Schrift – nicht auf spezielle Glaubensinhalte – bezogen. Unglaube ist derjenige Wille, welcher sich Gottes Anrede in der Schrift nicht unterwerfen möchte, weil er sonst eingestehen müßte, daß ein Gott über ihm ist. Er ist also letztlich der Gott widerstrebende Wille, der Wille, der nicht will, daß Gott ist.447 Ein solcher Unglaube ist allerdings dem Christen kein fremdes oder abständiges Phänomen; er begegnet ihm auch im eigenen Herzen, er kennt den Aufruhr gegen Gott; daher ist selbst der „gläubige“ Exeget nicht vor Fehltritten gefeit. Die anthropozentrische, kritisch-rationale Auslegung ist auch für ihn eine bleibende Anfechtung. Gerade deshalb, so Hengstenberg, muß sich der Ausleger immer wieder bewußt der Schrift und ihrem Anspruch unterordnen.448 Echte, ihrem Gegenstand angemessene historische Forschung setzt nach Hengstenberg folglich eine bestimmte Haltung voraus: „wenn wir der heiligen Schrift mit Ehrfurcht nahen, wenn wir im täglichen Herzensverkehre mit ihr stehen und dadurch ihr Wesen in Fleisch und Blut aufnehmen, so wird 445

  Vgl. Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  2 06.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  30 (über die Wandlung H. Leos); Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  34; Vorwort, EKZ 68 (1861), Sp.  44: „nicht das Denken und die Bildung ist der Grenzstein zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern die Neigung des Herzens, aus dem in den Kopf die bösen Dünste aufsteigen, die große Scheidewand, welche der Herr aufstellt, wenn er sagt: ‚Es kann Niemand zu mir kommen, es ziehe ihn denn der Vater, der mich gesandt hat‘“; Glauben nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  2 07: Gott verschmähe es, „den Verstand derer zu überzeugen, deren Herz fern von ihm ist. Es gehört zu ihrem verdienten Gerichte, daß auch der Verstand im Finsteren tappen muß, wenn der Wille die Finsternis mehr liebt als das Licht“. 447   Schon in seinen frühesten Veröffentlichungen beschreibt Hengstenberg den Unglauben als die Grundsünde, daß der Mensch „aus Gott heraustretend, außer ihm eine Selbständigkeit, einen selbständigen Willen“ suche, ein „scheinbar freies Selbstleben außer Gott“ (Ueber Mystizismus, EKZ 1 [1827], Sp.  145 f.). 448   Vgl. dazu Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  45 f. (über Kahnis). 446

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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sich in uns nach und nach eine unerschütterliche Zuversicht ausbilden, der es leicht wird, auch die Dunkelheiten zu ehren im Blicke auf die unverkennbar göttlichen Klarheiten“449.

Echte Forschung muß demnach möglichst tief in den Geist ihres Gegenstandes eindringen. Sie muß einerseits geschichtlich arbeiten und andererseits „innerlich mit der Schrift zusammengewachsen“450 sein. Dies sei, darauf legt Heng­ stenberg Wert, keine unkritische Haltung, sondern der Standpunkt der wahren Kritik,451 für die gilt: „Keine Kritik kann ohne exegetische Vertiefung gedeihen.“452 Es ist unverkennbar, daß Hengstenberg die rechte Haltung des Exegeten am biblischen Leitbild des nach Gott suchenden Frommen orientiert.453 Dabei zeigt er sich erstaunlich unbekümmert, was die Frage angeht, wie sich jene Haltung zum Glauben verhält. Versucht man ihr auf den Grund zu gehen, zeigen sich systematische Schwächen, auf die kurz eingegangen werden muß. Unklar ist zunächst, wie der Mensch in die Haltung des nach Gott Fragenden kommt. Hengstenberg spricht in diesem Zusammenhang häufig von einer „ethischen Bedingung“ oder einer „sittlichen Voraussetzung“, die hierfür notwendig sei.454 Sie bestehe darin, daß sich der Wille, beispielsweise durch das Zeugnis der Kirche angeregt, für den Anspruch der Schrift öffnet. Wie aber kommt diese Willensänderung zustande? Hengstenberg legt großen Wert auf die Feststellung, daß sie nicht erzwungen werden kann, sondern als Akt der dem Menschen ei449

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  46.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 74 (1864), Sp.  22. 451   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  89: „Die Kirche verwirft die Kritik nicht, sondern sie will und hegt und pflegt sie, indem sie weiß, daß sie für ihre edelsten Güter bei ihr nicht Zerstörung, sondern Bestätigung findet. Sie verwirft nur den Mißbrauch der Kritik im Dienste des Unglauben, die Pseudokritik.“ und Ders., Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 (1868), Sp.  663: „Wir dürfen uns ferner durch den schnöden Misbrauch der Kritik die Kritik nicht verleiden lassen, sondern wir müssen sie in rücksichtsloser Schärfe, ohne uns durch Autorität, Tradition und praktische Gesichtspunkte einengen zu lassen, da üben, wohin sie gehört.“ Vgl. dazu ausführlich Nafzger, Struggle, 202–262. Nafzger zeigt auf, wie Hengstenberg den Kritikbegriff für seine Art der Schriftforschung geltend zu machen versucht. ‚Kritisch‘ bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie ‚die Vernunft gebrauchend‘. Demnach bedeutet Pseudokritik, die Schrift der Vernunft unterzuordnen, wahre Kritik hingegen, nicht von einem „normative use“, sondern von einem „organic use“ der Vernunft auszugehen (ebd., 251.262 u.ö.) – für die Terminologie greift Nafzger allerdings auf den EKZ-Artikel ‚Die alte Lehre der Evangelischen Kirche und die neue Orthodoxie‘ (EKZ 10 [1832], Sp.  65–71.73–80.177–183.169–175, Nr.  9 f. Nr.  23 f.) zurück, der m.E. nicht von Hengstenberg stammt. Es stellt sich überdies sehr die Frage, ob ein so akzentuierter Kritikbegriff nicht überflüssig wird. 452   Hengstenberg, Das Evangelium des heiligen Matthäus (1. Artikel), EKZ 76 (1865), Sp.  346. 453   Dabei dürfte ihn insbesondere sein intensives Studium der Psalmen bestimmt haben. 454   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  46: „Der Glaube an die Schrift steht unter ethischen Bedingungen“; vgl. Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  218. 450

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2  Hengstenberg und die Theologie

gentümlichen Freiheit verstanden werden muß. Allerdings kann dieser Akt der Freiheit nicht vom Menschen ausgehen, sondern muß übernatürlich angeregt werden, was Hengstenberg so weit gehen läßt, von der zuvorkommenden Gnade zu sprechen.455 Das Problem liegt also darin, daß der Wille als unvermittelte Größe erscheint, dessen Verhältnis zu Wort und Geist nicht ausreichend reflektiert wird.456 Denn müßte man nicht sagen, daß der Wille auch und gerade in der Beschäftigung mit der Schrift seine neue Ausrichtung bekommt? Und ist dieser Wille, wenn er sich Gott zu- und nicht mehr von ihm abwendet, nicht bereits Glaube? Damit ist ein zweiter Punkt ange­spro­chen: Mißverständlich ist, wenn Hengstenberg davon spricht, daß nur denjenigen, „die zu der Schrift herzutreten um den brennenden Durst ihrer Seele zu stillen“, der „Glaube an die Schrift“ zuteil werde.457 Führt die Beschäftigung mit der Schrift zum Glauben an die Schrift oder zum Glauben an den, den die Schrift bezeugt, und in­ sofern auch zum Glauben an die Schrift?458 Gibt es bei Hengstenberg einen Glauben an die Schrift, der Vorstufe zum eigentlichen Glauben ist? Manche Äußerungen scheinen darauf hinzuweisen. In seinen letzten Jahren sprach Hengstenberg, um den Weg und die Entwicklung des Christen möglichst lebensnah darzustellen, von „Stufen des Glaubens“ und hat damit auch unter seinen Anhängern für große Verwirrung gesorgt.459 Die Beobachtung, daß Hengstenberg die erste Hinwendung des Menschen zur Schrift nicht eng mit dem Wort selbst verknüpft und zudem die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nirgends für die Fragestellung frucht­bar macht, weist zweifellos auf den Einfluß Calvins hin. Darüber hinaus machen die offenen Punkte schlicht darauf aufmerksam, daß Hengstenberg kein systematischer Denker war. Er nahm biblische Leitbilder auf, ohne sie bis ins einzelne systematisch abzuwägen. Gleichwohl ist deutlich, worum es ihm ging: Nur wer suchend und in der Erwartung, von der Schrift in seinem Selbstverständnis hinterfragt zu werden, an die Schrift herangehe, nur wer bereit sei, auch dem – zunächst – Fremden Liebe 455

  1827 heißt es, der Glaube des Christen beruhe „auf einem äußern Gottesworte, dessen Wahrheit ihm auf eine übernatürliche Weise innerlich gewiß geworden und woran er nicht drehen und deuteln darf. [...] was ihm aus der Schrift gewiß geworden, dem stimmt er so mit ganzem Herzen bei, daß er gerne dafür, wenn es Noth thut, sein Leben läßt.“ (Hengstenberg, Rationalismus, EKZ 1 [1827], Sp.  123). In späteren Äußerungen scheint die Willensentscheidung dem Wortgeschehen vorauszugehen: „Wer zu Christo gelangen will, bei dem muß trotz aller seiner Ohnmacht, unter dem Beistande von Gottes vorbereitender Gnade, die Grundrichtung des Willens darauf gerichtet sein, mit dem Willen Gottes Hand in Hand zu gehen“ (Ders., Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 [1867], Sp.  218). 456   Das führt Hirsch, Geschichte 5, 121 zu der Aussage, das Verhältnis zur Bibel beruhe bei Hengstenberg „rein auf Verstand und Wille, die sich in den Dienst einer religiösen Pflicht stellen“. 457   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  46. 458   Möglicherweise meint Hengstenberg einfach, daß sich die Schrift dem in ihr Suchenden und an sie An­klo­pfenden erschließt, mithin das, was die hermeneutische Pointe von Luthers Selbstzeugnis von 1545 ist (vgl. dazu Slenczka, Evangelium). 459   Siehe dazu unten Abschnitt 2.4.1.1.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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entgegenzubringen, betreibe angemessene Exegese. Wer jedoch die Schrift im Zweifel der eigenen Vernunft und Weltsicht unterordne, sei und bleibe auf sich selbst festgelegt. Man hat es Hengstenberg zum Vorwurf gemacht, daß er der Schrift von vornherein mit einem Vorverständnis gegenübertrete. Auch ihm Nahestehende haben kritisiert, daß ihm die Ergebnisse seiner Forschung von Anfang an feststünden. Insbesondere mit K.F.A. Kahnis, Teil des „lutherischen Dreigestirns“ in Leipzig und langjährigem Mitarbeiter der EKZ, kam es darüber zu einer heftigen Auseinandersetzung. Kahnis hatte sich in seiner ‚Dogmatik‘ (1861) darum bemüht, die Ergebnisse historischer Kritik in moderater Form einzubeziehen. Er unterschied innerhalb des Kanons zwischen kanonischen und deuterokanonischen Schriften und beschränkte die Frage nach Inspiration und Authentizität einzelner Schriften auf die „Kernbücher der Schrift“460. Hengstenbergs Bemühungen um die historische Schale der Schrift hielt er für vergeblich, und so entschied er, was Echtheit und Einheit biblischer Schriften anging, in vielen Fragen gegen Hengstenberg, obwohl er im Einzelnen durchaus auf ihn zurückgreifen konnte. Er verteidigte seine Position später mit dem Hinweis auf die Unbefangenheit der rationalistischen Exegese: „Ein Rationalist, der einen klaren Blick hat, sieht Alles was in der Schrift zur Erscheinung gehört viel unbefangener, objektiver, feiner als ein Apologet, der immer nur da­ rauf sieht, was aus einer Stelle für Waffen gegen die Rationalisten genommen werden können, und ein bloß ascetischer Theologe, der jede Stelle darauf ansieht, wie sie erbaulich benutzt werden kann.“461

Die Äußerungen Kahnis’ in seiner Dogmatik veranlassen Hengstenberg, im Vorwort der EKZ von 1862 in deutlichen Worten gegen ihn Stellung zu beziehen.462 Kahnis habe „in einer Weise wie sie bis dahin in der kirchlichen Theologie unerhört war, gegen die Aechtheit, Glaubwürdigkeit und Inspiration heiliger Schriften Zweifel erhoben“ (Sp.  38). Darum müsse er ihn, den langjährigen Freund und Mitarbeiter, so behandeln, als kenne er ihn nicht. Wie tiefgreifend der Dissens ist, wird daran deutlich, daß Hengstenberg schreibt, Kahnis’ Dogmatik sei für ihn die größte Enttäuschung des letzten Jahres gewesen und nur die persönlichen Widerfahrnisse hätten ihn schwerer bewegt (Sp.  38), womit er auf nichts weniger als den Tod seiner Frau Therese anspielt. Hengstenbergs Enttäuschung hängt nun weniger damit zusammen, daß Kahnis seine, Hengstenbergs, umfangreiche Arbeiten zur Einleitungswissenschaft für mehr oder weniger überflüssig hält und damit einen großen Teil des Hengstenbergschen Werkes vom Tisch wischt. Was ihn vor allem gegen Kahnis auf460

  Kahnis, Dogmatik 1, 669.   Kahnis, Grundwahrheiten, 72 f. Das Buch richtet sich in toto gegen Hengstenbergs Vorwort in der EKZ von 1862. 462   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  38–66 – die Belege im Folgenden im Fließtext. 461

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bringt, ist, wie dieser den Ergebnissen der Kritik eine „fast naiv zu nennende Zuversicht“ (Sp.  44) entgegenbringe, ohne die dagegen vorgebrachten Einwände ernst zu nehmen. Denn im Unterschied zu Kahnis bewertet er die Haltung der Kritik gerade nicht als „unbefangener“. Kahnis übernehme damit vielmehr das dogmatische Prinzip des Zweifels an der Schrift. Daß jene kritische Haltung zur Schrift für die Ergebnisse der Kahnis­schen Dogmatik kaum von Belang ist (Sp.  66), macht die Sache für Hengstenberg nicht besser.463 Daran wird deutlich: Es gibt für Hengstenberg keine unbefangenen Umgang mit der Schrift. Vom Standpunkt der Gegner – so äußert er sich in den „Prolegomena“ im zweiten Band der Beiträge – könne man nicht anders, als die Echtheit des Pentateuchs zu leugnen. „Ebenso aber – wir bekennen dies ehrlich – steht von gläubigem Standpunkte aus die Ächtheit vor der historisch-kritischen Untersuchung des Einzelnen fest. Der Pent[ateuch] wird vom Herrn und seinen Aposteln bezeugt, und ihr Zeugniss wird dem, der sich mit gläubigem Gemüthe in den Inhalt dieser Bücher versenkt, durch den heiligen Geist versiegelt. Die wissenschaftliche Untersuchung soll nicht dazu dienen, den Glauben an die Göttlichkeit dieser Bücher, der ihren Mosaischen Ursprung zur Voraussetzung hat, hervorzurufen, sondern nur sich und Andern Rechenschaft zu geben von dem bereits vorhandenen.“464

Hengstenberg sieht also gar keinen Grund, sich gegen die Kritik zur Wehr zu setzen, er würde mit einem Vorurteil an die Schrift herangehen. Im Gegenteil: Er gibt es unumwunden zu, sieht sich darin aber in nichts von seinen Gegnern geschieden. Ein wissenschaftliches Gespräch zwischen den gegnerischen Positionen scheint ihm dennoch nicht unmöglich. Hengstenberg empfiehlt, sich über „gewisse Grundsätze der Streitführung“ (LXXVI) zu einigen. „Geschieht dies nicht, so wird es bald dahin kommen, dass die beiderseitigen Schriften nur noch von den beiderseitigen Partheien beachtet, und sobald diese Partheien sich in sich selbst consolidirt haben, ganz unnnütz werden. Zuvörderst sollte das von beiden Seiten offen gestanden werden, dass ihnen das Resultat der Untersuchung vor der Führung des wissenschaftlichen Beweises schon feststeht. Es ist eitel Täuscherei, wenn man dies verhehlt.“ (LXXVI)

Hengstenberg schlägt deshalb das Verfahren vor, daß man bei seinen Aussagen streng zwischen dem unterscheiden solle, was nur infolge übereinstimmender Grundsätze anerkannt werden könne, und anderem, was allgemeiner Beweisführung zugänglich sei. Er scheint damit im Auge zu haben, daß man die Fol463   Kahnis hat sich bitter darüber beklagt, daß Hengstenberg seine Dogmatik nicht als ganze und von ihrem Grundkonzept aus gewürdigt, sondern lediglich die Aussagen zur Schrift herausgegriffen habe (Kahnis, Grundwahrheiten, 2 f.). Das ist jedoch kein Zufall. Was schon bei der Behandlung Schleiermachers und dessen Schülern deutlich wurde, zeigt sich auch hier: Hengstenberg beurteilt jedes System danach, was daraus für den konkreten Umgang mit der Schrift folgt. 464   hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, LXXVI f. – hieraus wiederum die folgenden Belege im Fließtext.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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gerichtigkeit einer Argumentation auch dann anerkennen müsse, wenn man ihre Prämissen nicht teilt.465 Insbesondere sollten die Geg­ner bei der Beurteilung der Arbeiten der „Gläubigen“ „Alles ausschliessen, was mit der verschiedenen religiösen Grundüberzeugung in Verbindung steht, sich daran erinnern, dass die ganze Gottesidee noch sub judice ist, die Gerechtigkeit Gottes z. B. nicht weniger, als sein Vermögen Wunder zu thun“ (LXXX). Ob dieser Vorschlag wirklich durchführbar ist, sei dahingestellt.466 Entscheidender ist, daß Hengstenberg ihn selbst berücksichtigt. Das zeigt sich an seinem Umgang mit der zeitgenössischen und älteren kritischen Forschung. Seine Anfragen gegenüber deren Grundhaltung führen nämlich gerade nicht dazu, daß er die Ergebnisse dieser Forschungstradition mit einem Federstrich für nichtig erklärt. Ganz im Gegenteil: Er nimmt die gesamte Forschungslandschaft wahr und verarbeitet nicht nur Erkenntnisse und Schlüsse von ihm Nahestehenden, sondern auch solche seiner Gegner (vgl. dazu unten 2.2).467 Und dies nicht ohne Grund. Der Ausgangspunkt seiner Forschungskritik war ja gerade der, daß die kritische Forschung durchweg auf richtigen Beobachtungen und Textbefunden beruhe; es würden lediglich die falschen Schlüsse daraus gezogen. Darum kann man auch aus der „ungläubigen“ Schriftforschung Anregungen und wertvolle Einsichten bekommen. Nicht selten spricht er vom Scharfsinn der Gegner,468 ja er kann eingestehen, daß der zweifelnden Kritik – wie jeder Anfechtung – das Verdienst zukomme, den eigenen Glauben zu vertiefen.469 Für Hengstenbergs historische Forschung im Kontext der zeitgenössischen kritischen Forschung ergibt sich demnach: Hält er es auch für unmöglich, daß der Unglaube im Blick auf die Schrift zu richtigen Ergebnissen kommt, was das Ganze angeht – sonst wäre er ja kein Unglaube mehr –, so kann doch jedes einzelne seiner Argument stichhaltig sein. Es gibt also keinen Grund, warum man nicht auch aus den Kommentaren der Gegner philologische oder historische Argumente schöpfen könnte, und Hengstenberg hat dies reichlich getan. 465

  Vgl. Hengstenberg, Christologie1 1/1, 334 sieht das Ziel erreicht, wenn „die Gegner der Wahrheit genöthigt sind einzugestehen, dass wir, unsern Standpunkt vorausgesetzt, uns keine Willkühr erlauben, und dass nur ihr Standpunkt sie hindert, den gewonnenen Resultaten beizutreten.“ 466   Hupfeld, Einleitung, 86, Anm.  * hat das Verständigungsangebot zur Kenntnis genommen, aber als unver­einbar mit dem Wahrheitsgefühl des Forschers bezeichnet (vgl. auch unten bei Anm.  601). 467   Hengstenberg soll außerdem in den Vorlesungen Gesenius’ ‚Jesaja‘ als Musterkommentar empfohlen haben; darüber hinaus habe er in höherem Alter seinem Schüler, Privatdozent Gerlach (gemeint ist Hermann Martin Theodor Gerlach, vgl. Gesamtverzeichnis des Lehrkörper, 57), nahegelegt, für die Psalmenvorlesung nicht seinen, Hengstenbergs, Kommentar zugrunde zu legen, da er zu antiquiert sei, sondern den von Hupfeld (Koenig, Hengstenbergs Leben, 744). 468   Über die in seinen Augen Geistesverwandten Spencer und Strauß schreibt er, Authentie des Pentateuches, IV: „derselbe Scharfsinn mit einem so unglaublichen Mangel an Tiefsinn, dass man oft in Versuchung geräth, an ihrem Scharfsinne irre zu werden“. 469   Vgl. Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  222.227 f.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Selbstverständlich hat er auch das Wörterbuch seines Hallenser Gegners Gesenius benutzt.470 Umgekehrt zeigt sich, daß Hengstenberg selbst durchaus in der Lage war, die Methoden seiner Gegner anzuwenden. Er beherrschte die Instrumentarien der historischen Kritik und setzte sie im Rahmen seiner Konzeption ein (vgl. unten 2.3.2.2). Eine die Schrift auflösende oder die Schriftautorität verletzende Kritik kam für ihn jedoch nicht in Frage – nicht, weil er dazu nicht in der Lage gewesen wäre, sondern weil er das nicht wollte. Er hielt eine solche Kritik ihrem Gegenstand gegenüber nicht für angemessen. Damit ist seine grundlegende Haltung zur historisch-kritischen Forschung beschrieben. Wie aber sieht nun seine eigene historische Forschung aus? 2.3.2.2  Apologetische Arbeiten Hengstenbergs frühe alttestamentliche Arbeiten widmen sich vorrangig Fragen der Einleitungswissenschaft und wenden sich dabei insbesondere denjenigen Teilen des Alten Testaments zu, deren Echtheit und Einheitlichkeit nach einhelliger Meinung der zeitgenössischen Forschung nicht mehr zu halten waren, das gilt für die Propheten Daniel und Sacharja ebenso wie für den Pentateuch. Ebenso einhellig abgelehnt wurde die christologische Auslegung zahlreicher alttestamentlicher Stellen. Hengstenberg greift sich in apologetischer Absicht bewußt die härtesten Nüsse heraus.471 Titel wie die der 1842 begonnenen Reihe ‚Die wichtigsten und schwierigsten Abschnitte des Penateuchs‘472 verraten deutlich die Stoßrichtung. Es ging ihm darum, die Ergebnisse der historischen Kritik gerade dort zu hinterfragen, wo sie bereits am gefestigtsten auftraten, bzw. diejenigen schwierigen Schriftstellen, die der kritischen Exegese die besten Angriffspunkte boten, verständlich zu machen, ohne auf kritische Operationen zurückgreifen zu müssen. Zumeist geht Hengstenberg dabei in zwei Schritten vor: Zunächst werden die Argumente der Gegner aufgelistet und widerlegt. Dabei wird kein Argument ausgelassen, das irgendwie überzeugend sein könnte.473 Hengstenberg hält 470

  Vgl. zur Würdigung von Gesenius unten Anm.  602.   1831 kündigt er Arbeiten „zu den besonders wichtigen und angefochtenen Puncten“ des AT an, dazu rechnet er im einzelnen: die Echtheit des Pentateuch, das Alter des Hiobbuches, Alter und Glaubwürdigkeit von Chronik und Esther, die Quellen der historischen Bücher und die allegorische Auslegung des Hohenliedes (Hengstenberg, Authentie Daniel, VII f.). 472   Von dieser Reihe erscheint dann aber lediglich ein Teil: ‚Die Geschichte Bileams und seiner Weissagungen‘ (1842). 473   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 334: „Dass hier nichts, was in sich scheinbar ist, übergangen werden darf, versteht sich von selbst. Doch darf der Vertheidiger der Messianität sich nicht auf dasjenige, was ihm als solches erscheint und dessen Auslassung Unredlichkeit seyn würde, beschränken, sondern er muss auch diejenigen Gründe berücksichtigen, deren innere Gehaltlosigkeit durch die beständige zuversichtliche Widerholung verdeckt worden ist.“ 471

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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auch nichts davon, sich über Argumente der Gegner einfach hinwegzusetzen oder sie pauschal zu verurteilen, denn „[e]in irgend kräftiger und scheinbarer Irrthum kann nie durch Ignoriren seiner Gründe und durch Schelten beseitigt werden.“474 Punkt für Punkt geht Hengstenberg die Argumente der Gegner durch. Es versteht sich von selbst, daß er ihre Werke studiert hat. Sie machen einen großen Teil seiner umfangreichen Bibliothek aus.475 Im zweiten Schritt werden schließlich regelmäßig die Gründe für die eigene Position aufgewiesen. Dabei werden sowohl Argumente genannt, die nur Gleichgesinnten einleuchten, als auch solche, die von den Gegnern nachvollzogen werden können müssen. Auf letztere wird größerer Wert gelegt. So spielt es bei dem Beweis der Authentizität eines biblischen Buches, beispielsweise des Danielbuches, für Hengstenberg selbst eine unüberwindliche Rolle, daß Jesus und die Apostel von der Authentizität des Buches ausgehen, für den historischen Beweis kann und darf dies aber nicht letztlich ausschlaggebend sein.476 Hengstenbergs Beweisführungen decken sich dabei keinesweges grundsätzlich mit denen seiner konservativen Vorgänger oder der Tradition. Darum lohnt es sich, im Folgenden einen kurzen Blick auf die einzelnen Schriften zu werfen. In seinem Erstlingswerk, der ‚Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten‘, setzt sich Hengstenberg das Ziel, dem Alten Testament wieder zur ursprünglichen Bedeutung zu verhelfen und es als unverzichtbaren Bestandteil der christlichen Bibel zu erweisen.477 Zwar 474   Hengstenberg, Authentie Pentateuch 1, 191, wo es zur Begründung heißt: „Er kehrt immer zu seiner Zeit, d. h. dann wieder, wo er in dem Zeitgeiste dieselbe Hülfe für sich hat, welche früher seine Gegner, wo er also weit gefährlicher, auch mit triftigen Gründen schwer zu besiegen ist.“ 475   Im Blick auf die Lektüre von Pierre Bayle ruft Hengstenberg einmal aus: „Ach wenn mich mein Beruf nicht zwänge, viele dergleichen Sachen zu lesen, wie gerne wollte ich davon abstehen! Es graut mir ordentlich, wenn ich einen großen Theil meiner Bibliothek ansehe, und kann ich mich nach treu vollbrachter Arbeit einmal auf eine Landpfarre zurückziehen, so sollen mir dahin gewiß nur solche Bücher nachfolgen, deren Verfasser vom Geiste Gottes geleitet wurden. Wozu die übrigen, wenn man nicht um Andrer willen sie lesen muß?“ (Hengstenberg an seinen Vater, 15. Dez. 1826: Bachmann 2, 51). 476   Er sei sich bewußt, schreibt Hengstenberg, Authentie Daniel, IX, „die Lösung keiner Schwierigkeit durch die Berufung auf diese von den Gegnern nicht wie von ihm anerkannte Auctorität beseitigt zu haben“. 477   Hengstenberg, Christologie1 1/1, III – hieraus auch die folgenden Belege im Fließtext; vgl. auch oben Abschnitt 2.2.2. Die Christologie erschien in drei Teilen (1829; 1832; 1835), der erste Teil ist in zwei Abteilungen unterteilt, wovon zunächst die zweite über die messianischen Weissagungen bei Jesaja erschien. Die erste Abteilung bietet die grundlegende „[a]llgemeine Einleitung“. Teil 2 enthält die einschlägigen Stellen aus Sacharja und Daniel, Teil 3 die aus den Propheten Hosea, Joel, Amos, Micha, Haggai, Maleachi, Jeremias, Ezechiel. In der zweiten, völlig überarbeiteten Ausgabe der Christologie (Christologie2, 1854–1857) werden die Kapitel neu und nun in „chronologisch“-kanonischer Weise angeordnet, beginnend mit dem Pentateuch, endend mit Maleachi. Die grundsätzlichen Ausführungen erscheinen in stark veränderter Form und nun am Ende des Werkes, als zweite Abteilung des

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geht er davon aus, daß sich der wesentliche Inhalt seines Werkes, der „durch alle Jahrhunderte der Kirche gegolten hat“, „durch seine innere Wahrheit“ (IV f.) von selbst durchsetzt und nicht von wissenschaftlichen Beweisführungen abhängt, doch soll ihm auch wissenschaftlich Geltung verschafft werden. Dabei sei im Unterschied zu früheren Arbeiten zu berücksichtigen, daß die Bibel ein über Jahrhunderte gewachsenes Buch ist. Die messianischen Weissagungen werden darum in eine geschichtliche Entwicklung eingeordnet.478 Nicht alle Stellen, die traditionellerweise auf Christus hin gedeutet wurden, kommen dabei zum Zug. Im sog. Protevangelium beispielsweise kann Hengstenberg noch keine messianische Weissagung im eigentlichen Sinne erkennen (42–44); 479 ebensowenig in der Nathansweissagung (91–93). Erst mit David breche die Blütezeit der messianischen Aussagen an (22 f.). Hengstenberg spart nicht mit Kritik an denjenigen, die überall messianische Hinweise erkennen wollen (333). Es kommt ihm darauf an, die Messianität der Texte „objektiv“, d. h. mit rational nachvollziehbaren Gründen zu beweisen. Ein Kapitel über die „Beweismittel der Messianität der einzelnen Stellen“ im ersten Teilband der ‚Christologie‘ gibt darüber Auskunft.480 Messianisch ist eine Stelle demnach dann, wenn sie spezifische Züge aufweist, die nur auf die Geschichte Christi passen und in der Geschichte eines anderen Subjektes nicht nachgewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht werden können bzw. die zu einem anderen Subjekt gar nicht passen können, weil sie über das hinausgehen, was man von einem Menschen aussagen kann (334 f.).481 Des weiteren ist in Erwägung zu ziehen, wenn eine Stelle von der älteren jüdischen Exegese, die sich noch nicht gegen die christliche Ansicht abgrenzte, messianisch ausgelegt wurde. Hengstenberg verweist in diesem Zusammenhang auf die Stabilität der jüdischen Tradition (337). Schließlich nennt Hengstenberg die Tatsache, daß ein alttestamentliches Wort von Jesus und den Aposteln messianisch verstanden wurde. Er bezeichnet diesen Beleg einerseits als den entscheidenden, setzt ihn jedoch andererseits bewußt an die letzte Stelle, da er ja die Anerkennung Christi zur Voraussetzung hat. Bei den Erfüllungszitaten in den Evangelien sei zudem im Einzelfall zu prüfen, ob sie sich auf messianische oder andere Verheißungen beziehen (338–344). Energisch bestreitet Hengstenberg die von Semler herrührende Auffassung, daß im Neuen Testament zwar die mit Hilfe alttestamentlicher Stellen ausgesagten Lehren anzuerdritten Bandes. Hengstenberg bekennt 1854, daß ihm die „Allgemeine Einleitung“ der ersten Ausgabe „eine [...] ziemlich fremd gewordene Jugendarbeit“ geworden sei (Christologie2 1, III). Auf Veränderungen in der Konzeption wurde bereits oben hingewiesen. 478   Vgl. oben Abschnitt 2.3.1.2. 479   Gleichwohl hält er die Bezeichnung „Protevangelium“ für angemessen. 480   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 333–351. Der Abschnitt fällt in der zweiten Ausgabe der Christologie weg, die darin genannten Kriterien bleiben aber in Kraft. 481   Allerdings müsse man dabei sorgfältig zwischen bildlichen und eigentlichen Aussagen unterscheiden, denn nur um letztere handle es sich dabei.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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kennen seien, nicht aber die Beweisführungen und der Umgang mit dem Alten Testament übernommen werden müßten (344–351). Weit entfernt davon, alle bisher für messianisch gehaltenen Stellen retten zu wollen, geht Hengstenbergs Interesse also dahin, auf methodisch gesichertem Wege die Messianität bestimmter Stellen feststellen und damit die Tatsache messianischer Verheißungen im Alten Testament überhaupt belegen zu können. Die Singularität des als messianisch Bezeichneten spielt dabei eine wichtige Rolle. Wie gesehen, erklärt Hofmann gerade dies für die Schwäche von Heng­ stenbergs Ansatz.482 Schwerer wiegt allerdings, daß Hengstenberg selbstverständlich und ohne Problematisierung davon ausgeht, daß das Chri­stusbild der Apostel historisch zutreffend ist, die zur Erhebung des Messianischen geltend gemachten Spezifika also wirklich den historischen Jesus kennzeichneten und ihm nicht erst später als Ergebnis theologischer Reflexion zugeschrieben wurden. Spielt die kirchliche Tradition bei der Bestimmung messianischer Stellen also nur eine untergeordnete Rolle, so ist sie doch nicht unwichtig für die grundsätzliche Annahme der Existenz messianischer Weissagungen. Die Tatsache nämlich, daß die messianische Auslegung, wie sie in den Worten Christi und der Apostel vorgegeben war, immer selbstverständlich zum „christlichen Grundbewusstseyn“ (348) gehört habe, spreche dagegen, sie für eine verzichtbare Nebensächlichkeit, eine überholte Akkommodation an den jüdischen Volksglauben zu halten.483 Die kirchliche Überlieferung erscheint nicht als solche normativ, sondern insofern sie Grundüberzeugungen bewahrt und bezeugt, die charakteristisch für das Christentum und seinen Umgang mit der Schrift sind. Es ist für Hengstenberg unvorstellbar, daß solche Grundüberzeugungen, die sich zudem ganz eindeutig auf die Schrift berufen können, das Christentum jahrhundertelang nur irrtümlich geleitet haben könnten.484 Der erste Band der ‚Beiträge zur Einleitung‘, ‚Die Authentie des Daniel und die Integrität des Sacharjah‘ von 1831, bietet den klassischen Auf bau von Hengstenbergs apologetischen Werken; 485 die Echtheit Daniels wird in drei Kapiteln verteidigt: I. Geschichte der Angriffe gegen dieselbe. II. Widerlegung der Gründe 482

  Siehe oben Abschnitt 2.3.1.1.   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 348: „Was aber so allgemein und durchgängig ist, das muss mit dem christlichen Grundbewusstseyn nicht in eine willkührliche Verbindung gesetzt seyn, sondern mit Nothwendigkeit aus demselben hervorgehen“. 484   Vgl. auch den Hinweis auf den Glauben der Laien, dem die Unterscheidung zwischen eigentlicher Lehre und Beweisgang respektive Umgang mit dem Alten Testament in den Evangelien nicht einleuchte (Hengstenberg, Christologie1 1/1, 347). 485   Die folgenden Belege im Text beziehen sich hierauf. Der Band bezieht sich sachlich auf den zweiten Band der ‚Christologie‘, der ein Jahr später erschien und von den Einleitungsfragen entlastet werden sollte, deren Darlegung aufgrund der zahlreichen Argumente gegen die Echtheit des Daniels sehr umfangreich ausfallen mußte (vgl. Authentie des Daniel, VI). 483

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2  Hengstenberg und die Theologie

gegen die Echtheit. III. Gründe für die Echtheit (vgl. XI). Das Danielbuch ist in Hengstenbergs Augen ein besonders eklatantes Beispiel für interessengeleitete historische Forschung. Die Bestreitung der Echtheit und Historizität sei schon von alters her von Gegnern der geoffenbarten Religion ausgegangen. Als Gegner der Offenbarung müsse man die Echtheit Daniels nämlich zwangsläufig bestreiten: „Die Wunder und Weissagungen des Buches übersteigen so sehr den gewöhnlichen Naturlauf, dass die Anerkennung der Ächtheit des Daniel und Anerkennung der geoffenbarten Religion unzertrennlich verbunden sind.“ (4) Nichtsdestotrotz müssten alle Argumente der Gegner einzeln geprüft und widerlegt werden. Gelinge dies, sei schon wesentliches erreicht, denn grundsätzlich liege die Beweislast bei den Bestreitern der Echtheit: „So wie im gemeinen Leben, so gilt auch in der Critik alter und neuer schriftstellerischer Erzeugnisse die Regel, daß Niemand ohne bestimmte Gründe Jemanden für einen andern erklären darf, als für den er sich ausgibt, wenn er sich nicht einer Verläumdung schuldig machen will.“ (235 f.)

Dennoch werden auch ausführlich Gründe für die Echtheit des Danielbuches geboten. Zunächst sucht Hengstenberg nachzuweisen, daß das ganze Buch beanspruche, von Daniel zu stammen, und es als Werk eines Verfasser verstanden werden könne (225–237); die Auffassung, daß die Konsistenz des Werkes dafür ein entscheidendes Kritierium bietet, scheint er mit seinen Gegnern zu teilen. Darüber hinaus wird auf außerbiblische Quellen zurückgegriffen, die das Alter und die Richtigkeit der Schilderungen des Danielbuches erweisen sollen (311– 352). Instruktiv sind außerdem die ausführlichen Erörterungen zur Frage des Kanonabschlusses (237–258). Hengstenbergs logisches Argumentieren unterscheidet sich insgesamt wenig von dem seiner Gegner, abgesehen davon, daß er von Anfang an zugibt, das Ergebnis der Untersuchung schon zu kennen (IX). Bemerkenswert ist, wie penibel er alle Gründe prüft und keinen Punkt unberücksichtigt läßt. Die Literatur wird umfassend einbezogen. Hengstenberg führt kein Selbstgespräch, er ist ständig in der Auseinandersetzung, das Wegräumen des „Schutts“486 nimmt wesentlich mehr Raum ein als der Bau des neuen Gebäudes. Eine ähnliche Vorgehensweise zeigen auch Bd.  2 und 3 der Beiträge, sie behandeln „Die Authentie des Pentateuches“.487 Ihr Ziel ist es, die Einheit des Penta-

486

  Vgl. Hengstenberg, Christologie1 1/1, IV (vgl. oben bei Anm.  6 ).   Bd.  1 (Authentie des Pentateuches 1) erscheint 1836, Bd.  2 (Authentie des Pentateuches 2) 1839. Die Belege im Text im Folgenden hierauf bezogen. – Vorarbeiten zum ersten Band der Authentie des Pentateuches veröffentlicht Hengstenberg bereits zuvor in der EKZ (Ueber die angebliche Entwendung der Gefäße der Aegypter durch die Israeliten, EKZ 11 [1832], Sp.  812–826, Nr.  102–104, vgl. Authentie des Pentateuches 2, 507–526; Die Rechte der Israeliten, EKZ 12 [1833], 41–46.49–55.57–62.73–86, Nr.  6 –11, vgl. Authentie des Pentateu487

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teuches und seine mosaische Verfasserschaft zu erweisen. Beides bildet Hengstenbergs Auffassung zufolge eine Einheit: Zunächst sei „der Beweis zu führen, dass der Pent[ateuch] ein durch Einheit des Zweckes und Planes, der Beziehungen, der Sprache innig verbundenes Ganzes ist, das nur von Einem Verfasser herrühren kann. (Hierher gehört unsere Untersuchung über den Gottesnamen.) Dann ist nachzuweisen, dass Moses in dem Werke selbst als Verfasser bezeichnet wird.“ (1, LXXXII)

Wenn aber der Pentateuch eine Einheit darstellt und Mose an einzelnen Stellen als Verfasser genannt wird, dann kann vom mosaischen Ursprung des Ganzen ausgegangen werden. Unter der Voraussetzung der Einheit des Pentateuchs wird schließlich auch nach Spuren des Pentateuchs in den älteren Propheten und in den Königsbüchern geforscht, welche die Existenz des Pentateuchs als ganzen im Reich Israel bezeugen sollen.488 Schließlich werden neben der Untersuchung über die planvolle Verwendung der unterschiedlichen Gottesnamen noch weitere innere Gründe für die Einheit geboten.489 Als Anhang, der aber erklärtermaßen „nur für Gleichgesinnte bestimmt ist“, kommt schließlich „die Nachweisung hinzu, dass für die Ächtheit das Zeugnis Christi und seiner Apo­ stel, so wie das Verhältniss des Pentat. zu dem Ganzen der göttlichen Offenbarung und der heiligen Schrift spreche.“ (1, LXXXIII) Der Hauptakzent der Beweisführung liegt auf dem Erweis der mosaischen Verfasserschaft und des damit verbundenen hohen Alters des Pentateuchs. Die Problematik, daß aus Sicht des Historikers die Historizität des Berichteten damit noch lange nicht erwiesen ist, berührt Hengstenberg nicht; 490 für die – auch historische – Wahrheit des Überlieferten bürgt, daß es sich bei Mose um einen von Gottes Geist geleiteten Zeugen handelt. Was die Verteidigung von Alter und Echtheit des Pentateuchs angeht, kann Hengstenberg selbstverständlich auf Vorläufer zurückgreifen. Es fällt jedoch wie schon in der ‚Christologie‘ auf, daß er auch deren Argumente einer schonungslosen Kritik unterzieht. Das zeigt sich bereits im ersten Teil der Untersuchung (1, 1–48). Dort widerlegt Hengstenberg die von konservativen Exegeten (z. B. Steudel491) vertretene Ansicht, Alter und ches 2, 471–507) und in Tholucks ‚Litterarischem Anzeiger‘ (Hengstenberg, Alttestamentliche Kritik). 488   Reventlows Einwand, aus der Erwähnung einzelner Pentateuchverse in den Propheten könne man nicht auf die Exi­stenz der Endform des Pentateuchs zurückschließen, verfängt darum innerhalb der Hengstenbergschen Logik nicht (Reventlow, Epochen 4, 285); Hengstenbergs gesamte Argumentation hängt letztlich von der Plausibilität des Erweises der Einheit des Pentateuches ab. 489   Diesen Argumentationsgang bietet Hengstenberg in den ausführlichen ‚Prolegomena‘ (Authentie des Pentateuches 1, LXXXII f.), er wird dann aber nicht in dieser Reihenfolge bearbeitet. 490   Entscheidend ist für ihn lediglich die frühe Verschriftlichung des Stoffes, von mündlicher Überlieferung hält er dagegen nicht viel, vgl. Authentie des Pentateuches 1, 502. 491   Steudel, Einige Zweifel gegen die neuerliche Annahme, als ob aus dem samaritani-

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2  Hengstenberg und die Theologie

Herkunft des Samaritanischen Pentateuchs bewiesen die vorexilische Existenz des Pentateuchs. Dieses Argument gibt Hengstenberg völlig preis, indem er in einer aufwendigen historischen Untersuchung nachzuweisen sucht, daß die Samaritaner nicht aus dem Volk Israel hervorgegangen seien, sondern sich ihnen erst in späterer Zeit assimiliert hätten. Die Bildung eines eigenen samaritanischen Pentateuchs passe dementsprechend eher in die nachexilische Zeit, auf die Existenz des Pentateuchs in vorexilischer Zeit ließen sich jedenfalls keine Rückschlüsse ziehen.492 – Instruktiv sind die Ausführungen, weil sie einen streng historisch und im Blick auf den Samaritanus und die Überlieferung von den Samaritanern kritisch arbeitenden Hengstenberg zeigen, der Argumente, die ihm als unrichtig erscheinen, auch dann nicht gelten läßt, wenn sie seine Sicht stützen. Im Gegenteil: In der Beurteilung des Samaritanus steht er viel näher bei Gesenius als bei den anderen konservativen Exegeten.493 Ähnliches zeigt auch die Untersuchung über die Gottesnamen im Pentateuch, die den umfangreichsten Teil der Studie bildet (1, 181–414). Hengstenberg setzt ganz auf die Überzeugungskraft der Argumente: „Dass überall nach Gründen entweder Jehovah allein, oder Elohim allein, oder Jehovah und Elohim zusammen gebraucht werden, dies nachzuweisen ist die Aufgabe, mit deren Lösung alle jene sich ins Unendliche vervielfältigenden opinionum commenta zusammen fallen, ohne je wieder aufstehen zu können.“ (1, 204). Von unbegründeten, frommen Deutungen wie der seit dem Lombarden geläufigen, die den Plural Elohim auf die Trinität bezieht (vgl. 1, 184), hält er nichts: „Es zeigt sich hier recht deutlich, wie sehr der gläubige Gelehrte sich in Acht zu nehmen hat, dass er nicht, statt einzig und allein auf die Wahrheit zu sehen, sich durch den Schein der Gläubigkeit einer Ansicht blenden lasse“ (1, 188 f.). Auch am Schluß des ersten Bandes verlegt sich Heng­ stenberg mit der Frage, ob die Entwicklung der Schreibkunst der Annahme der mosaischen Verfasserschaft widerspreche, ganz auf historisches Terrain (1, 415–502); er weist dabei die Ansicht zurück, die Hebräer in Ägypten seien ein unkultiviertes, rohes Hirtenvolk gewesen (1, 430–439). Der zweite Band widmet sich u. a. den Aussagen des Pentateuchs über seinen Verfasser. Der Schluß des Werkes, Dtn 31,24 f f., gibt sich in Hengstenbergs Augen von selbst als von fremder Hand stammend zu erkennen (2, 157 f.). Besonders interessant ist jedoch das letzte Kapitel, in dem die Theologie des Pentateuchs darauf hin untersucht wird, ob sie dem Charakter eines heiligen Buches nicht widerspricht (2, 444–662). Dabei werden die gängigen auf klärerischen Anfragen an die Moral des Pentateuchs und sein Gottesbild aufgenommen und diskutiert.494

schen Pentateuch kein Beweis für das frühere Alter des Pentateuchs geführt werden könnte; weitere Vertreter der Auffassung bei Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, 2. 492   Die von Hengstenberg vertretene Auffassung vom heidnischen Ursprung der Samaritaner, die auf 2 Kön 17,24 f f. zurückgeht und vor ihm u. a. von Ch. Cellarius vertreten wurde, wird zwar bis heute diskutiert, gilt jedoch als überholt. Bei Hengstenberg ist der Verweis auf 2 Kön 17 allerdings nur ein Argument unter vielen. Was das Alter der Samaritaner und ihrer Pentateuchrezension angeht, nimmt man heute allgemein eine noch spätere Entstehung an. 493   Vgl. zum samaritanischen Pentateuch und seiner negativen Einschätzung durch Gesenius Würthwein, Text, 53–56, zur Samaritanerfrage überhaupt Dexinger / Pummer, Samaritaner. 494   Die Rechtmäßigkeit der Aneignung Palästinas, die Entwendung der heiligen Gefäße bei der Flucht aus Ägypten u. a.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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Die beiden Bände der ‚Authentie des Pentateuches‘ sind demnach besonders aufschlußreich für den Standpunkt und die Arbeitsweise Hengstenbergs. Er schont die konservativen Exegeten – unter ihnen auch seine eigenen Schüler495 – ebensowenig wie die liberalen, wenn er ihre Argumente für nicht stichhaltig hält. Selbst Calvin, dessen Auslegung des Pentateuchs er schätzt wie keine andere (vgl. 1, III f.), wird davon nicht ausgenommen.496 Die apologetische Ausrichtung und die damit verbundenen Diskussionen führen dazu, daß der Beweisgang der ‚Authentie‘ insgesamt alles andere als geschlossen erscheint. Auch in der Rationalität seiner Argumentationsweise ist er ganz von seinen Gegen­ übern bestimmt: wie sie versucht natürlich auch Hengstenberg „mit Gründen“ (1, 204) zu überzeugen.497 Da ihm das Ergebnis der Untersuchung gleichwohl von Anfang an feststeht und er seine Beweisgänge mit einer unglaublichen Bestimmtheit vertritt, hat man dies nur selten zur Kenntnis genommen.498 In methodischer Hinsicht aufschlußreich ist darüber hinaus Hengstenbergs Werk ‚Die Bücher Mose’s und Ägypten‘. Schon im ersten Band der ‚Authentie des Pentateuches‘ hatte Hengstenberg kritisiert, daß sich keiner der Gegner der Echtheit des Pentateuchs bisher mit den neueren Forschungen zu Ägypten beschäftigt habe (1, LIX). Das war in der Tat so. Seit Napoleons Ägyptenexpedition 1798/99 waren bedeutende Fortschritte in der Erforschung des alten Ägypten erzielt worden. 1821 gelang es T. Young und J.F. Champollion die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern. Pionierleistungen auf dem Feld der Ägyptologie gingen des weiteren auf I. Rosellini und J.G. Wilkinson zurück.499 Hengstenberg hat sich ausführlich mit ihren Forschungsergebnissen beschäftigt und in ‚Die Bücher Mose’s und Ägypten‘ als erster für die Bearbeitung des Pentateuches fruchtbar zu machen gesucht. 495   Authentie des Pentateuches 2, 152 f., Anm.  k ritisiert er eine Auffassung Hävernicks als unzutreffend, obwohl sie Hengstenbergs Sicht stützen würde. 496   So hält er den Versuch Calvins, die Entwendung der Gefäße aus Ägypten mit dem Eigentumsrecht Gottes zu erklären, für ebenso verfehlt wie die anderen Apologien und findet die Erklärung stattdessen auf philologischem Wege (Authentie des Pentateuches 2, 510– 515.524–526). 497   Vgl. auch das Ergebnis der Untersuchung zu den Gottesnamen: Der spezielle Gebrauch von Elohim in Gen 1 bis Ex 6, verbunden mit der konstanten Enthaltung desselben von da an erkläre sich nur „aus der Annahme Eines Verfassers, der nach bedachtem Plane, und so dass er bei dem Früheren schon das Spätere, bei dem Späteren das Frühere im Auge hatte, schrieb. Die Urkundenhypothese sowohl, als die Fragmentenhypothese, erweist sich somit als unhaltbar, und dadurch sind wir auf einen Standpunkt gelangt, von dem aus der Erweis der Mosaischen Abfassung weit leichter zu geben ist“ (Authentie des Pentateuches 2, 414); vgl. auch Authentie des Daniel, IX. 498   Vgl. die oft wiederholte Kritik, Hengstenberg verhalte sich nicht wie ein Apologet, sondern wie ein Advokat, die zunächst von Kurtz, Söhne Gottes, XI vorgebracht und dann von Bleek, Einleitung, 26, Kahnis, Grundwahrheiten, 5 f. u. a. übernommen wurde. 499   Vgl. Gardiner, Ägypten, 14–19.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Mit Hilfe der jüngsten Erkenntnisse zum alten Ägypten wird in einem ersten, sehr kurzen Teil auf das eingegangen, was man im Pentateuch bislang als Irrtümer über ägyptische Verhältnisse bewertet hatte; im zweiten, ausführlichen Teil zeigt Hengstenberg ägyptische Einflüsse und Spuren ägyptischen Kolorits im Pentateuch auf. Das Ziel ist, die Vertrautheit des Pentateuchs bzw. seines Verfassers mit Lebensweise und Institutionen des Alten Ägyptens nachzuweisen und so einen Beleg für Alter und Historizität der mosaischen Bücher zu gewinnen.

Auf den ersten Blick erstaunt es, daß Hengstenberg bis in die mosaische Gesetzgebung hinein Einflüsse der ägyptischen Kultur erkennen will; schließlich waren es ja die Kritiker des mosaischen Pentateuchs, die bereits im 17. Jahrhundert seine Abhängigkeit von den Ägyptern postuliert hatten! Außerdem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob dergleichen Einflüsse nicht Hengstenbergs Ansicht von der Unableitbarkeit der biblischen Offenbarung widersprechen. Hengstenberg sieht diese Einwände selbstverständlich, beurteilt die Frage der Abhängigkeit aber differenzierter: 500 Nicht die Form, sondern der geistige Gehalt der israelitischen Religion sei einzigartig. Darum konnte man, was das Äußere angeht, heidnische Riten übernehmen, wenn sie dazu geeignet waren, den Menschen tiefere Wahrheiten zur Anschauung zu bringen; dies sei beispielsweise in der Zeremonialgesetzgebung der Fall gewesen.501 Außerdem geht Hengstenberg – wie bereits bei der Frage nach der Geschichtlichkeit der Offenbarung deutlich wurde502 – selbstverständlich davon aus, daß die Offenbarung an vorhandene Gegebenheiten anknüpft. Die Israeliten seien nun einmal an ägyptische Verhältnisse wie z. B. an eine komplizierte Gesetzgebung und Speisegebote gewöhnt gewesen, die mosaische Gesetzgebung habe dies aufgenommen, einerseits um die Gegebenheiten für den eigenen Glauben fruchtbar zu machen, andererseits um kein Vakuum entstehen zu lassen, das von heidnischen Praktiken hätte ausgefüllt werden können.503 Die Offenbarung erweist sich also nicht darin, daß sie als das schlechthin Neue alles Vorhandene negiert, sondern darin, daß sie an die zeitlichen Lebensverhältnisse anknüpfend Vorhandenes in ihrem Sinne transformiert. Die Kenntnisse der historischen Umstände der Offenbarung sind daher essentiell für das Verständnis der Texte. Darin liegt – neben dem apologetischen Interesse – die Ursache für Hengstenbergs intensive Beschäftigung mit den historischen Forschungen zur Umwelt Israels. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Beilage zu Hengstenbergs Ägyptenbuch über „Manetho und Hyksos“; sie stellt nämlich ein weiteres Paradebeispiel für die Anwendung der höheren Kritik durch Hengstenberg dar. Hengstenberg hinterfragt darin die herrschende Auffassung seiner Zeit, nach der Manetho ein ägyptischer Priester unter Ptolemäus II. (Philadelphos) gewesen ist, indem er 500

  Gg. Taylor, Old Testament, 155–168; zutreffend Reventlow, Epochen 4, 289.   Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, V und 2, 616. 502   Siehe oben Abschnitt 2.3.1.2. 503   Vgl. Hengstenberg, Ägypten, 147.157.190 f. 501

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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Unstimmigkeiten in seinem Bericht aufdeckt, die einem mit den alten ägyptischen Verhältnissen Vertrauten nicht unterlaufen wären. Schließlich wird Manethos Hyksosüberlieferung unter die Lupe genommen mit dem Ergebnis, daß es sich bei der Erzählung gar nicht um eine alte ägyptische Quelle handele, sondern um eine in polemischem Interesse unternommene Umbildung der Exodusüberlieferung.

Es spielt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle, daß sich die Hyksosfrage heute anders darstellt und man die Probleme der Überlieferung Manethos heute anderes erklärt.504 Die Bedeutung dieser Ausführungen liegen vielmehr darin, daß sie Hengstenberg als einen Forscher zeigen, der mit allen Mitteln der historischen Kunst vertraut ist und im Bereich der Ägyptologie eine „bemerkenswerte Sachkenntnis der einschlägigen Materie“505 an den Tag legt.506 Sowohl die ‚Beiträge zur Einleitung‘ als auch das Ägyptenbuch machen darauf aufmerksam, daß Hengstenberg darum bemüht war, mithilfe außerbiblischer Quellen und durch die Einbeziehung der Forschungen zum Alten Orient die Authentizität biblischer Überlieferung plausibel zu machen. Die rein literarkritische Betrachtung und Analyse der biblischen Texte wird damit nicht nur ergänzt, sondern auch relativiert. Bedenken, daß sich die historischen Erkenntnisse über die Umwelt des Alten Israel negativ auf die Beurteilung der Authentizität auswirken könnten, zeigt Hengstenberg nicht. Die geistige Sonderstellung und die Verläßlichkeit der biblischen Überlieferung bleiben ihm unberührt. Darüber hin­aus war Hengstenberg überzeugt, daß die Ergebnisse einer selbstkritischen historischen Forschung die biblische Wahrheit schließlich bestätigen würden. So kam es dazu, daß ihm das Verdienst zugesprochen werden muß, „als erster die umstürzenden Ergebnisse der ägyptischen Archäologie in ihrer Bedeutung für die alttestamentliche Forschung wissenschaftlich ausgewertet zu haben“507.

504

  Vgl. hierzu Beckerath, Chronologie, 35–38.123–129; Thissen, LÄ 3, Sp.  1180 f.   Reventlow, Epochen 4, 289. 506   Dementsprechend nahm der Ägyptologe Georg Ebers in seinem 1868 erschienenen Werk ‚Aegypten und die Bücher Mose’s‘ auf Hengstenberg Bezug, was allein schon die Titelwahl anzeigt. In seinem Vorwort führt er aus, er werde die Aufgabe, die Hengstenberg 1841 als Theologe erstmals in Angriff genommen habe, nun von ägyptologischer Seite und – im Unterschied zu Hengstenberg – „ganz objectiv, wie das meine Wissenschaft fordert“, bearbeiten (Ebers, Aegypten, VIII–X, Zitat: X). Offensichtlich betrachtete er Hengstenbergs Buch als Ausgangspunkt für die auch von ihm behandelte Fragestellung. Vor ihm hatte bereits der Berliner Ägyptologe Richard Lepsius, wenn auch nur am Rande, auf Hengstenbergs Arbeit verwiesen (vgl. Lepsius, Chronologie, 381, Anm.  6 ). Lepsius wiederum verwendete eine Manethostudie von August Boeckh, der bei der Erörterung der Frage nach der Echtheit der unter dem Namen Manetho überlieferten Bücher Hengstenbergs kritische Sicht zum Ausgangpunkt genommen hatte (Boeckh, Manetho, 398). 507   Reventlow, Epochen 4, 288; vgl. auch Görg, Beziehungen, 2. 505

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2  Hengstenberg und die Theologie

Überblickt man Hengstenbergs apologetisch ausgerichtete Arbeiten mit ihren aufwendigen historischen Beweisführungen insgesamt, stellt sich zwangsläufig die Frage: Was wollte er damit erreichen? Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Hengstenberg nicht damit rechnete, Ungläubige auf diese Weise zum Glauben führen zu können. Der Glaube beginnt im Herzen, nicht im Kopf. Ein Glaube, der durch zwingende Beweise widerwillig, also ohne Beteiligung des Willens, ohne Neuausrichtung des Herzens zustande käme, würde laut Hengstenberg der Personalität des Menschen nicht gerecht.508 Darum kann die Apologetik die im Herzen Ungläubigen niemals überzeugen.509 Zur Anerkennung der Schrift kommt es nur durch das innere Zeugnis des heiligen Geistes im Zusammenhang mit einer Neuausrichtung des Willens.510 Als Ziel seiner historischen Arbeit gibt Hengstenberg daher an, „dasjenige, was ihm selbst durch eine höhere, als menschliche Auctorität gewiss geworden, gegen die mit menschlichen Waffen zu vertheidigen, welche diese Auctorität nicht anerkennen“511. Warum aber ist dies notwendig? Warum soll man mit menschlichen Waffen verteidigen, was sowieso nur aufgrund von höherer Autorität überzeugen kann? Hengstenberg sieht hier keinen Gegensatz zwischen göttlichem Wirken und menschlicher Aktivtät.512 Er versteht seine Arbeit als ein aus dem Glauben selbst hervorgehendes Werk, mit dem sich der Mensch gegen die Anfechtung wehrt, vergleichbar dem Gebet oder der Schriftmeditation. Den Zweifel an der Authentizität der biblischen Überlieferung und die Auflösung der Einheit der Schrift betrachtet Hengstenberg nämlich in erster Linie als eine ernste Anfechtung für den Glauben, insbesondere für den noch ungefestigten, schwachen Glauben. In Hengstenbergs Augen ist der Glaube keine unveränderliche, statische Größe. Er hat zwar seinen Ursprung in Gott, aber er bedarf der Pflege, Übung und Verteidigung durch den Menschen, um zu wachsen.513 Darum spricht Hengstenberg sehr häufig von den homines bonae voluntatis, an die er 508

  Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), 226 u.ö.   Ebd., 131, gegen Luthardts Apologetik gerichtet. In seiner Vorlesung über die ‚Geschichte des Reiches Gottes‘ kritisiert Hengstenberg mit Seitenblick auf Hofmann, man sei bei der Erklärung der alttestamentlichen Geschichte zu sehr vom apologetischen Interesse geleitet. Man wolle jetzt alles erklären, um „die Gegner [...] zur Anerkennung des Göttlichen in der alttestamentlichen Geschichte gleichsam zu zwingen, ein Beginnen, daß [sic !] nur dann seinen Zweck erreichen könnte, wenn die menschliche Natur anders beschaffen wäre, als sie wirklich ist.“ (Hengstenberg, Geschichte 1, 99). Insofern ist die Kritik, Hengstenberg verknüpfe die historische Bearbeitung der Bibel mit der „Gewißheitsfrage“ (Elert, Kampf, 89), von hier aus betrachtet, unzutreffend. 510   Vgl. Hengstenberg, Vorwort 22 (1838), Sp.  22: „Die richtige Stellung zur Schrift kann Niemandem andemonstrirt werden; sie wird nur auf dem Wege der inneren Erfahrung erlangt.“ 511   Hengstenberg, Authentie Daniel, IX. 512   Vgl. Hengstenberg, Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 (1868), Sp.  651 f. 513   Siehe dazu unen 4.2.1.1. 509

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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sich mit seinen Beweisführungen richte und denen allein der Erweis der inneren Harmonie und Stimmigkeit der Schrift nütze. Er hat hier offensichtlich Menschen im Blick, die sich bereits innerlich der Schrift und dem Glauben zugewandt haben, deren Glaube aber weiterer Befestigung bedarf. Dem ungefestigten, suchenden, aber auch dem zweifelnden Glauben möchte er Waffen gegen seine Feinde an die Hand geben. Die wissenschaftliche Untersuchung verhilft also zur Verteidigung und Rechenschaft des Glaubens angesichts seiner Infragestellung.514 Darin impliziert ist die Auffassung, daß der Glaube an die Wahrheit der Schrift sich nicht nur auf ihre Botschaft, sondern auch auf ihre Bezeugung richtet, oder anders gewendet: daß die Bestreitung der Authentizität und Echtheit der Schriften auch ihre innere Wahrheit in Frage stellt. Der Glaube an Jesus und seine Worte bezieht sich eben auch auf dessen Zeugnis über den Pentateuch, dessen Echtheit darum jedem Gläubigen, „der sich mit gläubigem Gemüthe in den Inhalt dieser Bücher versenkt, durch den heiligen Geist versiegelt [wird]“515. Und im Blick auf die Echtheit des Johannesevangeliums gelte, daß sie zwar äußerlich „nur so weit bezeugt [ist], daß der gute Wille zu einer festen Ueberzeugung gelangen kann“, doch sei sie dem „in lebendigem Glauben stehenden so sicher [...], wie das eigne Leben“516 . Innere Wahrheit und äußere Bezeugung bilden für Hengstenberg eine unzertrennliche Einheit. Daß ein biblisches Buch nicht das ist, wofür es sich ausgibt, oder nicht von dem Verfasser stammt, von dem es zu stammen behauptet, könnte in Hengstenbergs Augen nur als Betrug gewertet werden, der auch den Inhalt dessen, was das Buch bezeugt, nicht unberührt lassen würde.517 Diese Ansicht, bei der das innere Überzeugtsein von der Wahrheit des Inhalts auch die Richtigkeit der äußeren Bezeugung mit umfaßt – nicht umgekehrt! –, dürfte sich weniger einem modernen Verständnis von Verfasserschaft und geistigem Eigentum als vielmehr einer bestimmten Fassung der Lehre vom testimo514

  Vgl. auch Nafzger, Struggle, 257–261 mit dem Ergebnis, ebd., 261: „Much of Hengstenberg’s scholarly work can be viewed as an attempt to use what he considers to be genuine historical criticism to give a reason for his faith.“ Eindringlich weist Hengstenberg auf die Pflicht der Pfarrer hin, den Zweifelnden nicht mit „Bannsprüchen“ zu begegnen, sondern wissenschaftlich fundiert Rechenschaft zu geben; ja, selbst die Laien von „gläubiger Gesinnung“ seien verpflichtet, sich zumindest in elementarer Weise kundig zu machen (Vorwort, EKZ 74 [1864], Sp.  22). 515   Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, LXXVII; vgl. Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  46. 516   Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  132. 517   Entscheidend ist jeweils der Anspruch, den das jeweilige Buch selbst bezeugt, nicht die Auskunft der Tradition. Weil Hengstenberg in Pred 1,1 keine Verfasserangabe, sondern eine explizite ideale Zuschreibung sieht, hält er das Buch nicht für von Salomo stammend: „Das Buch ist nicht blos nicht von Salomo, es gibt sich auch nicht dafür aus, von Salomo zu seyn.“ (Hengstenberg, Prediger, 43). Oder auch das Buch Hiob wird poetisch und nicht historisch verstanden, weil es selbst nicht anders verstanden werden will (Hengstenberg, Ueber das Buch Hiob, EKZ 58 (1856), Sp.  169 f.; Ders., Hiob 1, 35–44).

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2  Hengstenberg und die Theologie

nium internum spiritus sancti Calvins verdanken. Das legt zum einen die wiederholte Redeweise von der „Versiegelung durch den heiligen Geist“518 im Blick auf die Schrift nahe. Zum anderen – und noch wichtiger –, daß sich Hengstenbergs Beurteilung der Beweise für die Wahrheit der Schrift ganz mit Calvins Perspektive deckt, derzufolge man zwar viele gute Gründe für die Göttlichkeit der Schrift anführen kann, die entscheidende Veränderung im Herzen aber nur vom Zeugnis des Geistes bewirkt werden kann.519 Hengstenberg dehnt nun in Aufnahme der Herausforderungen seiner Zeit das innere Zeugnis des Heiligen Geistes von der Göttlichkeit der Schrift so weit aus, daß auch die äußere Bezeugung einzelner Schriften, ihre Verfasserangaben und ihre Historizität eingeschlossen sind.520 Damit werden historische Fragen in einer problematischen Weise theologisch aufgeladen, und historische Aussagen werden mit einer Gewißheit versehen, zu der man mittels historischer Forschung nicht gelangen kann.521 Dieser Aporie hat sich Hengstenberg nicht gestellt. Mit seinen apologetischen Arbeiten zu den messianischen Weissagungen und den Einleitungswissenschaften hat Hengstenberg zu seiner Zeit große Aufmerksamkeit erregt. Sie waren eine Provokation und sollten es auch sein. Vielleicht waren sie es gerade deshalb, weil sich Hengstenberg, was die methodische Detailarbeit angeht, in der Arbeitsweise gar nicht so sehr von seinen Gegnern unterschied und gleichwohl zu völlig anderen Ergebnissen kam. Trotz aller Di­ stanzierung von seinen Gegnern war Hengstenberg doch im Einklang mit ihnen von der Leistungsfähigkeit historischen Arbeitens überzeugt.522 Damit ist er ganz Kind seiner Zeit. 150 Jahre früher hätte man seiner Arbeitsweise wenig Verständnis entgegengebracht.523 Seine Kritik an der historischen Kritik (vgl. oben) bezieht sich also vor allem auf deren weltanschauliche Prämissen, eine Alternative zur historisch-rational argumentierenden Methode konnte er jedoch nicht bieten. Mit der grundsätzlichen Ablehnung der die Echtheit und Einheit der Schrift in Frage stellenden Kritik geht darum eine Arbeitsweise einher, die sich nicht in gleicher Weise grundsätzlich von derjenigen seiner Geg­ 518   Siehe bei Anm.  515 und die gleichlautende Formulierung Calvin, Inst. I, 7,4 (OS 3, 70,4 f.). 519   Calvin, Inst. I, 7,4–5 und die äußeren Gründe für die Wahrheit der Schrift in I, 8. 520   Wahrscheinlich ist dies ganz im Sinne Calvins, wenn man seine Reaktion auf die Bestreitung der Kanonizität des Hohenliedes durch Castellio bedenkt (vgl. dazu van’t Spijker, Calvin, 167). 521   Vgl. zur Kritik dieser Vorgehensweise Elert, Kampf, 90 f.; Althaus, Wahrheit, 159 f. oder den Einspruch des zeitgenössischen Lutheraners Kahnis, Grundwahrheiten, 88 f. 522   Dies wird sehr deutlich in einem Artikel, in dem Hengstenberg die Unechtheit der Ehebrecherinperikope in Joh 8 als „ein feststehendes Resultat der kritischen, sprachlichen und theologischen Erforschung“ verteidigt (Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  649). 523   Zu Recht hebt daher Kahnis, Grundwahrheiten, 83 f. auf den Unterschied zwischen Luther bzw. lutherischer Orthodoxie und Hengstenberg ab, er übergeht dabei allerdings, daß Luther Hengstenbergs Diskussionslage noch nicht kannte.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

229

ner unterscheidet.524 Ein kritisches Urteil gehört nun einmal zu historischer Arbeit, selbst wenn es – worauf Hengstenberg zu Recht hinweist – nicht vorurteilsfrei zustande kommen kann. Hengstenberg konnte die Berechtigung der Kritik letztlich nur an ihren Ergebnissen abmessen. Er war aber nicht in der Lage, zu zeigen, wann das kritische Werkzeug selbst seinem Gegenstand angemessen ist und wann nicht. So haben sich die offen zugegebene Positionalität und der Versuch, trotzdem wissenschaftlich und allgemein nachvollziehbar zu argumentieren, nachteilig auf die Rezeption von Hengstenbergs apologetischen Werken ausgewirkt. Zwar hat man seine ‚Christologie‘ als „epochemachend“525 bezeichnet, doch war sie dies im strengen Sinne nur unter Forschern ähnlicher Ausrichtung.526 Zutreffend ist die Bezeichnung aber in dem weiteren Sinne, daß sich Hengstenberg mit seinen Arbeiten erfolgreich gegen die Abwertung des ersten Teils des biblischen Kanons in der christlichen Kirche zur Wehr gesetzt hat, wie sie sich mit Schleiermachers oder auch Hegels Werk zu verbreiten begann 527. Insofern hatte seine Provokation katalysatorische Wirkung. Betrachtet man Hengstenbergs alttestamentliche Publikationen insgesamt, fällt allerdings auf, daß die apologetischen Werke in Hengstenbergs frühere Jahre gehören (bis 1841), während er ab Mitte der 40er Jahre fast nur noch Kommentare veröffentlicht. Zwar erscheint in den 50er Jahren noch die zweite Ausgabe der ‚Christologie‘, aber allein die zahlreichen Veränderungen weisen darauf hin, daß seine Entwicklung weitergegangen war. Mit zunehmendem Alter mehren sich überdies die kritischen Äußerungen über eine Art von Apologetik, welche meint, den Gegnern die Wahrheit aufzwingen zu können.528 Ob hinter der Tatsache, daß Hengstenberg im Lauf der Zeit immer weniger Beiträge zur Einleitung und dafür umso mehr Kommentare zu beiden Teilen der Bibel vorlegte, eine bewußte Akzentverschiebung steht, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Im Ergebnis verlagert sich aber sein Arbeitsschwerpunkt sichtbar von der äußeren Verteidigung der Echtheit und Historizität der biblischen Schriften hin zu ihrer theologischen Erschließung.

524

  Vgl. Diestel, Geschichte, 616.664. Hierin hat auch der häufig geäußerte Vorwurf, Hengstenberg könne seine eigene Konsequenz nicht durchhalten, seinen berechtigten Anhalt (vgl. z. B. Baur, Kirchengeschichte, 420–424 oder Schwarz, Theologie4, 91 f.). 525   Oehler, Theologie, 55; auch Kahnis, Gedächtniß, Sp.  417 nennt Hengstenberg einen Theologen „von epochemachender Bedeutung auf dem Gebiet der alttestamentlichen Wissenschaft“. 526   Neben den Schülern Hengstenbergs wäre hier vor allem Delitzsch zu nennen, der in seinem Forschungsüberblick die neueste Entwicklung der biblisch-prophetischen Theologie mit der ‚Christologie‘ Hengstenbergs beginnen läßt (Delitzsch, Theologie, 164–170). 527   So auch Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421 f.425; Kurtz, Söhne Gottes , X f.; vgl. zu der Abwertungstendenz Kraus, Geschichte, 175–179; Beckmann, Wurzel, 133–135. 528   Siehe oben Anm.  509.

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2  Hengstenberg und die Theologie

2.3.3  Theologische Auslegung 2.3.3.1  Übersicht über die Kommentare und ihre Eigenart 2.3.3.1.1 Überblick.  Hengstenbergs zahlreichen Kommentare sind heute weniger bekannt als seine apologetisch ausgerichteten Werke. Dennoch dürfte er mit den Kommentaren weitaus prägenderen Einfluß ausgeübt haben als mit den langatmig argumentierenden, schwer verdaulichen Einleitungswerken, schon allein deshalb, weil er wichtige Partien aus seinen Kommentaren meist vorab in der EKZ einem größeren Publikum präsentierte und auf diese Weise zur Verbreitung ihrer Grundansichten beitrug.529 Dazu kommt der wichtige Faktor, daß Hengstenbergs Kommentare predigttauglich, ja im gewissen Sinne selbst Predigten waren.530 Die Schwerpunktverlagerung hin zur Auslegung brachte nämlich zugleich eine stärker „asketische“ Darstellungsweise mit sich, die neben der Wissenschaft auch auf die Erbauung im Glauben zielte. Hengstenberg gibt selbst die „Meidung alles eigentlich Ascetischen“531 als Charakteristikum seiner frühen Werke an, während er bereits im Vorwort seines Psalmenkommentars von 1842 auf das „ascetische Element“532 hinweist, das ihn durchziehe. Aus Hengstenbergs Feder sind sieben vollständige Kommentare erschienen, fünf zum Alten Testament – zu den Psalmen (4 Bde., 1842–1847) 533, zum Hohenlied (1853), zum Prediger Salomo (1859), zu Ezechiel (2 Bde., 1867 f.) und zu Hiob (2 Bde., 1875 postum) – und zwei zum Neuen Testament – zur Offenbarung (2 Bde., 1849–1851) 534 und zum Johannesevangelium (3 Bde., 1861– 1863).535 Daneben treten Auslegungen zu größeren Schriftpassagen: 1842 die bereits genannte Schrift über die ‚Geschichte Bileams und seiner Weissa529   Vgl. oben die Übersicht in Anm.  327. Hengstenberg wirkte auch dadurch, daß sich Otto von Gerlach in seinem weit verbreiteten Bibelwerk an ihn anlehnte (s. Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421). 530   Der Ezechielkommentar ist explizit für den „berufstreue[n] Pastor“ gedacht, der es sich zur Lebensregel macht, „täglich sein Capitel wie in dem Grundtexte des N.T., so auch in dem des A.T. zu lesen“ (Hengstenberg, Ezechiel 1, III); auch der Johanneskommentar ist für die Predigtvorbereitung gedacht (vgl. Ders., Johannes, IV). Vgl. auch Taylor, Old Testament, 318 f., der hinsichtlich des wissenschaftlichen Charakters der Kommentare aber vermerkt: „one has the feeling that he has written the right essay for the wrong occasion“ (ebd., 319). Schon Kahnis, Grundwahrheiten, 109 übt Kritik an dem „bunten Nebeneinander von Wissenschaftlichem und Ascetischem“. 531   Hengstenberg, Christologie2 1, V. 532   Hengstenberg, Psalmen, Vorwort (ohne Seitenzählung), ebenso auch in seinem letzten Kommentar, Ders., Ezechiel 1, III: „Es wird besonders darauf ankommen, ob es der Auslegung gelungen ist, erbaulich zu seyn, ohne durch Einmischung ascetischer Betrachtungen aus ihrem eigenthümlichen Gebite herauszutreten.“ 533   2. Auflage, Berlin 1849–1852. 534   2. Auflage, Berlin 1861–1862. 535   2. Auflage, Berlin 1867–1870. – Ein Kommentar zum Matthäusevangelium befand sich sehr wahrscheinlich in Vorbereitung (vgl. oben bei Anm.  327).

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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gungen‘536 , 1875 erschienen postum die ‚Vorlesungen über die Leidensgeschichte‘537. Als opus magnum unter den Kommentaren kann zweifellos der vierbändige Psalmenkommentar gelten. An ihm wird deutlich, daß Hengstenberg keinen Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Erklärung und asketischer Vergegenwärtigung des Erklärten kennt, denn: „Die Psalmen sind Erzeugnisse heiliger Empfindung, die nur von denjenigen verstanden werden können, in denen dieselbe Empfindung lebendig wird. Dahin zu wirken ist also recht eigentlich Aufgabe des Auslegers.“538 In den vier Bänden schöpft Hengstenberg reichlich aus Luthers Psalmenauslegungen (vgl. auch das Vorwort), darüber hinaus zeigt seine Bibliothek, daß er de Wettes Psalmenkommentar in verschiedenen Auflagen studiert und konsultiert hat.539 Der theologische Akzent des Werkes wird durch den Schlußteil bekräftigt, der eine kurzgefaßte Theologie der Psalmen bietet, die insbesondere die Affinität der Glaubenslehre der Psalmen zum christlichen Glauben hervorhebt. So gelte hinsichtlich des Gesetzesverständnisses der Psalmen: „Das Leben der heiligen Sänger wird nicht von der knechtischen Furcht, sondern von der Liebe, nicht von einem buchstäblichen Gesetze, sondern von dem Gesetze der Freiheit regiert.“ (296) Auch stimme die Lehre von der Rechtfertigung in den Psalmen im wesentlichen mit der christlichen überein (189 f.). In Übereinstimmung mit Luther wird dafür Ps 51 als herausragendes Zeugnis angeführt. Aber auch dann, wenn ein Abstand zum christlichen Glauben bleibe, wie beispielsweise hinsichtlich der Lehre vom ewigen Leben, tue dies der Inspiration der Psalmen keinen Abbruch: „Sie haben nicht etwa Irriges ausgesagt, sondern sie haben nur die ganze Wahrheit nicht gewußt“ (320), und nur den Irrtum aber „nicht die Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit der Erkenntniß“ schließe die göttliche Eingebung aus (322). Zudem seien die Psalmen hierdurch nicht weniger tröstlich gewesen, denn „die Substanz des Glaubens an ein ewiges Leben“ sei „auch bei fehlendem klarem Bewußtseyn“ vorhanden gewesen (326).

Besonders wichtig sind daneben die Kommentare zur Offenbarung und zum Johannesevangelium. Das johanneische Schrifttum hielt Hengstenberg in besonderer Weise für geeignet, Licht in die Gegenwart zu bringen, wie am Beispiel des Apokalypsekommentars unten gezeigt werden wird (siehe 2.3.3.2). Außerdem bot es sich durch seine im Alten Testament verwurzelte Bild- und Sprachwelt zur Kommentierung durch den Alttestamentler an. 536   Der erste und letzte Teil des Werkes (Hengstenberg, Bileam 1–25.221–290) trägt stärker den Charakter der Einleitungswerke, der Mittelteil bietet einen Kommentar von Num 22–24. 537   Es handelt sich um eine Darstellung und Kommentierung der Leidensgeschichte anhand der harmonisch gelesenen vier Evangelien, die im Anhang auch die „Geschichte der Auferstehung Christi“ bietet. Hierzu erschien eine Vorform in der EKZ: ‚Die angeblichen Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung Jesu und die Erscheinungen des Auferstandenen‘, EKZ 29 (1841), Sp.  489–492.497–504. 505–512.513–520.521–523, Nr.  62–66. 538   Hengstenberg, Psalmen, Vorwort. 539   Vgl. unten den Exkurs zu Hengstenbergs Bibliothek.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Unter den neutestamentlichen Exegeten gibt es dabei keinen, der für Hengstenberg bedeutender gewesen wäre als J.A. Bengel. Bengels Gnomon wird ständig konsultiert.540 Für die Auslegung der Offenbarung hat Hengstenberg intensiv Bengels ‚Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis‘541 benutzt, deren erbaulicher Charakter Hengstenbergs eigenem Interesse zweifellos entgegenkam. Auch die ‚Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi‘ (Stuttgart 1740) gehörte zu Hengstenbergs Bibliothek.542 Was Hengstenberg an Bengel schätzte, war sein „Geist der Hingabe an die Schrift“ und „der mikroskopischen Beobachtung“543. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich an zentraler Stelle von Bengel zu trennen, wohl wissend, daß er damit den Widerwillen seiner Leser aus dem pietistisch-erwecklichen Milieu, v.a in Württemberg, auf sich ziehen würde: 544 Hengstenberg sieht in der Apokalypse weder einen Fahrplan der Geschichte noch einen Beleg für ein zukünftiges Tausendjähriges Reich. Neben Bengel stellte C. Vitringas ‚Anacrisis Apocalypseos Joannis‘ (Amsterdam 1719) einen der wichtigen Bezugpunkte bei der Auslegung der Apokalypse dar.545

2.3.3.1.2 Allgemeine Auslegungsgrundsätze.  Hinsichtlich der für Hengstenberg charakteristischen Auslegungsweise spielen zwei Grundannahmen eine zentrale Rolle, auf die bereits oben aufmerksam gemacht wurde: die Annahme der Geschichtlichkeit der Schrift und die Überzeugung von der Einheit der Schrift. Einerseits hält Hengstenberg die Einordnung der biblischen Bücher in ihren historischen Kontext für unverzichtbar. Es könne nur dann, wenn die Zeit, in die hinein ein biblischer Autor gesprochen hat, möglichst genau erfaßt werde, die Relevanz seiner Botschaft für eine spätere Zeit erfaßt werden, wie unten am Beispiel der Offenbarung gezeigt werden wird. Andererseits erschöpfen sich die biblischen Schriften nicht in ihrem historischen Kontext. Sie sind von Anfang an auf Ergänzung angelegt, sie sind immer schon Teil des umfassenden Ganzen, das Gott den Menschen zu offenbaren im Begriff ist. Im Unterschied zu de Wette, der eine Auslegung des Einzelnen im Gesamtzusammenhang ablehnte,546 machte sich Hengstenberg eine Weisheit zu eigen, die Plinius hinsichtlich der Natur vetrat: „Naturae rerum vis atque majestas in omnibus momentis fide 540   Die Randstriche an seinem Exemplar des Gnomons (UChL, Signatur: BS2335.B45 1773) präzisieren diesen Eindruck: Gekennzeichnet sind durchgängig Stellen in der Apokalypse und in den Evangelien, v. a. im Johannesevangelium. Daneben wurden Bengels Bemerkungen zu Jak 1 und 2 markiert. Nur vereinzelte Markierungsstriche finden sich hingegen im paulinischen Schrifttum und im Hebräerbrief. 541   Vgl. sein Exemplar: UChL, SCRC, Signatur: BS3826.B48. Neben der benutzten Ausgabe von 1748 besaß Hengstenberg noch zwei weitere Exemplare des Werkes (Stuttgart 1758 und Stuttgart 1834; vgl. Catalog, 336,88 und 344,300). 542   S. Catalog, 139,135 – Hengstenbergs Exemplar ist aber nicht erhalten. 543   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 127. 544   Hengstenberg, Offenbarung 1, VIII über die Kritik an Bengel, „dem ich im Einzelnen mehr als irgend einem andern Ausleger der Offenbarung zu verdanken gerne bekenne“. 545   Hengstenbergs Exemplar (UChL, SCRC, Signatur: BS3826.V8) ist durchgängig mit Randmarkierungen versehen. 546   Vgl. Kraus, Geschichte, 171.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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caret, si quis modo partes ejus ac non totum complectatur animo“547 – Kraft und Majestät der Schrift gehen verloren, wenn nur Teile und nicht das Ganze ergriffen wird. Erst die Verortung des Einzelnen im Gesamtzusammenhang der Schrift führt nach Hengstenberg von der historischen Auslegung zur theologischen. Dabei stellt Hengstenberg gar nicht in Frage, daß in der Schrift auf den ersten Blick nicht alles harmonisch zusammenklingt, vieles sogar widersprüchlich erscheint. Wäre dies anders, würde die gelehrte Schriftforschung schließlich überflüssig.548 Indem aber die Schriftforschung die Besonderheiten der einzelnen Schriften darlegt, indem sie in die schwierigen und dunklen Stellen eindringt, fördert sie – so die Grundüberzeugung Hengstenbergs – zugleich die innere Harmonie des Ganzen zutage. Das Kennzeichen gelungener Schriftauslegung ist mithin nicht die Auflösung der Schrifteinheit, sondern ihre Bestätigung. Hierzu muß alle Gelehrsamkeit und aller analytische Scharfsinn aufgeboten werden. Dabei geht es nicht an, bestimmte Stellen mithilfe eines vorgefaßten dogmatischen Systems zu neutralisieren. Hinsichtlich der Anwendung der analogia fidei kann Hengstenberg warnen, daß sie in älterer Zeit der Schriftauslegung sehr geschadet habe.549 Was Hengstenbergs Auslegung im einzelnen angeht, können hier nur wenige andeutende Hinweise gegeben werden.550 Aus der Betonung der Einheit der Schrift folgt von selbst, daß innerbiblischen Querbezügen besondere Bedeutung beigemessen wird. Für die beiden neutestamentlichen Kommentare bedeutet das, daß bei der Auslegung reichlich auf die Sprach-, Symbol- und Ge547   Hengstenberg, Geschichte, 12. Der Gedanke von der Harmonie der Schrift in Analogie zum organischen Ganzen der Natur wird im 19. Jahrhundert ansonsten pointiert von J.T. Beck vertreten. 548   Man kann nach Hengstenberg auch mit der „biblia Pauperum“ selig werden, also einer Vertrautheit mit der Bibel, die sich nur ihren klaren und einfachen Stellen verdankt, doch die Aufgabe der Schriftgelehrten ist es, sich nicht damit zu begnügen und auf die faule Haut zu legen, sondern mit allen Kräften nach der Wahrheit der ganzen Schrift zu ringen: „Es wäre ein schlechtes Privilegium, wenn der Herr also über der Bibel waltete, daß solchen, die der Forschung fähig sind, durch dies Walten dieselbe unnötig gemacht würde. [...] Das erkennen wir vorläufig schon daraus, daß die Thatsachen so völlig jener Annahme von einem die Arbeit unnötig machenden Walten Gottes widersprechen, überall in der Schrift Anstöße, Unsicherheiten, Zweifelsknoten ausgestreut sind, welche die Arbeit so dringend herausfordern.“ (Hengstenberg, Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  653). 549   Vgl. Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  567, wo darauf aufmerksam gemacht wird, „wie bedenklich es ist, den Sinn der einzelnen Aussprüche nicht aus ihnen selbst, sondern aus einer vermeintlichen ‚Analogie des Glaubens‘ zu bestimmen, die in älterer Zeit der Schriftauslegung so unendlichen Schaden zugefügt hat.“ Ebd., Sp.  559.571.573 wird auch mit einer Schriftauslegung „in den Banden einer verrosteten Dogmatik“ (Sp.  559) ins Gericht gegangen. – Als zusätzliches, bestätigendes Kriterium kann Hengstenberg jedoch gleichwohl auf eine als Ausdruck des Gesamtzeugnisses der Schrift verstandene analogia fidei zurückgreifen (vgl. Ders., Das sog. Tausendjährige Reich, EKZ 66 [1860], Sp.  220). 550   Mit den in der Einleitung genannten Vorbehalten kann hierfür auf Davis, Hermeneutics verwiesen werden.

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2  Hengstenberg und die Theologie

dankenwelt des Alten Testaments zurückgegriffen wird.551 Im Aufweis einer Fülle alttestamentlicher Bezüge liegt denn auch der bleibende Wert der beiden Kommentare zum Neuen Testament. Hengstenberg macht hier ernst mit der gegenüber Schleiermacher und dessen Schülern vertretenen These, daß man das Neue nicht ohne das Alte Testament haben könne (vgl. oben 2.2.1). Leitend ist für Hengstenberg darüber hinaus der Grundsatz, das Ziel der Auslegung sei, einen eindeutigen Textsinn aufzuweisen, denn die Kirche könne „in Auslegung der heiligen Schriften, die ihr als eine Leuchte auf ihren dunklen Wegen mitgegeben sind, nimmer auf ’s Rathen angewiesen seyn“552 . Zur Erhebung des eindeutigen Textsinns dienen die beiden genannten Kontextualisierungsbemühungen: Einordnung in den historischen und in den biblischen Kontext. Das Insistieren auf der Eindeutigkeit der Auslegung bedeutet jedoch kein generelles Votum für den Literalsinn.553 Auch eine allegorische Auslegung kann eindeutig sein, nämlich dann, wenn eine Schrift auf ein allegorisches Verständnis hin konzipiert wurde.554 So tritt Hengstenberg im Gegensatz zur Exegese seiner Zeit vehement für das in der Kirche seit Jahrhunderten übliche allegorische Verständnis des Hohenliedes ein.555 Dabei kommt im besonderen Maße 551   So bildet die alttestamentliche Apokalyptik, insbesondere diejenige des Danielbuches, mit der sich Hengstenberg ja bereits in den ‚Beiträgen zur Einleitung‘ ausführlich befaßt hatte, einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Symbolwelt der Offenbarung des Johannes (vgl. Hengstenberg, Offenbarung, VIII); analog bringt Hengstenberg bei der Erläuterung des Logosbegriffes im Johannesevangelium seine Kenntnisse der alttestamentlichen Weisheit ein (Hengstenberg, Johannes 1, 6–17). Hieraus erhellt, warum sich Hengstenberg von der Bearbeitung des Alten Testamentes herkommend zur Kommentierung neutestamentlicher Bücher berufen sah und warum er sich schließlich auch dem Matthäusevangelium zuwandte, vgl. Ders., Das Evangelium des heiligen Matthäus (1. Artikel), EKZ 76 (1865), Sp.  361 f.: „Für den Zusammenhang des A. und N. Bundes ist das erste Evangelium eigentlich bahnbrechend. [...] Die Verweisungen auf das A.T. setzen überall eine genaue Bekantschaft der ersten Leser mit dem A.T. voraus.“ 552   Hengstenberg, Offenbarung 1, 536; vgl. Ders., Johannes 1, 409; Hohelied, VI.264. 553   Vgl. dazu auch Davis, Hermeneutics, 42–47, dessen Überschrift „Rejection of Allegorical and Literal Interpretation“ allerdings mißverständlich ist. 554   Hengstenberg, Ueber das hohe Lied, EKZ 1 (1827), Sp.  179: „Denn man muß wohl unterscheiden zwischen Schriften, die nach dem Willen des Verfassers historisch verstanden werden sollen und solchen in denen der Verfasser selbst ein geistiges Verhältniß nur unter sinnlicher Hülle darstellen will.“ Bei letzteren sei „die allegorische Erklärung der Absicht des Schriftstellers angemessen und daher die einzig richtige“. Theologisch wird die allegorische wie überhaupt die bildliche Redeweise der Schrift mit dem Akkommodationsgedanken begründet (ebd.). Daß Hengstenberg dafür ausgerechnet die anthropomorphe Redeweise vom zornigen und liebenden Gott als Beispiel anführt, gibt zur Vermutung Anlaß, daß es sich dabei um Calvins Konzept handelt (Calvin, Inst. I, 17,12 f.; vgl. Battles, Calvin, 117– 137). 555   Nicht ohne deutliche Kritik an den Ergebnissen der älteren Exegese zu üben: So lehnt Hengstenberg eine alleinige Deutung des Hohenliedes auf das Verhältnis zwischen Christus und der Gemeinde ab, weil es dadurch ganz aus dem „geschichtlichen Zusammenhang“ herausgerissen würde; auch der ganz auf die einzelne Seele bezogenen Auslegung steht er skeptisch gegenüber (Hengstenberg, Ueber das hohe Lied, EKZ 1 (1827), Sp.  189). Ein anderes Beispiel für ein notwendigerweise allegorisches Verständnis bietet Joh 21 (vgl.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

235

die Kombination von historischer und theologischer Interpretation zum Tragen, indem der Sinn des Buches sowohl aus seiner Zeit als auch „aus der Vergleichung des gesammten symbolischen Sprachgebrauches der Schrift“ gewonnen wird.556 Es gilt hier, was bereits hinsichtlich Heng­stenbergs Inspirationsverständnis aufgewiesen wurde. Die Forderung der eindeutigen Auslegung führt ebensowenig wie die Annahme der Inspiration zu einer einheitlichen Betrachtung aller biblischen Bücher. Vielmehr findet Hengstenberg die Eindeutigkeit des Schriftwortes gerade darin, daß er jedes biblische Buch in seiner pointiert herausgestellten Eigenart wahrzunehmen versucht. Regelmäßig betont er, man müsse die „Eigenthümlichkeit biblischer Rede“ wahrnehmen, es gelte, „sich sinnend zu vertiefen in die Eigenthümlichkeiten von Büchern, die von unserer gegenwärtigen Weise so weit abweichen“557. So legt Hengstenberg bei der Auslegung der Prophetie sein Verständnis der prophetischen Rede als Schau zugrunde und richtet sich damit sowohl gegen eine streng buchstäbliche als auch gegen eine rein bildhafte Auffassung.558 . Die Psalmen hingegen werden als „Erzeugnisse heiliger Empfindung“559 verstanden, das Buch Hiob als „freie Dichtung“, deren „geschichtliche Wahrheit“ in der Erfahrung des Verfassers zu suchen sei; 560 ähnliches gilt für den Prediger Salomo, der nicht von Salomo selbst stamme; 561 das Hohelied ist, wie gesagt, durch und durch allegorisch, das Buch Ezechiel sperrt sich aufgrund des poetischen Charakters der bildhaften Partien gegen eine „crasse buchstäbliche Auffassung“562 und die geschichtlichen Partien des AT sind, wie oben dargelegt, als dezidiert theologische Geschichtsschreibung aufzufassen. Dementsprechend wirft Hengstenberg der älteren Exegese, Hengstenberg, Johannes 3,329), während in Joh 4,16–18 die symbolische Auffassung auf der geschichtlichen aufruhend vertreten wird (ebd. 1, 263) 556   Hengstenberg, Hohelied, VI: „Es ist mein höchstes Bestreben gewesen die Auslegung ganz aus dem Gebiete des Ra­thens, der Einfälle herauszubringen, in dem sich die ältere kirchliche Auslegung vielfach, die moderne buchstäbliche fast durch­gängig bewegt, wie schon daraus erhellt, daß unter den neueren selbständigen Auslegern auch nicht zwei in den Haupt­punkten übereinstimmen. Ich habe überall nicht blos behauptet, sondern bewiesen, bewiesen besonders aus der Ver­gleichung des gesammten symbolischen Sprachgebrauches der Schrift, in dem sich der tieferen Forschung eine wunderbare Einheit und Klarheit kundgibt.“ Vgl. dazu Ders., Ueber das hohe Lied, EKZ 1 (1827), Sp.  188: „Man darf nicht für jedes einzelne Bild etwas entsprechendes aufsuchen, sondern man muß vorher die einzelnen Bilder in ein Gesammtbild vereinigen und dann wird sich das entsprechende mit Leichtigkeit auffinden lassen.“ Viele Beispiele für eine am Symbolgehalt von biblischen Bildern orientierte Auslegung bietet auch der Ezechielkommentar, insbesondere der Exkurs über die Cherubim (Ders., Ezechiel 1, 252–296). 557   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  40 f. (beide Zitate). 558   Hengstenberg, Christologie1 1/1, 317–324. 559   Siehe oben Anm.  538. 560   Hengstenberg, Ueber das Buch Hiob, EKZ 58 (1856), Sp.  170. 561   S.o. Anm.  517. 562   Hengstenberg, Ezechiel 1, 255; die poetische Deutung eines Textes bietet Hengstenberg verschiedentlich, so wird auch für den Schöpfungsbericht in Gen 1 geltend gemacht, er habe „gewissermaßen poetischen Charakter“ (Ders., Vorwort, EKZ 70 [1862], Sp.  56).

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2  Hengstenberg und die Theologie

sei sie nun orthodox oder rationalistisch, vor, sie habe die Eigenarten der biblischen Bücher eingeebnet und gerade darum deren eindeutige Aussageabsichten nicht erkennen können. Eine regelrechte Methode zur Erfassung jener Eigenarten – jenseits der genannten Grundsatzaussagen – bietet Hengstenberg jedoch ebensowenig wie eine umfassende Gattungsübersicht. Stattdessen empfiehlt er das Sich-Einleben, das „sinnende Vertiefen“ in ein biblisches Buch als geeignetes Verfahren,563 um seinem spezifischen Charakter auf die Spur zu kommen, dessen Erfassung allererst eine eindeutige Auslegung ermögliche. Damit hängt eine weitere erwähnenswerte Besonderheit der Hengstenbergschen Kommentare zusammen: Man findet in ihnen die Einleitungsfragen nicht am Anfang, sondern am Ende der Auslegung.564 Zwar wird der Leser gelegentlich darauf hingewiesen, daß er sich auch vorab am Ende des Werkes über die Entstehungsverhältnisse des betreffenden biblischen Buches informieren könne, der Kommentar beginnt aber sofort mit der Auslegung. Auf diese Weise möchte Hengstenberg darauf aufmerksam machen, daß sich die Einleitungsfragen aus dem Vertiefen in das Buch, aus der Lektüre und der genauen Auslegung selbst ergeben. Theorien zur geschichtlichen Entstehung eines Buches lassen sich demnach erst diskutieren, wenn man durch die intensive Beschäftigung mit dem Text selbst einen Maßstab zu ihrer Beurteilung gewonnen hat. Auf diesen Weg wird der Leser mitgenommen. Das Ver­fahren steht allerdings in Spannung zu dem Grundsatz, daß die Kenntnis des historischen Ortes für die Auslegung unverzichtbar sei. Aus diesem Grund bietet Hengstenberg bisweilen zusätzlich einige kurze Hinweise bereits am Anfang, die dann am Ende vertieft und begründet werden.565 Zuletzt sei noch auf die philologische Kleinarbeit als Charakteristikum der Auslegungsweise Hengstenbergs verwiesen. Nicht umsonst ist ihm Bengel mit seinen „mikroskopischen Beobachtungen“ ein Vorbild. Ausführliche Er­ wägungen zur Herkunft sowie zu den Grund- und kontextvariierenden Be­ deutungen einzelner Wörter und zu grammatischen Details finden sich durchgängig in allen Kommentaren. Dabei greift Hengstenberg nicht selten auf die 563   Ähnlich beteuert Hengstenberg, Offenbarung 1, VIII, sein Bestreben, „mit Auf bietung aller mir verliehenen Kraft auszulegen, einzudringen, abzulauschen“. Vgl. auch Ders., Vorwort, EKZ 84 (1869), Sp.  37: „Die Auslegung der Schrift erfordert eben mehr, als so Manche denken, einen Geist, der in ihren Geist tief eingeweiht ist.“ 564   Darauf weist Hengstenberg, Christologie2 1, IV explizit hin. Eine Ausnahme bildet nur der verhältnismäßig dünne Kommentar zum Prediger. Auch im Ezechielkommentar findet sich nur ein kurzer, überblicksartiger „Rückblick“ am Ende (Hengstenberg, Ezechiel 2, 336–343), doch war dies offentsichtlich anders geplant (ebd. 1, IV). Wahrscheinlich waren Hengstenbergs nachlassende Kräfte wenige Monate vor seinem Tod dafür verantwortlich, daß er die Einleitungsfragen nicht mehr ausführlich ausgearbeitet und an den Schluß gesetzt hat. 565   Vgl. Hengstenberg, Offenbarung, wo am Anfang die Abfassungszeit (1, 1–51) und am Ende die Eigenart der Apokalypse sowie die Verfasserfrage diskutiert werden (2/2, 82– 230).

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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semitischen Nachbarsprachen zurück, wozu er durch das Studium der Altorientalistik in besonderem Maße befähigt war. 2.3.3.2  Gegenwartsrelevanz als Charakteristikum theologischer Auslegung Abgesehen von den allgemeinen Auslegungscharakteristika ist schließlich gesondert auf ein spezielles Merkmal der theologischen Auslegung einzugehen, das in engem Zusammenhang mit Hengstenbergs Offenbarungsverständnis steht: die Annahme der Gegenwartsrelevanz biblischer Texte. 2.3.3.2.1 Grundsätzliches.  Als heilige und insofern von allen anderen Büchern unterschiedene Schrift erweist sich die Bibel in Hengstenbergs Augen insbesondere dadurch, daß sie zu allen Zeiten zur Kirche spricht. In der Annahme, daß ein biblisches Buch nicht nur zur eigenen Zeit rede, sieht er auch das treibende Moment für dessen Aufnahme in den Kanon. Ein Buch, das nur für eine vergangene Zeit oder eine einzelne Person Bedeutung hätte, wäre niemals Teil der Heiligen Schrift geworden.566 Aus diesem Grund wird es für Hengstenberg zum Lackmustest einer jeden Auslegung, ob es ihr gelingt, die Schrift als gegenwärtig redende hörbar zu machen, oder ob sie das biblische Wort so in die Vergangenheit verweist, daß es für die Gegenwart irrelevant wird. Zu Recht versieht Davis Hengstenbergs Hermeneutik daher mit dem Titel ‚Edifying value as exegetical standard‘567. „Erbauung“ darf dabei allerdings nicht in einem schlicht-positiven Sinne als „erbaulich“ verstanden werden, sondern in umfassender Weise als Auferbauung der Kirche, zu der nicht nur Trost, sondern auch Mahnung und Weisung dienen. Regelmäßig bestimmt Hengstenberg das gegenwärtige Reden der Schrift mit 2 Tim 3,16 als Ermahnung, Warnung und Trost.568 Die Frage nach der Gegenwartsrelelevanz führt darum auch nicht dazu, daß Hengstenberg das Fremde und Abständige des Bibeltextes vernachlässigen würde. Im Gegenteil: Was das Alte Testament angeht, streicht er 566   Das ist Hengstenbergs stärkstes Argument gegen die historisch-buchstäbliche Auslegung des Hohenliedes: Die Sammler hätten nur das in den Kanon aufgenommen, „was in bezug auf das Verhältniß Gottes zum Israelitischen Volke stand, was als Geschichte, Weissagung, Erguß der Andacht, oder Lehre zur Belebung des theokratischen Sinnes und zur Beförderung eines gottseligen Lebens geeignet war. Sie mußten daher bei der Aufnahme des hohen Liedes die feste Ueberzeugung haben, daß es nicht die gemeine sinnliche Liebe, sondern die Liebe Jehovas zu seinem Volke besinge.“ Die entscheidende historische Frage ist also immer, „von welchen Grundsätzen die Sammler bei der Aufnahme in die Sammlung heiliger Schriften ausgegangen sind“, die in viel größerer zeitlicher Nähe zur Abfassung des Buches lebten (Hengstenberg, Ueber das hohe Lied, EKZ 1 [1827], Sp.  185 f.). Vgl. auch Ders., Hohelied, 258: „Bei der buchstäblichen Auffassung findet sich im ganzen Hohenliede keine religiöse Beziehung.“ 567   Davis, Hermeneutics, Untertitel und 9–15. 568   Z.B. Hengstenberg, Offenbarung 1, 54; vgl. ebd., VII; s. auch unten bei Anm.  399. Erstaunlicherweise geht Davis auf den mit 2 Tim 3,16 genannten biblischen Ursprung des Erbauungskonzeptes nicht ein.

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2  Hengstenberg und die Theologie

dessen Fremdartigkeit immer wieder heraus. Genau genommen widerspricht die Fremdartigkeit der Texte auch gar nicht ihrer Gegenwartsrelevanz, zumal wenn man – wie Hengstenberg – davon ausgeht, daß die Gegenwart gerade das Fremdartige nötig hat, um sich selbst zu durchschauen. Aufgabe des Auslegers ist es daher, in der Fremdartigkeit der Schrift den Anspruch oder Zuspruch an die Kirche zu vernehmen. Untauglich sind nach Hengstenbergs Ansicht Auslegungen, die einzelne Teile oder ganze Bücher der Schrift dem Glauben entfremden, indem sie sie etwa als rein religionsgeschichtliche Zeugnisse einer überwundenen Epoche betrachten, die dem gegenwärtigen Glauben nichts mehr zu sagen hätten. Um es am Beispiel konkret werden zu lassen: Hengstenberg griff 1858 in den Streit zwischen Carl Friedrich Keil und Johann Heinrich Kurtz über die Auslegung von Gen 6,1–4 ein. Keil und Kurtz waren beide Professoren in Dorpat, beide gehörten zum konservativ-kirchlichen Lager, beide verdankten Heng­ stenberg wichtige Impulse, dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb schwelte zwischen beiden eine dauernde Rivalität.569 Hinsicht­lich der alten Frage, was man sich unter den „Göttersöhnen“ in Gen 6,1–4 vorzustellen habe, vertrat Keil die traditionelle Ansicht: Darunter seien die Nachfahren Seths, also die frommen Kinder Gottes, im Unterschied zu den Nachfahren Kains zu verstehen. Demgegenüber stritt Kurtz für die sich seit dem 18. Jahrhundert auf breiter Front durchsetzende Deutung der Göttersöhne als Engel.570 Hengstenberg stellt sich mit seinem Beitrag auf die Seite seines Schülers Keil. Die von Kurtz vertretene neuere Auffassung betrachtet er als symptomatisch für die rationalistische Exegese, die überall „zu roher Buchstäblichkeit“ geneigt sei und sich zu einer „feine[n], geistige[n] Auffassung“ durchweg unfähig zeige.571 Schlüssel für das Verständnis von Gen 6,1–4 ist nach Hengstenberg die Stellung des Abschnitts im Gesamtzusammenhang der Urgeschichte. Die Erzählung zeige nämlich, wie aus den frommen Nachfahren Seths das gottlose Geschlecht entstehe, welches in der Sintfluterzählung vorausgesetzt werde. Hengstenberg führt für seine Auslegung zahlreiche Gründe an. Abschließend führt er dann das Kriterium der bleibenden Relevanz der Stelle ein: „Endlich, ein Prüfstein für die Richtigkeit der einen und der andern Erklärung ist die practische Bedeutung der Stelle für die Kirche aller Zeiten, so gewiß als Moses selbst den Zweck seines Werkes darin setzt, daß die Kinder Israel lernen sollen, den Herrn ihren Gott zu fürchten, und als der Apostel erklärt, die von Gott eingegebene Schrift des A. B. sey nütze u. s. w. [vgl. 2 Tim 3,16]. Da liegt nun am Tage, daß die Engeldeutung sich in Abgeschmacktheiten verliert, sobald sie es unternimmt, die praktische Be569

  Vgl. zu dem Verhältnis von Kurtz und Keil Siemens, Keil, 240–247.   S. Siemens, Keil, 243–245, wo die einschlägigen Streitschriften genannt sind, und Kurtz, Söhne Gottes als dessen abschließenden Beitrag. 571   Hengstenberg, Die Söhne Gottes und die Töchter der Menschen, EKZ 62 (1858), Sp.  319–330.399 f.407–422, Nr.  29.35–37, hier: Sp.  321. 570

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

239

deutung der Stelle nachzuweisen. Dagegen bei der kirchlichen Auffassung leuchtet der ewige Gehalt der Stelle sofort entgegen.“572

In der Tat ist es das Qualitätsmerkmal der Auslegung Hengstenbergs, daß sie nicht nur die Funktion des umstrittenen Abschnitts in der Komposition der Urgeschichte überzeugend und anhand von zahlreichen Einzelbeobachtungen nachweist – Hengstenbergs Auslegungen sind selbstverständlich immer am „canonical approach“ orientiert –, sondern daß sie schon bei der Auslegung den geistlichen Sinn des Abschnitts und seine Bedeutung zum einen für die Zeit Moses und zum anderen für alle späteren Zeiten aufweist. Zweifellos ist die Frage nach der bleibenden Bedeutung eines Textes nicht frei von subjektiven Eindrücken, was sich leicht daran erkennen läßt, daß auch Kurtz auf die erbaulichen Seiten seiner Engeldeutung hinweisen kann.573 Hengstenberg würde demgegenüber wahrscheinlich einwenden, es handle sich dabei nicht um die Grundlage, sondern lediglich um den „Prüfstein“ der Auslegung. Jedoch ist dieser Prüfstein von nicht zu unterschätzender Bedeutung für seine Hermeneutik. Zudem erhellt daraus, warum Hengstenberg seine Schriftauslegung geradezu nahtlos auf kirchliche und gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart beziehen konnte. Wenn die biblischen Texte zu allen Zeiten reden, gilt selbstverständlich auch: Heutige Fragestellungen und heutige Herausforderungen finden Antworten in der Schrift. Diese Ansichten stehen im Hintergrund, wenn Hengstenberg ab 1849 seine Vorworte in der EKZ zum Beginn eines neuen Jahrganges nicht mehr allein mit einer Zeitbetrachtung, sondern, dem Blick in die Zeit vorangehend, mit einer biblischen Besinnung beginnen läßt. Es handelt sich dabei keineswegs um einen naiven Biblizismus, der den biblischen Text bruchlos in die Gegenwart überträgt. Maßgeblich ist vielmehr genau jene hermeneutische Grundannahme von der bleibenden Relevanz biblischer Texte, die sich bei der Auslegung unter Berücksichtung des historischen Ursprungs eines Textes einstellen muß.574 Nirgends wird dieses Konzept so deutlich wie in Hengstenbergs Auslegung der Offenbarung. Darum ist auf sie hier ausführlicher einzugehen.

572

  Hengstenberg, Die Söhne Gottes, EKZ 62 (1858), Sp.  412 f.   Kurtz, Söhne Gottes, 2 f.93 f. Hinsichtlich des Erbauungspostulates ist sich Kurtz daher mit Hengstenberg einig. Für ihn geht es jedoch um die prinzipielle Frage, ob man die Schrift auch dann reden lasse, wenn sie nicht in das eigene Konzept paßt (ebd., IX.6 f.); dabei geht er davon aus, daß Hengstenbergs Konzept nicht von der Schrift, sondern von der kirchlichen Tradition bestimmt sei. 574   Es sei, erläutert Hengstenberg in seiner den Krieg von 1866 deutenden Auslegung von Off b 6,1–8, „die Aufgabe der Schriftgelehrsamkeit in dem Besonderen, mit dem es die heilige Schrift zu thun hat, das Allgemeine zu erkennen, und dies auf die entsprechenden Verhältnisse der Gegenwart anzuwenden. Das Alte wird neu, indem es in solcher Weise teils losgelöst, teils angewandt wird“ (Hengstenberg, Reiter, EKZ 79 [1866], Sp.  637). 573

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2  Hengstenberg und die Theologie

2.3.3.2.2 Der Kommentar zur Offenbarung des Johannes.  Es ist kein Zufall, daß gerade 1849 die Reihe der biblischen Gegenwartsdeutungen in der EKZ be­ ginnt. 1847 und 1848 waren die ersten Artikel zur Auslegung der Offenbarung in der Kirchenzeitung erschienen, 1849 veröffentlichte Hengstenberg den er­ sten Band seines Apokalypsekommentars. Nur vor dem Hintergrund seiner exegetischen Arbeit lassen sich die mit Bildern der Apokalypse durchdrängten Gegenwartsanalysen Hengstenbergs in der EKZ in den Jahren 1848/49, insbesondere das Vorwort von 1849, richtig einordnen. Die Veröffentlichung des Kommentars zur Offenbarung war nicht durch die Revolution veranlaßt.575 Hengstenberg spielte schon länger mit dem Gedanken und arbeitete auch bereits vor 1848 an seiner Ausarbeitung.576 Erste Früchte wurden 1847 in der EKZ veröffentlicht. Gleichwohl bestätigte die Revolution Hengstenberg in seiner dem Kommentar zugrunde gelegten Gesamtsicht. Zwei Perspektiven sind dafür entscheidend: 1. Die Einordung der Apokalypse in ihren zeitgeschichtlichen Hintergrund und 2. Hengstenbergs Verständnis des Tausendjährigen Reiches in Off b 20. Zum ersten: Hengstenberg schreibt der Aufgabe, ein „lebendiges Bild von der Gegenwart des Sehers“ zu gewinnen, eine Schlüsselfunktion bei der Auslegung der Apokalypse zu.577 Es komme darauf an zu sehen, „wie der Gegenstand der Offenbarung näher durch die Zeitverhältnisse bestimmt wird, daß es sich hier um eine Enthüllung Jesu Christi handelt, welche dasjenige enthüllte, wonach jeder damals fragte, dessen Dunkelheit wie ein drük­kender Alp auf allen Gemüthern lag“ (1, 54; vgl. 1, 75). Man sei lange Zeit zu Unrecht davon ausgegangen, „daß die Apocalypse sich mit der gesammten Kirchengeschichte decken müsse und verwandelte sie in ein schlechtes Compendium derselben.“ (1, 54) Die Offenbarung des Johannes sei aber „kein anticipirtes Compendium der Geschichte“578 , auch kein „Compendium der Dogmatik“, sie sei „kein Wahrsagungs-, sie ist ein Trostbuch“. Aus diesem Grund gewinnt der Entstehungskontext der Apokalypse große Bedeutung, denn nur wenn man wisse, in welcher konkreten Situation die Offenbarung ursprünglich Trost spenden wollte, wenn man die Fragen kenne, „wonach jeder damals fragte“, würden ihre Antworten auch für die Gegenwart durchsichtig. Darum erörtert Hengstenberg ausführlich die Frage nach der Abfassungszeit der Apokalypse. Dabei setzt er sich inbesondere mit dem verbreiteten Kommentar Lückes auseinander und kommt dabei zu dem von Lücke abweichenden Ergebnis, daß von der Entstehung der Apokalypse zur Zeit Domitians auszugehen sei (1, 2).579 Für diese Zeit gelte, was sich aus 575

  Das suggeriert Beckmann, Wurzel, 255.   Vgl. Hengstenberg, Offenbarung 1, III f. 577   Hengstenberg, Offenbarung 1, 1. Die Belege hieraus im Folgenden im Fließtext. 578   Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 (1860), Sp.  228, die beiden folgenden Zitate ebd., Sp.  230. 579   Vgl. dazu auch Hengstenberg, Das Thier in der Offenbarung Johannis, EKZ 41 576

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

241

der ganzen Apokalypse ergebe, nämlich, „daß ein allgemeiner Kampf des Heidenthums und des Christenthums, ein Kampf auf Tod und Leben bereits eingetreten ist“ (1, 36). Als geschichtlicher Ausgangspunkt habe somit die Verfolgung der Gemeinde durch die heidnische Weltmacht zu gelten.580 Darum sei die Offenbarung nicht in erster Linie auf das Ende der Zeit ausgerichtet, sie richte sich vielmehr an alle Zeiten, in denen eine in der Offenbarung des Johannes vorausgesetzte analoge Bedrängung der Christen bestehe (1, 62).581 Für die Auslegung folgt daraus, daß unter dem Tier in Off b 13 nicht das Papsttum zu verstehen sei, sondern „die antichristliche heidnische Weisheit“ (44). Damit lehnt Hengstenberg an diesem zentralen Punkt die von Luther herkommende und auch von Vitringa und Bengel repräsentierte Auslegungstradition ausdrücklich ab (2/1, 70–84). Ebenso weicht Hengstenberg in der zweiten, für jede Auslegung der Apokalypse entscheidenden Frage ganz von Bengel und wesentlich von der lutherischen Tradition ab: Das in Off b 20 angekündigte Tausendjährige Reich stehe nicht mehr bevor, sondern sei bereits Vergangenheit (2/1, 353–373).582 Die zukünftige Erwartung eines Tausendjährigen Reiches habe sich erst im Gefolge Bengels in der Kirche verbreitet.583 Bengel sei konsequenterweise dazu geführt worden, weil er an der Deutung des Tieres in Off b 13 auf das Papsttum festgehalten habe (2/1, 368–372). Dies sei aber ebenso aufzugeben wie die Auffassung, daß die Apokalypse ein von Anfang bis Ende fortlaufendes Ganzes bilde: „Das Richtige ist vielmehr, daß sie aus einer Anzahl selbständiger und in sich abgeschlossener Gruppen besteht, deren jede eigenthümliche Momente hervorhebt und die sich einander ergänzen.“ (2/1, 373) So kommt Hengstenberg zu dem Schluß, daß das Tausendjährige Reich mit dem Sieg der Könige über das römische Weltreich, also die heidnische Gegenmacht, beginnt, darum müsse „der Anfang des tausendjährigen Reiches mit der Christianisirung der Germanischen Völker zusammenfallen“. Zwar sei sowohl der Anfang als auch das Ende des Tausendjährigen Reiches ein fließender, „[d]och wird es im Ganzen und Großen mit dem tausendjährigen Deutschen Reiche zusammenfallen.“ (2/1, 375) Das Tausendjährige Reich beginnt also ungefähr mit Karl dem Großen und bezeichnet grob gesprochen diejenige Epoche, in der das Christentum zur Leitkultur Europas wird. Das christianisierte römische Reich zählt als eine Art (1847), 937–942.945–952.953–957.961–965, Nr.  96–99. Lücke wie auch Ewald u. a. vertraten die Abfassung unter Galba. 580   Vgl. auch Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 (1860), Sp.  230. 581   Gegen die Auslegungen Bengels und die der Theologen des Zeitalters der Orthodoxie gerichtet. 582   Hengstenberg übernimmt hier Teile seines Artikel über ‚Das tausendjährige Reich‘, EKZ 42 (1848), 257–261.265–270.287 f.293–296, Nr.  29–32, in dem er diese Ansicht ausführlich dargelegt hatte, wortwörtlich in den Kommentar (Offenbarung 1, 365–384). 583   Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 (1860), Sp.  225 spricht daher vom „Württemberger Dogma“.

242

2  Hengstenberg und die Theologie

Vorgeschichte noch nicht dazu. Entscheidend für diese Deutung ist, daß Hengstenberg die tausend Jahre nicht als Beschreibung eines paradiesischen Zustandes versteht, sondern nur als eine Zeit relativer Verbesserung im Vergleich mit den Zeitverhältnissen, von denen die Apokalypse ausgeht (2/1, 242).584 Diese Zeit endet mit der Freilassung des Satans, wodurch Hengstenberg seine eigene Zeit charakterisiert sieht. In der Entchristianisierung Europas zeige sich nämlich das freie Wirken des Satans.585 Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Das Chri­ stentum der Gegenwart stehe demnach wieder in demselben Kampf wie zur Zeit der Entstehung der Apokalypse, im Kampf gegen die heidnische Gegenmacht 586 : „Jetzt wohnen wir schon längst unter Mesech und Kedar, Ps. 120,5, mitten unter diesen ‚Meisterspöttern‘, und wer es bis dahin nicht wußte, der sollte es doch wenigstens seit vier Wochen wissen, daß der Satan völlig losgeworden ist aus seinem Gefängnisse und ausgegangen zu verführen die Heiden in den vier Örtern der Erde, sie zu versammeln in einen Streit.“ (2/1, 376) 587

Die Auslegung der Apokalypse deckt sich demnach mit der Zeitdeutung, die Hengstenberg bereits zuvor, erstmals prägnant in seiner Auseinandersetzung mit D.F. Strauß und dann immer wieder entfaltet hat: Die Zeit der großen Kämpfe und Gegensätze sei angebrochen, der Kampf des Christentums mit dem erneuerten, durch keine Zügel mehr gebremsten Heidentums. Auslegung und Zeitanalyse beeinflussen sich dabei wechselseitig. Einerseits wird Hengstenberg durch die Gegenwartserfahrung zu seiner neuen Interpretation von Off b 20 angeregt, andererseits bildet die Auslegung der Apokalyse den Deutungsrahmen für die Beurteilung der Gegenwart.

584   Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 (1860), Sp.  227 betont, daß bei der Annahme eines paradiesischen Zeitalters völlig unverständlich bliebe, „wie nach einem so gewaltigen Eingreifen der jenseitigen Welt in die geschichtliche Entwickelung der völlig abgerissene Faden der letzteren noch einmal wieder angeknüpft werden sollte“. 585   In Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 (1860), Sp.  232 wird der Beginn der Entchristianisierung mit Voltaire angesetzt. 586   Entscheidend ist für diese Auslegung, daß darunter nicht ein heidnischer Staat, sondern die heidnische Ideologie verstanden wird, denn das Tier in Off b 13 beschreibe nicht den römischen Staat, sondern die dem Reich Gottes feindlich gegenüber stehende Großmacht, die im römischen Reich zeitweise ihre Verkörperung gefunden habe (vgl. dazu ausführlich Hengstenberg, Das Thier in der Offenbarung Johannis, EKZ 41 [1847], 937–942.945– 952.953–957.961–965, Nr.  96–99). Allerdings habe man es in der Gegenwart – so präzisiert Hengstenberg 1860 – nicht mehr mit der heidnischen Großmacht zu tun – das Tier wurde ja bereits vor den tausend Jahren in den Feuersee geworfen (Off b 19,20) –, sondern mit dem losgelassenen Satan in anderer Gestalt (Vorwort, EKZ 66 [1860], Sp.  35). 587   Der Kommentar zitiert hier den Aufsatz über das Tausendjährige Reich, EKZ 42 (1848), Sp.  267 (erschienen am 12. April 1848); vgl. auch ebd., Sp.  258: „wir haben das tausendjährige Reich bereits hinter uns, und stehen bei C. 21,7–9, dem Loswerden des Satans aus seinem Gefängniß nach Ende der tausend Jahre und seinem Ausgehen zu verführen die Heiden in den vier Örtern der Erde, sie zu versammeln in einen Streit“.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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Bemerkenswert an der neuartigen Verortung des Tausendjährigen Reiches ist zum einen, daß sie nicht nur im Gegensatz zu Bengel, sondern auch zur lutherischen Tradition steht, die zwar – wie Hengstenberg – die 1000 Jahre stets als bereits vergangen betrachtet hat, ihren Anfang aber mit dem ersten Erscheinen Christi und ihr Ende mit der Entfesselung des Papsttums im Hochmittelalter angegeben hatte. Zum anderen führt sie zu einer Neubewertung des Mittelalters und bringt auch darin den Bruch mit der lutherischen Tradition zum Ausdruck. Hengstenberg ist sich bewußt, daß diejenigen, die seiner Auffassung folgen, „ihre Geschichtsansicht reformieren müssen“ (2/1, 83). Aus ihr folge nämlich, daß der Gegensatz zwischen Reformation und mittelalterlicher Papstkirche kein absoluter sei (vgl. 2/2, 84). Die Reformation knüpfe nicht nur negativ an das Vorhergehende an, sie setze selbstverständlich „das Vorhandenseyn wenn auch schlummernder, herrlicher Lebenskräfte voraus“ (2/1, 379).588 Damit verändert sich aber nicht nur der Blick auf die Reformation, sondern auch auf die gegenwärtige römisch-katholische Kirche. Hengstenbergs Deutung des Tausendjährigen Reiches fördert eine Sicht, nach welcher der Gegensatz zwischen der evangelischen und römischen Kirche angesichts der modernen chri­ stentumsfeindlichen Tendenzen zurücktritt. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Hengstenbergs Kommentar zur Offenbarung nicht nur ein herausragendes Beispiel für den Gegenwartsbezug seiner Exegese ist. Er ist vielmehr überhaupt ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis von Hengstenbergs Lebensgefühl und seiner Zeitdeutung. Er sieht sich und die Kirche seiner Zeit einer heidnischen Bedrohung gegenüber, wie sie bisher nur in den Zeiten vor der Konstantinischen Wende existierte. Dies hat, wie sich zeigen wird, Auswirkungen auf seine Sicht der Kirche sowie der politischen Verhältnisse. Entscheidend ist dabei, daß er – im Anschluß an die Sicht der Offenbarung – die Verhältnisse des christlichen Europa für unwiederbringlich vergangen hält. Gott selbst hat den Satan aufs neue losgelassen. Schon allein deshalb hält Hengstenberg eine Hoffnung auf umfassenden Wandel zum Besseren, wie sie zunächst in der Erweckungsbewegung verbreitet war und dann in den kulturoptimistischen Konzepten wie z. B. demjenigen Rothes ihre Fortsetzung fand, für Schwärmerei. Die Tatsache, daß Gott es war, der den Satan losgelassen hat, bedeutet für Hengstenberg aber auch kein passives Ergeben in das Schicksal, denn er versteht den Satan als Werkzeug Gottes, durch das der Glaube herausgefordert und gefestigt wird – allerdings nur dann, wenn er nicht die

588   Hengstenberg wendet sich damit gegen eine „jetzt glücklicherweise veraltete Geschichtsbetrachtung, welche in den tausend Jahren der Herrschaft des christlichen Principes den Blick einseitig auf die Aergernisse richtet“. Die Zeit des christlichen Europa bis hin zum 17. Jahrhundert, „von deren reichem Ertrage wir jetzt noch großentheils leben“ sei insgesamt positiver zu werten (Hengstenberg, Das sog. tausendjährige Reich, EKZ 66 [1860], Sp.  258).

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2  Hengstenberg und die Theologie

Waffen von sich wirft. Die Zeichen der Zeit stehen damit weder auf Illusion noch auf Resignation, sondern auf Kampf.

2.3.4  Zusammenfassung: Hengstenbergs Exegese zwischen Tradition und Innovation Im Vorwort seines Kommentars zum Hohenlied beschreibt Hengstenberg sein Verhältnis zur kirchlichen Auslegungstradition folgendermaßen: Sein Bestreben sei gewesen, die alte kirchliche Überzeugung vom allegorischen Charakter des Hohenliedes wieder zu ihrem Recht zu bringen. Der Leser werde aber feststellen, daß es sich dabei nicht „um eine Repristination handle“; vielmehr werde er sich „bald überzeugen, daß hier nicht bloß einzelnes Neues vorliegt, sondern daß auch alles Alte neu geworden.“589 Diese Selbsteinschätzung ist durchaus zutreffend, und zwar nicht nur für den Hoheliedkommentar, sondern für Hengstenbergs exegetisches Arbeiten insgesamt. Er kommt darin vielfach zu Ergebnissen, die sich mit denjenigen der kirchlich-traditionellen Auslegung decken. Auch hält er die kirchliche Auslegungstradition für zu schwerwiegend, als daß er sich einfach über sie hinwegsetzen könnte.590 Allerdings ist zu beachten, daß er nicht der Tradition als solcher autoritatives Gewicht beilegt; sie gilt ihm vielmehr als Niederschlag einer aus dem Glauben gewonnenen Schrifterkenntnis, zumal wenn sie wie die Auslegungen der Reformatoren einer Zeit der Verlebendigung des Christentums entstammt. Ihr Gewicht ist somit nur relativ, und die Ergebnisse von Hengstenbergs Arbeiten sind längst nicht alle traditionell. Denn im Konfliktfall orientiert sich Hengstenberg nicht an der Tradition, sondern am Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift, das sich seiner Ansicht nach mit den Wahrheiten des Katechismus und den Zentrallehren der Reformation deckt. Zwar hat ihm diese Ansicht den Vorwurf dogmatischer Voreingenommenheit eingebracht, doch wird man sagen müssen, daß ihm das prinzipielle Prä der Schrift vor Tradition und Dogmatik nie in Frage stand.591 Allerdings sind es nicht allein einzelne Ergebnisse, die es verbieten, Heng­ stenbergs Exegese als Traditionalismus zu bewerten. Entscheidender ist viel589

  Hengstenberg, Hohelied, VII.   Schon 1831 bemerkt Hengstenberg, es bestehe das Bedürfnis „eines den Sinn der Schrift sorgfältig und unbefangen, tief und lebendig, mit Benutzung der exegetischen Leistungen aus allen Jahrhunderten erörternden Commentars für Laien“ (Hengstenberg, Kraft der Wahrheit, VIII). 591   Hengstenberg verschweigt es nicht – insbesondere in seinen späteren Aufsätzen –, wenn ihm einzelne Auslegungen der „Dogmatiker des 17ten Jahrhunderts“ als „Anwendung der Tortur auf dem exegetischen Gebiete“ erscheinen (Hengstenberg, Gegen den Artikel: „Die Rechtfertigung...“, EKZ 80 [1867], Sp.  573; vgl. auch bei Anm.  549). Vgl. auch die Polemik gegen das Gewicht der kirchlichen Autorität in Calovs Auslegung, Ders., Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 (1868), Sp.  656. 590

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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mehr, daß er selbst dann, wenn er zu traditionellen Ergebnissen kommt, nicht die traditionellen Wege dorthin nutzt. Was ihn nämlich grundlegend vom Schriftumgang der vorauf klärerischen Zeit unterscheidet, ist die entschlossene Aufnahme der Frage der Geschichtlichkeit des biblischen Textes. Hierin erweist sich sein Schriftumgang als durch und durch modern – mit allen Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben müssen. Hengstenberg hat versucht, unter den Bedingungen der Wissenschaftsparadigmen seiner Zeit eine Alternative zum Mainstream der kritischen Bibelauslegung zu bieten, indem er historische und theologische Betrachtung kombinierte. Zweifellos hat er damit neuen Wein in die Schläuche der alttestamentlichen Wissenschaft gefüllt und im konservativen Milieu inspirierend gewirkt, „indem er zuerst wieder Sinn, Eifer und Interesse für die wissenschaftlich-gläubige Behandlung des alten Testaments geweckt, mächtig genährt, kräftig gefördert“592 hat. Auf welche Weise er dies tat, wurde in diesem Kapitel gezeigt. Dabei ließen sich für Hengstenbergs Vorgehen einigermaßen klare Grundannahmen aufweisen. Das Problem liegt allerdings im Detail. Hengstenberg hat keine Methode entwickelt, um seinen Grundannahmen auch nachvollziehbar Geltung zu verschaffen. Die Fülle von Argumenten und Gründen, die er anführt, erscheinen häufig ungeordnet und entbehren nicht des Eindrucks einer gewissen Zufälligkeit. Einleuchtende Begründungen stehen nicht selten neben ganz und gar unplausiblen. Mit­unter fühlt man sich an Goethes Diktum erinnert: „Der Scharfsinn verläßt geistreiche Männer am wenigsten, wenn sie unrecht haben.“593 Hengstenberg machte es seinen Geg­nern leicht bei ihrem Verfahren, durch Heranziehung einzelner absurder Argumente auch alles Bedenkenswerte vom Tisch zu wischen.594 Dazu 592

  Kurtz, Söhne Gottes, XI; Kurtz kann, obwohl er eine Streitschrift gegen Hengstenberg verfaßt, dessen Leistungen gleichwohl als „ausserordentliche, ja wahrhaft epochemachende Verdienste [...] um die gläubige, kirchliche Theologie, zumal des alten Testamentes“ beschreiben (ebd.); ähnlich äußern sich Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421 f.; Seeberg, Kirche, 145; Hirsch, Geschichte 5, 126; selbst Elliger, Fakultät, 28 gesteht zu, Hengstenberg habe „auf seinem Fachgebiet mit dazu beigetragen, die alttestamentliche Bibelwissenschaft wieder ernsthafter als eine theologische Disziplin zu betreiben“. Vgl. auch unten den Abschnitt 5.2.2 zu Hengstenbergs Schülern. 593   Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr.  338 (ed. Trunz, 411). Der Scharfsinn wurde Hengstenberg auch von seinen ärgsten Gegnern nicht abgesprochen, wie Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421, zutreffend resümiert: „Es ist unter allen Sachkennern nur eine Stimme, daß Hengstenberg in diesem großartigen Unternehmen eine bewundernswürdige Gelehrsamkeit und einen eminenten Scharfsinn bewiesen, über eine Menge schwieriger Punkte neues Licht verbreitet und fast überall der Untersuchung neue Impulse gegeben hat.“ Vgl. auch Bleek, Einleitung, 25 f. und Hupfeld, Einleitung, 84 f., der zudem darauf aufmerksam macht, daß Hengstenberg „schon manches Außenwerk der neuern Kritik zerstört oder in seiner Unhaltbarkeit bloßgestellt“ habe. 594   Das sieht man z. B. an Schwarz, Theologie4, 90–92, dem es ein Genuß ist, Hengstenbergs Skurrilitäten zusammenzustellen. Von schärferer Wahrnehmung zeugt allerdings eine Bemerkung von Hupfeld, Einleitung, 87, der der Hengstenbergschen Schule eine sorgsamere Auswahl ihrer „Verteidigungsmittel“ empfiehlt, auf daß sie „nicht geistreiche Einfälle und Aperçus aus den Schulen der Philosophen oder den Winkeln der Kabbalah zu Hilfe rufe, auf

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2  Hengstenberg und die Theologie

kommt, daß der Mangel an Methodenreflexion dazu führt, daß im Vollzug der Auslegung nicht selten in einer Weise vernünftig-logisch argumentiert wird, die sich – abgesehen von den anderen Ergebnissen – kaum von der Argumentationsweise der bekämpften Rationalisten unterscheidet. Es macht sich hier bemerkbar, daß Hengstenberg über seine Hermeneutik und über seine Methode niemals ausdrücklich Rechenschaft abgelegt hat. Ohne groß darüber zu reflektieren, welche methodischen Konsequenzen aus der grundsätzlichen Kritik an den Methoden der von ihm als destruktiv bezeichneten kritischen Exegese gezogen werden könnten, machte er sich an das Werk der Gegenkritik. Ein ausgeprägtes Sensorium für die hermeneutischen Probleme läßt Hengstenberg im großen und ganzen nicht erkennen. Darin zeigt sich einerseits, daß er kein sy­ stematischer Theologe war. Andererseits aber war die Unbedarftheit, mit der er das Schriftprinzip festhielt, ohne nach der Vermittelbarkeit mit der angewandten Methode zu fragen, ein für die Exegese des 19. Jahrhunderts durchaus typischer Grundzug.595 Legt man einen Begriff von Konservatismus zugrunde, wonach die Eigenart des Konservatismus nicht schlicht als Festhalten an Altem, sondern als Bewahren des Früheren unter den Bedingungen der Moderne und insofern auch als Transformation des Früheren verstanden wird,596 kann man Hengstenbergs Auslegung mit Fug und Recht als konservativ bezeichnen. Daß es bei einem solchen Unternehmen nicht ohne Aporien und Widersprüchlichkeiten, nicht ohne „trial and error“ abgeht, versteht sich von selbst. Es hat Hengstenberg geschadet, daß er genau dies zu leugnen schien.597 Die selbstbewußte Bestimmtheit, mit der er auftrat und seine Positionen für die einzig wahrhaft kirchlichen ausgab, und der vielfach offen ausgesprochene Rationalismusverdacht, mit dem er die früheren und zeitgenössischen Forscher belegte, brachte seine Gegner, insbesondere die aus den eigenen Reihen, zur Weißglut. Gesteigert wurde diese Reaktion dadurch, daß Hengstenberg heftigste Vorwürfe in ganz ruhigem, sachlichem Ton vorbringen konnte – als ob nichts auf der Welt selbstverständlicher wäre.598 Wenn es ihm um die rechte Auslegung der Schrift ging, kannte die sie selbst schwerlich geneigt oder entschloßen genug sein würde eine zusammenhängende Geschichtsansicht zu bauen; überhaupt Gründe verschmähe die keinen Zusammenhang und Halt in ihrer Gesammtüberzeugung und ihrem allgemeinen wißenschaftlichen Bewußtsein haben.“ 595   Vgl. Lauster, Prinzip, z. B. 68–82. 596   Vgl. Schildt, Konservatismus, 18.22 und die Ausführungen unten im Schlußteil. – Schwarz, Theologie1, 65 bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck, indem er betont, Hengstenbergs Richtung gehöre, „so repristinirend sie auch ist, doch der modernen Theologie“ an. 597   Gleichwohl hat Hengstenberg seine Meinung zu verschiedenen Themen geändert und dies, wie am Beispiel der Eigenart prophetischer Rede gezeigt wurde, auch zugegeben. Er hat dies jedoch weitaus weniger häufig getan, als diejenigen annehmen, die sein Werk nur in Teilen in den Blick nehmen (wie z. B. Taylor, Old Testament). 598   Man lese nur die Streitschriften von Kurtz und Kahnis (Kurtz, Söhne Gottes; Kah-

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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er keine Rücksichten, auch nicht auf Freunde und Schüler.599 Nur wenige seiner Gegner waren darum der Auffassung, daß man eine solche „Opposition, auch im Interesse der Wißenschaft, nur willkommen heißen“ könne, da eine Beleuchtung des Gegenstandes von unterschiedlichen Seiten immer der Wahrheit zugute kommen und dazu beitragen müsse, „die historische Forschung vor Einseitigkeit zu bewahren und zur Reinigung und Vertiefung zu zwingen“600. Hupfeld, von dem diese Einschätzung stammt, hat Hengstenberg und seiner Schule eine ausgewogene Würdigung zuteil werden lassen, zugleich aber auch den springenden Punkt benannt, indem er an sie die Frage richtete, ob sie sich dazu entschließen könnte, „an ein von aller religiösen Gesinnung unabhängiges wißenschaftliches Gewißen zu glauben“601. Hengstenberg hat auf diese Frage nicht geantwortet, aber höchstwahrscheinlich hätte er sie verneint. Weil er den Ursprung der neueren Kritik in der Abkehr vom biblischen Gottesverständnis verortete, konnte er das positive Anliegen der Kritik nicht wahrnehmen. Seine Urteile über – selbst gemäßigt – kritische Exegeten waren darum häufig pauschal, einseitig und ungerecht. Damit aber hat er sein eigenes wissenschaftliches Werk, das die kritisierten Exegeten durchaus auch zu würdigen wußte,602 dem Ideologieverdacht ausgesetzt. Die Selbständigkeit, mit der er seinen Weg in der wissenschaftlichen Exegese ging, ist vergleichbar mit derjenigen seines Freundes und Gesinnungsgenossen Ernst Ludwig von Gerlach, der in ähnlich unbeirrbarer Weise auf politischem Gebiet seine eigenen Prinzipien vertrat und gerade dadurch eine herausgehobene Stellung unter den Konservativen einnahm.603

nis, Grundwahrheiten) und im Vergleich dazu Hengstenbergs Artikel, die den Anlaß dazu bildeten, EKZ 62 (1858), Sp.  319–330.399 f.407–422, Nr.  29.35–37 und Vorwort, EKZ 70 (1862), 38–66, Nr.  5 –6. 599   Vgl. Schaff, Germany, 301. Auf die kritischen Stimmen der Hengstenberg Nahestehenden griffen dann mit Vorliebe seine Gegner zurück (so Schwarz, Theologie4, 89 f.). 600   Hupfeld, Einleitung, 85. 601   Ebd. 602   Vgl. nur Hengstenbergs Reaktion auf Gesenius’ Tod, Vorwort, EKZ 32 (1843), Sp.  22: „Gott hat den Mann abgerufen, den wir zwar durch eine Reihe von Jahren befehdet haben und befehden mußten, weil er sich in der theologischen Fakultät nicht an seiner rechten Stelle befand, dem wir aber die schuldige Ehre nie auf dem Gebiete entzogen haben, auf dem sie ihm zukam, der uns durch seinen nüchternen und gesunden Forschungsgeist, trotz alles Mangels an Tiefe, besonders in den letzten Jahren lieb und werth wurde, in denen die geistreich sich gebehrdende Willkühr und Verschrobenheit in den Alttestamentlichen Disciplinen uns so oft widrig berührte, und dem wir namentlich, wenn es dem Herrn über Leben und Tod gefallen hätte, Frist zur Vollendung seines thesaurus gewünscht hätten, durch den er dem Studium des A. T. einen guten Dienst geleistet.“ 603   Vgl. Kraus, Gerlach; kurzgefaßt: Ders., Frondeur.

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EXKURS: Hengstenbergs Bibliothek in Chicago Hengstenberg hatte sich schon früh für die akademische Lauf bahn entschieden, und so begann er auch schon bald damit, die dazu notwendige Literatur anzuschaffen. Als er vor seiner Hochzeit im Frühjahr 1829 aus der Wohnung Unter den Linden in die Kleine Wallstraße umzog, bestand seine Bibliothek bereits aus 3000 Bänden.604 Bei den Anschaffungen stand naturgemäß zunächst dasjenige im Vordergrund, was er für seine theologische Arbeit am Alten Testament benötigte.605 Daneben spielten besondere Vorlieben und Interessen eine Rolle. Im Laufe seines Lebens wuchs die Bibliothek schließlich auf mehr als 18.000 Titel und Einzelbände an, denen ungefähr 12.500 Katalogeinträge entsprachen.606 Ein zeitgenössischer Fachmann beurteilt sie „as one of the most considerable private collections of theological works, for, from the oldest to the most recent dates, the most distinguished appearances of theological literatur are found in it side by side“607. Allein schon dieser Sachverhalt ist nicht unwesentlich, wenn es darum geht, Hengstenbergs theologisches Denken und Arbeiten zu beurteilen. Einen noch genaueren Einblick in Hengstenbergs geistige Welt verschafft jedoch ein Blick in die Bibliothek selbst, und genau dies ist im Falle Hengstenbergs möglich, da seine Bibliothek nach seinem Tod en bloc nach Amerika verkauft wurde. Dort hat sie sich bis heute im großen und ganzen erhalten. Im Folgenden soll daher Hengstenbergs Bibliothek als Quelle für sein Denken in den Blick genommen werden. Dabei wird zunächst darauf eingegangen, wie die Bibliothek nach Chicago kam und wie sie dort heute zugänglich ist, und dann in einem weiteren Schritt ein Überblick über die wichtigste für Hengstenberg relevante Literatur gegeben. 1.  Vorgeschichte: Der Transfer nach Chicago Als Hengstenberg am 28. Mai 1869 starb, waren seine Frau und seine fünf Kinder bereits tot. Der einzige Theologe unter seinen Kindern, Immanuel Hengstenberg, zuletzt Pfarrer in Jüterbog und zeitweise Hengstenbergs rechte Hand bei der Herausgabe der EKZ, war schon 1863 gestorben. Von der Familie waren schließlich nur eine Schwiegertochter, Anna, die Frau von Hans Hengstenberg, und deren Tochter Therese übriggeblieben. Außer ihnen kümmerte sich besonders Hengstenbergs Bruder Karl um das Vermächtnis. Für die riesige Bibliothek hatte man allerdings keine Verwendung. Man bot sie daher zunächst der Universität zum Kauf an, die jedoch mangels finanzieller Ressourcen ablehnen mußte.608 Ein amerikanischer Student in Berlin, William W. Everts 604

  Bachmann 2, 144.   So war Hengstenberg nicht nur begeistert von seinen Büchern, wie er im Dez. 1826 schreibt: „Ach wenn mich mein Beruf nicht zwänge, viele dergleichen Sachen zu lesen, wie gerne wollte ich davon abstehen!“ (Bachmann 2, 51). 606   Korner, Hengstenberg Library, spricht von „18,856 works, in about 12,500 volumes“ – mit „works“ dürfte die tatsächliche Anzahl der Bücher gemeint sein, während „volumes“ von den Titeln im Katalog ausgeht, wo mehrbändige und zusammengebundene Werke oft unter einem Eintrag erscheinen. Zur Schwierigkeit der genauen Bestimmung, s.u. 3. 607   So der Chef bibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin, W. Korner, in seinem – übersetzten – Gut­achten über Hengstenbergs Bibliothek (Korner, Hengstenberg Library). 608   Sutter, Hengstenberg Collection, 26; in demselben Jahr mußte der Staat auch den Auf kauf der umfangreichen Bibliothek von Johannes Schulze, langjährigem Mitarbeiter im 605

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Jr., erfuhr davon und berichtete es seinem Vater, Rev. W.W. Everts Sr., Pastor der First Baptist Church of Chicago und Mitglied des Gründungskomittees des 1867 neu gegründeten Baptist Theological Union Seminary.609 Für das Seminar war es eine attraktive Möglichkeit, mit Hilfe von Hengstenbergs Bibliothek die eigene Bibliothek aufzubauen – zumal das deutsche Bildungswesen in Amerika als vorbildlich galt. Auf ähnlichem Wege waren auch schon die Bibliotheken von Neander, Gieseler, Lücke und anderen nach Amerika gekommen.610 Nachdem Everts Jr. im Frühsommer 1869 zum ersten Mal von der Bibliothek berichtet und sie in höchsten Tönen gerühmt hatte, begann man in Chicago mit Fundraising-Aktivitäten. Man rief im Publikationsorgan der Baptisten, ‚The Standard‘, zur finanziellen Unterstützung auf und verschwieg dabei keineswegs, daß Hengstenberg nicht gerade ein Freund der Baptisten war, doch entschuldigte man seine Ansichten zur religiösen Freiheit und zum Verhältnis von Kirche und Staat mit der Bemerkung „he was still a German“. Außerdem lobte man ihn als einen Verteidiger des rechten Glaubens gegen den Unglauben und hob seine „‚thoroughly evangelical‘ views“ hervor.611 So fand sich nach kurzer Zeit eine ganze Anzahl prominenter und wohlhabender Geschäftsleute aus Chicago, die bereit waren, die nötigen Mittel zusammenzulegen. Das Geschäft wurde besiegelt, und so fanden Hengstenbergs Bücher bereits im ersten Halbjahr 1870 für 5000 Taler bzw. 5000 $ ihren neuen Bestimmungsort jenseits des Atlantischen Ozeans.612 Da das Baptist Theological Union Seminary in Gebäuden der alten University of Chicago untergebracht war, wurde Hengstenbergs Bibliothek zunächst gemeinsam mit der Universitätsbibliothek verwaltet, deren Bestand sie auf einen Schlag vervierfachte.613 1874/75 überschrieben die Chicagoer Geldgeber, denen die Bibliothek zunächst gehörte, sukzessive ihren Besitz an das Seminar.614 Mit dem Seminar wechselte auch die Bibliothek mehrmals ihren Standort. Aus Platzmangel konnten nicht immer alle Bücher aufgestellt werden. Als schließlich 1892 die neue University of Chicago in Hyde Park gegründet wurde, machte es ihr Geldgeber, Rockefeller, zur Bedingung, daß das Baptist Theological Seminary als Divinity School Teil der neuen Universität werde. So kamen Hengstenbergs Bücher als Teil der Universitätsbibliothek nach Hyde Park. Kurz vor dem Umzug war diese durch den Auf kauf des Kreuzberg-Antiquariates in Berlin noch um ein vielfaches vergrößert worden. Diese, als Berlin Collection bezeichneten Bestände enthielten größtenteils griechische und lateinische Klassiker, teilweise aber auch theologische Werke; dadurch ergaben sich zahlreiche Überschneidungen mit der Heng­ Kultusministerium, ablehnen (Varrentrapp, Schulze, 562, Anm.*). – Hengstenbergs Wunsch war es gewesen, „[z]u seinem Andenken seine treffliche Bibliothek der Berliner Universität zu erhalten“ (Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1015 f.). 609   Ein Teil des Schriftwechsels zwischen Vater und Sohn Everts findet sich noch heute abschriftlich in der University of Chicago Library, SCRC, Hengstenberg file. 610   Neanders Bibliothek in das Rochester Seminary, Gieselers Bibliothek in das Chicago Theological Seminary und Lückes Bibliothek in die Harvard Divinity School (Sutter, Hengstenberg Collection, 5). 611   Die Zitate nach Sutter, Hengstenberg Collection, 32 f. 612   Die genauen Umstände des Kaufs und die wichtigsten Geldgeber beleuchtet Sutter, Hengstenberg Collection, 26–36, ebd., 30, auch der Verkaufspreis. 613   Dies und das Folgende nach Sutter, ebd., 36–48. 614   Zu dieser Zeit erhielten die Bücher gedruckte Auf kleber auf der inneren Umschlagseite: „THE HENGSTENBERG COLLECTION [...]. Purchased from the estate of the late Prof. E. W. Hengstenberg, D. D., of Berlin, and deposited in the Library by an associaton of gentlemen” (vgl. Sutters, ebd., 40) – sie finden sich heute noch in vielen Exemplaren.

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2  Hengstenberg und die Theologie

stenberg Collection, was dazu führte, daß schließlich beide Bibliotheken zusammen­ geworfen wurden. Zwar trugen Hengstenbergs Bücher in der Regel nach wie vor den eingeklebten Ursprungsvermerk als Erkennungsmerkmal, doch scheint es auch hier zu Verwechslungen gekommen zu sein, so daß einzelne Bände, die nachweislich von Hengstenberg stammen, fälschlicherweise mit der Kennzeichnung ‚Berlin Collection‘ versehen wurden.615 Bei der Neuordnung der Universitätsbibliothek nach Eröffnung der Harper Memorial Library 1912 wurden ältere, wertvolle Bände aus Hengstenbergs Beständen zur besonderen Verwahrung aussortiert, andere wurden nach Sachgebieten geordnet und an verschiedene Standorte verteilt. Schon während des Sortierungsvorganges wurde gewarnt, daß man auf diese Weise Gefahr laufe, mehrbändige Werke auf verschiedene Gebäude aufzuteilen; 616 daß dies tatsächlich geschah, läßt sich noch heute feststellen.617 Über all die Jahre war es zudem nicht gelungen, die Bestände der Hengstenberg und Berlin Collection vollständig zu katalogisieren. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man kaum mehr als die Hälfte der Bücher Hengstenbergs erfaßt, in den 70er Jahren entdeckte man 5000 Bücher unterschiedlicher Provenienz in einem Stauraum der Bibliothek, darunter auch Bücher aus den Hengstenbergbeständen, 618 und erst im Sommer 2008, nachdem alle Bestände des Special Collections Research Centers elektronisch aufgenommen worden waren, war die Katalogisierung abgeschlossen.619 2.  Der Schlüssel zur Bibliothek: Hengstenbergs Katalog 2.1  Der Katalog und sein alphabetischer Index Angesichts der Tatsache, daß sich die Hengstenbergbibliothek im Laufe der Zeit in die übrigen Bestände der University of Chicago Library aufgelöst hat, erweist es sich als unschätzbare Hilfe, daß Hengstenbergs eigener Bibliothekskatalog mit der Bibliothek zusammen nach Chicago gekommen und dort noch heute einsehbar ist.620 Der handgeschriebene Katalog besteht aus zwei Bänden: Im ersten Band sind die Bücher mit in der Regel detaillierten bibliographischen Angaben nach Sachgebieten geordnet, der zweite Band bietet einen alphabetischen, nach Autoren gegliederten Index, der jeweils auf die Seiten und fortlaufenden Nummern im ersten Band verweist. Im folgenden wird nur der erste Band Katalog, der zweite hingegen Index genannt. Der Index ist unverzichtbar, um bestimmte Autoren, deren Werke im Katalog auf verschiedene Sachgebiete verteilt sein können, aufzufinden. Allerdings ist zu beachten, daß er – wie es bei solchen Verzeichnissen die Regel ist – nicht fehlerfrei erstellt wurde.621 Wenn ein Titel nicht im 615

  Vgl. Sutter, ebd., 45.   S. Sutter, ebd., 47. 617   So findet sich z. B. Bd.  1 der ‚Sammlung symbolischer Bücher der reformierten Kirche‘ (Neuwied 1828–1830) in den Freihandbeständen der Universitätsbibliothek (Sig.: BX9428. A1S26 1828), während der zweite Band Teil des Special Collections Research Centers ist (SCRC, Sig.: Berlin 1413 – auch ist fraglich, ob das Buch tatsächlich, wie die Signatur behauptet, aus der Berlin Collection stammt). 618   Sutter, Hengstenberg Collection, 45.48. 619   Mündliche Auskunft von Alice Schreyer, Leiterin der Abteilung SCRS der University of Chicago Library. 620   University of Chicago Library, SCRC, Sig.: MS 987. 621   Titel wurden teilweise gar nicht oder mit falschen Verweisen in den Index aufgenom616

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Index steht, heißt dies also nicht unbedingt, daß er nicht doch im Katalog zu finden ist. Eine gewisse Unsicherheit bleibt hier bestehen. Katalog und Index sehen äußerlich gleich aus; ihre Einbände haben sie gemeinsam in Amerika erhalten, aus den Handschriften der Einträge ergibt sich aber, daß sie nicht gleichzeitig entstanden sind. Die Einträge im Katalog stammen von unterschiedlichen Händen, offentsichtlich über einen längeren Zeitraum verteilt (s.u.), der Index wurde aber im großen und ganzen von einer Hand verfaßt. Keine der Handschriften stimmt mit derjenigen Hengstenbergs überein, d. h. der Katalog wurde nicht von ihm selbst, sondern sehr wahrscheinlich von einem Amanuensis geführt.622 Dem Index kann man entnehmen, daß er erst in späterer Zeit, vermutlich in den 60er Jahren angelegt worden ist, denn die Titel wurden einigermaßen komplett aus dem Katalog übernommen und unter den Namen der Verfasser angeordnet, nur wenige Einträge wurden später noch hinzufügt.623 Der Index ist also mehr oder weniger aus einem Guß. Ganz anders der Katalog: Er ist nach Sachgebieten geordnet, die den theologischen Fächerkanon abbilden, der um weitere Kategorien vermehrt wurde.624 Jede Kategorie ist wiederum nach Buchformatangaben unterteilt, wie es auch bei der Aufstellung der Bücher in den Regalen üblich war. Der Katalog diente schon beim Verkauf der Bibliothek als Grundlage zur Beurteilung des Bestandes,625 er dürfte einigermaßen genau den tatsächlichen Umfang der Bibliothek zum Zeitpunkt von Hengstenbergs Tod abbilden, daher ist er von unschätzbarem Wert für die Rekonstruktion von Hengstenbergs literarischer Welt. Außerdem kann man, wenn man von ihm ausgeht und anschließend im digitalisierten Katalog der University of Chicago Library entsprechende Titel sucht, auch heute noch Hengstenbergs Bücher ausfindig machen. Darüber hinaus lassen sich dem Katalog auch Hinweise auf das Wachstum der Bibliothek entnehmen. 2.2  Der Katalog als Mittel zur Rekonstruktion der Entwicklung der Bibliothek Durch eine genaue Analyse des Kataloges lassen sich ungefähre Aussagen darüber treffen, wann Hengstenberg welches Buch angeschafft hat. Es läßt sich nämlich beobachten, daß die Einträge innerhalb der Formatkategorien jeweils blockweise erfolgten. Den Anfang machen in allen Kategorien mehrere Blöcke, die jeweils alphabetisch geordnete men; es läßt sich zumindst in einem Fall nachweisen, daß gleichnamige Autoren fälschlicherweise als eine Person gewertet wurden. 622   Daß ein solcher für die Bibliothek zuständig war, wissen wir – wenigstens für die 60er Jahre – von Müller, Hengstenberg, Sp.  61. 623   Es ist nicht ganz klar, wie bei der Übernahme der Titel aus dem Katalog vorgegangen wurde. Wahrscheinlich wurde der Katalog durchgegangen und die Titel den Autoren zugeordnet. Aber nicht immer folgen die Einträge der Reihenfolge im Katalog. Bisweilen macht es den Eindruck, als habe der Verfasser des Index bestimmte Titel zunächst eingetragen und dann erst die Katalognummer nachgeschlagen. 624   So finden sich neben den Kategorien Altes und Neues Testament, Heilige Geschichte (unterteilt in Zeit des Alten Testaments und Kirchegeschichte), Dogmatik (Apologetik, Dogmatik, Ethik und Symbolik umfassend) und Praktische Theologie auch noch die Abteilungen Griechische und Lateinische Klassiker, Kirchenväter, Orientalia, Apokryphen, Schriften der Reformatoren, Zeitschriften / Dissertationen / Opuscula Theologica, Freimaurerei, Asketische Literatur, Enzyklopädie, Kirchenordnung, Literatur, Profangeschichte, Geographie und Philosophie. 625   Vgl. Korner, Hengstenberg Library.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Einträge aufweisen. Daran schließen sich Blöc­ke an, in denen die Einträge ungeordnet vorgenommen wurden, sie lassen sich aber anhand unterschiedlicher Schriften dennoch deutlich voneinander abheben. Daraus läßt sich schließen, daß anfangs der Bestand alphabetisch in den Katalog aufgenommen wurde, später wurden die Titel einfach stoßweise eingetragen – wahrscheinlich immer dann, wenn sich wieder ein Stapel von Neuanschaffungen angesammelt hatte. Mit den Eintragungen in den vorliegenden Katalog dürfte man um 1830 begonnen haben – wahrscheinlich nach Hengstenbergs Umzug in die Kleine Wallstraße. Die Erscheinungsjahre der Bücher, die in den ersten Blöcken eingetragen wurden, sind nämlich nicht jünger als 1829 bzw. 1830. Auffällig ist allerdings, daß es in einigen Kategorien am Anfang mehrere Blöcke gibt, die jeweils nur zu dieser Zeit hinaufreichen. Möglicherweise hatte der jetzige Katalog schon einen Vorgänger oder es gab Listen, die zunächst in den Katalog übertragen wurden. Jedenfalls lassen sich von diesen ersten Blöcken deutlich die nächsten abheben, bei denen die Erscheinungsjahre der Bücher dann in die 1830er Jahre gehen. Die gut unterscheidbaren blockweisen Eintragungen bilden also Schichten, die sich bestimmten Zeiträumen zuordnen lassen, indem man in jedem Block nach dem jüngsten Erscheinungsjahr eines dort verzeichneten Buches sucht. Nicht immer ist das möglich. Unter den Folianten finden sich meist keine zeitgenössischen Anschaffungen. Die aktuellen Bücher hatten hauptsächlich Oktavformat. Bei ihnen aber läßt sich das Verfahren gut anwenden. Aus dem Vergleich der Handschriften lassen sich dann aber auch Rückschlüsse auf die anderen Formatkategorien schließen bzw. durch Vergleich verschiedener Kategorien die Zuordnung von Zeiträumen erhärten. Freilich findet man bei dieser Methode immer nur einen Terminus a quo für die entsprechende Eintragungsschicht und die Anschaffung der darin verzeichneten Bücher. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß Hengstenberg Neuerscheinungen – insbesondere in seinem eigenen Fach – schon bald nach deren Erscheinen angeschafft hat, so muß man dennoch damit rechnen, daß sie nicht immer sofort in den Katalog eingetragen wurden, sich also möglicherweise bis zum Eintrag noch mehrere andere Bücher älteren Erscheinungsjahres daruntermischen konnten. Gleichwohl stellt man fest, daß, wenn man das jüngste Jahr im jeweils folgenden Abschnitt sucht, dies nicht wesentlich jünger ist als das jüngste im vorigen Abschnitt. Allzu lange blieben die Bücher also nicht liegen. Auf plus minus fünf Jahre genau dürfte sich jede Eintragungsschicht auf diese Weise datieren lassen. Damit hat man einen Schlüssel an der Hand, der Aufschluß gibt über Hengstenbergs Anschaffungspolitik und Rückschlüsse auf die Entwicklung seiner Interessen zuläßt. 3.  Der Umfang der Hengstenbergbibliothek Auch zur Ermittlung des ursprünglichen Umfangs von Hengstenbergs Bibliothek ist man auf die Katalogeinträge angewiesen. Nach seinen Angaben hat man sich schon beim Verkauf der Bibliothek gerichtet. Der begutachtende Bibliothekar in Berlin stützte sich darauf, und auch Sutters Beschreibung der Hengstenberg Collection geht davon aus. Normalerweise werden dabei einfach die höchsten Nummern jeder Kategorie addiert, Sutter kommt damit auf 11.295 Titel,626 Korner, der Berliner Gutachter, gibt 626   Sutter, Hengstenberg Collection, 24 – in dem hier verwendeten Exemplar von Sutters Arbeit sind drei identische Aufstellungen enthalten, wovon zwei Rechenfehler aufweisen. Aus der Hengstenbergakte im Special Collection Research Center (UChL, SCRC,

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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12.500 Bände an.627 Jedoch sind die Nummern nicht gleich Titel und schon gar nicht gleich der Anzahl der Bücher, denn erstens erscheinen häufig mehrere zusammengebundene Titel unter einer Nummer, woraus folgt, daß es mehr Titel als Nummern geben muß; zweitens erscheinen unter einer Nummer oft mehrbändige Werke: So sind beispielsweise die 24 Bände der Walchschen Lutherausgabe unter einer Nummer verzeichnet, was die Anzahl der Bücher weiter erhöht; drittens ist die Numerierung mit zahlreichen Fehlern durchsetzt: Nummern wurden gestrichen und nicht ersetzt, versehentlich doppelt verwendet oder ab und zu auch mit einem Kleinbuchstaben unterteilt; viertens gibt es auch Doppeleinträge, wenn ein Werk in mehrere Sachgebiete gehört.628 Kurz: Die Anzahl der Bücher, die in Hengstenbergs Regalen standen, läßt sich aus dem Katalog nur sehr grob ermitteln. Die von Sutter und Korner ermittelten Angaben geben nur einen ungefähren Richtwert an.629 Noch schwieriger ist die Frage, wie viele Bücher tatsächlich nach Chicago gekommen sind und wie viele davon noch heute dort zu finden sind. Die Bibliothek wurde en bloc gekauft; es wurde nie überprüft, ob alle im Katalog genannten Titel tatsächlich vorhanden waren.630 Wie bereits erwähnt, ging die Katalogisierung nur sehr schleppend voran. Es läßt sich daher auch nicht mehr nachvollziehen, ob Bücher, die ursprünglich nach Chicago kamen, im Laufe der letzten 138 Jahre verschwunden sind.631 Tatsache ist, daß sich viele der im Katalog verzeichneten Bücher heute nicht mehr in Chicago auffinden lassen. Bei der gezielten Recherche nach bestimmten Titeln der Bibliothek zeigen sich folgende Auffälligkeiten: Gerade solche Bücher, die Hengstenberg schon früh besaß und die eine wichtige Rolle für sein Denken gespielt haben, stehen zwar in seinem Katalog, sind aber in der Bibliothek nicht mehr auffindbar. Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, daß sich ein entsprechender Titel in Chicago gar nicht finden läßt, im Gegenteil: Einen Großteil dieser Titel führt die Bibliothek, jedoch nicht als aus Heng­ stenbergs Beständen stammend.632 Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß der Bibliothek der University of Chicago im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts theologische Literatur Hengstenberg file) ergibt sich, daß die Aufstellung ursprünglich nicht von Sutter, sondern von Norman Kansfield stammt und 1969 erstellt wurde. 627   Korner, Hengstenberg Library – möglicherweise hat er die Zahlen schon irgendwie korrigiert. Darüber hinaus gibt er leider nicht an, wie er darauf kommt, daß die 12.500 Bände 18.856 Werke enthalten und was er genau unter „Werken“ versteht (Nur Monographien oder auch einzelne Zeitschriften, Faszikel, Dissertationen?). 628   Bei den Doppeleinträgen läßt sich nicht immer entscheiden, ob es tatsächlich nur ein doppelter Eintrag war oder ob Hengstenberg das Buch tatsächlich zweimal besessen hat. Häufig handelt es sich auch um zwei Ausgaben desselben Buches. 629   Die sehr aufwendige exakte Ermittlung des genauen Buchbestandes konnte auch im Zuge der hier vorgenommenen Untersuchung, der es weniger um den Umfang als vielmehr um das Profil der Bibliothek geht, nicht geleistet werden. 630   Auch das Umgekehrte konnte der Fall sein: Offensichtlich wurden 26 gebundene Jahrgänge der EKZ mitverschifft, die nicht im Katalog aufgelistet und auch gar nicht für den Verkauf vorgesehen waren (vgl. die Anmerkung des Übersetzers in Korner, Hengstenberg Library). 631   Davon, daß Hengstenberg schon selbst Bücher verliehen und nicht mehr zurückbekommen hat, berichten Müller, Hengstenberg, Sp.  63; Koenig, Hengstenbergs Leben, 744; Sternberg, Erinnerungen, 7. 632   Hengstenbergs Bücher erkennt man 1. an dem – allerdings nicht immer verläßlichen – Auf kleber „THE HENGSTENBERG COLLECTION“ auf dem inneren Buchdeckel (s. o. Anm.  614), 2. an den Verweisen auf den Katalog, die aus zwei durch einen Schrägstrich getrennte Zahlen bestehen, wovon die erste auf die Katalogseite und die zweite auf die Ein-

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aus zahlreichen Sammlungen zugewachsen ist: Neben der bereits erwähnten Berlin Collection wurden ihr immer wieder auch Bücher vom Chicago Theological College und vom American Biblical College überlassen.633 Die Folge dürfte gewesen sein, daß zentrale theologische Werke zunächst mehrfach vorhanden waren. Es fällt nun auf, daß es gerade solche zentralen Werke wie z. B. D.F. Strauß’ Leben Jesu oder de Wettes Lehrbücher der „historisch kritischen Einleitung“ in das Alte und Neue Testament sind, von denen Hengstenbergs Exemplar fehlt. Zur Erklärung bieten sich zwei Möglichkeiten an: Entweder waren die von Hengstenberg viel benutzten Werke in einem solchen Zustand, daß man sie gar nicht mehr nach Chicago gesandt hat – davon muß man insbesondere bei solchen Werken ausgehen, die für Hengstenberg wichtig waren, aber heute nicht mehr in Chicago geführt werden –, oder man hat in Chicago immer wieder die doppelten Exemplare aussortiert und dabei besonders Hengstenbergs Bücher ausgewählt, weil sie durch die Benutzung in einem schlechteren Zustand waren als die anderen. Natürlich können Hengstenberg Bücher auch auf anderem Wege verschwunden sein. Als Ergebnis ist jedenfalls festzuhalten, daß ein erheblicher Teil von Hengstenbergs Büchern heute nicht mehr in Chicago zu finden ist. Eine stichprobenartige Recherche, die sich allerdings vorwiegend auf Titel bezog, von denen man annehmen kann, daß sie für Hengstenberg von Bedeutung waren, ergab, daß heute noch rund 60% seiner Bücher in der University of Chicago Library vorhanden und einzusehen sind. Zusammen mit dem Katalog bilden sie eine solide Grundlage, um Rückschlüsse auf Hengstenbergs literarische Vorlieben und seinen Umgang mit den Büchern ziehen zu können. 4.  Hengstenberg und seine Bücher 4.1  Benutzungsspuren Zum Leidwesen des heutigen Forschers hat Hengstenberg nur sehr wenige Einträge in seinen Büchern vorgenommen. Am häufigsten treten Striche am Rand auf, mittels derer wichtige Passagen markiert wurden. Doppelte oder dreifache Striche signalisieren besonders Bedeutsames. Manchmal hat Hengstenberg darüber hinaus auf dem Vorblatt Seitenzahlen vermerkt, um auf diese Weise die für ihn wichtigen Stellen schnell auffinden zu können. Generell gilt dabei: Hengstenberg hat nur solche Passagen mit Markierungen versehen, denen er zugestimmt hat oder die er für seine eigene Arbeiten verwenden konnte. In anderen Werken, auch wenn sie Hengstenberg betrafen, wie beispielsweise solche, die sich direkt gegen ihn wandten, finden sich hingegen keine Markierungen – weder Striche noch Ausrufezeichen und schon gar keine wütenden Randbemerkungen. Die Randstriche dienten also vornehmlich zum Wiederauffinden solcher Stellen, die er in seinen eigenen Arbeiten gebrauchen konnte. Alles in allem ging Hengstenberg aber schonend mit seinen Büchern um. Selbst Besitzereinträge finden sich nur selten. Abgegriffene Seiten und zerfledderte Bücher können aber auch gewisse Hinweise geben, wobei man jedoch immer abwägen und durch Hinzuziehung anderer Indizien erwägen muß, ob solche Spuren von Hengstenberg oder späteren Benutzern stammen.

tragsnummer verweist, 3. aus typischen Benutzungsspuren wie den Markierungsstrichen am Rand (vgl. unten 4.1). 633   Das ergibt sich aus den Ursprungseinträgen auf dem inneren Buchdeckel.

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4.2  Vertretene Autoren und Anschaffungsgesichtspunkte Auf den ersten Blick läßt sich aus dem Gesamtbestand von Hengstenbergs Büchern wenig über dessen Vorlieben sagen, denn man bekommt den Eindruck: Er hat schlicht alles besessen, was man im 19. Jahrhundert in einer theologischen Bibliothek erwartet. Was die Autoren angeht, fand dabei keinerlei persönliche Zensur statt.634 Die bekämpften Autoren des 18. Jahrhunderts sind ebenso zahlreich vertreten wie die zeitgenössischen Gegner. Hengstenberg hielt es für seine Pflicht, andersdenkende Autoren genaustens zu studieren.635 Gleichwohl lassen sich bestimmte Schwerpunkte ausmachen, wenn man beispielsweise darauf achtet, welche Autoren zu Hengstenbergs frühesten Anschaffungen zählen: Für die Exegese hat sich Hengstenberg neben verschiedenen Ausgaben der Biblia Hebraica und des Novum Testamentum schon früh Calvins Kommentare sowie zahlreiche Werke von J.D. Michaelis angeschafft; auch Bengel und Vitringa zählen zu den frühen Errungenschaften. In der Dogmatik findet sich ebenfalls Calvin an vorderster Stelle, gefolgt von Chemnitz’ Loci. Doch auch die zeitgenössischen Dogmatiker von Ammon bis Wegscheider gehören zu den ersten, die im Katalog auftauchen. Unter den reich vertretenen Ascetica finden sich ganz vorne neben Johann Arndt Heinrich Müller und Valerius Herberger.636 Was die Schriften der Reformatoren angeht, so hat Hengstenberg zunächst ihre Kommentare angeschafft und erst später umfangreichere Werkausgaben.637 Bei den Kirchenvätern stehen hingegen die Opera-omniaAusgaben als erste Anschaffungen ganz am Anfang des Katalogs.638 Wenn am Anfang vor allem Hengstenbergs spezielle Bedürfnisse und Interessen die Anschaffungsprioritäten bestimmten, so scheint später vor allem die Vollständigkeit der Bibliothek im Vordergrund gestanden zu haben. Neue Literatur, vor allem diejenige seines Faches, scheint er sehr zeitnah gekauft zu haben. Von vielen Titeln finden sich auch mehrere Ausgaben und Auflagen. Teilweise standen dieselben Bücher sogar mehrfach in Hengstenbergs Regalen, was zur Vermutung Anlaß gibt, daß Hengstenberg bisweilen auch größere Buchbestände en bloc gekauft haben dürfte, ohne auf bereits Vorhandenes Rücksicht zu nehmen.639 So weist alles darauf hin, daß Hengstenberg neben allem wissenschaflichen Interesse an den Büchern auch schlicht als Sammler mit bibliophiler Ader seine Käufe tätigte.

634   Vgl. auch Korner, Hengstenberg Library: „Among authors since the reformation we miss scarcely a single one of importance, in theological and philosophical literature“. 635   Vgl. oben 2.3.2.2 und seine Bemerkung bei Anm.  475. 636   Das sind genau die Autoren, die Hengstenberg durch Neuausgaben zugänglich machen wollte, vgl. dazu oben Teil 1, Exkurs: Der evangelische Bücherverein. 637   Walchs Lutherausgabe gehört zwar auch zu den früheren Anschaffungen, doch finden sich Benutzungsspuren fast ausschließlich in den Bänden, die Exegetica enthalten, am meisten in den Bänden 4 und 5: Luthers Psalmenauslegung; vgl. UChL, Sig.: BR330.A3 1739. 638   So die Opera Omnia von Ambrosius (Basel 1547), Athanasius (Köln 1686), Augustin (Antwerpen 1700–1702), Chrysostomos (Frankfurt 1698). Unter den Kirchenvätern aufgelistet finden sich auch schon sehr früh die Opera Omnia von Anselm (Köln 1612) und Bernhard von Clairvaux (Paris 1719). 639   Bei einer so großen Menge von Büchern muß man daneben auch damit rechnen, daß Hengstenberg bei Neukäufen schlicht nicht mehr von jedem Buch wußte, ob er es bereits besaß.

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2  Hengstenberg und die Theologie

4.3  Beobachtungen zu einzelnen Kategorien und Autoren 4.3.1  Alttestamentliche Literatur Erwartungsgemäß bildet das Alte Testament mit 1466 Einträgen eine der größten Abteilungen in Hengstenbergs Bibliothek. Sie wird nur noch von der Kirchengeschichte mit 1925 Katalognummern übertroffen.640 Grob ein Drittel der alttestamentlichen Literatur wurde bereits vor 1830 angeschafft; hier liegt also der Grundstock der Bibliothek. Mit 36 Titeln ist J.D. Michalis sowohl unter den Autoren des Alten Testaments als auch in der Bibliothek insgesamt derjenige, der am meisten Einzelwerke beigetragen hat. Der Großteil von den Werken Michaelis’ gehört zudem zu den frühesten Anschaffungen. Das dürfte damit zusammenhängen, daß Michaelis genau den Bereich abdeckt, von dem Hengstenbergs wissenschaftliche Arbeit ausgeht: Seine Bücher behandeln sowohl Themen der Orientalistik als auch des Alten Testaments. Darüber hinaus greift Heng­ stenberg gerne auf Michaelis’ sprachwissenschaftliche Untersuchungen zurück. Früh besessen hat Hengstenberg auch die Titel von de Wette, und zwar nicht nur die alttestamentlichen. De Wettes ‚Lehrbuch der christlichen Dogmatik‘ (2. Aufl., Berlin 1818) gehört zu den frühesten datierbaren Anschaffungen.641 Außerdem finden sich in De Wettes Büchern zahlreiche Gebrauchsspuren.642 Das gilt insbesondere für den Psalmenkommentar, der für Hengstenberg bei der Erarbeitung seines eigenen Kommentars ein entscheidender Bezugspunkt gewesen zu sein scheint.643 Prominent vertreten sind daneben C. Vitringa und H. Grotius, daneben auch Jean Le Clerc (Clericus). Bearbeitungsspuren weist vor allem Vitringas Jesajakommentar auf.644 Neben Michaelis und de Wette finden sich natürlich auch alle anderen gängigen Einleitungswerke bereits unter den ersten Stücken der Bibliothek, so J.G. Eichhorn, L. Bertholdt und J. Jahn. Von den älteren Kommentatoren gehört Calvin zu den ersten Anschaffungen, dicht gefolgt von A. Calovs ‚Biblia illustrata‘.645 Die Bearbeitungsspuren zeigen, daß Hengstenberg naturgemäß diejenigen Bücher am meisten verwendet hat, die sich mit Themen seiner eigenen Publikationen beschäftigten. Häufig finden sich in den Büchern auch nur an einzelnen Stellen, die für Heng­ stenberg von Bedeutung waren, Markierungen. Hier hat er ganz gezielt bei der Behandlung einer Frage nachgeschlagen. Auffälligerweise gibt es an Stellen, die sich mit Grundsatzfragen beschäftigen, kaum Markierungen. Man könnte denken, daß sich Hengstenberg beispielsweise auch für Calovs hermeneutische Überlegungen in der ‚Biblia illustrata‘ interessiert hätte. Davon findet sich aber keine Spur. Auch seine Bücher 640

  S. Sutter, Hengstenberg Collection, 24.   Das Buch enthält den Vermerk: „W. Hengstenberg Bonn 1821“ (vgl. UChL, Sig.: BT 75.D 49 v. 1). 642   Im ‚Lehrbuch der Dogmatik‘ finden sich zahlreiche Randmarkierungen im dritten Kapitel ‚Von der idealen Theokratie oder vom Messias‘ (De Wette, Lehrbuch, 111–115; insbes. §§ 138 f.). 643   De Wette, Commentar über die Psalmen – vor allem die erste Auflage (Heidelberg 1823), aber auch die vierte (Heidelberg 1836) weisen zahlreiche Randstriche auf (UChL, Sig.: BS1433.D49 und BS 1433.D 495). 644   Vitringa, Commentarius (UChL, SCRC, Sig.: f BS1516.V79). 645   So Calvins Kommentar über die ersten 20 Kapitel des Propheten Ezechiel (Genf 1565) und sein Jesaja- und sein Danielkommentar (Genf 1583 und 1610). Calovs ‚Biblia illustrata‘ ist mit einigen wenigen Randstrichen versehen, vor allem bei der Auslegung von Jak 2 (Calov, Biblia illustrata, Bd.  4, 1423–1438; UChL, SCRC, Sig.: f BS491.C17). 641

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zeigen Hengstenberg als den Exegeten, der am Detail arbeitet und sich dabei weniger ins Grundsätzliche vertieft.646 4.3.2  Erbauliche Literatur (Ascetica) An zweiter Stelle sind die Ascetica zu betrachten. Nicht nur deshalb, weil die Kategorie, was die Zahl der Einträge angeht (1024), auf das Alte Testament folgt, sondern vor allem darum, weil sich darin ein besonderes Profil von Hengstenbergs Bibliothek zu erkennen gibt. Zu den frühesten Einträgen gehören Titel, die dem Pietismus oder den ihm vorausgehenden Erbauungsschriftstellern zuzuordnen sind. An erster Stelle sind Arndts ‚Bücher vom wahren Christenthum‘ zu nennen – eine der frühesten Anschaffungen, später wird sich das Werk in fünf verschiedenen Ausgaben unter Hengstenbergs Büchern finden lassen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Schriften von Heinrich Müller und schließlich Speners Schriften. Zu der Sammlung gehören Predigtbände von J.J. Rambach und Chr. Scrivers ‚Seelenschatz‘ ebenso wie Schriften Taulers. Auch Valerius Herberger und Abraham a Sancta Clara fehlen nicht. Aber auch die Erbauungsliteratur der Orthodoxie ist reichlich vertreten, z. B. Hollaz ‚Sämtliche erbauliche Schriften‘ (Frankfurt 1750) oder J. Gerhards ‚Meditationes sacrae‘ (Ausgaben von 1629 und 1685). Kurz: Nicht nur pietistisches Schrifttum, sondern vor allem auch die Literatur, die im Gefolge der sog. „Frömmigkeitswende“ zu Beginn des 17. Jahrhundert erscheint, ist nicht nur Teil von Hengstenbergs Bibliothek, sondern bildet deren erbauungstheologischen Grundstock. Hier deckt sich das Bild von Hengstenbergs Buchbeständen übrigens ganz mit den Buchempfehlungen, die er an anderer Stelle äußert.647 Hengstenberg machte sich schon früh mit den großen alten Erbauungsschriftstellern vertraut, er las und schätzte sie und war tief in ihrer Tradition verwurzelt. Unter den Ascetica verdient darüber hinaus eine weitere Kategorie besondere Aufmerksamkeit: Allein die Gesangbücher machen nämlich 67 Einträge aus. Als älteste Gesangbücher erscheinen der reformierte Psalter von Lobwasser (Ausgabe: Berlin 1700) und Crügers ‚Praxis Pietatis Melica‘ (Ausgabe: Berlin 1702), als jüngstes ein ‚Gesangbuch für evangelische Gemeinden‘ (Berlin 1860). Dazwischen stehen Gesangbücher aus den unterschiedlichsten Territorien und Zeiten; erstaunlich viele entstammen der Brüdergemeine. Deutlich ist, daß sich im Unterschied zu den wissenschaftlichen Werken Hengstenbergs Kaufinteresse auf solche Gesangbücher beschränkte, die ihm glaubensdienlich erschienen: Weder dem Berliner Gesangbuch von 1829 noch dem von Mylius von 1780 wurde hier ein Platz eingeräumt. 4.3.3  Literatur aus der Zeit der Reformation und der lutherischen Orthodoxie Die Schriften der Reformatoren und der orthodoxen Theologen sind in Hengstenbergs Katalog jeweils sachlich den verschiedenen Kategorien zugeordnet. Zwar gibt es eine Kategorie „Schriften der Reformatoren“, aber dort finden sich vor allem die Gesamtausgaben und solche Schriften, die sich nicht von selbst einer anderen Kategorie zuordnen ließen. Daran zeigt sich, daß Hengstenberg diese Theologen nicht als historische Quellen behandelte; ihre exegetischen Werke stehen neben denen des 18. und 19. Jahr646

  Vgl. oben 2.3.4.   Vgl. oben Teil 1, Exkurs: Der evangelische Bücherverein sowie Hengstenberg, Leihbibliotheken, EKZ 8 (1831), Sp.  217–223.225–230, Nr.  28 f.; EKZ 12 (1833), Sp.  2 09– 215.217–223.225–244.249–256, Nr.  27–32. 647

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hunderts und werden auch so behandelt. Entsprechendes gilt für ihre Predigtbände und Erbauungsschriften. Unter den Reformatoren nimmt Calvin den ersten Platz ein. Er taucht schon sehr früh auf und wird vor allem als Exeget wahrgenommen. Insgesamt deckt sich der Eindruck mit demjenigen, der sich aus Hengstenbergs Werken und seinen Äußerungen ergibt: Calvin war für Hengstenbergs Exegese ein, wenn nicht der maßgebliche Bezugspunkt.648 Auch Walchs Lutherausgabe und Melanchthons Opera Omnia (Wittenberg 1562–1577) gehören zu den frühen Beständen. Doch im Unterschied zu Calvin erscheinen von ihnen zunächst keine einzelnen Kommentare unter den Exegetica. Was Melanchthon angeht, so scheint sich Hengstenberg vor allem auf die ‚Loci‘ konzentriert zu haben. Die Ausgabe von 1521 (Straßburg 1522) besaß er schon früh; nach und nach gesellten sich die beiden weiteren aetates hinzu. Von letzteren besaß er schließlich mehrere Ausgaben, darunter auch viele Originalausgaben aus dem 16. Jahrhundert. Anders als bei Calvin tauchen die exegetischen Werke Melanchthons erst unter den späteren Anschaffungen auf. Beachtlich ist auch die Sammlung an Literatur aus der Zeit der lutherischen Orthodoxie: 649 Von Flacius angefangen bis hin zu V.E. Löscher fehlt so gut wie kein bedeutender Vertreter. Die Spitzenposition nimmt Johann Gerhard ein, dicht gefolgt von Löscher und Chemnitz. Aber auch die Werke von G. Calixt sind reichlich vertreten. Wie viel Hengstenberg mit den Werken der orthodoxen Autoren gearbeitet hat, läßt sich nicht sagen. Benutzungsspuren finden sich, wie bereits erwähnt, vornehmlich in exegetischen Werken wie Calvos ‚Biblia illustrata‘. Bedauerlicherweise sind aus Heng­ stenbergs Bestand weder Gerhards ‚Loci‘ (Tübingen 1762–1789) noch sein ‚Methodus studii theologici‘ ( Jena 1622) noch seine ‚Meditationes Sacrae‘ (s.o.) in Chicago erhalten geblieben. Besonders erstere werden von Hengstenberg häufig empfohlen.650 4.3.4  Literatur aus der Zeit der Aufklärung 1979 machte eine Untersuchung über die noch nicht katalogisierten Teile der Hengstenberg Collection darauf aufmerksam, daß die University of Chicago Library unter anderem dank Hengstenbergs Büchern „one of the strongest collections of German Enlightenment theology in the country“651 besitze. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Schriften der kritischen Exegeten des 18. Jahrhunderts gerade durch einen ihrer engagiertesten Gegner in einer baptistischen amerikanischen Universität Eingang fanden – ungeachtet der Frage, wie viele dieser Schriften dort tatsächlich gelesen wurden. Fraglos ist jedenfalls, daß die detaillierte Auseinandersetzung mit seinen Gegnern Hengstenberg zu einem Sammler von Auf klärungsliteratur gemacht hatte. Unter den Exegeten ist beispielsweise nicht nur J.D. Michaelis reichlich vertreten (s.o.), auch H.E.G. Paulus hat zehn Katalogeinträge und liegt damit nur knapp hinter Bengel. J.S. Semler kommt sogar auf 22 und übertrifft damit Spener. J.F.W. Jerusalem ist im Katalog dreimal, J.J. Spalding fünfmal und W.A. Teller siebenmal aufgeführt. Selbst das enfant terrible unter den Auf klärungstheologen, C.F.  Bahrdt, findet sich mit sechs Einträgen. Daran wird 648

  Vgl. unten 2.4.2.   Ihre Werke sind vor allem in den Sachgebieten Exegese, Dogmatik und Ascetica zu finden. 650   Vgl. oben Teil 2.4.3. 651   Sutter, Hengstenberg Collection, 49; die Untersuchung wurde von E. Christoph Sauder durchgeführt (ebd.). 649

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

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deutlich, daß sich die Auf klärungsliteratur nicht auf die Exegetica beschränkte. Auch dogmatische, praktisch-theologische und polemische Schriften der Auf klärungszeit besaß Hengstenberg. Selbstverständlich standen auch die von Hengstenberg als Erben der Auf klärungstheologie betrachteten Theologen des 19. Jahrhunderts reichlich in seinen Regalen: Auf de Wette wurde bereits aufmerksam gemacht: er kommt auf 21 Katalogeinträge, Gesenius ist zehnmal aufgelistet, D.F. Strauß achtmal und sein Lehrer F.Chr. Baur sogar vierundzwanzigmal. Die Literatur aus der Auf klärungszeit und der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts bildet somit in der Tat einen Schwerpunkt der Hengstenbergbibliothek. Wüßte man nicht, von wem die Bibliothek stammt, käme man wohl kaum auf die Idee, sie einem in der Erweckungsbewegung verwurzelten konservativen Theologen zuzuschreiben. 4.3.5  Symbolische Literatur Zu Hengstenbergs Bibliothek zählten selbstverständlich auch zahlreiche Ausgaben der verschiedenen Bekenntnisschriften und Literatur, die sich mit einzelnen Bekenntnisschriften oder Fragen des Bekenntnisses beschäftigte. Besonderes Augenmerk verdient hier aber wiederum die Entwicklung der Bibliothek. Zunächst erscheinen unter der Rubrik Symbolik nämlich nur wenige und gängige Titel, so z. B. Ausgaben der CA, der lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften sowie die Trienter Konzilsbeschlüsse und der Tridentinische Katechismus. Später, in den Jahren 1844–1854, zeigt sich dann jedoch eine auffällige Ballung der Anschaffungen. In diesen zehn Jahren hat Hengstenberg weit mehr als die Hälfte aller seiner Bücher angeschafft, die sich mit den Bekenntnisschriften und Bekenntnisfragen beschäftigen. Das ist genau die Zeit, in der einerseits für ihn persönlich in der Auseinandersetzung mit den Lichtfreunden und im Zusammenhang mit der Generalsynode die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Bekenntnisschriften in den Vordergrund rückte und in der andererseits überall das konfessionelle Bewußtsein durch neue, organisierte Formen an Bedeutung gewann.652 Die Bibliothek bestätigt insofern die in der vorliegenden Arbeit vertretene Ansicht, daß Hengstenberg nicht in erster Linie und vor allem nicht in seinen jungen Jahren als konfessioneller Theologe anzusprechen ist. Es sind die Zeitumstände, durch die die Frage nach der Bekenntnisbindung zu einem wichtigen, wenn auch nicht zum zentralen Gegenstand seines Denkens wird. 4.3.6  Einzelne Autoren Welchen Einfluß einzelne Autoren auf Hengstenbergs Denken hatten, zeigt sich weniger an der Anzahl der Schriften, mit denen sie in seiner Bibliothek vertreten waren, als vielmehr an dem Zeitpunkt der Anschaffung oder den Benutzungsspuren. Darüber hinaus ist als Gegenprobe immer auf Hengstenbergs eigene Schriften und Äußerungen zu achten. Bei der Lektüre von Hengstenbergs Kommentaren ergibt sich das Bild, daß Calvin, Vitringa und Bengel von größter Bedeutung für die exegetische Arbeit des Berliner Alttestamentlers waren.653 Dieser Eindruck wird durch die Bibliothek voll und ganz bestätigt. Für Calvin wurde bereits darauf aufmerksam gemacht. Auch in Vitringas 652   Vgl. Cochlovius, Bekenntnis, bes. 114–139; Wangemann, Bücher 3, 328–387.403– 446 und unten 3.3.2. 653   Vgl. oben 2.3.3

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2  Hengstenberg und die Theologie

Werken finden sich Benutzungsspuren.654 Die meisten Einträge weist aber das Bengelsche Schrifttum auf. Bengels ‚Gnomon‘ (Tübingen 1773) 655 trägt viele Randmarkierungen, insbesondere in den Evangelien, im Jakobusbrief und in der Apokalypse. Erwähnenswert ist darüber hinaus das Exemplar von Bengels ‚Abriss der so genannten Brüdergemeine‘ (Stuttgart 1751), einem Buch, das von Hengstenberg viel zitiert wird.656 Es enthält nicht nur zahlreiche Randstriche und kleinere Anmerkungen, im ersten Teil wurden darüber hinaus auch Verbesserungen und Satzhinweise (wie „gesperrt“ u.ä.) vorgenommen. Im Index wurden zudem die – korrekten – Seitenzahlen ganz offensichtlich auf eine andere Ausgabe umgestellt. Alles sieht danach aus, als habe Hengstenberg eine Neuausgabe des Bengelschen Buches oder eines Teiles davon geplant und dazu sein eigenes Exem­plar benutzt bzw. benutzen lassen.657 4.3.7  Zusammenfassung Den Grundstock von Hengstenbergs Bibliothek bildet die exegetische Fachliteratur. Aus diesem Bereich stammen die frühen Anschaffungen und die Bücher, die am meisten Benutzungsspuren aufweisen. Das ist nicht weiter verwunderlich. Erstaunlich ist nur das Bemühen um Vollständigkeit, das den Auf bau seiner Fachbibliothek kennzeichnet. Keine theologische Richtung wird dabei ausgespart. Das besondere Interesse an der Exegese zeigt sich ebenso beim Zugang zu den Reformatoren und den Theologen der Orthodoxie. Auch sie hat er zunächst vor allem als Bibelausleger geschätzt. Eine Besonderheit bildet Hengstenbergs ausgeprägtes Interesse an Erbauungsliteratur, allen voran an den Erbauungsschriften des 17. Jahrhunderts; die reiche Ausstattung der Bibliothek in diesem Gebiet erhellt Hengstenbergs Versuche, dieser Literaturgattung durch Nachdrucke zu neuer Blüte zu verhelfen.658 Ähnliches zeigt sich auf dem Feld der Gesangbücher. Wissenschaftliche Theologie und persönliche Frömmigkeit, Theologie und Glaube waren für Hengstenberg – das zeigt sich an seiner Bibliothek – aufs engste verbunden. Ebensowenig bestand für ihn ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen orthodoxen und pietistischen Autoren. Es dürfte sein Bild der Orthodoxie entscheidend geprägt haben, daß er die dogmatischen Werke eines Gerhard oder Hollaz im Zusammenhang mit deren frömmigkeitstheologischen Schriften gelesen und verstanden hat. 5.  „Collectanea theologica“ – Hengstenbergs Notizbuch von 1823/24 Mit Hengstenbergs Bibliothek ist neben dem Katalog noch ein weiteres handschriftliches Dokument nach Chicago gelangt, das im Unterschied zum Katalog aber von Hengstenbergs eigener Hand stammt. Es handelt sich um ein Notizbuch, das den Titel „Collectanea theologica“, sowie den Vermerk „Dr. E.W. Hengstenberg 1823“ trägt.659 Das Buch enthält 79 Blätter, sein Format ist etwas größer als Din A 4 (Breite: 21 cm; 654   Schon 1823 hatte Hengstenberg aus Vitringas ‚Observationes sacrae‘ Exzerpte angefertigt, vgl. UChL, SCRC, Ms 206,  f.  10r (zu dieser Quelle s.u. 5.). 655   UChL, Sig.: BS2335.B45 1773. 656   Vgl. oben 657   Hengstenberg bemerkt im Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  38, daß Bengels ‚Abriss der Brüdergemeinde‘ (sic!) „recht bald in einer neuen Ausgabe allgemeiner zugänglich gemacht werden sollte.“ 658   Vgl. oben 2.3.3.1 und unten 2.4.2. 659   UChL, SCRS, Sig.: Ms 206.

2.3  Hengstenberg als Alttestamentler

261

Höhe: 33 cm). Der Einband wurde einmal erneuert, dabei hat man den zweifellos ursprünglichen Titel und Namensvermerk auf den neuen Einband aufgeklebt. Das Notizbuch enthält kurze oder längere Notizen, in der Regel Exzerpte aus theologischer Literatur oder Literaturhinweise. Möglicherweise hat er es bei seinen Gängen in die Bibliothek benutzt. Eine Gliederung läßt sich nicht erkennen, auch finden sich so gut wie keine Überschriften. Allerdings weist das Schriftbild eine Besonderheit auf: Ein Großteil der Notizen ist mit Tinte in Hengstenbergs früher Handschrift eingetragen. Dazwischen gibt es aber zahlreiche Seiten mit Bleistifteinträgen, die Hengstenbergs spätere Handschrift, leicht erkennbar durch ihre von einander abgesetzten, geschnörkelten Buchstaben, aufweisen. Alle diese Einträge beschäftigen sich mit der Auslegung der Apokalypse. Daraus ergibt sich der Schluß: Das Notizbuch besteht aus zwei Schichten von Eintragungen. Die erste Schicht stammt aus Hengstenbergs frühen Jahren, sie ist mit Tinte verfaßt worden und beginnt im Jahr 1823; gegen Ende finden sich Notizen, die sich thematisch auf Hengstenbergs Habilitationsvortrag in Berlin 1824 beziehen.660 Das bedeutet, daß die Einträge aus Hengstenbergs Baseler Zeit 1823/24 stammen.661 Die Handschrift gehört also in einen Zeitraum, für den es ansonsten kaum Quellen aus Hengstenbergs Feder gibt. Die zweite Schicht ist deutlich später. Aufgrund ihres Inhalts läßt sie sich ganz genau datieren. Die Bleistifteinträge stellen nämlich Vorarbeiten zu Hengstenbergs Apokalypsekommentar dar. Teilweise finden sie sich fast wortwörtlich in dem gedruckten Kommentar,662 der 1849 erschien und an dem Hengstenberg bereits vor 1848 arbeitete. Hengstenberg scheint also Mitte der 40er Jahre die in dem Notizbuch frei gebliebenen Seiten für seine Arbeiten an der Apokalypse verwendet zu haben. Warum er dies tat, ist nicht rekonstruierbar. Kann man sich eine Situation vorstellen, in der Hengstenberg nicht genug Papier zur Verfügung hatte und auf das alte Notizbuch zurückgreifen mußte? Warum aber hatte er gerade dies zur Hand? Es ist bekannt, daß sich Hengstenberg bei Ausbruch der Revolution im März 1848 nach Radensleben zurückzog und dort an seinem Apokalypsekommentar arbeitete. Aber auch dort müßte ausreichend Papier vorhanden gewesen sein. Die Frage bleibt also offen. Erklärbar ist hingegen, warum sich gerade dieses Notizbuch – Hengstenberg dürfte viele besessen haben – erhalten hat. In der ersten Schicht fällt nämlich ein längeres Stück auf, das im Unterschied zu den anderen Einträgen keine Exzerpte und Literaturverweise enthält, sondern ein zusammenhängendes Thema behandelt. Es handelt sich dabei um die bereits im ersten Teil dieser Untersuchung behandelten Ausführungen zur Anthropologie und Christologie.663 Sehr wahrscheinlich war es dieses frühe Zeugnis für Hengstenbergs Zuwendung zu einer von der Erweckungbewegung beeinflußten Theologie, das das Notizbuch erhaltenswert machte. Das wäre dann aber zugleich ein Hinweis auf die 660   Hengstenbergs Probevortrag behandelte die Entwicklung der arabischen Poesie (vgl. Bachmann 1, 147); auf f. 53r–65r werden in dem Notizbuch zahlreiche Werke zur arabischen Sprachentwicklung behandelt. Die letzten Einträge (f. 78r) bestehen aus Notizen zum Buch Hiob. Eine Vorlesung über Hiob hat Hengstenberg im Sommersemster 1825 gehalten (Hengstenberg an seinen Vater, Berlin 1. Pfingsttag 1825: Bachmann 1, 238). Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß diese kurzen Vermerke erst aus der Berliner Zeit stammen. 661   Auf f. 17v wird das Buch ‚Die Lehre von der Versöhnung und Rechtfertigung‘ von Chr.F. Klaiber erwähnt, das 1823 in Tübungen erschien und dessen Vorwort auf den April datiert ist. Das spricht dafür, daß Hengstenberg das Notizbuch erst in der zweiten Jahreshälfte, also wohl nach seiner Ankunft in Basel begonnen hat. 662   Die ersten Notizen (f. 1rv) beschäftigen sich mit Off b 8,11–13 und decken sich in großen Teilen mit den Ausführungen in Hengstenberg, Offenbarung 1, 457 f. 663   Sie umfassen in dem Notizbuch f. 18r–28v; vgl. dazu oben 1.1.

262

2  Hengstenberg und die Theologie

Bedeutung dieses Stücks für die Entwicklung von Hengstenbergs theologischem Denken. Auf jeden Fall hat das Notizbuch offenbar einen Platz in der Bibliothek gefunden und ist dann – wahrscheinlich ohne das Wissen der Verkäufer – nach Chicago gelangt. Als eines der wenigen handschriftlichen Zeugnisse aus Hengstenbergs Zeit in Basel ist es als wertvolles Quellenstück zu verbuchen.664

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie In den vorhergehenden Abschnitten wurden die Prinzipien und die Arbeitsweise vorgestellt, die Hengstenbergs theologisches Denken kennzeichnen. Was die inhaltliche Bestimmung seiner Theologie und ihre Ursprünge angeht, wurde bereits im ersten Teil darauf verwiesen, daß Hengstenberg entscheidende Impulse der Berliner Erweckungstheologie verdankte, sich dann aber theologisch, insbesondere was die Rolle der religiösen Erfahrung und der Vernunft angeht, von ihr zunehmend emanzipierte. Welche Einflüsse und Kräfte dabei wirksam wurden, läßt sich nun rückblickend, nach Untersuchung seines theologischen Werkes zusammenfassend darstellen. Dabei wird kein dogmatisches System vorgestellt. Selbst wenn man wollte, könnte man ein solches aus Hengstenbergs Werk nicht erheben, da er sich als Exeget versteht und selbst dort, wo er zu grundsätzlichen dogmatischen Themen Stellung nimmt, lediglich Schriftauslegung – wenn auch in systematischer Absicht – betreibt. Allerdings zeigen sich bei ihm theologische Triebkräfte, d. h. immer wiederkehrende Grundmotive, die für seine Art zu denken charakterisch sind und die darüber hinaus auch sein Handeln prägen. Diese gilt es zu erfassen. Darüber hinaus ist zu fragen, aus welchen Quellen Hengstenbergs Theologie, abgesehen von den anfänglichen Einflüssen, auf Dauer schöpfte. Für diese Frage ergeben sich aus Hengstenbergs theologischen Arbeiten und aus seiner Bibliothek wichtige Hinweise, die nun gebündelt vorgestellt werden sollen. Beide zusammen, die theologischen Triebkräfte und die theologischen Einflüsse, geben ein Profil zu erkennnen, das für Hengstenbergs Theologie insgesamt, nicht nur für seine Arbeit am Alten Testament, charakteristisch ist. Aus diesem Grund wird hier ein eigener Abschnitt zu den Motiven, die Hengstenbergs konservative Theologie bestimmten, eingefügt, bevor zum Abschluß des zweiten Teils Hengstenberg als theologischer Lehrer in den Blick genommen werden soll. 664   Die Handschrift wird auch im Findbuch zum Nl Hengstenberg in der SBB PK erwähnt (unter f. Excerpte); ihr Inhalt war aber bisher unbekannt, in dem Findbuch wird sie zudem fälschlicherweise Hengstenbergs Bonner Zeit vor seinem Wechsel nach Basel 1823 zugeordnet. Die Informationen über die Handschrift gehen auf einen Briefwechsel zwischen der Berliner Staatsbibliothek (Rudolf Ziesche) und der Universitätsbibliothek in Chicago aus dem Jahr 1968 zurück. Damals vermutete man, daß Teile der Korrespondenz Hengstenbergs mit seiner Bibliothek nach Chicago gelangt seien. Das war zwar nicht der Fall, doch wurde man bei dieser Gelegenheit auf das Manuskript aufmerksam gemacht (vgl. dazu UChL, SCRC, Hengstenberg file).

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

263

2.4.1  Theologische Triebkräfte Bei der Beschäftigung mit Hengstenbergs theologischem Denken trifft man auf zwei charakteristische Vorstellungen, deren Bedeutung sich allein schon daran ablesen läßt, daß sie zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Zusammenhängen eine Rolle spielen, auch wenn sie nicht immer in voller Deutlichkeit hervortreten.665 Es handelt sich dabei um das Verständnis des christlichen Lebens als Kampf und um die Vorstellung von der unmittelbaren Weltgegenwart des von der Bibel bezeugten richtenden und rettenden Gottes. 2.4.1.1  Kämpfender Glaube „Die ganze Schrift athmet Kampf, Eifer, unablässigen Fortschritt“666 , formulierte Hengstenberg zwei Jahre vor seinem Tod und bringt damit zum Ausdruck, was ihn lebenslang bewegt hatte. Die Äußerung gehört in den Kontext der letzten großen theologischen Debatte, die Hengstenberg auslöste. Zum Thema hatte sie das Herzstück der evangelischen Theologie: die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben.667 Aufmerksamkeit erregte die Frage zunächst durch einen Vortrag Hengstenbergs über den Jakobusbrief.668 Darin hatte er vertreten, daß zwar der Glaube allein rechtfertige, es aber gleichwohl „Stufen des Glaubens“ gebe. Von einem anfänglichen, ungefestigten und zaghaften schreite der Glaube fort zu einem geprüften und gefestigten. „Der Glaube ist ein werdender, durch viele Stufen hindurchgehender, stets von Neuem zu der Bitte genötigter: Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“669. Bei diesem Voranschreiten – und das war das eigentlich Anstößige – nimmt laut Hengstenberg der Mensch aber nun eine durchaus aktive Rolle ein. Es sind nämlich die im Glauben verrichteten Werke, durch die der Glaube gestärkt und weitergebracht wird und ohne die der Glaube nicht bestehen kann, ja im Grunde genommen gar kein wirklicher Glaube ist.670 Was aber nun die Entstehung der Glaubenswerke angeht, hielt Hengsten665   Insofern sind sie von größerer Bedeutung als Hengstenbergs Stellungnahmen zu bestimmten Loci, beispielsweise zur Ekklesiologie oder zur Abendmahlslehre. 666   Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  228. 667   In den Zusammenhang der Debatte gehören folgende Aufsätze Hengstenbergs: ‚Der Brief des Jakobus. Ein Vortrag‘, EKZ 79 (1866), Sp.  1089–1104.1113–1129, Nr.  91–94; ‚Warum wandeln wir im Glauben und nicht im Schauen?‘, EKZ 80 (1867), Sp.  129–138.145– 149.201–209.217–228, Nr.  12 f.18–20, v. a. 222–228; ‚Die Sünderin. Luc. 7.‘, EKZ 80 (1867), Sp.  265–283.289–305, Nr.  23 f.25 f.; ‚Gegen den Artikel: „Die Rechtfertigung von Lic. Preuß“‘, EKZ 80 (1867), Sp.  553–575.605–610, Nr.  47 f.51; vgl. dazu Bachmann/Schmalenbach 3, 415–421.431–437. 668   Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 (1866), Sp.  1089–1104.1113–1129, Nr.  91–94. 669   Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 (1866), Sp.  1124. 670   Die Werke seien laut Jakobus „teils als die notwendige Bewährung des Glaubens, teils als das notwendige Förderungsmittel desselben, ohne das er nicht zu seiner vollen Kraft ge-

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2  Hengstenberg und die Theologie

berg den Christen nicht für rein passiv; vielmehr spiele hier der menschliche Wille eine entscheidende Rolle. Zwar werde das Vollbringen im Menschen von Gott gewirkt, doch dem gehe das „unter dem Beistande der zuvorkommenden Gnade“ menschliche Wollen voraus. Zum wahren tätigen Glauben bedarf es daher Anstrengung, Überwindung und eines bewußten Entschlusses.671 Kurz gefaßt lautet Hengstenbergs These, daß die Rechtfertigung allein durch den Glauben geschieht, der Glaube aber, um lebendig zu bleiben, der Werke bedarf. Zur Sündenvergebung, zur Gerechtigkeit vor Gott können die menschlichen Werke also nichts beitragen. Das hieße Christi Werk leugnen, indem man versuche, „ein edles Roß und einen Floh zusammenzuspannen“672 . Eine Bedeutung haben die Werke aber insofern, als sie „der notwendige Wetzstein des Glaubens“673 sind und dem rechtfertigenden Glauben seine notwendige Lebendigkeit erhalten. Entscheidend ist dabei, was Hengstenberg unter den Werken versteht. Er hat nämlich gar keine konkreten Werke im Blick: nicht die klassischen Liebeswerke wie Almosengeben oder ähnliches, sondern ganz allgemein die Bewährung im Glauben. Werke sind Handlungen, „in denen sich der Glaube ausgestaltet“, man könnte auch sagen: Werke sind alle Lebensäußerungen, in denen der Glaube von seiner heidnischen Umgebung unterscheidbar wird.674 Hengstenberg hat nun aber nicht nur von Stufen des Glaubens, sondern auch von Stufen der Rechtfertigung und von Stufen der Sündenvergebung gesprochen. Wie der Glaube als Mittel der Aneignung der Rechtfertigung Fortschritte langen kann“, zu verstehen (Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 [1866], Sp.  1116; vgl. ebd., Sp.  1125). 671   Hengstenberg, Rechtfertigung, EKZ 80 (1867), Sp.  574: „Vollbringen, das wächst erst aus der erhaltenen Vergebung der Sünden hervor, aber Wollen, ernstliches Wollen, das muß unter dem Beistande der zuvorkommenden Gnade der Vergebung der Sünden vorangehen, und nach den Graden dieses Wollens richtet sich das Maß der Zuteilung der Vergebung der Sünden.“ Vgl. auch Ders., Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  225–228. Hier wie dort versucht Hengstenberg, das Problem des unfreien Willens mit Hilfe des Gedankens von der zuvorkommenden Gnade zu lösen: „So gewis es aber ist, daß in dem Glauben die Kraft Gottes wirksam ist, ebenso gewis ist es auch, daß unter dem Beistande der vorbereitenden Gnade der Wille des Menschen sich der Kraft Gottes entgegen bewegen muß, wenn der Glaube zu Stande kommen soll.“ (ebd., Sp.  225). Bereits 1831 argumentierte Hengstenberg, daß zur Bekehrung der wirksame Beistand der Gnade nötig sei, dem sich der Mensch allerdings auch widersetzen könne (Hengstenberg, Kraft der Wahrheit, XVII. XII). 672   Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 (1866), Sp.  1113. 673   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  272 – der Begriff wird zum stehenden Begriff für dieses Verhältnis, vgl. auch Ders., Rechtfertigung, EKZ 80 (1867), Sp.  561. 674   Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 (1866), Sp.  1117. Darin zeigt sich Hengstenbergs aktuelles Interesse an der Frage: Er richtet sich mit Jakobus gegen den Libertinismus eines sich dem Zeitgeist anpassenden Christentum, vgl. ebd., 116: „Jakobus hat es dagegen mit einem ganz anderen Gegensatze [sc. als Paulus] zu thun, mit solchen, die im Interesse heidnischer Fleischesfreiheit den Glauben von den Werken absonderten, es für unnötig erklärten, daß der Glaube Werke habe.“

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

265

macht, so wird auch die Rechtfertigung dem Maß des Glaubens entsprechend fortschreitend angeeignet: „Das ganze menschliche Dasein wird ein Räthsel, es verliert seinen Zweck und seine Bedeutung, wenn wir nicht Stufen des Glaubens und der Rechtfertigung annehmen. Wenn schon der ‚Anfang‘ des Glaubens genügt, warum holt Gott die Seinen nicht sofort heim, wenn dies Ziel bei ihnen erreicht ist?“675

Der von Gott verordnete Glaubensweg wird somit als notwendige Entwicklung verstanden, die durch Bewährung und treues Festhalten am Glauben allererst zur vollständigen Aneignung der Rechtfertigung führt. Das Heil ist damit nicht an einen bestimmten Glaubensmoment geknüpft, sondern an eine Entwicklung, die ein Mehr oder Weniger zuläßt. Hengstenberg wendet sich damit gegen die Ansicht, es gebe „kein Drittes zwischen dem in Gnaden sein und nicht in Gnade sein“, und fügt die überraschende Begründung hinzu: „solche Dinge sind nicht nach Formeln zu beurteilen, sondern nach der Wirklichkeit des Lebens.“676 Für seine Sicht der Glaubenswirklichkeit beruft sich Hengstenberg demnach neben der Schrift ganz entschieden auf die Erfahrung. Insbesondere bei der Frage nach der Realität der Sündenvergebung bringt er in bemerkenswerter Weise die Lebenswirklichkeit ins Spiel. In der Auslegung der Perikope von der Sünderin in Lk 9,36–50 vertritt Hengstenberg die Ansicht, daß die Sündenvergebung sich immer nur auf dasjenige beziehen kann, was der Mensch im Gewissen als Sünde erfährt. Mit zunehmendem Glauben wird aber auch die Sündenerfahrung vertieft. Der Christ bedarf daher immer wieder der neuerlichen Vergebung, und insofern ist „die Sündenvergebung subjektiv bedingt“: „Jeder in den Wegen Gottes erfahrene [sic!] wird zugestehen, daß auch die tiefste und gründlichste Buße im Anfange noch eine unvollkommene ist. Nur in einem fortgesezten Leben in der Gnade lernen wir recht verstehen, was es mit der Sünde, die nicht minder wie die Gnade ein dem natürlichen Menschen unzugängliches Geheimnis ist, auf sich hat, nur nach und nach werden die dunklen Tiefen des Inneren immer vollständiger beleuchtet, und ist die Erkentnis der Sünde Anfangs noch unvollständig, so muß es in gleichem Grade auch der Glaube sein, dessen Energie durch die Energie des Sündenbewußtseins bedingt ist.“677

Es gibt daher tatsächlich den Fall, daß von der Sünde, wie Lk 7,47 es beschreibt, nur „wenig vergeben“ wird, dann nämlich, wenn dem Menschen „von seinen vielen Sünden nur wenige aufs Herz gefallen sind. Die Schuld wird nur denen erlassen, welche den Gläubiger mit demütiger Bitte angehen.“678 Die erhaltene Sündenvergebung schließt also eine weitergehende Sündenvergebung nicht aus,

675

  Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  224.   Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  223. 677   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  291. 678   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  290. 676

266

2  Hengstenberg und die Theologie

und auch bereits vergebene Sünden sind – wie die Erfahrung lehre – nicht durch die einmalige Vergebung erledigt: „Es ist gegen alle Erfahrung, daß sich schwere Sündenfälle nach einmal dafür erhaltener Vergebung wie weggewischt darstellen. Sie lassen tiefe Eindrücke im Gemüte zurück, und ihr Gedächtnis führt das Bedürfnis stets erneuter Vergebung der Sünden herbei.“679

Wie der Glaube ist demnach auch die Sündenvergebung nicht ein punktuelles Geschehen, sondern fortwährende Aneignung des Heils, wobei Hengstenberg keinen Zweifel daran läßt, daß „mit der Vergebung der Sünden Heil in jeder Beziehung unzertrenlich [sic!] verbunden“680 sei. Auch die nur geringe Sündenvergebung wirkt heilsam. Vollendetes Heil aber gibt es erst mit der endgültigen Beseitigung der Sünde durch den Tod. Wie realistisch Hengstenberg sich die Erfahrung des Heils vorstellt, wird daran deutlich, daß er alles Leiden, auch das im Leben der Gerechtfertigen, als Strafe für nach wie vor vorhandene Sünde versteht. Die Erfahrung von Leiden und Kreuz weisen den Christen immer darauf hin, daß er noch nicht am Ziel ist und ständiger Buße bedarf. Umgekehrt muß sich die bereits vollzogene, wenn auch unvollkommene Sündenvergebung schon in diesem Leben heilsam auswirken.681 Es ist bemerkenswert, wie stark Hengstenberg bei seiner Lehre vom Glauben und der Sündenvergebung auf die Lebenswirklichkeit und die Erfahrbarkeit des Heils eingeht. Freilich betont er dabei immer wieder, daß sich dies alles „nur auf die Aneignung des Heiles“ beziehe: „Dies Heil selbst ist mit einem Opfer in Ewigkeit vollendet und dies Opfer ist nicht für die Sünden der Welt allein, es ist auch für meine Sünden dargebracht. Darauf hinzublik­ ken, gewährt in dem mühseligen stufenweisen Fortschreiten auf den Wegen der Aneignung, unter den harten Schlägen, die uns treffen, damit wir in diesem Fortschreiten nicht lässig werden, ein seliges Ausruhen, eine labende Erquickung.“

Zweifellos ist Hengstenberg dabei von seiner eigenen Erfahrung geprägt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt verlor er nicht nur seine Frau, sondern starben auch alle seine Kinder.682 Das gilt es immer zu bedenken, wenn Hengstenberg 679   Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  569. Vgl. auch Ders., Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  295: „Jeder wende sich von den Formelmännern ab und steige in sein Gewissen herab, so wird er gewiß die Antwort erhalten, daß auch die vergebenen Sünden, von der Erbsünde an, noch Gegenstand der Bitte sind.“ 680   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  293. 681   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  293: „Bei dieser Unzertrenlichkeit der Vergebung der Sünden und des Heiles ist jedes Leid, das uns trifft, bis zum Zahnschmerz herab, ein Zeichen, daß in Bezug auf die Vergebung der Sünden noch höhere Stufen zu erringen sind, daß hier, wie in Bezug auf alle andern geistlichen Güter, das Wort des Apostels gilt: ich vergesse was dahinten ist und strecke mich zu dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgestreckten Ziele, nach dem Kleinod, welches vorhält die himlische Berufung Gottes in Christo Jesus, Phil. 1, 13.14.“ Vgl. auch Ders., Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  572. 682   Vgl. Bachmann / Schmalenbach 3, 473–490.

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

267

Unglück und Leiden im persönlichen Leben oder in den Geschicken des Volkes als Aufforderung zur vertieften Buße deutet: Er sieht sich selbst davon keineswegs ausgenommen; er spricht hier vielmehr eine Erfahrung aus, die ihn selbst zutiefst prägt. Die Diskussion, die Hengstenberg mit seiner Auffassung von den Stufen des Glaubens bewußt ausgelöst hat – es ging ihm dabei um eine durch die Schrift gestellte, aber von der Dogmatik bisher nicht zureichend eingeholte Frage –, muß hier nicht weiter verfolgt werden. Das Entscheidende ist deutlich geworden: Glaube ist für Hengstenberg nichts Statisches, Unveränderliches, immer gleichmäßig Vorhandenes. Den Glauben gilt es immer wieder neu anzueignen – in den Anfechtungen des Lebens, in Erfahrungen von Leid und Unglück, er muß sich bewähren gegen den Ansturm von Sünde und Teufel, so daß er mehr und mehr das ganze Leben durchdringt. Der Glaubensweg ist ein Prozeß, wie Hengstenberg mit Johann Gerhard festhält: „Hier gibt es keine Vollkommenheit, sondern eine beständige Reise zur Vollkommenheit.“683. Dabei ist das von Gottes Beistand bestimmte Wollen, das immer neue Ergreifen, die immer neue Entscheidung gegen die Sünde und für die Gnade ein aktiv vom Menschen gefordertes Handeln im Glauben. Auf den Punkt bringt Hengstenberg das Vorwärtsdrängende seiner Sicht mit der Aussage: „das Christentum ist eben nicht vorwiegend Beruhigungsanstalt, es hat noch mehr wie die Sterbenden die Lebenden im Auge und geht darauf aus, ihnen das: wachet und betet tief ins Herz einzudrücken.“684 Hengstenberg ist sich bewußt, daß dieser Satz der reformatorischen Rede vom Gewissenstrost auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, doch sieht er darin den angemessenen Umgang mit dem reformatorischen Erbe in einer deutlich gewandelten Lage: „Bloßes Zurückgehen auf die Reformatoren reicht um so weniger aus, da die terrores conscientiae, die Gewissensängste, welche den eigentlichen Ausgangspunkt der Reformation bildeten, die Bedingung des fröhlichen und frischen Glaubenslebens, welches sich durch sie entwickelte, in der Gegenwart so sehr fehlen, die sittliche Schlaff heit so sehr vorherscht [sic!], die Gefahr so nahe liegt, daß die Lehre von der Rechtfertigung als eine wol­feile Abfindung mit der Heiligkeit des Gesetzes gemisbraucht werde, als ein Deckmantel für ein weichliches, laues und flaues Laodicäisches Wesen, welches die Kirche noch tiefer herunterbringt, als kräftige Irrtümer.“685

683

  Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  564 mit J. Gerhards ‚Tröstung wider den Tod‘; vgl. auch Ders., Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp 297. 684   Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  563, die Fortsetzung lautet: „Wo das gelingt, da wird Gott auch ein seliges Sterbestündlein gewähren; wo es nicht gelingt, nun, da ist es ja ganz in Ordnung, daß das Sterben dem schwer wird, der sich das Leben leicht gemacht hat.“ 685   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  271.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Hengstenberg hat im Verlauf der Diskussion betont, daß seine Auffassung nicht neu sei; er habe sie vielmehr schon vor 40 Jahren gegenüber Tholuck vertreten.686 Diese Aussage ist glaubhaft, denn Hengstenberg betont von Anfang an – gerade gegenüber Tholuck – die bleibende Realität der Sünde im Christenleben. Ebenso lehnt er schon früh die Fixierung auf einen einmaligen Bußkampf, wie er in manchen pietistischen oder erwecklichen Zirkeln vertreten wurde, ab, zumal wenn es sich um einen ständig zu wiederholenden, nie befriedigenden Bußkampf handelt.687 Hengstenberg geht es demgegenüber nicht um die ständige Bekehrung des Sünders, sondern um den bekehrten Sünder, um den neuen Menschen, der bleibend gegen den alten kämpft und dadurch wächst und vorankommt. In diesen Kontext gehören auch Hengstenbergs frühe Aussagen über die Notwendigkeit eines gebrochenen Herzens und der Demut, durch welche das Fleisch getötet werde,688 und die Auffassung, daß alle Anfechtungen, auch die durch die rationalistische Wissenschaft oder durch Anstöße in der Schrift ausgelösten, dem Glauben insofern dienen müssten, als sie ihn voranbringen und stärken.689 686

  Wenn Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  299; Anm.* davon spricht, er habe diese Ansicht „vor jetzt ziemlich 40 Jahren in einem freundschaftlichen Streite mit Dr. Th. vertreten (in R.), dessen sich dieser vielleicht noch erinnern wird“, besteht kein Zweifel, daß damit Tholuck gemeint ist, der von Ende Mai 1828 an – also vor „ziemlich 40 Jahren“ – in Rom Gesandtschaftsprediger war (vgl. Witte, Leben 2, 114). 687   Vgl. dazu oben 1.5. 688   Hengstenberg an Therese, 6. Jan. 1828: Bachmann 2, 148 f.: „Ich hoffe nächstens einen Aufsatz über einen Gegen­stand schreiben zu können, der mich schon seit längerer Zeit vielfach beschäftigt hat: ‚Das gebrochene Herz der Mittelpunkt des wahren Christentums und das einzige untrügliche Kennzeichen des wahren Christen‘: Auch da wird das Gefühl mich begleiten, wie weit das Leben noch hinter der Erkenntniß zurückbleibt. Es ist mir besonders in der letzteren Zeit zur lebendigsten Anschauung geworden, wie alles einzelne Böse bei mir in dem Mangel an Gebrochenheit des Herzens seinen Grund und seine Wurzel hat, wie ich daher nicht sowol gegen die einzelnen Fehler, gegen Empfindlichkeit, Härte u.s.w. zu arbeiten, als den Herrn inbrünstiger, wie ich bisher getan, anzurufen habe, daß Er mir das steinerne Herz ganz nehmen und ein fleischernes an seiner Statt geben möchte. Nur in einem gebrochenen Herzen wohnt die wahre Liebe; die nicht daraus hervorgeht, ist Selbstsucht und vor Gott verdammlich. Das weiß ich – o daß ichs damit hätte; aber ich hungere und schreie darnach und der Herr wird mich zu seiner Zeit erhören, wenn Er mich auch noch lange darben läßt, damit ich meine eigene Ohnmacht und Nichtswürdigkeit recht empfinde.“ Vgl auch ders. an dies., 18. Mai 1828: Bachmann 1, 152: „Wie mir, so geht es den meisten der jetzigen Christen. Fast keiner weiß im innern Leben die Begnadigung in Christo und die eigne Sündhaftigkeit von einander zu scheiden; fast bei Niemanden ist das Fortschreiten in der Heiligung streng auf die stets neue Aneignung des Verdienstes Christi und die stets neue Besprengung mit Seinem Blut gegründet. Dies erfuhr ich noch am Donnerstag bei Gerlachs, wo ich mich frei darüber aussprach, daß uns Allen noch eine Hauptsache im Christentum fehle und daß wir hier noch Alle durchdringen müßten.“ 689   Vgl. oben 2.3.2.1. Die „Anstöße, Unsicherheiten, Zweifelsknoten“ sind nach Hengstenberg darum in der Schrift ausgestreut, damit sich daran der menschliche Geist desjenigen, der dazu in der Lage ist, bewährt und stärkt: „Es ist doch Wahrheit in dem bekanten Lessingschen Ausspruche, wenn Gott ihm in der einen Hand die Wahrheit darböte, in der andern das Ringen nach derselben, er würde die leztere ergreifen. [...] Nur durch das Ringen

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

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Hirsch urteilt über jene Aussagen zur Rechtfertigung durch den Glauben: „Große Bedeutung hat das Ganze nicht.“690 Das ist insofern richtig, als die erregte Diskussion, die sich an Hengstenbergs Äußerungen anschloß, suggerierte, Hengstenberg habe nun plötzlich eine Position vorgetragen, die im Widerspruch zu seinen bisherigen „orthodoxen“ Ansichten stünde. Das war aber ganz und gar nicht der Fall, und gerade deshalb ist Hirschs Aussage nun auch wiederum völlig unzutreffend. Sie übersieht nämlich die grundsätzliche Bedeutung, welche die von Hengstenberg vorgetragene Position für sein Selbstverständnis hatte. Daß das Thema aus Hengstenbergs Sicht von Bedeutung war, zeigt sich allein daran, daß er ihm mehrere umfangreiche Aufsätze widmete und andere dazu aufforderte, ihre Einwände vorzubringen und in die Diskussion einzutreten.691 Aber auch von außen betrachtet nimmt Hengstenbergs Lehre von dem kämpfenden, in Werken geprüften und bewährten Glauben eine Schlüsselstellung ein: Sie erklärt nämlich den aktivistischen Zug in Hengstenbergs Wirken, sein drängendes, nie nachgebendes Eintreten für das als richtig Erkannte. Jede Herausforderung, jeden Kampf, jeden Widerspruch sah Hengstenberg als „Wetzstein des Glaubens“ an; so konnte er den Anfeindungen, die ihm entgegengebracht wurden, immer auch etwas Gutes abgewinnen, und er hätte es als Glaubensschwäche empfunden, den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Dazu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: Hengstenbergs Verständnis von der fortschreitenden Aneignung des Glaubens stellt das subjektive Gegenstück zu seiner Lehre von der Objektivität des Wortes Gottes dar. Hier ist der Ort, wo die Erfahrung ihre Geltung reklamiert. Während Hengstenberg sich immer zu zeigen bemüht, daß die Geltungskraft und der Gehalt des göttlichen Wortes nicht von der menschlichen Erfahrung abhängt, legt er umso stärkeres Gewicht nach der Wahrheit, welches freilich nicht, wie bei Lessing, ein resultatloses sein darf, vielmehr in wahrhafter Weise nur da stattfindet, wo die Sicherheit die Wahrheit zu ergreifen gegeben ist, kann die Wahrheit ein selbständiges Eigentum des Geistes werden.“ (Hengstenberg, Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  653 – der ganze erste Teil des Aufsatzes ist ein energisches Eintreten für die menschliche Tätigkeit gegen eine Ansicht, die alles dem Walten Gottes zuschreibt und menschliche Mitarbeit für unnötig erachtet: „Wenn die Pest komt, so faltet der Mohamedaner die Hände, der Christ baut Quarantänen und hebt die Hände erst dann zu Gott empor, wenn er das Seine gethan.“ [Sp.  651 f.]). 690   Hirsch, Geschichte 5, 128. Wenn Hirsch ebd., 127 behauptet, Hengstenberg hätte eine Rechtfertigung aus den Werken vertreten, dann reißt er damit eine auf die „Werke des Glaubens“ bezogene Aussage (Hengstenberg, Der Brief des Jakobus, EKZ 79 [1866], Sp.1117) aus dem Kontext; in Wahrheit lehnt Hengstenberg eine Rechtfertigung aus den Werken ebenso ab wie eine Rechtfertigung aus Glauben und Werken (ebd.). Es handelt sich auch um eine Verwechslung, wenn Hirsch meint, Hengstenberg verteile Jakobus und Paulus auf verschiedene Stufen des Rechtfertigungsgeschehens. Die Pointe von Hengstenbergs Ansicht liegt gerade darin, daß Jakobus und Paulus dieselbe Rechtfertigungslehre vertreten, sie aber in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Akzenten versehen. 691   Vgl. Hengstenbergs Anmerkung unter Preuß’ Aufsatz ‚Die Rechtfertigung des Sünders vor Gott‘, EKZ 80 (1867), Sp.  465.

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2  Hengstenberg und die Theologie

auf die erfahrbare Aneignung des Wortes, durch die sich die im Wort verbürgte Wahrheit im einzelnen Leben durchsetzt. Die Entwicklung des Glaubens wird daher ganz eng, beinahe psychologisch, an das Erfahrbare angelehnt: Die Sündenvergebung ist kein einmaliger, plötzlicher Akt, sondern ein langwieriger Prozeß; der Glaube bleibt sich nicht immer gleich, sondern er unterscheidet sich bei Kindern und Erwachsenen; er wächst und vertieft sich; 692 der Glaube muß sich in seinem Wirken selbst erfahrbar werden, sonst verliert er seine lebensprägende und damit schließlich auch seine rechtfertigende Wirkung. Denkt Hengstenberg sonst im strikten Entweder–Oder, so findet sich hier überall die Vorstellung quantitativer Zunahme und fließender Übergänge. Der Glaube wird dabei höchst aktiv als immer neue Entscheidung für das im Wort Zugesagte verstanden. Darum kommen dem Willen und der menschlichen Aktivität eine große Rolle zu. Die Bewährung des Glaubens geschieht also nicht „sponte“ und „hilariter“, wie Luther es formuliert hatte, sondern durch Willenskraft. Zwar entstammt die Willenskraft laut Hengstenberg nicht dem natürlichen Menschen, sondern hat ihre Urprünge in denjenigen Mitteln Gottes, die auch den Glauben wirken, also in erster Linie dem Wort und den Sakramenten,693 gleichwohl verwundert es nicht, wenn man Hengstenbergs Äußerungen in synergi­ stischem Sinne verstanden hat, als ein Zusammenwirken von menschlichem Wollen und göttlichem Vollbringen. Erstaunlich ist, daß Hengstenberg nie einen Zusammenhang zwischen seiner Sicht und der Lehre vom unfreien Willen hergestellt hat. Darum bleibt hier vieles unklar. Deutlich ist jedoch, daß er, wo es um die Beschreibung des Glaubens geht, ganz Kind seiner Zeit war und das sittliche, verantwortliche, seiner selbst bewußte Ich vor Augen hat, das unter dem Beistand der Gnade das Wort ergreift und unter Anfechtung festhält. Die Wirksamkeit des Wortes kommt dabei nicht deutlich in den Blick.694 Daran 692   Bemerkenswert ist es, daß Hengstenberg als Beleg für seine Sicht die unterschiedlichen Gestalten des Glaubens im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter anführt (Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 [1867], Sp.  223 f.); das weist darauf hin, daß seine Konzeption der Struktur nach gewisse Elemente enthält, die auch moderne entwicklungspsychologische Theorien von den „Stufen des Glaubens“ im Auge haben (zu den modernen Stufenkonzeptionen vgl. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion). 693   Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 (1867), Sp.  225 mit Johann Gerhard, der einen unveränderlichen Ratschluß als Grund der Perseverantia ablehne und stattdessen auf „das Hören des Wortes“, „den Gebrauch der Sacramente“, „das tägliche Gebet“ und „die Scheu vor Sünden“ verweise. 694   Charakteristisch dafür ist, daß Hengstenberg einerseits die Lehre von der fides infantium mit den Worten ablehnt, „der Glaube liegt auf der subjectiven Seite, von der Rechtfertigung aus dem Glauben kann bei einem neugebornen Kinde nicht die Rede sein, und die dennoch von dem Glauben des Unmündigen geredet haben, thaten es mit Verletzung ihres exegetischen Gewissens“ (Hengstenberg, Gegen Preuß, Sp.  558), aber andererseits die „Empfänglichkeit der Unmündigen für die Einwirkungen der göttlichen Gnade“ betont (Ders., Kindertaufe, EKZ 11 (1832), Sp.  449–455.457–461.465–468, Nr.  57–59, hier: Sp.  451; ein zweiter und dritter Artikel zum Thema werden angekündigt, erscheinen aber nicht, daher wird die Frage nicht abschließend behandelt).

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kann man wiederum sehen, daß Hengstenberg nur wenig Interesse dafür zeigt, eine Frage systematisch konsequent und ausgeglichen zu entfalten. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Ihm liegt daran, die Schrift in ihrer jeweiligen Einseitigkeit zu Wort kommen zu lassen.695 Gleichwohl muß man fragen, ob es für die Art und Weise, wie er den Glauben als den Ort der Subjektivität bei der Auslegung ins Spiel bringt, nicht auch ältere Vorbilder gibt. Das Drängen auf die Erfahrbarkeit und das Tätigwerden des Glaubens ist zweifellos Erbe der Erweckungsbewegung, wobei diese wiederum ihre aktivistischen Züge angelsächsischen Einflüssen zu verdanken scheint.696 Die Betonung der erfahrbaren, lebensverändernden Kraft des Glaubens bei Hengstenberg erinnert nicht zufällig an Elemente im Methodismus oder auch im amerikanischen Puritanismus. Allerdings kommen noch näher liegende Einflüsse in Betracht. Der Gedanke, daß der Glaube durch die Werke gestärkt wird, findet sich bereits bei Calvin; 697 allerdings steht Hengstenberg der calvinistischen Prädestinationslehre, die den menschlichen Willen zu depotenzieren scheint, skeptisch gegenüber.698 Die Vorstellung von der Einübung des Glaubens und dem kämpfenden Glauben ist aber ebenso bei Luther699 sowie in der lutherischen Tradition beheimatet. Insbesondere Johann Ger­hard wird von Hengstenberg als Zeuge angeführt.700 Doch letztlich scheint ein anderer lutherischer Theologe entscheidend gewesen zu sein: Keineswegs zufällig beruft sich Hengstenberg bei seiner Kritik des toten Glaubens wiederholt auf Johann Arndt: „Joh. Arnds wahres Christentum war nichts anders als ein Versuch, diese Wunde zu heilen“.701 Wie bereits an anderen Stellen deutlich wurde, zeigt sich auch 695   Hengstenberg sieht es als Eigenart der Schrift an, „auf die Gefahr des Misverständnisses hin die ganze Wucht des Schlages auf einen bestimten Punkt zu richten, und die anderen Seiten bei anderer Gelegenheit ebenso vollständig zu ihrem Rechte kommen zu lassen. Wer überall sich ängstlich verclausulirt, wird nirgends eine durchgreifende Wirkung ausüben“ (Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 [1867], Sp.  268 f.) – so läßt sich auch sein eigenes Vorgehen beschreiben. 696   Vgl. dazu oben Teil 1 und zu den spezifischen Zügen der englischen Erweckten Benrath, TRE 10, 206 f. und Bebbington, Evangelicalism, bes. 20–74. 697   Calvin, Inst. III, 14,18; auch hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Paulus und Jakobus könnte sich Hengstenberg auf Calvin berufen (Inst. III, 17,11–15). 698   Nicht gegenüber Calvin selbst äußert Hengstenberg diese Kritik, sondern an dem von ihm hoch geschätzen Pascal: Der Verfasser der Pensées habe sich zu stark an Augustins Prädestinationslehre angelehnt und den göttlichen Faktor einseitig zu Lasten des menschlichen hervorgehoben (Hengstenberg, Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 [1867], Sp.  136 f.); vgl. zur Wertschätzung Pascals auch Ders., Hermes, EKZ 19 (1836), Sp.  506. Kritik an der Lehre von der doppelten Prädestination übt Hengstenberg erstmals deutlich in seinem Vorwort zu Scotts ‚Kraft der Wahrheit‘ (Hengstenberg, Kraft der Wahrheit, XIII–XVII). Richtig sei „die Annahme der unzweifelhaft biblischen Erwählung der Gläubigen vor Anbeginn der Welt“ (ebd., XII). 699   Vgl. zu Luther Peters, Rechtfertigung, 51–54; Ders., Luthers Katechismen 1,17–19; 3, 28–34. 700   Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  564.571. 701   Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  270, vgl. Sp.  305: „Der Verf.

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2  Hengstenberg und die Theologie

hier, daß der Einfluß von Arndt und seinen ‚Büchern vom wahren Christentum‘ auf Hengstenberg kaum zu überschätzen sein dürfte.702 2.4.1.2  Gottes Gegenwart in der Welt Der dynamisch-aktive Zug, der Hengstenbergs Lehre vom Glauben durchzieht, findet sich auch in seiner Vorstellung von Gott. Bei ihm wird Gott nicht als transzendenter Grund einer in sich stabilen Welt beschrieben, sondern als ständig in der Welt wirkender und handelnder Gott. Hengstenberg selbst sieht in seiner Gottesvorstellung den entscheidenden Unterschied zum Supranaturalismus. Liest man Hengstenbergs exegetische Werke, kann man ja in der Tat fragen, worin sich Hengstenbergs Argumentationsweise von derjenigen supranaturalistischer Autoren unterscheidet. Hengstenberg sieht den Supranaturalismus mit dem Rationalismus in der Frage der Offenbarung auf demselben Boden stehend. Beiden gehe es um das Problem, wie der Schöpfer in die unabhängig von ihm existierende Schöpfung eingreifen und sich darin offenbaren könne. Damit aber habe sich der Supranaturalismus auf die falschen Voraussetzungen des Rationalismus eingelassen: „Den schriftwidrigen Begriff von Natur, als einem nach der Schöpfung selbständig neben dem Schöpfer Stehenden, hatte auch er mit dem Rationalismus gemeinsam;“ deshalb habe man „jede Rede von einem immanenten Verhältnis von Gott zur Welt, [...] als pantheistisch verschrieen.“703 David Friedrich Strauß hat die Betonung der Immanenz Gottes in Hengstenbergs Theologie scharfsinnig wahrgenommen und sie als „scheinbare Annährung“ an Hegels Standpunkt der Spekulation bezeichnet und auf ihre Unvereinbarkeit mit der Annahme einer speziellen Offenbarung hingewiesen.704 Auch Schwarz, selbst der spekulativen Theologie verpflichtet, amüsiert sich über diese Nähe zwischen Hengstenberg und seinen Feinden.705 Allerdings spricht wenig dafür, daß Hengstenberg hier zu einem Schüler Hegels geworden schließt mit den Worten Jo. Arnds: ‚Ich führe rein den hohen Artikel von der Rechtfertigung vor Gott, so aus dem Verdienste Christi als aus einer lebendigen Quellen entspringt, welche so hell und klar sein muß, daß nicht ein Stäubchen mensch­licher Werke darin muß geführt werden. Darum thut man mir vor Gott und seiner Kirche Unrecht und Gott wird zu seiner Zeit solche Lästerung richten‘ Er hat das bei Arnd schon gethan, Er wird es auch hier thun.“ 702   Näherhin geht es dabei um Arndts sog. „Heiligungsmystik. Sie zeigt nicht einen Weg zum Heil, sondern den Weg zur vollen Aneignung des in Taufe und Rechtfertigung dem Menschen bereits zugeeigneten Heils.“ (Wallmann, Pietismus, 18; vgl. Ders., Arndt, bes. 78–82). 703   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  12. Die Distanzierung Hengstenbergs vom Supranaturalismus wird schon 1831 in seiner Distanzierung von J.Ch.F. Steudel deutlich (s. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 115–124). 704   Strauss, Streitschriften, 3. Heft, 47. 705   Er führt ihn auf den Einfluß des zum Hengstenbergkreis gehörenden Hegelianers Göschel und anderer „orthodoxe[r] Dilettanten“ zurück (Schwarz, Theologie1, 72 f. und 88 f.).

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wäre.706 Denn es besteht kein Zweifel, daß er die Betonung der Weltgegenwart des gleichwohl persönlichen Gottes und der dauernden Bezogenheit der Schöpfung auf den in ihr wirkenden, aber nicht in ihr aufgehenden Schöpfer seiner Beschäftigung mit dem Alten Testament verdankt.707 Von hier ausgehend, kann Hengstenberg schließlich auch in der Hegelschen Philosophie Wahrheit ausgesprochen finden; beispielsweise zitiert er häufig und gerne den durch die Aufnahme Hegels berühmt gewordenen Satz Schillers, die Weltgeschichte sei das Weltgericht. Hengstenberg verwendet ihn in dem Sinne, daß sich Gottes zukünftiges Handeln bereits in der Gegenwart erweisen müsse, andernfalls könne man es auch nicht für die Zukunft glauben: „Nur wo in der Geschichte ein fortgehendes Weltgericht erkannt wird, ist der Glaube an das Weltgericht ein begründeter und vernünftiger. Vollmachtsbriefe zum Glücke in der Ewigkeit sind werthlos, wenn der Aussteller sich nicht schon in diesem Leben hinsichtlich seiner Macht uns seines guten Willens ausweist.“708

Wenn Hengstenberg hier und an vielen anderen Stellen energisch betont, daß Gott mitten in der Welt, in der Geschichte Israels, in der Geschichte der Völker und auch in der gegen­wär­tigen Zeit wirkt, dann geht es dabei wiederum um die Erfahrbarkeit des Glaubens: „Wer von Herzen an einen lebendigen, liebenden und gerechten Gott glaubt, der muss nothwendig annehmen, dass er sich auch in Segen und Strafe in diesem Leben offenbare. Die entgegengesetzte Ansicht ist, so vornehm sie sich auch geberden mag, nichts anders als practischer Atheismus.“709

In der Welt ist Gott ständig am Werk, segnend und strafend. Darum sieht Hengstenberg in allen Entwicklungen und Widerfahrnissen sowohl der großen 706   Zu Hengstenbergs Verhältnis zu Hegel vgl. Kramer, Hengstenberg, 96–106 und Nabrings, Stahl, 100–104. Beide weisen zu Recht darauf hin, daß Hengstenbergs Polemik gegen Hegel erst Mitte der 30er Jahre nach dem Erscheinen von Strauß’ ‚Leben Jesu‘ einsetzt; allerdings war er auch zuvor kein Hegelianer, er sah in Hegel zunächst lediglich einen natürlichen Verbündeten im Kampf gegen den Rationalismus. 707   Baur, Kirchengeschichte, 421 hat recht, wenn er an Hengstenberg die „Uebereinstimmung seines Geistes mit dem des Alten Testaments“ hervorhebt, freilich sieht Baur im Unterschied zu Hengstenberg im Alten Testament einen anderen Geist am Werk als im Neuen Testament. Wie Hengstenbergs Gottesverständnis aus dem Alten Testament schöpft, zeigt sich z. B. in seinem Psalmenkommentar (Hengstenberg, Psalmen, bes. 4, 273–277); vgl. auch Ders., Theokratie, EKZ 25 (1839), Sp.  600 f. 708   Hengstenberg, Hiob, EKZ 58 (1856), Sp.  156; vgl. auch schon Ders., Zur Auslegung der Propheten, EKZ 12 (1833), Sp.  185: „Es könnte gar kein Endgericht geben, wenn nicht schon die ganze Weltgeschichte aus Gerichten Gottes bestände. Es muß ein Endgericht geben, weil sie daraus besteht. Enthielte die Schrift auch ausdrücklich kein Wort davon, so würde es doch ganz feststehen.“ und Ders., Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  14. – Das im Fließtext angeführte Zitat verweist auf die Herkunft des Satzes aus Schillers Gedicht ‚Resignation‘, wo ebenfalls vom „Vollmachtbrief zum Glüke“ die Rede ist (Schiller, Resignation: Nationalausgabe 1, 166,12 und 168,95). 709   Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 2, 583.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Geschichte als auch im Leben des Einzelnen Gottes Wirken. Jedes Leid und jede Krankheit muß als Strafe Gottes in dem Sinne gewertet werden, daß Gott auf diese Weise die Sünde – insbesondere auch im Leben der Gläubigen – bekämpft und die Sehnsucht nach der Rettung verstärkt. Kriege und Seuchen, Revolution und Aufruhr sind Bußrufe Gottes, sie sind Hinweise auf die Sünde des Volkes. Die Lehre von Gottes Strafe und Vergeltung hat für Hengstenberg deshalb auch keinen negativen Beigeschmack, denn darin zeigt sich der um den Menschen ringende Gott, wobei Hengstenberg ausdrücklich darauf hinweist, daß dieses Gottesbild nicht einseitig dem Alten Testament zugeschrieben werden dürfe, sondern die ganze Bibel präge.710 Eine Konsequenz dieser Sichtweise ist, daß Hengstenberg durch sie in die Lage versetzt wird, auch in den Bewegungen, die er mit allen Mitteln bekämpft, Gottes Wirken zu sehen. In ihnen erweist sich Gottes Gericht, an ihnen soll der Glaube neu herausgefort werden, seinen „Wetzstein“ finden. An und für sich durch und durch negativ bewertete Entwicklungen können daher im größeren Zusammenhang in einem positiven Licht erscheinen – als Form der Pä­ dagogik Gottes. Nicht einmal in der Revolution von 1848 sieht Hengstenberg allein menschliche Regungen am Werk, vielmehr ist es Gott, der unter dem menschlichen Handeln wirkt. Sein erstes öffentliches Votum zur Revolution beginnt mit einer Kompilation aus Klagelieder 1–3 und dem zentralen Satz: „Wer darf denn sagen, daß solches geschehe ohne des Herrn Befehl?“711

2.4.2  Theologische Einflüsse Hengstenberg ist unter dem Einfluß von Tholuck und Neander zum Bibeltheologen geworden. Hier liegt die bleibende Mitgift der Erweckungsbewegung in Hengstenbergs theologischer Entwicklung, die man schon allein deshalb nicht unterschätzen darf, weil Hengstenberg zeit seines Lebens Schrifttheologe geblieben ist, dessen ganzes theologisches Denken und Handeln sich nur von hier aus erschließt. In der Art und Weise, wie Hengstenberg die Bibel auslegte, ist er freilich seine eigenen Wege gegangen. Nicht ohne Einfluß war, daß er die gesamte exegetische Literatur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts rezipiert hat. Er hat, wie er selbst sagt, die geschichtliche Betrachtung der Schrift als Fortschritt 710

  Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 2, 577–593; Psalmen 4, 284–288; ausdrücklich befaßt sich Hengstenberg mit der Frage der Theodizee im Vorwort, EKZ 20 (1837), Sp.  18–20. 711   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen, EKZ 42 (1848), Sp.  241 (vgl. Klgl 3,37). Entsprechend wird auch die Überwindung der Revolution nicht als Erfolg der Reaktion, sondern als Werk Gottes gedeutet, EKZ 46 (1850), Sp.  1: „Du [...] verneuerst die Gestalt der Erde“ (vgl. Ps 104,30).

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angesehen; darin sah er die Berechtigung des neuartigen Zugangs zur Schrift in der Zeit der Auf klärung, auch wenn er die sich damals in den Bibelwissenschaften verbreitende Art der historischen Forschung ablehnte. Insofern ist es selbstverständlich, daß Hengstenberg auch von den Theologen des 18. Jahrhunderts Anregungen empfangen hat. Wie seine Werke und seine Bibliothek zeigen, hat er sich beispielsweise intensiv mit Chr.A. Crusius und J.D. Michaelis auseinandergesetzt.712 Doch fällt es schwer, Einflüsse in grundlegenden Fragen nachzuweisen. Er kann die Genannten in Einzelfällen positiv rezipieren und sich trotzdem insgesamt kritisch zu ihnen äußern.713 Michaelis scheint insbesondere durch seine Betonung der Philologie für Hengstenberg vorbildlich gewesen zu sein.714 Eindeutiger positiv erscheint demgegenüber die Aufnahme von Erkenntnissen der älteren Exegese in Hengstenbergs Kommentaren. Die größte Rolle spielen dabei Calvin sowie Vitringa für das Alte und Bengel für das Neue Testament. Auch Luther wird rezipiert, doch längst nicht so häufig und so zustimmend, wie es bei den Vorgenannten der Fall ist.715 Zwar übernimmt Heng­stenberg auch von den Älteren nichts ungeprüft, doch nur wenige Ausleger werden von ihm so vorbehaltlos gelobt wie Calvin, Vitringa und Bengel.716 712   Beide werden unzählige Male in Hengstenbergs Werken herangezogen; von Michaelis’ Schriften finden sich 36 Bände in Hengstenbergs Bibliothek (vgl. oben den Exkurs über Hengstenbergs Bibliothek). 713   Hengstenberg, Christologie2 3/2, 127 wirft Delitzsch eine Überschätzung Crusius’ vor: „Die Leistungen von Crusius für das A.T. können nicht entfernt mit demjenigen verglichen werden, was Bengel [...] für die Erklärung des N.T. geleistet hat. Grade was Bengel so auszeichnet, der Geist der Hingabe an die Schrift, der mikroskopischen Beobachtung, geht Crusius gar sehr ab.“ Andererseits sieht er in „dem frommen und denkenden Leipziger Theologen Crusius“ den Lehrer Jänickes (Ders., Glauben und nicht im Schauen, EKZ 80 [1867], Sp.  137). 714   Vgl. zu Michaelis Smend, Alttestamentler, 13–24 und Sandys-Wunsch, Critics, 980– 984; zu Crusius Beutel, Auf klärung, 233, Anm.  33. 715   Im Umgang mit der Schrift kann Hengstenberg die spätere lutherische Kirche Luther vorordnen und sie als den Ort bezeichnen, an dem sich „der wahrhaftigte, gereinigte Luther darstellt“ ( Jakobus, EKZ 79 [1866], Sp.  1128); so nennt er auch J. Gerhard „lutherischer als Luther selbst, was freilich cum grano salis verstanden sein will“ (Vorwort, EKZ 70 [1862], Sp.  74). Generell gilt für Hengstenbergs Lutherrezeption, daß er dem späteren Luther den Vorrang vor dem früheren gibt: „Es ist ja aber allgemein in der Kirche anerkannt, daß der frühe Luther manches Unlutherische gesagt hat, daß der einseitige Gegensatz gegen das Pabstthum ihn in der ersten Zeit der Reformation mannigfach zu Behauptungen fortriß, die aus der Scylla in die Charybdis führten, daß man Luthers wahre Ansicht nur dann hat, wenn seine Überzeugungen durch die Feuerprobe des Kampfes mit dem andern Extrem, mit dem aufrührerischen Geiste des Bauernkriges, der wiedertäuferischen Bewegung und anderen destructiven Richtungen hindurchgegangen sind.“ (Vorwort, EKZ 50 [1852], Sp.  15). 716   Mit Calvin sieht Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, III den relativen Höhepunkt der bisherigen theologischen Auslegung des Pentateuchs erreicht; darum hat er 1838 selbst eine Ausgabe von Calvins Genesiskommentar herausgebracht (Hengstenberg, Commentarius), außerdem war er der Meinung, daß Calvins Kommentare für die Laien auf deutsch herausgegeben werden sollten (Ders., Kraft der Wahrheit, VII). – Vitringa hat zu-

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2  Hengstenberg und die Theologie

Außerdem läßt sich Hengstenberg nicht nur in Einzelfragen der Auslegung von ihnen leiten, sondern stimmt ihnen auch grundsätzlich in der Art und Weise zu, wie sie an die Schrift herangehen. Calvinscher Einfluß läßt sich darüber hinaus in vielen grundlegenden hermeneutischen Fragen nachweisen: Die Lehre vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes oder die enge Verbindung von Altem und Neuem Testament lassen sich hier ebenso nennen wie das Verständnis von der Schrift als harmonischer Einheit.717 Auch der Rigorismus, den Hengstenberg in ethischen Fragen an den Tag legt, paßt eher zu einem Reformierten als zu einem Lutheraner. Schaffs Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen: „Had he been born and raised in Scotland or New England, he would no doubt be a most rigorous Calvinist.“718 So gesteht Hengstenberg auch verschiedentlich ganz offen ein, daß er in der Theologie „Niemand mehr verdankt, als Calvin“719. Indes, es ist doch charakteri­stisch, daß sich Hengstenberg nicht auf einen einzigen Ahnherrn beziehen läßt. Das wichtigste Merkmal seiner Theologie ist nämlich die Betonung der Autorität der ganzen Schrift, das tota scriptura. Jenes Kennzeichen konnte er nun aber nicht nur bei Calvin finden, sondern eben auch bei Bengel oder in der lutherischen Orthodoxie 720. Darin liegt der tiefere Grund, warum Hengstenberg seine Sicht der Schrift schlicht für die kirchliche Sichtweise angesehen hat und warum ihm neben Calvin, Vitringa und Bengel ebenso die Schriftauslegungen der lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, allen voran die exegetischen Werke A. Calovs und J. Gerhards, als Bezugspunkte dienen konnten. Zweifellos stellten diejenigen Theologen für ihn eine besondere Autorität dar, die von der autoritativen Gel­tung der ganzen Schrift und aller ihrer Teile ausgingen. Ablehnung von und Zustimmung zu theologischen Konzeptionen entscheiden sich für Hengstenberg also immer an demselben Punkt. Weil Johann Gerhard die seiner Ansicht nach richtige Haltung der Schrift gegenüber einnimmt, kann er dessen Loci zur Lektüre empfehlen,721 Schleiermachers Glaubenslehre lehnt er demgegenüber allein schon deshalb ab, nächst durch seinen Jesajakommentar Einfluß auf Hengstenberg ausgeübt: Das Hengstenbergsche Exemplar, v. a. der erste Band weist zahlreiche Randmarkierungen auf (UChL, Sig.: f BS1516.V79); vgl. zur Bedeutung von Vitringas Jesajakommentar Sandys-Wunsch, Critics, 972–976; vgl. zu Bengel auch oben bei Anm.  255 und 540. 717   Auf die Prägung durch Calvin haben bereits viele hingewiesen: Kahnis, Grundwahrheiten, 23; Ders., Gedächtniß, Sp.  424; Schaff, Germany, 305; Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 88; Beckmann, Wurzel, 259. Was Davis, Hermeneutics, 6–8 als Einfluß pietistischer Hermeneutik, insbesondere derjenigen Franckes ausmachen will, läßt sich viel einfacher von Calvin her verstehen. Das gilt auch für die „Erbauung“ als hermeneutisches Konzept (vgl. dazu Böttger, Erbauungsbuch). 718   Schaff, Germany, 305; vgl. auch Kahnis, Grundwahrheiten, 152. 719   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  670; vgl. dazu auch unten 3.2.1. 720   Vgl. zur lutherischen Orthodoxie Jung, Schrift. 721   Vgl. die sehr wahrscheinlich von Hengstenberg stammende Anzeige der von Preuß herausgegebenen Loci, EKZ 73 (1863), Sp.  1025: „Die Loci von Joh. Gerhardt enthalten nicht allein die reine Lehre in zuverlässiger Weise, sondern bilden für sich eine Art theologischer Bibliothek.“

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weil ihre Stellung zur Schrift in seinen Augen problematisch ist. Trotzdem übernimmt Hengstenberg damit nicht schlicht die orthodoxe Dogmatik. Gerade weil er sich mit Gerhard, Calov u. a. in der Schriftfrage einig weiß, kann er diese Theologen, ihrem Selbstverständnis entsprechend,722 von der Schrift aus kritisieren. Es ist also durchaus zutreffend, wenn man der orthodoxen Theologie des 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle im Denken Hengstenbergs einräumt – allerdings nur dann, wenn man die Art und Weise der Rezeption präzise bestimmt: Hengstenberg hat die Theologen der lutherischen Orthodoxie in erster Linie als Bibeltheologen wahrgenommen. Auf diese Weise hat er Zugang zu ihnen gewonnen. Zwar besaß er auch alle wichtigen dogmatischen Lehrbücher, doch ihnen allein gestand er nicht das letzte Wort zu. So kann er Gerhard, den Dogmatiker, mit Gerhard, dem Schriftausleger kritisieren: „Diese Worte hat aber nur Joh. Gerhard der Dogmatiker gesprochen […]. Joh. Gerhard der Schriftausleger redet anders.“723 Entsprechendes gilt auch von den Reformatoren. Wie die Untersuchung seiner Bibliothek ergibt, hat er von Calvin und Luther vor allem die exegetischen Werke benutzt.724 Das entspricht durchaus dem, was man bei einem Alttestamentler vermutet. Bei der Beurteilung des Verhältnisses Heng­ stenbergs zur Reformation und Orthodoxie wurde dieser Punkt jedoch bisher erstaunlicherweise nie berücksichtigt. Bei der Rezeption der Theologen des orthodoxen Zeitalters läßt sich noch eine weitere Beobachtung machen: Nach der alttestamentlichen Literatur nehmen, wie gezeigt, die Ascetica den größten Raum in Hengstenbergs Bibliothek ein. Dabei tauchen schon sehr früh die erbaulichen Werke der lutherischen Orthodoxie, vor allem solche aus der Zeit der „Frömmigkeitswende“ um 1600 auf. Man kann also zum einen folgern, daß es jene Theologen waren, die Hengsten722   Vgl. Hengstenberg, Die Sünderin, EKZ 80 (1867), Sp.  267: „Bei Chemnitz, Gerhard, Calov, Quenstedt kann man lange suchen, ehe man eine Beziehung auf die Bekentnisschriften antrifft. Sie gehen immer unmittelbar auf die Schrift zurück und sie würden es sich nie verziehen haben, einen Lehrer der Schrift, welcher sich auf die heilige Schrift beruft, privatim oder gar öffentlich zu verdammen, ohne in der eingehendsten Weise seine Schriftbeweise widerlegt zu haben.“ Gegen ein bloßes Berufen auf Einzelaussagen orthodoxer Theologen wendet Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  564 ein: „Es wäre mit der Theologie der evangelischen Kirche zu Ende, wenn Streitfragen durch die Berufung auf solche ganz beiläufige Aeußerungen einzelner Lehrer entschieden werden könten, die vor uns armen Jeztlebenden in Wahrheit keinen anderen Vorzug haben, als daß ihre Schriften schon bestaubt sind.“ 723   Hengstenberg, Gegen Preuß, EKZ 80 (1867), Sp.  571. 724   Das ergibt sich zum einen aus Hengstenbergs Bibliothekskatalog, in dem schon früh viele exegetische Werke der Reformatoren auftauchen, und zum anderen an den Benutzungsspuren: So hat Hengstenberg bereits frühzeitig die Walchsche Lutherausgabe besessen (UChL, Sig.: BR330.A3), die meisten Benutzungsspuren zeigen die Bände exegetischen Inhalts, vornehmlich die Psalmenauslegungen. Vgl. auch oben, 1.3.2, die Beobachtungen zu Hengstenbergs Schrift ‚über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes [...]‘.

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2  Hengstenberg und die Theologie

berg darin bestärkt haben, wissenschaftliche Exegese und erbauliche Zielsetzung in der ihm eigenen Weise zu verbinden. Zum anderen ergibt sich dadurch für die Rezeption der Orthodoxie eine weitere Präzisierung: Es waren sowohl die exegetischen als auch die erbaulichen Schriften, die auf Hengstenberg den größten Einfluß ausübten. Erst in zweiter Linie folgen die dogmatischen Werke. Stellt man diese spezifische Rezeptionsrichtung in Rechnung, dann versteht man, warum es für Hengstenberg keine „tote Orthodoxie“ und ebensowenig einen Gegensatz zwischen theologischer Lehre und Erbauung gab. Gerade in ihrem auf die Frömmigkeit zielenden Interesse an der wahren Theologie waren ihm die Theologen des 17. Jahrhunderts ein Vorbild.725

2.4.3  Theologischer Fluchtpunkt „Die Wonne seines armen Lebens ist die Vertiefung in die heilige Schrift, und er segnet jede Stunde, die er über seinen Psalmen sitzen kann“726 , schreibt Hengstenberg 1845 – mitten im Kampf gegen Lichtfreunde und Schleiermacherianer – über sich selbst, und es gibt, wenn man die in den vorigen Abschnitten vorgelegte Sicht von Hengstenbergs theologischem Selbstverständnis für plausibel hält, keinen Grund, die Aussage als bloße Stilisierung aufzufassen. Hengstenbergs Theologie ruht ganz auf seiner Schriftauslegung auf. Der lapidaren Feststellung Kahnis’: „Hengstenberg war wesentlich Schrifttheologe“727 ist entgegen der Tatsache, daß sie in späteren Darstellungen kaum rezipiert wurde, nach Sichtung des Materials voll und ganz zuzustimmen. Man mag darüber streiten, ob Hengstenbergs Auffassungen von Inspiration, Offenbarung, Geschichtlichkeit der Schrift usw. ihrem Gegenstand angemessen sind und ob seine Prinzipien der Schriftauslegung kritischer Begut­achtung standhalten oder nicht. Das ändert jedoch nichts daran, daß nach Hengstenbergs Selbstverständnis „die Vertiefung in die heilige Schrift“ sowohl die Quelle seines theologischen Denkens als auch der Antrieb für sein Handeln in Kirche und Politik war. Wie gezeigt wurde, beurteilt er alle theologischen Richtung mit pene­ tranter Hartnäckigkeit aufgrund des Stellenwerts, den die heilige Schrift bei ihnen einnimmt. Den Niedergang der Schriftautorität hält er für das Hauptübel der modernen Theologie. Auf der anderen Seite kritisiert er aber auch eine konfessionelle Theologie, die die Schrift zwar dem Prinzip nach hochhält, ihr aber im praktischen Vollzug nicht den entscheidenden Stellenwert einräumt, 725   Daß diese Sicht der Orthodoxie zutreffender ist als das Zerrbild einer toten Orthodoxie, bestätigt die jüngere Forschung zum orthodoxen Zeitalter, vgl. Leube, Orthodoxie; Sparn, Krise, 54 f.; Wallmann, Pietas, 105 f.; Jung, Schrift; Matthias, Theologie, 19 f. u.v.m. 726   Hengstenberg, Die Erklärung vom 15. August, in: EKZ 37 (1845), Sp.  787. 727   Kahnis, Gedächtniß, Sp.  423.

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

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eine Theologie also, die sich nicht in die Schrift vertieft, sondern sich ihrer nur bedient.728 Was auch immer weiter unten über den Stellenwert der Bekenntnisschriften in Hengstenbergs Denken und Handeln zu sagen sein wird, so muß doch bereits jetzt festgehalten werden, daß der Orientierung an ihnen abgesehen von ihrer Bezogenheit auf die Schrift kein Eigengewicht zugemessen wird. Bekenntnisschriften haben für Hengstenberg Normativität, weil in ihnen in richtiger Weise auf die Schrift zugegriffen wird (vgl. 2.2.3). Abgesehen von der Schrift sieht er in ihnen kein Leben.

2.4.4  Theologische Isolation? Vielfach hat man die „Isolierung des Christentums“ als Konsequenz der Erwek­ kungs- oder Restaurationstheologie angesehen. So folgert Elert: „Indem die Restaurationstheologen aber das Bekehrtsein oder Erwecktsein [...] für die notwendige Voraussetzung ihrer Arbeit erklärten, wurde die Theologie dem Urteil der profanen Wissenschaften gänzlich entrückt. Nicht allein ihr Gegenstand, auch nicht allein ihr Zweck trennt sie von den übrigen Wissenschaften, sondern die subjektive Verfassung derer, die sich mit ihr beschäftigen.“729

Andererseits hält er ihr zugute, daß sie zu einem neuen Selbstbewußtsein der Theologie als Wissenschaft beigetragen habe.730 Ausgehend von dieser Beobachtung muß abschließend die Frage aufgenommen werden, welche Stellung in Hengstenbergs Sicht die Theologie in Wissenschaft und Kultur seiner Zeit einnehmen sollte. Die eine Seite ist nach dem oben Ausgeführten schnell beschrieben. In der Tat drängt Hengstenberg darauf, daß die Theologie nicht unkritisch gegenüber den Ergebnissen der modernen Forschung sein dürfe, sondern von eigenem Boden aus und mit ihrem eigenen Maßstab ihre Ansprüche verteidigen müsse. In selbstbewußter Auseinandersetzung mit den anderen Wissenschaften und geistigen Strömungen sei sie dazu da, den Gliedern der Kirche die Waffen zu liefern, mit deren Hilfe sie in den Herausforderungen der Zeit ihren Glauben verantworten können. Insofern wird die Theologie wieder nahe an die Kirche 728   Vgl. Hengstenberg, Schriftprinzip, EKZ 36 (1845), Sp.  441–443, speziell Sp.  443: „Viele suchen jetzt das Heil der Kirche in der Rückkehr zu ihren Bekenntnißschriften, aber diese kann nur auf Grund einer aufrichtigen und vollständigen Rückkehr zur heiligen Schrift erfolgen, und nur insofern heilsam seyn, als sie diese Grundlage hat“ oder den Hinweis, daß „die Zeit der confessionel befangenen Exegese jetzt vorüber ist“ (Ders., Die Sünderin, EKZ 80 [1867], Sp.  304). 729   Elert, Kampf, 85 f.; ähnlich Hirsch, Geschichte V, 130. 730   Elert, Kampf, 93. – Mißlich an Elerts Darstellung ist, daß sie auf einer sehr dünnen Quellenbasis aufruht und zu allem Überfluß auch noch einen Vortrag des völlig unbedeutenden Alfried Hengstenberg, Bochumer Pfarrer und Cousin des Berliner Professors, so auswertet, daß nicht klar wird, ob er von E.W. Hengstenberg unterschieden wird (ebd., 229 f.).

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2  Hengstenberg und die Theologie

herangerückt. Die Zugehörigkeit der theologischen Fakultäten zur Kirche wird immer wieder hervorgehoben. Die andere Seite ist allerdings komplizierter.731 Hengstenberg betont je länger je mehr, daß sich die Theologie nicht von der Kirche verzwecklichen lassen dürfe, indem sie ihre Arbeit auf das jeweils praktische Interesse ausrichte.732 Die Theologie ist bei Hengstenberg zwar Dienerin der Kirche, aber sie unterliegt nicht dem Diktat der kirchlichen Notwendigkeiten.733 Sie müsse sich um die Lehre kümmern und dürfe dabei nicht in erster Linie das kirchliche Leben und dessen Bedürfnisse im Auge haben. Das bedeutet: Gerade die kirchliche Verpflichtung der Theologie schließt ein, daß sie sich ganz der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Diskussion widmet. Sie muß auf der Höhe der Zeit und insofern der kirchlichen Realität voraus sein. Negatives Gegenbeispiel ist für Hengstenberg der Pietismus, der sich unter Vernachlässigung der Wissenschaften ganz der Frömmigkeit und Heiligung gewidmet und gerade damit den Glauben entschieden geschwächt habe. Hengstenberg entdeckt in den 40er Jahren ähnliche Entwicklungen durch die Zunahme der Vermittlungstheologie, die er wiederholt als „moderne gläubige Gefühltstheologie“734 bezeichnet. Sie fühle sich der Kirche verpflichtet, ziehe sich dabei aber ganz auf das fromme Subjekt zurück, um mit den anderen Wissenschaften nicht ins Gedränge zu geraten. Auch unter den Frommen sieht er solche Tendenzen am Werk. Eine „zu weit getriebene Reaction gegen den Rationalismus“ habe „lau gemacht gegen die natürliche Theologie, welche in älterer Zeit als der notwendige Unterbau der positiven betrachtet wurde.“ Die Kirche dürfe diesen Bereich nicht geringschätzen, sie müsse wieder beginnen „auch das Buch der Natur zu deuten und aus ihm die Herrlichkeit des Schöpfers zu verstehen.“ Dabei müsse sie auf die anderen Wissenschaften und ihre Erkenntnisse kritisch eingehen: 731   Einschlägig hierfür sind die Vorworte der EKZ, in denen sich Hengstenberg regelmäßig zur Entwicklung der Theologie geäußert hat, insbesondere in den Jahren 1836, 1848, 1856, 1861, 1869. 732   Vgl. zu dem „engherzige[n] Nützlichkeitsprincip“, das „in die Glaubenslehre eingeführt, zuerst diese als Wissenschaft, dann aber auch den Glauben selbst zerstören müsse“ (EKZ 26 [1840], Sp.  2 0) oben Teil 1, Abschnitt 1.5. Als in den 40er und 50er Jahren die Frage der Kirchenverfassung die Aufmerksamkeit der Theologen zunehmend auf sich zog, warnt Hengstenberg, daß der Theologie und der Kirche, „der sie zunächst dienen soll“, nichts Schlimmeres passieren könne, „als wenn sie [sc. die Theologie] aus der stillen Studirstube herausgerissen wird in die Sitzungssäle“ (Vorwort EKZ 42 [1848], Sp.  5 ); zunehmend sah er die „wissenschaftliche Theologie [...] in unserer Kirche von ernsten Gefahren bedroht. Die unmittelbar practischen Interessen nehmen, bei der Unermeßlichkeit der gestellten Aufgaben, mehr und mehr die edelsten Kräfte völlig in Anspruch“ (Hengstenberg, Christologie2 1, V). 733   Darum ist die Formulierung Kramers, für Hengstenberg sei die Theologie „– modern gesprochen – eine Funktion der Kirche“ (Kramer, 145; ebs. Wulfmeyer, 65) sehr mißverständlich. Wenn man unbedingt so formulieren möchte, dann müßte man sie eine Funktion des kirchlichen Glaubens nennen. Vgl. zum Problemkreis Rieger, Theologie. 734   Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  29, dort auch die folgenden Zitate.

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

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„Wir gehören nicht zu den ‚Anhängern der Reaction‘, welche den Untergang der Philosophie herbeiwünschen. Wir hoffen vielmehr auf ihre Wiedergeburt, trotzdem daß wir allerdings ihren Schaden für verzweifelt böse halten.“735

Wissenschaft und Kunst „in der weitesten Ausdehnung, auch mit Einschluß der Naturwissenschaften“, seien von der Kirche nicht zu meiden, „sondern eifrig zu betreiben, liebend zu pflegen und mit ihrem Geiste zu durchdringen.“ Nur so könne die Theologie auch dem Glauben dienen und eine selbstbewußte Rolle ausfüllen: „Pietistische Einseitigkeit, die oft nichts weiter ist als ein Angefressenseyn von dem auf das Materielle und unmittelbar Nützliche gerichteten niederen Sinne der Zeit, endigt damit, auch die Frömmigkeit zu zerstören. Es ist eine wesentliche Bedingung des Sieges der Kirche, daß sie nichts Menschliches sich fern achtet. Wird die Kirche einseitig und engherzig, so ist die Folge die, daß sie gar bald in einen Winkel zurückgedrängt wird.“736

Eine Isolierung der Kirche sieht Hengstenberg dann heraufziehen, wenn sie sich nach verlorenem Rückzugsgefecht mit den modernen Wissenschaften nur noch einseitig auf das sichere Gebiet der Frömmigkeit zurückzieht und die anderen Gebiete des Lebens preisgibt. Demgegenüber betont er: „Das engherzige und bornierte Verwerfen ganzer der Heiligung fähiger Gebiete des Lebens und der Wissenschaft, das sich der Pietismus zu Schulden kommen ließ, wird sich bei uns nicht nachweisen lassen“737. Seine alttestamentlichen Arbeiten, beispielsweise die Aufnahme der historischen Forschungen über das alte Ägypten, zeigen, wie er sich dieses Programm vorstellt. Auch bei den Themen der EKZ achtete Hengstenberg seit jeher darauf, daß alle geistigen Erscheinungen der Zeit – nicht nur die dem Bereich der Kirche entstammenden – besprochen werden.738 Die Gefahr, daß sich unter dem Dach der Kirchenzeitung eine wissenschaftsmüde und praxisfixierte Pfarrerschaft versammeln könnte, scheint 735

  Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  30.   Ebd., auch die vorhergehenden Zitate. Vgl. auch schon im Vorwort, EKZ 18 (1836), Sp.  2 die Kritik an solchen Frommen, die „in Litteratur und Leben sich in einen engen Kreis einschließen“. 737   Vorwort, EKZ 26 (1840), Sp.  29. 738   Vgl. dazu Hengstenberg, Charlotte Stieglitz, ein Denkmal. [...], EKZ 17 (1835), Sp.  750–767.769–783, Nr.  94–98, bes. Sp.  751, wo auch schon das von Terenz stammende Motto „nihil humani a me alienum puto“ für die Kirche ausgegeben wird mit dem Hinweis: „Unser Volk namentlich ist ein christliches; jedes seiner Glieder wird durch die Taufe dem Heilande geweiht, tritt in den Bereich seiner Gnadenwirkungen. Wir dürfen nicht willkührlich den Kreis enger ziehen, und wehe uns, wenn wir es thun. Wo wir unsere An­sprüche anfangen aufzugeben, so mehren sich die Ansprüche der Welt, bis sie endlich die Kirche Christi in einen Winkel zurückgedrängt hat. [...] Was jedes Kind der Welt gelesen haben muß, wenn es auf der Höhe des Tages stehen will, das haben auch wir [...] gerade eben so viel Grund zu lesen. Es kann jetzt unter Umständen mehr Pflicht seyn, ein durchaus weltliches Produkt zu lesen, als ein Erbauungsbuch.“ Vgl. auch Ders., Vorwort, EKZ 4 (1829), Sp.  7: „Nicht bloß die Theologie bedarf einer Umgestaltung durch das Evangelium, sondern das ganze Gebiet des Lebens und der Literatur soll seinen segensreichen Einfluß erfahren.“ 736

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2  Hengstenberg und die Theologie

Hengstenberg nicht entgangen zu sein; zunehmend wirkte er dieser Tendenz mit deutlichen Worten entgegen.739 Hengstenberg hat also nichts mit der Karikatur eines Scheuklappen tragenden Theologen zu tun, der moderne Bildung und Wissenschaft so meidet wie der Teufel das Weihwasser.740 Wenn er auch die „ungläubige Wissenschaft“ nicht für fähig hielt, die theologische Wahrheit und die Eigenart der Bibel richtig zu erfassen, so hielt er sie dennoch keineswegs für irrelevant. Auch bestritt er ihr nicht in jeder Hinsicht die Urteilsfähigkeit über theologische Zusammenhänge. Im Gegenteil: Profanhistoriker hielt er grundsätzlich für unbefangener als rationalistische Theologen.741 So spielt bei ihm zwar in der Tat, wie Elert bemerkt, die „subjektive Verfassung“ des Forschers eine Rolle, doch hielt er gleichwohl einen wissenschaftlichen Diskurs für möglich, sofern sich nachvollziehbar zeigen läßt, daß eine solche Verfassung dem Gegenstand angemessen ist. Von seinem eigenen Selbstverständnis her lag es Hengstenberg jedenfalls fern, die Theologie von den Wissenschaften abzukoppeln. Vielmehr verstand er es gerade als Aufgabe der Theologie, stellvertretend für die Kirche die Ansprüche des Glaubens im Kontext der Wissenschaften selbstbewußt zu vertreten. Dies sei das Erbe der Reformation, wie er in einem Rückblick auf das Melanchthonjahr 1860 deutlich macht: „Die Verachtung von Vernunft und Wissenschaft kommt nicht von Gott, sondern vom Teufel, der in solcher Weise die Kirche isoliren und vom Markte des Lebens ausschließen will, gewiß, daß wenn ihm erst die Höhen überlassen sind, die Thäler seiner Zeit folgen müssen. [...] Eines der wichtigsten Mittel des Sieges der Reformation war, daß sie auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit stand, daß sie sich aller Mittel dieser Bildung bemächtigte, nicht blos in der eigentlichen Theologie, sondern auch in der Geschichte, 739   Die Klage über eine Pastorenschaft, die sich nur oberflächlich und ohne wissenschaftlichen Anspruch dem Bibelstudium widmet, findet sich immer häufiger, bspw. Hengstenberg, Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 [1868], Sp.  854: „Viele studiren gar nichts, unter denen aber, die noch studiren, tragen Manche keine Bedenken, zu gestehen, daß sie, was sie wissen, einzig und allein Bibelwerken entnommen haben, wie die von O. v. Gerlach oder von Dächsel, die für ganz andere Stände geschrieben sind [...]. Ein Pastor soll seine eigentliche Nahrung aus den Classikern der Exegese aus allen Jahrhunderten schöpfen.“ Hengstenberg versteht seine Kommentare als den Versuch, hier Abhilfe zu schaffen (vgl. Ders., Johannes, III f.). 740   Dieses Bild hat vor allem Lenz in seiner Darstellung geprägt, indem er Hengstenberg als in der philosophiefeindlichen Enge der Erweckungsbewegung gefangen beschrieb (Lenz, Geschichte 2/1, 335.348), allerdings knüpfte Lenz damit an die ältere Polemik an. Bezeichnend ist die nach Hengstenbergs Tod berichtete Anekdote von einem Studenten, der, sich ein falsches Bild von Hengstenberg machend, in dessen Sprechstunde opportunistisch über die Wissenschaften und insbesondere über die „gottlose Philosophie“ herzog, worauf ihn Hengstenberg kühl darauf hinwies, daß das philosophische Studium gerade in der gegenwärtigen Zeit „unumgänglich notwendig“ sei, „und nichts sei mehr zu wünschen, als das (sic!) die jungen Theologen sich in allerlei weltlicher Wissenschaft ganz gehörig umthun möchten“ (Müller, Hengstenberg, EKZ 86 [1870], Sp.  62 f.). 741   Vgl. Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, XXIV–XXXIV, vgl. o. Anm.  440.

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

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Sprachwissenschaft, Philosphie. Ob wir vermögen ein Gleiches zu thun, ob Dünkel und Trägheit, die sich so gern in ein ehrbares, ja frommes Gewand hüllen, gründlich überwunden werden, davon hängt zum großen Theil die Zukunft der Kirche ab“.742

Die Pointe an Hengstenbergs Theologie ist, daß sie zwar einerseits auf die Selbständigkeit und kirchliche Bindung der Theologie drängt, aber andererseits die von der Kirche unabhängigen kulturellen Kräfte nicht generell ihrer Eigengesetzlichkeit überläßt. Es ist kein Zufall, daß diese Pointe in den 40er Jahren immer deutlicher hervortritt.743 Sie entspricht ganz dem Denken Stahls, mit dem Hengstenberg nach dessen Berufung nach Berlin in immer engere Verbindung trat und der sich für einen christlichen Staat einsetzte, in dem „die mannigfachen Gebiete des menschlichen Lebens“ zwar nicht „in Religion aufgehen“, aber doch „von der Religion getragen“ sind.744 Diese Art, die Kulturbedeutung von Christentum und Theologie zu beschreiben, ist mit der Bezeichnung „Isolation“ oder mit der Entgegensetzung von Diastase und Synthese 745 nur sehr unzureichend beschrieben. Treffend bringt man ihr Anliegen mit dem Begriff „Kulturmission“ zum Ausdruck, den Friedrich Wilhelm Graf für Vertreter des als Kulturluthertum bezeichneten Luthertums des späten 19. Jahrhunderts verwendet hat.746 Charakteristisch ist, daß Hengstenberg die positiven Auswirkungen des Christentums nicht auf explizite Bekenner beschränkt: „Das Gebiet des Christlichen ist uns ein gar weites. Wir achten die Taufe hoch, wir sind davon durchdrungen, daß unter christlichen Völkern der Einfluß des Wortes und Geistes Christi ein so mächtiger ist, daß auch die Widerwilligen mannigfach davon berührt werden.“747 Von der Kulturwirkung des Christentums sind 742   Vorwort, EKZ 68 (1861), Sp.  39; vgl. auch das daran anschließende scharfe Urteil über fromme Literatur: „Man muß bei so manchen neueren Schriften gläubiger Verfasser erröthen bei dem Gedanken: was wird die Welt dazu sagen; man kann bei dem Blicke auf den armseligen litterarischen Apparat und den engen nicht über ihr Dorf oder den Gegensatz von Confession und Union hinausreichenden Gesichtskreis so mancher Geistlichen den Gedanken an die epistolae obscurorum virorum nicht unterdrücken“ (ebd.). 743   In ihrem Kern ist sie allerdings bereits Erbe der Erweckungsbewegung, die – wie beispielsweise das Kottwitzbild Tholucks beweist – gesamtgesellschaftliche Relevanz beanspruchte und zunehmend selbstbewußt auftrat (vgl. Deuschle, Erweckung). 744   Stahl, Der christliche Staat, EKZ 41 (1847), Sp.  649; vgl. dazu unten 4.3.3.2. 745   So Elerts Grundschema in seiner Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts (Elert, Kampf, 3). 746   Graf, Kulturluthertum, 45 – nicht zufällig taucht in Grafs theologiegeschichtlichem Prospekt zum Kulturluthertum der eng mit Hengstenberg und der EKZ verbundene Hallenser Ethiker Adolf Wuttke als einer der wichtigsten Repräsentanten auf (vgl. auch Graf, BBKL 14). – Ähnlich wie Graf beschreibt schon Kähler, Geschichte, 118 jene Tendenz als „Christianisierung der Bildung“ und stellt sie der auf „Humanisierung des Christentums“ drängenden Richtung gegenüber. 747   Hengstenberg, Vorwort EKZ 68 (1861), Sp.  43, wo er sich u. a. gegen die Unterstellung verwehrt, Männer wie Schiller absolut verurteilen zu wollen: „es ist die zarte Scheu, Christum auch da zu verkennen, wo die Finsterniß sein Licht nicht vollständig ergreifen konnte, die Scheu zugleich vor der Ungerechtigkeit, welche denjenigen jeden Antheil an Christo abspricht, in denen er durch ihre und ihrer Zeit Schuld nicht völlig eine Gestalt ge-

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2  Hengstenberg und die Theologie

demnach auch diejenigen getragen und geprägt, die nur noch äußerlich den Christennamen tragen, ohne sich zu ihm zu bekennen: „In der absoluten Versagung des Christennamens muß man gar vorsichtig sein. Selbst gegen D. Strauß würden wir Bedenken tragen eine solche auszusprechen, obgleich er diesen Namen nicht mehr in Anspruch nimmt, obgleich er den Herrn, der ihn erkauft hat, offenbar verläugnet [...] . Woher anders als von Christo hat Strauß seinen klaren Geist, seine feine Bildung, seine Fähigkeit Bücher zu schreiben, wie das über Hutten, aus denen auch gläubige Christen mannigfache Belehrung und Anregung schöpfen können. Wäre er unter Mohammedanern, Chinesen oder Indern geboren und aufgewachsen, so würde auch sein Geist in der totalen Finsterniß begraben liegen, welche diese Völker umnachtet.“748

Vom Standpunkt der sich als unabhängig verstehenden Wissenschaften wird man diese Verhältnisbestimmung als einseitig und defizitär verstehen müssen. Hengstenberg will die Bildung der Zeit der Theologie dienstbar machen. Die Theologie soll – so weit sie kann – auf allen Gebieten der Kultur ihre Prägekraft zur Geltung bringen. Dabei darf sie sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen und sich nicht den Gel­tungsansprüchen herrschender Weltanschauungen diskussionslos beugen. Gleichwohl muß man diese Art von Denken doch deutlich unterscheiden von einer sektenhaften Isolierung und einer Kultur und Wissenschaft vergleichgültigenden, nur auf die Erweckung des einzelnen gerichteten Theologie. Noch kurz vor seinem Tod ist Hengstenberg in diesem Sinne gegen seine eigenen Parteigänger aufgetreten. In Berlin war 1868 ein Streit zwischen Pastor G. Knak und Prediger E.G. Lisco über die Frage entbrannt, ob man das Stillstehen der Sonne in Jos 10,12–14 wörtlich nehmen müsse.749 Hengstenberg hatte diese Frage schon früher negativ beantwortet 750 und so nahm er auch jetzt zugunsten des sonst so hart bekämpf­ten Schleiermacherschülers Lisco Stellung. Die Theologie vor den Übergriffen anderer Wissenschaften zu verteidigen, bedeute auch, daß sie ihre Grenzen kennen müsse: „Wenn man der Welt auf einem Gebiete, wo sie mit ihrer Wissenschaft berechtigt ist, entgegen­tritt, so ladet man sie eben dadurch ein, auch unsere Gränzen

wonnen hat“. Das Vorwort nimmt Bezug auf dasjenige des Vorjahres, in dem Hengstenberg Kritik an den Schillerfeiern geübt, den Dichter selbst aber und seine Leistungen deutlich davon abgehoben hatte, vgl. EKZ 66 (1860), Sp.  3–8. 748   Hengstenberg, Vorwort EKZ 68 (1861), Sp.  44 – auf die zu jener Zeit übliche Herabsetzung nichtchristlicher Kulturen muß in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Überraschend ist an ihr nur, daß Hengstenberg die Leistungen der arabischen Poesie kannte und in jüngeren Jahren auch lobte (vgl. Hengstenberg, Amrulkeisi). 749   Vgl. zu dem Streit Wendland, Kirchengeschichte, 302 f.; Benrath, Erweckung, 167 f. und Hengstenberg, Vorwort 84 (1869), Sp.  35 f. 750   Hengstenberg, Das Stillestehen der Sonne Jos. C. 10, EKZ 11 (1832), Sp.  697–704, Nr.  88, in erweiterter Fassung in: Hengstenberg, Geschichte 2/1, 231–243 – Hengstenberg löst die Frage im Grunde gattungskritisch, indem er die Aussage als Teil eines Liedes versteht (ebd., 236) und sie auf dieser Basis poetisch-uneigentlich deutet (ebd., 242).

2.4  Zum inhaltlichen Profil von Hengstenbergs Theologie

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nicht zu achten.“751 Kein vernünftiger Schriftausleger der Neuzeit würde dem Kopernikanischen System entgegentreten. Luther und Melanchthon könne man sich in dieser Frage nicht zum Vorbild nehmen. Zumal sich der Gedanke, der Mensch und seine Welt sei der Mittelpunkt des Universums und „allein Gegenstand des gottgewolten Weltzweckes“752 , nicht auf die Bibel berufen könne. Was schließlich fast wie ein Rückzug und ein Aufgeben der Kulturmission klingt, ist der Ausdruck dessen, daß Hengstenberg bei aller Kritik die menschliche Wissenschaft und das Vermögen der Vernunft immer hoch geachtet hat: „Das Wort Gottes und mit ihm der kleine Katechismus Luthers bleibt, aber die menschliche Wissenschaft ist in stetem Fortschritte begriffen, und sie auf halten wollen heißt nichts anders, als sich vor eine Locomotive stellen, um sie in ihrem Laufe zu hemmen.“753

Diese Äußerung des Altgewordenen macht deutlich, daß Hengstenbergs Verhältnis zur Kultur seiner Zeit von einem praktischen Realismus bestimmt war. Das zeigt sich auch daran, daß er sich immer nur situativ zu der Frage geäußert hat. Grundsätzliche Kritik übte er ausschließlich dann, wenn seine bibelwissenschaftlichen Einsichten von anderen Fundamenten her angezweifelt wurden. Darüber hinaus stellte er jedoch die moderne Wissenschaft, sofern sie sich ihrer Grenzen bewußt ist, nicht prinzipiell in Frage. Dem naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritt gegenüber finden sich kaum kritische Äußerungen. Wie sich unten zeigen wird, hat Hengstenberg seine Kulturideale am deutlichsten im Bereich der Ethik, insbesondere der Sozialethik und der politischen Ethik, vertreten. Hier kämpfte er in der öffentlichen Diskussion Seite an Seite mit Gerlach und Stahl gegen die Entchristlichung von Staat und Gesellschaft, hier schreckte er auch nicht davor zurück, sich dem unauf haltbar vorwärtsdrängenden Zug der Zeit entgegenzustellen. Zwar betonte Hengstenberg explizit, daß auch die Naturwissenschaften nicht aus dem Blickfeld der Kirche geraten dürften, in erster Linie nahm er jedoch Kultur und Bildung in gei­ steswissenschaftlicher Gestalt wahr, als Geschichte, Philosophie, Ethik, Kunst, Literatur, Sprach­wissenschaft. Vor allen auf diesen Feldern sah er Theologie und Kirche herausgefordert. Hier fand er – um es in der Terminologie der Zeit zu sagen – die sittlichen Kräfte, mit denen die Aus­ein­andersetzung gesucht werden mußte. Es ging ihm weniger um die äußerliche Gestaltung der Welt, als vor 751   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 84 (1869), Sp.  36. – Versteckt hatte sich Hengstenberg bereits im Sommer 1868 in den Streit eingeschaltet, indem er in der EKZ ‚Ein Wort des Augustinus‘ (EKZ 83 [1869], Sp.  664, Nr.  56) aus ‚De Genesi ad litteram‘ einrückte, in dem Augustin es für das Ansehen von Theologie und Christentum als schädlich beurteilt, wenn unter Berufung auf die Schrift törichte Meinungen über Gegenstände naturwissenschaftlicher Erkenntnis verbreitet werden; vgl. auch die Andeutungen in Ders., Eine Klage gegen den Herausgeber, EKZ 83 (1868), Sp.  663. 752   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 84 (1869), Sp.  42, vgl. dazu auch Ders., Zu den evangelischen Berichten über die Himmelfahrt unsers Herrn, EKZ 83 (1868), Sp.  825–827. 753   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 84 (1869), Sp.  36.

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2  Hengstenberg und die Theologie

allem um den in der Weltgestaltung hervor­tretenden und sich seine Welt entwerfenden menschlichen Willen.754 Ihn muß eine der Kirche verpflichtete Theologie in allen seinen Ausprägungen genau kennen. Kurz: Die Kirche wird nur dann auf der Höhe der Zeit bleiben, wenn sie „nichts Menschliches sich fern achtet“, sich selbst dabei aber nicht im Menschlichen auflöst.

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer 2.5.1  Charakterisierung Zeitgenossen, die Hengstenberg nur aus seinen Veröffentlichungen oder vom Hörensagen kannten, waren in der Regel überrascht, wenn sie ihn zum ersten Mal persönlich trafen. Die Schilderung Friedrich Wilhelm Krummachers ist typisch für viele: „Wie dachte ihn sich, wer ihn nicht persönlich kannte? Natürlich schmollend, ja mit verbissenen Lippen hinter einem Berge vergilbter Pergamente polemische Pfeile schnitzend und Bannflüche murmelnd. Und wer war er? Ein vergnügter, wohlwollender Mann, blühenden Angesichts und freundlicher Lippen, nur nicht gänzlich frei von einer gewissen medisance, wenn die Rede auf die Rationalisten kam, doch nur wenn auf diese, und damals noch nicht, wenn auch auf Reformirte und Unirte. Man fühlte sich heimisch und wohl unter seinem Dach und freute sich der Klarheit und Wahrheit in Allem, was er sprach.“755

754

  Auch in diesem Zusammenhang spielt für Hengstenberg der menschliche Wille eine zentrale Rolle; damit steht er jedoch keinesfalls allein da, wie sich beispielsweise der einflußreichen Historik des zeitgleich mit Hengstenberg in Berlin lehrenden Droysen entnehmen läßt (Droysen, Historik, 12 f. und passim). 755   Krummacher, Selbstbiographie, 196 – die Beschreibung bezieht sich auf die Zeit kurz nach dem Wechsel Krummachers nach Berlin im Jahr 1847. Ähnlich Müller, Hengstenberg, Sp.  59: „Als ich ihn zuerst im Hörsaal-Auditorium XI, wo er täglich von 9–11 Uhr las, erblickte, fragte ich ganz erstaunt und ängstlich meinen Nachbarn, ob denn das wirklich Hengstenberg sei. Nach meiner Rechnung mußte er hoch in den 60 Jahren sein, und sah doch aus wie ein Fünfziger. Wunderbar genug. Einen Mann hatte ich zu finden gehofft, der abhold allen Interessen der gemeinen Gegenwart und des laufenden Lebens seine eigene Welt sich geschaffen, der unter Büchern und Papier grau geworden wie eine fremde Erscheinung unter den Lebendigen wandle – und fand einen modern sich tragenden, wohlbehäbig aussehenden Mann, kurz‚ einen Mann aus der Bildungswelt der Gegenwart.“ Vgl. auch Kahnis, Gedächtniß, Sp.  418; Büchsel, Erinnerungen, 24 f.122; Wölbling, Gedächtniß, Sp.  619; Schaff, Germany, 302; Bachmann / Schmalenbach 3, 463.467; Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1001. Interessanterweise schreibt Rudolph Hengstenberg, Sohn des Bochumer Cousins Alfried Hengstenberg, über das Alter des Professors fast gleichlautend: „Der Mann war schon hoch in den sechziger Jahren; er sah wie ein Fünfziger aus.“ (R. Hengstenberg, Lebenserinnerungen 1, 198). Den Unterschied zwischen dem Eindruck, den die EKZ von Hengstenberg bot, und dem ‚anderen‘ Hengstenberg hebt auch Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 510–512 hervor.

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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Stets wird Hengstenberg im persönlichen Umgang als ruhiger, liebenswürdiger und freundlicher Charakter geschildert,756 auch wenn seine Äußerungen – vor allem in jungen Jahren und gerade von ihm Nahestehenden – nicht selten als schroff und lieblos empfunden wurden.757 Ebensowenig wird seine Frau Therese als finstere Gouvernante, sondern als heitere, gebildete und attraktive Persönlichkeit beschrieben. „Die Liebenswürdigkeit der schönen, geistvollen, frommen und stets heitern Frau Professor Hengstenberg [...] war wieder hervorstehend,“ notierte Wichern nach einem Besuch im Hause Hengstenberg in seinem Tagebuch.758 Auch lebten die Hengstenbergs nicht wie Asketen, sondern nach mehreren Umzügen bezogen sie schließlich im Herbst 1847 das geräumige Haus am Königsplatz in der Schifferstraße,759 in den Ferien fuhr man häufig aufs Land oder zur Erholung ins Bad760. 756   So beispielsweise von Wichern in seinen Tagebüchern (Einträge Berlin, 21. Juli 1841; 28. Okt. 1844: Wichern, Gesammelte Schriften 1, 268.339). – Freilich stammen die vorgenannten Charakterisierungen nur von Personen, die Hengstenberg einigermaßen gesonnen waren; allerdings spricht die Tatsache, daß selbst Hausrath, Rothe 1, 361 für sein negatives Hengstenbergbild auf die positiven Aussagen Krummachers zurückgreifen muß, dafür, daß es keine anderen gibt. 757   Tholuck an Hengstenberg, 6. Okt. 1827: Nl Hengstenberg, Mappe Tholuck I (Auszug bei Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 45, Anm.  3 und Witte, Tholuck 2, 66); O. von Gerlach an Tholuck, Berlin 14. Juni 1828: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 133; E.L. von Gerlach (an Tholuck, Berlin 8. Juli 1827: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 138) meint an Hengstenberg beobachten zu können, „wie sein von Natur aus hartes u. kaltes Wesen unter den erweichenden u. Liebe mittheilenden Einflüssen der Gnade steht.“ 758   Wichern, Gesammelte Schriften 1, 402 (Eintrag vom 23. Juni 1846); vgl. auch Krummacher, Selbstbio­graphie, 196: „Seine vortreffliche Frau, eine Frühlingsfrische athmende Erscheinung, durchleuchtete noch als helle Freuden- und Friedenssonne sein Haus.“ 759   Spätere Roonstraße 7, an der Stelle der heutigen Konrad-Adenauer-Str., also in unmittelbarer Nähe des Reichstages. Nach der Schilderung Rudolph Hengstenbergs hatten sich sowohl der Professor als auch der Konsistorialrat Hengstenberg „am Königsplatz ihre heute noch recht repräsentablen, damals höchst modernen Häuser erbaut“ (R. Hengstenberg, Lebenserinnerungen 1, 209, der ebd., 197–201 eine lebendige Schilderung der in den 60er Jahren in Berlin lebenden Hengstenbergs bietet.) – der Konsistorialrat war Hengstenbergs Bruder Eduard; nach anderer, besserer Überlieferung war aber Hengstenbergs entfernter Vetter, der Hofprediger Wilhelm von Hengstenberg, des Professors Nachbar (so Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1009) – oder vielleicht beide? E.L. von Gerlach nennt Hengstenbergs Haus in einem Tagebucheintrag vom 15. Okt. 1847 „palastartig“ (Schoeps, Neue Quellen, 342 – die falsche Angabe „am Köpenicker Platze“ anstelle von am Königsplatze ist möglicherweise der Edition zuzuschreiben). Zeitweise scheint Hengstenberg einen Teil des Hauses vermietet zu haben (vgl. Melhorn, Erinnerungen, Sp.  340; Baumann, Huber, 294). 760   Von einem der Badeurlaube (wahrscheinlich Norderney 1847, so Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1003; Koenig, Hengstenbergs Leben, 743 nennt Ostende 1845) wird die Anekdote überliefert, Hengstenberg sei an der Table d’hôte einem Herrn gegenübergesessen, der ihn nicht kannte und daher den Scherz erzählte: „Heute morgen wurde die Frage aufgeworfen, warum wohl das Meer aufgehört habe, zu leuchten? Die Antwort lautete: Der famose Professor Hengstenberg aus Berlin ist gestern angelangt, der hat alles Licht absorbirt.“ Worauf Hengstenberg, gleichmütig den Löffel niederlegend, schlagfertig gekontert habe: „Ei,

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2  Hengstenberg und die Theologie

Hengstenbergkritiker wie Hausrath haben Hengstenberg einen Strick daraus gedreht 761 und sein prophetisches Auftreten als Inszenierung gewertet. Doch sagt sein Lebensstil nichts anderes aus, als daß Hengstenberg, der ein Wissenschaftler war wie alle anderen Professoren, auch so lebte, wie es für einen Professor damals üblich war.762 Ein großes Haus benötigte er nicht zuletzt für seine umfangreiche Bibliothek und als Treffpunkt für die unterschiedlichsten Menschen: Sowohl einflußreiche Persönlichkeiten höheren Standes als auch Studenten oder Pastoren gingen hier ein und aus und lobten die Gastfreundschaft und die herzliche Aufnahme.763 Gleichwohl legte er keinen aufwendigen Lebensstil an den Tag, sein Alltag war auf die Arbeit konzentriert, von früh morgens bis abends um acht Uhr widmete er sich diszipliniert seinen Studien und universitären Verpflichtungen.764 Täglich zwischen vier und fünf Uhr fand die dem Uebelstande könnte ja leicht abgeholfen werden; man brauchte nur ein Dutzend Lichtfreunde ins Meer zu werfen.“ (nach Koenig, Hengstenbergs Leben, 743). 761   S. Hausrath, Rothe 1, 355; vgl. auch 361: „In seiner eleganten Wohnung Unter den Linden ersann er seine in abenteuerliche alttestamentliche Wendungen gekleideten Prophetien, die den Berlinern stets eine ungemeine Freude bereiteten und in allen Conditoreien und Lesezimmern auflagen.“ Hausrath spricht hier von den frühen 30er Jahren, Hengstenberg hat allerdings nur Ende der 20er Jahre zweieinhalb Jahre Unter den Linden gewohnt (bis März 1829), und zwar im Haus des Weinhändlers Habel (Unter den Linden 30) „im Flügelgebäude nach der Rosmarinstraße“ in einer Art WG gemeinsam mit seinem Bruder Karl, dem späteren Schwager Ferdinand von Quast und Licentiat Böhl (vgl. Bachmann 2, 4). 762   Vgl. Kahnis, Gedächtniß, Sp.  418: Hengstenberg „machte seiner äußeren Erscheinung nach durchaus den Eindruck eines Mannes aus der Bildungswelt der Gegenwart. An eine alttestamentliche Persönlichkeit, an Flacius und Calovius, an einen Herrnhuter konnte Niemand denken, der ihn sah. Hengstenberg kannte alle Ansprüche des laufenden Lebens, begleitete mit großem Interesse alle Bewegungen so der städtischen als der socialen und politischen Welt, hatte eine bewundernswürdige Kenntniß von Personen und Zuständen aller Orten und beurtheilte die Verhältnisse der Gegenwart weder vom optimistischen, noch vom pessimistischen, sondern vom Standpunkt eines praktischen Realismus aus.“ 763   Kahnis, Gedächtniß, Sp.  418; Müller, Hengstenberg; Büchsel, Erinnerungen, 24 f.122; Tauscher, Erinnerungen; R. Hengstenberg, Lebenserinnerungen 1, 197 f.200 f. Die Berliner Pastoralkonferenzen fanden häufig ihren Abschluß unter Hengstenbergs Dach (vgl. Tauscher, Eben Ezer, Sp.  628). 764   Bachmann / Schmalenbach 3, 465 schildert den Rhythmus im Hause Hengstenberg: „Sein häusliches Leben war einfach. Er lebte den ganzen Tag mit der Uhr in der Hand und liebte auch an Andern die Pünkt­lichkeit, stand früh auf und arbeitete fleißig, ehe er um neun Uhr zur Vorlesung ging. Zu Mittag genoß er einfache, gute Hausmannskost. Nachmittags ging er eine Stunde spaziren und kehrte oft eilend zurück, um die Sprechstunde mit seinen geliebten Studenten nicht zu versäumen; diese Stunde war ihm besonders lieb und wichtig. Abends 8 Uhr schloß er sein Tagewerk und genoß auf die Nacht nur Milch und vier Zwieback; nach dem Essen trank er zwei Glas Wasser und rauchte eine Cigarre [...] Auch sah er abends gern Besuch bei sich, Büchsel und Frau waren jeden Donnerstag Abend seine Gäste. Er liebte die trauliche Unterhaltung und besonders Geschichten, die eine humoristische Färbung hatten. Er hatte selbst viel Humor und kam oft in eine gemüthliche Art und Laune, ohne jedoch bitter zu werden. Um 10 Uhr hielt er regelmäßig mit allen Hausgenossen die Hausandacht [...]“; ebs. Koenig, Leben Hengstenbergs, 745, der Schmalenbach möglicherweise als Vorlage diente. Hengstenberg war die Pünktlichkeit so wichtig, daß er Studenten häufig eine Uhr schenkte (ebd., 744).

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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Sprechstunde statt, in der er sich ausgiebig und gerne den Fragen und Bitten der Studenten widmete.765 Dabei unterhielt er sich am liebsten im Gehen, selbst Examina soll er auf diese Weise abgenommen haben.766 Wenn Bedarf war, half er den Studenten mit Büchern aus der eigenen Bibliothek aus; dafür lag eigens eine Liste aus, ein Amanuensis war für die Bücherausgabe und wahrscheinlich auch darüber hinaus für die Ordnung der großen Buchbestände zuständig. Dennoch kam nicht jedes Buch zurück.767 Die häusliche Atmosphäre gab den Sprechstunden ihren eigenen Charakter; in höherem Alter führte Hengstenberg seine Gespräche bisweilen auch mit einem Enkel auf dem Schoß.768 Die intensive Begegnung mit den Studenten lag Hengstenberg sehr am Herzen. Dabei wird ihm eine außerordentliche Menschenkenntnis bescheinigt, nur selten habe er sich im Charakter eines Menschen geirrt.769 Die Bedeutung des persönlichen Umgangs mit den Studenten scheint er schon früh von Tholuck gelernt zu haben,770 allerdings geht schon aus dem, was über Hengstenbergs Studienzeit bekannt ist, hervor, daß er kontaktfreudig und gerne unter Leuten war.771 In der Sprechstunde spielte es für Hengstenberg keine Rolle, ob sich ein Student zu seinen Schülern zählte oder nicht, er begegnete allen gleichermaßen aufgeschlossen und respektvoll. Im Unterschied zu Tholuck hat Hengstenberg jedoch nie reine Erbauungsversammlungen abgehalten (vgl. oben Teil 1). Stets sah er im Wissenschaftlichen sein Betätigungsfeld, das, wie oben deutlich wurde, freilich engstens mit der Erbauung verbunden war. Als junger Dozent war Hengstenberg über Jahre für die Betreuung von polnischen Stipendiaten evangelischer Konfession, die in Berlin Theologie studierten, zuständig; Anfang 1828 war ihm die Aufgabe offiziell von der Regierung in Warschau übertragen worden.772 Er versammelte sie alle vierzehn Tage in seiner Wohnung, wobei an seinen Äußerungen aus dieser Zeit deutlich wird, daß ihn die Rolle, die von ihm später selbstverständlich ausgefüllt wurde, anfangs viel Kraft und Über765   Müller, Hengstenberg, schildert Szenen aus Sprechstunden aus dem Jahr 1868; vgl. auch Kahnis, Gedächtniß, Sp.  419; Bachmann/Schmalenbach 3, 465. 766   Wichern, Gesammelte Schriften 2, 268 ordnet Hengstenberg der „peripatetische[n] Schule“ zu; ebs. Müller, Hengstenberg, Sp.58; Sternberg, Erinnerungen, 7 – verantwortlich dafür war wohl ein Hämor­rhoidalleiden 767   Müller, Hengstenberg, Sp.  61–63. 768   Müller, Hengstenberg, Sp.  60. 769   Schaff, Germany, 302; Müller, Hengstenberg, Sp.  64; anders Koenig, Leben Hengstenbergs, 744, der berichtet, daß Hengstenberg, was die Studenten anging, oft zu gutgläubig gewesen sei. 770   Bachmann 2, 37.41. 771   Vgl. Bachmann 1, 22–64; im merkwürdigen Kontrast dazu schildert Bachmann den Knaben Hengstenberg als still und zurückgezogen (ebd., 15–21). 772   Bachmann 2, 36 f.392. Laut Schreiben der polnischen Regierungskommission des Kultus hatte Hengstenberg die Aufgabe, „über unsere auf der Königl. Preussischen Universität zu Berlin die Theologie studirende Stipendisten, zu deren Wohl zu wachen und ihren Fleiss zu leiten“ (Graf v. Grabowski an Hengstenberg, Warschau 14. Jan. 1828: Nl Hengstenberg, Kasten 22) – die Aufgabe hatte er mindestens bis in die 30er Jahre inne.

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2  Hengstenberg und die Theologie

windung kostete. Doch schätzte er die Gelegenheit nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei den Polen nicht nur um „erweckte[...] Studenten“ handelte.773 Daneben lud er – zumindest zu Beginn seiner Lauf bahn – regelmäßig am Freitagabend Studenten zu sich ein.774 Dabei war ihm Neander Vorbild. Allerdings unterschied er sich charakteristisch von Neander, der bei seinen Einladungen am Sonntagabend in ähnlicher Weise dozierte wie in den Vorlesungen.775 Heng­ stenberg hingegen freute sich, wenn eine Unterhaltung stattfand, bei der er nicht der Hauptredner sein mußte.776 Auch für seine Seminare wird als charakteristisch angegeben, daß er „den Teilnehmern Anlaß gab, sich über die in Frage stehende Sache auszusprechen und nicht bloß schweigend zuzuhören, was der Professor doziert.“777 In den Vorlesungen hing Hengstenberg demgegen­über ganz an seinem Manuskript, „er rückte fortwährend auf dem Stuhl vornüber und hintenüber durch Uebereinanderschlagen der Kniee, modulirte viel mit der scharfen, durchdringenden Stimme von der Höhe in die Tiefe und umgekehrt, sah gern aus dem Fenster zur Linken und gerieth in verlegenes Stottern, wenn er dabei im Concepte den Faden verlor.“778

Hengstenberg sorgte sich neben der wissenschaftlichen Förderung auch um das materielle Wohl der Studenten. Kaufmann Elsner hatte 1831 eine „Unterstützungs-Gesellschaft für arme Studierende“ gegründet, die Stipendien für freie Unterkunft und bzw. oder freien Mittagstisch vergab.779 Hengstenberg traf gemeinsam mit Neander die Auswahl der Stipendiaten, außerdem schlug er vor, Bücher zugunsten der Freitische aufzulegen und zu vertreiben.780 Außerdem hinterließ Hengstenberg nach seinem Tod testamentarisch Kapital für eine Stiftung, in die zukünftig ein Teil der noch eingehenden Honorare einfließen und aus der ein bedürftiger Theologiestudent unterstützt werden sollte.781 Mit re773

  Hengstenberg an Therese, Febr. und März 1828: Bachmann 2, 36 f.   Bachmann 2, 38 f. 775   Übereinstimmend werden die Neanderschen Versammlungen so charakterisiert von Gutzkow, Kastanienwäldchen, 22–24 und Keil, Lebensbeschreibung: Siemens, Keil, 280. 776   Hengstenberg an Therese, 8. Juli 1827: Bachmann 2, 38 f. 777   Keil, Lebensbeschreibung: Siemens, Keil, 281. 778   Müller, Hengstenberg, Sp.  59, die Beschreibung stammt wohl aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre; ebs. Schaff, Germany, 302, der Hengstenberg in früheren Jahre erlebt hat: „reading slavishly from his manuscript, in a half-singing, high slivery, monotonous tone“. Möglicherweise war das der Grund, warum Hengstenberg dem Gespräch mehr zutraute als den Vorlesungen: „Ich habe erfahren, daß durch persönlichen Umgang oft noch mehr gewirkt wird, als durch die Vorlesungen.“ (Hengstenberg an Therese, Jan. 1828: Bachmann 2, 41). 779   Vgl. Funk, Elsner, 57, die Gesellschaft bestand bis 1840. 780   H. Funk an Bachmann, Lübeck 13. Aug. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann; vgl. oben Teil 1, Exkurs: Evangelischer Bücherverein. – Daß Hengstenberg auch darüber hinaus Studenten vielfach finanziell aushalf, berichtet Koenig, Leben Hengstenbergs, 744 f. 781   UA HU Berlin, Theolog. Fak. 252. Auswahlkriterien sollten lediglich sein, daß in erster Linie Söhne von Geistlichen berücksichtigt würden und auf ein gutes Dekanatsex774

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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gem Interesse und Ratschlägen begleitete Hengstenberg darüber hinaus die Arbeit des Berliner Wingolfs, dem auch sein Sohn Immanuel beitrat.782 Während der Semester investierte Hengstenberg viel Zeit in die Betreuung der Studierenden, dafür ließ er in den Semesterferien Berlin häufig hinter sich zurück. Wenn ihm der Arzt keinen Badeaufenthalt verordnet hatte, suchte er Erholung oder Zeit für ungestörte Arbeit in der Mark. Häufig war er auf dem Gut seiner Schwiegereltern in Radensleben bei Neuruppin anzutreffen; 783 auf dem von seinem Schwager Ferdinand von Quast als Campo Santo gestalteten Kirchhof von Radensleben wurde er schließlich auch beigesetzt.784 Daneben diente ihm das Haus seiner Schwester Mathilde, die – mit einem Amtsrat Karbe verheiratet – in Gramzow in der Uckermark lebte,785 als ruhiger Zufluchtsort und Kontrast zum Leben in der preußischen Hauptstadt. Die Aufenthalte gewährten ihm zugleich Einblicke in das Leben und die Amtsgeschäfte der Landgeistlichen, die ihm bei seiner Arbeit an der Kirchenzeitung häufig vor Augen standen.786

2.5.2  Vorlesungstätigkeit 1828 war Hengstenberg als ordentlicher Professor für die Exegese nicht nur des Alten, sondern auch des Neuen Testaments berufen worden.787 Dennoch lag der Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit stets auf dem Alten Testament. Allerdings bot er schon seit dem Sommersemester 1828 immer wieder auch Vorlesungen zum Neuen Testament an.788 amen geachtet würde. Die Fakultät brauchte allerdings fast fünf Jahre, bis sie sich auf ein Vergabeverfahren geeinigt hatte. Steinmeyer schlug schließlich vor, daß es Studierenden zukommen solle, die sich vornehmlich dem AT widmeten, und Dillmann die Auswahl vornehmen solle. Erstmals wurde das Stipendium in Höhe von rund 33 Talern im Sommer 1874 – zunächst halbjährig – vergeben (ebd., f.1–5). Später wurde es jährlich ausbezahlt, letztmalig im Jahr 1920, da betrug die Höhe des Stipendiums 169,50 Mark (ebd., f.  2 05). 782   Tauscher, Erinnerungen, Sp.  999.1002; der Wingolf entstand in den 40er Jahren. 783   Das Gutsgebäude ist erhalten und dient heute als Seniorenheim. 784   Noch heute erinnert eine Grabplatte auf dem Kirchhof von Radensleben, der gemeinsam mit der Dorf kirche ein sehenswertes Ensemble bildet, an Hengstenberg und seine ebenfalls dort begrabenen Familienmitglieder. 785   Vgl. Bachmann 2, 465 f.; R. Hengstenberg, Lebenserinnerungen 1, 199. – Die Tochter, Lydia Karbe, kümmerte sich nach Thereses Tod um Hengstenbergs Haushalt. – In das Haus seines Schwagers schickte er auch verschiedentlich chronisch kranke oder der Erholung bedürftige Studierende (s. Tauscher, Erinnerungen, 1001). 786   Mit Pastor Friedrich Wölbling in Radensleben stand er im engen Kontakt (vgl. Wölbling, Gedächtniß). 787   Vgl. unten Teil 4.1. 788   Vgl. hierzu und zum Folgenden die tabellarische Übersicht über Hengstenbergs Vorlesungen im Anhang; sie wurde auf der Grundlage des Vorlesungsverzeichnisses der Universität (Verzeichnis der Vorlesungen, 1825 ff.) erstellt. Seine erste neutestamentliche Vorlesung widmete Hengstenberg dem Römerbrief.

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2  Hengstenberg und die Theologie

Eine Übersicht über Hengstenbergs Vorlesungsprogramm zeigt, daß sich im Laufe der Zeit ein fester Kanon von Themen etablierte, über die der Berliner Professor in regelmäßigen Abständen vortrug. Die Themen richteten sich einerseits nach den Bedürfnissen des Studienbetriebs, andererseits spiegeln sie aber auch Hengstenbergs eigene Interessen wider.789 Mit Abstand am häufigsten las er die „Einleitung in die kanonischen Bücher des AT“. In festem Turnus trug er zudem Auslegungen der Bücher Genesis, Hiob, der Psalmen und der Weissagungen des Jesaja sowie die „Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde“ vor. Die Weissagungen des Jesaja bildeten den Auftakt seiner Vorlesungstätigkeit und begleiteten ihn bis in sein Todesjahr. Fester Bestandteil seines Lehrprogramms war darüber hinaus die „Theologische Enzyklopädie“, die er in unterschiedlicher Intensität – ein- bis fünfstündig pro Woche – präsentierte. Im Neuen Testament beschränkte sich Hengstenberg auf zwei Themenkomplexe: Seit 1834/35 las er regelmäßig über die Passionsgeschichte, im Lauf der Zeit zur „Geschichte des Leidens und der Auferstehung des Herrn nach den vier Evangelien“ ausgeweitet. Außerdem stand seit 1831 in steter Wiederholung die Auslegung des Matthäusevangeliums, teilweise im Vergleich mit den beiden anderen synoptischen Evangelien, auf dem Programm. Die Übersicht über die Vorlesungsthemen läßt unschwer einen Zusammenhang mit Hengstenbergs Publikationen erkennen.790 Außerdem zeigt sie, daß Hengstenbergs in seiner Lehrtätigkeit den einmal gewählten Schwerpunkten treu blieb; ab den 1840er Jahren setzte er so gut wie kein neues Thema mehr auf das Vorlesungsprogramm, obwohl seine Publikationen zeigen, daß seine wissenschaftliche Arbeit nicht auf diese Bereiche beschränkt blieb. Offensichtlich hielt er es für ausreichend, die in den ersten zehn Jahren seiner Lehrtätigkeit erstmals ausgearbeiteten Vorlesungen immer wieder anzubieten.

2.5.3  Die Hengstenberg-Schule „Dr. Hengstenberg hat, um uns auf das Gebiet zu beschränken, das hier allein in Betracht kommt, er hat, sage ich, ausserordentliche, ja wahrhaft epochemachende Verdienste sich um die gläubige, kirchliche Theologie, zumal des alten Testamentes erworben, er hat zuerst wieder Sinn, Eifer und Interesse für die wissenschaftlich-gläubige Behandlung des alten Testaments geweckt, mächtig genährt, kräftig gefördert; ja er hat die ganze wissenschaftlich-gläubige Bewegung auf dem Gebiete des alten Testamentes 789   Daß ein auf die Studierenden ausgerichtetes, breites Vorlesungsangebot nicht primäres Anliegen der Professoren war, zeigt sich allein schon daran, daß nicht selten zwei Professoren dasselbe Thema gleichzeitig anboten, so lasen beispielsweise im Wintersemester 1827/28 sowohl Hengstenberg als auch Bleek über die Weissagungen des Jesaja (vgl. Verzeichnis der Vorlesungen). 790   Vgl. oben 2.3, v. a. 2.3.3.1.

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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in unsern Tagen erst flüssig gemacht, hat selbst die Bahn gebrochen, ist selbst vorangeeilt, hat manche strebsame und tüchtige Kräfte nach sich gezogen, und Alle, die heut zu Tage in gläubig-kirchlichem Sinne auf diesem Gebiete arbeiten, sind, wenn sie auch jetzt in manchen Stücken als seine principiellen Gegner dastehen, doch von ihm angeregt, und gewissermassen, direct oder indirect, seine Schüler zu nennen.“791

Hengstenbergs Hochschätzung des Alten Testaments und sein Eintreten für dessen theologische Geltung in Kirche und Theologie haben, das bringt Kurtz hier treffend zum Ausdruck, eine starke Wirkung auf eine ganze Reihe von Theologen aus dem kirchlich-konservativen Milieu ausgeübt, die sich im Gefolge Hengstenbergs nun ganz bewußt dem Alten Testament zuwandten. Abgesehen von dem Anfangsimpuls ist ihre Stellung zu Hengstenberg aber durchaus verschieden. Kurtz ist dafür das beste Beispiel.792 Der Dorpater Professor, der mit seinen Lehrbüchern, die durchweg Auflagen in zweistelliger Höhe erreichten,793 breiten Einfluß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausübte, verstand sich zunächst ganz bewußt als Schüler Hengstenbergs,794 bevor er sich dann im Streit offen von ihm distanzierte.795 Gleichwohl blieb Kurtz ein Vertreter der von Hengstenberg inaugurierten konservativen Richtung. Die Beziehungen zu Hengstenberg sind also zu differenzieren: Zum einen gibt es Schüler im eigentlichen Sinne. Dabei handelt es sich um Theologen, die bei Hengstenberg studiert haben, sich unter seinem Einfluß dem Alten Testament zuwandten und nicht zuletzt mit seiner Hilfe schließlich auch einen alttestamentlichen Lehrstuhl erhielten. Der bedeutendste unter ihnen ist Carl Friedrich Keil (1807–1888), dessen zusammen mit Franz Delitzsch verfaßte alttestamentliche Kommentarreihe ‚Biblischer Commentar über das Alte Testament‘ über das 19. Jahrhundert hinaus weite Verbreitung fand.796 Daneben sind der früh verstorbene Königsberger Alttestamentler Heinrich A. Chr. Hävernick (1810–1845) 797 und der 44 Jahre in Christiania (heute: Oslo) zunächst als Lektor, dann als ordentlicher Professor lehrende und im norwegisch-dänischen 791

  Kurtz, Söhne Gottes, Xf.   Vgl. Bonwetsch, RE3 11. 793   Das Lehrbuch ‚Biblische Geschichte. Der heiligen Schrift nacherzählt und für das Verständniss der unteren Klassen in Gymnasien und höhern Bürgerschulen erläutert‘ (Berlin 1847) erschien 1909 in 54. Auflage. Daneben waren das ‚Lehrbuch der Heiligen Geschichte‘ (1843, 191906) und die ‚Christliche Religionslehre‘ (1844, 151902) weit verbreitet (die Angaben bei Siemens, Keil, 241 sind zu korrigieren); ersteres wurde bspw. auch auf dem Gymnasium im weit entfernten Ansbach verwendet, wie A. Haucks Lebenslauf zeigt (Teubner, Historismus, 82). 794   Kurtz an Hengstenberg, Mitau 20. Aug. 1832: Bonwetsch 1, 174: „Zwar nicht in dem Sinne ihr Schüler, daß es mir vergönnt gewesen wäre, zu Ihren Füßen sitzend Worte der heilbringenden Erkenntniß aus Ihrem Munde zu hören, rühme ich mich doch, in einem anderen Sinne Ihr Schüler zu sein; ja ich glaube mich dessen mehr rühmen zu können, als vielleicht Mancher von denen, welchen dieses vergönnt gewesen ist.“ 795   Vgl. Kurtz, Söhne Gottes (siehe oben 2.3.3.2). 796   Zu Keils Leben und Werk s. Siemens, Keil, zu der Kommentarreihe ebd., 144–161. 797   Er wurde monographisch behandelt von Ernst, Auferstehungsmorgen. 792

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2  Hengstenberg und die Theologie

Sprachraum einflußreiche Orientalist und Alttestamentler Carl Paul Caspari (1814–1892) zu nennen.798 Des weiteren war auch Hengstenbergs Schüler und Biograph Johannes Bachmann, der vor allem durch seine Arbeiten zur Geschichte des Kirchenliedes und durch besagte Hengstenbergbiographie bekannt wurde, von Hause aus Alttestamentler; 1856 habiliterte er sich in Berlin und schon 1858 übernahm er in der Nachfolge Michael Baumgartens den alttestamentlichen Lehrstuhl in Rostock.799 Baumgarten selbst war auch Hengstenbergschüler.800 Als solcher war er 1839 zunächst daran gescheitert, sich in Halle zu habilitieren. Er wurde schließlich Privatdozent in Kiel und 1850 Delitzschs Nachfolger in Rostock. Jedoch entfernte er sich immer weiter von Hengstenberg. Als sein Widerspruch gegen das konfessionelle Luthertum in Mecklenburg und sein Versuch, das Revolutionsrecht biblisch zu begründen 1858 zum Verlust seiner Professur führten, war auch sein einstiger Lehrer unter seinen Gegnern.801 Schließlich war auch Friedrich Wilhelm Schultz, der 1853 in Berlin Privatdozent für das Alte Testament wurde und 1856 zunächst ein Extraordinariat und 1864 schließlich eine ordentliche Professur in Breslau erhielt, von Hengstenberg entdeckt und für das Fach gewonnen worden.802 Sein Deuteronomiumkommentar wurde von Hengstenberg gelobt,803 später scheint sich Schultz aber von seinem Lehrer entfernt zu haben.804 Zum anderen gibt es Theologen, die in einem lockereren Verhältnis zu Hengstenberg standen: die entweder nicht direkt bei Hengstenberg studiert hatten oder die zwar bei ihm studiert hatten, aber nicht selbst Alttestamentler wurden, sondern sich einer anderen theologischen Disziplin zuwandten. In diesem weiteren Sinne hat beispielsweise auch Wilhelm Löhe, der 1828 ein Semester zu Hengstenbergs Füßen saß, den Berliner Alttestamentler als seinen Lehrer bezeichnet.805 Im Bereich der Dogmatik wirkte Friedrich Adolf Philippi im Sinne Hengstenbergs.806 Als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren, ließ er sich 1829 in Leipzig taufen und wurde schließlich Lehrer am Joachimsthaler Gym798

  Über Caspari informiert Belsheim, RE3 3, 737–742.   S. König, RE3 3, 343 f. 800   Hengstenberg urteilt später, er „gehörte während seiner Studienzeit zu unseren ausgezeichnetsten jungen Theologen“ (Vorwort, EKZ 64 [1859], Sp.  52). 801   Wolf, RGG3 1, Sp.  933 f.; Nigg, Reaktion; auch Kramer, Hengstenberg, 395, Anm.  288a; daneben Hengstenbergs eigene Schilderung von Baumgartens Weg im Vorwort EKZ 64 (1859), Sp.  52–61; darin enthält er sich eines letzten Urteils über Baumgartens Theologie und macht der Mecklenburger Regierung zum Vorwurf, sie hätte Baumgartens schwärmerische Ansichten bereits vor dessen Berufung kennen müssen (ebd., Sp.  56). 802   Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers, 180; Lenz, Universität 2/2, 280 f., Anm.  2 . 803   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  48. 804   Vgl. Lenz, Universität 2/2, 280 f., Anm.  2 . 805   Löhe an Hengstenberg, Neuendettelsau 5. März 1853: Bonwetsch 2, 8: „Sie wissen es wohl kaum, daß ich einst zu Ihren Füßen saß und daß Sie mein Lehrer sind; aber es ist so, und ich darf Sie drum meinen theuren Lehrer nennen.“ 806   In der „gründlichen, klaren, scharfen, streng biblischen und kirchlichen Darstellung“ der Christologie in Philippis ‚Kirchlicher Glaubenslehre‘ sieht Hengstenberg (Vorwort, EKZ 799

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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nasium in Berlin, wo er sich Hengstenbergs Standpunkt annäherte. Nachdem er 1837 sein theologisches Examen abgelegt und sich gleich daran anschließend habilitiert hatte, las er drei Jahre lang als Berliner Privatdozent über Bücher des Neuen Testaments, bevor er als Nachfolger Sartorius’ nach Dorpat und schließlich 1851 nach Rostock berufen wurde. In engem Kontakt zu Hengstenberg stand zudem der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einflußreiche lutherische Ethiker Adolf Wuttke 807, der 1854 als Extraordinarius nach Berlin kam und 1861 einen Ruf nach Halle bekam. Auch Wuttkes Schüler Ludwig Theodor Schulze studierte in den 50er Jahren bei Hengstenberg in Berlin und war dort von 1859 bis 1863 Privatdozent. Er erhielt 1873, nachdem er zunächst Extraordinarius in Königsberg und Inspektor und Professor am theologischen Seminar in Magdeburg gewesen war, einen Ruf als Professor für Systematische Theologie in Rostock; als Kollege Bachmanns verfaßte er dort die Bio­gra­phie Philippis.808 Stärker mit Neander verbunden, aber dennoch auch von Hengstenberg beeinflußt war David Christian Erdmann, der seit 1853 Privatdozent in Berlin war und bereits 1856 als ordentlicher Professor für NT und Kirchengeschichte nach Königsberg berufen wurde. 1864 berief man ihn als Generalsuperintendent nach Schlesien; in Breslau wurde er darauf Honorarprofessor.809 Aus Tholucks Schule kommend hat sich Wilhelm Steiger (1809–1836), der später bis zu seinem frühen Tod an der aus Er­weckungskreisen hervorgegangenen École de théologie in Genf Neues Testament lehrte, während seines Aufenthaltes in Berlin Hengstenberg anschlossen; zeitweise war er Hengstenbergs Redaktionsassistent.810 Nicht zuletzt ist auch Otto von Gerlach zu dieser Reihe zu zählen, dessen viel gebrauchtes Bibelwerk Hengstenbergs Schriftforschungen in der Gemeinde verbreitete.811 Er wurde 1827, bereits unter Hengstenbergs Mitwirkung, habilitiert 812 , 1849 wurde er Professor honorarius an der Berliner Fakultät, starb aber in demselben Jahr.813 Ganz eigene Wege ging Hugo Laemmer: Er studierte bei Hengstenberg, habilitierte sich 1857 in Berlin im Bereich der 70 [1862], Sp.  40) das Gegenmittel gegen alle zeitgenössischen Ermäßigungen der Lehre von der Gottheit Christi. Zu seiner Vita Kuhn, BBKL 7; Philippi, RE3 25; Schulze, Philippi. 807   Über die Qualität von Lenz’ Urteil – „wissenschaftlich so unfähig wie die meisten andern [sc. Hengstenbergianer]“ (Lenz, Universität 2/2, 281, Anm.  2 ) – kann man sich jetzt aufgrund der ausführlichen Würdigung Wuttkes durch Graf, BBKL und Ders., Kulturluthertum ein Bild machen. 808   Vgl. Anonym, Kirchliches Handlexikon 6 (1900), 112 f.; vgl. Schulze, Philippi. 809   S. Schian, RE3 23; Eberlein, Erdmann, bes. 35–42. 810   Vgl. Steiger, RE3 18, 789 f. und oben bei Anm.  2 03. 811   Vgl. Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421. – Eine gründliche Darstellung zu Otto von Gerlach gibt es leider immer noch nicht; einen guten Überblick bietet die Arbeit von Christiani, Gerlach, vgl. daneben Althausen, Kirchliche Gesellschaften, 188–194; Kriege, KirchenZeitung, 63–67 und aus den älteren Lexika v. a. Kögel, RE3 6, 602 f. sowie den Nachruf EKZ 45 (1849), Sp.  937–955, Nr.  101 f. (von Eduard Meuss). 812   Vgl. zum Streit um diese Habilitation Lenz, Geschichte 2/1, 350–362 und unten 4.4.3. 813   Vgl. den Nachruf EKZ 45 (1849), Sp.  937–955, Nr.  101 f.; zur Ernennung als Honorar-

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2  Hengstenberg und die Theologie

historischen Theologie und konvertierte schließlich 1858 zum römischen Katholizismus. 1864 wurde er Professor in Breslau und lehrte nacheinander Dogmatik, Kirchengeschichte und kanonisches Recht und erwarb sich besonders in letzterem hohes Ansehen.814 Zu den Universitätslehrern, die von Hengstenberg beeinflußt waren, ohne in Berlin studiert zu haben, zählt z. B. Karl Friedrich August Kahnis in Leipzig; er bekannte – ähnlich wie Kurtz –, viel von Hengstenberg gelernt zu haben.815 Ebenso stand der frühe Delitzsch, was seine Interessen und seine Arbeitsweise anging, Hengstenberg nahe.816 Damit ist der Kreis von theologischen Lehrern, die in lockerer Verbindung zu Hengstenberg stehen, grob markiert. Eine abschließende Aufzählung ist, wie schon das einleitende Zitat von Kurtz zeigt, unmöglich. Noch größer und weniger bestimmbar ist der dritte Kreis von Schülern, der gleichwohl der wichtigste sein dürfte. Rechnet man das Extraordinariat ein, hat Hengstenberg von 1826 an insgesamt 43 Jahre lang in Berlin Altes Testament gelehrt. Mehrere Generationen von Pfarrern sind durch seine Schule gegangen, haben Vorlesungen, Seminare, seine Sprechstunden und Studentenabende besucht. Einer von ihnen, H. Müller aus Ratzeburg, spricht „von Tausenden, die im Laufe der Jahre das Glück hatten, in Haus und Hörsaal zu den Füßen des geliebten Meisters zu sitzen.“817 Der persönliche Kontakt zu den Studenten, auf den Hengstenberg großes Gewicht legte, dürfte nicht ohne Wirkung geblieben sein. Daneben haben in der Pfarrerschaft Hengstenbergs Aufsätze zu biblischen Themen in der EKZ und seine Kommentarwerke gewirkt.818 Bei alledem bleibt jedoch fraglich, ob man im eigentlichen Sinne von einer Hengstenberg-Schule sprechen kann. Hengstenberg hat Impulse und Anreprofessor vgl. die Stellungnahme der Fakultät vom 15. Febr. 1849: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  76 sowie Lenz, Universität 2/2, 280. 814   S. Wesseling, BBKL 4; Schweter, Laemmer; Rösler, Lämmer; Harnack, Fakultät, 157 sowie Hengstenberg, Vorwort, EKZ 64 (1859), Sp.  63. 815   Kahnis, Grundwahrheiten, 6; auch seine Dogmatik zeigt, daß er reichlich Hengstenberg gelesen hat, vgl. nur Ders., Dogmatik 1, 278–281. Während seiner Berliner Studienzeit galt er als Hengstenberganhänger, vgl. Lenz, Geschichte 2/2, 118. 816   Vgl. Plümacher, TRE 8, 431,42–432,19 und ausführlich Wagner, Delitzsch. – Als der preußische Kultusminister 1842 ein Gutachten über Delitzsch anforderte hinsichtlich der Frage, ob man sich um seine Anstellung an einer preußischen Universität bemühen solle (vgl. dazu Rengstorf, Delitzsch’sche Sache), verfaßte Hengstenberg ein sehr wohlwollendes Gutachten, in dem er unter anderem begrüßte, daß Delitzsch sein anfänglich übertrieben lutherisches Auftreten aufgegeben und erkannt habe, daß eine Repristination des 17. Jhs. nicht zu wünschen sei (UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, Bl. 230 f.; Rengstorf, Delitzsch’sche Sache, 14 ist das Gutachten unbekannt). Delitzsch selbst bekennt später (an Bachmann, Leipzig 19. Febr. [?] 1879: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann [unpaginiert]): „Auch in mein wie meines Freundes Caspari Leben hat er in unvergesslicher Weise eingegriffen“; vgl. auch die bei Rengstorf nicht behandelten Briefe bei Wulfmeyer, Nachlaß, 209–212. 817   Müller, Hengstenberg, Sp.  60. 818   Vgl. oben 2.3 und Kahnis, Gedächtniß, Sp.  421.

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

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gungen gegeben. Er hat durch seine Art, das Alte Testament sprechen zu lassen, geprägt und Nachahmer hervorgerufen. Er hatte jedoch keine wirkliche Methode weiterzugeben. Außerdem hat er, wie es seine Art war, auch bei den Veröffentlichungen der eigenen Schüler nicht an Kritik gespart, so daß diese gezwungen waren, eigenständig ihre Position zu vertreten. Hengstenberg hat, darüber waren sich schon die Zeitgenossen einig,819 im 19. Jahrhundert dem Alten Testament einen festen und unaufgebbaren Platz innerhalb der christlichen Theologie zurückerobert, und in dieser Hinsicht hat er auch Schüler hervorgebracht, die nicht von sich sagen würden, solche zu sein.

2.5.4  Zur Wirkungsgeschichte Hengstenbergs im angelsächsischen Raum 1835 schloß Hengstenberg seine dreibändige ‚Christologie des Alten Testaments‘ ab, 1836 erschien ihr erster Band bereits in einer englischen Übersetzung in den USA, 1839 lag das ganze Werk übersetzt vor.820 Bei der zweiten Ausgabe der ‚Christologie‘ ging es noch schneller: Die ersten drei der in vier Bänden unterteilten Übersetzung kamen fast gleichzeitig mit der deutschen Fassung heraus (1854–58), nunmehr in Edinburgh, im Verlag T&T Clark.821 1863 bis 1865 erschien diese Übersetzung bereits in einer zweiten Auflage in ‚Clark’s Foreign Theological Library‘.822 Ähnliches läßt sich für fast alle exegetischen Werke Hengstenbergs beobachten.823 Sie erscheinen entweder sofort oder einige Zeit später in englischer Übersetzung, entweder in den USA oder bei T&T Clark in Edinburgh. Es dürfte kaum einen anderen deutschsprachigen Theologen im 19. Jahrhundert geben, dessen Werk so umfassend und größtenteils noch zu seinen Lebezeiten auf englisch erschienen ist. Daneben steuerte Hengsten819   Vgl. nur das Urteil von Bleek, Einleitung, 24–28 über Hengstenberg und die durch ihn repräsentierte Richtung. 820   Hengstenberg, Christology, transl. by Reuel Keith. Der Übersetzer war laut Deckblatt Professer am Protestant Epicopal Theological Seminary of Virginia. 821   Hengstenberg, Christology, transl. by the Rev. Theod. Meyer and James Martin (1854–1868). Meyer nennt Hengstenberg seinen „beloved Teacher“ und dankt ihm für „proofs of personal kindness and friend­ship“ (ebd., Preface). 822   Hengstenberg, Christology, transl. by the Rev. Theod. Meyer and James Martin (1863–65), bereits 1858 war eine zweite Auflage des ersten Bandes der Übersetzung von Meyer erschienen. 823   Die Auflistung aller Übersetzungen würde zu weit führen, nur einige Beispiele: Egypt and the books of Moses, or, The books of Moses [...], from the German by R.D.C. Robbins, Andover/New York 1843; Commentary on the Psalms, transl. by P. Fairbairn and J. Thomson, Edinburgh 1846–1851; Dissertations on the genuineness of the Pentateuch, transl. by J. E. Ryland, Edinburgh (allerdings nicht bei T&T Clark, sondern for the Continental Translation Society by John D. Lowe) 1847; Dissertations on the genuineness of Daniel and the integrity of Zechariah, transl. by B.P. Pratten. And a dissertation on the history and prophecies of Balaam, transl. by J.E. Ryland, Edinburgh 1848; The Revelation of St John, expounded for those who search the Scriptures, transl. by P. Fairbairn, Edinburgh 1851–52.

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2  Hengstenberg und die Theologie

berg Beiträge zu der 1845 in erster Auflage in New York erscheinenden, von John Kitto herausgegebenen ‚Cyclopaedia of Biblical Literature‘ bei.824 Daran wird deutlich, wie bekannt Hengstenberg als Alttestamentler im angelsächsischen Raum war. Schaff konstatiert 1857, Hengstenberg sei „better understood and more gene­rally appreciated in England and America, than almost any other German theologian.“825 Wie ist dieser Sachverhalt zu erklären? Daß Hengstenberg unter Presbyterianern und Puritanern in Amerika Anhänger hatte, hängt laut Schaff nicht nur mit den „Calvinistic features of his mind“ zusammen, sondern auch mit seinen „high views on inspiration and the divine authority of the Scriptures“826 . Ähnliches dürfte auch für die Church of Scotland gelten. Doch kann man damit rechnen, daß Hengstenbergs Rezeption in Großbritannen nicht auf Schottland begrenzt blieb. Seine Art der Theologie und Schriftauslegung fügte sich nämlich auch ausgesprochen gut in das Denken des Evangelical movement innerhalb der Anglikanischen Kirche ein. Mitte des 19. Jahrhunderts zählte sich mehr als ein Drittel des Klerus zu den Evangelicals, 1848 bis 1864 stand mit J.B. Sumner als Erzbischof von Canterbury sogar ein Vertreter jener Richtung an der Spitze der Kirche.827 Im Unterschied zu den Verhältnissen in Deutschland mußte sich eine Theologie wie die Hengstenbergs in England nicht unauf hörlich gegen den Verdacht des Unwissenschaftlichen oder des Sektenhaften verteidigen. Selbst an den Universitäten, allen voran in Cambridge, hatte die Low Church Party einen festen Stand.828 824   Von Hengstenberg stammen die Artikel „Isaiah“, „Job“ und „Prophecy“. Außer Hengstenberg waren aus Deutschland noch die Professoren K.A. Credner (Gießen), G.H.A. von Ewald (Tübingen), H.A.C. Haevernick (Königsberg) sowie Tholuck und verschiedene, in der Regel promovierte, Pastoren vertreten. 825   Schaff, Germany, 306. Als Hengstenbergs Sohn Immanuel 1854 durch Schottland reiste, schrieb er von dort nach Hause „über die Liebe der Schotten zu Papa“ (vgl. Therese an Immanuel, 4. Juli 1864: Bachmann / Schmalenbach 3, 476). 1867 teilte Hengstenbergs Nichte Anna ihrer Mutter von dem Besuch eines Schotten mit: „Er sagte, Onkels Name hätte solch verbreiteten Klang in England; er wäre da noch viel anerkannter, als hier. Immer wieder kam er darauf zurück, ich sollte Onkel sagen, daß sein Wort so große Geltung hätte.“ (Anna Hengstenberg an ihre Mutter, 12. Aug. 1867: ebd., 485). Vgl. zu Hengstenbergs Kontakten nach Großbritannien auch die Belege aus dem Nl Hengstenberg bei Kriege, KirchenZeitung 1, 489. 826   Schaff, Germany, 305, wobei Schaff bemerkt, daß Hengstenbergs amtstheologische Ansichten eher zur Episkopalkirche passen würden. Andererseits widersprächen seine politische Ansichten, insbesondere die Ablehnung republikanischer Einrichtungen, dem amerikanischen Denken insgesamt, daher gelte: „he is in some respects the most Puritanic and Americanizing, and in other respects the most un-Puritanic and anti-American divine of Germany“ (ebd., 306). 827   Vgl. Bebbington, Evangelicalism, 106 f. 828   Vgl. Bebbington, Evanglicalism, 139–141 – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen sich die Vertreter eines neuen Evangelikalismus allerdings zunehmend aus den wissenschaftlichen und kulturellen Diskursen zurück (vgl. ebd., 151–180).

2.5  Hengstenberg als theologischer Lehrer

299

Noch fester war in den USA Hengstenbergs Theologie in der akademischen Welt verankert. Unverkennbar ist sein Einfluß in Princeton. Charles Hodge hatte im Winterseme­ster 1827/28 bei Hengstenberg in Berlin studiert und bleibende Verbindungen zu dem Berliner Alttestamentler geknüpft.829 Hodges Einschätzung der theologischen Situation in Deutschland ging unter anderem auf den Austausch mit Hengstenberg und die Lektüre der EKZ zurück; beispielsweise bot er 1846 in ‚The Biblical Repertory and Theological Review‘ ein Bild von der deutschen Theologie und nicht zuletzt von Schleiermacher und seinen Schülern, das sich in wesentlichen Teilen Hengstenberg verdankte.830 J.A. Alexander, einer der Nachfolger Hodges, veröffentlichte Kommentare, die ganz auf Hengstenbergs Auslegungen aufruhten.831 Ihre Betonung der Autorität und Irrtumslosigkeit der Schrift machte die Princetoner Theologen zu natürlichen Verbündeten Hengstenbergs.832 Es waren also vor allem konservative reformierte Kreise, die Hengstenbergs Erbe in den USA wachhielten und immer noch wachhalten.833 Bis heute werden Hengstenbergs Werke in den USA nachgedruckt.834 Durch die Führungsrolle der amerikanischen Theologie in der presbyterianischen Welt wurde Hengstenbergs Werk in weiteren Kontinenten bekannt. Wahrscheinlich von Princeton aus gelangte es nach Südkorea. 1997 wurde seine Christologie dort – 168 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen! – ins Koreanische übersetzt.835 Dieses gezwungenermaßen äußerst kurze Schlaglicht auf Hengstenbergs Rezeption im angelsächsischen Raum ist für die Beurteilung von Hengstenbergs theologischer Position nicht unerheblich. Die erstaunliche Wirkungsgeschichte dürfte ein Indiz dafür sein, daß sich sein Denken nicht in den engen Mauern

829   Bachmann 2, 30 f.; Gerrish, Hodge, 140 f. Hodge studierte in Berlin vom 12. Okt. 1827 bis zum 30. Apr. 1828, hörte regelmäßig Neanders und gelegentlich Hengstenbergs Vorlesungen (ebd., Anm.  131). Daneben pflegte er enge Kontakte zu den Gerlachs (ebd., 141; Schoeps, Neue Quellen, 126). 830   Gerrish, Hodge, 141.146–151. 831   Vgl. Davis, Hermeneutics, 3 f.; vgl. auch Reventlow, Epochen 4, 290 und zu J.A. Alexander Noll, Introduction, 16. 832   Zur Princeton Theology vgl. Noll, Princeton Theology (ebd., 19–21 zur Schriftlehre). 833   Vgl. Davis, Hermeneutics, 4; daß Hengstenberg auch bei amerikanischen Lutheranern Anklang findet, zeigt die Arbeit von Nafzger, Struggle, der selbst „Executive Secretary“ der Missouri-Synode ist (ebd., 5). 834   Der Verlag Wipf & Stock Publishers (Eugene, Or.) bietet derzeit Reprints von neun Werken Hengstenbergs an, darunter: Christology of the Old Testament (2008); Commentary on the Psalms, 3 Bde. (2005); Egypt and the Book of Moses (2005); Commentary on the Gospel of St. John (2004); Dissertations in the Genuineness of the Pentateuch, 2 Bde. (2004). 835   Guyak ui Gidokron [= Christologie des Alten Testaments], übers. v. Gwang-yeon Won, Seoul 1997.

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2  Hengstenberg und die Theologie

konfessionell-lutherisch-preußischer Kirchlichkeit bewegte. Darüber muß der nun folgende Teil weitere Aufschlüsse geben.

3  Hengstenberg und die Kirche 3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche 3.1.1  Die Ablehnung der Separation und die Entdeckung der Kirche Hengstenberg war in einem Pfarrhaus aufgewachsen, dennoch scheint er zunächst keine ausgeprägte Kirchlichkeit entwickelt zu haben. Während seines Studiums in Bonn besuchte er zwar verschiedentlich den Gottesdienst, doch maß er ihm keine große Bedeutung zu. Die Kirche hatte offensichtlich wenig Anziehendes für ihn. In seinen Schilderungen des Studentenlebens spielt sie so gut wie gar keine Rolle. Lediglich der Besuch der Brüdergemeine in Neuwied, aus der sein Studienfreund Wilhelm Keetmann stammte, hinterließ einen bleibenden Eindruck. Seine Einstellung zur Kirche änderte sich erst mit der Ankunft in Berlin. Nun besuchte er regelmäßig den Gottesdienst und bekam einen ersten Einblick in die Versammlungen und Vereine der Erweckten. Die Kirche als Institution spielte dabei jedoch immer noch keine Rolle. Schon seine wenigen Äußerungen aus der Baseler Zeit verraten, daß es zunächst ganz die Kategorien der Erwek­ kungsbewegung waren, die sein Bild von der Kirche bestimmten. Charakteristisch hierfür war erstens die Erwartung besserer Zeiten für die Kirche. Das Gefühl, den Anbruch einer neuen Zeit zu erleben, welches sich durch das Schrifttum der Erweckten zog – bei Tholuck als „Auferstehungsmorgen“, bei Neander als „Morgenröthe“ beschrieben  –, erfaßte auch Hengstenberg. In seiner ersten Berliner Publikation schrieb er in Tholuckscher Diktion über die Zeiten der rein äußeren, toten Rechtgläubigkeit: „Die Kirche gleicht einer weiten Flur voll verdorrter Gebeine, die nicht eher wieder lebendig werden, bis der Odem des Herrn in sie kommt.“ Zweitens übernahm er von den Berliner Erweckten, allen voran Neander, ein universalistisches, man könnte auch sagen: spiritualistisches Kirchenkonzept: Die Kirche als Gemeinschaft derer, die sich – unabhängig von ihrer konfessionellen Herkunft und aktuellen Gemeindezu

  S. Bachmann 1, 100 f.   Ebd., 57.105 f.    Siehe oben 1.4.    Vgl. Hengstenberg an seinen Vater, Basel 13. Juni 1824: Bachmann 1, 169 f.    Tholuck, Sünde, 201, vgl. oben 1.3.1; zu Neander Selge, Neander, 252.    Hengstenberg, Ueberordnung: Bachmann 1, 335; vgl. Tholuck, Sünde, III–V. 

302

3  Hengstenberg und die Kirche

gehörigkeit – im gemeinsamen Glauben vereinen und „durch die Liebe zu Christo miteinander verbunden sind. Das Bedürfniß gemeinschaftlicher Erbauung, die Förderung des Reiches Gottes, welche eine gemeinschaftliche Wirksamkeit erfordert, führt sie zusammen.“ Alle frühen Äußerungen Hengstenbergs über die Kirche und die Gemeinschaft der Gläubigen fügen sich zwanglos in die Vorstellungswelt ein, welche die erwecklichen Kreise nicht nur in Berlin, sondern in ganz Europa und Nord­ amerika kennzeichnete. Allerdings ist auffällig, daß Hengstenberg schon früh die Schattenseiten des neuen Glaubenslebens in Berlin wahrnahm: „Mit Schmerzen sehe ich, daß sich gerade unter Denen, von welchen die Kirche Chri­sti das Meiste zu erwarten berechtigt war, unter Denen, an welche ich mich mit ganzem Herzen anschloß und deren Streben ich theile, eine Neigung zum Separatismus zu entwickeln droht, die, wenn sie nicht kräftig unterdrückt werden sollte, mich und gewiß viele Andere von den innig Verbundenen gänzlich scheiden könnte. Daß doch alles Gute und Schöne so bald getrübt werden muß! Doch ich hoffe noch immer das Be­ ste.“

In dieser Diagnose dürfte eine Hauptursache dafür zu suchen sein, daß sich Hengstenberg schließlich bereit erklärte, an dem Projekt einer Kirchenzeitung mitzuarbeiten. Die Initiatoren des Blattes waren auf Hengstenberg erst aufmerksam geworden, als sie seine Schrift über ‚Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘ (1826) gelesen hatten.10 In ihr hatte Hengstenberg den Versuch unternommen, die erweckten Kreise klar vom Separatismus abzugrenzen. Separatismus sei unvermeidlich in einer Zeit „der großen Verbreitung des Unglaubens, [...] der Unwürdigkeit eines großen Theils der Geistlichen in Lehre und Leben“11. In der gegenwärtigen Zeit, „da der heilige Geist an den entlegensten Orten seine Kraft so herrlich bewährt und wo alle Hoffnung vorhanden ist, daß sich in der ganzen Kirche ein kräftiges und freudiges Leben im Glauben und in der Liebe regen werde“, sei es aber schädlich, daß sich die Gläubigen „selbstsüchtig [...] in eine    Hengstenberg, Ministerialverfügung: Bachmann 1, 359; vgl. Ders., Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  9.    Vgl. zu den Charakteristika der Erweckten im internationalen Kontext Gäbler, „Auferstehungszeit“, 161–186 und Ders., Er­weckung. – Das erweckliche Erbe zeigt sich auch in der von Hengstenberg häufig verwendeten Verfallsterminologie im Blick auf die Kirche, z. B. Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  11: „Die K.[irchen]Z.[eitung] hat es sich von ihrer Entstehung an zum angelegentlichen Geschäfte gemacht, nachzuweisen, daß unsere Kirche sich in einem Zustande traurigen Verfalles befin­det, daß eine große Anzahl ihrer Diener nicht ihrem Herrn und Haupte, sondern dem Fürsten dieser Welt huldigt, nicht besser und nicht schlechter wie die Baalspfaffen unter dem A. B. [...].“    Hengstenberg an den Vater, Berlin 24. März 1825: Bachmann 1, 226 f. 10   Vgl. E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 159: „Die Abhandlung war der Keim der Evangelischen Kirchenzeitung.“ Vgl. zum Kontext Deuschle, Erweckung, 85–91. 11   Hengstenberg, Ministerialverfügung: Bachmann 1, 370.

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

303

kleine Gemeinde absondern und dadurch aller Wirksamkeit berauben wollten.“12 In wahrhaft großkirchlicher Semantik mahnt er: „Wer sich aus der großen kirchlichen Gemeinschaft absondert, handelt dem Willen des Erlösers entgegen, der da will, daß Unkraut und Waizen zusammen wachsen sollen bis zur Erndte, der die sichtbare Kirche mit einem Netze vergleicht, das ins Meer geworfen ist, damit man allerlei Gattung fängt, der zu dem Volke und seinen Jüngern sprach: auf Mosis Stuhle sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer [...] Er störet die Ordnung in der Kirche, die auf göttlicher Anordnung beruht. Denn obgleich jeder Christ das geistliche Priesterthum besitzt, so muß doch in jeder kirchlichen Gemeinschaft die Ausübung gewisser Functionen Einzelnen übertragen werden. Es darf nicht jeder sich zur Ausspendung der heiligen Sakramente und zur öffentlichen Verkündigung des göttlichen Wortes drängen, sondern die Kirche wählt durch ihre Vertreter Männer aus, die dereinst vor Christi Throne Rechenschaft zu geben haben von allem ihrem Thun. Diese Anordnung ist von den Aposteln ausgegangen und ihre Uebertretung ist, wie die Geschichte zeigt, immer von den traurigsten Folgen begleitet gewesen.“13

Die Ablehnung der Separation verdankte sich, wie die traditionellen Wendungen zeigen, zweifellos dem Studium der reformatorischen Schriften in Basel, allen voran derjenigen Calvins und Melanchthons.14 Unverkennbar war die Mahnung an die erweckten Kreise gerichtet. Sie zielte darauf, die neu erweckte Frömmigkeit nicht in abgesonderten Zirkeln, sondern in der verfaßten Kirche zur Geltung zu bringen. Diese Sichtweise traf sich aber mit der Perspektive, welche die Initiatoren der Kirchenzeitung, allen voran Ernst Ludwig von Gerlach, umtrieb. Auch Ger­lach war von Denkkategorien der Erweckungsbewegung bestimmt,15 gleichzeitig hatte er aber einen Blick für die größeren kirchlichen Zusammenhänge. Nach einem Besuch erwecklicher Zirkel in Pommern äußerte er sich – trotz aller Sympathie für jene Art der Frömmigkeit – kritisch über die wahrgenommenen separatistischen Ten­ denzen.16 Dabei dürfte sein Bruder Otto ihn maßgeblich beeinflußt haben, der schon früh die Distanz der Erweckten zur verfaßten Kirche kritisierte.17 Es war 12

  Ebd.   Ebd., 371. 14   Die Beschreibung der Kirche als corpus permixtum mit den seit Augustin geläufigen Bibelstellen dürfte sich an Calvin, Institutio IV,1,13 sowie an CA VIII und die Apologie der CA (BSLK, 238,21–52) anlehnen. 15   S. Kraus, Gerlach, 74–106; vgl. auch Schoeps, Neue Quellen, 126. 16   Gerlach, Aufzeichnungen 1, 131 f. 17   Otto an E.L. von Gerlach, Wittenberg 19. Nov. 1825: Gerlach, Aufzeichnungen 1, 149 f.: „Dem Separatismus ist nicht entgegenzutreten mit der unhaltbaren Unterscheidung Zinzendorfs, der Brüdergemeinde und des Verfassers der ‚Vertrauten Briefe‘ zwischen einer ‚Religion‘, d.i. Landes- oder Konfessionskirche einerseits und einer ‚Gemeinde Jesu Christi‘ andrerseits, sondern damit, daß man die Evangelische Kirche als eine wahre ‚christliche Kirche‘ anerkennt, im apostolischen und damit übereinstimmend Melanchthonschen Sinne, wiewohl im Verfall [...]. Die Kirchen sind daher nicht bloße ‚steinerne Häuser‘, die Geistlichen, wenn sie untreu, sind nicht blos Leute in ‚schwarzen Röcken‘, Häuser und Leute, die mich als Christen nichts angehn, sondern untreue Haushalter in meiner Gemeinde, des Teufels Diener, 13

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3  Hengstenberg und die Kirche

also gerade ihr Interesse an der Integration der Erweckungsbewegung in die Kirche, welches die beiden Gerlachbrüder, von denen sicher Otto von Anfang an der kirchlich fester verwurzelte war, auf den ihnen zuvor völlig unbekannten Verfasser der Schrift über die Ministerialverfügung aufmerksam werden ließ.18 Ernst Ludwig von Gerlach brachte schließlich Hengstenberg als Redakteur in Vorschlag, nachdem er ihn im Hause Fockes kennengelernt hatte.19 Allein schon der Titel der Evangelischen Kirchenzeitung schlug einen neuen Ton an und ist kennzeichnend für die Ausrichtung des Kreises. Adolf le Coq wollte das Blatt noch schlicht „Evangelisches Magazin“ nennen.20 Der Titel „Kirchenzeitung“, auf den man sich schließlich einigte, wies demgegenüber darauf hin, daß die Initiatoren mit ihrer Publikation nicht nur fromme Zirkel, sondern die ganze Kirche im Blick hatten – eine Persepektive, die über das gewöhnliche Interesse der meisten „Stillen im Lande“ hinausging. Hengstenberg brachte das Anliegen im Programm der EKZ mit den Worten zum Ausdruck: „Die Evangelische Kirchenzeitung soll keiner Parthei angehören; sie will der Evangelischen Kirche als solcher dienen.“21 E.L. von Gerlach bemerkte später, schon „das erste Entstehen der Ev. K. Z., ihr Titel“, sei ein Schritt gewesen, den damals sogenannten „Pietismus“ zu verlassen: Sie sei fortgeschritten „dem Anfange nach, denn sie schreitet noch fort, – zum evangelischen Kirchenthum.“22 Hengstenberg verstand die EKZ in der Ankündigung an die Mitarbeiter als aber immer solche, die Christus eingesetzt hat.“ E.L. von Gerlach vermerkt dazu: „Otto war mir voraus in der Lehre von der Kirche“ (ebd., 150). Die Rede von den „steinernen Häusern“ und Leuten „in schwarzen Röcken“ scheint unter den Erweckten in Pommern verbreitet gewesen zu sein (vgl. ebd. den Kontext des Briefes). 18   Vgl. zum Bekanntwerden Hengstenbergs mit E.L. von Gerlach Kraus, Gerlach, 104– 106. 19   Wann das war, ist nicht klar: Bachmann 2, 68 f. nennt den 4. Nov. 1826 als Tag des Kennenlernens und den 15. Nov. als den Tag der ersten Konferenz; Schoeps, Neue Quellen, 126, geht davon aus, daß Gerlach Hengstenberg „am 15. November auf einem Mittagessen mit Focke und Goßner kennengelernt“ habe. Gerlach selbst spricht in seinen Aufzeichnungen davon, er kenne Hengstenberg seit dem 16. Sept. (Aufzeichnungen 1, 59 f.) – eindeutig ist allemal, daß Hengstenberg die Gerlachs erst kennenlernte, als es bereits um die Gründung der EKZ ging. E.L. von Gerlach hielt Hengstenberg anfänglich für einen Neanderschüler, von daher erklärte er sich auch Hengstenbergs noch ungeklärte Haltung zur Obrigkeitsthematik, s. Gerlachs Tagebuch vom 4. Apr. 1827: Schoeps, Neue Quellen, 129: „Hengstenberg ‚Mischung von Kind und Gelehrter‘, sagt Polte [Leopold von Gerlach]. Er hat mit Wilhelm ein Gespräch gehabt über die Frage, ob man den Obrigkeiten widerstehen dürfe. Hengstenberg pseudo, wie die Neandersche Schule überhaupt und daher so sicher in der Konfusion!! [...] Ich nehme mir vor, dies mit Hengstenberg aufs Klare zu bringen.“ 20   S. Bachmann 2, Anhang, 1. 21   Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 16; ebs. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 1 (1827), Sp.  4. 22   E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  161. – Auch Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  651 verwendet später den Titel als Beleg dafür, daß die Tendenz der EKZ von Anfang an „keine separatistische, sondern eine wahrhaft kirchliche“ gewesen sei, dem Separatismus habe die EKZ nie gehuldigt.

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

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„Centralpunkt[...],“23 der die verschiedenen, durch ihr Interesse am lebendigen Glauben verbundenen Kreise vernetzen solle. Sie wolle das Bewußtsein wek­ ken, daß man zur einen Kirche Jesu Christi gehöre. Hengstenbergs Aufmerksamkeit richtete sich 1827 also noch in keiner Weise auf die äußere Verfassung der Kirche, sondern nur auf ihre Einheit und Weite: „Sie [sc. die EKZ] wird sich bestreben, bei den Einzelnen das lebendige Bewußtsein der Einheit, theils mit der Evangelischen, theils mit der gesammten Christlichen Kirche aller Jahrhunderte zu befördern, und zu einer allgemeinen Verbindung aller wahren Glieder der Evangelischen Kirche beizutragen.“24

Darum behielt die EKZ, ihre Sprache und auch ihre Beschreibung der Kirche zunächst den für die Erweckungsbewegung typischen Klang.25 Für Hengstenberg selbst war die Institution Kirche bis Ende der 20er Jahre kein zentrales Thema. Im Gegenteil, er betonte, daß sich die evangelische Kirche keine hohe Bedeutung zulegen dürfe, wie sie überhaupt „alles Menschliche tief erniedrig[e]“26 : „Sie ist die Gemeinschaft derer, welche alle darin übereinstimmen, daß Gottes Wort, wie es in der heiligen Schrift ausgesprochen, die einzige Norm für alles Denken und Handeln sey, und in der die Sacramente nach dem Willen des Stifters und dem Sinn ihrer Einsetzung, und zwar auf eine geregelte Weise verwaltet werden.“

Die Nichtteilnahme an der äußeren Kirche schließe nicht von der Zugehörigkeit zur unsichtbaren Kirche aus. Die Kirche sei „nur ein von Gott verordnetes Mittel, wodurch der Zugang zu den göttlichen Gütern erleichtert, und das Wachsthum in dem göttlichen Leben gefördert wird.“27 Folgerichtig bekräftig­ te Hengstenberg in seinem Vorwort von 1828, daß man fern davon sei, „irgend einer äußern Kirchengemeinschaft an und für sich einen Werth“ beizulegen, man wisse vielmehr genau zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche zu unterscheiden.28 Jedoch halte man es für ein Geschenk Gottes, „daß er eine äußere Kirche mit einer so klaren Erkenntniß der Grundwahrheiten des Evangelii begnadigt hat; wir halten es für unsere Pflicht uns fest an diese Kirche anzuschließen, weil wir glauben daß die gegenwärtige große religiöse Bewegung nur auf diese Weise allgemeinen Eingang gewinnen kann“.29

23

  Hengstenberg, Plan: Bachmann 2, Anlage, 7.   Hengstenberg, Programm: Bachmann 2, Anhang, 16. 25   Das gesteht Hengstenberg später selbst ein, vgl. Ders., Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  667. Vgl. die Belege für die unter den Mitarbeitern übliche Tonart bei Bonwetsch, Anfänge, 287–289. 26   Hengstenberg, Ueber das innere Verhältniß, EKZ 1 (1827), Sp.  29. 27   Ebd. (auch das vorige Zitat); Druckfehler wurden korrigiert. 28   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 2 (1828), Sp.  3 (auch das vorige Zitat). 29   Ebd., vgl. auch die Fortsetzung: „weil wir es für ein trauriges Ereigniß halten würden, wenn das Resultat derselben nichts weiter als eine neue Brüdergemeinde [...] seyn sollte“. 24

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3  Hengstenberg und die Kirche

Damit ist ein grundlegender Hinweis gegeben: Hengstenberg gab den Errungenschaften der Erweckungsbewegung nur dann eine Chance, wenn sie in die bestehende Kirche eingebracht würden.30 Die Flucht der Erweckten in kleine, abgeschottete Kreise oder gar in die Separation lehnte er grundsätzlich ab.31 Die Gründe, die er hierfür – im Vorwort von 1830 – anführt, zeigen seine theologische Distanz zum Konventikelchristentum: Die Absicht des Separatismus sei eine doppelte: „entweder eine Gemeinde zu stiften, die bloß aus Wiedergeborenen besteht, oder die strenge Einheit in der richtigen Lehre hervorzubringen.“32 Er­stere sei als schriftwidrig abzulehnen. Sie beruhe auf einer Überschätzung der äußeren Kirche, die eine „Pflanzschule des heiligen Geistes“, aber keine – dem Jenseits vorbehaltene – „Gemeinde der Heiligen“ sei (Sp.  13). Zudem zeige die Geschichte, daß auf der Separation beständig „eine Art von Fluch“ (ebd.) geruht habe: „Derselbe Hochmuth, der anfangs die Separirten antrieb zur Trennung von allen übrigen, bringt nachher wieder Spaltungen unter ihnen selbst hervor; ist das Streben einmal statt darauf sich von sich selbst, darauf gerichtet, sich von Anderen zu separieren, so wird es immer krankhafter“ (ebd.).

Die zweite Absicht, strenge Lehreinheit herstellen zu wollen, sei weniger verwerflich, da sie nicht hochmütig über das Innere, sondern nur über das Äußere richte. Dennoch sei sie bedenklich, weil sie nicht damit rechne, daß auch die dem Glauben feindlich gegenüberstehenden Rationalisten durch Gottes Allmacht und Liebe zu Gläubigen werden könnten.33 Überdies sei auch eine Separation um der Lehre willen schädlich, weil sie Haß erzeuge gegenüber den Gläubigen und auf diese Weise „der Ausbreitung des Glaubens große Hindernisse in den Weg“ lege (Sp.  14). Ein „christlicher Prediger“ habe, wenn er in der Kirche bleibe, Zugang zu vielen Ungläubigen und könne „unter den günstig­ sten äußeren Umständen als Missionar“ (ebd.) auftreten. Durch äußere Trennung verbaue er sich diese Möglichkeiten. Es gibt nur zwei Fälle, in denen Hengstenberg die Separation für möglich oder gar nötig hält: Er­stens nennt er die „locale Separation“ (ebd.), die sich aus der Verpflichtung ergebe, falsche Lehrer zu meiden. Allerdings gelte es auch hier zu unterscheiden: Das Fernbleiben vom Abendmahl sei nicht schon durch 30

  Vgl. dazu auch die Bemerkungen oben 1.4.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 2 (1828), Sp.  3: „Wir werden daher, bei schonender Liebe gegen die Irrenden, fortwährend den Separatismus bekämpfen, der eine solche Trennung herbeizuführen trachtet, ebenso wie wir dem unevangelischen Mystizismus und Pietismus keinen Zugang zu unserem Blatte verstatten werden.“ 32   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  13 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 33   Das sei auch der Grund, warum er „die gewaltsame Ausschließung der Rationalisten“ aus der Kirche als „eben so unweise als lieblos“ ablehne (ebd., Sp.  12), schreibt Hengstenberg zehn Tage vor Veröffentlichung des Gerlachschen Artikels über die theologische Fakultät in Halle – ein für die Beurteilung des „Hallisches Kirchenstreits“ nicht unwesentliches Detail. 31

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

307

die Ablehnung der Lehre oder der Person eines rationalistischen Predigers gerechtfertigt, sondern erst dann, wenn dieser in den Einsetzungworten oder in der Materie des Sakramentes willkürliche Veränderungen vornehme und wenn man es ihm und gegebenenfalls der zuständigen Behörde gegenüber dargelegt habe (Sp.  15). Zweitens hält Hengstenberg die allgemeine Separation dann nicht nur für erlaubt, sondern sogar für Pflicht, „wenn man es wagt, die Bekenntnißschriften unserer Kirche abzuschaffen und andere an ihre Stelle zu setzen [...]. Dieser Fall ist aber bis jetzt noch nirgends eingetreten, überall wird die Auctorität der symbolischen Bücher in thesi, wenngleich nicht in praxi, festgehalten, und noch immer behauptet unsere Kirche vor allen anderen Religionspar­ theien den großen Vorzug, daß in ihr die reine evangelische Lehre dem Rechte nach die herrschende ist“ (Sp.  12).

Hengstenberg sieht in der Erweckungsbewegung nichts anderes als das neuerliche Auf blühen der reinen evangelischen Lehre; gerade deshalb sieht er ihren Platz in derjenigen Kirche, die sich durch ihre Bekenntnisse an diese Lehre gebunden weiß. Darüber hinaus ist er Realist genug, um zu wissen, daß die Wirkungsmöglichkeiten separatistischer Gruppen, extrem begrenzt sind. Soll das geistliche Leben, das an vielen Orten aufgebrochen ist, nicht verpuffen, dann muß es mitten in der Kirche verwurzelt werden. Das ist Hengstenbergs klares Ziel. Schon in seinen ersten Aussagen über die Kirche zeigt sich also eine Grundüberzeugung, die Hengstenberg stets begleiten und die von größter Bedeutung für seine zukünftige Stellung und die Wirkungskraft der EKZ sein wird: die Ablehnung der Separation.34 Darüber hinaus läßt sich eine reformatorisch geprägte Ekklesiologie erkennen, die zwischen innerer und äußerer Kirche unterscheidet und vor einer Überschätzung der äußeren Kirche und ihrer Einheit warnt. Dabei dominiert die Vorstellung von einer Gemeinschaft der Gläubigen, die zwar nicht ganz verborgen, aber doch auf keinen Fall zu eng mit der sichtbaren Kirche verbunden zu denken ist.35 In typisch erwecklicher Terminologie bezeichnet Hengstenberg die äußere Kirche als „Pflanzschule des heiligen Geistes“36 , deren Früchte dem Auge verborgen bleiben. Ein besonderes Interesse an der Kirche als Institution, mithin an der Frage, die sich zum Hauptthema des 19. Jahrhunderts entwickeln sollte, läßt sich bis 1830 nicht erkennen. 34   Ebs. Kahnis, Gedächtniß, 423: „Es war ein Axiom seiner Kirchenpolitik, mit der Landeskirche nicht zu brechen.“ Vgl. auch Ernst, Auferstehungsmorgen, 120 f. 35   Im Vorwort 6 (1830), Sp.  3 beschreibt Hengstenberg jene Gemeinschaft als Gemeinschaft der „Kinder Gottes“, die „umschlungen durch das feste Band des heiligen Geistes, Glieder eines Leibes, Reben an einem Weinstock sind, Theilnehmer desselben Glaubens, Erben derselben Herrlichkeit“, vgl. auch ebd., Sp.  9 f. 36   Ebd., Sp.  13. In der Schrift über die Ministerialverfügung: Bachmann 1, 373 werden auch die in die Gemeinde organisch integrierten Konventikel mit dieser Bezeichnung versehen.

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3  Hengstenberg und die Kirche

Charakteristischerweise war es der Jurist Ernst Ludwig von Gerlach, der ihn auf dieses Defizit aufmerksam machte. Er hatte vor allem an denjenigen Passagen des Vorworts von 1830 Anstoß genommen, in denen Hengstenberg vor einer Überschätzung der äußeren Kirche gewarnt hatte. Ende Januar 1830 schrieb er: „Dagegen möchte ich Sie wiederholt bitten, Sich [sic!] zu prüfen, ob, was Sie von der Kirche halten, von Einflüssen der Rationalisten frey ist. Es gibt doch nur eine Kirche Christi auf Erden. Was ist der Sinn des Wortes ecclesia in KZ [Kirchenzeitung]? Wo war der Gegensatz von sichtbarer u[nd] unsichbarer Kirche am Pfingstfest? Ist das Wesen der Kirche jetzt ein anderes als damals? – Der ‚Leib [zweimal unterstrichen] Jesu Christi‘ das ist der biblische Grundbegriff, nicht ‚Pflanzschule‘, ‚Erziehungsanstalt‘, wiewohl sie dies auch ist, so wie Christus auch ein großer Lehrer, womit die Rationalisten sein Wesen zu erschöpfen meinen etc.“37

Gerlach war, was das Interesse an der äußeren Kirche anging, Hengstenberg einen Schritt voraus. Er ging davon aus, daß die Einheit der Lehre nicht nur durch die theoretisch existierende Bekenntnisbindung, sondern auch in der Praxis sichtbar werden müsse und deshalb die kirchlichen Behörden zum Handeln aufgefordert seien. Solche Überlegungen standen jedenfalls hinter dem Artikel über die Zustände an der hallischen Fakultät, den er Anfang des Monats an Hengstenberg geschickt hatte. Die dadurch ausgelöste Diskussion 38 führte nun aber auch Hengstenberg dazu, eindeutiger Stellung zu beziehen. Im Rückblick auf das für die Entwicklung der EKZ in jeder Hinsicht prägende Jahr 1830 gestand Hengstenberg schließlich ein, daß Gerlach mit seinen Anfragen vom Januar recht gehabt habe: Die „christlichen Kämpfer“ hätten sich hinsichtlich der Lehre von der Kirche „bisher nicht ganz von dem Einflusse des herrschenden Zeitgeistes frei gemacht“39. Der Rationalismus habe einen neuen Be­griff von Kirche aufgestellt und dabei nicht beachtet, „daß die Kirche eine in der Schrift begründete [ist], und daß sie eine historisch-rechtliche Grundlage hat, welche kein selbstgemachter, willkührlicher Be­griff von ihr umstoßen darf “ (Sp.  5). Auch „als das christliche Leben neu zu erwachen begann“ (ebd.), habe sich an dieser Auffassung nicht viel geändert. Man habe die äußeren Zustände der Kirche für gegeben gehalten und nicht geglaubt, „daß in die ganze todte Masse je wieder Leben gebracht werden könne; man schmeichelte sich entweder mit der Hoffnung, daß das neuerwachende Leben, zur vollkommenen Kraft gelangt, eine neue kirchliche Gemeinschaft gründen würde – oder, was weit häufiger war, man stellte der sicht­baren Kirche überhaupt als einem Todten die unsichtbare als das Lebendige und Wahre entgegen“ (ebd.). Das „in der entstandenen 37   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 31. Jan. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 30; Kursives im Original unterstrichen. 38   Siehe dazu oben 2.1.1. 39   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  5 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext.

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

309

christlichen Bewegung jede bestimmte begriffliche Bestimmung scheuende Gefühl“ (Sp.  6) habe den Blick auf die Lehre von der äußeren Verfaßtheit der Kirche verstellt; alles Eintreten gegen die Irrlehrer habe man deshalb immer – ein deutlicher Seitenhieb auf Neander – mit den Methoden der römischen Kirche, mit „fleischlichen Waffen“ und „Verfolgungssucht“ (ebd.) in Zusammenhang gebracht. Die Art und Weise, wie die EKZ nun für die äußere Kirche kämpfe – ohne fleischliche Waffen, aber durch direkten und offen Widerspruch „in’s Angesicht“ (ebd.) –, sei darum für viele neu und ungewohnt. Im Gegensatz zu dem spiritualisierenden Kirchenverständnis der Erweckten berief sich Hengstenberg nun auf „den ursprünglichen und wahren Begriff von der Evangelischen Kirche“ (Sp.  6), der davon ausgehe, daß „die Kirche, als äußere Gemeinschaft, auf Einheit der Lehre gegründet sey“ (Sp.  5). Hengstenberg hatte die Anregung Gerlachs also aufgenommen und die Frage nach der Bedeutung der äußeren Kirche, ihrer Verfassung, ihrer Lehrer und ihrer Zucht auf die Tagesordnung gesetzt. Der von Gerlach ausgelöste „Hallische Kirchenstreit“ hat ein übriges dazu getan. Wie sich Hengstenberg den Zusammenhang von innerer und äußerer Kirche vorstellt und welche Bedeutung er ihrer äußeren Gestalt zumißt, bleibt aber nach wie vor offen. Auch in der Folgezeit trat er immer noch nicht mit eigenen Artikeln zu Fragen der Ekklesiologie hervor. Daß er die Brisanz des Themas aber zunehmend wahrnahm, zeigt sich an der Ausrichtung der EKZ: 1832 eröffnete er offziell die Diskussion über die Kirchenverfassung,40 1833 fordert er dazu auf, die Anfragen der schlesischen Lutheraner aufnehmend, Artikel zur Frage der Einheit von Lutheranern und Reformierten einzureichen.41 Zunehmend rückte auch die Unionsthematik ins Blickfeld, die Hengstenberg aber immerhin bis 1844 in der Schwebe hielt. Daran wird deutlich: Hengstenberg war, als er die Redaktion der EKZ übernahm, auf die auf brechenden Debatten über die Kirche und ihre Verfassung nicht vorbereitet.42 Es läßt sich auch nicht erkennen, daß er besonderes Interesse an ihnen gehabt hätte. Auch nach 1830 nahm die innere Kirche für ihn weiterhin die maßgebliche Stellung ein. Ein Schritt zur Klärung wurde erst durch einen äußeren Anlaß herbeigeführt. In den 30er Jahren erschien ein epochales Buch über die Lehre der Kirche. „Es steht“, schrieb Hengstenberg, „zu der Kirche in demselben Verhältniß, in dem das Leben Jesu von Strauß zum Christen­ thum“43. Es handelt sich um Richard Rothes ‚Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung‘ (1837).

40

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 10 (1832), Sp.  8 f.   Hengstenberg, Anmerkung, EKZ 13 (1833), Sp.  529 f., Nr.  67. 42   Einen guten Überblick über die Auseinandersetzungen um den Kirchenbegriff im 19. Jh. gibt Hirsch, Geschichte 5, 145–231. 43   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  6. 41

310

3  Hengstenberg und die Kirche

3.1.2  Die wahre Sichtbarkeit der Kirche – Auseinandersetzung mit Rothe (1838) Hengstenberg widmete dem Werk über die ‚Anfänge der christlichen Kirche‘ ein ganzes Vorwort, und daran zeigt sich, welche Bedeutung er ihm zumaß. Die Aufmerksamkeit Hengstenbergs hing einerseits mit dem Verfasser zusammen. Rothe, der bis Sommer 1837 Professor am Wittenberger Predigerseminar gewesen war und anschließend den Ruf nach Heidelberg angenommen hatte, entstammte selbst dem erwecklichen Milieu. Er hatte während seiner Berliner Zeit die Versammlungen im Hause des Barons von Kottwitz besucht, war in ähnlicher Weise wie Hengstenberg fasziniert von Neander und zählte den gleichaltrigen Tholuck zu seinen Freunden.44 Was Rothe in seinem Buch schrieb, lief nun aber andererseits Hengstenbergs Bemühungen, die erwecklichen Errungenschaften in die kirchliche Gemeinschaft zu überführen, diame­ tral entgegen. Bekanntlich sah Rothe den Entwicklungsgang der Geschichte gerade nicht auf eine Wiederbelebung und Stärkung der kirchlichen Institution, sondern vielmehr auf die Auflösung der Kirche in den christlich durchdrungenen Kulturstaat hinauslaufen.45 Darin nahm Hengstenberg die Parallele zu Strauß wahr: Wie Strauß’ Leben Jesu das Christentum auflöse, so löse Rothes Buch die Kirche auf. Gleichwohl war Hengstenberg weit davon entfernt, Rothe „persönlich mit Strauß auf eine Linie zu stellen“46 . Trotz der harten Kritik, die er an Rothes Darstellung übte, fühle er sich ihm doch, wie er wiederholt betont, „bei allem Schmerze über seine Verirrung, die wir für eine sehr große halten, [...] doch fortwährend innerlich verbunden“ (Sp.  6). Bei allem Gegensatz überwiege das Verbindende (Sp.  23.43), worunter zweifellos die gemeinsame Glaubenserfahrung zu verstehen ist. Die Konstellation stellt sich insofern ähnlich dar wie in dem Disput mit Neander. Für Hengstenberg dürfte maßgeblich gewesen sein, was Schmieder, der nachmalige Direktor des Wittenberger Predigerseminars, zur Verteidigung Rothes vorbrachte: „Rothe liebt den Herrn.“47 Die Bedeutung von Hengstenbergs Rothekritik liegt im vorliegenden Zusammenhang nun darin, daß der Herausgeber der EKZ erstmals ausführlich über sein Verständnis der Sichtbarkeit der Kirche Auskunft gibt. Dabei geht er 44

99.

  Vgl. zu Rothes Vita Hausrath, Rothe; Graf, BBKL 8; kurz: Albrecht, Rothe, 94–

45   Vgl. zu den die These von der Umbildung der Kirche in den Staat präzisierenden Details die kurze Darstellung bei Albrecht, Rothe, 102–104; daneben Hirsch, Geschichte 5, 166–170. 46   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  6 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 47   Schmieder an Hengstenberg, Pforta 25. Apr. 1838: Bachmann / Schmalenbach 3, 51: „Rothe liebt den Herrn und kann selbst die Liebe und Verehrung gegen die Kirche, deren Vernichtung er predigt, nicht los werden. Er hat in Wittenberg harte Schulzianer, die von Breslau [sc. von David Schulz] kamen, zu ernsten Christen umgewandelt.“

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

311

von der Beobachtung aus, daß sich die Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche nicht nur bei unchristlichen Zeitgenossen, sondern gerade auch bei den „christlich Angeregten“ (Sp.  2 ), also bei Anhängern der Erweckungsbewegung, finde. Der Grund liege darin, daß die meisten von ihnen nicht – wie es sein sollte – „durch die Kirche zu Christo“ kommen, sondern „auf eigene Hand“, und ihnen die kirchlichen Einflüsse, „die sie erfahren – denn ganz ohne solche ist ein Kommen zu Christo nicht denkbar“ (ebd.) – nicht bewußt werden. „Sie müssen die Mutter erst lieben lernen“ (ebd.). Verstärkt werde die Unkirchlichkeit zudem durch den herrschenden Subjektivismus: daß ein jeder meine, „er müsse damit anfangen, sich seinen eigenen Lehrbegriff zu bilden“ und dabei ganz vergesse, „daß die Schrift schon achtzehn Jahrhunderte in der Welt ist“ (Sp.  3). Darüber hinaus werde die „Selbständigkeit der religiösen Sphäre“ (Sp.  4) zugunsten einer unverbindlichen Alltagsfrömmigkeit aufgelöst.48 Man könne es nicht ertragen, „daß noch andere Interessen neben den materiellen und politischen auf Geltung An­spruch machen“ (Sp.  2 ). Hengstenberg versteht Rothes Theorie somit als eine auf dem Nährboden der Er­weckungsbewegung hervorgewachsene Antwort auf die zunehmende Entkirchlichung; sie stehe in einer Linie mit anderen Theorien, die eine ähnliche Stoßrichtung verfolgten, unter anderem mit derjenigen Hegels. Am wirkmächtigsten würden diese Theorien aber dadurch gefördert, daß gegenwärtig eine bestimmte Sicht von der „unsichtbaren“ Kirche kursiere, die man „nur durch einen höchst seltsamen Irrthum für die der Evangelischen Kirche halten kann“ (Sp.  5), ursprünglich aber nicht dieser, sondern den „Anabaptisten“ angehörte und sich erst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Kirche verbreitet hätte (ebd.). Rothe beanspruche hingegen, daß die moderne Auffassung von der Unsichtbarkeit der Kirche die reformatorische sei, weshalb er die evangelische Lehre von der Kirche – zu Unrecht – attackiere (Sp.  36 f.). Wie aber sieht nun die kirchlich-traditionelle Lehre von der „Unsichtbarkeit“ der Kirche aus? Bei den ‚kirchlichen‘ Theologen49 nehme „die Unsichtbarkeit nur in der Polemik gegen die Römische Kirche eine bedeutende, sonst eine sehr untergeordnete Stelle ein“ (Sp.  37). Während sich die moderne Lehre von der Unsichtbarkeit der Kirche schlechthin gegen ihre Sichtbarkeit richte, wende 48   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  4: „Die Andacht ist geschwunden; Menschen des Gebetes werden immer seltener. Man gefällt sich in frommen Gefühlen, aber diese müssen bei Gelegenheit kommen, während der Arbeit oder inmitten der Vergnügungen.“ 49   Als Zeugen der ‚wahren kirchlichen Lehre‘ werden Chemnitz, Quenstedt und J. Gerhard genannt; darüber hinaus wird auf die Väterzeugnisse bei Gerhard verwiesen, an denen sich die Übereinstimmung der lutherischen Lehre mit den Kirchenvätern Cyprian, Augustin, Hieronymus und Gregor d. Gr. zeige (ebd., Sp.  37); für die Reformierten werden Beza und reformierte Bekenntnisschriften herangezogen (Sp.  38 f.). Außerdem greift Hengstenberg auf die Reformatoren, auf Luther, vor allem aber auf Calvin und Melanchthon, zurück (ebd., Sp.  41–43).

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3  Hengstenberg und die Kirche

sich die Auffassung jener nur „gegen eine einzelne Art der Sichtbarkeit, eine handgreifliche. Sie stellen die Behauptung der Unsichtbarkeit der Kirche der gegnerischen Behauptung entgegen: die Kirche sey eine eben so sichtbare und handgreifliche Gesellschaft, wie das Römische Volk oder die Republik von Venedig“ (Sp.  38). Während die moderne Ansicht zwei Kirchen, die sichtbare und unsichtbare nebeneinanderstelle, kenne die ‚kirchliche‘ Lehre „nur eine Kirche, welche in gewissem Sinne sichtbar, in gewissem Sinne unsichtbar ist, so daß die unsichtbare Kirche nichts Anderes ist, als die Kirche, sofern sie unsichtbar, die Kirche nach ihrer unsichtbaren Seite.“ (ebd.) Sicht­bar ist sie „in Bezug auf die äußere Gesellschaft, die äußeren Mittel, wodurch sie gesammelt wird, die äußere Religionsausübung, das Glaubensbekenntnis, den Gebrauch der Sakramente, die Kirchenzucht; unsichtbar in Hinsicht des Glaubens und der inneren Gaben des Geistes in den Wiedergeborenen.“ (ebd.) Die Kirche sei also nicht schlechterdings ver­borgen, sondern habe eindeutige Zeichen, an denen man sie erkennen könne. Der Sache nach gehe es der kirchlichen Lehre darum, „daß die Erscheinung der Kirche ihrem Wesen nicht ganz entspreche, wenn gleich dasselbe in ihr enthalten sey und zur Äußerung komme.“ (Sp.  39; vgl. Sp.  41). Darum aber könne diese Lehre – entgegen der Absicht Rothes – nie aufgegeben werden. Nur die Akzente müßten verschoben werden: „So wie aber die Reformatoren im Gegensatze gegen eine falsche Sichtbarkeit die Unsichtbarkeit hervorhoben, so ist es die Aufgabe unserer Zeit im Gegensatze gegen eine falsche Unsichtbarkeit, welche die Kirche mit völliger Auflösung bedroht, [...] die Sichtbarkeit geltend zu machen.“ (Sp.  41)

Diese Aussage faßt kurz und bündig die Perspektivveränderung zusammen, die sich bei Hengstenberg um 1830 vollzogen hatte. In seinen frühen Äußerungen übernahm er unre­flektiert die unter den Erweckten verbreitete Sicht und betonte die innere, unsichtbare Kirche. Seit 1830 richtete sich sein Blick auf die sichtbare Gestalt der Kirche, ohne daß er dadurch die Lehre von der Unsichtbarkeit der Kirche verworfen hätte.50 Die Begründung dafür ist ebenfalls der Auseinandersetzung mit Rothe zu entnehmen: Mit Rothe war Hengstenberg nämlich der Meinung, „daß das innere Leben des Individuums, der Gemeinschaft, nothwendig sich äußern muß, daß man von den Äußerungen auf das Innere schließen kann. Ein rein innerliches Leben ist im besten Falle Krankheit, 50   Die gelegentlich hingeworfene Behauptung, Hengstenberg „kannte in seiner Ekklesiologie keine Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche“ (Gabriel, Fortschritt, 162), entbehrt jeder Grundlage. Vgl. auch Hengstenberg, Vorwort 34 (1844), Sp.  12: „Die Evangelische Kirche hebt den Unterschied zwischen der sichtbaren Kirche und der unsichtbaren stark hervor.“ Wer ihr wirklicher Diener sei, beurteile sie nicht nach der äußerlichen Stellung, sondern „sie legt vorher einen geistigeren Maßstab an sie an, den der Übereinstimmung mit dem Wesentlichen ihres Bekenntnisses“; ebs. Ders., Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  500 f. Zutreffend, aber zu ungenau ist die Beobachtung von Fagerberg, Bekenntnis, 40, Hengstenbergs Kirchenbegriff zeige „eine sukzessive Verschiebung des Schwerpunktes von der unsichtbaren zur sichtbaren Kirche.“

3.1  Von der Erweckungsbewegung zur Kirche

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unvollkommene Entwickelung, in der Regel bloßer Schein.“ (Sp.  14) Darum habe Jesus beispielsweise die Bruderliebe ein sichtbares Kennzeichen der inneren Gemeinschaft genannt. Rothe gehe nun aber zu weit, indem er als Zeichen für die innere Einheit, „handgreifliche Einheit, grobe Äußerlichkeit“ (ebd.) verlange. „Daß die absolute Geisteseinheit auch eine vollendete äußere Organisation erfordere“ (ebd.), sei aber ein Irrtum, im Gegenteil: „Es ist eine schlechte, unkräftige Einheit, die sich nur als Einerleiheit zu behaupten vermag, die die Mannichfaltigkeit ausschließt, die Alles unter einen Hut bringen, Alles zusammenleimen, alles zusammenketten will.“ (Sp.  14 f.) Damit tritt nun aber hervor, wie sich Hengstenberg das Verhältnis von Innerem und Äußerem, Einheit und Verschiedenheit vorstellte: Die Kirche als religiöse und damit zwangs­läufig auch sittliche Gemeinschaft bildet automatisch aus sich heraus eine ihrem Wesen entsprechende äußere Form: „Die Kirche kann nicht bloß, sie soll sich aus Allem einen Leib bereiten, außer der Sünde; sie soll, wie ihr Herr und Meister, Fleisch und Blut annehmen, sie soll nirgends über den menschlich irdischen Verhältnissen schweben, sondern überall in sie eindringen. Sie soll alle Individualitäten in sich aufnehmen, soll sie eben so wenig außer sich lassen als vernichten, sondern sie heiligen, soll nur in Bezug auf das Wesen nach Einheit streben, in Bezug auf die Form sich der Mannichfaltigkeit freuen.“ (Sp.  30).

Die Pointe dieser an Neander erinnernden Formulierungen liegt darin, daß Hengstenberg die äußere Verschiedenheit der Kirchen nicht nur als legitim, sondern als einzig mögliche Form ansieht. Die Einheit ist darum gleichwohl nicht unsichtbar, sie wird erkennbar in der Lehre: „Wäre erst die Einheit in den Hauptpunkten der Lehre wiederhergestellt, so wäre das Nebeneinanderbestehen der Griechischen, Katholischen, Evangelischen Kirche nicht als Übelstand, es wäre vielmehr als der vollkommenere Zustand zu betrachten. Wenn wir bei Geistlichen der Griechischen Kirche Rußlands wahre christliche Frömmigkeit sehen, so wird es uns nicht freuen, sondern leid thun, wenn dieselbe wenig von der Eigenthümlichkeit ihrer Kirche, dagegen viel von der unsrigen hat. Wer wollte wohl in dem individuellen Charakter, den die Evangelische Kirche in einzelnen Ländern, z. B. in Württemberg, angenommen hat, eine Lösung der Einheit der Evangelischen Kirche erblicken? Wer freut sich nicht, wenn er in der Englischen, der Nordamerikanischen Kirche die wiedergeborene Englische und Amerikanische Eigenthümlichkeit wahrnimmt?“ (Sp.  30 f.).

Die Einheit der Kirche wird also nicht durch äußerliche, handgreifliche Vereinigung erreicht, sondern dadurch, daß jede Kirche in ihrer Individualität von innen heraus gereinigt und zu immer größerer Erkenntnis der Wahrheit gebracht wird; ein Prozeß, den Hengstenberg in England bereits auf gutem Wege sieht: „Wer wird behaupten wollen, daß zur Vollendung der äußeren Einheit, welche sich jetzt zwischen den verschiedenen protestantischen Religionspartheien in England durch die gemeinschaftliche Theilnahme an Bibel-, Missions- und anderen Gesellschaften zu er-

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3  Hengstenberg und die Kirche

kennen gibt, notwendig gehöre, daß die Christen der verschiedenen ‚Benennungen‘ [als Übersetzung von ‚denominations‘] sich zu einer einzigen vereinigen? Wer wird nicht vielmehr erkennen, daß was noch an der Vollendung fehlt auf dem Gebiete des Geistes gesucht werden muß? daß eine äußere Verschmelzung nur unter Umständen der Schwachheit wegen wünschenswerth seyn kann?“ (ebd., 15).

Und in einer Nebenbemerkung findet sich ein höchst aufschlußreiches Urteil über die Union: „Ist nicht die Rücksicht auf die Schwachheit, die in dem Zustande der Vollendung ganz wegfällt, das Einzige, was der Union der Lutheraner und Reformirten [scil. als äußere Verschmelzung] einen Werth verleiht? Wäre nicht, davon abgesehen, ein äußeres Nebeneinanderbestehen beider Kirchen mit freier Liebesäußerung das Bessere, Vollendetere?“ (ebd.).

Sichtbar wird die eine Kirche Jesu Christi also nicht aufgrund ihrer äußeren Gestalt, sondern aufgrund von äußeren Merkmalen, zu denen vor allem die Reinheit der Lehre gehört. So sind beispielsweise auch Anhänger der wahren Lehre in der römischen Kirche nicht nur als Glieder der unsichtbaren Kirche, sondern als eigene „Abtheilung der wahren sichtbaren Kirche“ (Sp.  40) zu betrachten. Das bedeutet: Die sichtbare Kirche ist die Gemeinschaft aller Kirchen, von denen jede auf ihre Weise dem einen Ideal der wahren Kirche nachstrebt, und je näher eine Kirche ihrem eigentlichen Wesen kommt, desto größer ist die Einheit der wahren Kirche. Aus diesen ersten ausführlicheren Überlegungen zur Kirchenthematik ergeben sich wichtige Folgerungen für Hengstenbergs kirchliches Agieren: Heng­ stenbergs Sicht von der Kirche macht es ihm unmöglich, wie Rothe in der zunehmenden Entkirchlichung eine dem Wesen der Kirche entsprechende Erscheinung zu sehen. Im Gegenteil: Für ihn ist der religiöse Auf bruch ein Zeichen dafür, daß die Erneuerung der Kirche aus ihren ursprünglichen Quellen und die Rückkehr zur schriftgemäßen Lehre der natürliche Gang der Dinge ist. Das Eintreten für die wahre Lehre innerhalb der eigenen Kirche ist für ihn gleichzeitig der Weg zur größeren Einheit der einen Kirche. Insofern werden auch ähnliche Auf brüche in anderen Kirchen – wie beispielsweise die Erweckungsbewegungen in der Anglikanischen und in der römisch-katholischen Kirche – ausdrücklich begrüßt. Daran wird deutlich: Hengstenberg hat das Erbe der Erweckungsbewegung auch nach 1830 nicht abgeschüttelt, vielmehr verband er es mit einem spezifischen Modell der Sicht­barkeit der Kirche, für das er sich auf die reformatorische Theologie berief, das aber auch in auffälliger Nähe zur Tropuslehre der von ihm hoch geschätzten Herrnhuter steht.51 Die Einheit der Kirche wird 51   Vgl. dazu Schneider, TRE 36, 695; Meyer, Zinzendorf, 46.65 f. Insofern hätte Gerlach mit seiner Vermutung, daß sich in Hengstenbergs Kirchenbegriff auf klärerisches Erbe versteckt, recht; Zinzendorfs Tropus­modell knüpfte nämlich an früh­auf klärerische Kirchenkonzepte (z. B. Ch.M. Pfaff ) an.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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demnach sichtbar in der Einheit der Lehre, die prinzipiell am Bekenntnis und faktisch an dem, was tatsächlich von Kanzel und Katheder aus gelehrt wird, ablesbar ist. Fragen nach der Kirchenverfassung und der äußeren Kirchengemeinschaft sind für Hengstenberg so lange von untergeordneter Bedeutung, als sie der in diesem Sinne wesensgemäßen Entwicklung der Kirche nicht im Wege stehen.52

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis Das 19. Jahrhundert beschäftigte sich in bisher nie dagewesener Weise mit dem Thema Kirche. Dabei treten zwei Themenkomplexe heraus, die beide schon in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts ihren Ursprung haben: Zum einen stand die Gestalt der Kirche, ihre innere Ordnung und ihr Verhältnis zum Staat, zur Diskussion; zum anderen trat die Union zwischen Reformierten und Lutheranern in den Vordergrund des Interesses. In Preußen wurden die Fragen der Kirchenreform und -verfassung schon in der Zeit nach den Befreiungskriegen erstmals in Angriff genommen,53 in dieselbe Zeit fiel der Unionsaufruf Friedrich Wilhelms III. Doch obwohl beide Themen virulent waren und durch die – wenn auch teilweise unklare – Verbindung der Union mit der Agendenangelegenheit zunehmend an Brisanz gewannen, standen sie, wie bereits erwähnt, zunächst nicht auf Hengstenbergs Agenda. Besonders in der Frage der Union hielt er sich lange zurück, und als er schließlich mit seiner Ansicht hervortrat, war diese längst nicht so eindeutig wie in anderen Bereichen. Weder die Unionsproblematik noch die Kirchenverfassungsfrage waren für Hengstenberg Glaubensfragen. Seine Stellung zu den beiden Themenkomplexen orientierte sich an dem, was er für grundlegender hielt: an der Verstetigung und Ausbreitung des neu erwachten religiösen Lebens. Dies gilt es im Folgenden zu belegen. Dabei wird zunächst, an den vorigen Abschnitt anknüpfend, auf Hengstenbergs Stellung zur Union eingegangen. Allerdings genügt es dazu nicht, Hengstenbergs Äußerungen zur Union in Preußen zu besprechen. Vielmehr ist bei der grundsätzlicheren Frage anzusetzen, wie Hengstenberg das Verhältnis zwischen Luthera52   Die rechte Predigt steht also über der rechten Kirchenverfassung, vgl. dazu die Charakterisierung der Er­weckungsbewegung im Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  19: „die neuere Wiederbelebung auf dem Gebiete der Evangelischen Kirche bewährte dadurch ihren ächt evangelisch reformatorischen Charakter, daß sie, wie es bei der Reformation gewesen war, überall das Innerliche zu ihrem Ausgangspunkt nahm. Seelen zu bekehren durch die Predigt der Buße und des Glaubens, lebendige Steine zu bereiten für den Tempel des Herrn, und dessen Bau lieber der Zukunft überlassen, als ihn mit schlechtem Material zu beginnen, das ist der Grundsatz fast aller derjenigen, die an der Spitze der religiösen Bewegung stehen, wenn sie auch mit tiefem Schmerze die Babylonische Gefangenschaft der Kirche betrachten.“ 53   Vgl. Goeters, Reformdiskussion.

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3  Hengstenberg und die Kirche

nern und Reformierten generell bestimmte (3.2.1). In einem nächsten Schritt ist dann in Fortführung des im zweiten Teil (2.1) Dargelegten nach der Funktion des Bekenntnisses im Denken Hengstenbergs zu fragen (3.2.2). Erst anschließend kommt seine Sicht der preußischen Union zur Sprache (3.3), bevor abschließend ein sehr viel kürzerer Blick auf über die Union hinausgreifende Formen von Kirchengemeinschaft geworfen wird (3.4).

3.2.1  Der lutherisch-reformierte Gegensatz Hengstenberg war in Westfalen in einer traditionell reformierten Gemeinde aufgewachsen. Als die Union in Preußen eingeführt wurde, war er 15 Jahre alt. Von der Union war auch die neue Bonner theologische Fakultät geprägt, an der er studierte. Sie entwickelte sich schon bald zu einem Zentrum der Vermittlungstheologie.54 In Berlin wurde schließlich der Einfluß der erwecklichen Kreise prägend für Hengstenberg. Die konfessionelle Zugehörigkeit ihrer Repräsentanten spielte für ihn dabei keine Rolle, zumal die Erweckten selbst keinen Wert darauf legten. Allerdings neigten die Erweckten in den östlichen Provinzen seit jeher eher dem Luthertum zu. So gab sich auch Hofprediger Strauß, dessen Gottesdienste Hengstenberg regelmäßig besuchte, in seinen Predigten deutlich als Lutheraner zu erkennen.55 Anfänglich unterhielt Hengstenberg auch Kontakte zu Bischof Eylert, dem mit seinem Vater befreundeten Architekten der Union. Doch scheint die Beziehung für seine theologische Entwicklung keine Rolle gespielt zu haben. Auch hinderte sie ihn nicht, sich dem Bischof gegenüber kritisch über die Agende zu äußern.56 Das kritische Urteil über die liturgische Neuschöpfung des Königs teilte Heng­sten­berg denn auch mit seinem Vater und anderen Kritikern aus der heimischen Grafschaft Mark.57 Alles spricht dafür, daß Hengstenberg die Union als eine gegebene Tatsache annahm und er zunächst keinerlei Anlaß sah, sich damit theologisch zu beschäftigen. So spielte auch bei der Herausgabe der Kirchenzeitung der Unterschied zwischen reformiert und lutherisch keine Rolle. 1829 trat Hengstenberg mit Wilhelm Steiger ein bekennender Reformierter als Redaktionsassistent zur Sei-

54   S. Bezold, Geschichte, 181–188; Ritschl, Fakultät, 4–6; die Repräsentanten der Vermittlungstheologie waren in Bonn zunächst F. Lücke, K.H. Sack und C.I. Nitzsch. 55   vgl. Roseeu, Hof, 250–262.280 f.; als die Mitglieder des Oberkirchenrates 1852 ihre Konfessionszugehörigkeit angeben mußten, bezeichnete sich Strauß als Lutheraner (s. Nachtigall, Kirchenunion, 413–415). 56   S. Hengstenberg an den Vater, Berlin 13. Jan. 1825: Bachmann 1, 222. 57   Vgl. ebd. – Vgl. zu der Aufnahme der Agende in Westfalen und der besonderen Situation in der Grafschaft Mark Kampmann, Agende, bes. 208–215.225–232.266–306.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

317

te.58 Auf der anderen Seite gehörte zu dieser Zeit aber auch Scheibel zum Autorenkreis; 59 noch 1832 nannte Hengstenberg den Breslauer Lutheraner öffentlich seinen „theuren und verehrten Freund[...]“60. Das im großen und ganzen unbefangene Verhältnis Hengstenbergs zur Union wurde erst problematisch, als sich die schlesischen Lutheraner gegen die Union in Stellung brachten. Viele von ihnen – allen voran Scheibel selbst – kamen aus der Erweckungsbewegung.61 Hengstenberg fühlte sich ihnen daher verbunden. Bisher war er selbstverständlich von der Vereinbarkeit des lutherischen und reformierten Bekenntnisses ausgegangen, darum fiel es ihm nun schwer, einen klaren Standpunkt zu gewinnen. So schwieg er zunächst zu den Vorgängen und ließ es zu, daß Lutheraner aus Schlesien und Reformierte, vornehmlich aus den Westprovinzen, in der EKZ aufeinanderprallten. Schließlich rief er dazu auf, die Frage nach dem Verhältnis der beiden protestantischen Konfessionen in der Zeitung zum Thema zu machen. Er bat um Antwort auf die Fragen, „ob wirkliche Reformierte und Lutheraner sich vereinigen können. Was ist zur Einheit nötig? Was sind Fundamentalartikel?“62 – offensichtlich Fragen, die ihn selbst umtrieben. Von Anfang an als abstoßend empfand er hingegen die separatistischen Neigungen der Schlesier. Von seinem Kirchenverständnis aus erschien es ihm völlig unsinnig, die ganze Kirche „auf einen Winkel Schlesiens“ einzuengen.63 Durch seine abwartende und unentschlossene Haltung wurde Hengstenbergs EKZ schließlich selbst zur Zielscheibe der schlesischen Lutheraner, die dem Blatt reformierte Parteilichkeit unterstellten. Erst jetzt sah sich Hengstenberg gezwungen, seine konfessionelle Haltung offenzulegen. Im Vorwort von 1835 brachte er seine Stellung in charakteristischer Weise zum Ausdruck: „[...] was den Herausgeber betrifft, so ist er zwar ‚reformirt getauft‘, aber er hat sich vom Anfange der Entwickelung seines christlichen Bewußtseyns an durchaus der Individualität der früheren Lutherischen Kirche angeschlossen“64. Gerade die Union habe ihm diese „Freiheit der Entfaltung“ (Sp.  9 ) gegeben. Gleichwohl bekennt er sich, wie bereits oben (2.4.2) erwähnt, zu Calvin als seinem theologischen Ziehvater: „Obgleich er [scil. der Herausgeber] Calvin als Theologen 58   Vgl. zu Steiger oben 2.2.1 EXKURS. – Auch Otto von Gerlach zeigte deutlich reformierte Tendenzen (vgl. Ernst, Auferstehungsmorgen, 77 f.). 59   S. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 4; vgl. Klän, Zehn Briefe, 90 f.95. 60   Hengstenberg, Erklärung, EKZ 10 (1832), Sp.  352; vgl. auch Klän, Zehn Briefe, 98. 61   Scheibels Wurzeln in der Erweckungsbewegung werden besonders betont von Maser, Kottwitz, 197–207 gg. Kiunke, Scheibel, 138–166, der den schlesischen Lutheraner von der Erweckungsbewegung abzuheben versucht; vgl. auch Klän, Zehn Briefe, 78 f.100. 62   Hengstenberg, Anmerkung zu einem Aufsatz von E. Huschke, EKZ 13 (1833), Sp.  529 f. 63   Ebd. – diese Einschätzung hat Hengstenberg auch später immer wieder betont, z. B. im Vorwort, EKZ (64) 1859, Sp.  36. 64   Hengstenberg, Vorwort 16 (1835), Sp.  9 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext.

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3  Hengstenberg und die Kirche

sehr viel verdankt, und nie undankbar gegen ihn werden wird, ihn als solchen höher stellen muß als Luther, so ist der Letztere ihm doch als Reformator unendlich lieber.“ (ebd.).65 Die Vorliebe für die lutherische Kirche beziehe sich daher auch weniger auf das Dogma,66 als vielmehr auf den Frömmigkeitsstil: den Gottesdienst, die geistliche Poesie, die erbauliche Literatur. Durch das „Vorwiegen nüchterner Verständigkeit“ habe es die reformierte Kirche in diesem Bereich nicht so weit gebracht: „Ein Paul Gerhardt, ein Arndt konnten aus der Reformirten Kirche nicht hervorgehen“ – zumindest in der Zeit, als die Individualität des Einzelnen noch ganz durch die Eigenart der Kirche bedingt wurde (ebd.). Das Abendmahl in seinen unterschiedlichen Deutungen hält Heng­ stenberg demgegenüber nicht „für den Kern des Christenthums“ (Sp.  10). Daher könne er auch „Gemeinschaft des Glaubens“ mit den reformierten Brüdern in Holland pflegen (ebd.). Das Abendmahl sei nun von den „Lutheranern“67 in Schlesien zum Kern der Opposition gegen die Union gemacht worden.68 Dafür könnten sie sich aber nicht auf Luther berufen, so Hengstenberg. Denn Luthers harten Äußerungen über seine Gegner im Abendmahlsstreit stünden doch ein milderes Urteil und Vorgehen, namentlich zur Zeit der Wittenberger Konkordie, entgegen. Das wichtigste Zeugnis sei aber Luthers Umgang mit Melanchthon. Wäre Luther der Meinung gewesen, „daß die Differenz in der Lehre vom Abendmahle die kirchliche Gemeinschaft auf höbe, wie hätte er dann nicht darauf dringen müssen, daß Melanchthon aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen würde? wie wäre es möglich gewesen, daß er ihn noch immer als seinen Mitarbeiter am Werke des Herrn anerkannt, ihm die wichtigsten Sachen übertragen hätte? Daß Melanchthon in Bezug auf das heilige Abendmahl mit Calvin eines Sinnes war, ist nicht bloß von Reformirten, sondern auch von Lutherischen Theologen über allen Zweifel erhoben worden. [...] Eben so gewiß ist es, daß Luther um diese Abweichung gewußt.“ (Sp.  23)

So habe Luther auch kurz vor seinem Tod die Heftigkeit bereut, mit der er in der Sakramentssache zu Werke gegangen sei. Hengstenberg beruft sich dabei auf die letzte Unterredung Luthers mit Melanchthon, eine Episode, die von Anhängern Luthers als „Heidelberger Landlüge“ bezeichnet und unter diesem Titel bekannt wurde.69 Doch letztlich hält Hengstenberg Luthers Vorbild nicht 65

  Gleichzeitig verteidigt Hengstenberg Calvin gegen die Angriffe der schlesischen Lutheraner, ebd., Sp.  12 f. 66   Vgl. aber ebd., Sp.  9 : „obgleich er auch hierin [sc. im Dogma] mit ihr vollkommen übereinstimmt, was nämlich die Thesis, nicht was die Antithesis betrifft“. 67   Hengstenberg verwendet die Bezeichnung Lutheraner für die Schlesier in der Regel nur mit Anführungsstrichen, z. B. ebd., Sp.  22. 68   Calvins Lehre von der Gnadenwahl sei erst später als Thema hinzugekommen; zu jener habe sich allerdings im Grundsätzlichen auch Luther bekannt (ebd., Sp.  22). 69   Auf ihre Authentizität muß hier nicht eingangen werden. Sie wird in einer – freilich kirchenpolitisch motivierten – umfangreichen Studie von Th. Diestelmann (Ders., Unterredung, bes. 349–361) bejaht; dessen Urenkel J. Diestelmann hat sich aber jüngst wieder auf Mörlins Seite gestellt, der sie bestreitet, vgl. Diestelmann, Usus, 123–129.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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für entscheidend, zumal sich die lutherische Kirche auch in anderen Fragen, wie zum Beispiel in der Behandlung der Prädestinationslehre, von Luther entfernt habe. Man könne Luthers Lehre vom Abendmahl auch für richtig halten, ohne seinem „Hasse gegen die Andersdenkenden“ zu folgen. Der inneren Begründung der Union, „der Anerkennung, daß die Einheit die Differenz so weit überwiegt, daß die letztere die kirchliche Gemeinschaft nicht ausschließt“ (Sp.  24), stehe darum nichts entgegen. Was die Abendmahlslehre selbst angeht, so geht Hengstenberg davon aus, daß beide Konfessionen darin übereinstimmen, „daß im Abendmahle der Leib und das Blut des Herrn wahrhaftig dargereicht wird; sie gehen auseinander nur in Bezug auf die Art und Weise der Darreichung; die Reformierte Kirche behauptet, sie geschehe mit, die Lutherische sie geschehe in, mit und unter dem Brodt und Wein“ (Sp.  24).70 Unter reformierter Abendmahlslehre versteht Hengstenberg dabei ausschließlich die Sicht Calvins und diese in einer sehr milden Fassung. Hinsichtlich der Schriftgemäßheit der Abendmahlslehre bekennt er, „daß die Lutherische Lehre im Gegensatze gegen die Calvinische die richtige ist“, doch sei sie keine biblische Zentrallehre, sonst hätte sie viel deutlicher ausgesprochen werden müssen: „bei keiner einzigen der Hauptlehren hat die göttliche Weisheit und Liebe uns so sparsam bedacht“ (Sp.  25).71 Darum aber gehöre die Differenz in der Abendmahlsfrage auch nicht in den Bereich des einfachen Glaubens, sondern in den der Theologie.72 Ein „übermäßiges Urgieren der Unterscheidungslehren der Lutherischen Kirche“ sei darum abzulehnen (Sp.  26). In Hengstenbergs erster ausführlicher Stellungnahme finden sich zentrale Punkte, die später immer wieder auftauchen werden, allen voran die Auffassung, daß dem Unterschied zwischen reformierter und lutherischer Lehre keine kirchentrennende Bedeutung zukomme. Grundlegend dafür ist die Unterscheidung von fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren. Nur in letzteren bestünden Unterschiede, damit stehe aber einer Kirchengemeinschaft nichts im 70

  Ebs. Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  655 f.   1844 baut Hengstenberg den Gedanken aus (Vorwort, EKZ 34 [1844]): Die Bedeutung des Streitpunktes lasse sich an seiner Behandlung in der Schrift ablesen. Dort nehme er keine zentrale Stellung ein, denn „man müßte an dem heiligen Geiste, und der von ihm eingegebenen Schrift irre werden, wenn dieselbe uns über eine fundamentale Lehre nicht vollkommen genügende Aufschlüsse gewährte“ (ebd., Sp.  35). Lasse aber „das Wort Gottes keine völlig klare und bestimmte Entscheidung über den Differenzpunkt“ zu, dann stehe „zugleich nach der Lehre der Evangelischen Kirche fest, daß derselbe keine fundamentale Bedeutung haben, daß er keine Scheidewand zwischen den im Übrigen einigen Kirchen abgeben kann.“ (ebd., Sp.  34). 72   Die Frage gehört mithin nicht in den Bereich der sogenannten Katechismuswahrheiten, bei denen Hengstenberg die Über­einstimmung von Theologie und Glaube voraussetzt (vgl. oben 2.1.1). Später präzisiert Hengstenberg die Aussage dahingehend, die Differenz in der Abendmahlslehre liege „vorwiegend auf dem Gebiete der Theologie, nicht des Glaubens“ (Ders., Schulz, EKZ 25 [1839], Sp.  656). 71

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3  Hengstenberg und die Kirche

Wege. Hengstenberg stand, was die Verhältnisbestimmung der beiden Konfessionen angeht, in genau derjenigen Denktradition, die schließlich 1817 zur Union geführt hatte.73 Seine Sicht deckte sich ganz mit dem, was man von seiner Biographie her erwarten durfte. So betonte er denn auch bald weniger seine reformierte Taufe als seine weitere Prägung durch die unierte Kirche: „Die Wahrheit ist, der Herausgeber hat der Reformirten Kirche nie als selbständiges Glied angehört. Er ist in einer unirten Gemeinde, von einem unirten Prediger confirmirt worden. Innerhalb der unirten Kirchengemeinschaft hat er sich nach der in ihr, falls nicht specielle Verhältnisse in Betracht kommen, bestehenden Freiheit, vorwiegend der Eigenthümlichkeit der Lutherischen Confession angeschlossen, jedoch mit dankbarer Aneignung der Vortheile, welche die Reformierte Confession darbietet, namentlich auf dem Gebiete der Theologie, auf dem er Niemand mehr verdankt, als Calvin.“74

Innerhalb der Union verstand sich Hengstenberg demnach als Lutheraner. Insbesondere die lutherische Frömmigkeit, aber auch das Verständnis der lutherischen Abendmahlslehre schätzte er mehr als die reformierte Tradition, der er andererseits im Bereich der Schriftauslegung viel verdankte. Daher erklärt sich, warum Hengstenberg die Eigenart der jeweiligen Konfessionen bewahrt wissen will. Die Verschiedenheit der Konfessionen ist ihm, wie bereits dargelegt, kein Hindernis für die Einheit. Die Einheit im Wesen wird nicht in einer künstlichen Vereinigung, sondern nur in den bestehenden, unterschiedlichen Formen immer reiner zur Geltung gebracht. Jede Konfession bringt sich mit ihrer Eigenart in die eine Kirche Jesu Christi ein. Beide Perspektiven – Einheit im Fundamentalen und Bewahrung der Eigenarten, insbesondere der lutherischen – markieren Hengstenbergs Position: Er ist Anhänger einer Konfession, aber alles andere als ein Konfessionalist – zumal am ‚Konfessio­nalismus‘ des 17. Jahrhunderts gemessen. Er ist Anhänger der Union, doch alles andere als ein Unionsfanatiker. Darauf ist später zurückzukommen. Entsprechend seiner eigenen Position verortete Hengstenberg schließlich auch die Kirchenzeitung. 1839 stellte er rückblickend klar, daß schon der Titel der EKZ und ihre erste Ankündigung, die Überzeugung ausgesprochen hätten, „daß über dem Gegensatze der beiden Evangelischen Kirchen eine höhre Einheit waltet“75. Sie verstehe sich „als ein Organ der Evangelischen, die Luthe-

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  Vgl. Wappler, Unionsurkunde, 31–63.   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  670 – D. Schulz aus Breslau hatte Hengstenberg einen Konfessionswechsel unterstellt. – Hengstenberg war am Tag vor seinem Eintritt in die Universität, am 3. Okt. 1819, von seinem Vater konfirmiert worden (Schmieder, Hengstenberg, 749). Sein Vater war allerdings uniert nur in dem Sinne, daß er Pfarrer einer unierten Kirche war. Abgesehen davon fühlte er sich der reformierten Seite zugehörig; 1817 nahm er an der reformierten Provinzialsynode der Grafschaft Mark teil (vgl. Kampmann, Agende, 109). 75   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  650 f. 74

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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rische und die Reformirte Confession unter sich befassenden Kirche“76 und bekenne sich „zur geistlichen Union, welche die Grundlage der äußeren bildet, und die von Niemanden anerkannt werden kann, ohne daß er damit zugleich im Wesentlichen die Billigung der äußeren Union ausspreche.“77 Unausgesprochen gilt aber auch das Umgekehrte: Wo es keine geistliche Union gibt, kann es auch keine äußere geben. Hengstenbergs Position blieb im Grundlegenden auch nach Auf brechen der konfessionellen Frage in den 40er Jahren unverändert. Doch treten einige Punkte schließlich deutlicher heraus: Hengstenberg blieb bei der Auffassung, die Differenz zwischen reformierter und lutherischer Konfession bestünde tatsächlich nur in der Frage der Art und Weise der Darreichung von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Doch artikulierte er nun deutlicher, daß er damit vor allem die deutsche reformierte Kirche im Blick hatte. Diese sei aber im Unterschied zu anderen reformierten Kirchen „auf Lutherischem Boden erwachsen“, sie sei „nichts Anderes, als die mildere Melanchthonsche Richtung, deren Anhängern über ein halbes Jahrhundert als Glieder der Lutherischen Kirche anerkannt, dann aber in Folge ihrer traurigen Umtriebe in Sachsen, wo sie ihre Richtung mit Verdrängung der strengeren zur Herrschaft zu erheben trachteten, zum Austritte genöthigt wurden, und nun, um nicht allein zu stehen, an die Reformirte Kirche des Auslandes sich anlehnten. Nur die Concordienformel hat, die bis dahin Lutheraner waren in Reformirte verwandelt.“78

Die Schweizer Reformierten kommen also kaum in den Blick. Darüber hinaus tendiert Hengstenberg stark dazu, Calvins Abendmahlslehre in die Nähe der lutherischen zu rücken. Die Wittenberger Konkordie sei als ein gemeinsamer Sieg der „Lutherischen und der Bucerisch-Calvinischen Ansicht über die Zwinglische“ zu begreifen (Sp.  34).79 Ja, überhaupt erkläre sich Calvins Abendmahlslehre nur durch ihre Opposition zu derjenigen Zwinglis: „Hätte Calvin zur Zeit seines Auftretens die Lutherische Lehre als die allgemein herrschende vorgefunden, er würde gewiß nicht von ihr abgegangen seyn.“ (Sp.  36). Da Calvin mit seiner Fassung der Abendmahlslehre hauptsächlich den in seiner Umgebung herrschenden Irrtum Zwinglis korrigieren wollte, seien ihm „die feinen und verborgenden Gründe unsichtbar“ geworden, „die für die Wahrheit der Lutherischen Auffassung sprechen“ (Sp.  37). Doch „Gott hat aus seiner in seiner Stärke wurzelnden Schwachheit Heil für Millionen hervorgehen lassen, denen durch ihn der Segen des Sakramentes theils erhalten, theils wiederge76

  Ebd., Sp.  655.   Ebd., Sp.  651. 78   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  24 – hierauf beziehen sich auch die folgenden Angaben im Fließtext. 79   Das sei die Stärke der Wittenberger Konkordie. Die Abschlußformulierung des Konventes billigte Hengstenberg allerdings nicht: Die „Zweideutigkeit seiner Formel“ habe zu sehr „den Charakter des Tridentinums“ (ebd., Sp.  24). 77

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3  Hengstenberg und die Kirche

schenkt worden ist.“ (ebd.). Calvin bilde mit seiner Lehre eine Brücke für die Schwachen, die auch heute noch unverzichtbar sei. Denn das lutherische Verständnis sei auch heute noch manchen, „die in sehr lebendigem Glauben stehen“ (ebd.), unendlich schwer zugänglich. Schon das Wort Gottes habe hier Mitleid mit den Schwachen und lege daher kein Gewicht auf die Frage. Und so habe auch Calvins Lehre die Bedeutung, daß sie die Schwachen dem Sakrament und der Kirche zu erhalten vermag: „Werfen wir die Krücken nicht voreilig weg! Die Kirche hat ihrer niemals mehr bedurft als jetzt. Es wäre für die Lutherische Abendmahlslehre selbst das größte Unglücke, wenn es dem unbesonnenen Eifer gelänge, die Calvinische aus der Kirche auszuschließen!“ (Sp.  37). In der Einschätzung der Reformierten und der Abendmahlslehre Calvins läßt sich später eine leichte Veränderung feststellen. 1855 gesteht Hengstenberg ein, daß er nach einer eingehenderen Beschäftigung mit Calvins Abendmahlslehre kein so günstiges Bild mehr von ihr habe. Er habe „zu einseitig auf den Buchstaben sehend, der Calvinischen Lehre eine zu große Bedeutung“ für die reformierte Kirche beigelegt.80 Inzwischen habe er erkennen müssen, daß in weiten Teilen der reformierten Kirche weiterhin Zwinglis Anschauung vorherrsche. Calvins Lehre aber habe „weit mehr Eingang in die Bekenntnißschriften der Reformirten Kirche, als in das Leben derselben gefunden“81. Dafür macht Hengstenberg nun den künstlichen und vermittelnden Charakter verantwortlich, der sowohl Calvins als auch Bucers Abendmahlslehre charakterisiere. Umso stärker hob er nun den Gedanken hervor, daß es die „Mission“ der lutherischen Konfession sei, „die tiefere Anschauung von dem Sacramente des Altars in der Kirche zu erhalten.“82 Eine kirchentrennende Bedeutung mißt er diesem Unterschied zwischen beiden Konfessionen aber nach wie vor nicht zu. Daß Hengstenberg den Differenzpunkt immer nur auf die Art des Empfangs von Leib und Blut Christi im Abendmahl beschränkt, weist noch auf eine andere Besonderheit hin: Auf weitere unter den beiden Konfessionen kontroverse Themen geht er – auch später – immer nur sehr knapp ein. Bei der Prädestinationslehre hält er sich nie lange auf, da er die Positionen Luthers und Calvins in dieser Frage für wesentlich verwandter hält als diejenigen der Lutherischen und Reformierten Kirche; würde die lutherische Kirche Calvins Prädestinationslehre zum Trennungsmerkmal machen, müßte sie, so seine gängige Argumentation, auch Luther ausschließen.83 Überraschenderweise geht er aber auch nie auf die Frage ein, ob sich die abendmahlstheologische Differenz nicht ebenso in anderen Loci zeigen müsse. Die Frage der communicatio idiomatum verweist er ganz in den Bereich der dogmatischen Spezialfragen, zumal nur eine Minderheit der Evangelischen Luthers Lehre von der Ubiquität kenne und die 80

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  60.   Ebd. 82   So schon die Formulierung im Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  30. 83   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  29 f. 81

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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Mehrheit einer strengen Fassung dieser Lehre durchaus abgeneigt sei.84 Wiederum greift der Grundsatz, daß Fundamentales in der Schrift eindeutig und klar erkennbar sein müsse. Ablehnend steht Hengstenberg zudem dem Versuch gegen­über, Calvin um seiner Abendmahlslehre willen zum Exponenten einer rationalistischen Denkweise zu machen, die das Wort Christi der Vernunft unterwerfe.85 Der Gegensatz zwischen Luther und Calvin wird demnach nicht als grundsätzlich aufgefaßt, sondern allein aus dem unterschiedlichen historischen Kontext heraus verstanden – ein Verfahren übrigens, das sehr an Hengstenbergs Umgang mit den biblischen Autoren erinnert (vgl. oben 2.). Was Hengstenbergs Verhältnis des lutherisch-reformierten Gegensatzes angeht, bleibt es also dabei: Er sah den Unterschied nur in der Abendmahlslehre, in der er „für seine Person von der Wahrheit der Lutherischen Auffassung überzeugt“ war. Doch genau so überzeugt war er, „daß sie nicht zum Schibboleth kirchlicher Rechtgläubigkeit gemacht werden darf.“86 Die Zusammenarbeit mit Reformierten war für Hengstenberg daher völlig unproblematisch. Als in den 40er Jahren der Streit um die Konfessionalität der Missionsgesellschaften ausbrach, sprach er sich deutlich gegen die Abschottung der lutherischen Mission von anderen Missionsgesellschaften aus.87 Für die „werdenden Gemeinden in dem Heidenlande, die mit der Milch des Evangelii getränkt werden müssen“ seien die innerevangelischen Differenzpunkte völlig irrelevant. Lediglich zu „dem großen Consensus der beiden Confessionen“ sollten sich die Missionsgesellschaften bekennen.88 Noch 1865 empfahl Hengstenberg der Berliner Missionsgesellschaft, deren Komitee er angehörte, in der Nachfolge Wallmanns den reformierten Professor Held aus Zürich als Inspektor. „Trotzdem hatte die Mehrzahl der Komiteeherren gegen die Wahl eines Reformierten als Leiter der überwiegend lutherischen Mission so schwere Bedenken, daß seiner Berufung vorläufig nicht näher getreten wurde.“89 Hengstenberg hat immer wieder beteuert, daß sich sein Eintreten für das lutherische Bekenntnis nicht gegen die Reformierten richte; 90 er lobte die Stärken der reformierten Kirche, die „altreformirte[...] Strenge der Unterordnung unter 84

  ebd., Sp.  29. – Vgl. zur Einordnung der Konkordienformel den nächsten Abschnitt.   Ebd., Sp.  36. 86   Ebd., Sp.  37 (beide Zitate). 87   Ebd., Sp.  39: „Die Mission ist nicht auf dem Gebiete der abgesonderten Lutherischen Mission entstanden, sie würde erstickt werden, wenn man sie auf dies Gebiet einengen wollte. Die Zeiten der confessionellen Engherzigkeit waren fruchtbar an Disputationen über die Seligkeit der Heiden, in denen man schulgerecht erwies, daß sie alle sammt und sonders dem ewigen Verderben geweiht seyen, aber arm an Liebeseifer für ihr Heil.“ 88   Ebd., Sp.  39 und 40. 89   Richter, Geschichte, 176; vgl. auch Hengstenbergs Anmerkung zu einem Aufsatz über die Konfessionalität der Berliner Mission: EKZ 50 (1852), Sp.  95. 90   Hengstenberg, Augsburgische Confession, EKZ 54 (1854), Sp.  111: „Unser Kampf gilt nicht der Reformirten Kirche als solcher, vor deren Rechten wir überall Achtung haben, deren eigenthümliche Gaben wir willig anerkennen, in der namentlich der Herausgeber die 85

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3  Hengstenberg und die Kirche

Gottes Wort, des Eifers für Zucht und Sitte“91. Er übte nur dann Kritik an den Reformierten, wenn sie selbst ihr Bekenntnis zugunsten einer bekenntnislosen Union aufweichten und von den Lutheranern dasselbe forderten: „Nicht das haben wir gegen die Reformirten, sofern wir überhaupt etwas gegen sie haben, daß sie Reformirte sind, sondern daß sie sich mit den Anhängern einer absorptiven Union verbinden, um uns zu hindern in der Erfüllung des Gebotes: halte, was du hast, daß dir Niemand deine Krone raube. Es gibt jetzt leider wenige Reformirte, die nicht in Union machen [...].“92

In dieser Hinsicht hielt er die Reformierten für besonders anfällig. „[E]in gewisser Ansatz zu historischem Rationalismus“, zum leichtfertigen Aufgeben des historisch Gewachsenen zugunsten „vernünftiger“ Neuregelungen, habe „von Anfang an der Reformirten Kirche eingewohnt“93. Man müsse den Reformierten daher nicht wegen ihres Bekenntnisses entgegentreten, sondern nur, wenn sie ihrer Neigung nachgäben und mit Vertretern des Rationalismus gemeinsame Sache machten. Auch in den Zeiten des zunehmenden konfessionellen Eifers blieb Hengstenberg dabei, daß die reformierte Kirche nicht weniger als die lutherische Kirche ihr Recht und ihre Mission habe.

3.2.2  Das Bekenntnis Indem Hengstenberg die These vertrat, daß sich der Unterschied zwischen der lutherischen und reformierten Konfession, was die Lehre anging, nur auf einen bestimmten Aspekt der Abendmahlslehre, nämlich die Art und Weise der Darreichung von Leib und Blut Christi, beschränke, und indem er diesen Aspekt für unwesentlich erklärte, stellte er sich unverkennbar auf einen anderen Standpunkt als diejenigen Bekenntnisschriften, welche die konfessionellen Sonderlehren als kirchentrennend verstanden. Mußte das der Geltung der Bekenntnisse nicht schaden? Wie war es möglich, daß Hengstenberg einerseits die Bekennt­nisse und ihre Funktion im Blick auf die Einheit der Kirche hochschätzte, aber andererseits ihren Anspruch in einem entscheidenden Punkt nicht gelten ließ? Um diese Frage zu klären, ist nach dem Stellenwert und der Rolle zu fragen, die Hengstenberg den Bekenntnissen zumaß. Darauf wurde bereits oben in zwei Zusammenhängen eingegangen: Bei der Darstellung der AuseinandersetKirche seiner Väter ehrt und aus der, besonders aus den Schriften Calvin’s, dann auch Vitringa’s, Lampe’s, viele Förderung erhalten zu haben er gern bekennt.“ 91   Ebd., Sp.  112. 92   Ebd. 93   Ebd. Hengstenberg beschreibt den „historischen Rationalismus“ ebd. als „das blinde Vertrauen auf die eigene Einsicht, die Unfähigkeit, sich denkend und liebend in das Gegebene zu versenken“.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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zung zwischen Hengstenberg und Neander wurde darauf aufmerksam gemacht, daß Hengstenberg Bekenntnisbindung zunächst in einem sehr weiten, unspezifischen Sinne verstand: Es ging ihm darum, daß alle Glieder der Kirche, seien es Laien oder Theologen, in den zentralen kirchlichen Lehren, den sogenannten „Katechismuswahrheiten“, übereinstimmten. Alles aber, was darüber hin­ ausging oder sich mit der Begründung der Wahrheiten beschäftige, sei der freien theologischen Diskussion anheimgestellt (siehe 2.1). Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Schleiermacherschülern wurde schließlich festgestellt, daß es Hengstenbergs Geg­ner waren, die ihm eine Anhänglichkeit an den äußeren Buchstaben der Bekenntnisschriften unterstellten. Er selbst betonte immer den Vorrang der Schrift und die von der Schrift abgeleitete Autorität der Bekenntnisse (siehe 2.2.3). Beide Aussagen gehören in einen größeren Zusammenhang, der nun darzustellen ist. Ab 183994 nahm Hengstenberg mehrfach ausführlich zur Frage des Bekenntnisses Stellung.95 Dabei kehren schon bald immer dieselben Argumente wieder. Grundlegend ist zunächst Hengstenbergs Bekenntnisbegriff: Evangelische Bekenntnisse sind demnach „keine äußeren Feststellungen der Lehre, keine Glaubensgesetze, kein kirchliches corpus juris“, sondern „Äußerungen des Glaubens der Gemeinde, die zur freien Zustimmung einladen“96 . Die Funktion des Bekenntnisses wird damit ganz analog zu der Verhältnisbestimmung von innerer und äußerer Kirche bestimmt: Im Bekenntnis drückt sich der Glaube aus, da94   Daß sich Hengstenberg in den 40er Jahren verstärkt mit dem Thema „Bekenntnis“ befaßte, belegt seine Bibliothek (s. dazu oben 2.3.4 EXKURS). 95   Folgende Quellen sind dafür grundlegend: 1. Das ‚Bedenken der theologischen Fakultät in Berlin über das Rescript des Herzogl. Consistoriums in Altenburg vom 13. November 1838‘, EKZ 24 (1839), Sp.  462–464.468–472.477–480.483–491, Nr.  58–61 (=Bedenken der theologischen Facultäten [1839], 203–236). Hengstenberg beruft sich verschiedentlich auf dieses Gutachten, dessen Entwurf aus seiner Feder stammte. Was die Aussagen zur Bekenntnisbindung angeht, gibt es genau seine Ansichten wieder. Es wurde aber von der ganzen Fakultät, also auch von Marheineke, Neander, Twesten und Strauß, nicht nur unterzeichnet, sondern auch diskutiert und tatsächlich verantwortet. Sein Zustandekommen ist ein Musterbeispiel für die Konsensbildung innerhalb einer Fakultät. Für die ersten beiden Teile, die grundsätzliche Fragen behandeln, gilt, was Hengstenberg später betonte: es wurde „einstimmig und in diesem Punkte fast ohne alle Debatte und Abänderung des ursprünglichen, von dem Herausgeber vorgelegten Entwurfes“ genehmigt (vgl. Hengstenberg, Erklärung, EKZ 37 [1845], Sp.  778); nur für den dritten Teil des Gutachtens wurden umfangreiche Änderungswünsche von Twesten vorgelegt, die Hengstenberg aber ebenso berücksichtigte wie einen Zusatz Marheinekes, der den Schlußabschnitt betraf. Das umfangreiche Aktenmaterial des ganzen Vorgangs findet sich im UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  115–194. – 2. Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  645–651.653–671, Nr.  81–84; die Verteidigung gegen den Breslauer David Schulz liegt in diesem Punkt ganz auf der Linie des Fakultätsgutachtens. – 3. Ders., Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  18–23. – 4. Ders., Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  496–504, Nr.  57 f. – Unzutreffend urteilt also Fagerberg, Bekenntnis, 48: „Vergebens sucht man freilich bei Hengstenberg eine prinzipielle Erklärung der Stellung und der Aufgaben des Bekenntnisses.“ 96   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  660.

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3  Hengstenberg und die Kirche

durch wird die verborgene Kirche sichtbar und gibt ihr Wesen zu erkennen. Inhalt des Bekennt­nisses können darum auch nur Gegenstände des Glaubens sein, nicht aber ihre theologische Explikation: „Bekenntnisschriften können nur insofern Verbindlichkeit haben, als ihr Inhalt eben Bekenntniß des Glaubens ist, unter die Rubrik des credimus, confitemur, docemus gehört. Weitere dogmatische Explikationen, Beweisführungen u. s. w. gehören nicht den Bekenntnisschriften als solchen an, werden daher auch nicht von denjenigen mitbekannt, die sich zu ihrem Inhalte bekannt haben“97.

Dogmatische Lehrgebäude und komplizierte theologische Begründungszusammenhänge gehören demnach, selbst wenn sie sich als schriftgemäß erweisen lassen, nicht in das Bekenntnis. Nur das Fundamentale, nicht aber alles Wahre müsse bekannt werden. Als fundamental bezeichnet Hengstenberg das, was die Eigenart des Glaubens und der Bekennt­nisgemeinschaft ausmacht. Das bedeutet: Für die evangelischen Gläubigen ist grundlegend und hat Bekenntnischarakter, „was in einem offen zu Tage liegenden engen Zusammenhange mit den Grundlehren der christlichen Kirche überhaupt, und speciell denen der Evangelischen, von der Autorität der heiligen Schrift und der Rechtfertigung durch den Glauben steht“. Alles andere sei „der freien Bewegung der Theologie [...] und dem individuellen Glauben“ anheimgestellt.98 Hengstenberg ging also wie viele seiner Zeitgenossen davon aus, daß man das Wesen des Protestantismus an zwei Prinzipien festmachen könne: formal am Schriftprinzip und material an der Rechtfertigungslehre.99 Nur was mit diesen beiden Prinzipien in Verbindung stehe, mache die Eigenart des evangelischen Glaubens aus und könne im Bekenntnis bekannt werden. Die Alternative, alles Wahre zum Fundamentalen zu erheben, lehnte er ausdrücklich ab. Dieser, „besonders durch Schuld der Umtriebe der Cryptocalvinisten von der Concordienformel angebahnte Weg hat zum Verderben geführt“100. In der Konkordienformel würde Glaubenswahrheit nicht von der theologischen Systembildung unterschieden. Dadurch aber habe man die Bekenntnisbindung überstrapaziert: „Es gibt kein sichereres Mittel, die Auflösung der Kirche herbeizuführen, als wenn man sie inducirt, Alles zu binden, auch das, was nicht gebunden werden 97

  Bedenken, EKZ 24 (1839), Sp.  471; ebs. Hengstenberg, Augsburgische Confession, EKZ 54 (1854), Sp.  107 f. – dort wird überdies darauf hingewiesen, daß man bei der Berufung auf die Bekenntnisse diese Einschränkung nicht ausdrücklich nennen müsse, weil sie in der Natur der Sache liege. 98   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  26 (auch das vorige Zitat). 99   Vgl. zu der Lehre von den sogenannten Prinzipien des Protestantismus Holte, Vermittlungstheologie, 150–175 und Lauster, Prinzip, 82–93. Holte weist ebd., 151 f. darauf hin, daß sich die beiden Prinzipien sachlich bereits bei Spener finden; von hier ergibt sich eine Brücke zu Hengstenberg, der sicherlich nicht direkt an die vermittlungstheologische Rede von den beiden Prinzipien angeknüpft hat. Abgesehen davon war die Redeweise im 19. Jh. geradezu Gemeingut. 100   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  26.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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soll.“ (ebd.). Damit schließt sich der Kreis zur Abendmahlslehre und zur Beurteilung des lutherisch-reformierten Gegensatzes: Die in der Konkordienformel dargebotene christologische Grundlegung der Abendmahlslehre gehört, so die Logik Hengstenbergs, zur dogmatischen Reflexion, nicht aber zum Bekennt­nis des Glaubens. Selbst wenn man davon ausginge, daß die Überlegungen der Konkordienformel richtig und wahr sind, müßten sie dennoch nicht für die ganze Kirche verbindlich gemacht werden. Mit der Konkordienformel habe man, was die Eigenart des Bekennt­nisses angeht, einen Irrweg eingeschlagen, der schließlich zur Geringschätzung des Bekennt­nisses geführt habe. Daraus sei zu lernen, daß man im Umgang mit dem Bekenntnis beide Abwege vermeiden müsse: Es sei ebenso falsch, „unbesehens alles das sich anzueignen, was in der älteren Zeit der Kirche Geltung gehabt hat, die ganze Lutherische Dogmatik des siebzehnten Jahrunderts, besonders ihres Gegensatzes gegen die Reformirte Lehre“, wie es falsch sei, die zentralen Glaubenslehren aufzugeben.101 Heng­ stenberg propagierte also im Gegensatz gegen die „engere Ansicht vom Bekennt­ niß“, wie sie im konkordistischen Luthertum vertreten wurde und zu seiner Zeit neu auf kam, eine freiere Auffassung, die die Geltung der Bekenntnisschriften auf die Hauptlehren begrenzt. Dafür machte er geltend, daß auch jene freiere Ansicht in der lutherischen Kirche immer vertreten worden sei, angefangen von Luther bis hin zu den Lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, welche die Lehre von den Fundamentalartikeln aufgebracht hätten.102 Doch nicht nur historische Gründe führten Hengstenberg zu der von ihm vertretenen Bekenntnishermeneutik. Im Hintergrund stand, daß er den Bekenntnisschriften im Vergleich zur Schrift nur untergeordnete Bedeutung einräumte: „Die Bekenntnißschriften bilden nicht etwas eine Autorität neben der heiligen Schrift, wie in der Katholischen Kirche die Tradition, die Schlüsse der Concilien, sondern ihre ganze Autorität ist eine abgeleitete, beruht darauf, daß sie Ausdruck des Schriftinhaltes sind. Hierauf gesehen haben sie nur Geltung insofern sie mit der heiligen Schrift übereinstimmen.“103

Das steht nicht im Widerspruch mit der oben zitierten Bestimmung des Bekenntnisses als Ausdruck des Glaubens. Denn gerade am Bekenntnis läßt sich ja erkennen, ob der Glaube mit der Schrift übereinstimmt. Umgekehrt wird der Gläubige nur dem Bekenntnis zustimmen, das er als sachgerechten Ausdruck der Schriftwahrheit anerkennt. Auf jeden Fall müsse dies, so Hengstenberg, für den 101

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 32 (1843), Sp.  11 f. (das Zitat: Sp.  11); ebs. Ders., Augsburgische Confession, EKZ 54 (1854), Sp.  108 – Hengstenberg sieht schließlich den Vorzug der CA im Verhältnis zur Konkordienformel darin liegen, daß erstere sich „streng auf dem eigenthümlichen Gebiete des Bekenntnisses und des Dogmas“ (ebd.) halte. 102   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  27 f.; die Rede von der engeren und freieren Ansicht des Bekenntnisses ebd., Sp.  27. 103   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  657.

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3  Hengstenberg und die Kirche

Amtsträger gelten. Er könne nur dann ein Amt in der Kirche übernehmen, wenn er sich zuvor davon überzeugt habe, daß die Bekenntnisschriften jener Kirche den Schriftinhalt treu wiedergäben. Er dürfe das Bekenntnis nicht deshalb akzeptieren, weil ihm eine besondere Autorität eigne, sondern weil es mit der Schrift übereinstimme und insofern Anteil an der Schriftautorität habe. Was das Verhältnis von Schrift und Bekenntnis angeht, sah Hengstenberg also keinen Widerspruch zwischen den Alternativen ‚quatenus‘ und ‚quia‘: „Weil die in den Bekenntnißschriften enthaltene Lehre nur insofern auf kirchliche Gel­tung Anspruch machen kann, als sie mit der heiligen Schrift übereinstimmt, bekennt er [sc. der Amtsträger] sich zu ihr, weil sie mit der heiligen Schrift übereinstimmt.“104 Dieser Punkt ist deshalb so entscheidend, weil sich daraus eine wichtige Konsequenz für das Verhältnis der drei Größen Schrift – Bekenntnis – Lehramt ergibt: Die Wahrheit der Lehre kann – das war Hengstenbergs feste Überzeugung – nie an ihrer Übereinstimmung mit dem Bekenntnis erwiesen werden, sondern immer nur an ihrer Übereinstimmung mit der Schrift. Umgekehrt ist Häresie nur an der Schrift, nicht aber am Bekenntnis aufzuweisen. Stimmt ein Amtsträger nicht mit dem Bekenntnis überein, dann betrifft dies nicht unbedingt sein Verhältnis zur Wahrheit, sondern in erster Linie sein Verhältnis zu der Kirche, die dieses Bekenntnis vertritt und der er sich freiwillig angeschlossen hat. Hengstenberg wehrte sich immer wieder gegen das Mißverständnis, die EKZ mache, indem sie darauf hinweise, daß Professoren und Geistliche vom Bekenntnis abweichen, das Bekenntnis zur norma normans: „Nicht die Falschheit der Lehren, sondern die Treulosigkeit der Lehrer will sie damit darthun.“105 Die Angehörigen einer Kirche hätten ein Recht darauf, daß ihre Amtsträger vom Bekenntnis dieser Kirche überzeugt seien. Damit sei keinerlei Bekenntniszwang verbunden, denn es stehe ja jedem frei zu entscheiden, ob er Amtsträger dieser Kirche werden wolle. Wer sich aber freiwillig dem Bekenntnis einer bestimmten Kirche unterstelle, der müsse sich auch darauf ansprechen lassen.106 Es komme aus der Sicht der Kirche nicht darauf an, daß „ihre Diener ihr Bekenntniß

104

  Ebd.   Ebd., Sp.  659; vgl. auch schon Hengstenbergs 18. These seiner Lizentiatendisputation: „Qui munus ambit vel susceptum retinet in ecclesia, cujus cum doctrina in articulis fundamentalibus non consentit, etiam non accedente obligatione externa, fallaciter agit.“ (Bachmann 1, 334). 106   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  659–661. In diesen Zusammenhang gehören auch die wiederholten Beteuerungen Hengstenbergs, nie die Gewissensfreiheit verleugnet zu haben. „Wie damals, so ist ihm [scil. dem Herausgeber] auch noch jetzt der Glaube ein durchaus Freies, das weder geboten, noch erzwungen werden kann. Wie damals, so beklagt er auch noch jetzt den Unglauben an die Kraft des Geistes Gottes, der sich genöthigt sieht, zu dem schlechen Surrogate des Glaubenszwanges zu greifen.“ (ebd., Sp.  659). 105

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

329

nur wie einen Amtsrock anziehen“107. Sie müßten sich auch in Wort und Tat dazu stellen. Allerdings ist die Bindekraft des Bekenntnisses nach Hengstenbergs Ansicht selbst im Blick auf die Amtsträger begrenzt. Auch für sie gilt das Bekenntnis nämlich nur hinsicht­lich der eigentlichen Glaubensaussagen. Alle anderen Bekenntnisinhalte „werden daher auch nicht von denjenigen mitbekannt, die sich zu ihrem Inhalte bekannt haben, und dürfen ihnen von der kirchlichen Behörde nicht aufgedrungen werden, welche die Bekennt­niß­schriften immer nur mit geistlicher Unterscheidungsgabe, und nie mit der Äußerlichkeit handhaben kann, mit welcher der Jurist sein corpus juris. Hieraus erhellt, daß dadurch der fortschreitenden Entwickelung und Läuterung der Kirche auch in Beziehung auf die Lehre keine Schranke gesetzt wird.“108

Man kann also auch, wenn man den theologischen Beweisführungen der Konkordienformel nicht zustimmt, Amtsträger in einer konkordistisch-lutherischen Kirche werden. Daneben stellt Hengstenberg eine weitere Einschränkung: Selbst was die eigentlichen Glaubensaussagen angeht, könnten die Behörden nicht zu allen Zeiten eine strenge Bindung von den Amtsträgern erwarten. Sie hätten zwar das Recht dazu, doch es könne Zeiten geben, „in denen die christliche Weisheit den kirchlichen Behörden gebietet, nicht in seinem ganzen Umfange von ihrem Rechte Gebrauch zu machen, und zu diesen Zeiten gehört, wenn irgend eine, die unsrige. [...] Wollte die Behörde in einer solchen Zeit der Gährung und Entwickelung alle einzelnen Punkte des Bekenntnisses mit gleicher Strenge handhaben, so könnten daraus nur bedeutende Übelstände hervorgehen, die wir hier nicht weiter zu entwickeln brauchen. Sie wird daher sorgfältig die Hauptpunkte und die Nebenpunkte in der Lehre zu unterscheiden, und nur die ersteren gel­tend zu machen haben. Diese müssen auf historischem Wege ausgemittelt werden [...]“109.

Als Zentrum des evangelischen Lehrbegriffs stelle sich aber die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben dar. „Sie, und was mit ihr unmittelbar zusammenhängt der Kirche zu erhalten, muß das Hauptbestreben der kirchlichen Behörden seyn.“110 Es verbinden sich in Hengstenbergs Bekenntnishermeneutik also auf den ersten Blick gegenläufige, auf den zweiten Blick aber sich gegenseitig bedingende Tendenzen. Man bekommt sie am besten in den Blick, wenn man die verschiedenen Relationen unterscheidet: Eine strenge Bindung fordert Hengstenberg im Verhältnis der Kirche zum Bekenntnis. Seiner Konzeption zufolge ist die Kirche ohne Bekenntnis nicht sichtbar. Die Kirche und ihre Einheit werden nicht an äußeren Dingen, sondern nur an der Übereinstimmung mit dem Bekenntnis 107

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 32 (1843), Sp.  11.   Bedenken 1839, EKZ 24 (1839), Sp.  471. 109   Ebd. 110   Ebd., Sp.  472. 108

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3  Hengstenberg und die Kirche

erkennbar. Darum braucht die Kirche ein Bekenntnis. Es bringt dauerhaft zum Ausdruck, mit welcher Kirche man es zu tun hat. Eine Weiterentwicklung des Bekenntnisses ist nicht ausgeschlossen, darf aber nur von denen betrieben werden, die selbst auf dem Boden des Bekenntnisses stehen, sonst würde die Kirche ihrem eigenen Ursprung entfremdet (vgl. dazu unten 3.5.3). Kennzeichnend ist die Semantik, die Hengstenberg mit dem Bekenntnisbegriff verbindet: Er redet immer wieder vom „Leben“, das aus dem Bekenntnis hervorgeht. Das Bekenntnis ist kein Knebel, sondern die für die Lebenskraft einer konkreten, historischen Kirche unabdingbare Quelle.111 Damit ersetzt das Bekenntnis aber nicht die Schrift. Im Blick auf das Verhältnis des Bekenntnisses zur Schrift gilt nämlich, daß nur die Schrift über wahre und falsche Lehre entscheiden kann. Irrlehren müssen daher aufgrund der heiligen Schrift erwiesen werden. Das Bekenntnis kann hier keine letztgültige Orientierung bieten. Erweist sich ein Bekenntnis als nicht schriftgemäß, dann muß entweder die Kirche als ganze ihr Bekenntnis erneuern oder derjenige, der von der Schriftgemäßheit des Bekenntnisses nicht oder nicht mehr überzeugt ist, die Kirche verlassen.112 Im Verhältnis zur Schrift hat das Bekenntnis also immer nur abgeleitete Bindekraft. Allerdings kann sich Hengstenberg keine Kirche vorstellen, die ihr Bekenntnis für nicht schriftgemäß hält, ist doch gerade das Bekenntnis der Ausdruck des gemeinsamen Verständnisses der Schrift. Im Verhältnis des Bekenntnisses zum einzelnen Amtsträger empfiehlt Hengstenberg schließlich einen elastischen Umgang mit dem Bekenntnis. Selbstverständlich erwartet er von einem Amtsträger, der sich einer spezifischen Kirche verpflichtet hat, daß er dem Bekenntnis dieser Kirche zustimmt. Allerdings darf diese Zustimmung nicht eng ausgelegt werden. Nur die Übereinstimmung in den eigentlichen Glaubensaussagen wird verlangt, in dem also, was er schon 1830 „Katechismuswahrheiten“ genannt hatte.113 Außerdem sind die äußeren Umstände in Rechnung zu stellen. In einer Zeit, in der die Grundwahrheiten 111   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 40 (1847), Sp.  29: „Man täusche sich nicht, alles was von Leben in unserer Kirche vorhanden ist, auch die gläubige Theologie selbst, ist auf dem Baume unserer Bekenntnisse gewachsen. Haut man den Baum um, so wird man vergeblich ferner auf seine Früchte warten. Die Kirche ist auf die Dauer immer so wie ihr Bekenntniß [...]“; vgl. auch Ders., Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  496: „Die ‚Überwachung‘ ist aber überhaupt etwas sehr Untergeordnetes. Viel wichtiger ist der freie Einfluß, den das Bekenntniß der Kirche auf ihre Glieder und besonders ihre Diener ausübt.“ In späteren Zusammenhängen wird Hengstenberg darauf hinweisen, daß es vor allem die geschichtliche Verwurzelung des Bekenntnisses sei, die ihm die lebensschaffende Kraft verleihe: „Die Wurzeln des zu Rechte bestehenden Bekenntnisses aber sind tief in die Erde gesenkt. Gott sey Dank, daß wir ein solches haben.“ (Ders., Augsburgische Konfession, EKZ 54 [1854], Sp.  109). 112   Hengstenberg riet darum im Jahr 1847 Pastor Nagel aus Trieglaff, der sich von der Schriftgemäßheit der Union auf keine Weise überzeugen ließ: „Treten Sie aus! [...] Sie kommen nicht eher wieder zum Frieden.“ (Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1005). Kurz später hat sich Nagel den schlesischen Lutheranern angeschlossen. 113   Vgl. oben 2.1.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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zur Disposition stehen, sollte man keine Übereinstimmung mit dem ganzen Bekenntnis fordern. Abgesehen davon hält Hengstenberg ohnehin wenig von einer äußeren Bekennt­nisverpflichtung. Er ging davon aus, daß die bewußte Zugehörigkeit zu einer Kirche von alleine eine immer größere Vertrautheit mit den in den Bekenntnisschriften bewahrten Glaubensschätzen hervorbringt. Das war seine eigene Erfahrung. Für sich und die ihm Gleichgesinnten wies er vehement die Unterstellung zurück, man habe sich aufgrund äußerer Autorität dem Bekenntnis unterworfen. Vielmehr habe man das Bekenntnis an die heilige Schrift gehalten „und es probehaltig gefunden, wir haben es nicht auf einmal angezogen, wie einen fertigen Rock, sondern der Fortschritt in der Lehre ist immer mit dem Fortschritte des Lebens Hand in Hand gegangen.“ Stückweise habe man die alten Ansichten hinter sich gelassen, „bis wir zuletzt zu vollkommener abhängiger und doch unbedingt freier Übereinstimmung mit der Lehre unserer Kirche gelangt waren, die wir jetzt nicht mehr in der Augsburgischen Confession zu suchen brauchen, die unsertwegen untergehen möchte und von uns außer im Dienste der Kirche kaum angesehen wird, die vielmehr auf den Tafeln unsers Herzens steht, nicht mit Dinte und Feder, sondern mit dem Finger des lebendigen Gottes.“114

Daß die Bekenntnisschriften häufig einen Überschuß im Verhältnis zu dem, was von den einzelnen bekannt wird, aufweisen, betrachtete Hengstenberg also nicht generell als einen Nachteil – vorausgesetzt, daß Übereinstimmung im Grundlegenden herrscht. Dann kann nämlich der Überschuß als überindividueller Erkenntnisschatz der sich in einer bestimmten Konfession zusammenfindenden Glaubensgemeinschaft verstanden werden, in den man hineinwachsen kann. Folglich erwartete Hengstenberg von allen, die sich einer Glaubensgemeinschaft anschlossen, nicht die äußere Übernahme einer Glaubensnorm, sondern die Bereitschaft, sich auch in die bislang unerschlossenen Bereiche der Bekenntniswahrheit zu vertiefen.115 Hengstenbergs Bekenntnishermeutik hat auch seine Redaktionstätigkeit bestimmt. Es ist durchaus zutreffend und ganz im Einklang mit seinen früheren Äußerungen, wenn er 1845 die Angriffe auf die sogenannte ‚Partei der EKZ‘ mit den Worten zurückwies: „Die Ev. K.Z. hat zu dem Buchstaben der Bekenntißschriften immer eine freie Stellung eingenommen, sie hat immer nur für die Substanz derselben gestritten.“116 Es stellt sich allerdings die Frage, ob 114   Hengstenberg, Erklärung, EKZ 37 (1845), Sp.  782 (auch die vorhergehenden Zitate). Vgl. Ders., Anmerkung, EKZ 44 (1849), Sp.  42: „Das wahre Bekenntniß aber darf nicht bloß auf einem alten Papiere stehen, es muß auch auf die Tafeln des Herzens geschrieben seyn.“ 115   Die Erwartung, daß sich das Bekenntnis stückweise öffne, entspricht Hengstenbergs Umgang mit der heiligen Schrift, vgl. oben 2.3.3. 116   Hengstenberg, EKZ 37 (1845), Sp.  779, vgl. dazu oben 2.2.3. Hengstenberg zitierte zum Beleg für seine Haltung aus dem Fakultätsgutachten von 1839 (vgl. Anm.  95).

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3  Hengstenberg und die Kirche

Hengstenberg seine Auffassung vom Bekenntnis auch dann noch aufrecht erhalten konnte, als sich die konfessionelle Richtung zunehmend auszubreiten begann. In der zweiten Hälfte der 40er Jahre kann ein deutlicher Konfessionalisierungsschub wahrgenommen werden. Wie unten noch darzustellen sein wird, sah sich auch Friedrich Wilhelm IV. genötigt, dieser Bewegung entgegenzukommen. Erstaunlicherweise scheinen diese Entwicklungen aber Heng­ stenbergs grundsätzliche Haltung zum Bekenntnis und zum Verhältnis beider evangelischer Konfessionen nicht berührt zu haben. Als Beleg dafür kann sein Nachruf auf Minister Raumer aus dem Jahr 1861 gelten.117 In der von den Lutheranern in Mecklenburg A.W. Dieckhoff und Th. Kliefoth herausgegebenen ‚Theologischen Zeitschrift‘ war die konservative Kirchlichkeit Raumers und seiner Gesinnungsgenossen heftig angegriffen und ihr unionsfreundliches Luthertum einer scharfen Kritik unterzogen worden. Hengstenberg nahm darauf hin die Würdigung Raumers zum Anlaß, um seine eigene Position, die er zugleich als die Position des Ministers und seines, Hengstenbergs, Freundes Stahl kennzeichnete, zu verteidigen. Kennzeichnend ist dabei zunächst, daß Hengstenberg an seiner Bestimmung des Verhältnisses der protestantischen Konfessionen festhält. Es zeige sich überall, „daß beide Confessionen in ihrer ur­sprüng­lichen Schroff heit nicht mehr einander gegenüberstehen.“ (Sp.  524). Dazu hätten die Erfahrungen der letzten drei Jahrhunderte beigetragen. Das müsse man berücksichtigen. Gleichwohl seien er und seine Gesinnungsgenossen weit davon entfernt, „die trennenden Unterschiede gering anzuschlagen“, man sei sich vielmehr der Pflicht bewußt, „den luth. Typus in seiner ganzen vollen Eigenthümlichkeit zu bewahren“ (ebd.). Daß man im Unterschied zu den Mecklenburgern beidem, Einheit und Besonderheit, zugleich gerecht werden wolle, hänge nun aber mit einer anderen Auffassung des Bekenntnisses zusammen: „Sie gehen von einem Luthertume aus, das starrer als Rom selbst jeder normalen Entwickelung sich verschließt, weil es in der Lutherischen Kirche die wahrhaft Katholische, die vollkommene Kirche und in dem Bekenntnisse derselben, wie es in den symbolischen Schriften gefaßt und dargestellt ist, die durchaus genügende und für alle Zeiten gültige Darstellung und Fassung der Evangel. Wahrheit zu haben glaubt.“ (Sp.  518).

Hengstenberg kann diese Auffassung nicht teilen, und indem er dies zum Ausdruck bringt, räumt er ein, sich „in einer gewissen Verwunderung über uns selbst“ (ebd.) zu befinden: „Wir sind sonst nicht in der Lage, gegen Lutherische Bestrebungen zu streiten und haben es immer für unsere Aufgabe gehalten, sie in ihren gerechten Kämpfen für das geschichtliche Recht der Kirche zu stärken. Aber unser Gegner hat uns in diese Position gebracht und die rechte Freiheit wissenschaftlicher Bewegung und kirchlicher Ent117

  Hengstenberg, Minister von Raumer, EKZ 68 (1861), Sp.  513–532; Nr.  44 f. – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext.

3.2  Kirchengemeinschaft und Bekenntnis

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wickelung ist ein zu theuer erworbenes Gut, als daß wir uns nicht verpflichtet fühlen müssen, es auch gegen ihn in Schutz zu nehmen.“ (ebd.).

Die entscheidende Differenz zwischen eigentlichen Gegenständen des Bekenntnisses und den darüber hinausgehenden theologischen Explikationen, bringt Hengstenberg nun mit der Unterscheidung zwischen „reiner“ und „orthodoxer“ Lehre zum Ausdruck. Das lutherische Bekenntnis sei ohne Frage der alte apostolische Glaube, den Luther in seiner Reinheit wieder hergestellt habe. Die lutherische Kirche habe diesen Glauben „als ihr theuerstes Kleinod zu bewahren, ihr gottesdienstliches Leben nach ihm zu gestalten und ihr gesammtes amtliches Handeln ihm gemäß zu regeln. Der einzelne hat diese reine Lehre als evangelische Heilswahrheit anzuerkennen, sie immer mehr sich anzueigenen und immer entschiedener in sie sich einzuleben.“ (Sp.  518 f.).

Aber die reine Lehre sei nicht die orthodoxe Lehre. Letztere sei die wissenschaftliche Fassung der ersteren, sie beruhe auf dem Glaubensgrund, sei aber nicht mit ihm identisch. Daher seien die – keinesfalls gering zu achtenden – Werke der orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts nicht identisch mit der Glaubenswahrheit.118 In diesem Sinne könne man hinsichtlich der Bekenntnisschriften nicht von dem einschränkenden „quatenus“ absehen, allerdings nicht im Sinne des „rationalistische[n] Ausweg[s]“, daß sie nur insoweit gelten sollten, als sie mit der Schrift übereinstimmen: „Sondern das ist die Meinung, daß sie nur da bindend und verpflichtend sind, wo sie das Bekenntniß der Kirche im eigentlichen Sinne, d. i. die Grundwahrheiten und Grundthatsachen des Evangelii, wo sie eigentliche Glaubensartikel uns darbieten. An ihre wissenschaftlichen Beweisführungen ist Niemand gebunden.“ (Sp.  519). Darum dürfe ein Theologe über die Bekenntnisschriften hinausgehen, wenn die Glaubenswahrheit durch weitergehende wissenschaftliche Forschung eine solidere Begründung gefunden habe. Für den Laien aber seien nicht die dogmatischen Subtilitäten entscheidend: „Es ist allein die Stellung zur eigentlichen Glaubenssubstanz, die hier entscheidet.“ (ebd.). Des weiteren sei die reine Lehre, wie sie in den Bekenntnisschriften stehe, noch nicht unbedingt die vollkommenste und in jeder Hinsicht zureichende. Sie sei vielmehr auf Ergänzung und Weiterentwicklung angewiesen. So nennt 118   „Wir sind der Ansicht, daß die wissenschaftlichen Arbeiten der orthodoxen Zeit der Kirche die größten Dienste geleistet haben und daß die Werke eines Chemnitz, Gerhard, Calov, Quenstedt bis zu Hollaz die rechte Einsicht in die Wahrheit des evangel. Glaubens noch immer in viel höherem Grade fördern, als die meisten dogmatischen Schriften der Gegenwart. Aber Wissenschaft ist nicht Glaube. Auf dem allerdings unantastbaren Boden des letzteren, der eigentlichen Glaubenswahrheiten bewegt sich die erstere mit voller Freiheit und Niemand hat das Recht, die theologischen Meinungen bestimmter Zeiten und Männer, und wären es die hervorragendsten als für immer gültig festzustellen. Es ist eine Schwäche unserer Bekenntnißschriften als solcher und namentlich der sonst so ausgezeichneten Concordienformel, daß sie von theologischen Ausführungen sich nicht ganz frei gehalten haben.“ (ebd., Sp.  519).

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3  Hengstenberg und die Kirche

Hengstenberg unter den Fragen, die in den Bekenntnisschriften nicht hinreichend geklärt seien u. a. die Lehre von den letzten Dingen, von der Höllenfahrt Christi, die Lehre von den Sakramenten und die Lehren von der Kirche, deren Amt und Verfassung. Darüber hinaus sei auch der Gottesdienst in seiner inneren Notwendigkeit „als Ausdruck kirchlicher Andacht und Anbetung nicht vollständig erkannt und das lehrhafte Element in demselben so einseitig betont“ (Sp.  520). Allerdings sieht Hengstenberg die größten kirchlichen Notstände gar nicht im Bereich der Bekenntnisformulierung. Die Hauptsache sei vielmehr „daß die reine Lehre auch gepredigt und namentliche die Sacramentsverwaltung ihr gemäß gehandhabt werde.“ (Sp.  520). Es reiche nicht aus, daß die reine Lehre in den Bekenntnisschriften stehe. Sie müsse verkündigt werden und zwar nicht nur von einzelnen, „sondern einmüthig und einstimmig zu jeder Zeit in allen Kirchen, in allen Schulen, soweit das Gesammtgebiet der Kirche reicht. Einheit muß in der Verkündigung des Wortes Gottes und dem gesammten amtlichen Handeln der Kirche herrschen; sonst werden die Gewissen verwirrt und der Zweck aller kirchlichen Gemeinschaft, daß die Einzelnen alle herankommen zu einerlei Glauben und Erkenntniß des Sohne Gottes, bleibt unerreicht“ (ebd.).

Um die Einheit der Lehre zu gewährleisten, sei aber in der gegenwärtigen Zeit die Stabilität der kirchlichen Institution nötig.119 „Die Reformatoren waren in der Lage, die unveräußerlichen Rechte des Subjects einer falschen kirchlichen Objectivität gegenüber verfechten zu müssen. Wir sind jetzt in der gerade entgegengesetzten.“ (Sp.  521) Nichts sei „zeitgemäßer und nothwendiger, als das Streben nach Ausbau der Kirche und nur dahin wird zu sehen sein, daß diesem Streben in einer Weise genügt werde, wie es der Eigen­ thümlichkeit unserer Kirche gemäß ist. Die Kirche der Deutschen Reformation beabsichtigt nichts anderes zu sein, als die von Irrthümern und Menschsatzungen gereinigte Alt-Katholische Kirche.“ (Sp.  522)

In Hengstenbergs Verteidigung gegen die Mecklenburger Lutheraner tritt somit nicht nur sein Verhältnis zum Bekenntnis und den beiden evangelischen Konfessionen hervor, sondern auch sein ursprünglichstes Interesse: Das von ihm als wahr erkannte Evangelium, die ‚reine reformatorische Lehre‘, sollte nicht nur in einzelnen Grüppchen in oder neben der preußischen Landeskirche zur 119   Vgl. ebd., Sp.  521: „Die reine Lehre, die subjective Frömmigkeit, der persönliche unmittelbare Verkehr mit Christo! – ja freilich wir brauchen nichts weiter, wenn wir das haben. Das aber hält nicht Stand, es verflüchtigt sich ohne feste kirchliche Basis und soll die Evang. Wahrheit als ein Salz in den weitern Lebenskreisen sich erweisen, soll sie als ein wirksames Ferment auch die staatlichen Verhältnisse, die öffentlichen Institutionen des Völkerlebens durchdringen, so muß sie auch den weltlichen Auctoritäten gegenüber mit Kraft und Nachdruck überall sich geltend zu machen wissen, und das wird nur da möglich sein, wo sie von derjenigen Auctorität vertreten wird, die der Herr selber zu diesem Zwecke gesetzt hat. Diese Auctorität ist die Kirche.“

3.3  Die preußische Union

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Geltung kommen, sondern fest mit der ganzen kirchlichen Institution verbunden werden und hier institutionellen Rückhalt finden. Darauf kam es bei der Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse an. So stellte sich die Frage, wie sich dieses Interesse unter den Bedingungen der Unionskirche am effektivsten erreichen ließe. Der Lutheraner Preußens sei, so entgegnete Hengstenberg den Mecklenburgern, „in ‚Preußische Verhältnisse‘ gestellt“ (Sp.  523). Es sei durchaus nicht seine Sache, „blind mit dem Kopfe durchzugehen und ohne Rücksicht auf concrete Verhältnisse und Bedürfnisse sein Verhalten nach bloßen Theorieen zu regeln“ (ebd.). Wie war aber stattdessen vorzugehen? Wie verband sich Hengstenbergs Vorstellung von Bekenntnisbindung mit den in Preußen vorgegebenen Verhältnissen? Damit kommt die eigentliche Gretchenfrage in den Blick: Wie hielt es Hengstenberg mit der preußischen Union?

3.3  Die preußische Union 3.3.1  Die Grundsatzerklärung von 1844 Ernst Ludwig von Gerlach bezeichnete einmal in der ihm eigenen scharfsinnigen Weise die Union als „Achillesferse“ der Evangelischen Kirchenzeitung. Viele haben ihm dieses Urteil nachgesprochen.120 Auch Hengstenberg selbst gestand ihm schließlich einen Wahrheitsgehalt zu, allerdings nicht weil er sein eigenes Verhältnis zur Union als problematisch empfunden hätte. Als Achillesferse der Kirchenzeitung empfand Hengstenberg die Union deshalb, weil das Programm der EKZ, das zwischen konfessioneller Eigenart und der Gemeinsamkeit aller wahrhaft reformatorischen Kräfte vermitteln wollte, von vielen nicht als Pro­gramm, sondern als Schwäche und Unentschlossenheit wahrgenommen wurde. Von beiden Seiten trat man gegen die Ferse: Den entschiedenen Lutheranern war es unverständlich, wie man Lutheraner in einer dem Bekenntnis nach nicht eindeutig lutherischen Kirche sein konnte. Das galt nicht nur für die Mecklenburger; auch der Leipziger Kahnis warf Hengstenberg vor, er sei „ein Lutheraner ohne eine lutherische Gemeinde und Kirche“121. Den entschiedenen Unionsfreunden war es genauso unverständlich, warum jemand konfessionelle Eigenheiten und selbst unterschiedliche Bekenntnisschriften innerhalb der Union bewahren wollte. Hengstenberg sei „nie mit Ernst“, so der

120

  Hengstenberg selbst erwähnt im Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  48, daß die Formulierung von Gerlach stammt; verwendet wird sie z. B. von Schwarz Theologie1, 82, Anm.; Kahnis, Grundwahrheiten, 67. 121   Kahnis, Grundwahrheiten, 24; ebd., 33, bietet Kahnis sein eigenes Bild von der Union: „Die preußische Union kommt mir wie eine unglückliche Ehe vor, in welcher zwei Menschen, die zur Freundschaft, aber nicht zur Ehe bestimmt waren, sich unauf hörlich zanken.“

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3  Hengstenberg und die Kirche

junge Albrecht Ritschl, „dem Gedanken der Union und deren richtiger Vollziehung nachgegangen“122 . Beide Seiten beobachteten ganz richtig, daß die Unionsfrage bei Hengstenberg nicht den Stellenwert einnahm, den sie bei den entschiedenen Unionsfreunden oder -gegnern hatte. Hengstenberg gestand offen ein, daß „die Unionsfrage nicht die eigentliche Lebensfrage der Kirche seyn [kann]“123. Darum hat er sich, wie bereits erwähnt, lange Zeit nicht mit ihr beschäftigt. Erst die schlesischen Lutheraner und ihr Bruch mit der Unionskirche zwangen ihn zu Stellungnahmen. Jedoch waren diese Stellungnahmen zunächst nur auf die Beurteilung des Verhältnisses zwischen den beiden Konfessionen gerichtet. Grundsätzliche Erwägungen über die Rechtmäßigkeit oder Notwendigkeit der preußischen Union aus der Feder Hengstenbergs sucht man lange vergeblich. Das kann nicht daran liegen, daß er sich an die bei der Gründung der EKZ gegenüber den Mitarbeitern ausgesprochene Empfehlung, „die jetzt so überwiegend viel besprochenen Gegenstände der äußeren Kirchenverfassung und des Cultus“124 möglichst nicht zu berühren, immer noch gebunden sah. Den opponierenden Lutheranern gestattete er nämlich schon früh, ebendies zu tun. Schwerer wog demgegenüber, daß ihm 1834 durch Kabinettordre verboten wurde, Artikel zum Thema Union und Agende zu veröffentlichen.125 Allerdings wurde das Verbot nicht streng eingehalten. Immerhin erschienen nach 1834 nur noch wenige Angriffe aus der Feder der Anhänger Scheibels.126 Daß Hengstenberg auch nach Scheibels Auftreten zunächst keine Stellungnahme zur Union abgab, hing in erster Linie mit seiner eigenen Position zusammen: Er war grundsätzlich unionsfreundlich eingestellt und sah es als unnötig an, neue Grabenkämpfe zwischen Lutheranern und Reformierten hervorzurufen. Andererseits begrüßte er die Entschiedenheit, mit der die Breslauer Luthe122   Ritschl, Hengstenberg, 64 f. Ritschl geht Hengstenbergs Äußerungen zur Unionsthematik nach, ohne zu fragen, welches Verständnis von Kirchengemeinschaft und Bekenntnis ihnen zugrunde liegen. Daß für Hengstenberg „der Gedanke und die Vollziehung der Union“ in äußerlicher Weise nicht notwendig aus dem „Bekenntniß zu Einer heiligen allgemeinen christlichen Kirche“ (ebd., 65) hervorging, war ihm unverständlich. Darum sah er nur Unklarheiten und Widersprüche in Hengstenbergs Haltung. 123   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  18. – Ritschl, Hengstenberg, 61 kritisierte daher aus seiner Warte zu Recht, daß für Hengstenberg nicht „Union an sich etwas Gutes sei“, sondern „blos als Mitttel zu einem anderen Zwecke“. 124   So in dem ersten Rundschreiben an die Mitarbeiter: Bachmann 2, Anlage, 6 (Nr.  2a). 125   Siehe dazu unten 4.2.1. 126   Hengstenberg begründete diese Entwicklung im Vorwort, EKZ 16 (1835), Sp.  14 f. damit, daß die schlesischen Lutheraner ihre Sichtweise inzwischen ausführlich dargestellt hätten und keine neuen Gesichtpunkte mehr vorgetragen würden; die verhängte Zensur verschwieg er – sie wäre wahrscheinlich Wasser auf die Mühlen der Lutheraner gewesen –, jedoch gab er den Wissenden einen Hinweis, indem er den Verdacht, aus Menschenfurcht zu handeln, ausdrücklich zurückwies (ebd., Sp.  2 f.).

3.3  Die preußische Union

337

raner für die Reinheit der Lehre eintraten.127 Zwar lehnte er ihre separatistischen Neigungen entschieden ab, er wollte aber dennoch ihre Stimme in der EKZ zu Wort kommen lassen. Hätte er schon früher für die Union Position ergriffen, wäre diese Möglichkeit verbaut gewesen. Erst als die Angriffe der Anhänger Scheibels immer schärfer wurden und reformierte Leser der EKZ Hengstenberg aufforderten, die böswilligen Attacken zu unterbinden, sah er sich gezwungen, Position zu ergreifen. Noch 1833, also vor dem durch den König verhängten Druckverbot, gab er eine kurze Erklärung zur ‚Breslauer Angelegenheit‘ ab.128 Doch handelte es sich dabei immer noch nicht um eine differenzierte Stellungnahme zur preußischen Union. Vielmehr erklärte der Herausgeber: „Die Redaction der Ev. K. Z war von Anfang an entschieden für die Union.“ (Sp.  653) Das zeige schon ihr Titel. Sie wolle der einen, die beiden bisher getrennten Kirchen in sich vereinigenden evangelischen Kirche dienen, „welche auch abgesehen von jeder äußerlichen Union durch die Einheit der beiden früher getrennten Kirchen angehörenden Gläubigen im Geiste vorhanden ist“ (ebd.). Eine Verteidigung der äußeren Union habe die EKZ aber bisher unterlassen. Man habe vielmehr gehofft, so für die Union wirken zu können, daß man die „geistige Einheit beider Confessionen“ voraussetze und die Differenzpunkte zwischen beiden Konfessionen nicht berühre – nicht weil man die Differenzpunkte für unwichtig halte, sondern weil man davon ausgegangen sei, daß sie sich sachlicher und zielführender diskutieren lassen würden, wenn erst einmal die „äußere Scheidewand“ gesunken und die „Einheit im Geiste“ gewachsen sei (ebd.). Die Stellungnahme zeigt, daß Hengstenberg immer noch kein Interesse hatte, über die preußische Union in concreto zu reden. Im Vordergrund stand nach wie vor die „geistliche Union“. Auf der anderen Seite gestand er nun aber offen ein, daß für ihn die unter den beiden Konfessionen strittigen Punkte, „obgleich nicht unwichtig, doch nicht diejenige Bedeutung haben, die ihnen früher in der Hitze des Streites und in dem Bestreben, die äußere Trennung dadurch zu legitimiren [...] beigelegt wurden“ (ebd.). Damit war klar, daß er sich nicht der Ansicht der Breslauer Lutheraner anschließen wollte. Allerdings war die Di­

127   Hengstenberg, Breslauer Angelegenheit, EKZ 13 (1833), Sp.  653: „Grade das halten wir für den guten Kern bei unseren Schlesischen Brüdern, für den Segen, den man nicht verderben darf, für dasjenige, was der Herr durch sie uns sagen will, daß sie so sehr auf jene Durchbildung in der Lehre dringen, ohne daß wir verkennen, wie sie in der Praxis einseitig dies Dringen nur auf gewisse Lehrpunkte beschränken, und denen, die nur in diesen mit ihnen übereinstimmen, gern die Abweichung in anderen auch wichtigeren nachsehen, und dann wie sie der Liebe im Dulden und Tragen, und der freudigen Anerkennung der Einheit in der Hauptsache ermangeln.“ 128   Hengstenberg, Breslauer Angelegenheit, EKZ 13 (1833), Sp.  652–655, Nr.  82 – hieraus die folgenden Belege im Fließtext; ähnliche Ausführungen finden sich auch noch einige Jahre später in: Ders., Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  650–655; vgl. oben bei Anm.  77.

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3  Hengstenberg und die Kirche

stanzierung immer noch von der Betonung der Gemeinsamkeit mit den „irrenden Brüdern“ getragen.129 Die Ausführungen waren alles in allem weit davon entfernt, entschieden für die preußische Union Stellung zu nehmen. Hengstenberg war in der schwierigen Position, daß er sich nicht völlig von den die Union bekämpfenden Lutheranern trennen und dennoch die Union – zumindest als geistliche Realität – festhalten wollte. Eine wichtige Rolle spielte zusätzlich, daß er nicht mit solchen Gegnern Scheibels an einem Strang ziehen wollte, die nicht nur die Irrtümer der Breslauer, sondern zugleich die Bekenntnisinhalte angriffen.130 Ebensowenig wollte er mit denen in ein Horn stoßen, welche die schlesischen Lutheraner als Revolutionäre und Feinde der Obrigkeit darzustellen versuchten; 131 er hob vielmehr an Scheibels Leuten hervor, daß sie „den Gegensatz gegen allen schlechten Liberalismus mit uns stets getheilt haben und noch theilen“132 . Dieser Punkt sollte auch in der Folgezeit sehr entscheidend sein: Bei aller Uneinigkeit in der Frage der Union sah sich Hengstenberg geistlich und geistig den Lutheranern außerhalb der Unionskirche immer enger verbunden als den Liberalen innerhalb ihrer.133 Es war also das besondere Verhältnis zu Scheibel, seinen Anhängern und vor allem auch zu dessen landeskirchlichen Sympathisanten, das Hengstenberg lange davon abhielt, in der Unionsfrage Stellung zu beziehen, auch dann noch, als er sich bereits öffentlich von den schlesischen Lutheranern distanziert und ihre Äußerungen aus der EKZ verbannt hatte. Hier zeigte sich sehr deutlich, daß er die geistliche Union der äußeren Union vorordnete. So kam es, daß der Herausgeber der EKZ erst 1844 eine „offene Erklärung in der Unionssache“134 ausgehen ließ. Und wie man es nach dem bisher Dargestellten nicht anders erwarten kann, war seine Stellungnahme weder ein ungeteiltes Ja noch ein ungeteiltes Nein. Als Anlaß für seine Stellungnahme gab Hengstenberg an, daß die „antiunionistische Gesinnung“ (Sp.  1) in raschem Fortschritt begriffen sei. Damit bewies er sein Gespür für die kommende Entwicklung, denn der eigentliche Konfessionalisierungsschub fiel erst in die zweite Hälfte des Jahrzehnts.135 Die Besonderheit von Hengstenbergs Erklärung liegt nun 129   Hengstenberg, Breslauer Angelegenheit, EKZ 13 (1833), Sp.  655: „Nichts soll uns je bewegen in unseren irrenden Brüdern bei allem Schmerze über ihre Verirrung Brüder zu verkennen.“ 130   Vgl. Ders., Vorwort, EKZ 16 (1835), Sp.  17.21 f. 131   Dennoch wurde ihm dies von Scheibel zum Vorwurf gemacht, s. Klän, Zehn Briefe, 96. 132   Ders., Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  654. 133   Im Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  2 schreibt Hengstenberg in dieser Sache von sich, „er kämpfte lieber wie bisher gegen die Kananiter im Lande als gegen die zum Theil ihm engverbundenen Brüder“. 134   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  1–40, Nr.  1–5, hier: Sp.  2 . – Darauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 135   Vgl. Cochlovius, Bekenntnis, 114–139; Nachtigall, Kirchenunion, 97–109; Wangemann, Bücher 3, 328–387.403–446.

3.3  Die preußische Union

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darin, daß er die preußische Union als eine in der Entwicklung befindliche Angelegenheit beschrieb, deren Ausgang noch offen sei. Die Verteidiger der Union könnten sich darum nicht auf den Rechtsstandpunkt stellen und ein Vorantreiben der Union mit äußeren Mitteln forcieren. Andererseits gebe es auch für ihre Gegner keine Ursache, die Union zu sprengen. Es gelte vielmehr „vorläufig den Standpunkt eines ruhigen Beobachters einzunehmen“ (Sp.  18) und die weitere Entwicklung abzuwarten. Hengstenberg war nach wie vor der Überzeugung, daß nur die innere Union eine äußere Union hervorbringen könne. Daß die innere Union voranschreiten würde, hielt Hengstenberg zwar für sehr wahrscheinlich, aber für keineswegs gewiß (vgl. Sp.  15.17). Es spricht alles dafür, daß Hengstenberg tatsächlich keine klare Vorstellung davon hatte, ob die innere Zustimmung zur Union und die Gemeinschaft unter den beiden Konfessionen auf die Dauer eher zu- oder abnehmen würde. Da er die Gestaltung der äußeren Union aber davon abhängig machte, blieb ihm nichts anderes übrig als den Beobachterstandpunkt einzunehmen. Das fiel ihm nicht schwer, denn das Heil der Kirche entschied sich in seinen Augen nicht an der Unionsfrage. Was aber führte Hengstenberg zu der Feststellung, daß die Preußische Union noch nicht „zum vollen Bestehen gelangt“ (Sp.  3) und „nicht als eine vollzogene zu betrachten sey“ (Sp.  4)?136 Im Zentrum steht die These: „Die Union ist ein Faktum, sie ist [...] im Besitze.“ (Sp.  15). Der Besitz aber sei noch kein Recht, vielmehr bestehe nur die Aussicht, „daß der Besitz sich dereinst zum Rechte erheben werde“ (Sp.  16). Als Begründung führt Hengstenberg an, daß es sich bei der Einführung der Union um eine Änderung des Lehrbegriffes der Konfessionen gehandelt habe. Dabei unterscheidet er den Lehrbegriff allerdings deutlich vom Bekenntnis: Die strittigen Punkte zwischen Lutheranern und Reformierten sind für ihn, wie oben dargelegt, nicht im strengen Sinne Bekenntnisinhalt. Sie spielen keine Rolle für den Glauben, wohl aber für die Lehrgestalt der jeweiligen Konfession. So sei es Bestandteil des Lehrbegriffs – insbesondere der lutherischen Kirche – gewesen, daß sich die eine Konfession gegenüber der anderen exklusiv verhalten habe, den Unterscheidungslehren also kirchentrennende Bedeutung zugemessen worden sei. Die preußische Union habe aber nun den Lehrbegriff in diesem Punkt faktisch verändert, indem sie davon ausging, daß es keine kirchentrennenden Unterschiede mehr gebe. Von seinen Grundvoraussetzungen hat Heng­ stenberg gar nichts gegen diese Veränderung des Lehrbegriffs einzuwenden, im Gegenteil: Auch er selbst hielt die Betonung der Differenzpunkte in der Vergangenheit für übertrieben. Ebensowenig machte er es zur Voraussetzung der Union, daß man einen „über den beiden Confessionen liegenden dogmatischen Standpunkt“ (Sp.  3) auffinden müsse – es genüge vielmehr festzustellen, daß die 136

  Diese Aussagen widersprachen implizit der Sicht Eylerts, der die Union in Preußen als fait accompli beschrieben hatte, vgl. Ritschl, Hengstenberg, 53.

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3  Hengstenberg und die Kirche

Differenzpunkte nicht so schwerwiegend seien, als daß sie den zur Kirchengemeinschaft notwendigen und tatsächlich vorhandenen Grundkonsens in Frage stellen könnten. Jedoch müsse dies in einem dem Wesen der Kirche entsprechenden Verfahren festgestellt werden, und genau hier sieht Hengstenberg das Defizit der preußischen Union. Sie habe die rechtlichen Bedingungen für eine Veränderung des Lehrbegriffes mißachtet. Dafür wäre nämlich dreierlei notwendig gewesen: Erstens, daß „die ganze Kirche gehört werde und ihre Zustimmung ertheile“ (Sp.  5), was in Form einer aus Geistlichen und Laien zusammengesetzten Synode hätte geschehen müssen. Zweitens hätte gezeigt werden müssen, daß sich die Veränderung des Lehrbegriffes der intensiven Auseinandersetzung mit der Schrift verdankt,137 und drittens dürften nur diejenigen an der Modifikation des Lehrbegriffes mitwirken, die mit dem Wesentlichen des Bekenntnisses übereinstimmten.138 Diese Bedingungen seien bei der Einführung der Union 1817 nicht beachtet worden. Der König alleine dürfe hingegen keine Veränderung des Lehrbegriffes vornehmen und habe es auch gar nicht beabsichtigt; er habe die Union nicht befohlen, sondern nur dazu aufgerufen und es der Kirche überlassen, sich den Aufruf anzueignen. Bis heute aber – das ist Hengstenbergs oben genannte These – sei dieser Aneignungsprozeß nicht rechtmäßig, also unter Beachtung der genannten Bedingungen vollzogen worden. Darum dürfe man den Lutheranern, die sich nun gegen die Union stellten, nicht mit Rechtsmitteln entgegen­treten. Man müsse ihnen vielmehr entgegenkommen,139 um sie auf diese Weise in der Union zu halten – in der Hoffnung, daß dadurch die geistliche Union als unverzichtbare Voraussetzung der äußeren Union weiter wachse. Aber warum, so könnte man fragen, holt man das Versäumte nicht einfach nach und beseitigt man die Geburtsfehler nicht? Man kann das tun, antwortet Hengstenberg (Sp.  16), allerdings – und das ist ein ganz zentraler Punkt seiner Argumentation – nicht jetzt. Denn „jetzt ist alles noch in der Gährung und Entwickelung begriffen, und unsere Aufgabe ist die, heranzuwachsen zum vollen Mannesalter, nicht die, Beschlüsse zu fassen, deren die mündig gewordene Kirche dereinst spotten würde.“ (Sp 14). Noch entbehre die Kirche nämlich 137

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  11: Die evangelische Kirche könne „keine Modifikation ihres Lehrbe­griffes als legitim anerkennen, die sich nicht mit der heiligen Schrift gründlich auseinandersetzt, nicht nachgewiesen hat, daß sie eben der unbedingten Unterwerfung unter die heilige Schrift ihren Ursprung verdankt.“ 138   Ebd., Sp.  12 werden zu den Grundlehren neben den altkirchlichen Bekenntnissen wiederum „die Lehre von der heiligen Schrift als alleiniger Quelle und Norm des Glaubens, und von der Rechtfertigung allein durch das Verdienst Christi“ (Sp.  12) gezählt. 139   Ebd., Sp.  14 f. nennt Hengstenberg die s.E. notwendigen Konzessionen: 1. Zulassung der alten konfessionellen Tauf- und Abendmahlsagenden; 2. Gestattung der lutherischen Form der Abendmahlsausteilung; 3. Auf Wunsch Gewährung eines Geistlichen mit entsprechendem Lehrbegriff; 4. Abschaffung der von den Kandidaten verlangten Beitrittserklärung zur Union.

3.3  Die preußische Union

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„derjenigen Organisation, welche zur Gewinnung eines auch nur äußerlichen Beschlusses erforderlich ist“, noch fehle es „gar sehr an dem Geiste, der solche Organisation allein möglich macht“ (Sp.  13), noch gebe es keine „gründliche Erörterung des Verhältnisses der Union zur heiligen Schrift“ und noch könne man nicht von der „Übereinstimmung der Diener und Glieder der Kirche in dem Wesentlichen ihres Lehrbegriffes“ ausgehen (Sp.  14). Kurz: Die evangelische Kirche müsse erst geistlich wachsen und zu ihren Grundwahrheiten zurückfinden, dann erst ließen sich die für die Rechtmäßigkeit der Union notwendigen Maßnahmen ergreifen. Momentan hält es Hengstenberg für aussichtslos, eine Synode zu berufen und über die entsprechenden Schritte zu beraten (vgl. dazu unten 3.5.3). Nur in einem Punkt erscheint Hengstenberg eine sofortige Festlegung unverzichtbar: bei der Frage des Bekenntnisses. Die zweideutige Haltung der obersten Kirchenbehörde in dieser Frage nähre nämlich die Ablehnung gegen die Union (Sp.  19). Es genüge nicht, mit der Kabinettsordre von 1834 zu beteuern,140 daß die Autorität der Bekenntnisschriften der beiden Konfessionen durch die Union nicht aufgehoben werde, man müsse die Bekennt­nis­schriften auch benennen. Vor allem aber solle man sich ausdrücklich zur Confessio Augustana von 1530 als dem gemeinsamen Symbol bekennen: „Die unveränderte Augsburgische Confession kann ohne alle Beeinträchtigung der Reformirten als Symbol der unirt Evangelischen Kirche in ihrem gegenwärtigen provisorischen Zustande proklamirt werden.“ (Sp.  20). Den Konsens beider Konfessionen, der nach Hengstenbergs Ansicht auf Bekenntnisebene faktisch bereits besteht, sieht er demnach in dem unveränderten Augsburger Bekenntnis von 1530 ausgesprochen. Bei der CA handelt es sich in Hengstenbergs Augen um ein wirkliches Bekenntnis, um eine wirkliche Äußerung des Glaubens im Unterschied zu den lehrhaften Formulierungen der Konkordienformel. Die innerevangelischen Unterscheidungslehren spielten in ihr keine Rolle. Die Abendmahlsaussagen in CA 10 seien selbstverständlich auch für die Reformierten tragbar, was sich allein daran zeige, daß Calvin selbst die Invariata unterschrieben habe (Sp.  20 f.). Das Vorwort von 1844 bildet insofern einen Einschnitt, als Hengstenberg das, was er früher auf unterschiedlichste Weise als ‚Grundwahrheiten‘ oder ‚das Wesentliche des Bekenntnisses‘ oder schlicht als ‚evangelische Lehre‘ bezeichnet hatte, nun mit der Confessio Augustana identifizierte und öffentlich für die Geltung dieses historischen Bekenntnisses eintrat. Dabei ging es ihm aber nicht um konfessionelle Abgrenzung, sondern – umgekehrt – um die Benennung des für die Union als Kirche unverzichtbaren Konsenses.141 Da es sich bei der CA 140   Vgl. dazu Nixdorf, Separation, 231 f.; Wangemann, Bücher 2, 27–51; zur Vorgeschichte Deuschle, Erweckung, 96–107. 141   Es muß hier nicht untersucht werden, ob die Invariata tatsächlich von beiden Konfessionen gleichermaßen anerkannt werden kann, und ob nicht die Anerkennung von CA 10 durch die Reformierten eine Zweideutigkeit in das Bekenntnis hineinträgt, die nach luthe-

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3  Hengstenberg und die Kirche

um ein geltendes Bekenntnis handele, sei nichts anderes nötig, als daß die Kirchenbehörde ihre Gültigkeit feststelle. Daneben könne man auch die konfessionellen Sonderbekenntnisse benennen, ihre Geltung aber offenlassen, bis die notwendigen Voraussetzungen für eine Änderung des Lehrbegriffes gegeben seien (Sp.  21). Doch selbst wenn das Kirchenregiment nicht vorangehe, sollten sich alle, die der CA ganz oder auch nur in ihrem Kern, der Rechtfertigungslehre, zustimmten, vereinigen: „Also die Augsburgische Confession vom Jahre 1530. Daß diese in der Evangelischen Kirche Preußens von neuem als Panier hoch aufgepflanzt werde, dahin zu wirken mögen die Gegner und die Freunde der Union, die für jetzt noch gar nicht Ursache haben, verschiedene Wege einzuschlagen, die noch geraume Zeit einträchtig zusammenwohnen können, mögen eben so diejenigen, welche diesem Bekenntnis in allen Punkten und diejenigen, welche ihm nur in dem Artikel der stehenden und fallenden Kirche beistimmen, sich vereinigen!“142

Hengstenbergs erste ausführliche Stellungnahme zur preußischen Union ist grundlegend für alle seine Äußerungen: Er ist weder ein vorbehaltloser Freund noch ein entschiedener Gegner der Union. Charakteristisch ist sein Bemühen, die vorfindliche Gestalt der Union möglichst offen und unabgeschlossen zu beschreiben – mit dem Ziel, das zunehmende Bewußtsein konfessioneller Eigenheit in die Landeskirche zu integrieren. Dabei bestimmte ihn die Furcht vor Separation, vor Separation zumal derjenigen Kräfte, bei denen das ‚neue Erwachen‘ der christlich-reformatorischen Lehre seiner Ansicht nach am weitesten vorangeschritten war. Maßgeblich war also wiederum Hengstenbergs ursprüngliches Anliegen: Die Errungenschaften der Erweckungsbewegung sollten in der vorhandenen Landeskirche zur Geltung kommen. Die Union war nur so lange gut, als sie dieses Anliegen zu fördern vermochte. Daß Hengstenberg in diesem Zusammenhang die CA als Unionssymbol in Vorschlag brachte, ist im preußischen Kontext alles andere als überraschend. Für die Auffassung, daß die Augustana als verbindendes Bekenntnis der beiden evangelischen Konfessionen zu betrachten sei, gab es in Preußen eine lange Tradition, und Ernst Wilhelm Sartorius hatte bereits im Zusammenhang des Augustanajubiläums an sie angeknüpft.143 Darüber hinaus lassen sich aber auch biographische Gründe für Hengstenbergs Ansicht anführen. Hengstenberg hatte in Basel über Neanders und Tholucks Werke einen Zugang zur heiligen rischer Sicht auch eine Änderung des Lehrbegriffes bedeuten würde. Siehe zur bis heute andauernden Diskussion um die Geltung der CA in den reformierten Kirchen Deutschlands zuletzt Rohls, Confessio Augustana. 142   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  23. – Hengstenberg und seinen Mitstreitern gelang es 1854, dieser Perspektive auf dem Kirchentag Geltung zu verschaffen (vgl. dazu unten Anm.  231). In diesem Zusammenhang bekräftigte er seine Sicht von 1844: Ders., Augsburgische Konfession, EKZ 54 (1854), 105–117, Nr.  11 f. 143   S. Mehlhausen, Wirkungsgeschichte, 95–97; vgl. Sartorius, Augsburgische Confession, EKZ 6 (1830), 377–387, Nr.  48 f.

3.3  Die preußische Union

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Schrift gefunden. Schon bald sei ihm aber, wie er verschiedentlich betont, auch die Übereinstimmung des reformatorischen Bekenntnisses mit den Grundwahrheit der Schrift aufgegangen: „Der Herausgeber ist sich bewußt, auf die freieste und selbständigste Weise, durch Schrift und Erfahrung, ohne irgend eine menschliche Auctorität, die er in Glaubenssachen verabscheut, zu seinem Glauben gelangt zu seyn. [...] Den Ausdruck dieses seines Glaubens fand der Herausgeber in dem Lehrbegriffe unserer Kirche wieder, namentlich in der Augsburgischen Confession, welche sich sorgfältig jeder Vermengung des Glaubens und der Theologie enthält. Die Wahrnehmung dieser seiner freien Uebereinstimmung mit der Kirche trieb den Herausg., sich dieser Kirche mit inniger Liebe anzuschließen, voll Dankes gegen den Herrn, daß er das Licht seiner Wahrheit hier, nicht wie früher durch alle Jahrhunderte in einzelnen Individuen oder kleinen Secten, sondern in einer großen Gemeinschaft so hell und klar [hat] scheinen lassen.“144

Die für Hengstenbergs Selbstverständnis charakteristischen Zeilen aus dem Jahr 1831 werfen auch ein Licht auf seine Vorstellung von der kirchlichen Entwicklung: Hengstenberg setzte sich deshalb so nachdrücklich für die Verbindung des Erweckungschristentums mit der verfaßten Kirche ein, weil er zur Überzeugung gekommen war, daß der von den Erweckten vertretene Glaube nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit dem Grundbekenntnis der Reformation, der Confessio Augustana, übereinstimmte. Solange dieses Bekenntnis in der „großen Gemeinschaft“ in Geltung stand, sah er dort und nicht in „kleinen Secten“ ihren legitimen Platz. Die „große Gemeinschaft“ in Preußen war aber nun einmal die Unionskirche.

3.3.2  Die Herausforderungen: Bekenntnisfreie Union und Zunahme der Separation Nach 1844 hat sich Hengstenberg häufig und regelmäßig zur preußischen Union und ihrer Entwicklung zu Wort gemeldet, dabei aber immer wieder auf seine Grundsatzerklärung von 1844 Bezug genommen. Das in ihr aufgestellte Postulat von der Unabgeschlossenheit der Union erlaubte es ihm, auf neue Ent144   Hengstenberg, Herr Dr. Steudel, EKZ 8 (1831), Sp.  397. Aus größerer Distanz räumt Hengstenberg der CA einen höheren Stellenwert für seine Glaubensentwicklung ein, betont aber gleichwohl die freie Aneignung des Bekenntnisses, vgl. Ders., Erklärung, EKZ 37 (1845), Sp.  782 (vgl. dazu oben bei Anm.  114): „Der Herausgeber erinnert sich noch lebhaft, was ihm die Augsburgische Confession geworden ist, als sie ihm in der Zeit eines werdenden Glaubens in die Hände kam, der sich in die heilige Schrift bei dem besten Willen nicht zu finden wußte, wie sie ihm zuerst einen Ausweg zeigte aus dem Labyrinthe mannigfacher, sich durchkreuzender und scheinbar sich widersprechender Vorstellungen, erinnert sich eben so lebhaft, wie sein Glaube an den Liedern der Kirche in den Zeiten schwerer Kämpfe und Anfechtungen gewachsen ist. Gewiß nur wenige unter uns, wenn überhaupt welche, wären ohne die Zeugnisse der Kirche zu der Klarheit und Bestimmtheit des Glaubens der Kirche gelangt. Aber eine bloß äußere Unterwerfung unter die Satzungen der Kirche hat bei keinem Einzigen stattgefunden, den wir als den unsrigen anerkennen.“

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3  Hengstenberg und die Kirche

wicklungen flexibel zu reagieren. Anlaß dazu gaben die kirchenpolitischen Entwicklungen in der Mitte der 40er Jahre, mit denen Hengstenberg zwei Gefahren heraufziehen sah, nämlich erstens die Umgestaltung der preußischen Landeskirche zu einer bekenntnisfreien Union und zweitens eine weitere Zunahme der lutherischen Separation. Zunächst zum Ersten: Hengstenberg hatte in seiner Stellungnahme von 1844 darauf hingewiesen, daß man bei der Einführung der Union eine Änderung des Lehrbegriffes vorgenommen habe, ohne die hierfür notwendigen Bedingungen einzuhalten. Im Vorwort von 1847 gab er zu, daß ihm diese „wahrhaft bedenkliche Seite der Union, die Änderung des Bekenntnisses der Kirche, wenn auch in untergeordneten Punkten, mit leichtfertiger Hinwegsetzung über die Bedingungen, welche die Kirche selbst für solchen Fall vorschreibt“145 nicht von Anfang an klar gewesen sei. Man habe zunächst vor allem die positiven Seiten der Union wahrgenommen; zudem habe man sich der Opposition gegen die Union nicht anschließen können, weil sie – im Unterschied zur Linie der EKZ – davon ausgegangen sei, daß den innerevangelischen Differenzpunkten fundamentale Bedeutung zuerkannt werden müßte.146 Mehr und mehr sei ihm, dem Herausgeber, aber klar geworden, „daß die Union eine Nachtseite hat. Sie hat ein Verfahren angebahnt, welches, weiter fortgeführt, den Ruin der Kirche herbeiführen und alle ihre treuen Glieder aus ihr heraustreiben muß. In dem Aufwallen einer unklaren und umsichtslosen, wenn auch aus christlichem Grunde hervorquellenden Begeisterung, welche der Indifferentismus gar wohl zu seinen Zwecken zu nutzen verstand, hat sie ohne göttliche und menschliche Berechtigung die Gränzsteine der Kirche verrückt.“147

Der Grund, warum Hengstenberg 1847 nun noch einmal und wesentlich schärfer auf das 1844 bereits genannte Defizit aufmerksam machte, ist vor allem in einem Ereignis zu suchen: der preußischen Generalsynode von 1846. Sie stellt für Hengstenbergs Entwicklung einen Meilenstein dar. Denn in ihr zeigte sich seiner Ansicht nach die bereits zuvor wahrgenommene „Nachtseite“ der Union in unverkennbarer Deutlichkeit. Die Einberufung der Generalsynode war Teil des Kirchenreformprogramms Friedrich Wilhelms IV. Sie sollte die Kirchenverfassungsfrage vorantreiben und auf diese Weise die angestrebte größere Selbständigkeit der Kirche fördern helfen.148 Die Diskussion von Union und Bekenntnisverpflichtung sollten dabei weder nach dem Willen des Königs noch nach der Ansicht von Kultusminister 145

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 40 (1847), Sp.  6.   Ebd., Sp.  5 f. 147   Ebd. Sp.  8. 148   Allerdings bleibt unklar, was sich der König 1845 genau erhoffte, nachdem er schon vor der Generalsynode hatte erkennen müssen, daß seine eigenen Kirchenverfassungsideale auf starken Widerspruch, selbst unter seinen treuesten Anhängern, gestoßen waren, vgl. Friedrich, Eichhorn, 280–288. 146

3.3  Die preußische Union

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Eichhorn den ersten Platz einnehmen,149 doch gerade diese Fragen entwickelten sich immer mehr zum „Hauptthema der Synode“150. Das war auch alles andere als verwunderlich: Die Zunahme der konfessionellen Bestrebungen in der Landeskirche, die Auseinandersetzungen um die Lichtfreunde und nicht zuletzt die gegen die ‚Partei der EKZ‘ gerichteten Erklärungen aus dem Jahr 1845 – all dies wies darauf hin, daß es in der Kirche gärte und daß dabei die Lehrfragen eine ganz zentrale Rolle spielten. Daran konnte die Synode nicht vorbeigehen. Sie betrachtete darum die Behandlung der Lehrunion neben der Lösung der Verfassungsfrage als eine vordringliche Aufgabe und widmete ihr ausführliche Debatten.151 Nach Hengstenbergs Ansicht stand die Synode von Anfang an unter einem ungünstigen Stern, denn sie erfüllte in keiner Weise die Anforderungen an eine entscheidungsfähige Synode, wie er sie 1844 vorgetragen hatte.152 Er lehnte die Synode daher ab und bestritt ihre lehramtliche Befugnis, lange bevor ihre Zusammensetzung bekannt geworden war.153 Doch noch etwas anderes warf einen Schatten auf die Synode: 1844 hatten bereits Provinzialsynoden in Preußen stattgefunden.154 Auch auf der Bran­denburgischen Provinzialsynode, die Hengstenberg mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte hatte, war neben der Verfassungsfrage bereits die Geltung der Bekenntnisse diskutiert worden. Dort waren die Schleiermacherschüler in Übereinstimmung mit ihrem Lehrer als Gegner jeder Bekennt­nisverpflichtung aufgetreten.155 Gleichzeitig war der Antrag auf Verurteilung der ‚prote­stantischen Freunde‘ zurückgewiesen worden.156 Nicht ganz zu Unrecht erkannte Hengstenberg darin das Ansinnen Schleiermachers wieder, innerhalb der Kirche möglichst viel Raum zu machen, jetzt aber mit 149

  Vgl. zu Eichhorns Vorstellungen Friedrich, Eichhorn, 274–279.   Ebd., 310. 151   Vgl. zur Generalsynode Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen; Mehlhausen, Friedrich Wilhelm IV., 264–267 und die ausführliche, leider nicht sehr übersichtliche Darstellung von Friedrich, Eichhorn, 266–385; daneben das Quellenreferat zur Bekenntnisdiskussion bei Wulfmeyer, Hengstenberg, 162–172. 152   Vgl. das Urteil kurz nach der Synode: „[...] die Synode kann nach ihrer Zusammensetzung, der Art ihrer Wahl und als eine bloß berathende, nicht als eine legitime Repräsentation der gesammten Kirche betrachtet werden“ (Hengstenberg, Schlußwort der Redaktion, EKZ 39 [1846], Sp.  662). 153   Gg. Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 349, der hier Hase folgt; richtig dagegen Friedrich, Eichhorn, 289; Kraus, Gerlach, 364. 154   S. Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 344–346 und die stark einseitige Darstellung von Friedrich, Eichhorn, 149–207, in der aber zu Recht auf die Bedeutung des Streites um die Symbolverpflichtung in Schlesien von 1842/43 hingewiesen wird. 155   Vgl. ihre Argumentation in: Protokolle der Provinzial-Synoden, 111–117; die in sich völlig schlüssige Argumentation kann als vorzügliche Bündelung der Auffassung Schleiermachers gelten, vgl. zu Schleiermacher Ohst, Schleiermacher, bes. 158–174. 156   S. Friedrich, Eichhorn, 183–186; umstritten ist, wie der Ausgang der Synode zu werten ist. Im Unterschied zur Provinzialsynode in Sachsen (ebd., 204 f.) kam es schließlich zu keiner klaren Ablehnung der Bekenntnisbindung. 150

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3  Hengstenberg und die Kirche

dem Ziel verbunden, selbst den radikalen rationalistischen Strömungen Platz in ihr zu bieten (vgl. oben 2.2.3). Zwar hatte er schon zuvor erwartet, „daß sich in wichtigen Punkten, namentlich in der Bekenntniß- und Verfassungsfrage, eine Zusammenstimmung der Schleiermacherschen Schule mit dem Rationalismus“ zeigen würde, doch stimmte ihn besorglich, daß sich dies auch für diejenigen Schleiermacherschüler als wahr erwiesen habe, „die sich in vieler Hinsicht der kirchlichen Richtung angeschlossen hatten“.157 Kurz: Er beobachtete ein Zusammengehen der „gläubigen“ Vermittlungstheologen mit den linken Schleiermacherschülern in der Frage der Behandlung der Lichtfreunde. In seinem Votum zu der ‚Erklärung der 87‘ brachte er dies im Herbst 1845 denn auch unumwunden zum Ausdruck (s.o. 2.2.3). Die Bran­denburgische Provinzialsynode nährte daher seine Befürchtungen, daß eine Synode zum jetzigen Zeit­punkt die kirchliche Lehre in zentralen Punkten antasten könnte. Umso mehr blieb er bei seiner Auffassung, daß eine Synode erst dann einzuberufen sei, wenn man davon ausgehen könne, daß ihre Glieder mit dem Wesentlichen des Be­kenntnisses übereinstimmten.158 Die Tatsache, daß die Gegner der Bekenntnisverpflichtung darüber hinaus die Union für ihre Sicht geltend machten,159 entsprach seinem Bild von den bedenklichen Seiten der Union. Allerdings wird gleichzeitig betont, daß die Bekenntnisschwäche nicht der Union an sich anzulasten sei und das illegitime Verfahren bei der Einführung der Union keine Veränderung des Lehrbegriffes sanktionieren könne.160 Am 14. Juli 1846 begannen die Verhandlungen der Generalsynode zur Bekenntnisfrage. Als besonderer Zankapfel entpuppte sich erwartungsgemäß die Ordinationsverpflichtung. Die zuständige Kommission, in der die Unionsfreunde eine Mehrheit hatten,161 legte ein neu formuliertes Ordinationsbekenntnis vor, das sich im Auf bau an das Apostolikum anlehnte, abgesehen davon aber aus einer Kombination von neutestamentlichen Zitaten bestand.162 Nitzsch, der das Bekenntnis vorstellte,163 sprach von „Urworten der apostolischen Predigt“164. Daß es sich bei dem Bekenntnis um eine Neuschöpfung 157

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  44 (beide Zitate).   Ebd., Sp.  45 f. 159   S. Protokolle der Provinzial-Synoden, 116 f. 160   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  29. Außerdem weist er darauf hin, daß durch die mit der Union verbundene Agendenreform die Bekenntnisse überhaupt erst wieder einen Sitz im Leben der Gemeinden bekommen hätten. 161   Außer Nitzsch gehörte ihr mit Sydow auch ein Vertreter der undogmatischen Union sowie zwei erklärte Rationalisten an; die konservative Richtung – sieht man einmal von Julius Müller als einem erklärten Verfechter der Union ab – war weder mit Theologen noch mit Juristen vertreten; es ist darum nicht angemessen, ihre Besetzung als „ausgeglichener“ zu bezeichnen (so Friedrich, Eichhorn, 311). 162   Der Text bei Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 353 f. 163   Der Entwurf des Symbols stammte allerdings von I.A. Dorner, vgl. Rothermundt, TRE 9, 156,44–46. 164   Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 354. 158

3.3  Die preußische Union

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handelte, die unter dem Verdacht stand, die alten Bekenntnisse ablösen zu wollen, brachten die Gegner des Unternehmens dadurch zum Ausdruck, daß sie ihm den Spottnamen „Nitzschenum“ beilegten. Nitzsch verteidigte sich zwar gegen den Eindruck, das Ordinationsbekenntnis solle das Apostolikum ersetzen, doch die Ähnlichkeit beider Bekenntnisse ließ selbst liberale Synodale an seinen Ausführungen zweifeln.165 Noch weniger ließen sich die konservativen Kritiker von Nitzschs Verteidigung, die von dem „Anliegen der Vermittlungstheologie, Hl. Schrift und modernes Denken auszugleichen“166 , durchdrungen war, überzeugen. Dazu kam, daß im weiteren Verlauf der Synode der Vorschlag, das Apostolikum im Ordinationsbekenntnis zu berücksichtigen, mehrheitlich abgelehnt wurde.167 Zusätzlich mußte Mißtrauen erwecken, daß Nitzschs Bekenntnis in der Kommission auch von solchen Mit­gliedern akzeptiert worden war, die eigentlich – wie Sydow – jede Art von Bekenntnisverpflichtung ablehnten.168 Die nicht selbstverständliche Tatsache, daß die Kommission bei der Präsentation sowohl der Ordinationsverpflichtung als auch der sie begleitenden Lehrordnung fraglos davon ausging, die Union bedürfe einer Grundlage in Form eines Bekennt­nisses, sie die bekenntnisfreie Union mithin von vornherein nicht mehr zur Debatte stellte, wurde demgegenüber kaum wahrgenommen.169 Nitzschs Ordinationsbekenntnis mußte schließlich zurückgezogen werden und führte zu einer Neubearbeitung, die nun nicht mehr als Bekenntnis, sondern als Verpflichtung in Frageform gestaltet war und am 8. August 1846 angenommen wurde.170 Hengstenberg, der selbst nicht Mitglied der Synode war, meldete sich in der EKZ bereits am 18. Juli mit einem Beitrag ‚Zur Bekenntnisfrage‘171 zu Wort. Allerdings erwähnte er die Synode und den Gang der Beratungen, über den die Öffentlichkeit immer erst nach Abschluß eines Beratungsgegenstandes unterrichtet wurde,172 nicht. Doch zweifellos war Hengstenberg gut informiert.173 Sein Aufsatz geht denn auch davon aus, daß von einer Gruppe, die er als „Männer der ‚richtigen Mitte‘“ bezeichnet, die Formulierung eines Lehrkernes des 165

  S. ebd., 356 und Friedrich, Eichhorn, 320.   Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 356. 167   S. ebd., 357 und Friedrich, Eichhorn, 330–332. 168   Sydow gehörte zu denen, die das Mehrheitsvotum auf der Brandenburgischen Provinzialsynode von 1844 vertreten hatten (siehe oben bei Anm.  155). 169   Zutreffend konstatiert Cochlovius, Einheit, 201: „Das konfessionelle Prinzip, wonach ein Bekenntnis des Glaubens und der Lehre Voraussetzung kirchlicher Einheit ist, war in die Unionstheologie eingedrungen.“ 170   Der Text bei Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 357 f. 171   Hengstenberg, Zur Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  496–504, Nr.  57 f. 172   S. Friedrich, Eichhorn, 303 f. 173   Die ‚Partei der EKZ‘ war u. a. mit Stahl, Sartorius, Hahn, v. Thadden, Göschel und Heubner auf der Synode vertreten; eine Übersicht über alle Synodale bei Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 365 f.; zu Stahls Haltung auf der Synode, die der Hengstenbergs am nächsten kam, Nabrings, Stahl, 182–187. 166

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3  Hengstenberg und die Kirche

Bekenntnisses gefordert würde. Zu dieser Richtung zählten Männer, „deren christlichen Charakter wir von Herzen anerkennen, die wir zum großen Theil achten, lieben und verehren, deren kirchliche Theorieen und Bestrebungen wir uns aber leider entschieden entgegenstellen müssen“174 – eine Anspielung auf die Vermittlungstheologen und Julius Müller. Als Begründung werde von dieser Seite die Union ins Feld geführt: Man könne den Reformierten die CA nicht als Unionssymbol zumuten, deshalb müsse man ein neues Bekenntnis formulieren. Hengstenberg bestreitet dies mit den bereits 1844 genannten Argumenten. Allerdings präzisiert er sein Verständnis von der CA als Unionssymbol dahingehend, daß durch die Union „der 10te Artikel, so weit er den Reformirten entgegensteht, suspendiert, oder die reformirte Deutung desselben als neben der Lutherischen in der Kirche zulässig anerkannt worden ist.“ (Sp.  498). Den Widerstand gegen die CA und den Wunsch, einen Lehrkern zu formulieren, sieht er aber in etwas anderem begründet. Dahinter stehe „theils der Wunsch, den eigenen theilweisen Gegensatz gegen die Lehre der Kirche kirchlich legitimiert zu sehen, theils das Streben das Gewissen Anderer zu erleichtern, die sich in das Ganze der Lehre nicht finden können, und ihnen die Garantie zu geben, daß sie nicht wegen einzelner Abweichungen zur Verantwortung gezogen werden dürfen, theils endlich die Absicht, durch Vereinfachung des Bekenntnisses eine strengere Überwachung desselben möglich zu machen.“ (Sp.  498).

Die letzten beiden Gründe seien aber völlig unerheblich, sobald man die „richtige Theorie von der Gel­tung der Bekenntnißschriften“ (Sp.  499) in Anschlag bringe, nach der eine strenge Bindung gar nicht in Betracht käme (s.o. 3.2.2). Im Entscheidenden gehe es den Verfechtern eines neuen Bekenntnisses also darum, die kirchliche Lehre zu ermäßigen und eine Änderung des Bekenntnisstandes herbeizuführen, wofür – so die bekannte Argumentation – jetzt nicht die rechte Zeit sei (Sp.  500 f.). Schließlich werden vier Gefahren einer Neuformulierung des Bekenntnisses angeführt: Sie führe erstens zu einer Spaltung innerhalb der eigenen Kirche; schließlich hätten schon die verhältnismäßig kleinen Veränderungen des Lehrbegriffes durch die Union in den östlichen Provinzen großen Widerstand hervorgerufen.175 Zweitens vernichte sie das Band der Einheit, „welche die verschiedenen Theile der Deutschen Evangelischen Kirche mit einander verbindet. Dieses Band ist eben nichts Anderes, als die gemeinsame Theilnahme an der Augsburgischen Confession.“ (Sp.  502). 174

  Hengstenberg, Zur Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  496 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 175   Ebd., Sp.  502: „Die ‚richtige Mitte‘ täusche sich nicht! Sie hat verhältnißmäßig zahlreiche Anhänger unter den Professoren und Studirenden der Theologie, unter den Geistlichen schon weit weniger, die große Mehrzahl der Kirchenglieder ist entweder dem völligen Rationalismus anheimgefallen, oder sie will den Wein des Bekenntnisses der Kirche rein und unverdünnt.“

3.3  Die preußische Union

349

Drittens zerstöre sie auch die ökumenische Einheit, denn bei einer Neuformulierung des Bekenntnisses würde auch das altkirchliche Bekenntnis, „welches die verschiedenen Confessionen zu einem Ganzen der Kirche Christi verbindet“ (Sp.  503), nicht unangetastet bleiben, und viertens könnte eine Bekenntnisformulierung in der gegenwärtigen „Zeit des Übergangs“ „nicht der Gefahr absichtlicher Unbestimmtheiten und Zweideutigkeiten entgehen“ (Sp.  503). Die damit verbundene Warnung an die „Männer der ‚richtigen Mitte‘“ zerstreut jeden Zweifel, wovon Hengstenberg sprach: Zwar würden die klügeren Rationalisten dem Versuch der Vermittler zunächst zustimmen, dann aber den einmal bewährten Hebel ansetzen, um auch die restlichen ungeliebten Teile des alten Bekenntnisses abzuschaffen. „Bald würden sich die wilden Wasser des Unglaubens über die Kirche ergießen, und zu spät würde das klägliche non putaram der Männer der ‚richtigen Mitte‘ aus ihrem Strudel vernommen werden.“ (Sp.  504) Hengstenberg hatte also insbesondere das Verhalten der Verfechter der bekenntnisfreien Union in der Synodalkommission im Auge. Männern wie Nitzsch und Müller unterstellte er zwar Nachgiebigkeit, an ihrem aufrichtigen Glauben hegte er indes keinerlei Zweifel. Wie in den Ausführungen zu der ‚Erklärung der 87‘ von 1845 (siehe oben 2.2.3) handelt es sich um einen Aufruf an die als Vertreter der „gläubigen Theologie“ bezeichneten rechten Schleiermacherschüler, nicht mit den Rationalisten und Sympathisanten der Lichtfreunde gemeinsame Sache zu machen. Hengstenbergs erstes Votum zur Generalsynode läßt damit bereits erkennen, was sein Bild von der preußischen Union auch zukünftig bestimmen sollte: Er sah nun die Situation eingetreten, daß man unter Berufung auf die Union den kirchlichen Bekenntnisstand an­greifen wollte. Der Geburtsfehler der Union sollte wiederholt und verschlimmert werden. Als Promotoren dieses Unternehmens machte er aber nicht in erster Linie die Rationali­sten, sondern die Schleiermacherschen Vermittlungstheologen aus – die Gruppe von Theologen also, der er schon seit längerer Zeit mehr als skeptisch gegenüberstand. Die theologische Kritik an einer Perpetuierung des Schleiermacherschen Vermittlungsanliegens, die oben (2.2) als kennzeichnend für Hengstenberg herausgearbeitet wurde, schlug nun voll auf die Beurteilung der Union durch. Eine ausführliche Beurteilung der Generalsynode unter Zugrundelegung der Protokolle bietet Hengstenberg im Vorwort von 1847.176 Zu diesem Zeitpunkt war über das Schicksal der Generalsynode bereits entschieden. Es zeichnete sich ab, daß Friedrich Wilhelm IV. den Ergebnissen seine Bestätigung verweigern und alles beim Alten bleiben würde. Zu dieser Entscheidung des Königs, der den Beschlüssen zur Bekenntnisfrage selbst nicht so ablehnend wie denjenigen 176   Eine Zusammenfassung dieses Vorworts bietet Wulfmeyer, Hengstenberg, 173–179. Bereits Ende September 1846 hatte Hengstenberg in der EKZ offiziell „den Kampf gegen das von der Synode vorgeschlagene Ordinationsformular“ eröffnet (Schlußwort der Redaktion, EKZ 39 [1846], Sp.  662).

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3  Hengstenberg und die Kirche

zur Kirchenverfassung gegen­über­stand,177 hatten vor allem Hengstenbergs Mitstreiter, E.L. von Gerlach, Göschel und Kabinettsminister Thile, beigetragen.178 In seinem Vorwort zeigte sich Hengstenberg bereits zuversichtlich, daß man nicht fürchten müsse, „daß die Beschlüsse der Synode auf dem Gebiete des Bekenntnisses in’s Leben treten werden“179. Trotzdem bot er eine ausführliche Besprechung der Synodalvorschläge, die ganz auf der Linie des bereits Bekannten liegt. Noch einmal hebt er hervor, es gebe keinerlei Grund, die CA als Uni­onssymbol abzulehnen und „ein solches neu zu machen, wenn man nicht – Nebenabsichten hat.“ (Sp.  14) Die Verabschiedung der überarbeiteten Ordinationsformel und der Lehrordnung durch die Synode zeige deutlich, „wohin die von ihr aufgestellten Grundsätze führen, daß sie unter dem Namen der Union eine radikale Änderung des Bekenntnisstandes der Kirche einführen will“ (Sp.  19). Die Behauptung wird durch eine Analyse insbesondere der Lehrordnung und ihrer Stellung zur Gott­heit Christi und zur Trinitätslehre untermauert. Auch im Rückblick wird vor allem das Verhalten der Vermittlungstheologen kritisiert: „Die sogenannte gläubige Theologie tritt plötzlich als vermittelnde Macht auf den Kampfplatz, und sucht dem Streite der Kirchlichen und der Rationalisten, dem sie nur zu lange müssig zugesehen, mit einem kühnen Schlage oder vielmehr feinen Griffe ein Ende zu machen.“ (Sp.  20).

Doch sei die Vermittlung künstlich und nicht lebensfähig. Hengstenberg kritisiert an ihr, daß sie „bei Gelegenheit der Umgießung des Bekenntnisses sehr wesentliche Bestandtheile desselben bei Seite gebracht“ (Sp.  31) habe; darüber hinaus macht er sich zum Sachwalter des einfachen Kirchenvolkes. Die vermittlungstheologischen Lehr- und Bekenntnisformeln trügen die „Sprache der Schule“ und nicht die „Sprache der Kirche“ (Sp.  31), sie seien ein Ausdruck der „projektirten Professoren- oder Theologenkirche“ (Sp.  25). Mit diesen polemischen Qualifizierungen versuchte Hengstenberg darauf aufmerksam zu machen, daß sich die Synode weit von den eigentlichen Herausforderungen der preußischen Unionskirche entfernt habe. Das Vorantreiben der Union sei unter den gegebenen Zuständen nämlich alles andere als ratsam: „Welche Zertrennung der Gemüther hat nicht schon die bisherige Union angerichtet! Auf ihr lastet der wieder­erwachte Streit der Confessionen, der so sehr außerhalb des Gebietes der Zeit liegt, daß ohnedem wahrscheinlich nichts von ihm vernommen werden würde, auf ihr die Entfremdung unter so vielen durch das Band des Glaubens eng verbundenen Brüdern, die sonst einträchtig beisammen wohnten.“ (Sp.  19). 177

  S. Mehlhausen, Friedrich Wilhelm IV., 265 f.   S. Friedrich, Eichhorn, 380–385; Neuser, Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 364; Kraus, Gerlach, 366; Cochlovius, Bekenntnis, 192 f.; auch die ablehnenden Beiträge in der EKZ dürften ihre Wirkung nicht verfehlt haben. 179   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 40 (1847), Sp.  35 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 178

3.3  Die preußische Union

351

Damit kommt die zweite Gefahr in den Blick, die Hengstenbergs Stellung zur Union Mitte der 40er Jahre bestimmt: die Zunahme der Separation. Im Nachgang zur Generalsynode kam es 1847 wieder vermehrt zu Übertritten lutherischer landeskirchlicher Pastoren zu den separierten Lutheranern; unter ihnen waren auch prominente Geistliche wie z. B. Julius Nagel aus Trieglaff.180 Doch schon zuvor hatte die Zahl der Anhänger der Separation rasant zugenommen: Zwischen 1845 und 1848 verdoppelte sich die Zahl ihrer Pastoren, die Zahl der Gemeindeglieder stieg um vier Fünftel an.181 Auslöser hierfür war die von Friedrich Wilhelm IV. erlassene „Generalconcession für die von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner“, derzufolge es den Lutheranern gestattet sein sollte, eigene Gemeinden zu gründen, Pastoren einzusetzen und einen Gemeindeverband mit eigenem Kirchenregiment zu organisieren. Die Bewegung breitete sich nun in allen Provinzen Preußens aus. Aus Furcht vor dem Übertritt ihrer Gemeindeglieder betonten in Folge dessen auch die Pastoren lutherischer Gemeinden innerhalb der Landeskirche ihr konfessionelles Profil.182 In den Jahren nach 1846 entstanden so vielerorts landeskirchliche lutherische Vereine und Pastoralkonferenzen.183 Am 10. Sept. 1849 wurde schließlich der Lutherische Zentralverein gegründet, an dessen Spitze mit Karl Friedrich Göschel ein Vertrauter Hengstenbergs stand.184 Welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen auf Hengstenbergs Verhältnis zur preußischen Union? Die Anhänger der sogenannten Vereinslutheraner standen der Union kritisch bis feindlich gegenüber, viele von ihnen – wie z. B. Göschel – führten ihren Glauben aber auf Begegnungen mit dem erwecklichen Christentum zurück. Hengstenberg leitete aus dieser Beobachtung sogar einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen der Erweckungsbewegung und dem Erwachen des konfessionell-lutherischen Bewußtseins her: „Eine Confession, die eine so bedeutende Geschichte hat, wie die Lutherische, muß notwendig da, wo sie so tiefe Wurzeln geschlagen hatte, wie in den Preußischen Gebieten [...] in ziemlich gleichem Verhältnisse mit dem Glauben selbst wiederaufleben. Man mag sich über diese Thatsache freuen oder betrüben, wegschaffen kann man sie nicht. 180

  Vgl. Petrich, Thadden, 39; Wangemann, Bücher 3, 285 und Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  11. Für Hengstenberg persönlich war wohl der Austritt seines Schülers und EKZ-Mitarbeiters Friedrich Wilhelm Besser am härtesten, vgl. Besser an Hengstenberg, 8. Jan. 1848: Bonwetsch, Briefe 1, 26 f.; ausführlicher bei Wulfmeyer, Hengstenberg, 181; vgl. zu Besser Bautz, BBKL 1. 181   S. Nixdorf, Separation, 240. 182   Vgl. Nachtigall, Kirchenunion, 28 f. 183   Vgl. den detaillierten Überblick bei Nachtigall, Kirchenunion, 97–109 und Cochlovius, Bekenntnis, 114–131; auch die ältere Darstellung von Wangemann, Bücher 3, 328–387 ist trotz ihrer Einseitigkeit hilfreich. 184   Cochlovius, Bekenntnis, 129–139; Nachtigall, Kirchenunion, 107–109 und ausführlicher Haubold, Göschel, 106–115.149–156.

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3  Hengstenberg und die Kirche

Hätte man sie zu rechter Zeit erkannt, so wären der Kirche viele traurige Wirkungen erspart worden.“185

Die Tatsache, daß die lutherische Bewegung „in kurzer Zeit überraschende Fortschritte gemacht hat“ (Sp.  13), mußte aus seiner Sicht den Blick auf die Preußische Union verändern. Hatte er 1844 noch mit der Möglichkeit gerechnet, daß die äußere Union eines Tages ihre Legitimation finden könnte, indem ihre innere Akzeptanz zunehmen würde, nahm er nun das Gegenteil wahr: Die Erweckungsbewegung mündete nicht in eine lebendige Union, sondern in das Erwachen konfessionellen Bewußtseins. Darauf aber – das ist fortan der Tenor seiner Stellungnahmen – müsse man sich einstellen, denn alles andere führe zur Spaltung der Kirche. Keinesfalls dürfe das Kirchenregiment in dieser Situation „die Union um jeden Preis durchsetzen“ (Sp.  14). Es sei anzuerkennen, daß die Gemeinden „vorzugsweise den edlen Inhalt des Glaubens nur in dem Gefäße der Confession besitzen“ (Sp.  14). Daher müsse man alles beseitigen, „wodurch die Union unmittelbar an die Gemeinden herantritt“ (Sp.  15). Jetzt müsse man erkennen, „daß hier, wenn irgend, das Königliche Wort gilt, daß die Kirche sich aus sich selbst gestalten muß“ (ebd.). Statt daß man dem „Schatten der Union“ nachjage solle man das Ohr verschließen gegenüber den „Unionsfanatikern [...], die im besten Falle nicht besser sind, wie einst die Cryptocalvinisten, die Behörden zu Werkzeugen machen wollen, um ihre reformirte Engstirnigkeit mit Gewalt der Lutherischen aufzudringen, im schlimmeren Falle nur verkappte oder offene Latitudinarier und Indifferentisten“ (Sp.  15).

Das Schlimmste könne noch vermieden werden, indem man den Lutheranern endlich Zugeständnisse mache hinsichtlich der Agende, des Abendmahlsritus und der Auswahl der Pastoren. Damit würde der Ein­heit der Kirche keinerlei Eintrag geschehen: „Einheit gehört zum Wesen der Kirche, Einerleiheit ist ein bloßes Phantom, welchem die Realitäten zu opfern ein Molochsdienst ist.“ (Sp.  18). Auf der anderen Seite sei aber auf jeden Fall das unierte Kirchenregiment beizubehalten. „Die Auflösung des unirten Kirchenregiments würden wir, wenn sie auch ausführbar wäre, doch für höchst bedenklich halten. Die Zeit muß erst lehren, ob nicht Gottes Hand bei dem Werke der Union im Spiele ist, das durch länger als zwei Jahrhunderte durch unsere Geschichte hindurchgeht.“ (Sp.  22) 186

185

text.

  Hengstenberg, Vorwort 42 (1848), Sp.  14 – daraus im Folgenden die Belege im Fließ-

186   Charakteristischerweise datiert Hengstenberg die Union hier wie auch später nicht mehr von 1817, sondern von der Confessio Sigismundi an. Das zunehmend friedliche Zusammenleben beider Konfessionen in Preußen seit 1613 hält Hengstenberg für einen gangbareren Weg im Blick auf das Zusammenwachsen der Schwesterkirchen.

3.3  Die preußische Union

353

Dagegen dürften auch die Lutherischen nichts einzuwenden haben, da es sich beim Kirchenregiment um keinen articulus stantis et cadentis ecclesiae handle.187 Man müsse nur darauf achten, daß in den Konsistorien jeweils ein Vertreter des lutherischen Bewußtseins vertreten sei. Möglicherweise gehe die weitere Entwicklung auch dahin, „daß durch mehrere Mittelstufen das unirte Kirchenregiment in ein combinirtes verwandelt wird, mit einer itio in partes sobald die Sonderinteressen der Confessionen in Betracht kommen“ (Sp.  23). Maßgeblich für alle Überlegungen und geradewegs ein Axiom für alle zukünftigen Stellungnahmen Hengstenbergs ist aber der Gedanke, daß ein weiteres Vorantreiben der Union in der gegenwärtigen Situation zwangsläufig zur Auflösung der Union führen müsse. Die Union werde „um so sicherer reißen, je schärfer man sie anspannt, um so eher erhalten werden, je gewissenhafter man der Confession ihr Recht widerfahren läßt“ (Sp.  23). Hatte Hengstenberg 1844 empfohlen, im Blick auf den weiteren Umgang mit der Union den Beobachterstandpunkt einzunehmen, so zog er vier Jahre später also die ersten Konsequenzen aus den beobachteten Entwicklungen. Erstmals formulierte er nun den Gedanken einer konföderativen Union, in der man den verschiedenen Gemeinden ihre konfessionelle Bestimmtheit gestatten und nur die Einheit im Kirchenregiment erstreben würde. Allerdings war der Gedanke nicht völlig neu, wenn man Hengstenbergs Vorstellungen von der sicht­baren Kirche berücksichtigt, wie er sie gegenüber Rothe bereits zehn Jahre zuvor entfaltet hatte (vgl. oben 3.1.2). Jetzt aber schienen sie erstmals im Blick auf die konkrete Situation der Kirche Bedeutung zu gewinnen.

3.3.3  Auf dem Weg zu einer konföderativen Union Die Frage der Union geriet in den Jahren nach der Revolution verständlicherweise zunächst wieder in den Hintergrund. Doch schon Anfang 1850 wiederholte Hengstenberg seine Auffassung, nun mit Bestimmtheit: „Wir zweifeln keinen Augenblick, daß die fernere Entwickelung, vielleicht durch mehrere Mittelstufen, dahin führen wird, daß hier an die Stelle der Union die Conföderation tritt.“188 Gleichwohl blieb er auf Distanz zu den Sammlungen der Vereinslutheraner, welche die Verteidigung der lutherischen Konfession zu ihrer Hauptaktivität gemacht hatten.189 187

  Hengstenberg, Vorwort 42 (1848), Sp.  21: „Das Kirchenregiment zu einem Artikel der stehenden und fallenden Kirche zu machen, ist nirgends weniger angebracht, als in der Lutherischen Kirche [...].“ 188   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  45. 189   Ebd., Sp.  46: „Wir können uns nicht darüber freuen, es erscheint uns vielmehr als krankhaft, wenn bloß für diese Sache besondere Vereine und Zeitschriften gegründet werden.“

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3  Hengstenberg und die Kirche

Eine Chance zur Verwirklichung einer konföderativen Union bot sich dann plötzlich Anfang der 50er Jahre. Mit der Einsetzung des Ministeriums Manteuffel wurde im Dezember 1850 auf Vorschlag des neuen Ministerpräsidenten Karl Otto von Raumer zum Kultusminister ernannt.190 Er stand der „Kamarilla“ um die Gerlachbrüder nahe, in theologischen Fragen ließ er sich aber auch von Hengstenberg beraten.191 Von seinem Ursprung her selbst reformierten Bekenntnisses, teilte er dessen Sicht, daß man die Union nur dann bewahren könne, wenn man den geschichtlichen Sonderbekenntnissen ihr Recht zukommen lasse.192 Auch Gerlach, Stahl, Göschel und andere waren dieser Meinung. Bereits vor Raumers Amtsantritt, im Juni 1850, war die Abteilung für innere evangelische Angelegenheiten im Ministerium zum Oberkirchenrat umgestaltet worden.193 Damit existierte eine vom Ministerium unabhängige, allein dem König als praecipuum membrum ecclesiae unterstehende oberste Behörde, die im Sinne eines „kombinierten“ Kirchenregimentes gestaltet werden konnte. Am 6. März 1852 erließ der König auf Antrag des Evangelischen Oberkirchenrates eine Kabinettsordre, die insbesondere die konfessionelle Gestaltung des Kirchenregiments in den Blick nahm. Sie zielte darauf, „daß in dem Regiment der evangelischen Landeskirche ebensosehr die mit Gottes Gnade in der Union geknüpfte Gemeinschaft der beiden evangelischen Konfessionen aufrecht erhalten, wie auch die Selbständigkeit jedes der beiden Bekenntnisse gesichert werden soll“194. Zum EOK wurde daher ausgeführt, daß er die evangelische Landeskirche zwar in ihrer Gesamtheit vertrete, gleichzeitig aber das Recht der verschiedenen Konfessionen wahre und pflege. Deshalb sollten dem EOK Glieder beider Konfessionen angehören, die in der Regel gemeinschaftlich beschließen, in Fragen des Bekenntnisses aber getrennt abstimmen. Damit war die von Hengstenberg bereits 1848 favorisierte itio in partes eingeführt.195 Die Vorgeschichte der Kabinettsordre ist noch nicht im einzelnen durchsichtig.196 Fest steht, daß Raumer bereits 1851 zunächst Gerlach, Schede und Bindewald und Anfang 1852 darüber hinaus weitere Berater, unter ihnen auch Hengstenberg, Stahl und Göschel, im Blick auf eine neue Unionsordre zu Rate gezogen hatte.197 Unklar ist jedoch, welche Rolle genau der Oberkirchenrat 190

  Vgl. zu ihm Wippermann, ADB 27 und die anonyme apologetische Schrift: Der Staatsminister von Raumer [...]. 191   Vgl. dazu unten 4.4.3. 192   S. Wippermann, ADB 27, 419. 193   S. unten bei Anm.  404. 194   Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. vom 6. März 1852: Nachtigall, Kirchenunion, 407. 195   Der genaue Wortlaut der Kabinettsordre bei Nachtigall, Kirchenunion, 407 f. Ein kurzer Überblick bei Neuser, Union, 35 f. 196   Das gilt trotz der Arbeit von Nachtigall, Kirchenunion, die in diesem Punkt (ebd., 157 f.) nur die Darstellung von Neuser, Union, 35 ausschreibt. 197   Vgl. E.L. v. Gerlach, Aufzeichnungen 2, 131.137.

3.3  Die preußische Union

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spielte, auf dessen Antrag die Ordre erging, denn dabei handelte es sich – wie Hengstenberg später zu Recht betonen wird – um den „Oberkirchenrath in seiner früheren Zusammensetzung [...], der kaum ein einziges Mitglied von einer ausgebildeten confessionellen Richtung zählte“198 . Der Sache nach knüpfte die Ordre des Königs an diejenige seines Vaters vom März 1834 an. Damals war – angesichts der lutherischen Separation – bekräftigt worden, daß die Union nicht die Auf hebung der Bekenntnisse bedeuten solle.199 Darüber hinaus wurde nun aber ausdrücklich der Schutz und die Pflege der Sonderbekenntnisse betont. Ziel der Union sei weder „der Uebergang von einer Konfession zu der andern“ noch „die Bildung eines neuen dritten Bekenntnisses“200 gewesen; lediglich der gegenseitige Ausschluß vom Abendmahl sollte beseitigt werden. Im Ergebnis verstand die Regelung vom 6. März 1852 unter Union also die Abendmahls- und Kirchengemeinschaft zweier weiterhin bestehender Konfessionen unter dem Dach eines Kirchenregiments. Es verwundert nicht, daß die erklärten Unionsfreunde gegen dieses Verständnis Sturm liefen. Die zahlreichen Reaktionen, welche die Kabinettsordre von 1852 auslöste, sind inzwischen hinreichend dokumentiert 201 und müssen hier nicht dargestellt werden. Entscheidend ist nur, daß der König – offensichtlich beeindruckt von dem Widerspruch, den seine Äußerungen hervorgerufen hatten – nach Beratungen mit dem EOK am 12. Juli 1853 eine neue Kabinettsordre erließ, die einer Interpretation ihrer Vorgängerin in konfessionalistischem Sinne entgegenwirken sollte. Insbesondere die Frage, ob es denn neben den beiden Konfessionen auch noch schlicht unierte Gemeinden geben dürfe, hatte Irritationen ausgelöst. Zudem war der König erbost darüber, daß die Neuregelung von verschiedenen Seiten so verstanden worden war, als wolle er die Union auflösen. Keinesfalls könne es seine Absicht sein, erläutert er in der Deklaration vom 12. Juli, „die von Meinem in Gott ruhenden Herrn Vater begründete Union der beiden evangelischen Kirchengemeinschaften zu stören oder gar aufzuheben und dadurch eine Spaltung der Landeskirche herbeizuführen“202 . Der EOK und die Konsistorien sollten diesem Mißverständnis wehren und darüber 198   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  28; das übergeht Nachtigall, Kirchenunion, 138–156 völlig und behauptet entgegen ihrer eigenen Beschreibung des EOK vor März 1852 das Gegenteil, ebd., 154 (vgl. auch unten 4.4.3). 1856 merkt Hengstenberg, Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  51 an, er sei von der schnellen Wendung der Dinge regelrecht überrascht worden – wenn dieser Aussage zu trauen ist, dann war die Vorgeschichte wesentlich komplizierter als bei Neuser und Nachtigall (s.o. Anm.  196) dargestellt. Ging die Initiative von Raumer aus und Hengstenberg wußte davon gar nichts? Oder von Gerlach? Was bewegte den EOK zu seinem Antrag? 199   Siehe die Literatur oben Anm.  140. 200   Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. vom 6. März 1852: Nachtigall, Kirchenunion, 407. 201   Nachtigall, Kirchenunion, 164–315. 202   Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. vom 12. Juli 1853: Nachtigall, Kirchenunion, 454.

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3  Hengstenberg und die Kirche

wachen, „daß nicht durch Confessionelle Sonderbestrebungen die Ordnung der Kirche untergraben“ werde und nirgends eigenmächtig die „Bezeichnung als Evangelische Gemeinden“ oder der „Unions-Ritus“ aufgehoben würden.203 Verständlicherweise protestierten nun die Vereinslutheraner. Die verschiedenen Strategien, mit dem verwirrenden Ergebnis umzugehen, das die beiden Kabinettsordres hervorgebracht hatten und das in seiner Art für den Regierungsstil Friedrich Wilhelms IV. durchaus typische Züge trägt, müssen hier nicht behandelt werden. Daß sich der König selber an den Deutungsversuchen beteiligte, machte die Sache nicht einfacher.204 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur, wie Hengstenberg die Vorgänge bewertete. Die Antwort kann kurz ausfallen: Natürlich begrüßte er die von ihm selbst propagierte Regelung von 1852. Noch einmal trug er die Argumente gegen die sogenannte „absorptive Union“ vor, einer Union also, die das Eigentümliche der Konfessionen verschwinden läßt, und bestritt ihr auf der Linie von 1844 die Legitimität. Gerade „diejenigen, welche für sich nur dasjenige wollen, was den beiden Confessionen gemeinsam ist“ – wozu Hengstenberg auch sich selbst zählt –, „müssen doch, wenn sie nicht durch Leidenschaft verblendet sind, für die Erhaltung der beiden Sonderbekenntnisse Sorge tragen. Sie werden sonst denjenigen zum Gespötte, welche das Gemeinsame nicht minder beseitigen wollen, wie das Eigenthümliche.“205 Nach wie vor werden die Anhänger der bekenntnisfreien Union als die eigentliche Gefahr vor Augen gestellt. Bestätigt sah sich Hengstenberg in dieser Beurteilung dadurch, daß ihre Vertreter in der ‚Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche‘, seit 1846 das Organ der linken Schleiermacherschüler,206 gegen den Erlaß von 1852 Sturm gelaufen waren.207 Dabei sei doch eine wirklich einschneidende Veränderung gar nicht eingetreten. Die Ordre liege schließlich ganz auf der Linie derjenigen von 1834, wo bekräftigt worden sei, daß die rituelle Union keine Bekenntnisunion nach sich ziehe. Wo der eigentliche Konflikt liege, zeige sich daran, daß man die CA nicht als Unionssymbol anerkennen wolle. Er habe „seinen Grund in der Unsicherheit der modernen gläubigen Theologie in ihrem Verhältnisse zur heiligen Schrift, ihrer Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes, ihrer mangelhaften Einsicht in den Unterschied von Natur und Gnade, ihren naturali­ stischen Tendenzen, ihrem Semipelagianismus.“208 203

  Ebd., 454 f.   Vgl. seine Antwort auf die Eingabe der Herbstkonferenz des Lutherischen Zentralvereins in Wittenberg vom 11. Okt. 1853; die Texte finden sich in: EKZ 53 (1853), 927–930. 205   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  29. 206   Vgl. dazu Mehlhausen, Liberalismus, 133 f.; Friedrich, Eichhorn, 254. 207   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  29; vgl. Nachtigall, Kirchenunion, 307–311. 208   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  35. 204

3.3  Die preußische Union

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Der Kampf gegen die Unionsfreunde, das wird hier noch einmal deutlich, wird für Hengstenberg mehr und mehr identisch mit dem Kampf gegen die „Knappen“ Schleiermachers (vgl. oben 2.2.4). Dennoch stellte er sich auch nicht einfach auf die Seite der Vereinslutheraner, denen er vorwarf, „sich in ausdörrender Einseitigkeit mit der kirchenrechtlichen Frage [zu] beschäftigen“209. Ihre Forderung nach jeweils eigenen Senaten für jede Konfession innerhalb des EOK lehnte er ab. Die initio in partes hielt er für den geeigneteren Weg, sowohl der bestehenden Kirchengemeinschaft als auch den konfessionellen Differenzen gerecht zu werden.210 Zu der Kabinettsordre von 1853 fehlt eine Stellungnahme Hengstenbergs, da er für das kommende Jahr in Folge einer schweren Krankheit kein Vorwort schreiben konnte.211 Spätere Äußerungen lassen aber erkennen, daß er dieser Wendung des Königs keine große Bedeutung zumaß.212 Für ihn galt die Kabinettsordre von 1834, die den Erhalt der Konfessionen garantierte, als maßgeblich. Etwas anderes, eine Änderung des konfessionellen Bestandes, dürfe man von einer Kabinettsordre auch gar nicht erwarten, denn das sei Sache der ganzen Kirche: „Wir wollen es hier so klar und unverhohlen wie möglich aussprechen: Die Kabinette sind nicht der Ort, wo die Dogmen der Kirche auch nur leise modificirt, geschweige denn gemacht werden; auf dem Gebiete der Lehre haben die ‚vorzüglichsten Glieder der Kirche‘ nicht im mindesten mehr Recht wie die geringsten, und eine Kabinettsordre, welche neue Festsetzungen in Bezug auf die Lehre treffen wollte, würde nimmer einen rechtlichen Zustand begründen können.“213

In den 50er Jahren hatte sich Hengstenbergs Haltung zur Union also weitgehend geklärt. Nach wie vor hielt er sie grundsätzlich für berechtigt. Den Lehrunterschieden zwischen Reformierten und Lutheraneren gestand er keine kirchentrennende Bedeutung zu. Die gegenseitige Abendmahlszulassung hielt er 209

  Ebd., Sp.  36.   Die Aufteilung in Senate würde die Einheit des Kirchenregimentes „zu einer bloß scheinbaren, nominellen“ herabsetzen und damit die Union ohne Not gefährden (ebd.). – Nachtigall, Kirchenunion, kommt in ihrer Darstellung des Vor­wortes zu dem Ergebnis, Hengstenberg wolle das Kirchenregiment „mit entschiedenen Lutheranern besetzt haben“ und sehe für unierte Vertreter keine Berechtigung (ebd., 314); von beidem kann keine Rede sein, vgl. Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  31 und 36. Zudem schreibt sie Hengstenberg einen Artikel zu (‚Organisation‘, s. Dies., Kirchenunion, 315 f.), der nicht von ihm, sondern wahrscheinlich von Göschel stammt. 211   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 54 (1854), Sp.  1; allerdings dürfte Schedes Kommentierung des königlichen Willens nahe an Hengstenbergs eigene Position herankommen: Schede, Die Königl. Erlasse vom 12. Juli und 11. October 1853, EKZ 53 (1853), Sp.  924– 940, Nr.  93 f. 212   S. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  56 und EKZ 58 (1856), Sp.  49; vgl. das Urteil über die ‚Partei der EKZ‘ bei Wulfmeyer, Hengstenberg, 224: „Man schritt über die Kabinettsorder vom 12. Juli 1853 und die durch sie ausgelösten weiteren Erklärungen des Königs hinweg und hielt streng fest an dem Allerhöchsten Erlaß vom 6. März 1852.“ 213   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  56. 210

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3  Hengstenberg und die Kirche

für unproblematisch, solange sie nicht kirchenrechtlich zum Zwang würde. Allerdings trat für ihn nun der Schutz und die Pflege des jeweiligen Sonderbekenntnisses in den Vordergrund. Auch die Differenzlehren dürfe man durch die Union nicht zur Disposition stellen,214 jede Konfession sei als ganze, historisch gewachsene zu erhalten. Darum solle die Union nur im Kirchenregiment einen sichtbaren Ausdruck finden, einem Kirchenregiment aber, das so zu gestalten sei, daß es nicht auf Nivellierung des Konfessionellen, sondern auf dessen Schutz hinwirke. Dabei ging Hengstenberg im großen und ganzen von der Bikonfessionalität des preußischen Protestantismus aus. Nur wenige unierte Gemeinden erkannte er als genuin uniert im Sinne einer Konsensunion an.215 Doch auch ihnen könne man im Kirchenregiment Platz einräumen.216 Demgegenüber wies er die Forderung nach einem Vorantreiben der Konsens­ union immer schärfer zurück. Die Gründe wurden bereits erwähnt: Zum einen habe die geschichtliche Entwicklung gezeigt, daß die Konsensunion keinen ausreichenden Rückhalt in der Landeskirche finde; das konfessionelle Bewußtsein habe nicht ab- , sondern zugenommen. Zum anderen sei die Konsensunion das Einfallstor für die Gegner einer jeden Bekenntnisbindung. Ein Hauptgrund für Hengstenbergs Skepsis gegenüber der Union beruhte auf dem theologischen Gegensatz gegen die „Schleiermachersche Partei, an die sich Alles anschließt, was in der Kirche unten an der Wurzel faul und oben im Wipfel trocken ist“217. Es läßt sich nicht verkennen, daß dieses Argument seit Mitte der 40er Jahre immer schärfer akzentuiert wird. Die Freunde der „absorptiven“ oder „amalgierenden“ Union werden dabei sehr einseitig zu Gegnern des kirchlichen Bekennt­nisses gestempelt. Zwar war sich Hengstenberg bewußt, daß man zwischen den „destructiven“ und den „relativ conservativen“218 Freunden der Union unterscheiden müsse – zu ersteren rechnete er die echten Schleier­macher­ schüler, zu letzteren Männer wie J. Müller und C.I. Nitzsch –, doch war er zu sehr von seiner Dammbruchtheorie überzeugt, als daß er hätte sehen können, wie nahe er den „conservativen“ Unionsfreunden stand.219 Auch gegenüber den Vereinslutheranern blieb Hengstenberg in den 50er Jahren weiterhin auf Di­stanz. Allerdings bot er ihnen breiten Raum in der EKZ; vor allem Göschel vertrat ihre Anliegen in vielen Aufsätzen. So ist es nicht ver214

  S. Ders., Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  50.   Mit der Kabinettsordre von 1834 bestritt er, daß die Annahme der Agende zu einer Änderung des konfessionellen Bestandes geführt habe. 216   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  30–33. 217   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  50. 218   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  59. 219   Blickt man auf die Entwicklung nach Hengstenbergs Tod, kann man sagen, daß Hengstenbergs Unionskonzept vor allem in der „Positiven Union“ zum Tragen kam, die aber gleichzeitig das Erbe Müllers vertrat. Auch die konfessionellen Lutheraner näherten sich in den 70er Jahren an diese Richtung an, vgl. Mau, Parteien, 235.243–247; Nipperdey, Umbruch, 78. 215

3.3  Die preußische Union

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wunderlich, daß sie Hengstenberg mehr und mehr als einen der ihrigen betrachteten.220 Von Zeit zu Zeit mußte er sich aus ihren Umarmungen befreien. Eine Äußerung von 1856 ist sehr charakteristisch für seine Haltung. Man dürfe, schreibt er, nicht übersehen, „daß der confessionelle Standpunkt, den der Herausg. vertritt, ein durchaus gemäßigter ist, daß er zwar auf Wahrheit und Klarheit und reinliche Sonderung in den kirchlichen Verhältnissen dringt, aber allem zelotischen Eifer abhold ist und danach trachtet, auch den anderen Confessionen und vor allem der Reformirten Kirche gerecht zu werden, endlich, daß er nach wie vor gegen die Lutherische Separation (bei aller Liebe gegen die durch äußere Schranken von uns getrennten Brüder) eine abweisende Stellung einnimmt.“221

Hatte sich Hengstenbergs Standpunkt zur Unionsproblematik in den 50er Jahren auch weitgehend geklärt, so war er doch nicht abgeschlossen und konnte es auch gar nicht sein, da er sich bewußt der jeweiligen theologischen und kirchlichen Entwicklung anpaßte. Entscheidend sollte werden, daß sich das Kirchenregiment nicht in dem Sinne bewährte, wie Hengstenberg es erwartet hatte. Stahl schied 1857 schließlich resignierend aus dem Oberkirchenrat aus, weil er in den konfessionellen Fragen keinen Boden gewann. Diese Erfahrungen ließ der inzwischen zur persona non grata gewordene Staatsrechtler 1859 in sein „wohl persönlichstes Buch“222 ‚Die lutherische Kirche und die Union‘ einfließen.223 Hengstenberg stimmte mit Stahls Unionsbuch im wesentlichen überein, wiederholt legte er es den Lesern der EKZ ans Herz.224 Umgekehrt hatte Stahl, soweit man sehen kann, sein Buch „unter stetem Beirath Hengstenberg’s verfaßt“225. Hengstenberg hielt die Fragen der äußeren Gestaltung der Kirche nicht für ewige Wahrheiten. Darum fiel es ihm nicht schwer einzugestehen, daß seine bisher favorisierte Form der Kirchenleitung, das gemeinsame Kirchenregiment mit einer itio-in-partes-Regelung, nicht das erbracht hatte, was seine Hoffnung 220   Allerdings gingen die Meinungen auseinander, wann Hengstenberg vermeintlich ganz auf die Seite der Vereinslutheraner getreten sein sollte. Wangemann, Bücher 3, 687 nennt das Vorwort von 1856 als entscheidenden Einschnitt; Tauscher, Eben Ezer, Sp.  624 sieht die Wendung bereits im Jahr 1848. 221   Hengstenberg, Vorwort 58 (1856), Sp.  49; Hengstenberg beruft sich dafür auf seine früheren Äußerungen, vor allem auf sein Vorwort von 1844; vgl. auch das Vorwort, EKZ 64 (1859), Sp.  37 f. 222   Link, Stahl, 68. 223   Vgl. ebd.: Stahl trieb die „Sorge vor einer Auflösung der Bekenntniskirche in eine Konsensunion, die die Eigenständigkeit des Luthertums geistlich in einer Vermittlungstheologie, kirchenverfassungsrechtlich in einem ununterschiedenen Kirchen­organismus aufgehen ließ“. Ihn bewegte die „Erhaltung von lutherischer Konfession und Kirche in der Union, wie sie der König nach 1834 an sich zugestanden hatte“. 224   Nicht zufällig trägt Hengstenbergs letztes ausführliches Votum zur Unionsfrage denselben Titel, vgl. unten Anm.  226. 225   Kahnis, Gedächtniß, Sp.  423.

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3  Hengstenberg und die Kirche

gewesen war: den Schutz und die Pflege der lutherischen Konfession gegenüber einer vereinheitlichenden Union. Unzählige Male geißelte er in den 60er Jahren das Vorgehen des in seinen Augen konfessionsfeindlichen Kirchenregiments und erntete deshalb wiederholt Abmahnungen von kirchlicher und staatlicher Seite (vgl. unten 3.5.4 und 4.2.3). Gegen Ende seines Lebens trat er dann schließlich mit einem weitergehenden Vorschlag hervor. Ermächtigt sah er sich durch die neue Situation, die 1866 mit der Annektierung rein lutherischer Territorien, vor allem Hannovers, eingetreten war. Bereits im Dezember 1866 griff er mit dem namentlich gekennzeichneten Artikel ‚Die Lutherische Kirche und die Union‘226 in die Diskussion der Frage ein, wie mit den Kirchen der neupreußischen Gebiete umzugehen sei. Grundlegend ist, daß Hengstenberg den Sieg von Königgrätz als eine geschichtliche Stunde verstand, in der sich Gottes Fügung zeige. Zwar hatte er – wie unten gezeigt werden wird (siehe 4.3.3.1) – den preußischen Expansionsgelüsten zunächst ablehnend gegenübergestanden, doch schließlich erkannte auch er die „politische Mission Preußens“ (Sp.  1184) für Deutschland an. „[I]n der Folge der Einwirkung, welche die politischen Ereignisse auf die kirchlichen Verhältnisse haben müssen“ (Sp.  1184) hielt er es nun für unumgänglich, daß auch das äußere Zusammenleben der protestantischen Konfessionen neu geregelt würde, wobei ihm besonders das Geschick der lutherischen Kirchen am Herzen lag. Ausgangspunkt war dementsprechend die Frage, was mit den Kirchen in den annektierten lutherischen Territorien geschehen solle. Zwei Möglichkeiten lehnte Hengstenberg ab: Sie dürften nicht dem EOK in seiner bisherigen Gestalt unterstellt werden, denn das würde eine Bedrohung der lutherischen Kirche bedeuten und nur neue kirchliche Kämpfe heraufführen. Mehrmals macht Hengstenberg darauf aufmerksam, daß der Versuch, in einem unierten Kirchenregiment die Sonderinteressen der Lutheraner zu schützen, gescheitert sei (Sp.  1166 f.1173f ). Doch auch die andere Möglichkeit, daß nämlich die Kirchen der annektierten Länder mit eigenem Kirchenregiment und unabhängig von den altpreußischen Kirchen fortexistieren, sei auf Dauer nicht haltbar: Die kirchliche Abgrenzung würde schon allein durch die Mobilität der Bürger eines Staates aufgeweicht. Der Selbstbehauptungstrieb der isolierten Kirchen würde zudem der Integration der Länder in das neue Preußen entgegenwirken (Sp.  1163–1165). Nicht nur deshalb liege es „in dem berechtigten Interesse des Staates [...], daß die auf dem Grunde der Reformation ruhenden Kirchen in Preußen auch äußerlich sich als eine Einheit darstellen“ (Sp.  1178). Darüber hinaus hatte Hengstenberg aber die größeren Dimensionen im Blick: Die Mission, „welche, wie es scheint, Preußen nach Gottes Rathschluß in Be226   Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 (1866), Sp.  1161– 1184, Nr.  97 f. – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext; besprochen wird der Artikel bei Besier, Kirchenpolitik, 59–63 und Wulfmeyer, Hengstenberg, 285– 291.

3.3  Die preußische Union

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zug auf ganz Deutschland bestimt ist“ (Sp.  1165), müsse auch in der kirchlichen Gestaltung ihre Entsprechung finden. Kurz: Man müsse eine Kirchengestalt anstreben, die auch für eine nationale deutsche Kirche nach dem Ende der territorialen Zersplitterung geeignet wäre: „Wir können uns von dem Gedanken nicht losmachen, daß die politischen Veränderungen in unserm Deutschen Vaterlande zugleich für die Kirche Bedeutung haben, daß es Gottes Absicht sei, die Kirche der Deutschen Reformation aus der bisherigen territorialen Abgeschlossenheit zu erlösen, sie aus den engen Kammern mit ihrer dumpfen Luft auszuführen in einen weiten Raum, sie durch einen einheitlichen Organismus zu verbinden, der unter zarter Bewahrung des geschichtlich Gewordenen, doch zugleich den großen Nachteilen entgegentritt, welche die bisherige Zersplitterung mit sich führte.“ (Sp.  1166)

Die geschichtliche Stunde führt ihn so zu der Forderung, daß alle drei evangelischen Konfessionen – die lutherische, reformierte und unierte – ein eigenes Kirchenregiment unter einem Dach erhalten sollten.227 Was Preußen angeht, habe insbesondere die lutherische Kirche ein Anrecht darauf, da sie seit jeher die dominierende Konfession in Preußen gewesen, nun aber schon seit so langer Zeit ihrer Rechte beraubt sei. Durch die Annexionen hätten aber auch die anderen beiden Konfessionen Zuwachs bekommen: die wenigen unierten Gemeinden beispielsweise durch die Evangelischen in Nassau und Hanau, die Reformierten durch die Gebiete in Ostfriesland (Sp.  1170–1172). Von der Neugestaltung sollten also alle profitieren, gleichwohl führt Hengstenberg nur am Beispiel der lutherischen Kirche aus, welche konfessionellen Rechte mit ihr verbunden sein müßten (Sp.  1172–1177): Erstens müßten in das Kirchenregiment „Männer von ausgeprägtem evangelisch-lutherischen Character“ berufen werden; zweitens sollte die Behörde auf das lutherische Bekenntnis verpflichtet werden; drittens solle man nicht nur von lutherischen Konfessionen und Gemeinden, sondern auch von einer „evangelisch-lutherischen Kirche“ reden dürfen. Viertens dürfe die Abendmahlsgemeinschaft nicht mehr gesetzlich gefordert werden, d. h. auf einen gemeinsamen Abendmahlsritus habe man zu verzichten, da er immer unter dem Verdacht stehe, „als Mittel zu einem andern Zwecke“, nämlich zur Beförderung der „unterschiedungslose[n] Union“ dienen zu sollen. Die wechselseitige Teilnahme am Abendmahl könne aber weiterhin „aus Liebe gern gewährt“ werden (Sp.  1175).228 Die Verteidigung der konfessionellen Rechte ist demnach einen deutlichen Schritt weitergegangen: Hengstenberg hielt nicht mehr nur den Schutz und die Pflege des Bekennt­nis­ses in den einzelnen Gemeinden für notwendig, es sollte 227   Der unausgesprochene dahinterstehende Gedanke ist, daß, wenn Preußen seine Mission erfüllt und Deutschland die nationale Einheit gefunden haben wird, sich die übrigen Kirchen Deutschlands einfügen und sich dem ihrer Konfession entsprechenden Kirchenregiment unterordnen können. 228   Vgl. dazu schon Hengstenberg, Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  54–57.

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3  Hengstenberg und die Kirche

vielmehr – als Schutz für die Einzelgemeinde – eine Gesamtvertretung der lutherischen Kirche in Preußen geschaffen werden. Damit griff er zentrale Forderungen aus Stahls Unionsbuch von 1859 auf. Waren diese Forderungen nun gleichbedeutend mit der Forderung nach Abschaffung der preußischen Unionskirche? Dagegen spricht, daß Hengstenberg nach wie vor auch die Lichtseiten der Union sehen konnte. Auch die Union habe nach „der ganzen vorliegenden Entwickelung Preußens“ ihr Recht. Die ausdrückliche Anerkennung der Union sei keine „abgedrungene Conzession, die wir machen, weil wir daran verzweifeln ohnedem unser eigentümliches Ziel zu erreichen“ (Sp.  1177),229 vielmehr beruhe sie auf den positiven Wirkungen der in Preußen schon vor 1817 bewährten Unionstendenz: 230 Sie habe die lutherische Kirche vor der „konfessionellen Verknöcherung bewahrt“ (Sp.  1178), der sie in anderen Territorien – z. B. in Sachsen – zum Opfer gefallen sei, und habe den frischen Geist, der nun die Kirche durchweht, mit vorbereitet. Gott selbst habe die Zeiten geändert, und eine Rückkehr zum alten konfessionellen Hader würde heißen „wider Gott streiten“ (ebd.). Nicht zuletzt gebe die zunehmende Feindschaft gegen das Christentum einen neuen Maßstab für die Bewertung der konfessionellen Gegensätze an die Hand (ebd.). Die Betonung des Gemeinsamen müsse daher auch in dem Kirchenregiment seinen Ausdruck finden (Sp.  1178). Das dreigeteilte Kirchenregiment solle sich deshalb in allen Fragen, die das konfessionelle Wesen der Gliedkirchen nicht beträfen – Hengstenberg denkt dabei an Ehescheidungssachen, Fragen der kirchlichen Bauten, der Sonntagsheiligung, Disziplinarsachen, „Gränzstreitigkeiten mit den Katholiken und Dissidenten“ –, zu Plenarsitzungen vereinigen (Sp.  1179). Außerdem könne ein gemeinsames Band „durch die Verpflichtung auf die Augsburgische Confession von 1530 gewonnen werden, für die Nichtlutheraner unter Freigebung des 10. Artikels an die confessionelle Auslegung“ (Sp.  1179); die Sonderbekenntnisse würden aber für die jeweilige Konfession ihre Gültigkeit behalten.231 229   Vgl. die Fortsetzung des Zitates: „Die Kirche ist uns kein Kauf haus: wir sind allem Handeln in geistlichen Dingen, allen aus berechnender Klugheit hervorgehenden Compromissen entschieden feind, wissen auch, daß sie nie zu etwas Dauerhaftem geführt haben“ (Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 [1866], Sp.  1177). 230   Wie oben Anm.  186 erwähnt, verliert für Hengstenberg bei der Beurteilung der Union das Datum 1817 je länger je mehr an Bedeutung. In den späteren Äußerungen wird stattdessen betont, daß die Union durch das reformierte Herrscherhaus in Preußen schon lange zuvor Realität war. 231   Hengstenberg sieht den Berliner Kirchentag von 1853 als vorbildlich dafür an. Auf ihm war die CA von Lutheranern, Reformierten und Unierten gemeinsam einstimmig als Konföderationsbekenntnis angenommen worden, vgl. Kreft, Kirchentage, 43–50.149 f.; Hengstenberg, Augsburgische Konfession, EKZ 54 (1854), Sp.  105–117, Nr.  11 f. Auf dem Kirchentag war zugleich die Gültigkeit der jeweiligen Sonderbekenntnisse festgehalten worden; daß es Hengstenberg darauf ankommt, betont er noch einmal im Vorwort, EKZ 85 (1869), Sp.  48–50.

3.3  Die preußische Union

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Hengstenberg erstrebte also, kurz gesagt, eine Konföderation der drei Bekenntniskirchen mit einem dreigeteilten Kirchenregiment unter einem Dach, das, wo es möglich ist, zusammenarbeitet und die Kirche nach außen vertritt, ansonsten aber die eigene Konfession pflegt.232 Hengstenberg wußte selbstverständlich, daß er beim EOK in seiner gegenwärtigen Besetzung auf wenig Gegenliebe für sein Modell stoßen würde.233 Umso mehr zielte sein Artikel darauf ab, die Zustimmung des landesherrlichen Kirchenregenten zu gewinnen. Er appellierte an die „Großherzigkeit, wie sie der Hohenzollern würdig ist“, und wies darauf hin, daß der preußische Staat längst dahin gelangt sei, den anderen Religionsgemeinschaften, allen voran den römischen Katholiken, aber auch den Baptisten eine „möglichst freie Entfaltung ihres eigentümlichen Wesens zu gewähren“ (Sp.  1177).234 Nicht ohne Anspielung auf die Religionspolitik Friedrich Wilhelms III. lobte Hengstenberg dieses Vorgehen, „da die Polizei ein schlechter Bundesgenosse für die Kirche ist“ und die Zeit gekommen sei, „daß die Geister der kirchlichen Gemeinschaften frei aufeinanderplatzen sollen“ (ebd.). Nur müsse die Toleranz eben auch für die Lutheraner in der Union gelten: „Es ist kaum denkbar, daß man in einem so weitherzigen Staate allein der Lutherischen Kirche versagen sollte, was ihr nach göttlichen und menschlichen Rechten zukomt [sic!]“ (Sp.  1177). In einem weiteren Argumentationsgang stellt Hengstenberg die preußische Entwicklung in einen geschichtstheologischen Rahmen: Am Anfang des Jahrhunderts sei die Kirche innerlich tot gewesen; darum sei ihr selbst die Schuld dafür anzulasten, daß der Staat 1808 mit einem „kühne[n] Griff “ (Sp.  1182) die kirchlichen Zentralbehörden aufgehoben und die Kirche in den staatlichen Behördenapparat integriert habe.235 Nach den Befreiungskriegen aber sei die Kirche zu neuem Leben erwacht. Das Preußische Königshaus – es halte sich „glücklicherweise nicht für unfehlbar gleich dem Papste in Rom“ (Sp.  1183) – habe nun mit der „Neubelebung der Kirche“ auch schrittweise ihre Selbständigkeit wieder gewährt: durch Einrichtung des Kultusministeriums und Wiederherstellung der Provinzialkonsistorien 1817, durch Einführung des Amtes des Generalsuperintendenten 1829, durch die Lösung der Provinzialkonsistorien von 232   Allerdings wird der Bereich des konfessionell Eigentümlichen nicht auf die Lehrfragen im strengen Sinne begrenzt. Hengstenberg merkt in diesem Zusammenhang an, „daß das Wesen der Lutherischen Kirche nicht in einer bloßen Ansamlung von Dogmen besteht, sondern in einer eigentümlichen Richtung des Wesens und Lebens“ (Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 [1866], Sp.  1178). – Eine Zusammenfassung seines Konzeptes bietet er wiederum in seinem letzten Vorwort, EKZ 85 (1869), Sp.  46. 233   Vgl. zur Haltung des EOK Besier, Kirchenpolitik, 117–150 und zur Position des Kultusministers Reichle, Mühler, 223–266. 234   1852 hatte Friedrich Wilhelm IV. die Duldung der baptischen „Sekten“ gewährt, vgl. Meyer, Allianz, 107. 235   „Das war die reichlich verdiente Babylonische Gefangenschaft der Kirche in Preußen. Sie hatte sich selbst säcularisirt, so wurde sie nun auch zur Strafe säcularisirt“ (Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 [1866], Sp.  1182).

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3  Hengstenberg und die Kirche

den Regierungen 1845, durch Einrichtung eines Oberkonsistoriums respektive Oberkirchenrates 1848 bzw. 1850 (Sp.  1183). Nur eines fehle noch: „es gilt, daß den verschiedenen Kirchen der Reformation ihr Recht auf ein selbständiges Kirchenregiment zurückgegeben werde [...]. Wir bitten zu Gott, daß es Wilhelm I. gegeben werde, diesen lezten Schritt zu thun, das Gebäude zu vollenden, welches seine in Gott ruhenden Vorgänger bis auf das Dach fertig hinterlassen haben.“ (Sp.  1184).236

Es gelte, „die Hand zurückzuziehen von Gottes Pflanzungen, die nur gedeihen können, wenn man sie gewähren läßt“ (Sp.  1184). Wenn man Hengstenbergs Äußerungen zur Unionsfrage über die Jahre verfolgt, dann wird deutlich, daß diese geschichtlich akzentuierte Argumentationslinie nichts Nebensächliches ist. Ausgangspunkt all seiner Überlegungen war, wie das nach den Befreiungskriegen neu erwachte christliche Leben am besten in die Kirche integriert werden könnte. Dazu müsse man – das war die Position von 1844 – beobachten, wie sich die Kirche von selbst entwickle und ihr dann die entsprechenden Strukturen zukommen lassen. Die Entwicklung habe nun eindeutig gezeigt, daß die Neubelebung von selbst zur Vergewisserung der eigenen konfessionellen Identität führe.237 Die freie Zustimmung zur Union, auf die der König 1817 alles abgestellt habe, sei nicht erfolgt (Sp.  1181), dem müsse nun endlich Rechnung getragen werden. Ist Hengstenberg damit endgültig zum Konfessionalisten geworden? Dagegen spricht, daß sich Hengstenbergs leitende Gedanken seit seinen ersten Äußerungen in den 30er Jahren nicht wesentlich verändert haben. Noch immer sieht er keinen inneren Grund, die Gemeinschaft mit den Reformierten und die kirchliche Zusammenarbeit abzulehnen.238 Noch immer betont er, daß die theologischen Gegensätze an Bedeutung verloren hätten (Sp.  1178). Noch immer richtet er sich nicht gegen die Union an sich, sondern gegen „die von Menschen gemachte Union“ (Sp.  1177).239 Nach wie vor lehnt er jede „handgreifliche 236   Vgl. ebd., Sp.  1181: Ein eigenes Kirchenregiment gehöre nämlich „grade so notwendig zur Kirche, wie der Kopf zu einem Menschen“. 237   Vgl. auch Hengstenberg, Vorwort, EKZ 85 (1869), Sp.  51. 238   Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 (1866), Sp.  1177: „Der Herausgeber kann kühn auffordern, daß man ihm in seiner schriftstellerischen Laufbahn auch nur ein einziges hartes Wort nachweise, welches er je gegen die Reformirten gesprochen, und er kann es bezeugen, daß er in allen Kreisen seines Verkehres, abgesehen von dem seligen Scheibel, den man freilich bei seiner erregbaren Natur sehr weit getrieben hatte, nie die Neigung zur Schroff heit gegen die Reformirten gefunden hat, immer vielmehr den Wunsch, in dem einträchtigen Zusammenleben mit den wahrhaftigen Gliedern dieser ehrwürdigen so viele Märtyrer und treffliche Theologen aufweisenden Kirche nicht durch die von Menschen gemachte Union gestört zu werden.“ Vgl. auch oben Anm.  9 0. 239   Damit ist nicht das Zusammenleben zwischen Lutheranern und Refomierten in Preußen gemeint und auch nicht der Unionsaufruf von 1817 – in beiden Entwicklungen kann Hengstenberg einen Fingerzeig Gottes erkennen; von Menschen gemacht sind vielmehr die Maßnahmen, die gegen den Widerstand die Union weiter vorangetrieben haben.

3.3  Die preußische Union

365

Sichtbarkeit“240 der Einheit ab, die nicht von selbst aus dem innersten Wesen der Kirche, aus dem Bekenntnis als Äußerung ihres Glaubens, erwächst. Nach wie vor sieht er die Verschiedenartigkeit der Kirchen nicht als Hinderungsgrund für die Einheit. Als hinderlich betrachtet er vielmehr die forcierte Union, die seit Jahrzehnten nur Streit und Abgrenzung hervorgebracht habe: „Man möchte doch endlich auf hören, das Wort von der einen Herde und dem einen Hirten zur Beschönigung des ‚trennenden Unionswerkes‘ zu misbrauchen. Es trifft nicht die Verschiedenheit der Kirchen, die notwendig ist, wenn die eine allgemeine Kirche ihren Reichtum vollständig entfalten soll, es trifft nur ihre Exclusivität“ (Sp.  1184).

Damit läßt sich Hengstenbergs Haltung zur Union abschließend beschreiben: Hengstenberg begrüßte zeitlebens den „Geist ächter Union“241, den Geist einer inneren, geistlichen Union zwischen den evangelischen Konfessionen. Solange die preußische Union diesem Geist diente, unterstützte er sie. Als er aber wahrnahm, daß die konsequente Weiterführung der äußeren Union zu einer Separation gerade derjenigen Glieder der Kirche führte, die ihre Wurzeln in der Erweckungsbewegung hatten, ging er auf Distanz zu ihr und verfocht das Recht der konfessionellen Eigenart. Dabei ging es ihm nie darum, die preußische Union zu sprengen.242 Er verstand die Union aber im Sinne der Kabinettsordern von 1834 und 1852, die den Schutz der Konfessionen gewährten, und er hielt dieses Verständnis gerade zum Erhalt der Union für unumgänglich. Nicht die unterschiedlichen Konfessionen, so Hengstenbergs Sicht, sprengen die Union und führen zur Auflösung der einen Landeskirche in Preußen, sondern die rücksichtslose Oktroyierung einer Konsensunion, die zudem unter dem Verdacht stehe, mit den historischen Gestalten auch wesentliche Inhalte der Bekenntnisse zu verabschieden.243 Hengstenbergs Sorge um die tiefere Einheit unter den Evangelischen führte ihn also zur Unterstützung der konfessionellen Lutheraner; einer von ihnen ist er dennoch nicht geworden.244 Erst nach Heng­ stenbergs Tod wurde die EKZ zum offiziellen „Organ der Evangelisch-Luthe240

  Siehe oben 3.1.2.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 85 (1869), Sp.  52. 242   Gg. Besier, Kirchenpolitik, 59. 243   Hengstenbergs Position wird gut in einer Formulierung von Regierungsrat Schede ausgedrückt. Er erinnert daran, „daß es grade die Einheit, die wir wirklich haben, ist, um deren Willen die Confessionellen den Kampf in der Landeskirche führen. Diese Einheit ist durch die confessionellen Bestrebungen nicht nur nicht gefährdet, sondern grade im Gegentheil, sie sind direct darauf gerichtet, diese Einheit zu bewahren.“ (Schede, Die Königl. Erlasse, EKZ 53 [1853], Sp.  935; vgl. oben Anm.  211). 244   Das kann man sich auch daran verdeutlichen, wenn man beobachtet, wie Besier in seiner Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen nach 1866 (Besier, Kirchenpolitik, 246–254) versucht, Hengstenbergs Position unterzubringen. Besier, der nur Hengstenbergs Beitrag von 1866 behandelt und dessen Motive nicht kennt, spricht von „der auf beiden Seiten hinkenden, von den zuerst genannten Richtungen [sc. den kompromißlosen Lutheranern] im Grunde verachteten Hengstenbergischen Partei“ (ebd., 249). Als Vertreter einer 241

366

3  Hengstenberg und die Kirche

rischen innerhalb der Preußischen Landeskirche, (Bekenntnistreue Gruppe)“245. Verantwortlich dafür zeichnete sich Hengstenbergs Nachfolger, Pastor Hermann Tauscher. Er machte die Übernahme des Blattes davon abhängig, daß es „im eigentlichen Sinne Parteiorgan, das Organ der Lutheraner innerhalb der preußischen Landeskirche, und von der gesammten Partei als solches anerkannt und getragen werde.“246 Hengstenberg soll dem noch auf seinem letzten Krankenlager zugestimmt haben, jedoch mit einem Einwand, der für seine Haltung charakteristisch ist: „Erhalten Sie der Ev. K.-Z. ihren weiten Horizont!“247 Ein lutherisches Parteiblatt war die EKZ in den 42 Jahren seiner Redaktionstätigkeit trotz der konfessionellen Vorliebe ihres Herausgebers nie geworden.

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche Der von Hengstenberg vertretene Grundsatz, daß die „Verschiedenheit der Kirchen“ notwendig sei, „wenn die eine allgemeine Kirche ihren Reichtum vollständig entfalten soll“248 , legt die Vermutung nahe, daß er den Reichtum der Kirche nicht auf die zwei oder drei in der preußischen Union vertretenen Konfessionen beschränkt sah. Es stellt sich daher zum einen die Frage nach Heng­ stenbergs Beurteilung derjenigen Kirchen, die ihren Ursprung nicht der Reformation verdanken.249 Hielt er auch Kirchengemeinschaft mit ihnen für möglich? Und wenn ja, in welchem Sinne? Auf der anderen Seite gab es natürlich nicht nur in Preußen und Deutschland Versuche, den über die Konfessionsgrenzen hinausgehenden Gemeinsamkeiten sichtbar Ausdruck zu verleihen. Wie stellte sich Hengstenberg dazu? Geben sich auch in diesem Bereich seine Grundsätze zu erkennen? Es kann hier nicht darum gehen, beide Fragerichtungen umfassend zu thematisieren. Das ist auch gar nicht nötig, weil – wie sich zeigen wird – die wesentlichen Aspekte von Hengstenbergs Modell der Kirchengemeinschaft bereits auf dem Tisch liegen. Es soll vielmehr paradigmatisch und gleichsam als Gegenkonföderativen Lösung stehe Hengstenberg zwischen „den harten Fronten der totalen Union und der Trennung der verschiedenen Bekenntnisse“ (ebd., 45). 245   Mit diesem Untertitel, den die EKZ zu Lebzeiten Hengstenbergs nie trug, ist das Blatt heute in allen digitalen Bibliothekskatalogen verzeichnet; die irreführende Katalogisierung suggeriert, die Zeitung sei bereits unter Hengstenberg nur das Organ der preußischen Lutheraner gewesen – das war sie aber nicht. 246   Tauscher, Eben Ezer, Sp.  624 f. 247   Ebd., Sp.  625. 248   Hengstenberg, Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 (1866), Sp.  1184. 249   Hinsichtlich der reformatorischen Kirchen beschränkte sich Hengstenbergs positives Urteil nicht auf die beiden prote­stan­tischen Schwesterkirchen, sondern er schloß auch die später aus ihnen hervorgegangenen neuen Kirchengestalten ein: die Brüdergemeine und die Methodisten (s. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 [1853], Sp.  56); eine ablehnendere Haltung nahm er jedoch gegenüber den Baptisten ein (vgl. dazu unten 3.4.2).

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

367

probe für das Dargelegte aufgezeigt werden, wie sich Hengstenbergs Konzeption in anderen Kontexten bewährte. Die beiden Beispiele sind naheliegend: Zunächst wird auf Hengstenbergs Sicht der römischen Kirche und anschließend auf seine Beurteilung der Evangelischen Allianz eingegangen. Im Rahmen der genannten Fragestellung, kommt es nur auf die großen Linien an. Auf Details wird daher verzichtet.

3.4.1  Das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche Hengstenbergs Stellung zur römisch-katholischen Kirche war weder schlechthin feindlich noch vorbehalt­los freundlich. Er hat das Anliegen der Erwek­ kungsbewegung, das man als „universalistisches“250 oder „ökumenisches“ Motiv bezeichnet hat, geteilt; auch für ihn endete die Kirche Jesu Christi nicht vor den Toren der evangelischen Kirche. Auf der anderen Seite fühlte er sich von der römischen Kirche, zumal von ihrer äußeren Gestalt, nie angezogen. Die heimlichen Sympathien für Rom, die man den Erweckten nachsagte und die sich auch tatsächlich an Personen wie Ernst Ludwig von Gerlach oder Hein­rich Leo in unterschiedlicher Intensität aufweisen lassen,251 teilte er nie.252 Ganz entschieden verwahrte er sich aber auch gegen den unter Protestanten im 19. Jahrhundert zunehmend anzutreffenden antikatholischen Affekt. Beides, Nähe und Distanz zur römischen Kirche, erklärt sich dabei aus ein und demselben Motiv, das nun zu schildern ist. Dabei soll in zwei Schritten vorgegangen werden. Zunächst wird Hengstenbergs Sicht des römischen Katholizismus in der Zeit vor 250

  Gäbler, „Auferstehungszeit“, 173 f.   Vgl. dazu Schoeps, Das andere Preußen, 194–196.221 f. Bei der Beurteilung Stahls muß man wohl vorsichtiger sein, als Schoeps es ist. Stahls Kritik an den Defiziten der evangelischen Ekklesiologie läßt sich nicht einfach in eine Zustimmung zur römischen Seite ummünzen. Später waren es denn auch nur Gerlach und Leo, die sich für ökumenische Experi­men­te wie die Erfurter Versammlung von 1860 gewinnen ließen; Hengstenberg und Stahl lehnten solche Versuche ab, vgl. ebd., 240.319–352 und Hengstenberg, Vorwort EKZ 68 (1861), Sp.  47–52. Gerlach wurde bekanntlich zuletzt sogar Mitglied der Zentrumspartei; vgl. zu Leo von Maltzahn, Leo, 288–302. 252   Die Bezeichnung der Erweckten als Freunde Roms ist ein stehender Topos der Pietistenschelte, die schließlich auf den ganzen Kreis um die EKZ übertragen wurde, vgl. oben 2.1.2; in den 40er Jahren wurde zudem Friedrich Wilhelms IV. Vor­liebe für das Episkopalsystem auf Hengstenberg und seine Freunde projiziert. Auf den Vorwurf, es gebe in Berlin Kreise, „die sich vorzugsweise als kirchliche geben und in denen Puseyitische und katholisirende Tendenzen vorwalten“, reagierte Hengstenberg gelassen: Wer dies behauptet, „würde sich sehr in Verlegenheit befinden, wenn er diese Kreise näher nachweisen sollte. Uns sind dieselben völlig unbekannt.“ (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 [1845], Sp.  13). Was Hengstenberg angeht, läßt sich in der Tat keine Nähe zu Pusey, der ihm aus dessen Studienzeit in Berlin persönlich bekannt war und den er sogar mit einem Empfehlungsschreiben für Ewald in Göttingen (Hengstenberg an Ewald, Berlin 11. Juli 1826: SUB Göttingen, Cod. Ms. Ewald 41:570) und Brandis in Bonn (Hengstenberg an Brandis, Berlin 1. Dez. 1826: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  170) versehen hatte, feststellen. 251

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3  Hengstenberg und die Kirche

1830, in dem Zeitraum also, als er sich für die äußere Kirchengestalt noch nicht besonders interessierte, skizziert. Anschließend wird im Überblick auf seine Position nach 1830 eingegangen. Die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus hatte für Hengstenberg zunächst einen persönlichen Anlaß. 1827 konvertierte der vortragende Rat im Kultusministerium und Regierungs­be­voll­mächtigte bei der Berliner Universität G.Ph.L. von Beckedorff zur römisch-katholischen Kirche. Becke­dorff wandte sich vor dem Schritt ratsuchend an Hengstenberg; der versuchte in mehreren Gesprächen, ihn davon abzubringen, doch es gelang ihm nicht.253 Im Zusammenhang mit der Konversion Beckedorffs beschäftigte sich Hengstenberg intensiver mit dem Katholizismus und übersetzte auf Wunsch des Ministers, der ebenfalls Beckedorffs Absichten entgegenwirken wollte, die Schrift eines zum Prote­stantismus konvertierten französischen Katholiken.254 Außerdem verfaßte er zu dem Werk eine Einleitung, die das Verhältnis der evangelischen Kirche zur römischen besprach. Sie gefiel dem Minister gut, war aber als Vorwort zu ausführlich und sollte daher gesondert gedruckt werden. Schließlich erschien sie als der erste Aufsatz in der EKZ. Der Beitrag ‚Ueber das innere Verhältniß der Evangelischen Kirche zu der Römischen‘255 betrachtete das Verhältnis beider Kirchen hauptsächlich vom Gesichtspunkt der Lehre aus. Mit der Abweisung der römischen Irrtümer bot er daher zugleich eine Übersicht über die wichtigsten evangelischen Lehren und sollte auf diese Weise als Standortbestimmung für die EKZ dienen. Was nun das Verhältnis der beiden Kirchen zueinander angeht, war der Gedanke leitend, daß die römische und die evangelische Kirche in den Grundlehren geschieden seien. Insofern stellte sich für Hengstenberg die Differenz zu Rom ungleich größer dar als die innerprotestantische. Seine Hoffnungen richteten sich daher auch nicht auf die römische Kirche als ganze, sondern lediglich auf einzelne Gläubige. Nach den Zeichen der Zeit dürfe man hoffen, „daß die Fülle des heiligen Geistes, die in unseren Tagen ausgegossen zu werden beginnt, auch in der Römischen Kirche viele zum Leben erwecken, und sie antreiben wird, sich auch äußerlich derjenigen Kirche anzuschließen, der sie innerlich angehören“ (Sp.  41). Hengstenberg spielte damit auf die Erweckten innerhalb der römischen Kirche an. Er kannte die bayrische katholische Erweckungsbewegung, er wußte wahrscheinlich auch, daß die Berliner Bewegung von ihr berührt worden war.256 Seine Erwartung war darauf gerichtet, daß sich früher oder später alle Erweckten zur evangelischen Kirche wenden würden. Auf diesem Weg betrachtete er die katholische Kirche als eine Art Durchgangsstation. Er ließ kei253

  S. Bachmann 2, 45–47.   S. Bachmann 2, 47 f. und unten Teil 4.1. 255   EKZ 1 (1827), Sp.  4–7.9–15.17–22.25–31.33–39.41–44, Nr.  1–6 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 256   Vgl. oben 1.2. 254

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

369

nen Zweifel daran, daß sie, obwohl sie viele Irrtümer mit dem Rationalismus teile, doch ungleich höher zu stellen sei: 257 „Die Römische Kirche ist eine Christliche, und ihre Lehre ist unendlich erhaben über alle Ausgeburten des Unglaubens.“ (Sp.  38). Insbesondere habe sie den rationalistischen Ansichten voraus, daß ihr Verständnis von der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes zur Sündenerkenntnis führen könne und damit zu einer Grundbedingung des Heils. Dadurch erkläre sich auch, „wie zu der Zeit der Reformatoren das Evangelium einen so weit schnelleren Fortgang hatte wie jetzt. Damals war das Erdreich schon locker gemacht und vorbereitet und es bedurfte nur der Einstreuung des guten Saamens.“ (Sp.  43). Es zeigt sich also schon hier, daß Hengstenberg den Graben zwischen der römischen und der evangelischen Kirche als weniger tief einstufte als den zwischen der reformatorischen Lehre und den Lehren der Auf klärung. Die Reformation bedeutete für ihn nicht nur einen Neuanfang, sondern auch eine Anknüpfung an das in der mittelalterlichen Kirche, die seiner Auffassung nach noch nicht die römische Kirche im konfessionellen Sinne darstellte, sondern „beide Kirchen in sich enthielt“258 , bewahrte christliche Glaubensgut. Hengstenbergs erste Stellungnahme ist insofern charakteristisch, als schon hier die positiven Seiten der römischen Kirche hervorgehoben werden. Ihn überrascht es nicht, daß sich auch im Kontext des Katholizismus Erneuerungsbewegungen breit machen. Jedoch rechnete er damit, daß diese Bewegungen schließlich in den Strom der reformatorischen Kirchen münden würden. Gerade dieser letzte Punkt aber sollte von Hengstenberg nach 1830 nicht mehr in dieser Einlinigkeit vertreten werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß seine Überlegungen zur Sichtbarkeit der Kirche, wie sie oben dargelegt wurden, auch seine Einschätzung zur römisch-katholischen Kirche verändert haben. In seinen späteren Äußerungen richteten sich seine Hoffnung nämlich nicht mehr nur auf einige einzelne gläubige Katholiken, sondern auf eine positive Entwicklung der römischen Kirche als ganzer. Das äußere Nebeneinander der großen Kirchen könne durchaus bestehen bleiben, wenn nur die Hauptdifferenz, der Unterschied in der Lehre aufgehoben würde: „Wäre erst die Einheit in den Hauptpunkten der Lehre wiederhergestellt, so wäre das Nebeneinanderbestehen der Griechischen, Katholischen, Evangelischen Kirche nicht als Übelstand, es wäre vielmehr als der vollkommenere Zustand zu betrachten.“259 Auch die römische Kirche wird von Hengstenberg nun als legitime Gestalt der einen allgemeinen Kirche betrachtet. Ausdrücklich bezeichnet er sie als „eine große Abtheilung 257   Es lasse sich nachweisen, „daß die Lehre der Rationalisten unendlich weiter von der Evangelischen entfernt ist, als die der Römischen Kirche“ (ebd., Sp.  43). 258   Ebd., Sp.  5 – die römische Kirche im konfessionellen Sinne läßt Hengstenberg erst mit dem Tridentinum beginnen; vgl. zum Verhältnis der Reformation zum Mittelalter auch oben 2.3.3.2.2. 259   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  30 f., vgl. oben 3.1.2.

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3  Hengstenberg und die Kirche

der Kirche des Herrn“260 und spricht von der „irrenden Schwester“261. Dadurch aber verändert sich sein Blickwinkel: Hengstenberg interessierte sich ab den 30er Jahren nicht mehr nur für einzelne erfreuliche Erscheinungen innerhalb des Katholizismus, er fragte nun immer auch nach der Entwicklung der Kirche als ganzer und registrierte alles, was die irrende Schwester entweder weiter in den Irrtum hin­eintrieb oder von dem Irrtum befreite. Denen, die die römische Kirche sich selbst überlassen wollten und auf ihren Untergang hofften, rief er zu: „Wir sollen mit lebhaftem Interesse die Zustände der Katholischen Kirche verfolgen, weil sie eine christliche ist. Worin sich dieser ihr Charakter ausprägt, das soll uns herzlich freuen.“262 In diesem Sinne nahm Hengstenberg zu allen wesentlichen Entwicklungen in der Schwesterkirche Stellung: 1836 meldete er sich zum Hermesianismus zu Wort, worauf Erzbischof von Droste-Vischering ein freundliches Schreiben an ihn richtete.263 Zu den Kölner Wirren, vor allem aber zu den Streitschriften von Görres nahm er 1839 Stellung, und selbstverständlich kommentierte er 1845 auch die Trierer Wallfahrt, 1855 die Verkündigung des Mariendogmas von 1854, 1866 den Erlaß des Syllabus und 1869 das bevorstehende Konzil.264 Grundlegend für alle diese Stellungnahmen war immer folgende Perspektive: Hengstenberg sah innerhalb der römisch-katholischen Kirche zweierlei Richtungen am Werk. Auf der einen Seite gebe es „die partie honteuse des Katholizismus“265 , zu der Görres gehöre und in der die Differenz zwischen Katholizismus und evangelischer Kirche scharf zum Ausdruck komme; später wird sie durchgängig die „jesuitische“ Richtung genannt.266 Den Unterschied zwischen ihr und der evangelischen Kirche dürfe man nicht künstlich kleinreden. In ihr zeige sich der ursprüngliche Irrtum des Katholizismus, der auch die Reformatoren zur einseitigen Betonung des Gegensatzes geführt habe. Sie verkörpere nämlich die Irrlehre von der überragenden Bedeutung des römischen Stuhles und vertrete eine falsche Lehre von der Kirche. Würde sich diese Gruppe innerhalb des Katholizismus durchsetzen, gebe es wenig Hoffnung: „Je mehr Rö-

260   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  6 ; vgl. Ders., Entwurf, EKZ 39 (1846), Sp.  517 f. 261   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  24. 262   Hengstenberg, Georg Hermes, EKZ 19 (1836), Sp.  474; vgl. ebd., Sp.  510: „Denen, welche uns entgegenrufen möchten, was gehen dich die draußen an, antworten wir: Christiani nihil a me alienum puto, und geben ihnen das: Tua res agitur, u. s. w. zu bedenken.“ 263   Vgl. die vorige Anmerkung und Droste zu Vischering an Hengstenberg, 16. Juni 1837: Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 222. 264   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  1–20 (zu den Kölner Wirren und Görres); EKZ 36 (1845), Sp.  17–21 (zum Trierer Rock); EKZ 56 (1855), Sp.  15–24 (zum Mariendogma); EKZ 78 (1866), Sp.  44–56 (zum Syllabus erorum); EKZ 84 (1869), Sp.  61–63 (zum Ersten Vatikanischen Konzil). 265   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  4. 266   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  1.

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

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mischer Geist in der Katholischen Kirche, dies zeigt die Geschichte unwidersprechlich, desto weniger christlich.“267 Allerdings sei es verkehrt, in der gegenwärtigen Zeit in einer Einseitigkeit, wie sie für die Reformatoren angemessen war, nur auf diese Richtung und den in ihr verkörperten Irrtum zu starren. Die evangelische Kirche der Gegenwart habe die Aufgabe, „neben dem Irrthum in der Wahrheit zugleich die Wahrheit in dem Irrthum hervorzuheben, sie zu lieben, uns zu ihr und ihren Trägern vor der Welt zu bekennen“268 . Wie der „Irrtum in der Wahrheit“ so wird auch „die Wahrheit in dem Irrthum“ von einer bestimmten Richtung in der römischen Kirche verkörpert. Hengstenberg zählt zu ihr den Jansenismus, vor allem aber Pascal, und schließlich „Erscheinungen wie Sailer, Feneberg, Overberg und die Fürstin Gallitzin.“269 Später spricht Hengstenberg stereotyp von der „FenelonSailersche[n]“270 Richtung. Auch Thomas a Kempis und Theresa von Avila werden ihr zugerechnet.271 Kennzeichnend für sie sei, daß ihre Herzensstellung in dem Satz „Christianus mihi nomen, Catholicus cognomen“272 zum Ausdruck komme. Sie betone das gemeinsam Christliche und leide nicht an der Überbetonung des Römischen. Bemerkenswert ist, daß Hengstenberg nicht die katholische Ekklesiologie und das Papsttum als solche, sondern nur ihre Übertreibungen für kirchentrennend hielt: „Die Katholische Kirche kann ihre Lehre von der Kirche, kann ihre Stellung zum Papste nie aufgeben. Aber das unmäßige Übergewicht, was diese Lehre jetzt gewonnen hat, und mit jedem Tage mehr gewinnt, ist nicht mit dem Wesen dieser Kirche selbst gegeben.“273 Nun konnte es auch Hengstenberg nicht entgehen, daß im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht die „Sailer-Fenelonsche“, sondern die romtreue, „jesuitische“ Richtung an Boden gewann. In seiner Reaktion auf die Kölner Wirren und Görres’ publizistische Attacken auf die evangelische Kirche und den preußischen Staat versuchte er, diese Entwicklung zu deuten. Dabei treten ganz ähnliche Deutungsmuster auf wie bei der Beurteilung der Entwicklung der evangelischen Kirche. Die Tatsache, daß momentan der Ultramontanismus zunehme, leitete Hengstenberg nämlich von den politischen Rahmenbedingungen ab. Der Katholizismus leide unter den Erfahrungen, die er zur Zeit des Josephinismus gemacht habe. Gerade katholische Herrscher hätten im 18. Jahrhundert die Lehre „von der Omnipotenz des Staates und der unbedingten Abhängigkeit der Kirche“274 in äußerster Strenge vertreten. Dadurch habe die Kirche gelernt, daß sie sich der Umarmungen des Staates nur durch Anlehnung an Rom er267

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  2 0.   Ebd., Sp.  3. 269   Ebd., Sp.  4. 270   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  1. 271   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  46; Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  52. 272   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  5 ; Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  46. 273   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  2 0. 274   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  16. 268

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3  Hengstenberg und die Kirche

wehren könne. Nachdem nun in der deutschen katholischen Kirche seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein neuer christlicher Geist erwacht sei, habe sie sich auch mehr und mehr auf ihre Selbständigkeit besonnen, dabei aber im preußischen Staat eine Gefahr gesehen.275 Daher habe die geistliche Belebung des Katholizismus zugleich den Ultramontanismus hervorgebracht. Die „jesuitische“ Richtung richte sich also in letzter Konsequenz gegen den preußischen Staat. Darum, so empfahl Hengstenberg, müsse der Staat im Verhältnis zur katholischen Kirche „die Josephinische Bahn“276 völlig verlassen. Nur dann würden auch die wahrhaft christlichen Kräfte wieder erstarken. Bekanntlich ist dieser Weg nach der Regierungsübernahme Friedrich Wilhelms IV. eingeschlagen worden. Die ultramontane Richtung wurde dadurch aber nicht schwächer. 1845 beklagte Hengstenberg, daß die „jesuitische“ Richtung „täglich mehr überhand“ nehme, „die Lebenszeichen“ der „Sailer-Fenelonschen“ Richtung aber „immer seltener“ würden.277 Der unter Katholiken um sich greifende Geist des Hasses gegen die Evangelischen sei dabei weniger bedenklich als die Tatsache, „daß sich so wenige Spuren einer kräftigen Opposition dagegen zeigen, so wenige Merkmale von dem Vorhandenseyn einer innerlichen, geistlichen Richtung, einer solchen, der es mit dem Christianus mihi nomen, Catholicus cognomen wahrhaft Ernst ist.“ (Sp.  6). An der Ausdehnung der letzten Richtung hänge aber „die Zukunft der Katholischen Kirche, ihr Leben und ihr Tod. Die sich jetzt als ihre wärmsten Freunde gebehrden, sind ihre verderblichsten Feinde.“ (Sp.  7). Die Begeisterung des Ultramontanismus überspiele nur, daß auch in der römischen Kirche der Unglaube weit verbreitet sei.278 Doch wünschte sich Hengstenberg keine „Selbstauflösung des Katholicismus“ durch den Unglauben: „wir wünschen nicht, daß eine solche durch den Unglauben erfolge, den wir noch immer als einen gemeinschaftlichen Feind betrachten, so nahe es uns leider auch die fanatische Partei unter den Katholiken gelegt hat, in ihm einen Verbündeten zu erblicken“ (Sp.  11). Aus diesem Grund wandte er sich auch scharf gegen alle Protestanten, die mit dem suspendierten 275   Hengstenberg hält diese Furcht allerdings für einen Irrtum: „Unter allen Deutschen Staaten – dies ist von den Katholiken in unseren Tagen schmählich und undankbar verkannt worden, ist wohl keiner, der sich von diesen Josephinischen Tendenzen so frei erhalten hat, wie der Preußische.“(ebd., Sp.  19). 276   Ebd. Sp.  2 0. 277   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  1 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext; als Kennzeichen für diese Entwicklung nennt Hengstenberg, ebd., Sp.  1–16: 1. den maßlosen Haß gegen die evangelische Kirche, 2. die Versuche, die evangelische Kirche in ihrem Besitzstand zu beeinträchtigen, 3. die in der katholischen Kirche verbreitete Freude über die vermeintliche „Selbstauflösung des Prote­stantismus“, 4. das Rühmen der Vorzüge der katholischen Kirche, 5. den Geist der Proselytenmacherei. 278   Ebd., Sp.  10: „Die Masse des Unglaubens ist in dieser Kirche eben so groß, wie in der unsrigen, der Unterschied ist nur der, daß dort die kirchliche Disciplin schärfer ist, wie bei uns.“

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

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schlesischen Kaplan Johannes Ronge gemeinsame Sache machen wollten. Ronge hatte sich im Herbst 1844 in einem offenen Brief gegen die Ausstellung des Trierer Rockes gewandt und den Trierer Bischof mit Tetzel verglichen und war darauf als „Reformator des 19. Jahrhunderts“279 gefeiert worden. Mit seinen Anhängern gründete er sogenannte deutschkatholische Gemeinden, die Heng­ stenberg schon allein aus dem Grund verhaßt waren, weil sie von den Lichtfreunden unterstützt wurden. Hengstenberg war kein Freund der Trierer Wallfahrt. Er hielt es zwar nicht für grundsätzlich problematisch, „wenn auf dem Gebiete der Religion das Äußere zum Mittel der Vergegenwärtigung des Innerlichen und Geistlichen gemacht wird“ (Sp.  18). Doch bleibe die katholische Kirche dabei „ganz auf dem Alttestamentlichen Standpunkt stehen“, der ausschließlich das Äußere darbiete und es versäume, durch die Predigt dem Symbol eine richtige Deutung zu geben (Sp.  19).280 Darüber hinaus kritisierte er die Unehrlichkeit, daß man nicht offen zugebe, daß der Trierer Rock nicht echt sei (ebd.). Gleichwohl schloß er nicht aus, daß für viele Katholiken die Wallfahrt das „Mittel einer wenn auch dürftigen Vereinigung mit dem Herrn selbst war“ (Sp.  20). Auch in diesem Irrtum versuchte Hengstenberg also die Wahrheit zu erkennen. Die rationalistisch unterfütterte Kritik Ronges hielt er demgegen­ über für nicht christlich: „Unter dem Vorwande des Kampfes gegen den Rock ist es zugleich auf den Herrn selbst abgesehen.“ (Sp.  21) Als Grundsatz hielt er fest: „So sollen wir uns auch in Bezug auf den Katholicismus nur solcher Angriffe freuen, welche von dem Mittelpunkte der evangelischen Lehre, von der Rechtfertigung durch den Glauben ausgehen, die allein auf einen wahrhaft höheren Standpunkt erheben kann.“ (Sp.  20) Als Voranschreiten der jesuitischen Richtung bewertete Hengstenberg zehn Jahre später auch die Verkündigung des Dogmas von der Immacula conceptio Mariae. Als Feind der Katholischen Kirche müßte man sich über den Beschluß freuen, schreibt er. „So aber, da wir in ihr, so lange sie noch auf dem Grunde der drei Bekenntnisse der Christenheit auf Erden steht, einen Theil der allgemeinen Kirche Jesu Christi erkennen müssen, können wir uns nur tief betrüben, eingedenk des Wortes, daß so ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden.“281

Dabei sieht er noch nicht einmal das Dogma an sich als Hauptproblem an. Im Vergleich mit der in der katholischen Frömmigkeit verbreiteten Marienvereh279   Obst, Lichtfreunde, 325; vgl. zu Ronge und dem Deutschkatholizismus auch Kuhn, TRE 8. 280   Im Blick auf die evangelische Kirche stellt Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  19 fest, daß für sie das Äußerliche nie solche Bedeutung hatte: „Sie hat an der herzumwandelnden Predigt der Rechtfertigung aus lauter Gnade ein so kräftiges Mittel der Wirksamkeit, daß das Äußere in ihr nur eine sehr untergeordnete Stellung einnehmen konnte“. 281   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  15 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext.

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3  Hengstenberg und die Kirche

rung müsse man fast noch dankbar sein über die Fassung des Dogmas.282 Vielmehr gelte: „Das Verfahren ist weit schlimmer als sein Product.“ (Sp.  18) Für das Dogma fänden sich nämlich keinerlei Argumente in der Schrift, ja nicht einmal in der Alten Kirche. Seine Quelle sei vielmehr „in einer verirrten volksmäßigen Frömmigkeit zu suchen, die ihren Hauptsitz in Italien hat.“ (Sp.  15) Diese habe man so lange bändigen können, wie der Dominikanerorden den größten Einfluß gehabt habe. Mit dessen Niedergang und dem Aufschwung der Jesuiten habe ihr nichts mehr im Wege gestanden. Das Dogma stelle daher den „vom Pabste nur sanctionierten Volkswillen“ (Sp.  16) dar. Es diene in erster Linie der päpstlichen Regierung, die ihre äußere Stärke in Zeiten der Schwäche darin suche, „daß sie überall mit dem Strome der Volksfrömmigkeit schwimmt“ (Sp.  15). Und ironisch setzte Hengstenberg hinzu: „wir sehen hier, daß es doch nicht ganz ohne Grund ist, wenn der Pabst sich servus servorum dei nennt, es wird aber grade da gedient, wo es sich am allerwenigsten ziemte, um anderweitig um so unumschränkter herrschen zu können“ (Sp.  16). Es ist nicht nötig, alle weiteren Äußerungen Hengstenbergs zur Entwicklung der römisch-katholischen Kirche in seinem letzten Lebensjahrzehnt zusammenzutragen. Die Tendenz ist deutlich und immer dieselbe. Hengstenberg kritisiert alle Erscheinungen, die dem eigentlichen, christlichen Wesen der Schwesterkirche widersprechen, und lobt alles, worin er eine Zunahme des Christlichen zu erkennen meint. Ein Christ könne einfach nicht anders, so schreibt er wiederholt, „als Christum in Allen lieben, in denen er Gestalt gewonnen, mögen sie nun aus seiner [scil. eigenen] Kirche seyn oder nicht“283. Erwähnenswert ist allerdings, daß Hengstenberg mit dieser Haltung auf Widerspruch innerhalb 282

  Die Ehre, die Maria zuteil werde, sei „eine ziemlich harmlose, wenn man sie mit demjenigen vergleicht, was in dem wirklichen Leben der Katholischen Kirche auf diesem Gebiete vorkommt. Das neue Dogma hält sich ganz innerhalb der menschlichen Gränzen, und nimmt zur Vergottung der Maria keinen Anlaß. Die bloße unbefleckte Empfängniß und daraus hervorgehende Sündlosigkeit ist nur ein geringer Vorzug für ‚die Königin des Himmels‘.“ (Sp.  17). 283   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  8. Diesen Grundsatz stellt Hengstenberg an anderer Stelle (Vorwort, EKZ 48 [1851], Sp.  19) als das Markenzeichen August Neanders dar. Im Unterschied zu Neander ging es Hengstenberg aber nicht nur um den einzelnen Christen, in dem Christus Gestalt gewonnen habe, sondern auch um dessen Kirche, vgl. Ders., Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  23: „Nicht confessionellem Zelotismus ist der Sieg verheißen [...], sondern nur dem Sinne, der zunächst in Sorge um das Heil der eigenen Seele sich die edlen Güter nicht verkümmern lassen will, die Gott der Kirche der deutschen Reformation anvertraut hat, dem zarten kirchlichen Gewissen und doch dabei weiten christlichen Herzen, das mit Liebe allem entgegenschlägt, was das Bild Christi darbietet, wo es sich auch finden möge, unter Reformirten oder unter Katholiken, und auch unter Baptisten und Quäkern, was nicht blos dem Christlichen in den Individuen anderer Kirchen und Sekten Anerkennung gewährt, sondern auch in den Kirchen und Sekten selbst, trotz aller Trübungen, Christum zu erkennen vermag [...].“; ganz ähnlich Ders., Augsburgische Confession, EKZ 54 (1854), Sp.  111 f.: „Wir halten es für eine heilige Aufgabe unserer Zeit, für etwas, was in ihr der Geist den Gemeinden sagt, daß überall und auch wo er in tieferer Verhüllung auftritt, als dies in der Reformirten Kirche der Fall ist, daß auch unter Katholiken und Baptisten,

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

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seiner eigenen Kreise stieß. Hengstenberg hielt 1852 auf dem Bremer Kirchentag einen Vortrag über ‚Die Katholischen Missionen und die Evangelische Kirche‘284, der von der geschilderten Haltung getragen war. Zwei Jahre zuvor hatte er sich zudem aus exegetischen Gründen öffentlich von Luthers Ansicht di­ stanziert, daß man in dem Papst den Antichrist sehen müsse (vgl. oben 2.3.3.2). Auf dem Kirchentag hatte Hengstenberg nun die Frage, ob evangelische Regierungen katholische Missionen dulden müßten, grundsätzlich bejaht. Allerdings hielt er in diesem Zusammenhang die Haltung zur katholischen Kirche für zweitrangig, ihm kam es – wie er später schreibt – darauf an, „in den Gemüthern die Ueberzeugung lebendig zu machen, daß die letzte Entscheidung in dem Kampfe jedenfalls nur davon abhängt, ob wir uns von dem Feuer einer neuen Reformation durchläutern lassen oder nicht“285. In der anschließenden Diskussion sah er sich nun genötigt, seine Haltung zur römischen Kirche gegen diejenigen Kirchentagsteilnehmer zu verteidigen, die in ihr nur die „Ausgeburt der Hölle“ und im Papst „das Thier aus dem Abgrunde“286 sahen. Im Rückblick darauf betonte er wiederum: „Es ist so klar wie die Sonne, daß die Katholische Kirche neben großen und schweren Irrthümern, die uns von ihr geschieden haben und halten, und die der Evangelische Christ nicht ohne große und schwere Versündigung gegen den Herrn, der in seiner unverdienten Gnade unserer Kirche das Licht seines Evangelii in voller Klarheit aufgehen ließ, verkennen oder verringern darf, herrliche und heilbringende Wahrheiten hat, die uns mit ihr gemeinsam sind. Es kommt nun in einer solchen Kirche darauf an, auf welche Seite jede einzelne Seele den Accent legt, auf die der Wahrheit oder auf die des Irrthums. Bei aller großen Wichtigkeit des Dogmas sind die Menschen doch keine wandelnden dogmatischen Begriffe, wie die ältere Polemik das wähnte. Ein Mensch kann ohne wesentlichen Schaden bedeutende Irrthümer haben, wenn nur sein Herz nicht bei ihnen ist [...], sondern bei den neben ihnen vorhandenen Wahrheiten.“287

Letzteres sei in der katholischen Kirche bei der jesuitischen Richtung nur bedingt, ansonsten aber in nicht zu verachtendem Grade der Fall. Keinesfall dürfe

inmitten des äußerlichsten Kirchen- und vielfach ungesunden Sectenwesens, Christus erkannt werde [...].“ 284   Abgedruckt in EKZ 51 (1852), Sp.  713–733, Nr.  77; referiert bei Kreft, Kirchentage, 138–141; vgl. auch den bereits vor dem Kirchentag von Hengstenberg veröffentlichten Aufsatz unter demselben Titel: EKZ 50 (1852), Sp.  473–476, Nr.  51. 285   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  50; vgl. auch Kreft, Kirchentage, 139. 286   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  50; vgl. Nabrings, Stahl, 135 und Kreft, Kirchentage, 139: „In der zum Teil leidenschaftlich geführten Aussprache gingen Hengstenbergs und andere moderate Voten fast unter.“ 287   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  51; dabei beruft er sich auf Spener, Letzte theologische Bedencken 1, 319–323. – Als wichtiges Merkmal für die Lebendigkeit einer Kirche gibt er nun außerdem an, daß in ihr oder in einer ihrer Richtungen „der Geist des Gebetes lebendig erhalten ist“ (ebd.).

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3  Hengstenberg und die Kirche

man die Freiheit, die in der evangelischen Kirche in Bezug auf die Stellung zur römischen bestehe, verkümmern lassen, „am wenigsten durch den finsteren puritanischen Eifer, der von dem Auslande her zu uns herüber­dringt, der eben auch im besten Zuge ist, in Bezug auf den Cultus und andere Gebiete Alles, was der puritanischen Kahlheit, Oede und Gleichmacherei widerspricht, als puseyitisch und katholisirend auszuschreien, obgleich er wohl wissen muß, daß es das ächt Lutherische ist.“288

Auf den „finsteren puritanischen Eifer“ aus dem Ausland wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein.289 In ihm kommt nämlich zum Ausdruck, wie sich Hengstenberg Kirchengemeinschaft nicht vorstellte. Bevor darauf eingegangen wird, sind die wichtigsten Gesichtspunkte dieses Abschnittes zu bündeln. Hengstenberg stellte sich die Einheit der Kirchen, das zeigen seine Äußerungen zur Union ebenso wie seine Äußerungen zur römisch-katholischen Kirche, nicht als ein Zusammenwachsen der verschiedenen historisch gewachsenen Kirchen zu einer Einheitskirche vor, sondern als die Gemeinschaft einer Vielzahl unterschiedlicher Kirchen mit ihren jeweils spezifischen Eigenarten, die sich ungeacht dessen in den Hauptpunkten der christlichen Lehre einig sind. Im Fall der römischen Kirche betrachtete Hengstenberg die Geltung der altkirchlichen Bekenntnisse als das entscheidende Merkmal. Damit stehe sie auf einem christlichen Grund, von dem Erneuerung ausgehen könne. Analog zu seinem Verständnis von der Entwicklung der evangelischen Kirche im 19. Jahrhundert sah er auch in der römischen Kirche erneuernde Kräfte am Werk, die das ursprüngliche Wesen und die Selbständigkeit der Kirche belebten, dabei allerdings teilweise eine falsche, übertrieben romtreue Richtung genommen hätten. Ob es zu einer größeren Gemeinschaft zwischen unterschiedlichen Kirchen kommt, hängt nach Hengstenberg deshalb nicht von Verhandlungen oder Kompromissen unter den Konfessionen, sondern von der inneren Entwicklung jeder einzelnen Konfessionskirche ab. Der einzigen Dienst, welchen die Schwe­ sterkirchen einander dabei leisten können, ist, daß sie die positiven Ansätze gegenseitig würdigen und sich an ihnen freuen. Die Einheit selbst wird dadurch aber nicht hergestellt. Sie wächst nicht jenseits, sondern in, mit und unter den 288   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 52 (1853), Sp.  53 – eine Abwehr tatsächlich katholisierender Tendenzen, wie sie bei Leo zu beobachten sind, bietet Hengstenberg im Anschluß, ebd., Sp.  53–55. 289   Wahrscheinlich versteht Hengstenberg darunter die Aktivitäten der Baptisten, die er auch als treibende Kräfte in der Evangelischen Allianz ansieht; 1853 wurde das Verhalten gegenüber den Baptisten und Methodisten zum Thema auf dem Berliner Kirchentag (s. Kreft, Kirchentage, 150–152); am 11. Januar 1853 war zudem der nord­deutsche Zweig der ‚Evangelischen Allianz‘ in Berlin – von dem Baptisten G.W. Lehmann und dem landeskirchlichen Pfarrer E. Kuntze – gegründet worden (so richtig Coch­lovius, Bekenntnis, 233; vgl. Beyreuther, Allianz, 18–24 und Meyer, Allianz, 106, die das Jahr 1851 als Grün­dungsjahr nennen.).

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

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bestehenden Kirchentümern in dem Maße, wie sich jede Kirche von innen erneuert und sich auf das eigentlich Christliche ausrichtet.

3.4.2  Die Ablehnung der Evangelischen Allianz Vom 9. bis 17. September 1857 fand in der Berliner Garnisonkirche unter der Bezeichnung „Versammlung evangelischer Christen“ zum ersten Mal eine Weltkonferenz der Evangelischen Allianz in Deutschland statt.290 Friedrich Wilhelm IV. persönlich hatte der Zusammenkunft seine Unterstützung und sein besonderes Interesse zugesagt und begrüßte die Vereinigung, „beschickt von allen rechtgläubigen Bekenntnissen auf der Erde, als ein noch nicht erlebtes Zeichen sowohl des ächten christlichen Brudersinnes als des göttlichen Waltens über dem evangelischen Bekenntniß“291. Auch in der Presse wurde das Ereignis als ein Fest der Einheit und eine „Union des inneren Lebens“ gefeiert.292 Grundlage für das gemeinsame Auftreten waren die Prinzipien der Evangelischen Allianz. Ihnen zufolge strebte man eine freie Vereinigung christlicher Brüder an, die ihren jeweiligen Kirchen und Bekenntnissen treu blieben, darüber hinaus aber die Übereinstimmung untereinander in neun, als Glaubensbasis bezeichneten Punkten bekundeten. Übereinstimmung in den Grundfragen, Festhalten am jeweiligen Bekenntnis – war das nicht genau Hengstenbergs Vorstellung von Kirchengemeinschaft? Warum aber verhielt sich Hengstenberg, das sei schon vorweggenommen, der Allianz und vor allem der Versammlung in Berlin gegenüber von Anfang an abweisend? Bevor auf Hengstenbergs Stellungnahmen im Umfeld der Konferenz von 1857 eingegangen wird, müssen einige Dinge vorab angesprochen werden. Erstens: An dem Projekt der Evangelischen Allianz waren viele Persönlichkeiten beteiligt, die Hengstenberg theologisch nahestanden oder sogar freundschaftlich mit ihm verbunden waren. Das erklärt sich leicht daraus, daß der Gedanke, eine überkonfessionelle und internationale Glaubensgemeinschaft zu bilden, Motive aus der Frühzeit der Erweckungsbewegung aufnahm und die Allianz darum vor allem bei denen Anklang fand, die von der Erweckungsbewegung oder – wie in Württemberg – vom Pietismus geprägt worden waren. Hengstenberg und die Allianzvertreter hatten also gemeinsame Wurzeln. Die 290

  Vgl. dazu Meyer, Allianz, 106–109; Beyreuther, Allianz, 25–45 und jetzt ausführlich Lindemann, Frömmigkeit, 371–441; zur Vorgeschichte der Allianz in Deutschland über Beyreuther hinausgehend Cochlovius, Bekenntnis, 218–234; zur Frühgeschichte der Evangelischen Allianz allgemein Hauzenberger, Allianz und Lindemann, Frömmigkeit. – In Deutschland trug die Vereinigung ursprünglich den Namen „Evangelischer Bund“. 291   Nach Meyer, Allianz, 107; vgl. auch Krummacher, Selbstbiographie, 215 f. 292   Meyer, Allianz, 108.

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3  Hengstenberg und die Kirche

gegensätzlichen Standpunkte zur Evangelischen Allianz repräsentieren daher zugleich den doppelten Ausgang der Erweckungsbewegung. Cum grano salis kann man sagen: Die Befürworter standen auf der Linie Neanders und Tholucks,293 die Gegner auf der Linie Hengstenbergs.294 Doch nicht nur zu den deutschen Vertretern der Allianz bestanden Verbindungen. Zu Thomas Chalmers, einem der geistigen Väter der Allianz, hatte die EKZ schon seit vielen Jahren Kontakte: Otto von Gerlach war 1842 als Teilnehmer einer königlichen Delegation über den Kanal gereist und hatte anschließend versucht, Chalmers sozialdiakonische Ansätze nach Deutschland zu übertragen.295 Darüber hinaus wußte Hengstenberg, daß seine eigenen Werke in England und Schottland speziell von solchen Kreisen rezipiert wurden, die auch für das Anliegen der Allianz offen waren.296 Daher verwundert es nicht, daß der Herausgeber der EKZ keineswegs erfreut darüber war, „eine Polemik gegen eine Vereinigung von Männern eröffnen zu müssen, mit denen er sich in dem Glauben an Christum als den Heiland der Sünder eins weiß.“297 Zweitens: Hengstenberg hatte bereits 1845, also noch vor der eigentlichen Gründungsversammlung der Allianz im Jahr 1846, zu den in Liverpool ausgearbeiteten Zielen der Vereinigung Stellung genommen.298 Damals hatten die Initiatoren an die theologische Fakultät in Berlin die Bitte geschickt, sich für die Allianz auf deutschem Boden einzusetzen. Hengstenberg als Dekan entwarf darauf hin eine ablehnende Antwort. Darin wies er darauf hin, daß die Allianz in England, wo die Unterschiede der Denominationen vor allem auf dem Gebiete der Kirchenverfassung lägen, durchaus heilsam wirken könne. In Deutschland aber, „wo der Streit die wichtigsten Lehren, die edelsten Güter der Kirchen zum Gegenstand habe [...] könne ein solcher Verbrüderungsruf nur irreleitend wirken; da gelte es nicht den Streit zu beschwichtigen, sondern redlich auszukämpfen“299. 293   Tholuck hatte 1846 selbst an der Gründungsveranstaltung in London teilgenommen und gehörte zu den ersten Promotoren der Evangelischen Allianz in Deutschland, vgl. Cochlovius, Bekenntnis, 220–233. 294   Dabei ist zu beachten, daß auch die Neandersche Richtung nicht die ursprüngliche Erweckungsbewegung selbst, sondern nur einen Ausschnitt in transformierter Gestalt repräsentiert; mit dem späten Neander wurde hier vor allem die Glaubensfreiheit und der individuelle Glaube betont. 295   S. Christiani, Gerlach, 185–197. 296   Vgl. oben 2.5.3 und I. Hengstenberg, Evangelische Allianz, EKZ 60 (1857), Sp.  235f: „Wir haben es mit den Engl. Mitgliedern der Allianz zu thun, mit Männern, die mit unerschütterlicher Festigkeit an der heil. Schrift A. und N.T. als dem inspirirten und geoffenbarten Wort Gottes festhalten und mit denen wir uns in dieser Beziehung von Herzen eins wissen“. 297   Hengstenberg, Anmerkung, EKZ 59 (1856), Sp.  1041; vgl. auch Ders., Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  70. 298   Vgl. zu den Vorbereitungen Hauzenberger, Einheit, 69–87 299   So referiert Hengstenberg seine Antwort im Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  14. Der Entwurf wurde nicht abgeschickt, weil Neander anderer Ansicht war (ebd., 13 f.); er wurde

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

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Drittens: Hengstenbergs Ablehnung der Allianz ist nicht aus Unkenntnis entstanden, also auch nicht, wie man vielleicht meinen könnte, eine schlichte Projektion seiner Erfahrungen mit der Union. Er war bestens über die Evangelische Allianz informiert – nicht nur durch die englischen Zeitschriften, die er als Herausgeber regelmäßig zur Kenntnis nehmen mußte, sondern auch aus erster Hand. Sein Sohn Immanuel war 1854 durch England und Schottland gereist und hatte sich ein Bild von den englischen Verhältnissen gemacht. Dabei hatte er, wie er selbst berichtet, „die Ehre und Freude der persönlichen Bekanntschaft mit vielen Gliedern der Allianz“. Er habe „oft in ihren Kreisen von Herzen erfahren, daß es eine unsichtbare Kirche gebe, in der Alle, die unsern Herrn Jesum lieb haben, wenn auch durch die Nationalität und Sprache, wie durch die Schranken verschiedener Sonderkirchen getrennt, durch seinen heil. Geist mit ihm und also unter­einander vereinigt sind.“300

Doch gerade seine persönliche Bekanntschaft und die Vertrautheit mit den englischen Verhältnissen führte Immanuel Hengstenberg dazu, die Allianz in einem umfangreichen Artikel für die EKZ frontal anzugreifen.301 Aus dem von scharfer Auffassungsgabe zeugenden Beitrag, der deutlich zu erkennen gibt, wessen Kind – im wahrsten Sinne des Wortes – der Autor ist, müssen einige Punkte hervorgehoben werden. Hengstenberg jun. kam es zunächst darauf an, zu zeigen, daß die Wirkung und Resonanz der Allianz in England nicht dem Pathos entspreche, mit dem sie auftrete. Sie repräsentiere nicht die englische Kirche, ja sie stelle in Wahrheit nicht einmal eine Vereinigung unterschiedlicher Richtungen dar, sondern repräsentiere nur solche Gruppen, die sich „längst vor der Allianz bis auf unendlich kleine Differenzen einig, ja eins gewesen [sind] und zwar eins dadurch, daß sie die reichen Schätze der christlichen Kirche über Bord geworfen haben. Es ist die Allianz eine Allianz von verarmten Leuten auf kirchlichem Gebiet, eine Allianz der Un- ja der Antikirchlichkeit.“ (Sp.  1048).

In ihren Reden kämpfe sie gegen Rom und Puseyiten, sie bezeichne damit aber nicht nur diejenigen, die man im strengen Sinne darunter verstehe, sondern alle, für die die Kirche als Institution und traditionell gewachsene Größe eine Bedeutung habe (Sp.  221). Eine „fanatische Opposition“ gegen alles, was röaber ohne Verfasser und ohne Kommentar in EKZ 39 (1846), Sp.  517–520, Nr.  60 abgedruckt. Daß sich die Initiatoren der Allianz an theologische Fakultäten mit der Bitte um Unterstützung wandten, wird in den einschlägigen Untersuchungen zum Thema bisher nirgends erwähnt. 300   I. Hengstenberg, Evangelische Allianz, EKZ 60 (1857), Sp.  236. 301   I. Hengstenberg, Evangelische Allianz, EKZ 59 (1856), Sp.  1041–1054, Nr.  102 (Erster Artikel); EKZ 60 (1857), Sp.  2 09–212.217–236, Nr.  21 f. (Zweiter Artikel) – hierauf beziehen sich im Folgenden die Stellenangaben im Fließtext. Lindemann, der den Widerstand gegen die Berliner Versammlung aus Sicht der Allianzorgane schildert, schreibt den Artikel fälschlicherweise Hengstenberg sen. zu (Lindemann, Frömmigkeit, 401–403).

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3  Hengstenberg und die Kirche

misch oder puseyitisch aussehe, „gehöre zu den wesentlichen Merkmalen der in der Allianz zur Geltung gekommenen Geistesströmung“ (Sp.  1053). Wer sich als Lutheraner in England in Kreisen der Allianz bewege, erlebe sich plötzlich wie in eine andere Welt versetzt, wenn er „seinen Glauben als baaren Puseyismus, als Papismus verdammt und ihm gegenüber entschiedensten Zwinglianismus als kirchliche Anschauung sich geltend machen sieht.“ (Sp.  1051). Für diese Grundausrichtung der Allianz bietet Immanuel Hengstenberg auch eine Erklärung. Ihre Hauptverfechter kämen nämlich gar nicht aus der Church of England, sondern aus den Reihen der Dissenters, und zwar aus folgendem Grund: Ähnlich wie in Deutschland habe sich auch in der englischen Staatskirche der „frische Lebenshauch des erwachenden christlichen und kirchlichen Lebens“ (Sp.  219) breit gemacht. Darin zeigten sich die Früchte der großen Bewegungen, des Evangelical und des Oxford Movements, die beide – in ihren gemäßigten Formen – einen positiven Einfluß auf das kirchliche Leben gezeitigt hätten. Dadurch aber hätten die Dissenters an Boden verloren. Sie fühlten nun „allzusehr, wie sehr sie der Kirche gegenüber verschwinden“ (Sp.  220). Daher hätten sie gerne die Anregung aufgegriffen, mit Hilfe der Allianz verlorenes Terrain zurückzuerobern. Die evangelische Allianz werde von ihnen als Mittel für ihre Zwecke mißbraucht. Man habe sich in ihr „nicht bloß friedlich Behufs christlicher Vereinigung, sondern auch Behufs des Kampfs gegen die sich regende und empor­blühende Kirchlichkeit vereinigt“ (Sp.  223). Sie richte sich gegen die Individualität der gewachsenen Kirchen und die Pflege derjenigen Schätze, die jeder Kirche auf Grund ihrer Geschichte und theologischen Erkenntnis zugewachsen seien. Von dieser Einschätzung aus beurteilt Hengstenberg jun. nun auch den bevorstehenden Besuch der Allianz in Berlin. Es sei kein Zufall, daß er besonders von dem Baptistenprediger Steane aus London propagiert worden sei. Steane sei es nämlich gewesen, der auf dem Kirchentag in Elberfeld mit seiner Bitte, freundschaftliche Verhältnisse zu den Baptisten zu knüpfen, abgewiesen worden sei und sich anschließend in Schriften über die Verfolgungen der Baptisten in Deutschland ausgelassen habe.302 Mittels der Allianz wolle er nun doch noch die Anerkennung der Baptisten durch die Geistlichen der Landeskirchen erreichen. In der Generalversammlung der Allianz im Vorjahr in Glasgow sei zudem bekannt geworden, daß „die Allianz in Berlin und überhaupt Norddeutschland großen Widerstand und namentlich von Leuten finden werde, die eine starke Aehnlichkeit mit den Puseyiten in England hätten, – es sind als Vertreter dieser Puseyiten Dr. Stahl und Dr. Hengstenberg genannt“ (Sp.  229); gleichwohl habe man beschlossen, nach Berlin zu kommen. Der wahre Grund sei: „die Allianz kommt nach Berlin, nicht obgleich, sondern weil 302   Darin sieht I. Hengstenberg auch den Grund, warum sich die Engländer nicht einfach dem Kirchentag anschließen, sondern eine zweite Großveranstaltung daneben setzen wollen (ebd., Sp.  233 f.).

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sie hier eine starke puseyitische Partei findet.“ (Sp.  230) Daß man in Berlin bereits „das Deutsche [sic!] dem Puseyismus gleichbedeutende Stichwort ‚Jesuitismus‘“ (ebd.) für die Gegner der Versammlung verwende, zeige, woher der Wind wehe. Mittels der Allianzkonferenz in Berlin, so das Fazit, solle der Kampf gegen die konfessionsgebundene Kirchlichkeit von England nach Deutschland verpflanzt werden.303 Hengstenberg sen. war bei seiner Einschätzung der Allianz also maßgeblich von den Eindrücken bestimmt, die sein Sohn aus England mitgebracht hatte. Auch er befürchtete, daß die Berechtigung der eigenen kirchlichen Identiät, vor allem der lutherischen Kirche, aufs neue in Frage gestellt würde. „Wir sind eben damit beschäftigt die Brunnen wieder zu eröffnen, welche unsere Väter gegraben und die Philister verschüttet haben“, schreibt Hengstenberg im Januar 1857. „In diesem Geschäfte können uns die Fremden, die uns ihre Weise statt der erprobten und für uns Gottgewiesenen aufdrängen möchten, nur stören.“304 Außerdem sei ihm die Allianz zu engherzig: „ein bedeutender Theil der Chri­ stenheit ist ihr wenigstens als Kirche nur Gegenstand des Hasses.“ Er selbst verhalte sich weniger gleichgültig gegenüber den Differenzen „innerhalb des Kreises, den die Allianz umfassen will, mehr anerkennend gegen das Christ­ liche auch in der Katholischen Kirche.“305 Daß sich die Allianzversammlung in Berlin, die den Hengstenbergs dadurch, daß sie als „Vereinigung von Christen aus Deutschland und anderen Ländern“ unter anderer „Firma“ auftrat,306 nur noch suspekter wurde, als Protestveranstaltung gegen die konfessionelle und gewachsene Kirchlichkeit entpuppen würde, nannte Hengstenberg auch kurz vor ihrem Beginn als den Grund dafür, daß man sich in Notwehr gegen sie stelle. Man frage sich, so schreibt er, welchen Zweck die Veranstaltung, die mit großem Lärm vorbereitet und von klingenden Namen unterstützt werde, verfolge. Der könne schließlich nicht nur darin liegen, daß „das Te deum laudamus und Veni creator spiritus von Deutschen, Engländern, Franzosen, Russen u. s. w. gemeinsam lateinisch, der 100ste Psalm aber nach einer gemeinsamen Melodie in drei verschiedenen Sprachen 303   EKZ 60 (1857), Sp.  539–544 druckt Hengstenberg Auszüge eines Schreibens des Baptisten Steane an den Herausgeber, der sich gegen jene Sicht verteidigt, ab; die beigefügten Bemerkungen ebd. dürften wiederum von I. Hengstenberg stammen. 304   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  70; vgl. dazu auch die Bemerkung von I. Hengstenberg, Evangelische Allianz, EKZ 60 (1857), Sp.  236: Hätten sich die Vertreter der Allianz in ihrem Kampf gegen die Kirchlichkeit „auf England beschränkt, wir würden niemals uns im Glauben Verbundene angegriffen haben. Aber es ist eine schwer zu tragende Eigenthümlichkeit grade der Engländer, daß sie sich für berufen halten, das, was sie als das allein Richtige erkennt haben [...] auch dem Auslande als das ihm allein heilsame aufzudrängen, trotzdem, daß sie von allen Nationen am wenigsten fähig sind, fremdländische Verhältnisse zu verstehen und zu durchschauen.“ 305   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  70 (auch das vorige Zitat). 306   I. Hengstenberg, Evangelische Allianz, EKZ 60 (1857), Sp.  229.

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3  Hengstenberg und die Kirche

zugleich gesungen werden soll“307. In der Saturday review habe er nun den entscheidenden Hinweis gefunden, daß – so das Zeitungszitat – „man in Deutschland von der Allianz Gebrauch mache wie von einer Karte, die der Trumpf sey und die man ausspiele, um damit das Spielchen zu gewinnen. Man hoffe durch die Versammlung zu Berlin gewisse Ansichten zu unterdrücken, die Herrn Bunsen’s Geschmack ganz besonders zuwider seyen.“308

Unter den „gewissen Ansichten“ habe man, so folgert Hengstenberg zweifellos zu Recht, natürlich die Stahl-Hengstenbergsche Richtung zu verstehen.309 Mit dem königlichen Vertrauten Bunsen aber, den der König persönlich um Teilnahme an der Versammlung gebeten hatte und der während der Tagung aufgrund seines Bekanntheitsgrades besonders ehr­erbietig behandelt wurde,310 kamen für Hengstenberg die spezifisch deutschen Parteiverhältnisse in den Blick. Wenn Bunsen, der in Hengstenbergs Augen zu den Vertretern des unionistischen Indifferentismus gehörte und ursprünglich wenig mit der Low-ChurchParty gemeinsam hatte, die Versammlung unterstützte, dann war das für ihn der Beweis dafür, daß sich die Versammlung vor allem gegen die konfessionellen Kräfte richtete: „Das ist das Ziel der aliirten Bestrebungen, daß die hochkirchliche Richtung in Deutschland, die Confessionellen, die Feinde des wahren Christenthums ganz verstummen müssen und die Unionisten, die Freunde der Engl. Niedrigkirchlichen, die Freunde der Methodisten, Independenten und Baptisten, die wahrhaft evangelische Richtung, das wahre Christenthum den Sieg erhalten und zur Alleinherrschaft gelangen.“311 307   Hengstenberg, Allianz, EKZ 61 (1857), Sp.  8 01–806, Nr.  71, hier: Sp.  8 03; vgl. auch die bissige Fortsetzung ebd.: „Der Zweck mag wieder recht schön seyn, aber so großen Zurüstungen entspricht er doch nicht. Es läßt sich sogar fürchten, daß dieses Experiment, – denn so muß man doch am Ende diesen musikalischen Theil der Feier nennen, – möglicherweise mißglücken und dann der gemeinsamen Andacht eher schaden als nützen kann.“ 308   Ebd., Sp.  8 03; in England war Carl Josias Freiherr von Bunsen, der bis 1854 Preußischer Gesandter in London und mit einer Engländerin verheiratet war, selbstverständlich gut bekannt, ebenso sein Gegensatz zu Stahl und Hengstenberg (vgl. dazu auch unten 4.4.3). 309   Stahl war bereits 1848 auf dem Kirchentag als Kritiker der Allianz aufgetreten; er hatte unter anderem kritisiert, daß die Allianz nur die Verbindung einzelner, nicht aber die Verbindung der Kirchen fördere, vgl. Cochlovius, Bekenntnis, 231; 1857 erläuterte Stahl sein Verhältnis zur Evangelischen Allianz vor der Ber­liner Pastoralkonferenz (O.C.R. Prof. Dr. Stahl über die Evangelische Allianz, EKZ 60 (1857), Sp.  553–559, Nr.  49). – Der Gegensatz zwischen Bunsen und der ‚Partei der EKZ‘ war in Berlin und darüber hinaus bekannt. Varnhagen von Ense notierte am 19. Sept. 1857 in seinem Tagebuch (Ders., Tagebücher 14, 82), die „Kreuzzeitungspartei“ sei wütend über den König, aber „Bunsen triumphirt.“ Treffender wäre freilich der Ausdruck „Kirchenzeitungspartei“, denn erwähnt werden Hengstenberg, Stahl, Göschel und Gerlach. 310   Vgl. Nippold, Bunsen 3, 485–491. 311   Hengstenberg, Allianz, EKZ 61 (1857), Sp.  8 04 f. – Hengstenberg war den Methodisten und Baptisten nicht grundsätzlich feindlich gesonnen, vgl. oben Anm.  249 und Ders., Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  17 Anm.*: „wir wünschen die Baptisten nicht einmal hinweg, geschweige daß wir zu verfolgenden Maßregeln gegen sie auffordern oder anreizen sollten. Wir betrachten sie als Stacheln in den Seiten träger Gemeinden [...]. Aber die energische

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

383

Erwartungsgemäß konnte die Versammlung selbst, als sie schließlich im September 1857 in Berlin zusammentrat,312 Hengstenbergs Urteil nicht mehr groß beeinflussen.313 Doch gewann im Rückblick der zuletzt genannte Eindruck, die „bekenn­tnis­feindlichen Unionisten“ wirkten mit den „frommen“ Low-Churchund freikirchlichen Kreisen zusammen, das Übergewicht. Auffälligerweise hatte sich Hengstenberg im unmittelbaren Vorfeld des Treffens nie zu den neun Artikeln, der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz, geäußert. In ihnen wird an erster Stelle „[t]he Divine Inspiration, Authority and Sufficiency of the Holy Scriptures“ genannt.314 Daneben werden als Gemeinsamkeiten die Trinitätslehre, die Rechtfertigung allein aus Glauben und weitere Punkte, die in Hengstenbergs Sinne waren, aufgezählt. Lediglich die Bekräftigung, daß jeder das Recht und die Pflicht zu eigenem Urteil in der Auslegung der Schrift habe, dürfte ihm als ein Einfallstor für den Subjektivismus erschienen sein. Hengstenbergs Schweigen zu den Artikeln hängt wohl in erster Linie damit zusammen, daß die Sätze von ihrer Entstehungsgeschichte her 315 und nach den Grundsätzen der Allianz gar nicht als Glaubensbekenntnis verstanden werden, sondern nur andeuten sollten, „welcherlei Personen man als Glieder des Bundes zu sehen wünscht.“316 Ganz abgesehen davon hätten sie in Hengstenbergs Augen ohnehin kein Bekennt­nis dargestellt. Es handelte sich um eine Kompromißformel, aber nicht um eine lebendige Äußerung des Glaubens. Bekenntnisse, die nicht aus dem Glauben hervorwuchsen, sondern aus dem Bedürfnis, den kleinsten gemeinsamen Nenner mehrerer Richtungen zum Ausdruck zu bringen, hatten Reaction, die entschiedene Polemik gegen den Baptismus, die kräftige Handhabung des Schwertes des Geistes gegen ihn gehört mit zur Sache.“ 312   Den Verlauf der Versammlung beschreibt Lindemann, Frömmigkeit, 411–429. Interessant ist, daß sich F.W. Krummachers Eröffnungsrede auf der Allianztagung fast ausschließlich mit den Vorwürfen Hengstenbergs beschäftigte und ganz bewußt die konfessionelle Identität der Teilnehmenden betonte (s. Krummacher, Selbstbiographie, 216–230). 313   Varnhagen von Enses Tagebucheinträgen zufolge war Hengstenberg während der Versammlung nicht in Berlin: „Hengstenberg und Stahl sind verreist, um der Evangelischen Allianz auszuweichen. Auch Büchsel ist ein heftiger Gegner.“ (Tagebücher 14, 72) – Unter dem Titel „Berlin. Ein Tagebuch“ (EKZ 61 [1857], Sp.  877–880.884–896, Nr.  8 0 f.) veröffentlichte Hengstenberg nach Ablauf der Versammlung die Aufzeichnungen eines Teilnehmers, der zwar eindeutig für Hengstenbergs Sicht Partei nimmt, aber auf witzige Weise Einblick in die Veranstaltungen gibt. Sie wurden noch kaum ausgewertet; in ihnen wird beispielsweise auf die Verständigungsprobleme aufgrund fehlerhafter Übersetzungen der deutschen Referate aufmerksam gemacht. 314   Der Text der neun Artikel ist abgedruckt bei Hauzenberger, Einheit, 120. 445 und Cochlovius, Bekenntnis, 258. 315   Siehe dazu Hauzenberger, Einheit, 109–128. 316   Grundsätze der Evangelischen Allianz, § 1: Cochlovius, Bekenntnis, 259. – In seiner ersten Äußerung, dem Entwurf der Fakultätsantwort von 1845, hatte Hengstenberg bereits betont, daß man darauf achten müsse, daß das „Bekenntnis“ der Allianz keinesfalls als vollständiges Bekenntnis gelten könne und „daß es nur zu unmittelbar praktischem Zwecke einige Hauptwahrheiten des Evangeliums heraushebt und über diesen nächsten Zweck hinaus keine Bedeutung hat“ (EKZ 39 [1846], Sp.  520).

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3  Hengstenberg und die Kirche

sich in seinen Augen – das war auch Hengstenbergs Haltung zu der im Gründungsjahr der Allianz in Berlin tagenden Generalsynode gewesen – schon von selbst disqualifiziert. Als richtig beurteilte er demgegenüber den Weg, den der Kirchentag gewählt hatte: Seine Teilnehmer hatten sich 1853 mit der Invariata gemeinsam zu einer Formulierung des Glaubens bekannt, die aus einer historischen Bekenntnissituation heraus aus vollem Herzen und im Angesicht von Andersgläubigen gesprochen worden war.317 Einem in der gegenwärtigen Lage künstlich fabrizierten Bekenntnis traute er demgegenüber keine Wirkung zu. Dies verdeutlichend, hob er nun im Rückblick hervor, daß bei dem Allianztreffen nicht nur Bunsen eine wichtige Rolle gespielt habe, sondern auch „Dr. Schenkel der Liebling dieser Versammlung“318 gewesen sei. Darüber hinaus habe die Konferenz nicht nur bei der Protestantischen Kirchenzeitung, sondern „bei allen Männern und Organen der kirchlichen Linken“ (Sp.  20) Beifall gefunden. Allein daran zeige sich, daß die neun Artikel völlig bedeutungslos geblieben seien. „Mit der Anerkennung Bunsens als eines berechtigten Mitgliedes der Versammlung sind diese Artikel aufgegeben.“ (ebd.).319 Dabei spiele es keine Rolle, ob sie auch formell aufgehoben worden seien oder nicht.320 Hengstenberg überraschte es denn auch nicht, daß sich mit F.W. Krummacher nur wenig später einer der Wortführer der Allianztagung als Kritiker der neun Artikel hervortat und für ein einfacheres Bekenntnis eintrat, von dem die Protestantische Kirchenzeitung bemerkte, daß es im wesentlichen auf das hinauslaufe, „was wir 317

  Siehe oben Anm.  231.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  19 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 319   Vgl. ebd., 19 f.: „Der Rationalismus dagegen und mit ihm Dr. Schenkel nicht minder wie Dr. Bunsen, dessen Sache er so eifrig geführt hat, stellen den Menschen in den Mittelpunkt.“ Über Bunsens Rechtgläubigkeit war es schon auf der Konferenz selbst zu einem kleinen Eklat gekommen. Bunsen hatte dem – von Hengstenberg geschätzten – Schweizer reformierten Erweckungstheologen Merle d’Aubigné einen Bruderkuß gegeben. Merle d’Aubigné war darauf von E.W. Krummacher zur Rede gestellt worden. Beide distanzierten sich darauf von Bunsen. Krummachers Bruder, der Hofprediger F.W. Krummacher, nahm diese Brüskierung Bunsens dann offiziell wieder zurück (s. Meyer, Allianz, 108; Beyreuther Allianz, 35 f. referiert den Vorgang mit Hengstenbergs Worten, vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 62 [1858], Sp.  17 f.). F.W. Krummachers Kinder verschweigen in der Selbstbiographie des Vaters (Krummacher, Selbstbiographie) den Vorfall; erwähnt wird er hingegen bei Nippold, Bunsen 3, 491. – Daß Hengstenberg mit seiner Einschätzung des Verhältnisses Bunsens zu den neun Artikeln richtig lag, zeigt ein Ausschnitt aus einem Brief des letzteren vom 28. Apr. 1857: ebd., 486 f.: „Sir Culling Eardley hat, wie ich ihn oft beschworen, endlich die einfältigen, in höchst unhistorischen amerikanischen Köpfen geborenen neun Artikel, mit der Ewigkeit der Höllenstrafen zum Schluß, aufgehoben.“ Sir Culling Eardley Smith war Präsident der britischen Allianz und stand mit seinen Vorstellungen religiöser Toleranz und seiner Zugehörigkeit zum politischen Liberalismus Bunsen nahe, vgl. zu ihm Hauzenberger, Einheit, 51–53. 320   Hengstenberg erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß die neun Artikel schon in der französischen Evangelischen Allianz keine Anerkennung gefunden hatten (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 62 [1858], Sp.  24), vgl. dazu Hauzenberger, Einheit, 129–132. 318

3.4  Kirchengemeinschaft jenseits der Preußischen Unionskirche

385

nicht nur dem evang. Bunde, sondern der ganzen Evang. Kirche allezeit als das einzige wahrhaft vereinigende Bekenntniß vorgehalten haben.“321 Die „Bretterbude der neun Artikel“322 könne, das war der Tenor von Hengstenbergs Kritik, nicht verhindern, daß die Versammlung „trotz der vielen theuren christlich gesinnten Männer, namentlich unter der Zahl der Ausländer, besonders aus Großbritanien, die diese Versammlung besuchten und die meist keine Ahnung hatten von der Beschaffenheit des Terrains, auf dem sie standen, den Zwecken, denen auch sie ohne ihr Wissen dienstbar gemacht wurden [...], im Ganzen und Großen den Charakter eines halbgläubigen Indifferentismus und Synkretismus [trägt], der die Vorstufe ist für das Zurücksinken in den völligen Rationalismus.“ (Sp.  18)

In seiner Beurteilung der Allianzkonferenz kehren daher zentrale Motive seiner Kritik am „gläubigen“ Subjektivismus, am Pietismus und an der Schleiermacherschule wieder.323 Daher lautet das Resümee: „Was dem Rationalismus zuerst die Bahn bereitet hat, die Geringschätzung der Lehre, die Herabsetzung der Wahrheit im Verhältnis zur Liebe, die allein aus der Wahrheit geboren werden kann, das läßt er jetzt beim Scheiden hinter sich zurück.“ (Sp.  26). Mochten die neun Artikel in der geistlichen Atmosphäre Großbritanniens auch eine gewisse Berechtigung haben, im theologischen Klima Deutschlands „mußten die neun Artikel zerschmelzen wie Wachs am Feuer.“ (Sp.  24). In Hengstenbergs Augen war diese Entwicklung keineswegs zufällig, sondern mit dem Wesen der Evangelischen Allianz notwendig verbunden. Heng­ stenbergs Begründung dieser Einschätzung macht noch einmal sehr deutlich, wie er sich das Verhältnis von kirchlicher Identität und übergreifender kirchlicher Einheit vorstellte. Sie soll daher den Abschluß zu seinen Ausführungen über das Verhältnis von Kirchengemeinschaft und Bekenntnis bilden. Es gelte, so schrieb er im Rückblick auf die Versammlung in Berlin, zwei Aufgaben in der richtigen Reihenfolge und in der richtigen Gewichtung zu erfüllen: „Die erste und wichtigste Aufgabe ist, daß jeder seines Glaubens gewiß werde, daß er sich mit voller Energie in das Bekenntnis seiner Kirche hineinlebe, oder wenn er nach der redlichen Prüfung, nach dem ernstesten Ringen, was nur dann zu einem Resultate führen kann, wenn die Gabe des Geistes vorhanden ist, der in alle Wahrheit leitet (bis dahin steht jeder auch in kirchlicher Beziehung unter dem vierten Gebote), dieß Be321   Nach Hengstenberg, Krummacher, EKZ 62 (1858), Sp.  88 f. Krummachers Bekenntnis lautete nach dem von Hengstenberg zitierten Referat aus der Vossischen Zeitung. „Alle die, welche durch Jesum Christum und durch die Gnade Gottes selig zu werden hoffen und entschlossen sind, Christo zu leben und zu sterben, sollen Glieder des Bundes seyn, und wollen wir willkommen heißen! “ 322   Ebd., Sp.  89. 323   Vgl. oben 2.2; ausführlich wird auch wieder aus Bengels ‚Abriß der Brüdergemeine‘ zitiert (Vorwort, EKZ 62 [1858], Sp.  23 u.ö.). Die genuinen Schleiermacherschüler in Berlin zeigten freilich ebensowenig Sympathie für die Allianzkonferenz wie Hengstenberg.

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3  Hengstenberg und die Kirche

kenntniß nicht als mit dem Worte Gottes übereinstimmend erkennen kann, zu einer andern Kirche übergehe.“ (Sp.  21).324

Nur die Wahrheit könne frei machen. Daher genüge es nicht, nur mit dem einen oder anderen Punkt des Bekenntnisses übereinzustimmen. Man müsse von der Wahrheit, die man glaube, ganz überzeugt sein 325 und die als biblisch erkannte Bekenntniswahrheit „ins Leben umsetzen. Wir sollen sie für unsern kostbarsten und edelsten Schatz halten, sie sorgfältig hüten und lieber Alles leiden, als daß wir sie aufgeben und verläugnen.“ (Sp.  21 f.). Ein Zweites sei sodann, „daß wir nicht bloß innerhalb, sondern auch außerhalb unserer Kirche liebend Alles anerkennen, was aus der Wahrheit und also aus Gott ist, und uns nicht dadurch irre machen lasssen, daß es uns mit fremdartigen Beimischungen und vielleicht unter seltsamen Verhüllungen entgegentritt.“ (Sp.  22).

Beides widerspreche sich nicht, sondern bedinge sich gegenseitig. Man werde überall wahrnehmen, „daß bei solchen[,] die wahrhaftig aus der Wahrheit sind, ein Fonds von liebender Anerkennung alles Anderen sich findet, was aus Gott ist, obgleich oft verdeckt durch eine harte Kruste des Vorurtheils und der Abneigung, deren Manche bedürfen, damit ihnen nicht der persönliche Besitz der Wahrheit verloren gehe.“ (Sp.  22)

Die Evangelische Allianz habe sich nun einseitig auf die zweite Aufgabe verlegt. Damit untergrabe sie zwangsläufig die feste Verwurzelung in der eigenen Kirche und nivelliere das für jede Konfession unabdingbare Überzeugtsein von der Wahrheit des eigenen Bekennt­nisses.326 324

  Vgl. so schon Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  3.   In diesem Zusammenhang warnt Hengstenberg nun auch davor, mit der Unterscheidung von fundamentalen und nicht-fundamentalen Wahrheiten, die er – wie gezeigt – selbst anwendet, vorschnell zur Hand zu sein. 326   Vgl. Ders., Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  22 f.: „Es war kurzsichtiger Irrthum, wenn man meinte man könne zugleich von Herzen Mitglied der Allianz und der Bischöflichen, Presbyterianischen oder einer anderen Kirche seyn. Wer einmal zehn Tage in dem Russischen Bade einer Generalversammlung der Allianz zuge­bracht hatte, mit ihren Ueberschwänglichkeiten der allgemeinen christlichen Bruderliebe, mit ihren Declamationen gegen ‚unnützen Streit‘, ‚krankhafte Disharmonien‘, gegen ‚den Pharisäismus der Confessionsund Kirchenmänner‘, gegen die ‚hundertjährigen Schranken‘, ‚die alten rostigen Fesseln‘, mit ihrem lauten und anhaltenden Jubelruf: ‚über den kirchlichen Stammesfähnlein weht das Reichspanier unsers Herrn Jesu Chri­sti und es wird wahr das alte Psalmenwort: Man wird zu Zion sagen, daß allerlei Leute darin geboren werden‘: der hat am Ende solcher zehn Tage, wenn er nicht etwa mit Widerwillen sich von der Allianz abwendet, wenn er nicht etwa bloß äußerlich als Critiker theilgenommen, sondern das Herz aufgethan hat, um die dargebotenen Eindrücke zu empfangen, sicher alle Liebe zu seiner nächsten Kirche ausgeschwitzt, sein Herz schlägt nicht ferner für sie, sondern nur für die Allgemeinheit des Reiches Gottes, ihre eigenthümlichen Lehrsätze haben für ihn alle praktische Bedeutung verloren, und da man nur das wahrhaft hat, was man liebt, so hat er sie nicht mehr.“ Die Zitate stammen größtenteils aus F.W. Krummachers Eröffnungsrede (s. Krummacher, Selbstbiographie, 217). 325

3.5  Kirchenverfassungsfragen

387

In der Ablehnung der Evangelischen Allianz zeigt sich Hengstenbergs Einstellung zur Konfession, wie sie sich in der Auseinandersetzung um die Union und im Verhältnis zur römischen Kirche entwickelt hat, besonders deutlich: Gerade derjenige, der von der Mission der eigenen Kirche überzeugt ist und sie mit ihren Eigentümlichkeiten als die wahre Kirche schätzt und liebt, ist fähig, die Wahrheit auch im Anderen anzuerkennen.327 Die Profilierung der eigenen Identität führt nicht zum Verlust der Gemeinschaft mit anderen Konfessionen, sondern ermöglicht sie allererst. Das ist der Kern von Hengstenbergs fälschlich sogenanntem „Konfessionalismus“. Hengstenbergs Weg führte also nicht von der Erweckungsbewegung und ihrer transkonfessionellen Glaubensgemeinschaft zurück zu den konfessionellen Kämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts. Er führte vielmehr von der individuellen Glaubenserfahrung der Erweckten zum Bewußtsein kirchlicher Identität und Gemeinschaft. Er führte, wie es E.L. von Ger­lach mit anderen Worten als Hengstenberg, aber mit derselben Intention immer wieder zum Ausdruck brachte, „vom Pietismus zum evangelischen Kirchenthume“328 .

3.5  Kirchenverfassungsfragen 3.5.1  Pia desideria – Hengstenbergs Reformagenda Kaum eine kirchliche Frage wurde im 19. Jahrhundert so intensiv diskutiert wie die nach der richtigen Kirchenverfassung.329 Welche Gestalt und innere Ordnung eine sich aus der Umklammerung durch den Staat lösende Kirche erhalten solle, beschäftigte nicht nur die inneren Kreise der Kirche, sondern war von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse, da – insbesondere im Vormärz – die Kirchenverfassungsfragen nicht selten in Verknüpfung mit den Diskussionen über die rechte Staatsverfassung auftraten. Sowohl im Staat als auch in der Kirche war es die Forderung nach Mitbestimmungsorganen – Parlamenten und Synoden –, die dabei im Vordergrund stand. Die analoge Fragestellung brachte es mit sich, daß auch analoge Lösungen in beiden Bereichen erstrebt wurden. Nachdem die kirchliche Reformdiskussion, die sich im Anschluß an die Befreiungskriege entwickelt hatte, nur wenige Früchte gezeitigt hatte und während der späten Jahre Friedrich Wilhelms III. immer mehr zum Erliegen ge327   Diese Ansicht prägte auch Hengstenbergs praktischen Umgang mit seinen wissenschaftlichen Gegnern, vgl. oben 2.3.2. 328   E.L. von Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  167 (vgl. oben Anm.  22). Gerlach hat die Entwicklung von der unkirchlichen Erweckungsbewegung zur erweckten Kirchlichkeit im Rückblick verschiedentlich geschildert, z. B. auf den Gnadauer Konferenzen 1856 (vgl. Kahnis, Protestantismus, 246 f.) und 1865 (Aus einem Vortrage des Präsidenten v. Gerlach [...], EKZ 77 [1865], Sp.  985–991, Nr.  83). 329   Einen konzisen Überblick über die kirchliche Verfassungsentwicklung und -diskussion im 19. Jh. bietet Mehlhausen, Kirche.

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3  Hengstenberg und die Kirche

kommen war, richteten sich die Hoffnungen auf seinen Nachfolger. Unter Friedrich Wilhelm IV. kamen die Verfassungsfragen dann auch wirklich neu in Fluß. Dabei spielte des Königs eigenes Ideal, seine als „Sommernachtstraum“ bezeichnete Vorstellung von einer selbständigen, episkopal verfaßten „apostolischen“ Kirche, eine weitaus geringere Rolle, als man lange Zeit meinte.330 Wichtiger war, daß er grundsätzlich die Verselbständigung der Kirche vom Staat befürwortete und darüber hinaus mit der Initiative zur Einberufung von – zunächst – Kreissynoden der Forderung nach einer Synodalverfassung neuen Auftrieb verlieh. Friedrich Wilhelms weitergehende Vorstellungen, die er auf Anregung von Bunsen ausarbeitete und zunächst nur im engen Beraterkreis diskutierte, waren der Öffentlichkeit nicht bekannt.331 Da aber E.L. von Gerlach zu den Eingeweihten zählte, ist damit zu rechnen, daß auch Hengstenberg sie kannte. Gerlach, der wie sein Bruder Leopold und General Thile des Königs, von Bunsen inspirierte, Ideen für völlig unrealisierbar hielt, legte Friedrich Wilhelm IV. im August 1841 eine Denkschrift vor, die keine großen Visionen, sondern konkrete, praktisch-kirchenpolitische Maßnahmen anmahnte, unter anderem die Lösung der Konsistorien aus dem staatlichen Behördenapparat.332 Diese Initative bildete dann auch den Ausgangspunkt für Hengstenbergs Eingreifen in die Reformdebatte. Hengstenberg hatte die Kirchenverfassungsdiskussion in den frühen Jahren aus der EKZ ferngehalten. Wie die Agende gehörte sie zu den Themen, die das Programm der EKZ von 1827 explizit ausgeschlossen hatte.333 Erst die Politisierung der Frage in Folge der Julirevolution führte Hengstenberg 1832 dazu, das Blatt für die Diskussion der kirchlichen Verfassung zu öffnen.334 Charakteristischerweise verteidigte er zunächst aber lediglich das landesherrliche Kirchenregiment gegenüber den möglichen Vorteilen einer Synodalverfassung; auf Einzelfragen der Kirchenordnung ging er nicht ein.335 Im Unterschied zur allgemeinen Diskussionslage stellte die Kirchenverfassungsfrage für Hengstenberg nämlich zunächst kein brennendes Problem dar. Auch später wird er immer wieder betonten, sie sei nicht unwesentlich, aber gleichwohl keine Lebensfrage der Kirche. Gerade das sei charakteristisch für die evangelische Kirche, „daß ihr

330   S. dazu Friedrich, Eichhorn, 65–74; vgl. auch Mehlhausen Friedrich Wilhelm IV., 263 f. – Friedrich Wilhelms Kirchenideal wird am ausführlichsten geschildert bei SchmidtClausen, Einheit, 278–342; vgl. daneben Heckel, Kirchenverfassungsentwurf; ein kurzer Überblick bei Kraus, Friedrich Wilhelm IV., 259–262. 331   Vgl. zu dem berühmten Brief an Bunsen vom März/April 1840 Goeters, Vorstellungen, 274–277; Friedrich, Eichhorn, 66 f. 332   S. Kraus, Gerlach, 301–304; Friedrich, Eichhorn, 73 f. 333   S. oben bei Anm.  124. 334   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 10 (1832), Sp.  8 f.; vgl. Ders., Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  651. 335   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 10 (1832), Sp.  7–20.

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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die Verfassung als etwas durchaus Untergeordnetes“ erscheine.336 Mit anderen Worten: Die Gestaltung der inneren kirchlichen Ordnung gehörte für Heng­ stenberg zum bene esse, nicht aber zum esse der Kirche.337 Daraus erklärt sich auch, daß seine ersten detaillierten Äußerungen eine deutliche Abhängigkeit von Ger­lach und dessen Denkschrift zeigen. Im Vorwort von 1842 trug Hengstenberg erstmals umfassend seine „pia desideria“338 im Blick auf die Gestaltung der Kirche vor. Ganz offensichtlich sollten sie Gerlachs Vorstoß unterstützen. Hengstenberg begründete sein Vorgehen damit, daß es Anzeichen dafür gebe, daß der König „für die Regeneration der Kirche im Vaterlande nach Kräften wirksam“ sein wolle, und es daher zu erwarten stehe, daß demnächst wieder „wie in den Zeiten bald nach den Freiheitskriegen, als die neue Gestaltung der kirchlichen Angelegenheiten sich anzubahnen schien“ (Sp.  1), eine Fülle von Vorschlägen aus dem Boden sprießen würden. Daher wolle er die Gelegenheit ergreifen, schon jetzt mit seinen Wünschen hervorzutreten.339 Hengstenberg legte drei Reihen von Desideraten vor: Die erste bezieht sich auf Mißstände, „welche aus der in Folge der Erstarrung der Kirche eingetretenen Vermengung von Kirche und Staat hervorgegangen sind.“ (Sp.  8 ). Eine zweite Reihe thematisiert den geistlichen Stand, „ohne dessen Reformation auch die trefflichste kirchliche Verwaltung, wenn sie auch ohne eine solche denkbar wäre, doch nur wenig ausrichten kann“ (Sp.  24). Die letzte Reihe behandelt eines von Hengstenbergs Lieblingsthemen: den Zustand im Bereich der „kirchlichen Bücher“ (Sp.  34), worunter Agende, Katechismus und vor allem das Gesangbuch fallen. Die Beobachtung, daß die zweite und dritte Reihe gemeinsam ungefähr gleichviel Raum einnehmen wie die erste Reihe, weist darauf hin, daß für Hengstenberg die Erneuerung der Kirchenverfassung immer im Zusammenhang mit einer inneren, geistlichen Erneuerung der Kirche gesehen wird. Dem entspricht, daß er in der ersten Reihe im großen und ganzen Anregungen von 336

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  48.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 38 (1846), Sp.  47: „Wir halten die Verfassung nicht für ein Adiaphoron, wir sind völlig überzeugt, daß eine Verfassung, welche allen Theilen der Kirche thätige Theilnahme an ihren Angelegenheiten gewährt, unter Umständen sehr segensreich wirken kann, und das Ziel ist, dem sie entgegenstreben muß. Aber wir können in keiner Weise die Verfassung überhaupt, und speciell diese Verfassungsform für die eigentliche Lebensfrage unserer Kirche, für das halten, worauf ihr Wohl und Wehe beruht.“ Vgl. Ders., Vorwort EKZ 12 (1833), Sp.  3. 338   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  1 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 339   Die Erwartungen an den König begründete er nicht mit dessen Reformideen, von denen er ja offiziell noch nichts wissen konnte, sondern mit dessen Engagement für das Bistum Jerusalem (ebd., Sp.  1). Auf diese bekannte Tatsache konnte er verweisen, ohne Insiderwissen preisgeben zu müssen. Zwischen den Zeilen kann man aber sehr deutlich lesen, daß er genau wußte, daß im Umfeld des Königs die Diskussion bereits voll im Gange war. – Vgl. zur Gründung des Bistums Jerusalem im Jahre 1841 Schmidt-Clausen, Einheit. 337

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3  Hengstenberg und die Kirche

Gerlach aufnahm, während die anderen Vorschläge ganz auf ihn selbst zurückgehen. Was die Erneuerung des Pfarrerstandes angeht, so legt er vor allem Wert auf die solide theologische Ausbildung. Diese setze bei den Gymnasien ein.340 Im Blick auf die Universität hebt Hengstenberg erwartungsgemäß „die kirchliche Stellung der theologischen Fakultäten“ (Sp.  29) hervor. Die „kirchliche“ Richtung müsse daher an allen Fakultäten vertreten sein. Ausführlich wird des weiteren auf das Prüfungswesen 341 und kurz auf das System der Pfarrstellenbesetzung und -besoldung eingegangen. Diese im einzelnen nicht uninteressanten Vorschläge zur inneren, geistlichen Erneuerung der Kirche müssen im vorliegenden Zusammenhang aber hinter der ersten Reihe, die die Kirchenordnung betrifft, zurücktreten. Von Gerlach angeregt äußert Hengstenberg folgende Wünsche: „eine nach Namen und Geschäftskreis rein kirchliche Oberbehörde, Befreiung der Consistorien von den nicht kirchlichen Elementen, die ihnen noch beiwohnen, Überweisung der bisher von den Regierungen verwalteten kirchlichen Angelegenheiten an die Consistorien, und in Folge dessen Vermehrung der Zahl der letzteren, die Belebung der Synoden, vorläufig nicht als beschließender, sondern als berathender Corporationen, Anerkennung der Rechte der Gemeinden auf dem kirchlichen Gebiete, so weit dies bei ihrem gegenwärtigen Zustande als thunlich erscheint, Auf hebung der Verleihung von Orden an Geistliche, Beseitigung des übermäßigen Schreibewesens in der kirchlichen Verwaltung.“342

Ganz mit Gerlachs Denkschrift stimmen die Vorschläge hinsichtlich der Konsistorien überein. Daneben zeigen sich aber auch in dieser Reihe grundlegende Anliegen, die Hengstenberg schon zuvor bestimmten. Am wichtigsten ist die Tendenz. Sie richtet sich darauf, eine vom staatlichen Behördenapparat gelöste, 340   Den Mißstand, daß sich dort ein unkirchlicher Geist breit mache und die Lehrer „eben nur Lehrer, nicht Erzieher seyen“ (ebd., Sp.  27) führt er darauf zurück, daß reine Philologen zu Schulmännern gemacht würden; vgl. ebd., Sp.  27: „Denn wo soll der bloße Philologe die Fähigkeit zu dem Geschäfte der Erziehung herbekommen“. Darum sollten auf den Gymnasien wieder Theologen unterrichten; als vorbild­lich werden die kirchlichen Seminare in Württemberg betrachtet (ebd., Sp.  28). 341   Hengstenberg kritisiert, daß das Prüfungswesen in den Händen der Fakultäten liegt, wodurch nicht nur ein indirekter Zwang zum Besuch einer bestimmten Universität, sondern auch zum Besuch von Vorlesungen bestimmter, prüfender Dozenten ausgeübt werde; die Prüfung durch Vertreter der Kirche hält er aber für ebensowenig empfehlenswert, da denen der nötige „Grad theologischer Durchbildung“ fehle (ebd., Sp.  30). Außerdem werde in den Prüfungen immer nur ein sehr begrenzter Eindruck gewonnen. Hengstenberg schlägt daher „die Errichtung eines oder einiger besonderer Prüfungs-Collegien für den ganzen Umfang des Staates“ vor, „von deren mit gar keinen anderen Ämtern belasteten Mitgliedern die Candidaten etwa während eines halbjährigen Zeitraums, der für sie den Charakter eines Seminaraufenthaltes haben müßte, nicht sowohl in der gewöhnlichen Weise, als vielmehr bei Gelegenheit theologischer Übungen, der Thätigkeit in allen Zweigen der künftigen Amtsverwaltung, und durch aufmerksame Beobachtung ihres Wandels geprüft werden würden. Solche Anstalten würden nicht bloß den Zweck haben das Vorhandene zu offenbaren, in ihnen könnte auch dahin gewirkt werden, das Fehlende zu ergänzen.“ (ebd., Sp.  32). 342   So die Zusammenfassung der Wünsche im Vorwort, EKZ 32 (1843), Sp.  13.

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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selbständige Kirchenorganisation voranzu­trei­ben. Diese müßte zunächst in den Konsistorien Gestalt annehmen, denen beratende Synoden zur Seite stünden. Darüber hinaus sei es nötig, daß den Gemeinden größere Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt würden. Im Folgenden sollen diese Anliegen Hengstenbergs in zwei Abschnitten genauer untersucht werden: Zunächst wird es um die Selbständigkeit der Kirche im Gegenüber zum Staat gehen. Dabei ist insbesondere das Verhältnis einer selbständigen Kirche zum Landesherrn zu berücksichtigen. Anschließend ist die innere Ordnung der Kirche in den Blick nehmen: Hengstenbergs Stellung zur Konsistorial-, Synodal- und Presbyterialverfassung.

3.5.2  Kirchliche Selbständigkeit und landesherrliches Kirchenregiment Wie Hengstenberg von Anfang an für die Selbständigkeit der Theologie im Chor der Wissenschaften eingetrat, so hat er auch immer die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat verfochten.343 Wenn ihn Gegner dennoch immer wieder in polemischer Absicht als Vertreter des „Dogma[s] der Staatskirche“344 präsentierten, dann hing dies einzig und allein damit zusammen, daß Heng­ stenberg für die Aufrechterhaltung des landesherrlichen Kirchenregiments eintrat. Daß zwischen beidem ein Unterschied bestand, konnten oder wollten die Kontrahenten nicht sehen. Doch gerade dies war für Hengstenberg entscheidend. Schon in der Auseinandersetzung mit Neander hatte Hengstenberg immer größten Wert darauf gelegt, daß der Landesherr nicht qua Landesherr, sondern als kirchliches Oberhaupt dafür eintreten müsse, daß die theologischen Lehrer in Übereinstimmung mit ihrer Verpflichtung lehrten.345 Der Landesherr stehe der Kirche nicht als weltlicher Herrscher, sondern als praecipuum membrum ecclesiae vor. Und auch später hielt er immer daran fest, daß er niemals den weltlichen Herrscher in seiner staatlichen Funktion als oberste kirchliche Gewalt anerkennen würde.346 343   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  5 : „Denn das ist gewiß, Kirche und Staat sind ihrem Wesen nach völlig geschieden.“ 344   Schwarz, Theologie1, 84. 345   Hengstenberg, Gegenerklärung 1830, Sp.  145–147; vgl. oben 2.1.1. 346   Vgl. Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  663: „Der Satz: cujus regio, ejus religio ist dem Her­aus­geber stets ein Abscheu gewesen, und wäre ihm die allerdings traurige Alternative gestellt, sich entweder denen beizugesellen, welche läugnen, daß der Landesherr zugleich, und neben seiner politischen Stellung die höchste Gewalt in der Kirche haben könne und die dieser Läugnung praktische Folge geben, oder denen, die die oberste kirchliche Gewalt dem Landesherrn als solchem vindiciren, und also ihre Selbständigkeit vernichten, sie zur Staatsanstalt erniedrigen, er würde keinen Augenblick zweifelhaft gewesen seyn, sich für die Ersteren zu entscheiden. Grade das scheint ihm als das Heilsamste in der ‚Lutherischen‘ Bewegung, daß sie durch schroffe Behauptung des einen Extremes die Augen öffnet für die Gefahren des anderen, die weit größer sind, als Viele auch Wohlgesinnte sie sich

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3  Hengstenberg und die Kirche

Die Vermischung von beidem sei das Werk des Territorialismus, der die „Vereinigung zweier verschiedener Gewalten in einer Person“347 falsch gedeutet habe. Allerdings sei die Theorie nur Ausdruck der inneren Schwäche der Kirche gewesen. Die Kirche, die sich ihres eigenen Wesens nicht mehr bewußt gewesen sei, – so die bereits oben erwähnte Argumentationsfigur – habe es freiwillig hingenommen, mehr und mehr in den Staatsauf bau integriert zu werden (Sp.  9 ). Die Schuld dafür dürfe man aber nicht dem landesherrlichen Kirchenregiment als solchem anlasten. Ursprünglich sei es anders gewesen: „Die Visitations- und Consistorialordnung Johann Georg’s scheidet auf ’s Streng­ ste zwischen kirchlichem und weltlichem Regiment.“ (Sp.  9 ). Dahin müsse man zurückkehren. Die Vorschläge von 1842 zielen deshalb darauf ab, das Kirchenregiment des Königs wieder ganz von seinem staatlichen Amt zu trennen. Alles müsse vermieden werden, was auch nur dem Eindruck einer Vermengung von kirchlicher und staatlicher Gewalt Vorschub leisten könnte. Auch wenn manche Konsistorien unter günstigen Bedingungen ihren kirchlichen Charakter hätten aufrecht erhalten können, so bringe doch allein die Tatsache, daß der Oberpräsident der Provinz Chef des Konsistoriums sei, „die kirchliche Stellung der Consistorien und des Landesherren“ (Sp.  12) in Verruf. Der verderbliche Zustand, daß „Staatsbehörden zugleich die Kirche regieren“ und „Kirchenbehörden zugleich Geschäfte verwalten, welche dem Gebiete des Staates angehören“ (Sp.  8 ) müsse also endlich auf hören. Nur so könne vermieden werden, daß sich die Opposition gegen die Vermengung von Staats- und Kirchengewalt nicht gegen das landesherrliche Kirchenregiment an sich wende. Schon jetzt gebe es nur noch wenige, „denen nicht Territorialismus und Kirchenregiment des Landesherrn in eins zusammenfällt“348 . Demgegenüber müsse man festhalten: „Die Kirchengewalt des Landesherrn ist nur so lange eine vernünftige, als sie nicht als Ausfluß der Landeshoheit, sondern als ein Amt in der Kirche betrachtet wird.“349 Indem Hengstenberg die Unterscheidung von kirchlicher und staatlicher Gewalt im Rahmen des landesherrlichen Kirchenregiments betonte, hatte er zweifellos die ursprüngliche Intention der lutherischen Lehre getroffen. Allerdings stellt sich die Frage, warum er überhaupt am landesherrlichen Kirchenregiment festhalten wollte? Wäre es zur Beförderung der kirchlichen Selbständigkeit und zur Vermeidung der ungesunden Vermengung von Staat und Kirche nicht einfacher gewesen, die Kirche ganz vom Landesherrn zu trennen? Was brachte Hengstenberg dazu, am landesherrlichen Kirchenregiment festzuhalten? denken“. Immer wieder lehnt Hengstenberg den „Cäsaropapismus, dieses gefährliche Uebel“ (Vorwort, EKZ 64 [1859], Sp.  36) scharf ab. 347   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  7 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 348   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 32 (1843), Sp.  21. 349   Ebd., Sp.  2 0 f.

3.5  Kirchenverfassungsfragen

393

Die naheliegende Unterstellung, er habe das Kirchenregiment des Königs nur deshalb erhalten wollen, weil er sich auf diese Weise einen Einfluß auf die kirchliche Entwicklung habe sichern wollen, greift zu kurz und überschätzt Hengstenbergs Kontakte zum König (vgl. unten 4.4.3). Außerdem wird dabei übersehen, daß Friedrich Wilhelms IV. Kirchenideal mehr mit den Vorstellungen von Bunsen als mit denjenigen des Kreises um Hengstenberg harmonierte. Richtig ist an solchen Überlegungen, daß Hengstenberg das landesherrliche Kirchenregiment nicht aus rein inneren Gründen für notwendig hielt, sondern vor allem deshalb, weil ihm in der gegenwärtigen Zeit ein Festhalten an dem Bestehenden und eine behutsame organische Weiterentwicklung allemal heilsamer erschien als ein schneller Systemwechsel. Darum argumentierte er zunächst auch nur auf solche Weise für das Kirchenregiment des Landesherrn, daß er die Einwände der Vertreter einer Synodalverfassung zurückwies: Auch mit Synoden lasse sich der geistliche Charakter der Kirche nicht garantieren. „Warum sollte aber der Geist des Herrn, der da weht, wo er will, nicht eben so gut über die gekrönten Häupter der Kirche und die von ihnen eingesetzten Kirchenbeamten kommen können, wie über die von einer gemischten Masse gewählten?“350 Im Gegenteil: Es sei viel einfacher, daß einer vom Geist ergriffen werde als das ganze Volk der Wähler.351 Darüber hinaus zeige die Geschichte, daß, wo bisher schon synodale Verfassungen gegolten hätten, das kirchliche Leben auch nicht besser gediehen sei als andernorts.352 Der Gesichtspunkt, daß das Kirchenregiment des Landesherrn nicht die beste Organisationsform der Kirche, aber doch die beste unter den gegenwärtigen Umständen sei, blieb auch später wichtig für Hengstenberg; darauf wird zurückzukommen sein. Allerdings traten die genannten, wenig überzeugenden negativen Gründe mit der Zeit mehr in den Hintergrund. Wichtiger wurde eine andere Argumentationslinie, die mit der eigentümlichen Stellung des Landesherrn zu tun hatte: Für den Landesherrn sei die Kirchenleitung reiner Dienst. Das Amt gebe ihm keinerlei Zuwachs an Ansehen und Macht. Für jeden anderen wäre die Kirchenleitung ein „Gegenstand des Ehrgeizes“. „Der Fürst steigt äußerlich herab, indem er auf den bescheidenen Stuhl des Episkopates sich niederläßt“353. Dazu komme, daß ein Landesherr, dem die Kirchengewalt genom350

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 10 (1832), Sp.  11.   „So wie die Sachen jetzt stehen, braucht der Geist des Herrn nur Einem zu theil zu werden, und es geht sofort von ihm nach dem Maaße seiner Entschiedenheit Segen über das ganze Land aus. Träte die projectierte [scil. Synodal-] Verfassung in’s Leben, so müßte, wenn etwas Gutes herauskommen sollte, der Sauerteig des Geistes Gottes entwender vorher die ganze verderbte Masse der Wähler durchdringen, oder, wenn dies nicht geschehen, wenn nach dem natürlichen Gange der Dinge das Geistlose das Geistlose und daher dem Geiste Feindliche gewählt hätte, nachher die ganze Gesellschaft der Vertreter, oder doch die überwiegende Majorität derselben, aus der Finsterniß zum Lichte geführt werden.“ (ebd.). 352   Ebd., Sp.  11 f. 353   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  6. 351

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3  Hengstenberg und die Kirche

men würde, viel stärker in Versuchung stünde, die Macht in der Kirche an sich zu reißen; dem werde durch ein selbständiges Kirchenregiment unter dem Fürsten, aber in Gegenüber zu der staatlichen Gewalt, vorgebeugt.354 Letztlich können die verschiedenen Argumentationsfiguren aber nicht verbergen, daß es Hengstenbergs Skepsis gegenüber einer Synodalverfassung war, die ihn für das Bestehende eintreten ließ. Freilich konnte er das nur, weil er das landesherrliche Kirchenregiment in der Tat nicht für schlechter oder besser hielt als andere Ordnungen. Es bestehe weder ein Grund, es aufzugeben, noch ein Grund, für immer daran festzuhalten: „Wir behaupten weder mit Stahl, daß die kirchliche Stellung der evangelischen Fürsten eine, wenn auch der Idee minder entsprechende, doch tolerable sey, noch auch mit Klee, daß sie durch die Idee unbedingt geboten sey [...], sondern wir behaupten, daß das Kirchenregiment der evangelischen Fürsten durch bedeutende Gründe empfohlen wird, welche die Vorzüge anderer Verfassungen wenigstens insoweit aufwiegen, daß der Wunsch nach seiner Abstellung da nicht auf kommen kann, wo es einmal geschichtlich gegeben ist, es vielmehr dort als die beste Verfassung erscheinen lassen.“355

Der Wunsch, das Bestehende festzuhalten, verstärkte sich naturgemäß mit den Gefahren, die von einer Änderung auszugehen schienen. Das war namentlich nach 1848 der Fall. Verstärkend wirkte außerdem, daß die gottgegebene Würde des Monarchen durch die Revolution auch außerhalb der Kirche in Frage gestellt worden war. Hengstenberg hielt auch später immer an der genuin reformatorischen Vorstellung von der Doppelstellung des Landesherrn fest, doch nach 1848 verband sich der Kampf für die Stellung des Königs in der Kirche mit dem für das Recht des Königs im Staat (vgl. unten 4.3.2.2). Darüber hinaus kam ein neuer Aspekt ins Spiel: Aufgrund der Forderungen der verfassungsgebenden Versammlungen in den Jahren 1848 und 1849 nach Trennung von Kirche und Staat, betonte Hengstenberg in den Jahren nach der Revolution sehr viel stärker die Zusammengehörigkeit beider Größen im christlichen Staat. Dabei hatte er aber nun – im Unterschied zu den früheren Jahren – nicht in erster Linie die Kirche, sondern den Staat im Auge. Es sei im Interesse des Staates, daß er sich dem Christentum verpflichtet sehe und die christliche Kirche eine hervorgehobene Rolle in ihm einnehme. Unter den Bedingungen der äußeren Trennung von Staat und Kirche könne das kirchliche Amt des Landesherrn als Garant dafür dienen, daß sich das Nebeneinander von Kirche und Staat nicht zu 354   Das Argument, die sachliche Distanz des Fürsten nütze der Kirche, erwähnte Hengstenberg schon 1832. Er hat es später mit Hinweisen auf Puchtas Kirchenrecht ausgebaut (Ders., Vorwort, EKZ 30 [1842], Sp.  6 ); vgl. auch Ders., Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  34: „es ist die beste kirchliche Politik, daß man demjenigen, der die Macht hat, Rechte ertheilt (oder vielmehr die mit der Macht selbst verbundenen Rechte anerkennt), die mit Pflichten innig verwoben sind, und dadurch seinen unvermeidlichen Einfluß in heilsame Bahnen lenkt“. 355   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  5 f.

3.5  Kirchenverfassungsfragen

395

einem Gegen­einander entwickle.356 Die Selbständigkeit der Kirche stellte Hengstenberg damit nicht in Frage. Im Gegenteil: Die Tatsche, daß in der konstitutionellen Monarchie die Leitung nicht mehr allein in der Verantwortung des Königs, sondern auch in der Hand gewählter Parlamente lag, machte es umso nötiger, daß jeglicher Einfluß kirchlich nicht legitimierter Organe ausgeschlossen blieb357 und die Kirchengewalt ganz auf die persönliche Stellung des Monarchen in der Kirche zurückgeführt wurde. Die Rückkehr zum lutherischen Verständnis des landesherrlichen Kirchenregiments hatte im übrigen nicht zur Folge, daß Hengstenberg und seine Gesinnungsgenossen dem König kritiklos gefolgt wären.358 Wie unten (4.3.2) gezeigt werden wird, sahen sie sich, gerade weil sie den König in seiner Stellung anerkannten, auch in besonderem Maße zu Kritik berechtigt. Damit standen sie in der Tradition der lutherischen Theologen und Hofprediger im Zeitalter von Reformation und Barock, die nicht mit Kritik an ihren Fürsten sparten.359 Als der König in den 50er Jahren die Union mit Hilfe von Kabinettsordres neu zu justieren versuchte, gestand ihm dies Hengstenberg darum nur insoweit zu, als damit die Lehre der Kirche nicht berührt werde. Hinsichtlich der Lehre betonte er vielmehr: „Wir halten es daher für sehr bedenklich, wenn Kabinetsordren an dies Gebiet auch nur anstreifen. Es ist kein sichreres Mittel, das landesherrliche Kirchenregiment, für das wir in einer Zeit gestritten haben, da es fast allgemein aufgegeben wurde, zu erschüttern, als wenn dasselbe unvorsichtig seine Gränzen überschreitet, und wäre es auch nur um wenige Schritte. Lehre und Gewissen stehen in einigem Zusammenhange. Bei der Lehre also muß man gar vorsichtig seyn, sonst bekommt man es mit dem Gewissen zu thun, einem Feinde, der nicht mit sich handeln, nicht sich beschwichtigen läßt.“360

Das wahre landesherrliche Kirchenregiment greift nach Hengstenbergs Vorstellungen nicht unbefugt und ohne Konsultation der Gesamtkirche in Lehrfragen ein – abgesehen davon, daß Hengstenberg seine Zeit ohnehin nicht für geeignet 356   S. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  33: „Die Personalunion ist jetzt um so wichtiger, weil sie das einzige noch gebliebene Band zwischen Staat und Kirche ist, die einzige Bürgschaft dafür, daß sie sich nicht im feindlichen Gegensatze einander aufreiben.“ 357   Demzufolge lobte er Art. 12 der oktroyierten Verfassung, den späteren Art. 15 (Text bei Sautter, Deutsche Geschichte 2, 80) demzufolge die Kirchen ihre inneren Angelegenheiten selbständig ordnen, als „Perle“ der Verfassung (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 [1850], Sp.  25). 358   Im Zusammenhang damit steht Hengstenbergs Behauptung, Vorwort, EKZ 64 (1859), Sp.  24 Anm.*, er habe in seinen Vorworten die „ungehörige Bezeichnung“ summus episcopus stets vermieden. Im Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  81, Anm.* mahnt Hengstenberg, man solle den Landesherrn nicht Bischof nennen: „Wenn auch die Evangelischen Fürsten als ‚vorzüglichste Glieder der Kirche‘ die rein formelle Spitze des Kirchenregimentes bilden, so fehlen ihnen doch die wesentlichsten Attribute des Episcopates und dies ihnen zusprechen heißt gegen die Augsb. Confession verstoßen.“ 359   Vgl. Sommer, Gottesfurcht, bes. 315–323. 360   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  56, Anm.*; vgl. oben bei Anm.  213.

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3  Hengstenberg und die Kirche

hielt, einschneidende Änderungen in Lehrfragen vorzunehmen.361 Als oberster Schutzherr der Kirche trete der Landesherr vielmehr für die dem kirchlichen Wesen entsprechende innere Ordnung ein, außerdem bilde er als das Bindeglied von Staat und Kirche, den Garanten dafür, daß der christliche Staat seine Angewiesenheit auf die Kirche nicht vergesse. Es stellt sich aber die Frage: Wenn der preußische König, unbeschadet seiner Rolle, die er gegenüber allen Religionsgemeinschaften seines Landes als staatliches Oberhaupt einnimmt, ein besonderes Verhältnis zur evangelischen Kirche unterhält, führt dies nicht zu einer einseitigen Begünstigung der Kirche und einem indirekten Glaubenszwang? Die Nagelprobe für diese Frage ist, wie mit den sogenannten Dissidenten verfahren wird, die entweder als Individuen aus der Kirche austreten oder sich in eigenen Religionsgesellschaften organisieren. Hengstenberg vertrat immer die Ansicht, daß es im Staat auch eine „Unglaubensfreiheit“362 geben müsse. Dieser Gedanke war von seinem Kirchenverständnis her völlig selbstverständlich. Es sollte niemand aus äußerlichen Gründen, etwa aus Furcht vor Verlust der bürgerlichen Rechte, dazu gezwungen sein, sich zu einer Kirche zu halten, deren Bekennt­nis er nicht oder nicht mehr vertreten konnte. 1830 schon veröffentlichte die EKZ einen Artikel über eine an die deutschen Fürsten gerichtete Bittschrift, in der der Wunsch geäußert wurde, daß die Staaten nicht nur den Übertritt von der einen zur anderen Religionsgemeinschaft, sondern auch den reinen Austritt aus der Kirche ohne Eintritt in eine vorhandene Religionsgemeinschaft gewähren sollten. Dem Verfasser des Artikels, an dessen Veröffentlichung sich eine lange Auseinandersetzung mit der Zensur anschloß (vgl. unten 4.1), ging es dabei vor allem darum, die aufrichtige Haltung jener Petenten hervorzuheben, die sich offensichtlich aus Ge­wissens­grün­den keinem Bekenntnis anschließen wollten. In Entsprechung dazu hatte auch Hengstenberg schon zuvor gefordert, daß man rationalistischen Theologieprofessoren im Staat die uneingeschränkte Lehr­freiheit zukommen lassen solle, aber eben nicht in der Kirche und damit auch nicht auf einem theologischen Lehrstuhl (vgl. oben 2.1.1). Die Frage, welche Optionen diejenigen hatten, die aus der Kirche austraten oder eine neue Religionsgemeinschaft bilden wollten, stellte sich verschärft mit der Sammlung der schlesischen Lutheraner. 1845 wurde für sie mit der „Generalconcession“ eine Sonderregelung getroffen.363 Noch drängender wurde die Frage aber mit dem Auf­treten der Deutschkatholiken und dem Zusammenschluß der Lichtfreunde. Friedrich Wilhelm IV. sowie seine näheren Berater teilten die Sicht Hengstenberg, daß es für die Kirche nur schädlich sein könne, wenn diejenigen, die sich innerlich vom kirchlichen Bekenntnis abgewandt hatten, aus staatlichen Gründen ge361

  Vgl. oben 3.3.1.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  25. 363   Siehe oben bei Anm.  181. 362

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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zwungen wären, in der Kirche zu verbleiben.364 Ihnen sollte daher mittels einer neuen gesetzlichen Regelung der Austritt und die Bildung eigener Religionsgemeinschaften erleichtert werden. Zwar räumte auch schon das Allgemeine Landrecht die Möglichkeit ein, vom Staat genehmigte geduldete Religionsgemeinschaften zu bilden, der König wollte diese Regelungen aber nun in mehrerer Hinsicht modifizieren: Zum einen sollte zwischen Religionsgemeinschaften, die in Lehre und Bekenntnis im wesentlichen mit den drei bestehenden christlichen Konfessionen übereinstimmten – ironisch, aber treffend sprach E.L. von Gerlach in diesem Zusammenhang von „orthodoxen Dissidenten“365 – und anderen, bei denen dies nicht der Fall sei, unterschieden werden. Nur ersteren sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, zivilstandsrechtlich relevante Amtshandlungen vorzunehmen. Für letztere, die im Grunde wie Vereine behandelt werden sollten, sollten staatliche Register und die Möglichkeit der Zivilehe eingerichtet werden.366 Niemand sollte aber durch den Austritt aus der Kirche in seinen bürgerlichen Rechten beeinträchtigt werden. Die Überlegungen des Königs führten zu dem sogenannten „Toleranzedikt“ von 1847, das aus zwei Teilen bestand: dem „Patent, die Bildung neuer Religionsgesellschaften betreffend“ und einer Verordnung, die die zivilstandsrechtlichen Fragen regelte.367 Auf die Einzelheiten der gesetzlichen Regelungen und die „grundkonfuse Geschichte“368 , die zu ihrer Entstehung führte, muß hier nicht eingegangen werden.369 Im Ergebnis bildeten sie den Grundkonflikt ab, in dem der König sich befand, der einerseits weitergehende Kultus- und Religionsfreiheit gewähren wollte, aber andererseits von seinen Vorstellungen des

364

  Vgl. Friedrich, Eichhorn, 70.   E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 479. Gerlach hielt die Regelung für völlig überflüssig, weil es außer den separierten Lutheranern keine solchen Gruppen gebe und deren Angelegenheit bereits ausreichend geregelt sei. 366   Die Bildung von Religionsgemeinschaften auf der Basis des Vereinsrechts war auch schon nach dem Allgemeinen Landrecht möglich. Jedoch wurden die Angehörigen solcher Vereinigungen in öffentlich-rechtlicher Hinsicht weiterhin als Angehörige derjenigen Religionsgemeinschaft behandelt, der sie bisher angehörten – das sollte durch die neuen zivilstandsrechtlichen Regelungen geändert werden. 367   Patent, die Bildung neuer Religionsgesellschaften betreffend. Vom 30. März 1847: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847, 121–125; Verordnung, betreffend die Geburten, Heirathen und Sterbefälle, deren bürgerliche Beglaubigung durch die Ortsgerichte erfolgen muß. Vom 30. März 1847: ebd., 125–128. Ersteres, gekürzt um die Zusammenstellung der Regelungen des Allgemeinen Landrechts, auch bei Huber / Huber, Dokumente, 454 f. 368   E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 478. 369   Die Entstehung und Hintergründe des „Toleranzediktes“ werden am ausführlichsten, aber auch sehr wertend von Friedrich, Eichhorn, 389–410 dargestellt; vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte 2, 279 f., der allerdings die Ausrichtung auf die separierten Lutheraner zu sehr in den Vordergrund rückt; daneben E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 471.478– 480. 365

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3  Hengstenberg und die Kirche

christlichen Staates her nichtchristlichen Gruppierungen keine mit den christlichen Kirchen vergleichbare Stellung einräumen konnte. Hengstenberg nun begrüßte die Neuregelung: „Wir sind allem abhold, was Glaubenszwang heißt und freuen uns von Herzen, wenn alle äußeren Nachtheile der Verläugnung des Glaubens in so weit beseitigt werden, als dies geschehen kann ohne wesentliche Interessen des christlichen Staates zu gefährden.“370 Insbesondere würdigte er die Klärung der zivilstandsrechtlichen Verhältnisse, denn dadurch würden die bürgerlichen Nachteile beseitigt, die der Ausgetretene bisher aufgrund des Austritts zu erwarten hatte, insbesondere dann, wenn er sich einer noch nicht staatlich anerkannten Gruppierung anschloß. 371 Auch sah er den christlichen Staat durch die Maßregeln nicht gefährdet, solange gewährleistet bleibe, daß die bürgerlichen Rechte zwar nicht durch den Austritt an sich gefährdet würden, aber dennoch eingeschränkt werden könnten, wenn die Religionsgemeinschaft mit den Grundsätzen des christlichen Staates nicht vereinbar sei.372 Das Problem der Vereinbarkeit von christlichem Staat und „Unglaubensfreiheit“ brachte also auch Hengstenberg in gewisse Nöte. Im Unterschied zu Gerlach, der das Patent scharf ablehnte und dabei vor allem die Nachteile für den christlichen Staat im Auge hatte,373 ging es Hengstenberg aber in erster Linie um die Kirche: „So lange die Unglaubensfreiheit noch nicht proclamirt war, hatte jeder Versuch in dieser [sc. der Kirche] ihrem Bekenntnis Geltung zu verschaffen, und auch nur den frechsten Angriffen gegen dasselbe entgegenzutreten, einen solchen Sturm der öffentlichen Meinung zu bestehen, welche die laute Anklage der Verletzung der Gewissensfreiheit erhob, daß das Kirchenregiment nur unsicher und zaghaft vorzuschreiten wagte.“374

Das Toleranzedikt sollte in Hengstenbergs Augen also ebenfalls einer Entzerrung von kirchlichen und politischen Fragen und so der Selbständigkeit der Kirche dienen. Offensichtlich war aber, daß seinem Konzept zufolge die Trennung von kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten nicht allen Religionsgemeinschaften in gleichem Maße zugute kommen sollte. Doch es war nicht staatskirchliches Denken oder das Festhalten an dem landesherrlichen Kirchen370

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  25.   Ebd., Sp.  24. – Die entsprechende Regelung, § 16 der Verordnung, führte nebenbei und ohne dies an die große Glocke zu hängen, die Zivilehe auch für diejenigen ein, die sich nach dem Austritt keiner neuen Religionsgemeinschaft anschlossen. 372   Hengstenberg interpretiert das Patent wie E.L. von Gerlach im Zusammenhang mit der gleichzeitig ergehenden, zugehörigen Kabinettsordre; vgl. dazu auch Friedrich, Eichhorn, 412 f., der allerdings bei seiner Beschreibung des Gerlachschen Artikels übersieht, daß Gerlach bei der Äußerung von Kritik auf die Zensur Rücksicht nehmen mußte, vgl. Kraus, Gerlach, 369 f. 373   Nach Gerlachs Meinung habe der König nur „unter dem Drucke der Tendenz, dem revolutionären Liberalismus Konzessionen zu machen“, gehandelt (E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 480). 374   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  25. 371

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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regiment, das ihn zu dieser von seinen Gegnern bekämpften Ansicht kommen ließ, sondern seine Hochschätzung des christlichen Staates, auf die unten (4.3.2.2) einzugehen sein wird. Für seine Sicht der inneren Gestaltung der Kirche, um die es hier geht und die nun eingehender beleuchtet werden soll, hatte diese Perspektive keine Bedeutung. In dieser Hinsicht war nur entscheidend, daß nun keine äußeren Gründe mehr vorlagen, den „aggressiven Un­glaube[n]“, worunter er in erster Linie die Führer der Lichtfreunde verstand, in der Kirche zu dulden: „Bald wird es dahin kommen, daß die Ein­sicht, wer Diener einer Kirche werden wolle, müsse ihren Glauben theilen, zum Gemeingute wird, und daß man nicht begreift, so spät erst erkannt zu haben, was doch so offen zu Tage liegt, und was außer Deutschland in der ganzen Welt längst erkannt wird.“375

3.5.3  Beiträge zur Verfassungsdiskussion der 40er Jahre Hengstenberg hatte in seinen 1842 geäußerten Wünschen dargelegt, wie er sich die weitere Entwicklung der kirchlichen Organisation vorstellte: Die Behörden des landesherrlichen Kirchenregiments sollten in eigenständige Behörden mit rein kirchlichem Charakter verwandelt werden. Dazu seien die bestehenden Provinzialkonsistorien aus dem staatlichen Behördenapparat herauszulösen und eine an der Spitze der Kirche stehende rein kirchliche Oberbehörde einzurichten, auf welche die inneren kirchlichen Angelegenheiten übergehen sollten, für die bisher das Kultusministerium zuständig war. Die nur dem König unterstellte und von staatlichen Einflüssen befreite Oberbehörde würde dann das ordentliche Organ des landesherrlichen Kirchenregiments im ursprünglichen Sinne darstellen. Doch Hengstenberg trat nicht nur für den Ausbau der Konsistorialverfassung ein. Er äußerte auch den Wunsch, daß etwas gegen „die völlige Ausschließung der Pfarrer und der Gemeinden von der Theilnahme am Kirchenregiment“376 unternommen werden solle. Damit war die Frage nach pres­byterialen und synodalen Elementen der Kirchenordnung angesprochen. Ihre Einrichtung sei perspektivisch geboten, so Hengstenbergs Ansicht, doch bedürfe es dazu einer Zeit des Übergangs. Zunächst sollten die Synoden, die nicht nur aus Geistlichen, 375

  Ebd. (auch das vorige Zitat).   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  15. – Hengstenberg geht davon aus, daß es auch bei den Synoden nur um die Revitalisierung einer alten Institution gehe, die es schon zur Reformationszeit gegeben habe. Notwendig seien die Synoden, weil „[ j]eder kirchliche Lebenskreis“ ihm eigentümliche Anschauungen und Einsichten habe „und die nur wenn er zur Theilnahme am Kirchenregiment zugelassen wird, der Kirche wahrhaft und vollständig zu Gute kommen können“ (ebd., Sp.  15). Auffälligerweise greift Hengstenberg zur Begründung der Synoden nie auf den Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen zurück (vgl. dazu unten 3.6). 376

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3  Hengstenberg und die Kirche

sondern auch aus „Abgeordneten der Gemeinden aus dem Laienstande“ bestehen sollten, nur beratende Funktion einnehmen. In ihre „naturgemäßen Rechte“ würden sie dann erst „nach und nach, und so wie sich hier oder dort die dazu nothwendige Reife kundgäbe“377, eingesetzt. Damit ist das Grundkonzept umrissen, das Hengstenberg auch in der weiteren Diskussion vertrat: Ausbau der Konsistorialverfassung und behutsame Einbeziehung presbyterial-synodaler Elemente. Wie bereits erwähnt, hielt er die Zeit für die Einberufung von Synoden mit beschließendem Charakter oder gar für die Ersetzung der Konsistorial- durch eine Synodalverfassung noch nicht für reif. Die Rechte zur Mitbestimmung in der Kirche gehörten „nur Geistlichen und Gemeinden, die mit Recht diesen Namen führen, bis diese vorhanden sind ruhen sie mit vollem Rechte.“378 Die Gestaltung der kirchlichen Ordnung, so das immer wieder vorgebrachte Argument, dürfe nicht der inneren Erneuerung vorauseilen. Die Perspektive, die Hengstenberg bei seiner Beurteilung der Union bestimmte, prägte also auch seine Sicht von der Entwicklung der Kirchenverfassung: Die seit den Befreiungskriegen sich vollziehende Belebung der Kirche müsse unterstützt werden und weiter voranschreiten. Erst dann könne man über die angemessene Gestalt für die erneuerte Kirche entscheiden. Kirchenverfassungsfragen sind für Hengstenberg deshalb cura posterior – drängend werden sie nur dann, wenn sie mit der inneren Erneuerung nicht Schritt halten oder ihr gar im Weg stehen.379 Daß Hengstenberg die Kirchenverfassungsfragen für weniger drängend hält als viele seiner Zeitgenossen, hängt natürlich auch damit zusammen, daß er einerseits die bestehende Verfassung als mängelbehaftet, aber gleichwohl legitim und andererseits die Alternativen nicht als zwingend notwendig einstufte: „wir halten keine der verschiedenen Verfassungsformen für durch die Schrift geboten, keine für die schlechthin beste, erkennen an jeder, wenn sie nur wirklich eine solche ist, die Überzeugung von der Selbständigkeit der Kirche unbedingt zur Grundlage hat, eigenthümliche Vorzüge und Mängel, und sind der Meinung, daß die beste Verfassung überall die geschichtlich gegebene ist, und daß die Mängel der Verfassung überall nicht durch Abschaffung, sondern durch vorsichtige Aneignung der besten Elemente der an-

377

  Ebd., Sp.  18.   Ebd., Sp.  17. 379   Den Fall, daß die Kirchenverfassung der inneren Erneuerung der Kirche im Wege steht, sieht Hengstenberg in der Angelegenheit der schlesischen Lutheraner gegeben (s. Vorwort, EKZ 32 [1843], Sp.  18 f.). Hier habe sich die Vermengung von Kirche und Staat negativ ausgewirkt. Die staatlichen Kirchenbehörden hätten sich als unfähig erwiesen, mit geistlichen Fragen angemessen umzugehen. Sie behandelten kirchliche Fragen nach staatlichen Gesichtspunkten, und so müßten die „wirklich zum Leben durchgedrungenen Geistlichen [...] der Kräftigung und Stärkung, welche dem einzelnen Diener der Kirche aus ihrem Gesammtleben zufließen soll“ (ebd., Sp.  19), entbehren; sie würden daher leicht in die Opposition zu den Behörden getrieben. 378

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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deren, so weit sie mit ihr in Einklang gebracht werden können, beseitigt werden müssen.“380

Die Geschichte habe gezeigt, „daß der Geist unter allen Verfassungen weht, und im Wesentlichen, wo nur die Selbständigkeit der Kirche anerkannt wird, sich kein unbedingter praktischer Vorzug der einen vor der anderen nachweisen läßt.“ Gut lutherisch machte er darum für die Konsistorialverfassung nicht nur geltend, daß sie die „geschichtlich gegebene“ sei, sondern „daß sie nicht versucht ist, sich für die in Gottes Wort gegründete und allein wahre zu erklären, eine Gefahr, der die presbyterianische und die Bischöfliche stets von neuem unterliegen“381. Speziell der presbyterianischen Kirchenverfassung gegen­über war Hengstenberg alles andere als abgeneigt. Er schätzte die Schottische Kirche, die gerne von den Verfechtern des Presbyterialprinzips als Beispiel herangezogen wurde.382 Doch machte er zu Recht darauf aufmerksam, daß die reformierte Presbyterialverfassung nichts mit modernen demokratischen Ideen zu tun hatte.383 Wie allgemein üblich sei darum in Schottland und anderswo immer die Kirchenzucht die „conditio sine qua non jeder gesunden presbyterianischen Verfassung“ gewesen.384 Darüber hinaus zeige sich an den presbyterianischen Kirchen auch eine deutliche Schwäche dieses Systems: „Die einseitige Vorliebe für Verfassung überhaupt und für diese besonders, die dem Presbyterianismus so sehr an­klebt“, führe nicht nur zu Langeweile und Einseitigkeit, sondern habe auch zahlreiche Spaltungen allein aufgrund von Verfassungsfragen hervorgerufen.385 Das Hauptargument gegen die sofortige Einführung einer Presbyterial- oder Synodalverfassung sieht Hengstenberg aber darin, daß sie in der Gegenwart, „unter der Herrschaft eines falschen Liberalismus“386 , politisch-demokratischen und nicht genuin theologisch-kirchlichen Prinzipien folgen würde. Darum dürfe man im Moment nichts überstürzen. Auch Sympathisanten der presbyterianischen Verfassung, so konstatierte er 1844, stimmten ihm inzwischen zu, „daß es für jetzt die Herstellung der Consistorialverfassung gelte, nebst vorsichtiger und allmähliger Belebung und Ordnung der Gemeindeverhältnisse, wo und insofern der Geist zu solcher die Bahn gebrochen.“387 380

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  40.   Ebd., Sp.  41 (auch das vorige Zitat). 382   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  45–47. 383   Vgl. ebd., Sp.  49, Anm.*: „Denn der Name des Presbyterianismus wird von den modernen Verfassungsbestrebungen nur gemißbraucht“; vgl. zur Berechtigung dieses Vorwurfs Mehlhausen, Kirche, 154 f.164. 384   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  55. 385   Ebd., Sp.  56. 386   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  41. 387   Ebd.; ebs. Ders., Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  32: „Es ist gefährlich, an den Grundlagen der kirchlichen Verfassung herum zu experimentieren. [...] Das Alte macht man wankend, und das Neue vermag man nicht zum wirklichen Leben zu führen. [...] Der einzige 381

402

3  Hengstenberg und die Kirche

Der Einführung der Synoden muß in Hengstenbergs Augen also notwendig die Konsolidierung der Konsistorialverfassung vorausgehen, denn diese biete „die Grundlage einer gedeihlichen Entwickelung des Synodalwesens“388 . Von den neuen kirchlichen Behörden erwartete Hengstenberg eine Belebung der kirchlichen Gesinnung. Immer wieder polemisierte er in diesem Zusammenhang gegen das bürokratische „Schreibwesen“ der staatlichen Kirchenbehörden, die ihre Maßstäbe aus dem bürgerlichen Gesetzbuch entnähmen „mit Ignorierung der Kirchenordnungen, auf welche dies Gesetzbuch selbst verweist, und der Bekenntnißschriften, auf welche die Geistlichen bei ihrer Ordination verpflichtet werden.“389 Demgegenüber sei eine rein kirchliche Behörde in der Lage, bei ihren Entscheidungen kirchliche Maßstäbe, also die Kirchenordnungen und die Bekenntnisschriften, zu Grunde zu legen. Davon aber versprach sich Hengstenberg eine allgemeine Belebung des kirchlichen Geistes; die Impulse der Erweckungsbewegung sollten auf diese Weise verstärkt und innerhalb der Kirche beheimatet werden. Auf dem Boden einer von innen erneuerten Kirche könne dann schließlich auch die Synodalverfassung gedeihen. Unerläßliches Kennzeichen einer Synode, „ohne das nur Schein- und Räuber-Synoden stattfinden können“, sei nämlich die „Übereinstimmung mit dem Wesentlichen des kirchlichen Bekenntnisses“390. Für Hengstenbergs Behandlung der Verfassungsfrage gilt also ganz analog, was oben über seine Haltung zur Union gesagt wurde: Er thematisierte sie nicht um ihrer selbst willen. Er betrachtete sie vielmehr als Anhängsel zu der eigentlich entscheidenden Frage des Verhältnisses der Kirche zur Grundlage ihres Glaubens und ihrer Lehre.391 Dieser Aspekt tritt besonders augenfällig in der Mitte der 40er Jahre hervor. Die Einberufung der Provinzialsynoden 1844 und der Generalsynode 1846 hatte eine neue Reformeuphorie ausgelöst. Die Synoden waren bei Hengstenberg, wie berichtet, wegen ihres ungeklärten Verhältnisses zum kirchlichen Bekenntnis auf keine Gegenliebe gestoßen. Dazu kam, daß die Synoden vor allem von Vertretern des kirchlichen und politischen Liberalismus begrüßt wurden. Schon allein deshalb sah sie Hengstenberg in einem ungünstigen Licht. Vor allem aber wandte er sich nun gegen die Auffassung, daß man sich von einer neuen Kirchenverfassung und der Einführung des Synodalprinzips eine Erneuerung der Kirche versprach. Der Kirche könne, so bevernünftige Rath auf dem Gebiete der Verfassung ist jetzt der, zu bewahren, was wir haben, es von seinen Auswüchsen zu reinigen, im Einzelnen daran zu bessern, vor Allem aber dahin zu wirken, daß der gute Geist unter uns lebendig werde, der auch die schwächere Verfassung zu einem Mittel des Segens machen kann.“ 388   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  44. 389   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  43. 390   Ebd., Sp.  44; ebs. auch schon Ders., Vorwort, EKZ 34 (1844), Sp.  12; vgl. dazu oben 3.2.2. 391   Das zeigt sich beispielsweise auch an Hengstenbergs Kommentierung der Generalsynode von 1846, wo sich sein Interesse fast ausschließlich auf die Bekenntnisfrage richtet.

3.5  Kirchenverfassungsfragen

403

tont er 1845, nicht durch äußere Umorganisation, sondern „nur durch die Ausgiesung des heiligen Geistes geholfen werden. Das Mittel, dieselbe herbeizuführen, ist die kräftige Predigt der heilsamen Lehre. Diese stellt sich uns als die ‚Aufgabe von unermeßlicher Wichtigkeit‘ dar, welche unsere Zeit zunächst zu lösen hat.“392 Die „Verfassungsschwärmer“393 leite das „unvernünftige Bestreben, den Tod und die Verwesung zu organisiren. Daß das Leben, wo und so weit es sich findet, organisirt werde, betrachten auch wir als eine wichtige Aufgabe der Zukunft, ja zum Theil schon als eine solche der Gegenwart.“394 Im Blick auf das Leben der Kirche nehme die Verfassungsfrage in der evangelischen Kirche jedoch eine ganz untergeordnete Stellung ein: „Die Merkmale der wahren Kirche sind ihr einzig und allein: die unverfälschte Predigt des göttlichen Wortes und die rechte Austheilung der Sakramente. Wo diese Merkmale sich nur finden, da muß nach ihrer Überzeugung das kirchliche Leben gedeihen, und da kann auch eine solche Verfassung nicht fehlen, welche der Entwickelung des kirchlichen Lebens freien Lauf läßt und sie fördert. Die Wahrheit dieser Ansicht von den wesentlichen Merkmalen einer Kirche wird durch jede gesunde Geschichtsbetrachtung bestätigt.“395

Man solle sich doch Luther zum Vorbild nehmen, der in der Vorrede zur Deutschen Messe sagte: „wenn man nur Leute und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu seyn begehrten, die Ordnung und Weisen wären bald gemacht“396 . Demgegenüber sei es eine Torheit, „durch Äußeres das Innere ersetzen“ zu wollen.397 Die Einheit der Kirche werde nicht durch die Verfassung hergestellt, sondern umgekehrt: „Die Übereinstimmung in der Lehre ist auch von jeher in der christlichen Kirche als die Grundbedingung des Gedeihens der Verfassung betrachtet worden“398 . Die Einführung einer Synodal- und Presbyterialverfassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei „ein sicheres Mittel, den Bruch in der Kirche herbeizuführen.“399 Hengstenbergs Stellung zur Kirchenverfassungsfrage läßt sich also letztlich auf wenige Grundprinzipien zurückführen, die er seit 1842 immer nur wiederholt und variiert hat: Predigt vor Verfassung, innere Erneuerung vor äußerer 392

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  51.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 38 (1846), Sp.  46. 394   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  50. 395   Ebd., Sp.  48; vgl. Ders., Vorwort, EKZ 38 (1846), Sp.  46: Das Heil der Kirche werde „überall nur als Frucht der durch Gott selbst hervorgerufenen lebendigen Predigt seines Wortes, und der daran sich anknüpfenden Ausgießung seines Geistes erwartet“. – Auch gegenüber den schlesischen Lutheranern erklärte Hengstenberg verschiedentlich, daß die Kirchenverfassung nach lutherischer Ansicht keine nota ecclesiae sei, ihre Fixierung auf die Kirchengestaltung also vielmehr reformierten Charakter trage. 396   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  51; vgl. WA 19, 75,17 f. 397   Ebd., Sp.  48. 398   Ebd. – das gelte gerade auch für die reformierte Kirche mit ihrer presbyterialen Verfassung. 399   Ebd., Sp.  49. 393

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3  Hengstenberg und die Kirche

Reform, Einheit im Bekenntnis vor Beteiligungsrechten. Die geschichtliche Entwicklung in den 40er Jahren hat er dabei als Bestätigung empfunden. Die Politisierung der Kirchenverfassungsfrage im Vormärz wertete er als warnendes Signal, daß eine Reform der Kirchenverfassung unter den gegebenen Umständen hauptsächlich politischen Prinzipien folgen und zu einer demokratisch organisierten „Pöbelkirche“400 führen würde. Die ersten Maßnahmen der Märzregierung – Abschaffung des im Januar 1848 errichteten Oberkonsistoriums und Einrichtung einer Verfassungskommission, die die baldige Einführung einer Presbyterial- und Synodalverfassung vorbereiten sollte401 – verstärkte den Eindruck. In seinen ersten Stellungnahmen nach der Revolution hielt es Heng­ stenberg für so gut wie sicher, daß die Spaltung der Kirche in Folge einer Verfassungsreform nun unmittelbar bevorstünde: „Sie werden zuerst in kürzester Frist die Kirche mit der gepriesenen demokratischen Verfassung (denn den Namen der presbyterianischen sollte man nie so entweihen, daß man ihn zur Bezeichnung von aus völlig verschiedenem Geiste hervorgegangenen gebrauchte) beglücken. Mit Hülfe der also im Namen der Kirche gegen die Kirche or­ ganisirten Masse werden diese Behörden dann gegen das Bekenntniß der Kirche sich erheben und es versuchen, den Rationalismus in’s Recht zu setzen, den kirchlichen Glauben aber rechtlos zu machen, nach dem beliebten: weiche mir und ich will wohnen.“402

Dann aber müßten sich die Anhänger des Bekenntnisses aus der Kirche zurückziehen. Eine schwache Hoffnung bestehe nur noch in der unwahrscheinlichen Aussicht, daß man doch noch zu der Maßnahme greife, „das Ober-Consistorium von dem geistlichen Ministerium zu trennen und also das Schifflein der Kirche loszulösen vom dem Staatsschiffe“403. Dazu kam es dann tatsächlich: Bereits im Oktober 1848 beantragte Minister von Ladenberg, eine eigene Abteilung für evangelische Angelegenheiten innerhalb des Ministeriums einzurichten, aus der 1850 der Evangelische Oberkirchenrat hervorwuchs.404 Hengstenberg zeigte sich davon befriedigt, allerdings ruhte er nicht eher, als bis auch die Frage der kirchlichen Urwahlen vom Tisch war. „Das Elend liegt,“ so betonte er 1849, „in dem Vorhandenseyn einer überwiegenden ungläubigen oder halbgläubigen Majorität in der Kirche.“405 So führten ihn die Entwicklungen von 1848 dazu, umso energischer vor jedem Neubau der Kirche zu warnen und die innere Erneuerung voranzutreiben: „Unsere wahre Aufgabe ist eine ganz andere, die Arbeit an der Beseitigung der Thatsache einer unkirchlichen Majorität, bei deren Vorhandenseyn eine Bekenntniskirche 400

  Ebd.   S. Sander, Verfassung, 404–407. 402   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen, EKZ 42 (1848), Sp.  243. 403   Ebd., Sp.  244. 404   S. Sander, Verfassung, 413–418; Huber, Verfassungsgeschichte 4, 835–837. 405   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  32. 401

3.5  Kirchenverfassungsfragen

405

herstellen zu wollen eine ebenso niedrige Handwerksarbeit, eine bloße Kirchenfabrikation ist, wie das Bestreben unserer kirchlichen Demokraten, eine Verfassung zur organisiren. Wir wollen arbeiten an den einzelnen Seelen, an den einzelnen Gemeinden, in den einzelnen anderen Kreisen, in die Gott uns gesetzt hat.“406

1850 nahm die Entwicklung dann endgültig die von Hengstenberg erhoffte Wendung. Die revidierte preußische Verfassung hatte in Art. 15 den Grundsatz festgeschrieben, daß die Kirchen ihre Angelegenheiten selbständig zu verwalten hätten. Damit aber war die Trennung der kirchlichen Behörden vom Kultusministerium unabdingbar geworden. Nach einem umfangreichen Konsultationsverfahren, das Ladenberg bereits 1849 eingeleitet hatte, legte der Kultusminister dem König im April 1850 den Antrag vor, die Abteilung für innere evangelische Kirchenangelegenheiten in einen selbständigen Evangelischen Ober-Kirchenrat umzuwandeln.407 Genauso wichtig aber war die beigelegte Denkschrift. In ihr wurde nämlich ausgeführt, daß die Berufung einer konstituierenden Synode weder angemessen noch notwendig sei, um die von der Verfassung geforderte Selbständigkeit der Kirche herbeizuführen. Die Bildung einer repräsentativen Synode wurde als Ziel der Reform beibehalten. Allerdings müsse ihr die Organisation der Gemeinden vorausgehen. Darum wurden gleichzeitig „Grundzüge einer evangelischen Gemeinde-Ordnung für die östlichen Pro­ vinzen“ mit der Bitte um Genehmigung vorgelegt.408 Damit aber waren die Weichen für die weitere Entwicklung der Verfassungsdiskussion gestellt: Die Konsistorialverfassung war hergestellt 409 und die Ausarbeitung einer Gemeindeordnung als nächstliegende Aufgabe formuliert. Die Gefahr einer verfassungsgebenden Synode, die grundlegend in die kirchlichen Verhältnisse hätte eingreifen oder gar das Bekenntnisse verändern können, war damit gebannt. Im Rückblick betrachtet, konnte Hengstenberg mit der Entwicklung in den 40er Jahren durchaus zufrieden sein. Im großen und ganzen waren er und seine Mitstreiter mit den Anfang des Jahrzehnts ausgesprochenen Wünschen durch406

  Ebd., Sp.  35 f.   In das Verfahren waren auch die theologischen Fakultäten einbezogen; für die Berliner Fakultät entwarf Hengstenberg ein Gutachten, das von der sofortigen Einberufung einer Synode abriet: Gutachten der theologischen Fakultät [Hengstenberg, Neander, Twesten, Nitzsch, Strauß], EKZ 44 (1849), Sp.  265–271, Nr.  29; der Entwurf des Gutachtens vom 20. März 1849 findet sich in den Fakultätsakten: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 81, f.  83–86; am 15. Jan. 1849 hatte der Minister die Fakultät aufgefordert, „sich in einem umfassenden Gutachten über diejenigen Maaßregeln auszusprechen, welche sie in Hinblicke auf die Bedürfnisse der Gegenwart und die Grundsätze der evangelischen Kirche nach der bezeichneten Richtung hin für nothwendig erachtet“ (ebd., f.  74r). 408   S. Sander, Verfassung, 415 f.; die Denkschrift und die Grundzüge stammten von dem Kirchenrechtlicher Ämilius Richter. 409   Bereits 1845 waren die Konsistorien der Provinzen zu rein kirchlichen Behörden umgestaltet worden, vgl. Huber / Huber, Dokumente, 609–612. – In den meisten Darstellungen wird die Reform von 1845 übergangen; bei Sander, Verfassung, 403 wird sie nur am Rande erwähnt; vgl. aber Kraus, Gerlach, 302, Anm.  8 0. Hengstenberg begrüßte sie ausdrücklich im Vorwort, EKZ 38 (1846), Sp.  45. 407

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3  Hengstenberg und die Kirche

gedrungen. Nicht nur die kirchliche Behördenorganisation war gelungen, sondern man hatte auch das landesherrliche Kirchenregiment durch die Wirren der Revolution hindurchretten können. Offen war lediglich die Frage der Mitbeteiligung der Gemeinden an der Kirchenleitung. Sie sollte das Thema der 50er Jahre werden. Spannender ist aber noch eine andere Frage: Würden die kirchlichen Behörden, in erster Linie aber der Oberkirchenrat, die Erwartungen erfüllen können, die Hengstenberg in sie gesetzt hatte?

3.5.4  „Der hochwürdige Evangelische Oberkirchenrath“ Die Entwicklung der Gemeindekirchenordnung, deren Grundzüge noch 1850 provisorisch erlassen, den Gemeinden aber nicht vorgeschrieben, sondern zur Annahme auf freiwilliger Basis vorgelegt worden waren, muß hier nicht weiter verfolgt werden. Flächendeckend eingeführt wurde sie erst zehn Jahre später unter Friedrich Wilhelms Nachfolger und dessen Minister Bethmann-Hollweg. Was Hengstenbergs Position angeht, so treten in der Diskussion um die Gemeindeordnung keine neuen Gesichtspunkte hervor. Nach wie vor kritisierte er den im Urwahlprinzip ausgedrückten Repräsentationsgedanken als ein dem Wesen der Kirche fremdes Prinzip.410 Es sei eine Irrlehre, „jeden fünfundzwanzigjährigen bürgerlich unbescholtenen Menschen ohne Weiteres für ein wahres Glied der Kirche Christi [zu] halten, ohne Rücksicht darauf, wie er zu der Taufgnade steht, ohne Glauben und ohne Werke, blos weil er zwei Beine hat und aufrecht steht und Bier trinkt und kein Wasser“411.

Immer noch bezweifelte er die Kompetenz und die kirchliche Gesinnung der gewählten Vertreter. Unüberhörbar wird daneben nun aber auch generelle Kritik an der Übernahme des reformierten, von der Schrift nirgends gebotenen Presbyteramtes durch die lutherischen Gemeinden laut. Da die Schrift ein solches Amt aber andererseits nicht verbiete, solle man sich der Einführung nicht widersetzen.412 So verhielt er sich denn auch, als die Gemeindeordnung einge-

410

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 48 (1851), Sp.  24: „Die nothwendige Folge der Evangelischen Grundanschauung von der Kirche ist die, daß man die Legitimation des Kirchenregimentes in Anderem sucht als darin, daß es die Massenkirche repräsentirt, daß man, wie die Lutherische Kirche stets gethan hat, den Hauptaccent legt auf die Übereinstimmung mit dem Worte Gottes und dem Bekenntniß der Kirche, dann das geschichtliche Recht, und wo ein solches nicht vorhanden oder durch offenbaren Abfall vom Worte Gottes verwirkt worden ist, die Zweckmäßigkeit ins Auge faßt. Auf diesem Wege entstand das Kirchenregiment des Evangelischen Landesherrn.“ Vgl. dazu ausführlicher Ders., Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  37–49. 411   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  84. 412   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 68 (1861); Sp.  75–83; vgl. auch die früheren Stellungnahmen: Ders., Vorwort, EKZ 48 (1851); Sp.  19–35; Vorwort, EKZ 64 (1859), Sp.  39–41

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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führt wurde. Verhindern konnte Hengstenberg die in seinen Augen unausgereifte Ordnung nicht. Daß in den 50er Jahren zunächst keine neuen Anläufe zur Reform der Kirchenverfassung und zur Einführung einer Synode unternommen worden waren, hing vor allem damit zusammen, daß der König kein Interesse mehr an synodalen Experimenten hatte und Kultusminister von Raumer die gemäß Art. 15 der preußischen Verfassung geforderte Selb­ständigkeit der Kirche durch die Einrichtung des Evangelischen Oberkirchenrats für hergestellt hielt. Der Widerspruch gegen diese Auffassung verstummte freilich nicht. Sowohl in der innerkirchlichen Diskussion413 als auch in den Debatten des Abgeordnetenhauses wurde immer wieder bezweifelt, daß der Oberkirchenrat als legitimes Organ einer selbständigen Kirche betrachtet werden könne.414 Doch auch Hengstenbergs Verhältnis zu der neuen Behörde gestaltete sich nicht konfliktfrei. Wie bereits dargestellt, bekam Hengstenberg mehr und mehr den Eindruck, daß im EOK nur die unionistisch Gesonnenen zum Zuge kämen. Nach Stahls – zunächst vorläufigem – Austritt aus dem Gremium im Jahr 1857 kritisierte Hengstenberg denn auch öffentlich „die Behandlung der Kirchensachen im absorptiv-unionistischen Sinne“ und mahnte, das Recht der Lutherischen anzuerkennen.415 Auch in den folgenden Jahren sparte er nicht mit kritischen Bemerkungen. 1859 kam es dann zur offenen Konfrontation. Auslöser war kein Artikel aus Hengstenbergs Feder, sondern eine „Protestation“, die er am 2. April in seine Kirchenzeitung eingerückt hatte.416 Sie stand im Zusammenhang mit Beratungen eines neuen Ehegesetzes 417 und anderer kirchlich relevanter Materien in den Preußischen Kammern und einer Verordnung des Oberkirchenrates. Am 15. Februar 1859 hatte der EOK nach Aufforderung durch den Prinzregenten in einem Erlaß seine Grundsätze bezüglich der Wiederverheiratung Geschiedener vorgelegt.418 Dem Landesherrn kam es darauf an, daß eine großzügigere kirchliche Handhabung als bisher den Boden für eine neue staatliche Ehegesetzgebung vorbereiten sollte. Deshalb wurde zunächst den Konsistorien, die und seine Beurteilung der Monbijou-Konferenz von 1856 (dazu Meyer, Allianz, 99–106): Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  1–53. 413   Hier sind v. a. die Schleiermacherschüler Jonas, Sydow, Bellermann u. a. als Vertreter der Unionsvereine zu nennen, vgl. den ‚Erlaß des evangelischen Ober-Kirchenraths an die Prediger Jonas, Pischon [...]‘, EKZ 47 (1850), Sp.  926 f., Nr.  91; Hengstenberg, Vorwort, EKZ 1851, 30 f.; Mehlhausen, Liberalismus, 134–137. 414   Vgl. dazu unten 4.3.4.1. 415   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  52. 416   Protestation, EKZ 64 (1859), Sp.  309–312, Nr.  64. Der Verfasser war Pfr. G.H. Monbilly (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung, Verfasserverzeichnis, 15). 417   Vgl. Buchholz, Eherecht, 88–97. 418   Aktenstücke aus der Verwaltung des Evangelischen Oberkirchenraths (1859), 280– 284. – Der Zirkularerlaß bietet die auslösende Kabinettsordre des Prinzregenten vom 10. Febr. 1859 im Wortlaut.

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3  Hengstenberg und die Kirche

häufig restriktiver verfahren waren als die Oberbehörde, die Verweigerung der Wiederverheiratung Geschiedener entzogen. Der Erlaß regelte, daß die Konsi­ storien nur noch genehmigen durften, im Falle der Nichtgenehmigung die Sache aber an den EOK weiterzuleiten hätten. Darüber hinaus erklärte der EOK, daß er hinsichtlich der Frage der Scheidungsgründe das Wort Gottes nicht als Gesetz, sondern als Prinzip auffasse, „das auf die Verhältnisse des Lebens mit Weisheit und Milde, zur Erhaltung der Heiligkeit der Ehe, aber auch zur Rettung der Personen und zum Schutze des Rechts angewendet werden soll“419. Darum könne er die Scheidungsgründe nicht auf Ehebruch und böswillige Verlassung beschränken. Damit folgte der EOK „der Pflicht der Mäßigung und Besonnenheit“420, die der Prinzregent von der Kirche in der zur Debatte stehenden Frage verlangt hatte. Dieser Pflicht, so der Erlaß, sollten aber auch die Konsistorien und Pfarrer im „Gehorsam gegen die vorgesetzte Obrigkeit“, gegenüber der man sich „bei der von jeher vorhanden gewesenen großen Verschiedenheit der Ansichten nicht auf das Dogma der Kirche berufen könne[...]“421, nachkommen. Mit Nachdruck wurden die Pfarrer ermahnt, sich der Ansicht des EOK anzuschließen. Für den Verfasser der „Protestation“ war damit der Damm gebrochen, welchen die Kirche bislang einer liberaleren Ehegesetzgebung entgegengesetzt hatte. Darüber hinaus sah er nicht nur in der vom EOK gehorsamst befolgten Kabinettsordre, sondern auch in den Verhandlungen der Kammern und vor allem in den Voten des neuen Kultusministers Bethmann-Hollweg eine Preisgabe der Interessen der evangelischen Landeskirche. „[F]ür den Schutz und die Selbständigkeit unserer theuren, Evang. Kirche“422 erhob er darum gegen die jüngsten Entwicklungen Protest und verband ihn mit der Hoffnung, daß er nicht der einzige bleiben werde, sondern „daß überall in unserer Evang. Landeskirche [...] von Einzelnen nicht blos, sondern von Vereinen, Conferenzen und Synoden für den Schutz und die Selbständigkeit unsrer Evang. Kirche einmüthige Protestation erfolgen wird“423. Allein die Tatsache, daß die EKZ eine ‚Protestation‘ gegen die Organe der Obrigkeit unterstützte, rief einiges Erstaunen hervor.424 Die Bedeutung, die man dem Gegenstand zumaß, wird daran deutlich, daß Kultusminister Bethmann-Hollweg die EKZ nur sechs Tage später, am 8. April, in der Sitzung des Abgeordnetenhauses öffentlich angriff. Ohne die Zeitung beim Namen zu nennen, verurteilte er „jenen antirevolutionairen, echt revolutionairen Fanatismus“, der sich nicht „mit Klage und Bitte an die geordneten Autoritäten des Staates 419

  Ebd., 282.   Ebd., 280 (Wortlaut der Kabinettsordre). 421   Ebd., 284. 422   Protestation, EKZ 64 (1859), Sp.  312. 423   Ebd. 424   Für diejenigen, welche die Geschichte der EKZ kannten, war es freilich weniger überraschend, vgl. unten 4.2. 420

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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und der Kirche wendet, sondern Geistlichkeit und Volk in unserem Lande zur Auflehnung gegen diese Autoritäten aufruft“425. Offenbar genügten die Anspielungen, und jeder wußte, wer gemeint war. Der ebenfalls angegriffene Oberkirchenrat griff zu schärferen Mitteln.426 Bereits am 7. April versandte der Oberkirchenrat einen Erlaß an alle Konsistorien, der den Geistlichen zur Kenntnis gebracht werden sollte.427 Darin wird der Anlaß der ‚Protestation‘ kurz referiert und die Passage, die zu weiteren Protestationen aufrief, zitiert. Unverhohlen werden den Geistlichen disziplinarische Maßnahmen angedroht mit der Verpflichtung, „schon der bloßen Anreizung zu Maßnahmen, welche nach Form oder Inhalt leicht zu einem ernsten disciplinarischen Einschreiten Veranlassung geben könnten, mit Entschiedenheit entgegen zu treten“. Es sei verwerflich, „in solcher Zeit die Partei-Leidenschaft aufzurufen, um durch Protestationen und Manifestationen in willkürlich zusammentretenden Vereinigungen gegen die Obrigkeit anzustürmen“. Daß in politischen Blättern zur „Auflehnung gegen die von Gott geordneten Obrigkeiten“ gereizt werde, genüge schon. Dieses Verhalten dürfe nicht auf die Kirche übergreifen, und dem müsse der Oberkirchenrat „mit der ganzen Kraft des von Gott uns anvertrauten Amtes“ entgegentreten.428 Als Reaktion auf den Erlaß verfaßte Hengstenberg im Mai den Artikel ‚Der Hochw.[ürdige] Evangelische Oberkirchenrath und die Evangelische Kirchenzeitung‘429, der sowohl für das Selbstverständnis der EKZ als auch für Heng­ stenbergs Einschätzung des Oberkirchenrats sehr charakteristisch ist. Der Artikel befaßt sich nicht mit den umstrittenen Sachfragen, sondern ausschließlich mit dem Verhalten des Oberkirchenrats. Er erinnert daran, „daß die Evangelische Kirchen-Zeitung es war, welche zuerst mit Energie den Gedanken einer selbständigen, von dem Ministerium der Geistlichen Angelegenheiten abgetrennten Oberbehörde anregte und den Plan für die Errichtung einer solchen entwarf 425

  Stenographische Berichte 1859, Bd.  2 , 710.   Dabei ist auf die Vorgeschichte aufmerksam zu machen: Ämilius Richter, Mitglied des EOK, hatte in seinen ‚Beiträgen zur Geschiche des Ehescheidungsrechtes in der Evangelischen Kirche‘ die Ansicht Hengstenbergs bestritten, daß sich die Kirche in ihrer Geschichte über die Ehescheidungsgründe im wesentlichen einig gewesen sei. Dagegen polemisierte Hengstenberg in seinem Vorwort, EKZ 64 (1859), Sp.  22–24. Später nahm er auch ausführlich begründend Stellung in dem Aufsatz: Was Gott zusammengefügt hat, EKZ 64 (1859), Sp.  313–317.321–326.361–379, Nr.  28 f.32 f. 427   Ein Exemplar findet sich im Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Ev. Oberkirchenrat mit den aus Hengstenbergs Büchern bekannten Markierungsstrichen am Rand; abgedruckt ist er in dem in Anm.  429 genannten Artikel, Sp.  481 f. 428   Alle Zitate ebd. – In einer am 30. April abgedruckten „Verwahrung“ (EKZ 64 [1859], Sp.  404 f., Nr.  35) bestritt der Verfasser der Protestation die Vorwürfe. Insbesondere wies er die Formulierung des Erlasses zurück, welche die gesetzlich eingesetzten Synoden oder staatlich genehmigte Vereine als „willkürlich zusammentretende[...] Vereinigungen“ bezeichnet hatte. 429   EKZ 64 (1859), Sp.  481–486.489–500, Nr.  42 f. – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 426

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3  Hengstenberg und die Kirche

und daß ihre Ausführungen in dieser Beziehung wohl nicht ganz ohne Einfluß auf die spätere Enwickelung der Sache gewesen sind.“ (Sp.  486).

Umso schwerer falle ihm die, wenn auch nur partielle, Opposition gegen die Behörde. Grundsätzlich stehe das Verhalten gegenüber der Behörde unter dem vierten Gebot. Doch gelte seit den Anfängen des Protestantismus, „daß bei einem Conflicte zwischen dem ersten und dem vierten Gebote das letztere weichen muß“ (Sp.  490). In einer Weise, wie man sie sonst eher aus den Verlautbarungen des kirchlichen Liberalismus kennt, beruft sich Hengstenberg dafür auf die Speyerer Protestation von 1529: „So lange wir Protestanten heißen (und dieser Name wird so lange dauern, als die Kirche des Evangeliums dauert, weil er eine wesentliche Bestimmtheit ihres Wesens enthält), wird es auch erlaubt und Pflicht seyn, unter Umständen zu protestiren, d. h. feierlich die Rechte des himmlischen Königes im Gegensatz gegen irdische Auctoritäten und Majoritäten zu wahren.“ (Sp.491).430

Darüber hinaus wird darauf verwiesen, daß schon das Landrecht jedem Bürger gestatte, sich freimütig gegenüber obrigkeitlichen Erlassen auszusprechen. Die ‚Protestation‘ tue nichts Verbotenes, sondern habe lediglich zum Ziel, „durch die Macht des Zeugnisses der Wahrheit auf die öffentliche Meinung zu wirken“ (Sp.  494). Auch eine kirchliche Oberbehörde stehe unter dem Wort Gottes und müsse sich anhand dieses Maßstabes beurteilen lassen: „Für uns gilt doch wahrlich nicht das: ‚Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden.‘ Wir prüfen Alles, auch die Maßregeln der Behörden, nach Gottes Wort, der ‚einigen Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurtheilt werden sollen‘“ (Sp.  495).431

Wie jeder Christ und „die heiligen Apostel, die nichts Menschliches sich fern erachteten“ (Sp.  493), könnten auch die Vertreter des ordentlichen Amtes straucheln. Gerade dann aber gehe „die Verpflichtung auf das außerordentliche [sc. Amt] über, weil sonst die Kirche ganz auf hören würde.“ (Sp.  495). Das Vorgehen der Behörde gegenüber der ‚Protestation‘ entspricht in Heng­ stenbergs Augen in keiner Weise dem für eine geistliche Behörde angemessenen. Diese dürfe nicht sofort zur Androhung von Disziplinarmaßnahmen schreiten, sondern müsse erst aus der Schrift nachweisen, daß die Angriffe unberechtigt seien und sie selbst sich im Recht befinde.432 Als problematisches Kennzeichen wertet Hengstenberg ferner, daß in dem Erlaß des EOK „das Kir430

  Vgl. auch ebd., Sp.   499: „Auf Apgsch. 5,29 ruht auch die ganze Reformation.“   Vgl. ebd., Sp.  496: „Es ist eine große Sache, um die legitimen Auctoritäten in der Kirche. Es würde aber heißen mit ihnen Götzendienst treiben, wenn man die Kirche auch dann, wenn sie irrgehen, zum Schweigen verurtheilen wollte.“ 432   Ebd., Sp.  489: „Nach gesunden kirchlichen Anschauungen darf die geistliche Behörde, wenn sie auf dem geistlichen Gebiete Widerspruch erfährt, nicht sofort mit Censuren und Strafen einschreiten, vielmehr muß sie vor Allem aus dem Worte Gottes nachweisen, daß sie im Recht ist, der Angreifende im Unrecht.“ 431

3.5  Kirchenverfassungsfragen

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chenregiment und das bürgerliche unter dem gleichen Namen zusammengefaßt“ und beide als „Obrigkeit“ bezeichnet werden. Mit Belegen aus der Schrift und der kirchlichen Tradition, allen voran aus Johann Gerhard, betont er demgegenüber: „Die Kirche hat stets Bedenken getragen, die bürgerliche Obrigkeit und das Kirchenregiment unter gleichem [sic!] Gesichtspunkt zu stellen und mit demselben Namen zu bezeichnen. Sie redet von einem magistratus politicus und von einem ministerium ecclesiasticum.“ (Sp.  496).

Mit bissiger Polemik wird dem Oberkirchenrat die Fähigkeit zur geistlichen Amtsführung abgestritten: „Freilich wenn man der Ermahnung: werdet Vorbilder der Heerde, nicht folgt, wenn man daher die freien Sympathien der Kirche nicht auf seiner Seite hat, liegt die Versuchung gar nahe, daß man den Gehorsam für seine Anordnungen erzwingen will. Das ist die Genesis des furchtbaren Uebels der kirchlichen Büreaukratie, vor dessen Wiederkehr uns Gott in Gnaden bewahren möge.“ (Sp.  497).433

Man sei zwar „jedem puritanischen Rigorismus in solchen Dingen abhold“, doch könne man der geistlichen Behörde nur dann zugestehen, sich „Obrigkeit“ zu nennen, „wenn klar zu Tage liegt, daß ihre Sache zugleich die der wahrhaftigen unsichtbaren Obrigkeit ist“ (Sp.  497). Verwalte sie ihr Amt richtig, dann gebe es zwischen dem Gehorsam gegenüber Gott und demjenigen gegenüber der Behörde keinen Unterschied, „aber sobald uns die Vorgesetzten von dem Gehorsam Gottes abführen, so sind sie, weil sie in unheiliger Kühnheit mit Gott streiten, an ihre Schranken zu erinnern, damit Gott mit seiner Auctorität hervorleuchte.“ (Sp.  498).434 Abschließend betont Hengstenberg die „Widerstandskraft“ der EKZ, die sie gerade in den Zeiten der Revolution bewährt habe. Man möge daher vorsichtig sein, sie mit der Bezeichnung „revolutionär“ zu belegen (Sp.  499 f.).435 Der Konflikt Hengstenbergs ist kennzeichnend für den Charakter der Kir­ chenzeitung und das Selbstverständnis ihres Herausgebers, der, wie unten (s. 433   Vgl. ebd., Sp.  497: „Wenn einer geistlichen Behörde irgend die Augen aufgethan werden, daß sie Jesum stehen sieht zur Rechten Gottes, so wird ihr die Selbstbezeichnung als Obrigkeit auf den Lippen ersterben.“ 434   Hengstenberg zieht für seine Argumentation vor allem Calvin heran, der diese Grundsätze trefflich entwickelt habe; schon im Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  22 f. hatte Hengstenberg den Gedanken von der beschränkten Autorität des geistlichen Amtes entfaltet (vgl. dazu unten 3.6). 435   Vgl. zur Stellung der EKZ im Jahr 1848 unten Abschnitt 4.3.2.1. – Verständlicherweise verurteilt Hengstenberg in diesem Zusammenhang auch die Haltung der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung (NEKZ), dem Organ der Evangelischen Allianz, die darauf ausgehe, sich „als Organ des jetzigen Kirchenregimentes darzustellen“ (ebd., Sp.  484) und sowohl durch ihren Titel als auch durch ihre Beiträge ständig gegen die EKZ polemisiere. Den Erlaß des EKO sieht er in unmittelbarem Zusammenhang mit deren literarischen Angriffen stehend; vgl. zur NEKZ Mehnert, Programme, 92–104; Weichert Kirchenpresse, 421 f.

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3  Hengstenberg und die Kirche

4.2) ausführlich geschildert werden wird, von Anfang an die Unabhängigkeit und freie Meinungsäußerung des Blattes gefordert und gefördert hatte, und immer dann, wenn er den Druck der Behörden zu spüren bekam, umso hartnäckiger an seinem Kurs festhielt und keinen Zentimeter zurückwich. Für den vorliegenden Zusammenhang kommt es aber vor allem auf die Beurteilung der kirchlichen Behörde an. Seine Äußerungen zeigen nämlich, daß Hengstenberg mit der Entwicklung nicht zufrieden war. Die erwähnte Mahnung vor dem „bürokratischen“ Wesen gehörte ursprünglich zum cantus firmus seiner Kritik an den staatlichen Kirchenbehörden vor 1850. Der Oberkirchenrat hatte sich demgemäß nicht zu einer geistlichen Behörde in seinem Sinne, sondern zu einer den staatlichen Behörden vergleichbaren Einrichtung innerhalb der Kirche entwickelt. Diesen Ton wird Hengstenberg im Umgang mit dem EOK immer wieder anschlagen436 ; er liegt auf der Linie der späteren Kommentatoren, die in der Errichtung des EOK die „Verstärkung des autoritär-behördenkirchlichen Moments im preußischen Protestantismus“437 gesehen haben. Der Konflikt hatte zudem ans Licht gebracht, in wie hohem Maße das Funktionieren der Konsistorialverfassung von der Ausrichtung und den Ansichten des Landesherrn abhängig war. In ihrem Kampf für die Erhaltung der Konsi­ storialverfassung hatten Hengstenberg und seine Mitstreiter zwar schon früh gesehen, daß die Trennung der kirchlichen von den staatlichen Behörden allein noch keine Gewähr für ihren kirchlichen Charakter sein würde. Darum forderten sie immer, daß man die Behörden mit „kirchlichen Männern“ besetzen müsse. Doch damit blieb die Entwicklung ganz von der Personalpolitik und somit letztlich von den Entscheidungen des Königs abhängig. Strukturen, die diese Forderung hätten unterstützen können, wurden nicht geschaffen, die Einführung einer Synode als Gegengewicht nur zaghaft unterstützt. Möglicherweise sind es die Erfahrungen mit dem EOK und dem neuen landesherrlichen Kirchenregenten, die Hengstenberg dazu führten, daß er sich 1860 der Einführung der Gemeindeordnung nicht in dem Maße widersetzte wie in den 40er und frühen 50er Jahren. Wo er ihr aber widersprach, richtete sich sein Widerspruch in erster Linie auf die Art und Weise, wie die Mitglieder der Presbyterien bestimmt werden sollten: Die Ordnung müsse Instrumentarien vorsehen, die sicherstellten, daß nur solche Vertreter gewählt würden, die sich des geistlich-kirchlichen Charakters ihres Amtes bewußt wären. Damit 436   Er deutet sich schon im Vorwort, EKZ 62 (1858), Sp.  51–53 an; hier äußerte Hengstenberg erstmals Zweifel daran, ob man dem EOK wirklich alle Befugnisse übertragen dürfe, die bisher dem Kultusminsterium zustanden. 437   Huber, Verfassungsgeschichte 4, 836; vgl. ebd. 837: „Wenn irgend es statthaft ist, die staatlich-politischen Kategorien auf die kirchlichen Einrichtungen und Funktionen anzuwenden, so ging in Preußen (wie auch in den anderen protestantischen Ländern) die Überwindung des staatlichen Absolutismus durch den modernen Verfassungsstaat zunächst Hand in Hand mit der Aufrichtung des kirchlichen Absolutismus in dem nun von der staatlichen Kontrolle gänzlich befreiten landesherrlichen Kirchenregiment.“

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“

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sollte einer ähnlichen Fehlentwicklung wie im Falle des EOK vorgebeugt werden. Was aber den Oberkirchenrat anging, so nahm Hengstenberg ihm gegenüber das in Anspruch, was er auch zuvor schon – durchaus in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments – immer in Anspruch genommen hatte: das Recht, das hochwürdige Amt an seiner Würde messen und gegebenfalls auch deutlich Kritik üben zu dürfen. Damit kommt die Rolle in den Blick, die er sich selbst innerhalb der Kirche zumaß.

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“ „Hengstenberg hat nie auf einer Kanzel gestanden, nie ein Sacrament verwaltet und ist doch ein Diener der Kirche, ein Diener des Wortes im eminenten Sinne gewesen, ja ein Diener der Diener, ein servus servorum, ein pastor pastorum.“438 Friedrich Wölbling, Pfarrer in Radensleben und als solcher mit Hengstenberg gut bekannt, brachte mit dieser Aussage, die bei seinen Zuhörern auf der Berliner Pastoral-Konferenz auf große Zustimmung gestoßen sein dürfte, treffend die eigenartige Stellung Hengstenbergs innerhalb der Kirche zum Ausdruck: Hengstenberg hatte nie ein geistliches Amt inne, war gar nicht ordiniert. Im Unterschied zu vielen seiner Professorenkollegen wurde er auch nie in ein Konsistorium oder gar in den Oberkirchenrat berufen. Und doch wurde er nicht nur von seinen Anhängern, sondern auch von seinen Gegnern als eine zentrale Persönlichkeit des kirchlichen Lebens betrachtet. Wie war dies möglich? Die Frage verschärft sich noch, wenn man berücksichtigt, daß Hengstenberg zu allem anderen geneigter war als zur Abwertung des geordneten Amtes. Selbstverständlich kann man darauf verweisen, daß Hengstenberg als Professor der Theologie ein Lehramt in der Kirche innehatte. Immer betonte er den kirchlichen Charakter der theologischen Fakultäten und wies darauf hin, daß jeder, der ein theologisches Professorenamt übernehme, Verpflichtungen gegenüber der Kirche eingehe. So verstanden, war er eine Amtsperson. Allerdings geht das, was Wölbling an Hengstenberg rühmt, seine außergewöhnliche Stellung in der Kirche, doch nur zu einem Teil auf seine Stellung als Professor zurück. Wenn er in der Kirchenzeitung dem Oberkirchenrat gegen­über­trat, dann tat er dies – wie er später gegenüber dem Ministerium betonen wird (s.u. 4.2.3) – nicht in seiner Eigenschaft als Professor, sondern als Herausgeber. Wie aber konnte er in dieser Funktion Anspruch darauf erheben, gehört zu werden? Ebenfalls naheliegend wäre die Antwort, Hengstenberg handle hier als einfacher Christ im Rahmen des Priestertums aller Gläubigen. Daß jeder Christ Lehre und Verkündigung der Amtsträger an der Schrift prüfen dürfe und müsse, stand für Hengstenberg außer Zweifel. Doch als Herausgeber beanspruchte 438

  Wölbling, Gedächtnis, Sp.  618.

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3  Hengstenberg und die Kirche

er offensichtlich mehr. Er beanspruchte, mit seinem Blatt, wie oben bereits zitiert wurde, „durch die Macht des Zeugnisses der Wahrheit auf die öffentliche Meinung zu wirken“439. Damit aber nahm er eine amtsähnliche Stellung ein. Die Legitimation hierfür ist in seinem Amtsverständnis zu suchen, auf das darum kurz eingegangen werden muß. Hengstenberg hatte bereits 1846 in der Auseinandersetzung um die Kirchenverfassung vor einer falschen Berufung auf das geistliche Priestertum aller Gläubigen gewarnt. Es sei nicht in erster Linie ein Thema der Kirchenverfassung, sondern betreffe die Stellung des einzelnen vor Gott. Wolle man das Prinzip aber auf die Kirche anwenden, so sei dies unter den Bedingungen einer Volkskirche undenkbar, die nicht einmal dem Prinzip nach aus Gläubigen bestehe.440 Auf der anderen Seite warnte er aber fast gleichzeitig vor einer Pastorenkirche. Denjenigen, die das geistliche Amt durch die Aktivitäten der Inneren Mission bedroht sahen, rief er zu: „Die aber meinen, es dürfe in der Kirche ohne das Amt weder Hand noch Fuß sich regen, wenn das Amt schläft, so müsse auch alles Andere schlafen, wohin der Arm des Amtes nicht reicht, das müsse man ruhig in den Abgrund hinabstürzen lassen, die machen sich einen Amtsgötzen, ähnlich dem Sabbathsgötzen der Juden, die mögen bei der Katholischen Kirche in die Lehre gehen, die trotz ihrer Überschätzung des Amtes noch nie daran gedacht hat, seiner Befugniß eine solche grausame Ausdehnung zu geben.“441

Daß das geistliche Amt und das Priestertum aller Gläubigen einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen müssen, stand ihm daher schon fest, bevor der große Streit zwischen Löhe und Höfling über die Frage, „ob das Amt in der Kirche eine unmittelbare Stiftung des Herrn oder ein Ausfluß des allgemeinen Pristertums ist“442 , ausbrach. In letzterem – der Position Höflings – sah Hengstenberg daher eine einseitige Überschätzung des Priestertums aller Gläubigen. Er stellte sich deshalb entschieden auf Löhes Standpunkt und machte geltend, daß „die Überzeugung von dem göttlichen Rechte des geistlichen Ministeriums [...] die unerläßliche Grundlage seiner gesegneten Verwaltung“ sei.443 Gerade in einer Zeit, in der alle Autoritäten hinterfragt würden, müsse man dies betonen. Nur diese Überzeugung vermöge den Pfarrern „die unerschrockene Freudigkeit, die unbedingte Hingabe zu gewähren, die namentlich in einer Zeit, wie die unsrige, so notwendig sind, in der Christus herrscht in439

  Hengstenberg, Oberkirchenrath, EKZ 64 (1859), Sp.  494.   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 38 (1846), Sp.  50 f. 441   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  50. 442   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  12. – Zum Streit zwischen Höfling und Löhe vgl. Fagerberg, Bekenntnis, 103–107; Ders., TRE 2, 586–590; zu Höflings Amtsverständnis Ders., Bekennt­nis, 273–285; Slenczka, Amt, 135–144; Goertz, Priestertum, 4– 8. 443   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  14 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Belege im Fließtext. 440

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“

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mitten seiner Feinde.“ (Sp.  14).444 Darüber hinaus sei es auch die Lehre des gereiften Luthers sowie der Bekenntnisschriften, daß das Amt auf göttlicher Einsetzung beruhe.445 Allerdings ist für Hengstenberg letztendlich weder die lutherische Tradition noch die pastoralpsychologische Funktion zur Begründung der göttlichen Stiftung entscheidend. Im Unterschied zu Stahl vertrat er auch kein abstraktes Autoritätsprinzip. Sein Hauptargument bestand darin, daß es sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament, das in der Frage des geistlichen Priestertums aller Gläubigen keinen grundsätzlichen Neuanfang markiere, selbstverständlich sowohl das allgemeine als auch das besondere „Priesterthum“ nebeneinander und gleichursprünglich gebe. Es sei daher schlicht nicht biblisch, das geistliche Amt mit dem allgemeinen Priestertum zu identifizieren (Sp.  17– 22).446 Beide Formen des geistlichen Priestertums hätten ihre je eigene Würde.447 Nach evangelischem Verständnis bilde das allgemeine Priestertum ein notwendiges Gegengewicht gegen den Mißbrauch des Amtes (Sp.  24). Die particula veri in Höflings Ansicht bestehe darin, daß sie sich „gegen Ansätze pfaffischen Wesens“ und „übertriebene Vorstellungen von den Vollmachten des geistlichen Amtes“ (Sp.  14) richte, denn auch die Lehre von der göttlichen Einsetzung rechtfertige nicht die Ansicht, daß jeder Pfarrer eine unfehlbare Lehrautorität darstelle. Jede menschliche Autorität und gerade das geistliche Amt finde seine Grenze an dem „man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, was freilich nur mit Furcht und Zittern gesprochen werden darf “ (Sp.  23). Darum müsse das Wort Gottes als Schranke der Autorität anerkannt werden (Sp.  23).448 Hengstenberg kam es also einerseits darauf an, daß das geistliche Amt nicht auf eine dem Prinzip der Volkssouveränität vergleichbare Weise vom 444

  Vgl. auch ebd., Sp.  14: „nur der Diener Gottes an Christi Statt wird seinen Augen keinen Schlaf und seinen Augenliedern [sic!] keinen Schlummer gönnen.“ 445   Ebd., Sp.  15–17 macht Hengstenberg deutlich, daß sich Höfling nur auf den frühen Luther berufen könne, während die Bekenntnisschriften und das spätere Luthertum doch eindeutig nur den späteren Luther, dessen Ansichten durch „die Feuerprobe des Kampfes“ (ebd., Sp.  15) mit den extremen Ansichten zur Zeit des Bauernkrieges hindurchgegangen seien, rezipiert hätten. Zur Fragwürdigkeit dieser Sicht vgl. den freilich seinerseits einseitigen Goertz, Priestertum. 446   Den Höflingschen Gesamtentwurf hat Hengstenberg bei seiner Kritik kaum im Blick; der wird ihm auch gar nicht so fern gestanden haben, wie er vorgab – zumal was Höflings Lehre von den Charismen angeht (vgl. dazu Slenczka Amt, 139 f.). Am nächsten mit Hengstenberg verwandt dürfte der vermittelnde Ansatz von Harleß sein, wie ihn Hirsch, Geschichte 5, 197–204 schildert. 447   Gemeinsam sei ihnen, so wird schon im Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  50 festgehalten, die „innige Verbindung mit Gott, der freie Zutritt zu dem Throne der Gnade, die Gabe und die Vollmacht der Fürbitte“. 448   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  22: „Der lebendige Gott thront über denen, die sein Bild auf Erden tragen, die er mit seinen Ämtern betraut hat, er hat sich offenbart, und diese Offenbarung ist allen Gliedern seiner Kirche zugänglich. Sie sind nicht blos berechtigt, sie sind, wenn sie zur geistlichen Mündigkeit gelangt sind, verpflichtet, unmittelbar aus ihr zu schöpfen. Eine unfehlbare Auctorität hinstellen heißt Gott in der Höhe und sein heiliges Wort verläugnen, Ihn für einen Fremdem halten und sein Wort für ein

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3  Hengstenberg und die Kirche

allgemeinen Priestertum abhängig gedacht würde. Daher betonte er, daß der Amtsträger als besonderer Diener Christi der Gemeinde gegenüberstehe. Andererseits hob er hervor, daß dem Amtsträger diese besondere Stellung nur in seiner Funktion, als Diener des Wortes, zukomme. Seine Autorität dürfe daher nur als eine abgeleitete und begrenzte verstanden werden. Darüber hinaus brachte Hengstenberg aber noch ein weiteres Element zur Relativierung des Amtes ins Spiel, und auf dieses kommt es im vorliegenden Zusammenhang besonders an: Das ordentliche Amt in der Kirche solle sich nicht einbilden, das einzige zu sein. Es verkenne allzu leicht, „daß es neben sich ein mannigfach gestaltetes außerordentliches Amt hat, dem ebenfalls göttliche Berechtigung zukommt“ (Sp.  25), und indem es allzuschnell über Amtsanmaßung klage, rufe es nur eine berechtigte Reaktion gegen das eigene Recht hervor. Das außerordentliche Amt sei Ausfluß dessen, „daß das Wohnen des lebendigen Gottes unter seinem Volke Realität hat, daß unser Herr den Namen Immanuel mit Recht führt“ (Sp.  26).449 Er binde sich darum nicht ausschließlich an das ordentliche Amt, das unbeschadet seiner göttlichen Stiftung doch immer in einer geschichtlich gewachsenen, mensch­lich geordneten Weise existiere und darum auch entartete oder unzureichende Formen annehmen könne.450 So sei die Rolle Luthers und der evangelischen Für­sten in der Reformation nur als Form des außerordentlichen Amtes zu begreifen (Sp.  28). Es werde insbesondere dort notwendig, wo das ordentliche Amt Defizite aufweise. Die Berufung erfolge durch die Gabe. Hierin liege nun auch die göttliche Berechtigung derjenigen, die in der Inneren Mission Verantwortung übernähmen: „Wer könnte ohne die Augen absichtlich zu verschließen verkennen, daß Männer wie Dr. Wichern ein Amt in der Kirche haben? Ihre Legitimation liegt in ihren Gaben, in den äußeren Umständen, durch die sie zu ihrer Stellung geführt worden sind, in dem Segen, der ihre Arbeiten begleitet hat.“ (Sp.  28).

Entsprechendes gelte auch in anderen Bereichen: „Die Herausgeber kirchlicher Zeitschriften würden sich, nach dem ‚ein Mensch kann Nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel‘, einer frevelhaften Anmaßung schuldig machen, wenn sie nicht von ihrem amtlichen Charakter überzeugt wären. Bevor sie diese Überzeugung gewonnen haben, sind sie nur berechtigt zu einem Versuche, einer Frage an den Herrn. Dasselbe gilt von den Vorständen kirchlicher Vereine.“ (ebd.). dunkles, verschlossenes Buch erklären, zur Verunehrung desjenigen, der es gegeben.“ Vgl. auch oben Anm.  431. 449   Als biblische Beispiele für das außerordentliche Amt verweist Hengstenberg unter anderem auf Mose und die von Samuel errichteten Prophetenschulen. 450   Wichtig ist, daß Hengstenberg die konkrete Ausprägung des Amtes nicht für biblisch ableitbar hält, sondern als Ausdruck der geschichtlich gewachsenen Kirchenordnung ansieht: „Kein einzelner Theil des bestehenden Organismus, auch die Pastoren nicht, hat unmittelbare neutestamentliche Einsetzung für sich. [...] andere Zeiten andere Formen des Amtes, nur das Wesen, das von oben, bleibt sich stets gleich.“ (ebd., Sp.  25).

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“

417

Hengstenberg relativierte also die hervorgehobene Stellung des geordneten geistlichen Amtes dadurch, daß er darauf hinwies, daß es ohne zusätzliche Kräfte den Herausforderungen der Kirche in der Moderne nicht mehr gewachsen sei. In Bereichen wie der Inneren Mission und der kirchlichen Publizistik bedürfe es der Ergänzung durch das außerordentliche Amt. Wichtig sei allerdings, daß das ordentliche durch das außerordentliche Amt nur ergänzt und nicht ersetzt oder beschädigt werde: „Darauf kommt Alles an, daß das Amt, welches Kanzel und Altar inne hat, mit Einschluß der leitenden Behörden, als das eigentliche Grundamt in der Kirche anerkannt wird, daß die Träger der freien Ämter vor ihm eine herzliche Ehrerbietung haben, daß sie in das diesem Amte zustehende Gebiet sich keine willkürlichen Eingriffe erlauben“ (Sp.  30).451

In der Lehre vom außerordentlichen Amt fand Hengstenberg also die Legitimation für seine Stellung als Herausgeber der EKZ.452 Daß er eine Gabe für dieses Amt hatte, gestanden ihm selbst seine Gegner zu, und von dem Bewußtsein, zu diesem Amt berufen zu sein, wußte sich Hengstenberg bereits in den Anfangsjahren der EKZ bestimmt (vgl. u. 4.1). Daher erklärt sich sein selbstbewußtes Auftreten. Wie aber verstand Hengstenberg sein Amt? Im Unterschied zum Pfarramt gab es ja keinen feststehenden Typus, an dem er sich hätte orientieren können. Darüber hinaus konnte man durchaus daran zweifeln, ob es sich bei der Herausgabe einer Zeitung wirklich um eine geistliche Tätigkeit handele. Daß man sich für kirchliche Zwecke des modernen Mediums der Zeitschriften bediente, war in den Jahren, als die EKZ gegründet wurde, alles andere als selbstverständlich. Man muß nur die Begleitschreiben lesen, die Hengstenberg den Mitgliedern des königlichen Hauses mit dem ersten Exemplar der EKZ zugehen ließ, um das zu sehen. Sowohl in dem Schreiben an den Kronprinzen als auch in dem an Prinzessin Marianne entschuldigte sich Hengstenberg für die gewählte Form. Es sei traurig, „daß man um die Wahrheit der Zeit nahe zu bringen, sie in diese Form verhüllen muß.“ Man hoffe aber, „durch den Gehalt die Form vergessen zu machen“453. Hengstenberg selbst scheint aber gleichwohl nie an der Angemessenheit dieser Form gezweifelt zu haben. Es war für ihn keine Frage, daß 451   Vgl. die Fortsetzung, ebd., Sp.  30: „Wer eine andere Stellung zu dem ordentlichen Amte einnimmt, dessen göttlicher Beruf von vornherein feststeht und von dessen Beschaffenheit doch immer in der Hauptsache das Wohl und Wehe der Kirche abhängt, [...], der zeigt eben dadurch, daß es eine Anmaßung ist, wenn er wähnt im Besitze eines außerordentlichen Amtes zu seyn, oder, wenn er wirklich mit einer göttlichen Mission betraut worden, so wird sie ihm in Folge seiner beharrlichen Opposition gegen Gottes Ordnung sicher entzogen werden.“ 452   Darauf rekurrierte er auch in der Auseinandersetzung mit dem Oberkirchenrat: Hengstenberg, Oberkirchenrath, EKZ 64 (1859), Sp.  495 (vgl. oben). 453   Entwurf des Briefes an Prinzessin Marianne, Ende Juli 1827: Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 53 f. Anm.  2 ; ebd. auch der Entwurf des Schreibens an den Kronprinzen.

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3  Hengstenberg und die Kirche

man zeitgemäße Mittel wählen mußte. Bereits 1829 stellte er den Mitarbeitern der EKZ die Organisationsstruktur von Friedrich Nicolais ‚Allgemeiner Deutscher Bibliothek‘ als Vorbild vor Augen: Konnte „das gemeinschaftliche Bekenntniß des Unglaubens“ ein solches Unternehmen hervorbringen, um wie viel mehr müßte doch das „feste Band des gemeinschaftlichen Glaubens“ zu einem Unternehmen vereinigen können, „welches dem Reiche Christi dieselben Dienste leiste, wie jenes dem Fürsten dieser Welt geleistet hat“454. Daß Hengstenberg auch kirchliche Vorbilder vor Augen hatte, wird daran deutlich, daß er an anderer Stelle Valentin Ernst Löschers ‚Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen‘ als „Kirchenzeitung der damaligen Zeit“ bezeichnete.455 Freilich gab es auch aktuelle kirchliche Vorbilder – nicht zuletzt diejenigen Zeitschriften, gegen die sich die EKZ richtete: die Darmstädter Allgemeine Kirchenzeitung456 und Röhrs Kritische Prediger-Bibliothek. Jedoch waren sie vorbildlich nur hinsichtlich der äußeren Form des Mediums. Welche Funktion, welches „Amt“ die EKZ im Blick auf die Kirche erfüllen sollte, hing entscheidend von Hengstenberg und seinen Beratern ab.457 Bereits im Zusammenhang des „Hallischen Kirchenstreits“ stellte Hengstenberg klar, daß sich die EKZ, wenn sie die Verhältnisse an der theologischen Fakultät Halle zum Thema mache, nicht in erster Linie an das Kirchenregiment, sondern an die ganze Kirche richte. Maßregeln der Regierung, welche infolge der Berichterstattung möglicherweise ergriffen würden, könnten zwar Hindernisse aus dem Weg räumen, aber nicht zum Leben in der Kirche führen. Die „Hauptsache“, um die es der EKZ gehe, sei „der Kampf mit dem Schwerdte des Geistes und des Wortes Gottes [...] gegen die Welt in uns und außer uns“458 . Ganz analog dazu leitete Hengstenberg 1842 seine Reformwünsche ein. Er betonte, daß man nicht beabsichtige, der vorgesetzten kirchlichen Behörde Rat­schläge zu erteilen: „wir schreiben nicht für sie, dazu müßten wir einen besonderen äußeren Beruf empfangen haben, wir schreiben für die Glieder der Kirche. In ihnen das Bewußtseyn um kirchliche Übelstände und den Wunsch ihrer Abstellung anzuregen ist unser Zweck.“459 Man könne der Kirche nicht nur von oben helfen, Entscheidungen des Kirchenregiments müßten vielmehr, um wirksam werden zu können, einen Rückhalt in der ganzen Kirche haben. Wo sich in der Mehrheit des Kirchenvolkes ein deutliches Bedürfnis rege, da müßten die Kirchenbehörden reagieren, die nur dann Einfluß ausüben könnten, wenn sie „Organe des die Kirche belebenden Geistes 454   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 4 (1829), Sp.  6. – Damit spielte Hengstenberg vor allem auf die ungeheure Zahl an Mitarbeitern des Nicolaischen Unternehmens an (vgl. dazu Beutel, Auf klärung, 284 f.). 455   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  1. 456   Vgl. zu ihrem Programm Mehnert, Programme, 39–43. 457   Vgl. dazu auch unten 4.3.2. 458   Hengstenberg, Gegenerklärung, EKZ 6 (1830), Sp.  148. 459   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  2 .

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“

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sind“460 : „In der Kirche hat das: qualis rex talis grex umgekehrt viel mehr Wahr­ heit.“461 Darum seien die Fragen der Kirchenordnung so lange sekundär, bis der belebende Geist die Kirche als ganze ergriffen habe. Man kann natürlich fragen, ob Hengstenberg auf diese Weise nicht nur sein eigentliches Anliegen, auf die Behörden einzuwirken, geschickt verhüllte. Dagegen spricht aber, daß es ihm – wie oben gezeigt – in der Tat immer zunächst auf die innere Erneuerung der Kirche ankam und er den Beitrag äußerer Machtmittel in diesem Zusammenhang als gering veranschlagte. Überdies war Heng­ stenbergs Auffassung von den kirchlichen Entscheidungsprozessen im modernen Kontext wesentlich lebensnäher als die Sicht derjenigen, die ihm den Wunsch, direkt auf die Behörden einzuwirken, unterstellten. Hengstenberg hatte schon früh erkannt, daß man, um auf Dauer Veränderungen erreichen zu können, die kirchliche Öffentlichkeit gewinnen mußte. Diese Ansicht implizierte in ihrem Kern eine Relativierung der kirchlichen Obrigkeit, der nur in Wechselwirkung mit dem Gesamtorganismus der Kirche Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt wurden.462 Insofern ist die Funktion, welche die EKZ innerhalb der Kirche einnehmen sollte, am treffendsten mit dem bereits erwähnten Zitat beschrieben: Sie bestand darin, „durch die Macht des Zeugnisses der Wahrheit auf die öffentliche Meinung zu wirken“463. Was das der öffentlichen Meinung eingeräumte Gewicht angeht, unterschied sich Hengstenberg also nicht wesentlich von seinen liberalen Gegnern. Durch die Auswahl der Artikel und nicht zuletzt durch seine Vorworte, die man schon bald als „Thronreden“464 zu bezeichnen pflegte, griff er gezielt in den kirchlichen Meinungsbildungsprozeß ein und zeigte dabei ein nicht geringes Geschick. Ein typisches Kennzeichen für Hengstenbergs Strategie ist, daß er Anfang der 40er Jahre damit begann, öffentlichen Erklärungen und Solidaritätsadressen in der EKZ einen festen Platz zu geben. Das „Zeugnis der Wahrheit“ sollte nicht 460

  Ebd.   Ebd., Sp.  3. 462   Charakteristisch für diese Auffassung ist, daß Hengstenberg häufig die große Distanz zwischen Kirchenbehörden und Kirchenvolk oder zwischen den Generalsuperintendenten und den Superintendenturen problematisiert; auch die Wirkungslosigkeit des Woellnerschen Religionsediktes führt er auf die Tatsache zurück, „daß es das Bekenntnis aufrichten wollte, ohne daß eine lebendige Gemeinde von Bekennern vorhanden war“ (Hengstenberg, Vorwort 78 [1866], Sp.  68). 463   Siehe oben Anm.  439. 464   Die Bezeichnung findet sich in vielen Darstellungen; E.L. von Gerlach erwähnt sie 1844, sie scheint wohl dem Volks­mund zu entstammen, wird aber auch von Gerlach selbst verwendet (vgl. E.L. von Gerlach, Aufzeichnungen 1, 417; Ders. an Hengstenberg, 24. Nov. 1845: Bachmann / Schmalenbach 2, 145). Seinem Nachfolger gegenüber charakterisierte Hengstenberg die Aufgabe des Herausgebers gemäß der Erinnerung Tauschers so: „Namentlich in allen entscheidenden Fragen muß der Herausgeber stets die Initiative ergreifen und einen deutlichen Ton anschlagen, damit die Leser den Eindruck gewinnen, daß er feststeht und entschlossen ist, im Nothfall vor den Riß zu treten.“ (Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1014). 461

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3  Hengstenberg und die Kirche

nur argumentativ in ausführlichen Artikeln, sondern auch in der ursprünglichen Form des Zeugnisses, in bekenntnisartigen Äußerungen der persönlichen Überzeugung, dargeboten werden und so auf die Öffentlichkeit wirken. Die Idee stammte nicht von Hengstenberg selbst. Sie war zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem „Hallischen Streit“ aufgekommen und dem Herausgeber von E.L. v. Gerlach ans Herz gelegt worden.465 Zur massiven Anwendung kam sie allerdings erst Anfang der 40er Jahre in der Auseinandersetzung mit den Lichtfreunden. Ab Mitte des Jahres 1844 veröffentlichte Hengstenberg gegen die Lichtfreunde gerichtete Adressaten von Pfarrkonferenzen und einzelnen Pastoren, die sich zu diesem Zwecke zusammentaten. Dabei legte er Wert darauf, daß jene Erklärungen „nicht von Haufen Unberufener und Unkundiger [...], sondern von verordneten Dienern des Herrn und seiner Kirche“ ausgingen. Gleichwohl dürfe man sie auch nicht als eine Form des Kirchenbannes auffassen. Sie hielten sich ganz „in dem Gebiete des einfachen Zeugnisses“466 . Ihr Zweck sei, „durch das Bekenntniß des Glaubens den Glauben zu wecken, zu zeugen von Christo gegen das unschlachtige und verkehrte Geschlecht, und dadurch die Einfältigen vor diesem zu warnen, die Verirrten zu ihrem Herrn und Heilande zurückzuführen, das kirchliche Bewußtseyn anzuregen, und den Gemeinden die Erkenntnis desjenigen, was dem Wesen der Kirche gemäß und was ihm zuwider ist, zu erleichtern, damit sie das erstere suchen und das andere hassen und meiden lernen.“467

Die Beschreibung weist darauf hin, daß Hengstenberg die Erklärungen als Teil des pastoralen Amtes verstand; darum hat er auch stets die Beteiligung von Laien abgelehnt. Die Erklärungen wurden schließlich ein typisches Mittel im Kampf der EKZ um die kirchliche Öffentlichkeit. Allerdings warnte Hengstenberg vor ihrem unbedachten Einsatz. Es handle sich – insbesondere wenn die Erklärungen politische Implikationen hätten – um „ein heroisches Mittel, in 465

  Gerlach an Hengstenberg, Halle 13. Juni 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 44; nach Gerlachs Angaben stammte sie von dem Tholuckschüler Maresch. In der zweiten Jahreshälfte 1830 erschienen erstmals, z.T. namentlich gekennzeichnete Solidaritätsadressen zum Hallischen Kirchenstreit in der EKZ: Stimmen aus der Evangelischen Kirche in der Hallischen Angelegenheit, EKZ 7 (1830), 425–438.679 f.745–749.753– 756, Nr.  54 f. 85. 94 f. 466   Hengstenberg, Erklärung, EKZ 37 (1845), Sp.  792; vgl. Ders., Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  36, das das oben zum Zweck der EKZ Genannte unterstreicht: „Man würde sich sehr irren, wenn man als das Ziel dieser Erklärungen die Hervorrufung von Maßregeln der kirchlichen Behörden betrachten wollte. So fest wir überzeugt sind, daß dieselben erfolgen müssen, wenn die Behörden ihre Pflicht thun, und wenn nicht durch diese Sache der Grund zur Auflösung der Kirche gelegt werden soll, so kann ihnen doch von ächt kirchlichem Standpunkte aus nur eine untergeordnete Bedeutung beigelegt werden, und sie würden diese Bedeutung noch mehr verlieren, da unsere auf den Glauben gegründete Kirche nur dasjenige anerkennen kann, was aus dem Glauben hervorgeht, wenn es zu ihrer Bewirkung eines solchen Anreizes bedürfte.“ 467   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  37.

3.6  Hengstenbergs kirchliches „Amt“

421

dessen Gebrauch man höchst vorsichtig sein muß“468 . Für geeignet hielt er es beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Daniel Schenkel in den 60er Jahren, bei dem es in großem Stil zum Einsatz kam.469 Die Methode, öffentliche Erklärungen einzusetzen, zeigt, daß Hengstenberg unter Meinungsbildung nicht alleine Belehrung oder Berichterstattung aus der Feder einzelner Autoren verstand. Zur Meinungsbildung sollte die EKZ auch so beitragen, daß sie als Sprachrohr vorhandener kirchlicher Strömungen und Interessengruppen diente. Darüber hinaus sollte sie bei ungeklärten theologischen Fragen zur Diskussion anregen. Der Rahmen war allerdings klar abgesteckt. Hengstenberg sah sich verantworlich dafür, daß die EKZ in ihren verschiedenen Formen der Meinungsbildung immer auf das eine Ziel, Zeugnis von der evangelischen Wahrheit zu geben, ausgerichtet blieb. Daraus ergibt sich die konzeptionelle Geschlossenheit des Blattes. Zusammenfassend läßt sich also festhalten: Hengstenberg verstand seine Herausgebertätigkeit als ein außerordentliches kirchliches Amt, dessen Auftrag es war, durch das Zeugnis der Wahrheit auf die Öffentlichkeit einzuwirken. Insofern stellte es eine besondere Form des ministerium verbi dar. Hengstenberg war in der Tat „ein Diener des Wortes im eminenten Sinne“470 – sowohl als Professor als auch als Publizist. Darauf aber beschränkte sich dann sein Dienst in der Kirche auch. In kirchlichen Gremien oder Vereinen hat er sich kaum engagiert. Zwar wirkte er, wie oben (1.4) beschrieben, in einigen der Gesellschaften mit, die aus der Erwek­ kungsbewegung hervorgegangen waren. Doch er stand dabei immer eher im Hintergrund und kümmerte sich vor allem um die Aufgabenfelder, die seinem Beruf nahekamen, wie z. B. sein Interesse für das Missionsseminar oder sein Einsatz für den Vertrieb erbaulicher Literatur zeigt. In Büchsels Matthäus-Kirche, der er seit ihrer Gründung 1846 angehörte, war er reines Gemeindeglied. Im Unterschied zu Stahl und Göschel gehörte er weder zum Kirchbauverein noch zu den er­sten Vertretern der Gemeinde, die in der Gründungsphase der Gemeinde die Verhandlungen führten.471 Nur als es um die Stellenbesetzung ging, scheint er zu Rate gezogen worden zu sein.472 Darüber hinaus hob Büch468

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  41.   Vgl. z. B. EKZ 74 (1864), Sp.  589–592.1032.1103 f.1248; EKZ 76 (1865), Sp.  23 f.95 f.117– 120.143 f.190–192 und Hengstenbergs Rückblick im Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  67 f.; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 403 und die Übersicht ebd. 2, 160–162.166–169. – Auch in seiner Auseinandersetzung mit den Freimaurern im Jahr 1854 erhielt Hengstenberg Schützenhilfe durch öffentliche Erklärungen in der EKZ: z. B. EKZ 56 (1855), Sp.  66.167 f.435 f., Nr.  6.15.42. 470   Siehe oben Anm.  438. 471   Vgl. Hegel, Matthäus-Kirche (1871), 5.25 f. – auch Hengstenbergs Schwager Ferdinand von Quast war einer der ersten Gemeindevertreter. 472   Siehe dazu unten 4.4.2. 469

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3  Hengstenberg und die Kirche

sel noch am Ende seiner Amtszeit die Hilfe hervor, die ihm von seiten Heng­ stenbergs zugekommen sei.473 Viele von Hengstenbergs Freunden engagierten sich darüber hinaus im „Evangelischen Verein für kirchliche Zwecke von Berlin“, der sich im Revolutionsjahr zunächst als kirchlich-konservative Abteilung vom örtlichen GustavAdolph-Verein getrennt und schließlich als eigener Verein konstituiert hatte.474 Zu seinen Vorsitzenden gehörte unter anderen Stahl.475 Der Verein, unter dessen Dach sich verschiedene kirchliche Hilfsvereine, diakonische Initiativen und nicht zuletzt auch der Bücherverein versammelten, war bekannt für seine öffentlichen wissenschaftlichen Vorträge, die er von 1852 an jedes Jahr von Neujahr bis Ostern in dem neuerworbenen Vereinshaus in der Oranienstraße 106 veranstaltete. Zu den Referenten gehörte regelmäßig Hengstenberg,476 an der Vereinsleitung war er aber nie beteiligt.477 Als Referent und Teilnehmer wohnte Hengstenberg gleichfalls regelmäßig den Berliner Pastoralkonferenzen bei. Eine amtliche Rolle spielte er aber auch bei diesen Versammlungen, die ebenfalls unter Stahls Vorsitz stattfanden und häufig unter Hengstenbergs Dach ihren Ausklang fanden,478 nicht. Gleiches gilt für die anderen Pastoralkonferenzen, an denen er hin und wieder als Gast teilnahm, z. B. in Trieglaff. Alles spricht dafür, daß Hengstenberg kein besonderes Interesse an Ehrenämtern und Gremienarbeit hatte und in vielen Fällen nur die Rolle des externen Beraters spielte.479 Eine Ausnahme bildete lediglich sein Engagement für den evangelischen Kirchentag. Seit seiner Gründung im Jahr 1848 gehörte Hengstenberg dem engeren Ausschuß der alljährlichen Versammlung an und wirkte dort mit Männern wie Bethmann-Hollweg, Nitzsch und Julius Müller zusammen, die er in 473

  S. Matthäus-Kirche (1896), 2; vgl. auch Büchsel, Ansprache und unten unter 4.4.2.   Vgl. zur Geschichte des Vereins Hülle, Geschichte. 475   Ebd., 9. 476   Eine Übersicht über alle wissenschaftlichen Vorträge bis 1873 bietet Hülle, Verein, 49–62; die Vorträge wurden jährlich gesammelt in der Reihe ‚Vorträge auf Veranstaltung des Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke zu Berlin‘. Hengstenberg gehörte von 1852– 1865 zu den Rednern. – Eine Ironie der Geschichte ist, daß das Vereinshaus mit Saal ursprünglich als Lokal der Deutschkatholiken errichtet worden war, die aber bald schon keine Verwendung mehr dafür hatten (vgl. ebd., 28). 477   Allerdings spendete er regelmäßig für den Verein (s. Hülle, Verein, 107). Merkwürdig ist, daß die Vereinsgeschichte Hülles, die alle Stiftungen säuberlich auflistet, keine Auskunft darüber gibt, ob Hengstenberg dem Verein testamentarisch 20.000 Taler zukommen ließ; so berichten es nämlich unabhängig voneinander die Protestantische Kirchenzeitung 16 (1869), Sp.  607 und die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 2 (1869), Sp.  415 (wobei letztere unpräzise berichtet und das Vermächtnis an den Bücherverein mit dem für den Evangelischen Verein verquickt). Nachweisbar ist hingegen, daß Hengstenberg dem Bücherverein 2.400 Taler vermacht hat (siehe oben 1.4 Exkurs). 478   Vgl. Tauscher, Eben Ezer, Sp.  628. 479   Nur 1856 wurde er einmal zu einer synodenähnlichen Versammlung berufen; er war Teilnehmer der Monbijou-Konferenz, vgl. Meyer, Allianz, 99–106 und Hengstenberg, Vorwort, EKZ 60 (1857), Sp.  1–53. 474

3.7  Zusammenfassung

423

anderem Kontext befehdete. Erst 1860 legte er das Amt nieder, nachdem sich bereits zuvor Stahl, der dem Präsidium des Kirchentages angehört hatte, wegen der unterschiedlichen Bewertung der kon­fessionellen Frage zurückgezogen hatte.480 Was das kirchliche Leben anging, war Hengstenberg alles in allem viel mehr Beobachter und einfacher Teilnehmer als aktiver Gestalter. Er kommentierte die Entwicklungen von seinem Schreibtisch aus und versuchte auf diese Weise Einfluß zu nehmen. Das bedeutet nicht, daß er realitätsblind gewesen wäre. Er stand in ständigem Kontakt zu Verantwortungsträgern in der Kirche und erhielt Berichte und Briefe aus allen Provinzen Preußens und darüber hinaus. Dennoch blieb er in einer gewissen Distanz zu dem kirchlichen Alltagsgeschäft, an dem er möglicherweise ebenso verzweifelt wäre wie Stahl.481 Das unterschied ihn – außerordentliches Amt hin oder her – deutlich von den anderen kirchlichen Amtsträgern.

3.7  Zusammenfassung Das Ergebnis der in den vorigen Abschnitten rekonstruierten Hengstenbergschen Auffassung von der Kirche läßt sich in der Aussage bündeln, daß die Frage nach der äußeren Gestalt der Kirche für Hengstenberg nie an erster Stelle stand. Dieses Resultat steht nur scheinbar in Kontrast zu der weithin verbreiteten Sicht von Hengstenberg als einem Kirchenpolitiker. Die Darstellungen, die in der Kirchenpolitik Hengstenbergs vorrangiges Interesse vermuten, kommen nämlich in der Regel zu dem Ergebnis, daß sein kirchenpolitisches Handeln von Inkonsequenzen und Schwankungen gekennzeichnet war. Mit dieser Beobachtung wird jedoch nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als daß sich Hengstenberg den Themen Union und Kirchenverfassung nicht um ihrer selbst willen zugewandt hatte und daß er sie stets auf der Basis des jeweiligen geschichtlichen Entwicklungsstandes der Kirche beurteilte. Er konnte daher in unterschiedlichen Situationen jeweils Unterschiedliches betonen. Zudem waren seine Thesen und Positionen in kirchlichen Fragen weit weniger originell 480

  1857 kam es darüber zu einem Eklat; Anlaß war wiederum die Evangelische Allianz, vgl. Kreft, Kirchentage, 188–191; Nabrings, Stahl, 137 und EKZ 61 (1857), Sp.  9 03 f. (‚Der Kirchentag in Stuttgart‘). 1859 fand kein Kirchentag statt und im Vorwort, EKZ 66 (1860), Sp.  67 erklärte Hengstenberg die Institution Kirchentag bis auf weiteres für begraben: „Seine [sc. des Kirchentages] Grundlage bildete ein Bund zwischen zwei Parteien, der streng bib­ lisch kirchlichen und der der Vermittlungstheologie, welche durch manche Fäden mit der Zeitrichtung zusammenhängend dieselbe durch Entgegenkommen und Concessionen meint für die Kirche gewinnen zu können. Die Möglichkeit dieses Bundes beruhte auf den Ereignissen des Jahres 48. [...] Der Kirchentag wird ruhen müssen bis zu dem vielleicht nicht fernen Punkte, wo der Ernst der Zeiten und die darin vernehmbare Stimme Gottes von neuem die Gemüther aller aufrichtigen Diener der Kirche zu gemeinsamem Handeln einigt.“ 481   Vgl. Nabrings, Stahl, 137–142.

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3  Hengstenberg und die Kirche

als diejenigen, die er auf seinem eigentlichen Gebiet, der theologischen Wissenschaft, vertrat. Für fast alle Ansichten lassen sich in seinem Umfeld Namen nennen, die für dieselben oder ähnliche Auffassungen einstanden. Seine Einschätzung des reformiert-lutherischen Verhältnisses und der Confessio Augustana beispielsweise wurzelt in der spezifisch preußischen Tradition, die schon früh von Ernst Wilhelm Sartorius stark gemacht wurde. Seine Hochschätzung des landesherrlichen Kirchenregiments deckt sich mit den Auffassungen Ernst Ludwig von Gerlachs. Seine Vorstellung von der Union als Konföderation der unterschiedlichen, geschichtlich gewachsenen Konfessionen steht in Einklang mit Stahls Konzeptionen. Und was seine Äußerungen zur Kirchenverfassung angeht, so lassen auch sie große Übereinstimmungen mit den Vorstellungen seiner Weggefähren erkennen, obgleich sich hier Unterschiede zeigen – einerseits zu Ger­lach, der mit der römischen Kirche sympathisierte, und andererseits zu Stahl, der von klaren autoritätstheoretischen Prinzipien geleitet wurde. Kurz: Hengstenbergs Sicht der Kirche zeichnet ihn nicht so sehr als eigenständigen Denker, sondern als Repräsentanten einer Gruppe aus. Gleichwohl ließen sich Motive ausmachen, die für Hengstenbergs spezifische Gesamtanschauung charakteristisch sind. Grundlegend ist sein Verständnis der Erweckungsbewegung. Er sieht in ihr eine Erneuerung des Glaubens und der Lehre aus den Quellen der biblisch-reformatorischen Tradition. Hengstenberg war überzeugt davon, daß sich das neu erwachte Glaubensleben einer Wiederentdeckung der biblischen Auffassung von Sünde und Gnade verdanke, wie sie auch in den reformatorischen Bekenntnisschriften zum Ausdruck gebracht sei. Sollte nun aber die ganze Kirche von den Errungenschaften der Erweckungsbewegung profitieren, dann konnte dies nur heißen, daß in der ganzen Kirche die wiederentdeckte Lehre gepredigt werden mußte. Im Kern richtete sich Hengstenbergs In­ter­esse an der Kirche darum vor allem auf diesen Punkt, auf die innere Erneuerung der Kirche aus dem Wort. Dabei übersah er nicht, daß die Verkündigung des Wortes auf bestimmte Rahmenbedingungen angewiesen ist. Insofern rückte bei ihm die äußere Gestaltung der Kirche in das Blickfeld. Eine Umgestaltung der Kirche kam für ihn aber immer nur insofern in Frage, als sie zur Gewährleistung der Erneuerung aus dem Wort unbedingt erforderlich erschien. Generell lautete die Devise: Keine Experimente, sondern vorsichtige Umgestaltung.482 Das wichtigste Moment bei der Erneuerung aus dem Wort lag für Hengstenberg aber in der Übereinstimmung in der Lehre. Wie sich unter den Erweckten eine Übereinstimmung in den grundlegenden Lehren von Sünde und Gnade durchgesetzt habe, so müsse auch in der Kirche wieder Klarheit über die bereits von den Reformatoren vertretenen biblischen Einsichten herrschen. Erneuerung der Kirche konnte in Hengstenbergs Perspektive nur aus der Übereinstimmung in der reinen Lehre erwachsen, wie sie 482

  Siehe oben Anm.  387.

3.7  Zusammenfassung

425

durch das gemeinsame Bekenntnis gewährleistet wird. Die Liebe zur Kirche wurzelte bei Hengstenberg in der Liebe zur kirchlichen Lehre. Dabei wurde nicht vorausgesetzt, daß jedes Kirchenglied in Übereinstimmung mit dem Bekenntnis steht, sondern daß die Verkündigung und die Lehre mit dem Wesentlichen des Bekenntisses übereinstimmt, so daß die Kirche als solche an ihrem Bekenntnis erkennbar wird. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Hengstenbergs Bekenntnishermeneutik zu. Er erarbeitete dazu keine komplizierten Theorien. Im Grund ging er von der landläufigen Sicht aus, daß man gewichtige Abweichungen vom christlichen Bekenntnis ohne größere Probleme feststellen können müßte. So ging er an die Prüfung theologischer Systeme mit einer gewissen hermeneutischen Naivität heran. Es war ihm immer verdächtig, wenn man zur Entschlüsselung eines dogmatischen Konzeptes große systematisch-theologische oder philosophische Verrenkungen unternehmen mußte. Hengstenberg selbst war jedenfalls alles andere als ein spekulativer Kopf. Darum hat er mit seinen rigiden Urteilen auch immer wieder die Falschen getroffen. Die Ausrichtung der Kirche auf das Wort führte zu dem bereits oben festgestellten Vorrang der Theologie in Hengstenbergs Denken. Der Selbständigkeit der Theologie im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften analog vertrat er die Selbständigkeit der Kirche im Verhältnis zum Staat. Diese Selb­ständigkeit wollte er unter den gegebenen Bedingungen des landesherrlichen Kirchenregiments verwirklicht sehen. Daß die Rolle des Königs in einem gemischtkonfessionellen Staat des 19. Jahrhunderts nicht mehr dieselbe war wie die eines Für­ sten in einem konfessionell homogenen Territorium des 16. und 17. Jahrhunderts, problematisierte er nicht grundlegend. Gleichwohl war allein schon seine Kirchenzeitung ein Anzeichen dafür, daß er die Veränderungen der Zeit wahrgenommen hatte und den modernen Entwicklungen nicht hilflos gegenüberstand. Welche Rolle Hengstenberg aber in den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts spielte und welchen Stellenwert das Politische in seinem Denken hatte, ist im letzten Teil zu beleuchten.

4  Hengstenberg und die Politik 4.1  Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein Am 27. Oktober 1828, nur eine Woche nach seinem 26. Geburtstag, wurde Hengstenberg ordentlicher Professor „für das Fach der Exegese des Alten und Neuen Testaments“ auf de Wettes Berliner Lehrstuhl. Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht sehr bekannt, seine Berufung rief daher auch kaum Resonanz hervor  . Nachdem Hengstenberg aber als ‚Parteihaupt‘ berühmt geworden war, wurde sein schneller Aufstieg zu einem viel beachteten Thema. Typisch für viele ist die Darstellung von Karl Schwarz, der in seiner Theologiegeschichte von 1856 über Hengstenberg vermerkt: „Er, der wissenschaftlich so gut wie gar nichts geleistet, der nur noch eine Abhandlung ‚Ueber das Verhältniß des innern Wortes zum äußern‘ (1825) und eine andere ‚Ueber Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘ (1826) geschrieben, wird 1826 außerordentlicher, 1828 ordentlicher Professor der Theologie, neben Schleiermacher und Neander!!“

Daß „die Bahn, auf welcher der Pfarrerssohn aus Wetter in Westfalen empor­ glitt“, so „sanft“ war, dafür ließ sich im Grunde nur eine Erklärung finden: Er    So die Bestallungsurkunde: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd. 13, f.  149r. Hengstenberg legte – wie schon De Wette vor ihm – von Anfang an den Schwerpunkt auf das Alte Testament, doch las er regelmäßig, erstmals im Sommer 1828, auch über neutestamentliche Bücher (vgl. oben 2.5.2 und die Übersicht im Anhang). Dennoch meinte der Minister im Jahr 1831, an Hengstenbergs Verpflichtung, auch neutestamentliche Vorlesungen abzuhalten, erinnern zu müssen (Altenstein an den Regierungsbevollmächtigten, Berlin 4. Febr. 1831: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  15, f.  132), und der Minister ging noch im Jahr 1848 davon aus, daß Hengstenberg auch das NT vertreten müsse, und verwies dabei auf die Bestallung. Sein zuständiger Mitarbeiter, Johannes Schulze, vermerkte jedoch, daß Hengstenberg vor allem AT lese (Minister von Ladenberg an Finanzminister Hansemann, Berlin 15. Juni 1848: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  89). Eine eigene Professur für das NT gab es erst 1858 mit Steinmeyers Berufung nach Berlin (vgl. unten Anm.  585).    Zumal schon vor ihm Tholuck, der zunächst De Wettes Lehrstuhl vertrat, ebenfalls mit nur 24 Jahren au­ßer­ordentlicher Professor geworden war (Witte, Leben 1, 214).    Schwarz, Theologie1, 91. Die Aussage ist im übrigen falsch, denn als Hengstenberg Ordinarius wurde, war schon eine Abteilung seiner ‚Christologie‘ erschienen (vgl. oben Teil 2.2.1), worauf bereits Bachmann 2, 127 Anm.  * zu Recht hingewiesen hat; vgl. unten bei Anm.  78.    Lenz, Geschichte 2/1, 327.

428

4  Hengstenberg und die Politik

mußte von mächtigen Kreisen gefördert worden sein, die im Hintergrund die Fäden zogen. Darin fand man dann zugleich die Antwort auf die Frage, warum sich Hengstenberg so unerwartet und plötzlich den Erweckten anschloß; man wertete seinen Weg nämlich als ein Vorspiel für die Zeit nach 1840, „[a]ls der Pietismus eine Carriere wurde“. Demnach konnte sein Wandel zum Erweckten nur aus karrierestrategischen Motiven erfolgt sein, von Anfang an, so die verbreitete Ansicht, habe er bei den politisch Einflußreichen Schutz und Hilfe gesucht. Hengstenbergs Karriere ist in der Tat ungewöhnlich. Wie er vom Studium der Theologie zur Orientalistik und von der Orientalistik wieder zurück zur Theologie kam, wurde oben in Teil 1 dargestellt. Während dort aber vorwiegend Hengstenbergs innere Entwicklung thematisiert wurde, sollen hier nun die von außen beteiligten Kräfte in den Blick genommen werden. Dadurch wird sich zeigen, ob und in welchem Maße politische bzw. kirchenpolitische Interessen für seinen Aufstieg verantwortlich waren. Schon während seines Studiums war Hengstenberg in das Blickfeld des für das Unterrichtswesen zuständigen Ministers Altenstein getreten. Auf Antrag von Professor Freytag hatte der außerordentliche Regierungsbevollmächtigte an der Universität Bonn, Rehfues, dem Minister ein Gesuch Hengstenbergs um finanzielle Unterstützung „zur Anschaffung von nothwendigen Hülfsmitteln für das Studium der orientalischen Sprachen“ vorgetragen, das schließlich bewilligt worden war. Vom Januar 1820 an erhielt Hengstenberg regelmäßig Geld vom Ministerium, zunächst 50, dann 25 Taler pro Jahr. 1823 übersandte der kurz vor seiner Magisterprüfung stehende Theologiestudent dem Minister seine von der philosophischen Fakultät ausgezeichnete Preisarbeit über ein altarabisches Gedicht, worauf ihm 75 Taler außerordentliche Unterstützung gewährt wur   Hausrath, Rothe 1, 362. – Indem Hausrath den Einschnitt von 1840 betont, ist er immerhin genauer als Bigler, der den Einfluß der „Pietist ‚machine‘“ (Bigler, Politics, 83) bereits nach 1815 beginnen läßt und dafür mit aller Gewalt Belege herstellt. So betont er: „Hengstenberg’s turn from being a religious skeptical member of the Burschenschaft during his Bonn years to a religiously and politically ultraconservative ‚fighter of God‘ presents a complicated problem“ (ebd., 90), räumt aber ein, daß die Erklärung, Hengstenberg „was solely by an opportunistic intention“ (ebd.) geleitet, zu einfach wäre und konstruiert schließlich die völlig unbelegte These, Bischof Eylert habe Hengstenberg den Aufenthalt in Basel empfohlen, damit er dort von pietistischen Kreisen angesteckt würde und sich anschließend als Mitglied der konservativen Richtung an der Universität installieren lasse. Dagegen spricht allein schon, daß Eylert mit der Vermittlung nach Basel gar nichts zu tun hatte; zudem wäre es ein riskantes Spiel gewesen, da in Basel nicht nur fromme, sondern vor allem auch liberale, in den Augen der Berliner Regierung „gefährliche“ Kreise zu finden waren (siehe oben 1.1).    Rehfues an Altenstein, Bonn 13. Juli 1821: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert).    Die Gesuche um Unterstützung und deren Bewilligungen finden sich in Hengstenbergs Personalakte: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1.

4.1  Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein

429

den. Wiederholt berichtete der Regierungsbevollmächtigte dem Minister über Hengstenberg und bezeichnete ihn dabei als „einen der hoffnungsvollsten jungen Männer, welche hier ihre Bildung genossen“. Zudem ließ er den Minister wissen, daß Hengstenbergs philologische Studien als beste Vorbereitung für ein akademisches Lehramt in der Theologie zu werten seien,10 und fügte hinzu, „daß in seinem [sc. Hengstenbergs] ganzen Wesen und Streben ein besonderer Ernst ist, und man darf vielleicht behaupten, daß selten die schönsten Hoffnungen schon so frühe und fest begründet wurden“11. Aus der Perspektive des Ministeriums wurde Hengstenberg also zunächt als ein besonders begabter und hoffnungsvoller Student wahrgenommen. Die durchweg positiven Beurteilungen, die aus Bonn eingingen, führten dazu, daß das Ministerium den so Empfohlenen förderte. Ein rascher Aufstieg schien Hengstenberg damit schon früh vorgezeichnet zu sein. Umso überraschender kam es, daß sein Gesuch um finanzielle Unterstützung für die in Aussicht genommene Habilitation in Berlin – wenn auch nicht vom Minister, so doch vom König selbst – abgeschlagen wurde. Gleichwohl änderte sich damit an der einmal eingeschlagenen Richtung wenig. Hengstenberg bereitete sich in Basel auf seine theologische Lauf bahn vor und habilitierte sich schließlich doch im Oktober 1824 in Berlin an der philosophischen Fakultät mit der Unterstützung und dem ausdrücklichen Wohlwollens des Ministers.12 Sogleich nach seiner Ankunft in Berlin wurde ihm zudem von dem im Kultusministerium zuständigen Geheimrat Schulze signalisiert, daß man großes Interesse an seinem Eintritt in die theologische Fakultät habe: „An Philologen sei gar kein Mangel, wohl aber an tüchtigen Theologen.“13 Daneben stellte man ihm in Aussicht, ihn nach seinem Eintritt in die theologische Fakultät bald an eine andere Universität zu versetzen. Von der Begegnung mit Schulze berichtete Hengstenberg des weiteren, dieser habe ihm gesagt, „daß ich mich in Allem, was mich beträfe, nur an ihn zutrauensvoll wenden soll, er werde Alles für mich thun.“14 Dementspre   Hengstenberg an Altenstein, Bonn 2. Jan. 1823 und Altenstein an Rehfues und Hengstenberg, Berlin 22. Jan. 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert).    Rehfues an Altenstein, Bonn 4. März 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). 10   Rehfues an Altenstein, Bonn 4. März 1823: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert): „Derselbe hat seit dem Jahre 1819, auf hiesiger Universität die philologischen und philosophischen Studien, nebst den orientalischen Sprachen, zum Gegenstand seiner ganzen Thätigkeit gemacht, um auf eine, möglichst gründliche, und vielseitige, Vorbildung ein künftiges Studium der Theologie zu bauen, und sich durch dieses den Weg zu einer akademischen Lehrerbestimmung zu bahnen.“ 11   Ebd.; vgl. auch oben 1.1. – Das Urteil steht in auffallendem Kontrast zu der späteren Bewertung durch Lenz, Geschichte 2/1, 329, der schon bei dem Studenten Hengstenberg einen Mangel an wissenschaftlichem und sittlichem Ernst entdecken möchte. 12   Siehe zu diesen Vorgängen oben 1.1. 13   Hengstenberg an den Vater, Berlin Anfang Nov. 1824: Bachmann 1, 202. 14   Hengstenberg an den Vater, Berlin Anfang Nov. 1824: Bachmann 1, 203.

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4  Hengstenberg und die Politik

chend riet der Geheimrat später dem jungen Dozenten auch dringend davon ab, eine Gymnasiallehrerstelle zu suchen, da dies seine Beförderung nur verzögern würde.15 Hengstenberg konnte sich also die besten Chancen ausrechnen. Allerdings legte Schulze dem Neuankömmling in Berlin genauso dringend nahe, daß er sich „auf den objectiven Standpunkt stellen, H--l [Hegel] und M--e [Marheineke] studiren“16 solle, denn der Geheimrat war ebenso wie der Mini­ ster ein erklärter Anhänger Hegels.17 Daran wird deutlich, daß man im Mini­ sterium wenig über Hengstenbergs theologische Richtung wußte. Man hielt ihn noch für formbar. Hengstenberg mußte, um an der theologischen Fakultät lehren zu können, zuerst das theologische Lizentiatenexamen ablegen. Auch hier schien ihm der Weg zunächst auf ungewöhnliche Weise geebnet zu werden: Die theologische Fakultät bat den Minister im Februar 1825 einhellig darum, Hengstenberg vom Lizentiatenexamen zu dispensieren und ihn sogleich zur Disputation zuzulassen, da seine theologische Tüchtigkeit hinlänglich bekannt sei und er darüber hinaus in seinem Hauptfach schon zweimal – in Bonn bei der Promotion und in Berlin bei der Habilitation – geprüft worden sei.18 Indes, das Ministerium war anderer Ansicht und teilte der theologischen Fakultät mit, daß es „bei aller Anerkennung der Kentnisse und der bisherigen Leistungen des Dr. phil. Hengstenberg ihn dennoch der zur befürchtenden Exemplifikationen wegen von dem vorschriftsmäßigen Examen für den Licentiatengrad in der Theologie um so weniger dispensiren kann, als er, so viel dem Ministerio bekannt ist, von seiner theologisch-wissenschaftlichen Tüchtigkeit noch keinen öffentlichen Beweis abgelegt hat.“19

Ebensowenig gab das Ministerium dem – allerdings ungleich kühneren – Antrag der Fakultät statt, Hengstenberg schon vor seinem Lizentiatenexamen zum Leiter des alttestamentlichen Seminars zu machen.20 15

  Hengstenberg an den Vater, Berlin Ende 1824: Bachmann 1, 212.   Hengstenberg an den Vater, Berlin Anfang Nov. 1824: Bachmann 1, 202 f. 17   Vgl. Varrentrapp, Schulze, 432 f. – Wie sehr Altenstein und Schulze Hegel verehrten, kommt besonders eindrücklich in einem persönlichen Brief Altensteins an seinen Mitarbeiter kurz nach Hegels Tod zum Ausdruck, in dem er davon spricht, daß Schulze wie kaum ein anderer einschätzen könne, „welcher Stern erster Grösse in diesem Augenblick für diese Welt untergegangen ist“ (Altenstein an Schulze, Schöneberg bei Berlin, 15. Nov. 1831: Dorow, Denkschriften, 9). 18   Theologische Fakultät an das Ministerium, Berlin 15. Febr. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert), unterzeichnet von Strauß, Marheineke, Schleiermacher und Neander; die treibende Kraft dabei war sicherlich Letzterer. Zudem wollte man möglicherweise die Peinlichkeit umgehen, die sich schon bei Tholucks Lizentiatenexamen gezeigt hatte, als sich keiner der Ordinarien in der Lage gesehen hatte, He­bräisch zu prüfen (vgl. Witte, Leben 1, 174–180). 19   Ministerium an die theologische Fakultät, Berlin 28. Febr. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). 20   Antrag der Fakultät vom 18. Jan. 1825, der auch noch andere Personalfragen betrifft, unterzeichnet von Strauß, Neander und Schleiermacher, und Antwort des Ministeriums vom 31. Jan. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  11, f.  76.79 f. und 16

4.1  Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein

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Daß ihm der schnellere Weg zum Lizentiatenexamen versperrt wurde, überraschte Hengstenberg insofern, als ihm Schulze und Beckedorff, der Regierungsbevollmächtigte für die Berliner Universität, den Erlaß des Examens bereits mündlich in Aussicht gestellt hatten.21 Gleichwohl suchte man auch hier dem jungen Dozenten entgegenzukommen, der vor allem wegen der Aussicht auf eine fest dotierte Stelle, die ihm erst durch die Lizentiatur eröffnet würde, auf das beschleunigte Verfahren gehofft hatte. Beckedorff unterstützte nachdrücklich einen Antrag, in dem Hengstenberg das Ministerium um finanzielle Hilfe bat. Der Dozent hatte darin auf seine prekäre finanzielle Lage – er hatte bereits für den Umzug nach Berlin und die Anschaffung von Literatur Kredit aufgenommen – und den möglichen Nutzen für die Universität hingewiesen: Da es im kommenden Semester keinerlei alttestamentliche Vorlesungen an der theologischen Fakultät gebe, könne er hier mit seinen Fähigkeiten eine empfindliche Lücke schließen.22 Die Unterstützung wurde – wie bereits im Vorjahr schon einmal 23 – gewährt.24 Dennoch blieb die finanzielle Lage für Hengstenberg in seinem ersten Berliner Jahr ein Hauptproblem. Auch mit der Lizentiatur, die er im April 1825 erlangte, war kein geregeltes Einkommen verbunden, und im Sommer wurde jede weitere außerordentliche Remuneration mit dem Hinweis ausgeschlossen, daß die Fonds der Universität erschöpft seien. Selbst eine Bitte des Dekans der theologischen Fakultät, Strauß, konnte daran nichts ändern.25 Im Oktober 1825, ein Jahr nach seiner Ankunft in Berlin, sah sich der junge Dozent daher am Ende seiner Universitätslauf bahn und bat um die Versetzung in ein Pfarramt.26 Das war für ihn umso schmerzlicher, als er die Resof.  75; vgl. Hengstenberg an den Vater, Berlin 24. März 1825: Bachmann 1, 216, dazu oben 1.2; Hengstenberg übernahm das Seminar schließlich im April 1826 (vgl. Hengstenberg, Seminar, 240); vgl. zur Seminarstruktur innerhalb der Fakultät Wischmeyer, Theologiae Facultas, 42–49. 21   Hengstenberg an den Vater, Berlin 24. März 1825: Bachmann 1, 216. Vgl. zu Beckedorff Varrentrapp, Schulze, 328 f.344 f.348; ebd., 347–349 finden sich auch Angaben zu den anderen Mitarbeitern Altensteins. 22   Hengstenberg an Altenstein, s.d. [14. Febr. 1825]: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). 23   Hengstenberg an das Ministerium, Berlin 23. Okt. 1824 und Anweisung des Ministers vom 1. Nov. 1824: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). – Zwischenzeitlich hatte Hengstenberg erwogen, sich nach Halle versetzen zu lassen, weil dort Thilos Stelle freizuwerden schien, doch die Pläne zerschlugen sich, vgl. Hengstenberg an Altenstein, Berlin 24. Nov. 1824 und Altenstein an Hengstenberg, Berlin 30. Nov. 1824: ebd.; vgl. Bachmann 1, 207–211. 24   Ministerium an Hengstenberg, Berlin 15. März 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). 25   Strauß [als Dekan] an das Ministerium, 30. Aug. 1825 und das Ministerium an Strauß, 30. Aug. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). Auf dem Rand des Gesuches vermerkte die Mini­steriumskasse auf Bitte Schulzes, daß sich der Etat zur Besoldung der Professoren auf 64.020 Taler belaufe und man bisher schon Verpflichtungen von 65.465 und damit ein Defizit von 1.445 Talern habe. 26   Hengstenberg an Altenstein, s.d. (eingegangen am 18. Okt. 1825): GStA PK, I. HA

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4  Hengstenberg und die Politik

nanz auf seine Lehrverstanstaltungen im Sommersemester zunächst als Bestätigung seines bisherigen Weges empfunden hatte.27 Doch offensichtlich war der Minister nicht gewillt, den hoffnungsvollen Mann, den man nun schon so viele Jahre finanziell unterstützt hatte, ziehen zu lassen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich Hengstenberg dessen bewußt war, als er um Versetzung bat. Andererseits befand er sich ohne Einkommen tatsächlich in einer auf Dauer unhaltbaren Position. Schließlich fand man eine provisorische Lösung: Da sich der Universitätsetat erschöpft hatte, gewährte man Hengstenbergs Vater aus dem kirchlichen Etat eine außerordentliche Unterstützung von 100 Talern, die für seinen Sohn bestimmt war.28 Hengstenberg konnte also in Berlin bleiben und weiterhin auf eine akademische Lauf bahn hoffen. Die glänzenden Aussichten aber, die man ihm vor und sogleich nach seiner Ankunft in Berlin gemacht hatte, schienen sich nicht zu erfüllen. Woran lag es, daß Hengstenbergs Aufstieg 1825 ins Stocken kam? Lag es tatsächlich allein an den finanziellen Ressourcen? Auf die Dauer würde man den exegetischen Lehrstuhl ohnehin nicht unbesetzt lassen können, das wußte Hengstenberg. Zwar lasen auch Schleiermacher und Neander über das NT, doch das AT wurde von keinem der Ordinarien vertreten. Hengstenberg selbst führte den immer weniger wohlwollenden Ton des Ministeriums darauf zurück, daß er sich vor Schulze und Beckedorff mehrmals Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert), transkribiert bei Bachmann 1, 253 f. Hengstenberg schildert dem Minister, daß er den akademischen Beruf bisher für seine Pflicht gehalten habe: „Man sagte mir, daß ich zu diesem Berufe einige Anlagen habe und da meine ganze Erziehung und Bildung auf denselben berechnet war, so glaubte ich meine schwachen Kräfte um so mehr ihm widmen zu müssen, als jetzt so wenige Academische Lehrer das Beste der Kirche Christi mit gewissenhafter Treue fördern. [...] Jetzt aber sind alle meine Hülfsquellen erschöpft und es ist mir gänzlich unmöglich länger in Berlin zu subsistiren. Da sich nun der weiteren Verfolgung meiner bisherigen Lauf bahn unübersteigliche Hindernisse entgegenstellen, so glaube ich von dem, was ich bisher als Pflicht betrachtete, entbunden zu seyn und meiner Neigung für das practische Leben folgen zu dürfen.“ Aus einem Brief Hengstenbergs an Brandis vom 18. Okt. 1825: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  169 ergibt sich, daß man kurzzeitig ein Pfarramt mit Professur in Wittenberg in Aussicht genommen hatte, wovon Hengstenberg sich alles andere als begeistert zeigte, da er von seiner Reise nach Wittenberg im Frühjahr (vgl. Bachmann 1, 226 f.) keinen guten Eindruck von dem Ort und den theologischen Querelen im Seminar mitgenommen hatte. 27   An den Vater schreibt Hengstenberg, Pfingsten [22. Mai] 1825: Bachmann 1, 238, er habe 56 bis 60 Zuhörer in seiner Hiobvorlesung – eine beachtliche Zahl für den Anfang, die allerdings trotz Hörergeldes nichts zur Verbesserung der pekuniären Situation Hengstenbergs beitrug: „Unter 5 Theologen haben hier 4 testimonia paupertatis und sind also berechtigt, die Erlassung des Honorars zu verlangen – so daß also die Vorlesung mir nicht viel mehr als 10 Louisd’or einbringen wird.“ (ebd.); vgl. auch Hengstenberg an den Vater, Berlin Anfang Nov. 1824: Bachmann 1, 202. 28   Das Ministerium an die Generalkasse u. a., 26. Okt. 1825 (Konzept): GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 (unpaginiert). Diesen Weg hatte man bereits im Juni 1823 gewählt, als Hengstenberg sich nach Abschluß des Studiums noch in Bonn auf hielt und auf die Habilitation vorzubereiten wünschte.

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ablehnend über den Hegelianismus geäußert hatte.29 Diese Einschätzung dürfte zutreffen, denn auch Hengstenbergs Lizentiatenthesen, in denen er unter anderem die Reichweite der ratio in göttlichen Dingen in Frage gestellt hatte,30 hatten im Ministerium Unmut hervorgerufen.31 Stellt man dies in Rechnung, wird die – wenn auch zunächst nur leichte – Abkühlung des Verhältnisses zum Ministerium verständlich: Man hatte gehofft, in Hengstenberg einen formbaren jungen Theologen gewinnen zu können. Sobald dieser aber mit theologischen Ansichten hervortrat, die sich deutlich von den Vorstellungen des Ministers und seines Umfelds unterschieden, ging man auf Distanz.32 Insbesondere Geheimrat Schulze, der sich Hengstenberg zunächst so hilfsbereit angeboten hatte, stellte sich nun dem Aufstieg Hengstenbergs in den Weg. Unterstützung bekam der junge Dozent hingegen von der Fakultät, insbesondere von Neander und Strauß. Diese empfahlen ihm bereits im Frühjahr, Bischof Eylert zu Rate zu ziehen. Eylert war, wie oben erwähnt, mit Hengstenbergs Vater befreundet und hatte sich schon zuvor im Ministerium für Heng­ stenberg eingesetzt. Auch hatte er, wenn auch ohne Erfolg, die Anträge der Fakultät zugunsten von Hengstenberg im Frühjahr 1825 unterstützt. Seinen Rat, in einer Eingabe an den Minister den ganzen Vorgang zu schildern, führte Hengstenberg indessen nicht aus, und gab dem Vater gegenüber als Grund an: „Ich glaube, es ist in meinen Angelegenheiten bisher schon zu Viel von mir und andern Menschen gethan worden. Jetzt will ich die Sache einmal Gott überlassen. Er weiß, daß all mein Wünschen und Sehnen danach gerichtet ist, dereinst ein treuer Diener Seiner Kirche zu werden, Er wird mir auch zu Seiner Zeit entweder in Preußen oder anderswo einen Wirkungskreis bereiten.“33

29   Hengstenberg an den Vater, Berlin 24. März 1825: Bachmann 1, 216 f. Außerdem habe er sich verpflichtet gefühlt, „wenn diese Menschen, die da glauben mit ihrer auswendig gelernten Philosophie den Himmel zu stürmen, in meiner Gegenwart verächtlich von Neander sprachen, warm meine Verehrung gegen ihn zu erklären.“ (ebd., 217). 30   Theses theologicae, in: Bachmann 1, 333 f., v. a. These XII: „Ratio humana coeca est in rebus divinis“ (ebd., 333). 31   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 18. Apr. 1825: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 370 (vgl. Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 113 f.): „Schulze empfing mich, als ich ihn zur Disputation einlud sehr kalt und sagte mir, daß mehrere unter meinen Thesen, namentlich die 12 und 14te falsch seyen. Ich entgegnete: es ist dieß die biblische Ansicht. Er: In der Bibel mag das immerhin stehen.“ Schulze, Beckedorff und Kamptz waren bei der Disputation anwesend (ebd.). 32   Zwar hatte Hengstenberg auch schon bei seiner Bitte um Versetzung nach Halle im Herbst 1824 (vgl. o. Anm.  23) zu erkennen gegeben, daß die dort herrschende rationalistische Richtung „die meinige nicht ist und nie die meinige werden wird“ (Hengstenberg an Altenstein, 24. Nov. 1824: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 [unpaginiert]), doch befand er sich in der Ablehnung des Rationalismus auf einer Linie mit den Hegelianern im Ministerium. 33   Hengstenberg an den Vater, Berlin 24. März 1825: Bachmann 1, 217 f.

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4  Hengstenberg und die Politik

Im übrigen dürfte Hengstenbergs Verhältnis zu Eylert auch nicht ungetrübt gewesen sein, nachdem er sich ihm gegenüber schon Anfang des Jahres als Gegner der königlichen Agende zu erkennen gegeben hatte.34 Was seine Karriere anging, war es ganz eindeutig nachteilig, daß sich Hengstenberg, ehe er nach Berlin ging, „zum heiligen Gesetz gemacht hatte, was hier wahrlich bei dem ungeheuern Gegensatz der Ansichten sehr schwer ist, nie, es sei gegen wen es wolle, meine Uerberzeugung zu verleugnen“35. Es zeigte sich sehr deutlich: Je klarer Hengstenberg mit seiner Überzeugung hervortrat, desto mehr kam seine Karriere ins Stocken. Die theologische Linie, die Hengstenberg bereits in seinen Lizentiatenthesen angedeutet hatte, zog er noch wesentlich deutlicher aus in seiner Schrift „über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere“, die im Oktober als Einladungspro­gramm für die Hauptbibelgesellschaft verbreitet wurde.36 Die Veröffentlichung war zwar anonym, doch Hengstenberg verschwieg seine Verfasserschaft nicht. Als er sich Marheineke gegenüber zu ihr bekannte, war der außer sich.37 Auch die Hegelianer im Ministerium hatten durch das Einladungsprogramm neue Nahrung für ihren ablehnende Haltung bekommen 38 , und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Hengstenbergs Aussichten wieder besser zu werden schienen: Tholuck hatte den Ruf nach Halle erhalten. Dadurch waren wieder Gelder frei geworden. Der Minister hatte darauf hin ein Gutachten der Fakultät zu Hengstenbergs wissenschaftlichen Leistungen eingeholt; doch im Unterschied zum Anfang des Jahres, als die Fakultät noch gemeinsam für Hengstenberg eingetreten war, antwortete sie nun gespalten und mit wenigen Zeilen: Schleiermacher und Marheineke wüßten nichts Näheres auszuführen, während Strauß und Neander sich davon überzeugt zeigten, daß „sich von seiner [scil. Hengstenbergs] lebendigen christlichen Ueberzeugung und seinen Leistungen für die Kirche, die Wissenschaft und unsere Universität gewiß viel Gutes erwarten lasse“39. Im Ministerium 34

  Hengstenberg an den Vater, Berlin 13. Jan. 1825: Bachmann 1, 222.   Hengstenberg an den Vater, Berlin 13. Jan. 1825: Bachmann 1, 222. 36   Vgl. zu den Einzelheiten oben 1.3.2. 37   Hengstenberg an den Vater, Berlin 15. Dez. 1825: Bachmann 1, 255. 38   Hengstenberg an den Vater, Berlin 15. Dez. 1825: Bachmann 1, 257 und 22. Jan. 1826: Bachmann 1, 260: „Die Hegelianer im Ministerium haben, als sie erfahren, daß ich Verfasser des Programmes bin, eine große Erbitterung gegen mich gefaßt und es scheint, daß sie Alles thun werden, um meine Ernennung zu hintertreiben. Freytag teilte mir in einem gestern erhaltenen Briefe einen Auszug eines Briefes von Schulze mit, welcher sehr harte Stellen enthält.“ – Grafs Behauptung, „Hengstenbergs steile Karriere“ stehe „in engem Zusammenhang mit seiner publizistischen Tätigkeit für die preußische Hauptbibelgesellschaft“ (Graf, Spaltung, 189), muß also geradezu umgekehrt werden. Auch kann man nicht generell von einer „publizistischen Tätigkeit“ Hengstenbergs für die Bibelgesellschaft sprechen; für das Einladungsprogramm war er nur kurzfristig eingesprungen (vgl. Bachmann 1, 245). 39   Antwort der Theologischen Fakultät, 21. Nov. 1825: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  12, f.  14rv. Verständlicherweise beschwerte sich der Minister daraufhin, daß das Gutachten völlig unge­eignet sei, worauf hin sich die Fakultät wand und die 35

4.1  Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein

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mußte dieses kurze und gespaltene Votum als Bestätigung für die eigene, zunehmend kritische Haltung Hengstenberg gegenüber aufgenommen werden. Angesichts dieser Lage überrascht es, daß Hengstenberg dennoch am 26. Januar 1826 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Wer hierfür den Ausschlag gab, läßt sich genau rekonstruieren. Es waren keine politisch einflußreichen Gönner, sondern schlicht die beiden Fakultätskollegen Neander und Strauß, die sich mit ganzem Engagement für Hengstenberg einsetzten. Der hielt seine Sache schon für so gut wie verloren und sah sich nach einer Stelle außerhalb Preußens um. Durch Vermittlung Otto von Gerlachs hatte er gute Chancen, einen Ruf nach Rostock zu bekommen.40 Als jedoch Neander davon erfuhr, ergriff er, ohne Hengstenberg davon zu informieren, gemeinsam mit Strauß die Initiative. Am 24. Januar wandten sie sich in einer Eingabe an den Minister und schilderten ihm „die großen Erwartungen“, welche sie „für Kirche und Wissenschaft von diesem durch unsere evangelische Frömmigkeit und durch die wissenschaftliche Tüchtigkeit auf gleiche Weise ausgezeichneten Mann“ hegten: „Wir haben mit besonderer Freude wahrgenommen, wie er unter unseren Jünglingen schon mit trefflichem Erfolge dazu gewirkt hat, das Interesse für das tiefe Studium des alten Testaments und die Beschäftigung der geschichtlichen Entwicklung des Gottesreiches, einem für die gesamte Theologie so wichtigen und zu unserer Zeit so vielfach vernachlässigten Gegenstand, anzuregen. Da der Lic. Hengstenberg, von demselben theologischen Standpunkt mit uns ausgehend, einen wesentlich integrirenden Theil unseres gemeinschaftlichen Zusammenwirkens in Einem Geiste und zu einem Ziele an der hießigen Universität bildet, so würde es uns besonders schmerzlich sein, denselben von uns getrennt zu sehen.“41

Im gleichen Zug soll Neander den Kronprinzen, als dieser ihm am 17. Januar zu seinem Geburtstag gratulieren ließ, dazu aufgefordert haben, sich für Heng­ stenberg beim Minister zu verwenden.42 Nur kurze Zeit später folgte dann die Ernennung. Allerdings war das für Hengstenberg entscheidende Problem damit immer noch nicht gelöst: Das Ministerium sah sich nämlich nicht in der Lage, ein Gehalt festzusetzen.43 Stattdessen blieb es bei unregelmäßigen Einmalzahlungen. Frage ventilierte, ob sie überhaupt verpflichtet sei, für Privatdozenten, mit denen sie wenig in Berührung komme, Gutachten zu erstellen. „Bey der in mancher Hinsicht möglichen Verschiedenheit der Facultät in ihren dogmatischen Vorstellungen“ bleibe „überdem nichts übrig, als die Urtheile persönlich zu stellen“ (Theologische Fakultät, 3. Jan. 1826: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  12, f.  21r). Die Fakultätsakten zeigen, daß für dieses Votum vor allem die Ansichten Marheinekes und Schleiermachers verantwortlich waren (UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  36–39). 40   Hengstenberg an den Vater, Berlin 22. Jan. 1826: Bachmann 1, 258–261. 41   Neander und Strauß an den Minister, 24. Jan. 1826: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  12, f.  22v–23v. 42   Hengstenberg an den Vater, 7. Febr. 1826: Bachmann 1, 261. 43   Da Altensteins Universitätsetat knapp bemessen war, gehörte es zu seinen Strategien,

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Erst im Dezember 1826 wurde eine Besoldung von 300 Talern jährlich festgesetzt – ein Betrag, der weit unter dem Üblichen lag.44 Dabei blieb es zunächst auch, obwohl Hengstenberg, der bei der Anschaffung wissenschaftlicher Literatur nicht sparte, damit nur mühsam über die Runden kam. So setzte sich das Tauziehen um die angemessene Besoldung noch viele Jahr fort, war dabei aber nur Symptom eines grundsätzlicheren Konflikts: Hengstenberg hatte aus Neanders Hilfe und seinem bisherigen Werdegang den Schluß gezogen, daß es Gottes Wille sei, daß er das in Berlin verwaiste AT vertrete.45 Doch genau dies war nicht im Sinne des Ministeriums, das beabsichtigte, Hengstenberg früher oder später von Berlin wegzuversetzen. Zusätzliche Nahrung erhielt der Konflikt dadurch, daß der junge Extraordinarius weiterhin mit Ansichten hervortrat, die ihn in Gegensatz zum Ministerium brachten: Im April 1826 erschien seine kleine Schrift über ‚Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus‘, in welcher er die Erweckten gegen Anschuldigungen des Ministeriums in Schutz nahm.46 Darüber war man im Ministerium wie zu erwarten wenig erfreut.47 Schließlich übernahm Hengstenberg im Sommer 1827 auch noch die Redaktion der EKZ. Davon hatte ihm der Mini­ ster eindringlich und in sehr ernstem Ton abgeraten.48 Kurz, karrieretaktisch den Lehrkörper mit Hilfe von außerordentlichen Professuren und Privatdozenturen kostengünstig auszuweiten (vgl. Vogel, Altenstein, 103). 44   Ministerium an Hengstenberg, 2. Dez. 1826 (Kopie): GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  5. Die Besoldung erfolgte rückwirkend vom 1. Okt. an. Die gängige Besoldung für einen ordentlichen Professor lag bei 1500 Talern. Hengstenbergs Fakultätskollege Strauß erhielt als Hofprediger und Professor sogar 3000 Taler (vgl. Lenz, Geschichte 2/1, 317); Hengstenberg wies darauf hin, daß sein Vorgänger, also Tholuck, 600 Taler erhalten habe (Hengstenberg an Altenstein, 2. Nov. 1826: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  6 ). 45   Hengstenberg an den Vater, 7. Febr. 1826: Bachmann 1, 263; Hengstenberg an den Minister, Juni 1826: Dorow, Denkschriften, 3 f. (vgl. Bachmann 1, 284). 46   Zum Hintergrund der Ministerialverfügung und zu ihrer Aufnahme vgl. Deuschle, Erweckung, 85–91. 47   Vgl. Bachmann 2, 67 f. 48   Altenstein an Hengstenberg, Berlin 31. Mai 1827 und 29. Juni 1827: Bachmann 2, Anhang, 13–15 und 19 f. (Originale: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 [unpaginiert]), insbesondere macht Altenstein auf „den nach­theiligen Einfluß“ aufmerksam, den das schwierige und zeitraubende Geschäft „auf das glückliche Verfolgen Ihrer akademischen Lauf bahn äußern kann“ (ebd., 19). Im übrigen riet auch Hengstenbergs Vater, der die Karriere seines Sohnes beständig zu fördern suchte, von der Redaktionstätigkeit ab (vgl. Bachmann 2, 69), und Neander mahnte ihn, sie so zu betreiben, daß er der Fakultät erhalten bleibe (vgl. Bachmann 2, 81). Hengstenberg selbst wußte, daß die Arbeit an der EKZ „unvermeidlich ein Misverhältniß zum Ministerio zur Folge haben“ würde (vgl. Hengstenberg an Therese, 10. Juni 1827: Bachmann 2, 81); „soviel ist gewiß daß für mich alles auf dem Spiele steht und zwar für mich allein“, schrieb er am 21. Juni 1827 an Tholuck (AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 788; vgl. Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 120 f.) und bat: „Vielleicht fühlst Du Dich gedrungen die Brüder in Berlin darauf aufmerksam zu machen, daß hier wo einer die Gefahr für alle übernimmt, auch alle die Gefahr von dem einen abzuwenden trachten müssen“.

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verhielt sich Hengstenberg seit seiner Ankunft in Berlin äußerst unklug. Statt auf der Welle des Wohlwollens des Ministers der sicheren Stelle entgegenzu­ schwimmen, setzte er sich durch das offene Bekenntnis seiner theologischen Ansichten mehr und mehr in Gegensatz zu seinem einstigen Förderer.49 Der Minister, der in Folge dieser Entwicklung den Eindruck bekommen hatte, Hengstenberg sei durch seinen Anschluß an die Erweckungsbewegung von seinen hoffnungsvollen Anfängen abgekommen, plante nun, Hengstenberg an eine andere Universität zu versetzen und ihn so den erweckten Kreisen zu entziehen. Ein erster Versuch fällt noch in die Zeit vor der Gründung der Kir­ chenzeitung. Im Sommer 1826 bot sich eine Gelegenheit, nachdem August Hahn von Königsberg nach Leipzig berufen worden war. Altenstein legte Hengstenberg nahe, als außerordentlicher Professor mit anständigem Gehalt und Aussicht auf eine ordentliche Professur nach Königsberg zu gehen.50 Allein, Hengstenberg war inzwischen zu der Überzeugung gekommen, in Berlin „einen passenden Wirkungskreis gefunden“ zu haben, an dem er „zur Wiederbelebung des so sehr gesunkenen Studium des Alten Testaments“ mehr beitragen könne als an jedem anderen Ort 51 und lehnte ab. Darüber hinaus war für seine weitere Lebensplanung nicht unerheblich, daß er Therese von Quast aus Radensleben kennen gelernt und bereits nähere Verbindungen zur Familie von Quast geknüpft hatte. Die Versetzungspläne des Ministers bewirkten, daß die gegenseitige Zuneigung schon bald zu festen Erklärungen führte und die Verlobung auf den 29. Juni 1826 angesetzt wurde. Der Minister, der davon nichts wußte, sah sich gerade durch die Hartnäckigkeit, mit der sich Hengstenberg der Versetzung entzog, in seiner Ansicht bestätigt, daß Hengstenberg den falschen Weg genommen habe: „Der Beruf hier erscheint mir problematisch – es ist nicht ein Wissen, sondern eine Richtung die er verfolgt – mit Andern verfolgt – Dieses scheint mir am Anfang einer Lauf bahn höchst misslich. Das Wissen leidet sehr leicht, ordnet sich der Richtung unter, 49   Noch im Frühjahr 1827 war Hengstenberg vom Minister beauftragt worden, eine Schrift des Franzosen Mollard-Lefèvre, der vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten war, zu übersetzen (vgl. Bachmann 2, 47 f.; Schoeps, Neue Quellen, 129 und Hengstenberg an Brandis, 30. März 1827: ThULB Jena, NL Brandis, Nr.  171; vgl. o. 3.4.1); offensichtlich war Altenstein immer noch bemüht, Hengstenberg einzubinden. 50   Der diesbezügliche Briefwechsel fehlt in den Personalakten. Der Vorgang liegt gerade im Zwischenraum des Wechsels von einem Aktenkonvolut zum nächsten (GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  1 zu ebd., Nr.  16). Ein Teil der Korrespondenz wurde aber bereits 1841 veröffentlicht in: Dorow, Denkschriften, 3–7 (vgl. Bachmann 1, 283–285). Vgl. auch Hengstenberg an Tholuck, Berlin 14. Juli 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 687; dort die Vermutung: „wahrscheinlich war Marheineke wohl mit im Spiele“. 51   Hengstenberg an den Minister, Juni 1826: Dorow, Denkschriften, 3 (leicht fehlerhaft bei Bachmann 1, 283 f.); vgl. auch ebd., 4: „ich halte es daher für heilige Pflicht, dass Jeder, der einen festen Beruf erhalten hat, denselben nicht eher aufgebe, als bis er die Aussicht erhält, in einem grössern Wirkungskreise mit grösserm Segen wirken zu können. Diese Aussicht würde ich in Königsberg keineswegs haben.“

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statt diese zu geben und erst zu schaffen, und wird abhängig von andern. Der junge Mann soll frei von äussern Einwirkungen selbständig auftreten – aus dem Wissen die Richtung erhalten und diese dann so schaffen, dass er auch Andere dahin zieht. So wird er wahrhaft und eminent wirksam. [...] Nach meiner Ueberzeugung spricht Alles für die Verpflichtung des Herrn Hengstenberg, dem Ruf zu folgen.“52

Altenstein ging also davon aus, daß Hengstenbergs wissenschaftliche Entwicklung vom Einfluß des erwecklichen Milieus gehemmt wurde. Für ihn war weniger die Tatsache von Bedeutung, daß der junge Theologe eine bestimmte Richtung verfolgte, als vielmehr der Eindruck, daß die Richtung nicht durch wissenschaftliche Bildung gewonnen wurde, Hengstenberg darum nicht in der Lage sein würde, einen positiven Einfluß auf die ihm Nahestehenden auszuüben.53 Aus seiner Perspektive war es völlig plausibel, daß man Hengstenberg, um ihn wieder auf die wahre wissenschaftliche Bahn zurückzuführen, an einen anderen Ort versetzen müsse. Am 29. Juni, dem Tag der Verlobung, versetzte Altenstein darum den jungen Privatdozenten per Reskript und mit einer Besoldung von 600 Talern nach Königsberg. Einem solch massiven Vorgehen gegenüber schien jeder Widerstand zwecklos.54 Schon bereitete Hengstenberg den Vater auf den bevorstehenden Wechsel in das ferne Königsberg vor, schon lag der Antwortbrief an das Ministerium, in dem er die Annahme der Stelle aussprach, bereit, da nahm die Sache wiederum eine unerwartete Wendung. Am 8. Juli machte der Minister einen Rückzieher und ließ Hengstenberg wissen, er wolle „von seiner Absicht, Sie nach Königsberg zu versetzen, abstrahieren, und Ihnen gestatten, Ihre Wirksamkeit bei der 52

  Altenstein in einem auf den Juni 1826 datierten Dokument, in dem er für sich selbst die Gründe für Hengstenbergs Versetzung auflistet, in: Dorow, Denkschriften, 6 f. (leicht fehlerhaft bei Bachmann 1, 285). 53   Hierbei kommt Altensteins Sicht von der Wissenschaft zum Tragen, nach der die Wissenschaft, wenn sie sich nur selbständig entwickeln könne, zwangsläufig zur Wahrheit führen müsse (vgl. dazu Deuschle, Erweckung, 83 f.). Möglicherweise hatte der Minister darauf gehofft, daß Hengstenberg in seinem Sinne auf die erwecklichen Kreise einwirken könne. Daß Hengstenberg in der Tat nicht einfach die erweckliche Theologie übernahm, obgleich er die Frömmigkeit der Erweckten teilte (siehe oben 1.3 und 1.4), konnte Altenstein zu diesem Zeitpunkt noch nicht wahrnehmen. 54   Zumal Hengstenberg über die Hintergründe gut informiert zu sein schien (Hengstenberg an Tholuck, Berlin 14. Juli 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 687): „Ich erklärte mich mit Angabe der Gründe abgeneigt. Mein Schreiben wird dem Minister vorgelesen; der Minister aber unterbricht die Verlesung und erklärt ich solle und müsse hin. So erhielt ich denn ein offizielles Schreiben, worin auf meine ablehnende Antwort gar keine Rücksicht genommen, sondern mir gradezu die Königsberger Stellung übertragen wurde. Zugleich hatte der Minister an meinen Vater geschrieben und ihn von den unangenehmen Folgen gewarnt, welche mein Widerstreben für mich haben würde!! Mein Entschluß war bald gefaßt. Getreu meinem Grundsatze, in meinen eigenen Angelegenheiten so wenig wie möglich zu thun und als des Herrn Fügung zu vernehmen, was da kommt, beschloß ich [...] dem Rufe zu folgen, wenn mir auch bei dem Gedanken an die dortige Einsamkeit das Herz brechen wollte.“

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hiesigen theologischen Fakultät bis auf Weiteres fortzusetzen“, allerdings ohne ihm Aussichten auf eine feste Besoldung eröffnen zu können.55 Wie es dazu kam, war bisher nur unzureichend geklärt.56 Ein bisher unbekannter Brief der alten Frau von Quast zusammen mit einem bisher nur teilweise veröffentlichten Brief Hengstenbergs an Tholuck bringt aber Licht in die Vorgänge.57 Demnach war es Frau von Quast, die zum Minister ging und um Hengstenbergs Bleiben bat. Altenstein war mit einem Vetter der Quasts befreundet 58 und lebte zeitweise in einem Haus der Familie von Quast.59 Allerdings brachte den Minister allein die Auskunft, daß Hengstenberg ein junger Freund der Familie von Quast sei, noch nicht von seinem Vorhaben ab.60 Erst als ihm Frau von Quast die Verlobung ihrer Tochter mit Hengstenberg, die bisher noch geheimgehalten worden war, offiziell im Namen ihres Mannes eröffnete, lenkte Altenstein ein.61 55   Das Ministerium, gez. i. A. Süvern, an Hengstenberg, Berlin 8. Juli 1826: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  1. 56   Bachmann 1, 289 schreibt gar nichts dazu; Kriege, Kirchen-Zeitung, 30 hält den Einfluß von Frau von Quast für maßgeblich; Wulfmeyer, Hengstenberg, 46 mit Anm.  136 f. (Anhang, 18 f.) bestreitet dies und führt die Wende auf eine Intervention von Strauß und Neander zurück. 57   Frau von Quast an Bachmann, 28. Dez. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (unpaginiert). Bachmann selbst konnte den Brief nicht mehr auswerten, da der entsprechende Teil der Hengstenbergbiographie bereits abgeschlossen war. – Hengstenberg an Tholuck, Berlin 14. Juli 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 687; der Brief ist unter falschem Datum (24. Juli) und bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt abgedruckt bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 116 f. – hieraus schöpft Kriege ihre zutreffende Sicht, sie kennt aber nicht den ganzen Brief. 58   Frau von Quast an Bachmann, 28. Dez. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (unpaginiert): „Mein Mann war bei Theresens Verlobung krank, hier in Berlin, u. schickte mich zu Altenstein, der im Quastschen Hause hier wohnend ein intimer Freunde meines Vetters Quast aus Gartz war, um zu bewirken, daß Hengst. nicht fort käme.“ Vgl. Hengstenberg an Tholuck, Berlin 14. Juli 1826 (s. Anm.  61). 59   In der Wilhelmstr. 59, vgl. Vogel, Altenstein, 99; später zog er offensichtlich nach Schöneberg, vgl. Bachmann 2, 82. 60   Frau von Quast an Bachmann, 28. Dez. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (unpaginiert): „Ich versuchte erst Ihn als jungen Freund unser[e]s Hauses loszubitten, weil Theresens Verlobung erst nach einem Jahre wegen Ihrer Jugend in der Familie notificirt werden sollte. Das schlug aber gänzlich fehl, er wollte den jungen Pietisten wie er ihn taxirte aus Berlin haben.“ 61   „Da erhob ich mich denn verneigend u. notificirte Ihm im Namen meines kranken Mannes die Verlobung unserer Tochter mit Hengstenberg u. die Bitte Ihn deshalb hier zu lassen. Er sah mich starr an, verneigte sich, u[nd] sagte wörtlich ohne eine Minute zu zögern: ‚Meine gnädige Frau, ich genehmige sofort die Bitte Ihres Herrn Gemahls, Ihr künftiger Herr Schwiegersohn wird in Berlin bleiben‘.“ (ebd.) Die alte Frau von Quast verweist als Begründung für Altensteins Verhalten auf die damals noch festen „Bande der Aristocratie“, während jetzt der Liberalismus alles zersetzt habe. Hengstenberg an Tholuck, Berlin 14. Juli 1826: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 687 schildert den Vorgang ganz ähnlich, wobei er zunächst darauf eingeht, daß Frau von Quasts Interventionen bei Eylert („da er mit dem Minister einigermaßen gespannt sey“), Strauß („Strauß wollte nicht recht gern etwas wagen“) und Neander („Neander war selbst schmerzlich bewegt“) vergeblich waren: „Die F.v.Q.

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Hengstenberg blieb also in Berlin, doch seine Lage hatte sich durch das Tauziehen mit Altenstein nicht verbessert: Der Minister sah sich, nachdem Heng­ stenberg das Königsberger Angebot ausgeschlagen hatte, nicht mehr verpflichtet, eine Verbesserung bezüglich der Einkommenssituation des jungen Dozenten zu erreichen, und so blieb es bis auf weiteres bei den Einmalzahlungen. Darüber hinaus mußte Altenstein den Rückzieher als Niederlage empfinden, und es verfestigte sich sein Eindruck, Hengstenberg werde von mächtigen adligen Kreisen gedeckt. Im Herbst 1827 – inzwischen hatte Hengstenberg die Redaktion der EKZ übernommen – unternahm er darum einen neuen Vorstoß und bot Hengstenberg an, ihn als Extraordinarius mit 600 Talern Besoldung nach Bonn zu versetzen.62 Als Hengstenberg wiederum ablehnte und den Minister bei dieser Gelegenheit darum bat, sich beim König für eine Gehaltserhöhung einzusetzen, reagierte Altenstein verständlicherweise kühl: Hengstenberg habe die Gelegenheit, nach Bonn zu gehen, abgeschlagen, daher sehe er keine Veranlassung, etwas zu seinen Gunsten zu unternehmen.63 Daß zuvor Heng­ stenbergs Schwiegervater in spe bei dem Minister vorstellig geworden war und um das Bleiben von Hengstenberg gebeten hatte, dürfte seine Verärgerung nur noch verstärkt haben.64 Je fester Hengstenberg an seinem Berliner Wirkungskreis und den dort geknüpften Beziehungen festhielt, desto überzeugter war nicht nur der Minister, sondern bald schon das ganze Ministerium von der Notwendigkeit seiner Versetzung. Am 6. März geriet der Minister bei einer Sitzung des Ministeriums, als schritt nun zu dem letzten Mittel – sie erbat sich eine Audienz beim Minister und erhielt sie nach manchen Schwierigkeiten; diesem entdeckte sie mein Verhältniß zu ihrer Tochter und setzte ihm mit der ganzen Kraft ihrer Liebe und ihrer ganzen Beredsamkeit zu. Der Minister konnte ihr nicht widersprechen, und erklärte er habe mit Bedauern vernommen, daß ich eine zu ascetische und strenge Richtung genommen habe, hoffe aber, daß ich unter der Zucht der Frauen auf den rechten Weg zurückgebracht werden würde [...]“. Hengstenberg eröffnet dem Minister am 4. Juli in einem Brief, der sich nicht in den Ministeriumsakten, sondern nur im Nachlaß Altensteins findet, schließlich selbst noch seine Verlobung und bittet um sein Bleiben. Dabei setzt er voraus, daß Altenstein bereits davon weiß (Hengstenberg an Altenstein, 4. Juli 1826: GStA PK VI. HA, Nl v. Altenstein, B Nr.  15, f.  35rv, transkribiert bei Wulfmeyer, Hengstenberg, 305 f.). Das scheint der Aussage Hengstenbergs, allen Widerstand aufgeben zu wollen (an den Vater, 2. Juli 1826: Bachmann 1, 288 f.) zu widersprechen. Sehr wahrscheinlich war aber der Brief vom 4. Juli bei dem Besuch Frau von Quasts bei Altenstein verabredet worden, damit der Minister einen aktentauglichen schriftlichen Vorgang hatte. So bezieht sich das Reskript vom 8. Juli (s. bei Anm.  55) denn auch auf Hengstenbergs Eingabe vom 4. Juli. 62   Das Ministerium an Hengstenberg, 20. Nov. 1827 (Konzept): GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  7. 63   Hengstenberg an Altenstein, 12. Dez. 1827 und das Ministerium an Hengstenberg, 4. Jan. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  8 und 9. 64   Als kränkelnder Vater wünsche er seinen künftigen Schwiegersohn und seine Tochter in der Nähe zu behalten (Herr v. Quast an Altenstein, Radensleben bei Neuruppin 15. Dez. 1827: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  10 f.); am 4. Jan. 1828 beschied der Minister die Bitte positiv (Altenstein an Herrn v. Quast, ebd., f.  12).

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Eylert, von Hengstenbergs Vater veranlaßt, die causa Hengstenberg erneut zur Sprache bringen wollte, in Rage. Hengstenberg, dem Eylert noch am selben Tag davon berichtete, schildert die für das Verhältnis des Ministers zu dem jungen Gelehrten sehr aufschlußreiche Rede seiner Braut: „Der Minister hält eine lange Rede, des Inhalts: Ich sei ihm immer lieb und werth gewesen. Die außerordentlich vortheilhaften Zeugnisse, die von Bonn aus über mich eingegangen, haben ihm die größten Erwartungen von mir erregt; diese schienen aber jetzt gar nicht in Erfüllung zu gehen. Ich sei hier in die Hände einer gewissen verderblichen Partei gerathen, die mich als ihr Werkzeug mis­brauche. Er hätte mich vor 1 ½ Jahren, um mich noch zu retten, nach Königsberg versetzen wollen, um mich dort schnell die glänzendste Carriere machen zu lassen. Allein ich habe mein Glück mit Füßen getreten. Er sei durch die Eltern meiner Braut, auf eine Weise, die ihm kaum einen Ausweg übrig gelassen, dahin gebracht worden, daß er seinen festen Entschluß, mich zu versetzen, daran gegeben habe. Er habe nun gehofft, es werde vielleicht besser mit mir werden; aber es sei vielmehr noch um Vieles schlimmer geworden. Er habe endlich einen zweiten Versuch gemacht, mich zu retten, und mir die Stelle in Bonn angetragen; aber auch da habe ich, wahrscheinlich durch meine Verbindung bewogen, seine väterliche Fürsorge zurückgewiesen. Jetzt wisse er gar nicht mehr, was er mit mir machen solle, meinem hiesigen Treiben könne er doch nicht ferner so zusehen.“65

Darauf seien sich alle Mitglieder des Ministeriums – einschließlich Eylert – einig gewesen, daß Hengstenbergs Entfernung „höchst nothwendig“ sei. Zudem habe man Propst Neander beauftragt, Hengstenberg mit verschiedenen Anklagepunkten – unter anderem dem Vorwurf mystischer und pietistischer Umtriebe – zu konfrontieren und ihn dadurch dazu zu bewegen, freiwillig nach Bonn zu gehen.66 Hengstenberg, der selbst nicht mehr so sicher war, welchen Weg er gehen sollte,67 sah sich auf Anraten seines Kollegen Neander dazu veranlaßt, dem Mi65   Hengstenberg an Therese, 9. März 1828: Bachmann 2, 113 f. Die Sitzung fand am Donnerstag zuvor, also am 6. März statt. Fast gleichlautend berichtet Hengstenberg an Tholuck, Berlin 8. März 1828: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 890 (etwas gekürzt bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 122 f.), allerdings soll demnach der Minister nicht nur von einer „gewissen“, sondern von „einer böswilligen staatsgefährlichen Parthey“ gesprochen haben; im Brief an den Vater, 15. März 1828: Bachmann 2, 115 ist von „einer gefährlichen aristokratisch adligen Partei“ die Rede. – Es ist verständlich, daß sich Hengstenberg in dem Brief an Therese, deren Familie damit angesprochen ist, am zurückhaltendsten ausspricht. Überdies ist zu fragen, welche Färbung die Rede durch Eylerts Schilderung erhalten hat. Der Sache nach dürfte sie aber durchaus authentisch sein, da sie sich ganz mit Altensteins anderweitigen Äußerungen und vor allem mit seinem sonstigen Vorgehen im Fall Hengstenberg deckt. 66   Hengstenberg an Therese, 9. März 1828: Bachmann 2, 114. 67   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 8. März 1828: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 890: „Wüßte ich nur was ich thun soll, ich wollte gern um des Herrn willen leiden und nicht blos nach Bonn gehen, sondern wohin er mich nur immer ziehe, wenn es mir auch schwer, sehr schwer wird Berlin zu verlassen. Aber ich weiß nicht, woran ich den Willen des Herrn erkennen soll; und ob es nicht Verrath an ihm ist, wenn ich meinen hiesigen Posten verlasse ohne daß man mich geradezu zwingt wegzugehen. [...] Die Meinen in Radensl.[eben] wer-

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nister zu erklären, daß er an dem Brief seines Schwiegervaters und an allen Unternehmungen seiner Familie zu seinen Gunsten keinen Anteil habe.68 Zuvor hatte er schon seine Braut gebeten, die Mutter zu bitten, „ja nicht auf irgend eine Weise einwirken zu wollen“69. Deutlicher wird er gegen­über dem Vater: „Ebensoviel wie meine Feinde machen mir aber die Meinigen in Radensleben zu thun; denn sie sind ganz empört darüber, daß ich nur den Gedanken des Weggehens fassen könne.“70 Ähnlich wie schon bei den vorangegangenen Konfrontationen mit dem Ministerium unternahm Hengstenberg auch in diesem Fall, nachdem er einmal seinen Standpunkt dargelegt hatte, nichts mehr. Doch war er sich nun deutlicher als bei den vorigen Malen bewußt, daß er sich als persona non grata keine weiteren Hoffnungen auf Beförderung würde machen können. Auch als er erfuhr, daß General Gröben den Kronprinzen über Altensteins Verhalten informiert und ihn gebeten hatte, den Minister zur Rede zu stellen, befürchtete er nur eine weitere Verbitterung: „Jetzt wird das Ministerium aufs Höchste gegen mich aufgebracht werden und Alles versuchen, um mich hier zu peinigen.“71 Strauß gegenüber, der beim Kronprinzen zu einer Besprechung der Sache Hengstenberg geladen wurde und sich zuvor bei Hengstenberg nach dessen Wünschen erkundigte, erklärte er daher, daß er, Hengstenberg, sich auf eine solche Intervention „nicht einlassen könne und dürfe“72 . Ende März verließ Hengstenberg Berlin und verbrachte die Osterferien in Radensleben, danach hatten sich die Wogen wieder etwas geglättet. An eine Beförderung oder eine Gehaltserhöhung war jedoch in naher Zukunft nicht mehr zu denken.73 Dennoch dauerte es nur wenig mehr als ein halbes Jahr, und Hengstenberg wurde Ordinarius in Berlin. Am 27. Oktober 1828 ernannte ihn Friedrich Wilhelm III. „zum ordentlichen Professor in der theologischen Facultät der hieden untröstlich seyn; doch das wäre alles nichts, wenn ich nur des Herrn Willen erkennen könnte.“ 68   Vgl. Hengstenberg an Therese, 14. März 1828: Bachmann 2, 115. 69   Hengstenberg an Therese, 9. März 1828: Bachmann 2, 114. 70   Hengstenberg an den Vater, 15. März 1828: Bachmann 2, 115. 71   Hengstenberg an Therese, 16. März 1828: Bachmann 2, 116 und ebd.: „Doch kann ich ganz ruhig dabei sein, da ich Nichts dazu gethan habe und es ganz als Gottes Schickung betrachten muß. Der Propst Neander sagte mir schon voraus, daß im Falle, daß der König und der Kronprinz ins Spiel gezogen würden, der Mini­ster kein Mittel unversucht lassen würde, um jede Beförderung und jede Gehaltserhöhung zu hindern.“ 72   Hengstenberg an Therese, 16. März 1828: Bachmann 2, 117; daß die Gerlachbrüder aus dem Umkreis des Kronprinzen von der Einladung Straußens erfahren haben, bedauert Hengstenberg (Hengstenberg an G.F.A. Strauß, 29. März 1828: GStA PK VI. HA Nl Strauß, Vater, Nr.  1, f.  19). 73   Vgl. Hengstenberg an Tholuck, Berlin 6. Juni 1828: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 123 (Original: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 912): „Der Kronprinz hat, wie es scheint, den Minister vermocht den Plan mit Bonn aufzugeben; doch ist alle Aussicht auf zukünftige Beförderung hier in Berlin, wenn nicht eine gänzliche Aenderung der Dinge eintritt, geschwunden.“

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sigen Universität, und zwar für das Fach der Exegese des Alten und Neuen Testaments“74. Die Entwicklung dorthin ist nicht leicht aufzuklären. Kein Zufall ist sicherlich, daß die entscheidenden Weichen gestellt wurden, als sich der Minister gerade im Urlaub in Bad Kissingen auf hielt.75 Auf der anderen Seite war es gerade die Aussichtslosigkeit von Hengstenbergs Lage, welche den Prozeß wieder ins Rollen brachte. Graf Heinrich von Schönburg hatte bei einer Durchreise im Juni 1828 Strauß gebeten, ihm einen geeigneten Mann für die Stelle des Konsistorialassessors, Superintendenten und Oberpfarrers in Glauchau vorzuschlagen.76 Strauß, der als intimer Kenner der Sache um die schwierige Stellung Hengstenbergs in Berlin wußte, kam sogleich auf den Gedanken, Hengstenberg die Stelle anzutragen. Kurzentschlossen sagte Hengstenberg Ende Juni zu, und reiste schließlich im August selbst ins Bad. Auf der Reise nach Karls­bad machte er in Glauchau Halt, um sich mit seiner neuen Wirkungsstätte bekannt zu machen.77 Zuvor hatte er allerdings den – bereits abwesenden Minister – darüber informiert, daß er einen Ruf „als Schönburgscher Consistorialassessor, Superintendent und Oberpfarrer in Glauchau [...] mit einem Gehalte von 1200 Rthl. Sächs. und freier Wohnung“ erhalten und auch bereits angenommen habe, weil er sich sicher gewesen sei, daß ihm das Ministerium nichts anderes würde bieten können. Gleichwohl habe ihn Propst Neander aufgefordert, den Minister hierüber zu informieren; darum bitte er um die Beantwortung der Frage, „ob Ew. Excellenz geruhen wollen, mich hier auf eine angemessene Weise anzustellen, wozu die noch stattfindende Vacanz in der theologischen Facultät die passendste Gelegenheit darbietet, oder ob Hochdieselben mir erlauben den auswärtigen Ruf anzunehmen?“78 Daneben verwies er auf die bereist am 6. August eingesandte erste Abteilung seiner ‚Christologie‘ als Ausweis für seine wissenschaftliche Befähigung. Die Signale, die Hengstenberg im Sommer 1828 aussandte, waren also durchaus uneinheitlich und spiegeln wahrscheinlich treffend seine innere Unentschiedenheit, denn einerseits war er nach Berlin aufgebrochen, um Professor zu werden, aber andererseits hatte er nach vier Jahren in Berlin immer noch keine feste Anstellung; 79 nicht zuletzt die geplante Vermählung machte eine solche 74

  S.o. Anm.  1. Am 6. Nov. wurde Hengstenberg die Ernennung offiziell bekannt gegeben (Bachmann 2, 134). 75   Das Urlaubsgesuch des Ministers an den König vom 20. Juni 1828 findet sich in: GStA PK, I. HA Rep.  89, Nr.  18712, f.  73; demnach plante er Mitte Juli nach Bad Kissingen zu fahren. 76   S. Bachmann 2, 121. 77   Hengstenberg an Therese, Karlsbad 15. Aug. 1828: Bachmann 2, 127 f. 78   Hengstenberg an Altenstein, Berlin 9. Aug. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  2 0, transkribiert bei Bachmann 2, 126 f. 79   Außerdem hatte ihm von Kamptz nahegelegt: „ich solle nur je eher je lieber machen, daß ich fortkomme“ (Hengstenberg an Tholuck, Berlin 6. Okt. 1828: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 123 f. [Original: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 939]).

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aber unabdingbar. Die Stellung in Glauchau war darum, sowohl was den Einfluß als auch was die Bezahlung anging, ein durchaus reizvolles Angebot.80 Nicht weniger unentschieden waren die Signale, die der Minister von Bad Kissingen aus auf den Weg brachte. Einerseits wiederholte er seine Ansicht, daß Hengstenberg eine feste Stellung in Berlin nicht gut bekommen würde und es daher „rathsam sein dürfte, ihn dem erhaltenen Rufe folgen zu lassen“. Andererseits überließ er die Erwägung der Angelegenheit seinen Räten, ja ermäch­ tigte sie sogar, im Falle eines einstimmigen Beschlusses eine abweichende Entscheidung in seinem Namen zu treffen.81 Die Überlegungen der Räte – zuständig waren der Altenstein vertretende von Kamptz und Propst Neander – gingen dann tatsächlich in eine andere Richtung: Neander vertrat die Ansicht, man könne Hengstenberg durch eine Gehaltserhöhung von dem Schritt abhalten; von Kamptz gestand ein, daß man zwar in jedem Fall einen Ordinarius würde anstellen müssen, da Bleek, der als Privatdozent in Berlin gelehrt hatte, inzwischen den Ruf nach Bonn angenommen hatte, 82 doch Hengstenberg brachte er dafür nicht in Vorschlag. So ließ man Hengstenberg wissen, daß man den König um eine Gehaltserhöhung bitten werde und daß er sich nach Vollendung der ‚Christologie‘ auch Hoffnungen auf Erfüllung seiner weitergehenden Wünsche machen könne.83 Doch in der gegenwärtigen Situation verfehlte die Hinhaltetaktik ihr Ziel. Hengstenberg wollte nun endlich Klarheit und setzte den Räten die Pistole auf die Brust: Er habe sich schon so weit mit den auswärtigen Herren eingelassen, teilte er ihnen nach der Rückkehr aus Karlsbad mit, daß er die Absage nur noch mit einer Beförderung im Inland begründen könne, im Klartext: Er werde nur bleiben, wenn er die freie Stelle an der Fakultät erhalte und die Entscheidung schnell getroffen werde.84 Das Schreiben – im Ministerium mehrfach mit dem Vermerk „Cito“ und „Citissimo“ versehen – verfehlte seine Wirkung nicht. Nach der Rückkehr des Ministers 85 ging alles ganz schnell: Am 20. Oktober, Hengstenbergs 26. Geburtstag, teilte Altenstein dem König mit, daß er sich die von verschiedenen Seiten geäußerte Ansicht, daß es unvernünftig wäre, Heng­ 80   Welche Möglichkeiten man von Glauchau aus hatte, zeigt sich am Wirken Andreas Gottlob Rudelbachs, der die Stelle schließlich 1829 an Stelle und auf Empfehlung von Hengstenberg annahm (vgl. zu ihm Kaiser, Rudelbach, 85–87). 81   Altenstein an seine Räte, Bad Kissingen 9. Aug. 1828: Bachmann 2, 129. 82   Votum von Neander und Kamptz, 2. Sept. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  22 f.; vgl. Bachmann 2, 129.133 f. 83   Ministerium, i. A. Kamptz und Neander, an Hengstenberg, 2. Sept. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  24. 84   Hengstenberg an das Ministerium, Berlin 20. Sept. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  28 85   Der Minister hatte den Urlaub wegen ungünstiger Witterung und Brustentzündung bis Mitte Oktober verlängert (Altenstein an den König, 12. Sept. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  89, Nr.  18712, f.  76) – er kam schließlich am 13. Okt zurück (Hengstenberg an Therese, 18. Okt. 128: Bachmann 2, 131).

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stenberg aus der einmal begonnenen Lauf bahn abziehen zu lassen, zu eigen gemacht habe. Er beantrage daher, es Hengstenberg durch die Beförderung zum ordentlichen Professor und die Bewilligung eines angemessenen Gehaltes zu ermöglichen, den auswärtigen Ruf abzuschlagen. Dabei verschwieg er nicht, daß er lieber einen älteren, bereits bekannten und bewährten Theologen auf die exegetische Professur berufen hätte.86 Eine Woche später folgte die Ernennung. Die Art und Weise, wie das Ministerium die Beförderung Hengstenbergs schließlich betrieb – einerseits sehr schnell, andererseits aber mit deutlichem Unwillen – und die Tatsache, daß sich die Räte, als Hengstenberg und der Minister im Bade weilten, trotz des Votums ihres Vorgesetzten nicht dazu durchringen konnten, Hengstenberg einfach ziehen zu lassen, weisen darauf hin, daß noch andere Finger im Spiel gewesen sein dürften. Schon im März hatte der Kronprinz, der sich infolge seiner eigenen religiösen Ansichten mit den erwecklichen Kreisen eng verbunden fühlte,87 seinen Unwillen über Altensteins Vorgehen im Fall Hengstenberg geäußert.88 Das Verhältnis zwischen dem Minister und dem Kronprinzen war ohnehin angespannt, Gerüchte kursierten, Letzterer arbeite darauf hin, Bunsen zum Kultusminister zu machen.89 Als sich der Kronprinz im Juli bei Strauß in Gegenwart des ganzen Hofes nach der Sache Hengstenberg erkundigte, bekam er zur Antwort, es werde „ihnen“ zweifellos gelingen, Hengstenberg aus Berlin zu entfernen, da dieser inzwischen ein lukratives Angebot aus dem Ausland erhalten habe.90 Darauf scheint sich der Kronprinz in einem „starken Brief “ beim König über Altensteins Amtsführung beschwert zu haben.91 Was danach geschehen ist, läßt sich nicht genau rekon­ struieren. Hengstenbergs Informationen zufolge soll der Kronprinz zunächst im Juli oder August eine erste und schließlich im September eine zweite Kabinettsordre des Inhalts erwirkt haben, daß Hengstenberg das offene Ordinariat erhalten solle.92 Unmittelbar danach verließ auch der Kronprinz Berlin und brach zu 86

  Altenstein an den König, 20. Okt. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  29 f. und teilweise bei Bachmann 2, 133, der ebd., 132 feststellt, der Entwurf des Schreibens stamme von Schulze; nach den Akten könnte er aber auch von von Kamptz stammen. 87   Vgl. Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 71–76; Wendland, Erweckungsbewegung, 60. 88   S.o. bei Anm.  71. 89   Vgl. Bachmann 2, 118. 90   Hengstenberg an Therese, 20. Juli 1828: Bachmann 2, 123 f. 91   Hengstenberg an Therese, 16. Nov. 1828: Bachmann 2, 138. 92   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 6. Okt. 1828: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 939, f.  1rv (Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 123 f. hat diese entscheidende Passage ausgelassen): „Unser lieber Kronprinz nahm sich die Sache zu Herzen, und soll – sichere Nachrichten habe ich selbst nicht – eine Kabinettsordre ausgewirkt haben, des Inhalts daß das Ministerium mich nicht gehen lassen solle. Das Ministerium that mir darauf Vorschläge, die aber so hinterlistig und nichtssagend waren, daß ich sie zurückwieß und erklärte ich habe mich mit der auswärtigen Behörde so weit eingelassen, daß der Rücktritt, falls man mich nicht zu dem erledigten Ordinariat befördern wolle, unmöglich sey. Nun legte sich der Kronprinz von neuem ins Mittel, es scheint, daß er eine zweite Kabinettsordre, noch am Tage vor seiner

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seiner schon lange geplanten Italienreise auf,93 jedoch nicht ohne zuvor Major von Röder beauftragt zu haben, Hengstenberg wissen zu lassen „daß er vollkommen beruhigt über meine [scil. Hengstenbergs] Angelegenheit abreise und daß er fest überzeugt sei, das Ministerium werde nach den neuen von ihm gethanen Schritten alle meine Wünsche erfüllen“94. Die wesentlichen Weichenstellungen fielen also in eine Zeit, in der Altenstein, Hengstenberg und der Kronprinz nacheinander nicht in Berlin waren. Kein Wunder, daß Hengstenberg das erstaunliche Ergebnis als Fügung Gottes betrachtete. Dies umso mehr, als das Kräftemessen zwischen Altenstein und dem Kronprinzen auch durchaus anders hätte ausgehen können. Schon im November – der Kronprinz war immer noch in Italien – scheint Altenstein wieder fest im Sattel gesessen und der König die Vorwürfe des Kronprinzen als gegenstandslos betrachtet zu haben. „Wenn dem Allen so ist“, schreibt Hengstenberg an Therese, „so zeigt sich die gnädige Hand Gottes, welche in meinen Angelegenheiten gewaltet hat, um so deutlicher. Kaum bin ich hereingekommen, so wird die Thür verschlossen.“95 In dieser Weise in seiner Stellung bestätigt, wies Hengstenberg nun selbstverständlich alle weiteren Versuche des Ministeriums von sich, ihn zur Aufgabe der Redaktion der EKZ zu bewegen.96 Bei Hengstenbergs Berufung zum ordentlichen Professor in Berlin waren also in der Tat politische Kräfte mit am Werk; die Beförderung wurde Teil der Auseinandersetzung zwischen dem Kronprinzen und Minister Altenstein, wobei sich der Kronprinz im entscheidenden Moment als der Durchsetzungsstärkere erwies. Dabei ist allerdings zu beachten: Den Beistand von höherer Stelle hatte Hengstenberg allererst darum nötig, weil er sich dem Ministerium als nicht gefügig gezeigt und mit seinen theologischen Ansichten nicht hinter dem Berg gehalten hatte. Hätte sich Hengstenberg im Sinne des Ministers entwik­ kelt, wäre er sicher, was seine Karriere anging, schneller vorangekommen. Letztlich sollte zwar Eylert recht behalten, der schon 1825 als Reaktion auf Hengstenbergs Lizentiatenthesen und angesichts der Gegner, die sich dieser dadurch zugezogen hatte, Hengstenberg zu der Betrachtung veranlaßte, „daß, wenn man auch von der einen Seite mein Fortkommen zu hindern suchen sollte, diese Bemühungen von der andren Seite ihren Gegensatz finden würden.“97 Dennoch muß es erstaunen, wie wenig Hengstenberg bei seiner KarriereplaAbreise ausgewirkt hat. Das hat Schrecken hervorgebracht; zwar habe ich noch nicht die offizielle Antwort des Ministers, der noch nicht zurück ist, aber der Propst Neander versicherte mich heute, daß der Beschluß schon gefaßt sey den Antrag beim Könige zu machen.“ 93   Vgl. Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 79–81. 94   Hengstenberg an Therese, 4. Okt. 1828: Bachmann 2, 130. 95   Hengstenberg an Therse, 16. Nov. 1828: Bachmann 2, 138 – dort auch die Informationen über Altenstein und den König. 96   Vgl. Bachmann 2, 137 f. 97   Hengstenberg an den Vater, Pfingsten [22. Mai] 1825: Bachmann 1, 232.

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nung auf politische Umstände Rücksicht nahm.98 Obwohl er die gegenläufigen Kräfte zu spüren bekam, unternahm er doch selbst kaum etwas, um auf sie einzuwirken. Ganz von seiner theologischen Sendung bewegt, kümmerte er sich wenig darum, daß sein Eintreten in die Berliner Erweckungsbewegung von dem Minister, der die erweckten Adligen für eine staatsgefährdende Partei hielt,99 als politisch relevanter Faktor betrachtet wurde.100 Allerdings bekam Hengstenberg noch lange zu spüren, daß er unter wenig günstigen Umständen zum Ordinarius geworden war. Es wurde ihm nämlich zunächst immer noch kein volles Professorengehalt eingeräumt.101 In wieweit dies tatsächlich den notorisch knappen Ressourcen des Kultusministeriums geschuldet war oder als Versuch gewertet werden kann, den ungeliebten Professor an der kurzen Leine zu halten, ist schwer zu entscheiden.102 Auf Letzteres weist die lange Dauer des Zustandes hin. Noch 1835 – inzwischen hatte es mit Twe­ sten bereits eine Neuberufung gegeben – machten Hengstenbergs vier Fakultätskollegen geschlossen den Minister darauf aufmerksam, daß ihr Kollege im Alten Testament immer noch kein Gehalt habe, das „für den Unterhalt einer Familie in hiesiger Stadt hinreichen könnte“103. Der Minister sah sich aber außer Stande, etwas daran zu ändern und antwortete, daß im Etat der – inzwi-

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  Selbst auf der Höhe des Konfliktes mit dem Ministerium veröffentlichte er Artikel in der EKZ, von denen er wußte, daß sie ihm „den letzten Rest der Gunst des Ministerii rauben“ würden (Brief ohne Adressatangabe, Apr. 1828: Bachmann 2, 85). 99   Vgl. Deuschle, Erweckung. 100   Vgl. auch das Urteil von Schaff, Germany, 301: „But he never courts the favor, or flatters the pride of the men in power. […] He is, in the proper sense of the term, a theological character, ruled by principle, and subordinating all temporal considerations to his conscientious convictions of truth.“ 101   Hengstenberg bekam zunächst nur knapp die Hälfte: 800 Taler (Friedrich Wilhelm an Altenstein, 27. Okt. 1828 [dem Vorschlag Altensteins folgend]: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  33). Die Aufstockung um 500 Taler im Vergleich zum bisherigen Einkommen wurde allerdings nicht aus dem Universitätsetat, sondern aus dem Fond für bedürftige Geistliche und Schullehrer genommen. 102   Vgl. die Bilanz der Ministeriumskasse oben Anm.  25 und Vogel, Altenstein, 103. 103   Theolog. Fakultät (Neander, Marheineke, Strauß und Twesten) an das Ministerium, 7. Aug. 1835: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  61.; vgl auch das Urteil über Hengstenberg ebd.: „Da derselbe ein bedeutendes Fach der theologischen Wissenschaft allein unter uns repräsentiert, da wir, wenn gleich jeder von uns in manchen wissenschaftlichen Punkten von ihm verschieden denkt, doch anerkennen müssen und es eben deshalb desto unbefangener aussprechen können, daß er einen bestimmten zur theologischen Entwicklung der Zeit gehörenden Standpunkt mit einer ausgezeichneten gründlichen Gelehrsamkeit, welcher auch selbst seine Gegner Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, und mit vorzüglichem Scharfsinn darstellt, so müssen wir uns desto mehr wünschen, daß ihm der für einen ordentlichen theologischen Professor bey unserer Universität sonst regelmäßig bestimmte Gehalt von 1500 rttl. gleichfalls zu Theil werden möge.“ Die Initiative zu dem Schreiben war von Neander als Dekan ausgegangen (Rundschreiben Neanders vom 7. Mai 1835: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  48rv).

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schen nach dem König benannten – Universität keine Fonds verfügbar seien.104 1841, unter Minister Eichhorn und 13 Jahre nach der Berufung, wurde erstmals die Besoldung angehoben, wenn auch noch immer nicht auf die üblichen 1500 Taler,105 und erst am 10. Nov. 1857 wurde Hengstenberg von Minister Karl Otto von Raumer das volle Professorengehalt mit Wirkung vom 1. Jan. 1858 gewährt.106 Daß sich 30 Jahre lang keine Gelegenheit geboten haben sollte, Hengstenbergs Gehalt anzupassen, erscheint zumindest unwahrscheinlich. Immerhin ist in Rechnung zu stellen, daß Hengstenberg selbst ab den 30er Jahren das Ringen um die Besoldung aufgab. Das hatte wahrscheinlich den einfachen Grund, daß sich durch die Heirat mit Therese von Quast die finanziell prekäre Lage entspannt haben dürfte. Des weiteren ist beachtenswert, daß die Ernennung zum Ordinarius Heng­ stenberg 1828 noch nicht die vollen Rechte eines Fakultätsmitgliedes mit Sitz und Stimme brachte. Diese sollte er – das war üblich – erst erhalten, wenn er eine theologische Promotion vorweisen konnte. Wenig später, am 11. Okt. 1828, wurde Hengstenberg von der theologischen Fakultät Tübingen, nachdem er eine kleine Schrift eingereicht hatte, zum Doktor der Theologie promoviert.107 Da es sich dabei um eine Promotion an einer auswärtigen Fakultät handelte, war sich die Fakultät nicht sicher, ob man sie anerkennen dürfe.108 Die Lage war insofern unklar, als der Entwurf der Fakultätsstatuten von 1819 die Promotion an der eigenen Fakultät vorschrieb, die Statuten aber 1828 noch nicht in Kraft getreten waren.109 Die Fakultät jedoch zeigte sich geneigt, die Promotion anzuerkennen, teils des Ausstellungsortes wegen – immerhin hatte Ferdinand Christian Baur die Urkunde unterzeichnet! –, teils aufgrund der Tat104

  Ministerium an die Theologische Fakultät, 3. Sept. 1835: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  62. 105   Eichhorn an Hengstenberg, 20. Dez. 1841: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  70. Die Erhöhung stand im Zusammenhang einer Erhöhung des Etats für die Universität, von der noch die Besoldung elf weiterer Professoren betroffen war (vgl. GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  6 Bd.  6, f.  32–37). Ein Jahr zuvor hatten die Fakultätskollegen das Ministerium noch einmal auf Hengstenbergs Situation aufmerksam gemacht (Theolog. Fakultät an das Ministerium, 8. Okt. 1840: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  68). Kurioserweise wurden aber 500 Taler des Hengstenbergschen Gehalts zunächst weiter aus dem Fond für bedürftige Geistliche und Schullehrer und später aus der General-StaatsKasse genommen; erst ab 1849 wurde alles aus dem Universitätsetat bezahlt (vgl. ebd., f.  79 und 88). 106   Raumer an Hengstenberg, Berlin 10. Nov. 1857: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  99. 107   Der theologische Doktortitel war seit Beginn des 19. Jhs. zu einem reinen Ehrentitel geworden, während das Lizentiat die Stelle des früheren Doktorats einnahm (vgl. Wischmeyer, Theologie Facultas, 66–73). 108   Theolog. Fakultät an das Ministerium, Berlin 12. Dez. 1828: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  45. – Aus den Fakultätsakten ergibt sich, daß Marheineke die Frage aufwarf (UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  27). 109   Offizell traten die Statuten der Berliner Fakultät erst 1838 in Kraft; vgl. zu deren Entstehungsgeschichte Wischmeyer, Theologiae Facultas, 30, Anm.  27.

4.1  Der Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein

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sache, daß Hengstenberg ja bereits einen philosophischen Doktortitel mitgebracht hatte. Das Ministerium aber lehnte dies strikt ab und wandte die noch nicht in Kraft getretenen Regelungen an: Ein an einer auswärtigen Fakultät Promovierter müsse sich durch eine eigens zu diesem Zweck gedruckte und von der Fakultät gebilligte Dissertationsschrift und eine öffentliche lateinische Rede „besonders introducieren“, erst dann würden ihm die vollen Rechte zuerkannt.110 Hengstenberg, der diese speziell auf ihn angewandte Regelung als Schikane empfand,111 ließ sich mit der geforderten Leistung Zeit und arbeitete zunächst weiter an der ‚Christologie‘ und den ‚Beiträgen zur Einleitung‘; dem Minister überreichte er demonstrativ pflichtbewußt jeden vollendeten Band. Im Sommer 1831 machte das Ministerium die zuständigen Universitätsgremien mit Nachdruck auf die immer noch fehlende Dissertationsschrift Hengstenbergs aufmerksam.112 Erst im Juli 1832 reichte Letzterer mit dem zweiten Band seiner ‚Christologie‘ schließlich auch die als Habilitationsleistung geforderte Dissertation mit dem Titel ‚De rebus Tyriorum commentatio academica‘113 ein. Zugleich bat er um die Dispensation von der lateinischen Rede, was ihm denn auch zugestanden wurde, so daß er im August 1832 endlich volles Mitglied der Fakultät werden konnte.114 Damit war sein Aufstieg abgeschlossen. Hengstenbergs Lauf bahn führte ihn also letztlich zu dem von ihm angestrebten Ziel, der Weg dorthin verlief aber keineswegs so „sanft“ und geradlinig, wie Lenz im Gefolge von Schwarz behauptet.115 Zutreffend ist lediglich die Beobachtung, daß bei Hengstenbergs Berufung die erweckten Kreise und insbesondere der Kronprinz ihre Finger im Spiel hatten. Dabei übersieht Lenz aber das Entscheidende: Hengstenberg war nicht deshalb auf Protektion durch die erweckten Adligen angewiesen, weil seine wissenschaftliche Qualifikation unzureichend gewesen wäre, sondern weil er sich öffentlich als Fürsprecher der Erweckten zu erkennen gegeben hatte und weil das negative Bild, das der Minister von jenen Kreisen hatte, Hengstenbergs wissenschaftliche Leistungen zweitrangig werden ließ. Die Vorteile, die er durch seine neuen Beziehungen hatte, wogen also nur die durch den Anschluß an die Berliner Erweckungsbewegung entstandenden Nachteile auf.116 110

  Das Ministerium an die theolog. Fakultät, Berlin 5. Febr. 1829: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  46. 111   Vgl. Bachmann 2, 139. 112   Das Ministerium an den Rekor und den Senat, 22. Juni 1831 und dass. an den Regierungsbevollmächtigten, 15. Aug. 1831: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  54 f. 113   Vgl. dazu Bachmann 2, 398. 114   Hengstenberg an Altenstein, Berlin 12. Juli 1832 und das Ministerium an die theolog. Fakultät und Hengstenberg, 21. Aug. 1832: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  56 f. 115   Siehe oben Anm.  3 bis 5. 116   Damit war eingetreten, was Hengstenberg gegenüber Tholuck geäußert hatte: „Vielleicht fühlst Du Dich gedrungen die Brüder in Berlin darauf aufmerksam zu machen, daß

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4  Hengstenberg und die Politik

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung Nachdem sich Hengstenberg in den Augen des Ministeriums bereits vor seiner Berufung zum Extraordinarius als unbequemer Zeitgenosse entpuppt hatte, mußte sich dieser Eindruck weiter verstärken, als der noch junge Professor die Redaktion der neu gegründeten Evangelischen Kirchenzeitung übernahm.117 Jedoch hoffte man auch hier anfangs noch, formend auf Hengstenberg einwirken zu können. Bevor die erste Ausgabe der EKZ erscheinen konnte, mußte das Vorhaben die Genehmigung der hierfür zuständigen Behörde und das bedeutet: des Kultusministeriums erhalten.118 Das erste Programm, das Hengstenberg zu diesem Zweck am 19. Mai 1827 vorlegte, wurde von Altenstein persönlich in scharfem Ton zurückgewiesen. Der Minister forderte Hengstenberg zu zahlreichen Korrekturen auf. Insbesondere nahm er an allen Wendungen Anstoß, die suggerierten, daß „die innere Einheit der evangelischen Kirche geschwunden sei“119. Hengstenberg hatte in dem Plan erklärt, daß es aufgrund des Einflusses, den Zeitschriften auf das Denken neuerdings ausübten, nötig sei, daß auch die evangelische Kirche ein Organ besitze, das ihre Wahrheit verteidige und ihrer Einheit diene, da die meistgelesenen Zeitschriften im Besitz „der Gegner des Evangelii“ seien. Altenstein befürchtete nun, daß durch das vehemente Eintreten für die Wahrheit allererst neue Spaltungen hervorgerufen würden.120 Hengstenberg hier wo einer die Gefahr für alle übernimmt, auch alle die Gefahr von dem einen abzuwenden trachten müssen“ (siehe oben Anm.  48). 117   Die Geschichte von der Entstehung der EKZ ist oft erzählt worden und muß hier nicht wiederholt werden, s. v. a. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 35–90; Bachmann 2, 61–104; Bonwetsch, Anfänge. Ein bisher unbekanntes Detail ist dem Briefwechsel mit Brandis zu entnehmen; demnach plante Hengstenberg zunächst, die Redaktion nur vorübergehend zu übernehmen: „Die Redaktion habe ich, unterstützt jedoch von einer [sic!] stehenden Committee, die den größten Theil der Arbeiten tragen muß übernommen. Sobald aber das Unternehmen in Gang gebracht worden, werde ich abtreten und einem anderen das mühsame zeitsplitternde Geschäft überlassen. Ich habe dabei an den Dr. Rudelbach in Coppenhagen gedacht.“ (Hengstenberg an Brandis, Berlin 30. März 1827: ThULB Jena, NL Brandis, Nr.  171). Darüber hinaus suchte Hengstenberg nicht nur Brandis, sondern mit seiner Hilfe auch die Bonner Lücke, Nitzsch und Sack als Mitarbeiter für die EKZ zu gewinnen (Hengstenberg an Brandis, Berlin 26. Mai 1827: ThULB Jena, NL Brandis, Nr.  172). 118   Aus den Akten (GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1) ergibt sich, daß innerhalb der Behörde außer dem Minister vor allem Nicolovius, also der Leiter der Abteilung der innerkirchlichen Angelegenheiten (vgl. zu ihm unten bei Anm.  617), mit dem Genehmigungsverfahren betraut war. Das Ministerium trat hier also in seiner Funktion als kirchliche Oberbehörde auf, die zugleich die staatliche Kirchenaufsicht wahrnahm. Im Falle von Vergehen gegen das Presserecht agierte es aber gemeinsam mit dem Innenministerium, das hierfür zuständig war. 119   Altenstein an Hengstenberg, Berlin 31. Mai 1827: Bachmann 2, Anhang, 14 (Nr.  4) (Original: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 [unpaginiert]) 120   Vgl. Hengstenbergs Plan vom 19. Mai 1827 und die Randbemerkungen des Ministers: Bachmann 2, Anhang, 9–13 (Nr.  3) mit Anmerkungen (Original: GStA PK, I.HA Rep.  76,

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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legte darauf eine überarbeitete Version des Planes vor, die weniger kämpferisch klang, sich inhaltlich aber nur wenig von dem ersten Entwurf unterschied.121 Ohne sein Mißfallen zu verbergen, gab Altenstein darauf hin seine Genehmigung, forderte aber eine strenge Einhaltung der durch das Programm gesteckten Grenzen, deren Überschreitung ihn zur Rücknahme der Einwilligung zwingen würde.122 Hengstenberg ließ sich dadurch keineswegs einschüchtern, hoffte vielmehr: „Für die Zukunft wird es uns wohl gelingen den hemmenden Einfluß Ministerii abzuweisen.“123 Hengstenberg hatte den Eindruck, der Minister plane „die Kirchenzeitung in eine Art von ministeriellem Blatte [zu] verwandeln“124. Deshalb erklärte er gegenüber Propst Neander schon früh, „daß wir zum Min[isterium] nicht anders stehen wollten wie die Hallesche Litt. Ztg.“, worauf der antwortete, „das ginge nicht an“125. Dennoch beharrte Hengstenberg darauf, die EKZ „ganz als Privatunternehmen“126 erscheinen zu lassen, und war daher von Anfang an darum bemüht, den Einfluß des Ministeriums so weit als möglich zurückzudrängen. Er hatte das Ziel, die EKZ als unabhängige, rein kirchliche Stimme von der Lenkung durch Behörden, von staatlicher Einflußnahme und von politischer Instrumentalisierung freizuhalten. Freilich war dies, wie sich im Folgenden zeigen wird, nur im Rahmen der seinerzeit üblichen Beschränkungen möglich.

III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 [unpaginiert]). – Die sich widersprechenden Sichtweisen – Hengstenberg sah in der Bekämpfung unevangelischer Lehren einen Dienst an der Einheit der ganzen Kirche, Altenstein und andere aber betrachteten diese Bemühungen als Parteiwesen – werden die Geschichte der EKZ noch lange begleiten (vgl. dazu oben 3. und unten 4.4.1). 121   So fanden sich im ersten Entwurf Äußerungen, die den Versuch, das neue evangelische Leben „als Mysticismus, Pietismus und Separatismus zu verschreien“ (Bachmann 2, Anhang, 9), in deutlicher Anspielung auf die Ministerialverfügung von 1825 als Begriffsverwirrung bezeichneten. Die neue Version sprach nun nur noch allgemein davon, daß es nötig sei „die verwirrten Begriffe zu entwirren, das reine Evangelische Christentum von seinen mannigfachen Abwegen abzuschneiden“ (ebd., 16). 122   Altenstein an Hengstenberg, Berlin 19. Juni 1827: Bachmann 2, Anhang, 19 f. (Nr.  7 ) (Original: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 [unpaginiert]). 123   Hengstenberg an Brandis, 26. Mai 1827: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  172. Vgl. auch Hengstenberg an Tholuck, Berlin 21. Juni 1827: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 788: „Er drohte mit der Zurücknahme seiner Genehmigung sobald der in der neuen Ankündigung ausgesprochene Geist u[nd] Plan nicht festgehalten werden [...]. Ich lasse mich dadurch nicht einnehmen und gehe ruhig meinen Gang fort“; bei Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 120 f. fehlen entscheidende Partien dieses Briefes. 124   Hengstenberg an Brandis, 26. Mai 1827: ebd. So auch in der Schilderung an Tholuck (s. vorige Anmerkung): „Man will uns zwingen eine Art von Organ des Ministerii zu werden [...]“. 125   Hengstenberg an Tholuck, Berlin 21. Juni 1827: AFSt Halle, Nl Tholuck, B III 788; gemeint ist die Hallesche Allgemeine Literatur-Zeitung. 126   Hengstenberg an Brandis, 26. Mai 1827: ThULB Jena, Nl Brandis, Nr.  172.

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4  Hengstenberg und die Politik

4.2.1  Umgang mit der Zensur Der Bewegungsspielraum der Presse war durch die seit den Karlsbader Beschlüssen geltenden Zensurvorschriften empfindlich eingeschränkt.127 In Preußen war am 18. Okt. 1819 das Zensuredikt von 1799 erneuert und gleichzeitig ein Oberzensurkollegium als oberste Instanz für Zensursachen errichtet worden.128 So richtete von Anfang an nicht nur der Minister ein kritisches Auge auf die EKZ, sondern sie war selbstverständlich auch einem Zensor unterstellt, der den Beiträgen vor dem Druck sein Imprimatur erteilen mußte.129 Hengstenberg wollte sich aber bei der Auswahl seiner Beiträge nicht von politischen Rücksichtnahmen bestimmen lassen. Darum geriet er mit seinen Vorstellungen von der Un­abhängigkeit der EKZ als eines kirchlichen Blattes ständig in Konflikt mit den Zensurbehörden. Dieser in den bisherigen Darstellungen über die EKZ so gut wie gar nicht berücksichtigte Aspekt und die damit verbundenen Konsequenzen sollen im Folgenden dargestellt werden.130 Schon früh sammelte Hengstenberg erste Erfahrungen mit den Zensurbehörden. Bereits sein allererster Artikel für die Kirchenzeitung mußte sich mehrere Abänderungen durch den Zensor gefallen lassen.131 Schon Ende 1828 rechnete Hengstenberg damit, daß die EKZ in Hessen verboten werde, weil er eine heftige, von ihm selbst verfaßte Kritik am dortigen Kurfürsten und an dessen Hofprediger veröffentlichen wollte. Daß er schon damals die journalistische Klaviatur beherrschte, beweist seine fast lakonische Voraussicht: „Die Folge wird wol die sein, daß die Kirchen-Zeitung in Hessen verboten, aber darum nur desto mehr gelesen wird, und daß wir, wenn wir nach Westfalen reisen, uns nicht in das Hessische wagen dürfen.“132 Soweit kam es dann aber doch nicht, da bereits die preußische Zensurbehörde, die durch die Karlsbader Beschlüsse verpflichtet war, auch den Schutz der „Würde oder Sicherheit anderer Bundesstaaten“133 in 127   Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 282 f.; Koszyk, Deutsche Presse, 54–65; der in Karlsbad beschlossene Entwurf des Preßgesetzes bei Sautter, Deutsche Geschichte 3, 9–11. 128   Koszyk, Deutsche Presse, 59. 129   Anfangs war Konsistorialrat Ritschl, der spätere pommersche Generalsuperintendent und Vater Albrecht Ritschls, als kirchlicher Zensor für die EKZ zuständig (vgl. E.L. v. Gerlach an Tholuck, 8. Juli 1827: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 138 und Bachmann 2, 84). 130   Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 50.496 geht auf die – wie sich zeigen wird – entscheidende Frage der Zensur mit kaum zwei Absätzen ein; auf die Bedeutung des Themas weist zu Recht mit Nachdruck Graf, Spaltung, 183 hin. 131   Bachmann 2, 84; es handelte sich um den Artikel ‚Ueber das innere Verhältniß der Evangelischen Kirche zu der Römischen‘, EKZ 1 (1827), Sp.  4–7.9–15.17–22.25–31.33– 39.41–44, Nr.  1–6. 132   Hengstenberg an Therese, Okt. 1828: Bachmann 2, 85. 133   § 4 des Entwurfs des Pressegesetzes von Karlsbad: Sautter, Deutsche Geschichte 3, 9.

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den täglichen Druckerzeugnissen zu gewährleisten, den Artikel um die Hälfte beschnitt.134 Zu einer großen Auseinandersetzung zwischen Hengstenberg und den Zensurbehörden kam es schließlich 1829. Weil sich an ihr sowohl das Verhalten der Behörden als auch Hengstenbergs Umgang mit ihnen paradigmatisch studieren läßt, soll sie etwas ausführlicher dargestellt werden. Anlaß war die Einführung des neuen Berliner Gesangbuches.135 Hengstenberg hatte dem Werk, an dessen Konzeption und Gestaltung Schleiermacher maßgeblich beteiligt gewesen war, von Anfang an den Krieg erklärt. Zwar wollte das Gesangbuch die einseitigen Übertreibungen seines aus der Auf klärungszeit stammenden Vorgängers, des ‚Mylius’‘136 , wieder rückgängig machen,137 für Hengstenberg zählte aber nur, daß es auch den alten ‚Porst‘138 ablösen sollte, der als pietistische Alternative auch nach Einführung des ‚Mylius’‘ weiterhin in vielen Gemeinden benutzt wurde.139 Er hatte darum einen Artikel verfaßt, der am 2. Dezember 1829 in der EKZ erscheinen sollte. Darin kritisiert er die vorgenommenen Modernisierungen der Lieder, die Zusammensetzung der Gesangbuchkommission und nicht zuletzt deren erklärtes Ziel, zwischen ‚Mylius‘ und ‚Porst‘ zu vermitteln.140 Der zu dieser Zeit für die kirchlichen Schriften zuständige Zensor, Konsistorialrat Brescius, verweigerte das Imprimatur und leitete den Artikel an den Oberpräsidenten weiter, von wo aus er dem Oberzensurkollegium zugeleitet wurde. Der Artikel ziele, so die Begründung, „ganz offenbar auf eine Aufwiegelung der Geistlichen und der Gemeinen gegen das neue Gesangbuch [...], dessen Titel doch besagt daß es mit Genehmigung eines hohen Ministerium für geistliche Angelegenheiten erschienen sei“141. Pikant war an dem Vorgang, daß Brescius selbst Mitglied der Kommission war, die das Berliner Gesangbuch erarbeitet hatte.142 Hengstenberg wandte sich darauf hin sofort an die Oberzensur134   Vgl. Bachmann 2, 170 Anm.  41 (zu S. 85). Er erschien schließlich unter dem Titel ‚Cassel‘ in der Nachrichtenrubrik in EKZ 3 (1828), Sp.  749–751, Nr.  94. 135   Vgl. dazu Seibt, Gesangbuch; Schmidt, Festgottesdienst, 173–263; Bachmann, Gesangbücher, 218–231. – Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 168 f. geht auf den Streit kurz ein, erkennt aber nicht dessen grundsätzliche Bedeutung, da sie nur einen kleinen Ausschnitt des Aktenmaterials, nämlich den aus dem Nl Hengstenberg, kennt. 136   Vgl. dazu Beutel, Auf klärung, 363 und ausführlicher Bachmann, Gesangbuch, 208– 217. 137   Vgl. Seibt, Gesangbuch, 216. 138   Vgl. dazu Bachmann, Gesangbuch, 164–186; Bachmann selbst war an der auch von Hengstenberg unterstützten Revision des Porsts Mitte des 19. Jahrhunderts beteiligt (ebd., 231–260). 139   So Hengstenbergs Eingabe an den König, 3. Febr. 1830: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 140   Ein Probedruck des Artikels findet sich den Akten des Oberzensurkollegiums: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 141   Brescius an Oberpräsident von Bassewitz, Berlin 25. Nov. 1829: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 142   Vgl. Seibt, Gesangbuch, 62; Schmidt, Festgottesdienst, 181.196 – er war dort wie in

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4  Hengstenberg und die Politik

behörde und bat um eine schnelle Entscheidung, ob das Urteil des Zensors aufrecht erhalten werde. Er wies insbesondere darauf hin, daß die Verzögerung eines auf ein aktuelles Ereignis zielenden Artikels seiner Ablehnung gleichkomme.143 Darauf schaltete sich auch der Minister ein und schlug vor, wegen der Befangenheit Brescius’ einen außerordentlichen Zensor zu berufen. Doch auch dieser, Oberkonsistorialrat Nolte, verweigerte dem Artikel das Imprimatur, da der Artikel darauf gerichtet sei, „den Samen des Mißtrauens auszustreuen u[nd] selbst die Personen der Bearbeiter u[nd] Herausgeber des neuen Gesangbuchs in Mißcredit zu setzen“144. Hengstenberg lenkte aber immer noch nicht ein, sondern brachte in einem weiteren Briefwechsel den Oberpräsidenten dazu, die Sache noch einmal zu prüfen. Nun wurde Bischof Eylert als Gutachter eingeschaltet. Dieser billigte zwar den Inhalt des Artikels ebensowenig wie seine Vorgänger, urteilte aber gleichwohl, daß er nicht unter die Bestimmungen der Zensurverordnung falle: Da sich die Verordnung nur auf politische Gegenstände und Anordnungen des Staates beziehe, müsse man der EKZ zugestehen, diesen und auch weitere Artikel über die Gesangbuchsache zu veröffentlichen.145 Damit ging der Fall zur Entscheidung an das Oberzensurkollegium zurück. Als Anfang Februar immer noch keine Entscheidung getroffen war, wandte sich Hengstenberg in einer dreiseitigen Immediateingabe direkt an den König. Er beklagte sich über das langwierige Verfahren und legte seine Ansicht dar, daß das neue Gesangbuch, wenn auch von den Behörden genehmigt, gleichwohl als Privatunternehmen anzusehen sei und man es daher auch kritisieren dürfen müsse.146 Der König solle den Zensurbehörden befehlen, daß sie das Imprimatur erteilen und, „ohne sich durch fremden Einfluß bestimmen zu lassen, der freien Discussion über das Neue Gesangbuch nichts in den Weg legen“ sollten.147 Nun ging es plötzlich schneller: Der König forderte das Oberzensurkollegium auf, die Sache unverzüglich zu erledigen. Auch Altenstein, der den Fall erneut auf den Schreibtisch bekam, signalisierte, daß das Ministerium den Artikel zwar mißbillige, im Falle einer positiven Entscheidung durch das Oberzensurkollegium aber nicht einzugreifen gedenke. Allerdings zeigte er sich sehr verärgert darüber, daß Hengstenberg offensichtlich bereits von Eylerts Votum der Funktion als Zensor Nachfolger Ritschls, der 1827 als Generalsuperintendent nach Pommern berufen worden war. 143   Hengstenberg an das Oberzensurkollegium, Berlin 9. Dez. 1829: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 144   Nolte an das Oberzensurkollegium, Berlin 17. Dez. 1829: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 145   Gutachten Eylerts, Potsdam 13. Jan. 1839: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 146   Zuvor war das Gesangbuch bereits aus den Reihen des Konsistoriums als „Privatunternehmen“ bezeichnet worden, wogegen sich Mitglieder der Gesangbuchkommission jedoch zur Wehr setzten (vgl. Schmidt, Festgottesdienst, 182). 147   Hengstenberg an den König, 3. Febr. 1830: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert).

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Wind bekommen und darüber hinaus dem König mit seiner Beschwerde auch ein Exemplar des umstrittenen Artikels hatte zukommen lassen.148 Am 11. Februar 1830 erhielt Hengstenberg dann Bescheid, daß seiner Beschwerde stattgegeben worden war, das Imprimatur also nicht hätte verweigert werden dürfen.149 Gleichwohl wurde der Artikel nie gedruckt. Anfang Februar war das Gesangbuch in den Berliner Gemeinden eingeführt worden, am 7. Februar beispielsweise im Dom.150 Außerdem hatte Hengstenberg inzwischen von Bunsen einen viel ausführlicheren Artikel über das neue Gesangbuch erhalten, der stattdessen gedruckt werden sollte.151 Am 13. Februar – offensichtlich nachdem die Zensurfrage geklärt war – veröffentlichte er zudem die Protestation einiger Mitglieder der Domgemeinde gegen das neue Gesangbuch.152 An dem Vorgang lassen sich hinsichtlich des Umgangs mit der Zensur zwei wichtige Punkte ablesen: Erstens war die Zensur für ein kirchliches Blatt, das auf aktuelle Diskussionen Einfluß nehmen wollte, schon aufgrund ihrer dilatorischen Wirkung ein erhebliches Hindernis. Aus diesem Grund zeigte sich Hengstenberg – zweitens – extrem hartnäckig bei seinem Einspruch gegen das Zensurverfahren, auch dann noch, als die Zeit des Artikels längst abgelaufen war. Dem Zensor sollte deutlich gemacht werden, daß er auch in Zukunft kein einfaches Spiel mit der EKZ haben würde. Dazu kommt, daß Hengstenberg, obwohl der Artikel verloren war, gleichwohl mit dem Gang der Dinge zufrieden sein konnte: Er hatte auf diese Weise Gelegenheit erhalten, seine Meinung über das Gesangbuch sowohl in gedruck148   Friedrich Wilhelm III. an das Oberzensurkollegium, Berlin 7. Febr. 1830 und Altenstein an das Oberzensurkollegium, 8. Febr. 1830: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). Gedruckte Probebögen waren nach der Zensurverordnung erlaubt. 149   Das Oberzensurkollegium an den Oberpräsidenten von Bassewitz und an Hengstenberg, 11. Febr. 1830 (Konzept): GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert): „Das Ober-Censur-Collegium muß die Beschwerde für gegründet erachten, da der erwähnte Aufsatz nichts enthält, was den Vorschriften der Censurverordnung vom 18ten October 1819 zuwider wäre und die öffentliche Prüfung und ungünstige Beurtheilung des erschienenen neuen Gesangbuch an und für sich zur Versagung des Imprimatur nicht genügend ist.“ 150   Vgl. Bachmann, Gesangbücher, 224; nach Bachmanns Informationen ist nur die Bethlehemsgemeinde ausgenommen. – Der Einführungstermin im Dom nach dem Schreiben des Vorsitzenden der Oberzensurkommission vom 6. Febr. 1839: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 151   Bunsen, ‚Ueber das neue Berliner Gesangbuch. Vier Schreiben an +++‘, EKZ 6 (1830), Sp.   21–126.129–134.249–255.257–264.321–327.329–334.449–463.465–469, Nr.  16 f. 32 f.41 f.57–59 (ab 24. Febr.). In einer Anmerkung zu dem Artikel weist Hengstenberg auf die dogmatischen Schwächen des Gesangbuches hin, aufgrund derer der Protest sich in erster Linie erhoben habe (ebd., Sp.  133 f.; Nr.  17). – Der Artikel Bunsens war eigentlich für Tholucks ‚Litterarischen Anzeiger‘ bestimmt gewesen und gelangte versehentlich in die EKZ (vgl. Witte, Tholuck, 167 f. Anm.). 152   EKZ 6 (1839), Sp.  97–102, Nr.  13. Die Protestierenden bitten darum, das neue Gesangbuch nicht einzuführen, sondern das alte mit einem Anhang neu zu drucken. Es werden Lieder aufgezählt, die durch das neue Gesangbuch verloren gingen oder deren Text durch Korrekturen verdorben worden sei. Die Protestation trägt keine Unterschriften.

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4  Hengstenberg und die Politik

ter als auch in brieflicher Form dem König persönlich vorzulegen; Altenstein hatte diesen Punkt sehr klar durchschaut. Was der Minister und die beteiligten Gutachter aber nicht wußten: Das ganze Unternehmen war ein Versuchsballon gewesen. Das geht aus einem Schreiben Hengstenbergs an E.L. von Gerlach vom 27. November 1829 hervor: „Ich tue jetzt alles Mögliche, um eine Opposition gegen das neue Gesangbuch hervorzurufen; allein bei der herrschenden Gleichgültigkeit wird wohl kaum etwas daraus werden. Ich habe vorläufig einen Aufsatz für die Kirchenzeitung verfaßt, von dem ich so eben die Korrektur erhalte. Er ist so beschaffen, daß er entweder die Zensur nicht passieren oder eine Strafe zuziehen wird. Zur ausführlichen Beurteilung habe ich das Machwerk an Raumer überschickt. Passiert der Vorläufer nicht die Zensur, so lasse ich sie als besondere Piece in einigen tausend Exemplaren im Auslande drucken.“153

Tatsächlich erschien die von dem Erlanger Professor Karl von Raumer erbetene Beurteilung des Berliner Gesangbuches dann auch nicht in der EKZ, sondern wurde unter dem Titel ‚Unpartheiisches Gutachten über das neue Berliner Gesangbuch‘ im Ausland, nämlich in Leipzig, gedruckt.154 Daran wird deutlich: Hengstenberg kämpfte zwar mit der Zensur um jedes Stück Boden, das man der EKZ streitig machen wollte, doch er hatte schnell gelernt, mit der Zensur zu leben und im Notfall auch Wege zu finden, auf denen er sie umgehen konnte. Die 30er Jahre über kam es immer wieder zu einzelnen Zusammenstößen zwischen Hengstenberg und den Zensurbehörden. Dabei wurde aber in der Regel strenger auf die Einhaltung der Zensurverordnung geachtet als bei der Gesangbuchsache. Zu Konflikten kam es nämlich nun vornehmlich bei Artikeln, die in das politische Gebiet überzugreifen schienen. Bei dem Stand des Verhältnisses von Kirche und Staat im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ließ es sich aber naturgemäß nur schwer entscheiden, wann ein Artikel tatsächlich als politisch problematisch gewertet werden mußte. Hengstenberg setzte jedenfalls alles daran, die Freiheit der kirchlichen Diskussion auch bei Fragen, die den Staat und die Regierung betrafen, möglichst weitgehend zu behaupten. So sollte 1831 einem Artikel von E.L. von Gerlach mit dem Titel ‚Ueber Staatsreligionen, Toleranz und Trennung von Kirche und Staat‘ das Imprimatur mit der Begründung verweigert werden, er berühre Gegenstände der Staatsverwaltung.155 Hengstenberg wandte dagegen ein, dann dürfe man das Verhältnis von Kirche und Staat in keiner Zeitschrift behandeln – in einer kirchlichen nicht 153   Hengstenberg an E.L. von Gerlach, Berlin 27. Nov. 1829: Wulfmeyer, Hengstenberg (Anhang), 308 = Bachmann 2, 331. 154   Zum Inhalt vgl. Seibt, Gesangbuch, 197–200; zu K. v. Raumer vgl. Weigelt, Rau­ mer. 155   Vgl. die Beschwerde Hengstenbergs an das Oberzensurkollegium, Berlin 19. Febr. 1831: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert) und Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 164 f., Anm.  4; die Schreiben des Oberzensurkollegiums finden sich im Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preußisches Ober-Zensur-Kollegium, der Gerlachsche Artikel in EKZ 8 (1831), Sp.  97–104.249–254.257–261, Nr.  13.32 f.

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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wegen seines politischen und in einer politischen nicht wegen seines kirchlichen Gegenstandes –, zudem sei die Frage nach den Grundlagen des Staates eine theologische, und eine Zensurbehörde, die einer kirchlichen Zeitschrift das Recht verweigern wolle, sich zum Staat zu äußern, huldige der „materialistischen“ Ansicht einer striken Trennung von Staat und Kirche; gerade diese Ansicht bekämpfe der Artikel aber und darum zerstöre die Zensurbehörde, indem sie die ihr widersprechende Meinung zensiere, „die Freiheit des Geistes u[nd] der Wissenschaft“. Am grundsätzlichsten ist jedoch der Einwand, „daß der ganze Aufsatz durchgängig einen theologischen, nicht einen politischen Charakter trage, und daß bei der Entscheidung, in welches Gebiet ein Aufsatz gehöre nicht sowohl der Gegenstand in Betracht komme, der auf verschiedene Weise unterschiedenen Gebieten angehören könne, sondern die ganze Behandlungsweise und Tendenz.“156

Es ist kennzeichnend für Hengstenbergs Ansicht von der Aufgabe der EKZ, daß er sich die theologische Beleuchtung politischer Themen unter keinen Umständen nehmen lassen wollte. Ein Rückzug auf rein innerkirchliches Terrain kam für ihn nicht in Frage. Darin bestärkte ihn von Halle aus als Autor des Aufsatzes Gerlach, der ihm schrieb, es sei „insbesondere für die EKZ sehr wichtig, die Preßfreyheit so weit Sie irgend jetzt vorhanden ist, auch wirklich practisch zu behaupten, u[nd] namentlich sich nicht ganze Gebiete ihrer Gegenstände durch solche Willkühr abschneiden zu lassen.“ Gäbe man dem Zensor zu leicht nach, würde er sich in Zukunft die Sache sehr einfach machen.157 Es waren also nicht nur die Liberalen, die für die Pressefreiheit eintraten. Gerlach lehnte die Zensur allerdings nicht grundsätzlich ab, sondern trat lediglich für ein Ende der Willkür und für Rechtssicherheit ein.158 Für Hengstenberg läßt sich dasselbe feststellen.159 Was aber den umstrittenen Aufsatz anging, so gab das Oberzensurkollegium schließlich der Sicht Hengstenbergs Recht: 156

  Hengstenberg an das Oberzensurkollegium, Berlin 19. Febr. 1831: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). In fast wörtlicher Übereinstimmung argumentiert er auch in seinem Schreiben an den Oberpräsidenten (Hengstenberg an v. Bassewitz, Berlin 15. Febr. 1831 [Entwurf ]: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Ober-Präsidium der Provinz Brandenburg); vgl. dort auch den Hinweis, der Artikel verteidige „nicht mit Vernunftgründen irgend eine politische Parthei-Ansicht, sondern er gründet sich durchgängig auf das Wort Gottes, diesem müßte man von diesem Standpuncte aus ebenfalls den Vorwurf des Hinübergreifens in das politische Gebite machen, da in ihm ja eine Entscheidung über alle, den Staat, und namentlich sein Verhältniß zur Kirche betreffenden Hauptfragen gegeben wird.“ 157   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 2. März 1831: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 56. 158   Doch selbst unter Friedrich Wilhelm IV. war sein „Ideal von Preßfreyheit“ noch „zu kühn“ (nach Kraus, Gerlach, 305). Als man ihm 1841 die Stelle des Präsidenten des Oberzensurkollegiums anbot, notierte er sich im Tagebuch: „Bisher Objekt der Zensur, soll ich nun deren Subjekt werden“ (Gerlach, Aufzeichnungen 1, 294). Die Besetzung kam daher auch nicht zustande (vgl. Kraus, Gerlach, 304–308). 159   Vgl. unten Anm.  219.

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4  Hengstenberg und die Politik

„Ohne dem Urteil des Censors überhaupt vorgreifen zu wollen, bemerken wir nur, daß es bei der engen Verknüpfung, die zwischen Kirche und Staat besteht, sich nicht als Grundsatz wird durchführen lassen, daß eine den Kirchen-Angelegenheiten gewidmete Zeitung keinen Gegenstand, der auf dem Gebiete des Staatslebens liege, berühren dürfe. Wir wünschen, daß Eure p. diese unsere Ansicht dem Censor gefälligst mittheilen möge.“160

Trotz oder gerade aufgrund dieses Votums der Oberzensurbehörde, demzufolge man keine generelle Regel an die Hand geben könne, wann sich ein Aufsatz zu weit in staatliche Angelegenheiten einmische, kam es auch weiterhin immer wieder zu Konflikten, die aber nicht alle im einzelnen dargestellt werden müssen. Problematisch waren durchweg Ausführungen, die sich auf die königliche Regierung, auf Staatsdiener oder die Regierung anderer Länder bezogen. 1838 sah der Zensor die „geweihte Person seiner Majestät des Königs“ verletzt, weil in einem Artikel die Bemühungen des Königs von Preußen als Haupt und Beschützer des Protestantismus angesichts der Konversionen in seinem Land vergeblich genannt wurden.161 1839 wurde ein Aufsatz zum Zankapfel mit der politischen Zensur, in dem über das Vorgehen der orthodoxen Kirche in Litauen gegen die Protestanten geklagt wurde.162 1841 wurden Hengstenbergs kritische Ausführungen zu den Jubelfeiern anläßlich der Thronbesteigung Friedrichs II. im Vorwort stark beschnitten, ein Aufsatz über Friedrich II. und die Kirche wurde gar nicht zugelassen.163 1844 wurde vom zuständigen Minister der Zensor eingeschaltet, weil in einem Artikel beleidigende Hinweise auf den Generalsuperintendenten der Provinz Sachsen gefunden worden waren.164

Problematisch waren zur Zeit Friedrich Wilhelms III. selbstverständlich auch Artikel, die sich mit der staatlichen Religionspolitik, speziell mit den Themen Union und Agende befaßten. 1834 erhielt die EKZ ein generelles Druckverbot für alle Artikel, die der offiziellen Sicht in diesem Bereich widersprachen. Per königliche Kabinettsordre wurde am 10. März der Antrag Altensteins geneh­ 160   Das Oberzensurkollegium an den Oberpräsidenten und Hengstenberg, Berlin 5. April 1831: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 161   Pischon [theolog. Zensor] an den Oberpräsidenten, Berlin 19. Nov. 1838: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 ; die für nicht druckfähig erklärte Wendung fehlt denn auch in dem Artikel (‚Die Katholische Kirche Frankreichs (Schluß)‘, EKZ 23 [1838], Sp.  582, Nr.  73). 162   Nach einem Auszug aus einem Brief Elsners, abschriftlich in: H. Funk an Bachmann, Lübeck 13. Aug. 1875: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (unpaginiert); ein Artikel dieses Inhalts findet sich in den Jahrgängen 1839 und 1840 nicht – wahrscheinlich durfte er tatsächlich nicht gedruckt werden. 163   Therese Hengstenberg an Karl Hengstenberg, 19. März 1841: Bachmann / Schmalenbach 3, 79 f.; Hengstenberg versuchte den Aufsatz wiederum in Leipzig drucken zu lassen, wo ihm aber auch das Imprimatur versagt wurde; vgl. auch die generelle Bemerkung ebd.: „Wilhelms Hauptunannehmlichkeit in diesem Winter waren Censurbeschwerden; noch nie ist ihm in kurzer Zeit so viel gestrichen worden, wie seit dem Herbst vorigen Jahres.“ 164   Eichhorn an von Arnim, 13. Dez. 1844: GStA PK, I. HA Rep.  77 (Abt.  II, Sekt.  9 ), Tit.  2 Specialia, Lit. K., Nr.  18 (unpaginiert).

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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migt, daß „dem Herausgeber der hiesigen evangelischen Kirchenzeitung die Aufnahme aller Artikel untersagt werde, welche die Agende, die Union und die bestehende kirchliche Verfassung, durch die darin aufgestellten Grundsätze oder durch eingestreute Ausfälle bekämpfen.“165 Wie wenig mit einem solchen Verbot auszurichten war, zeigte sich nicht zuletzt daran, daß der Minister Ende Mai den Zensoren gegenüber sein Befremden darüber ausdrückte, daß immer noch Artikel, die unter das Verbot fielen, in der EKZ erschienen.166 Bis zur Abschaffung der Zensur in Preußen 1848 respektive 1850 gehörten die Aus­ein­andersetzungen mit der Zensur zum alltäglichen Redaktionsgeschäft Hengstenbergs, auch wenn die Eingriffe nach dem Regierungswechsel 1840 deutlich weniger wurden. Die genaue Anzahl der Zensureingriffe läßt sich nicht ermitteln, da sich nur diejenigen Fälle mit Hilfe der Akten nachweisen lassen, in denen die Oberzensurbehörde eingeschaltet wurde. Die Akten der unteren Behörde, also des theologischen Zensors, der Woche für Woche die EKZ begutachtete, ließen sich nicht auffinden.167 Das überlieferte Aktenmaterial dürfte daher nur die Spitze des Eisberges zu erkennen geben, und es könnte durchaus zutreffend sein, was Kaufmann Elsner, der genauen Einblick in Heng­ stenbergs Tätigkeit hatte, 1831 in einem Brief an seinen Schwiegersohn ausrief: „Warum streicht man ihm [scil. Hengstenberg] Aufsätze und ganze Nummern??

165   So in der Denkschrift Altensteins vom 2. Nov. 1833, die vom König am 10. März 1834 hinsichtlich der EKZ mit dem Zusatz: „bei den benannten Artikeln muß es aber auch sein Bewenden haben“ genehmigt wurde: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IIIa Nr.  5 Bd.  1, f.  217r. 197rv; das Exemplar für Hengstenberg (Friedrich Wilhelm III. an Altenstein, 10. März 1834) in: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). Vgl. zum Hintergrund der Denkschrift und der Kabinettsordre Deuschle, Erweckung, 96–107. – Bereits 1833 hatte das Oberzensurkollegium die Minister Altenstein, Brenn und Ancillon aufgefordert, dem Zensor der EKZ eine Beschwerde zu erteilen, weil er einen der Union gegenüber feindlich eingestellten Artikel hatte durchgehen lassen, der die landesherrliche Autorität „aufs gröblichste und feindseligste“ verdächtige (Oberzensurkollegium an die genannten Minister, 28. Sept. 1833: GStA PK, I. HA Rep.  77 [Abt.  II, Sekt.  9 ], Tit.  2 Specialia, Lit. K., Nr.  18 [unpaginiert]). Der Artikel stammte von dem schlesischen Lutheraner E. Huschke (Erachten über das Bedenken eines ‚entschiedenen Lutheraners‘ [...], EKZ 13 [1833], Sp.  529– 557, Nr.  67–70). 166   Altenstein an Neander und Lamprecht, 31. Mai 1834: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). 167   Wahrscheinlich gehörten sie zu den Akten des Konsistoriums der Mark Brandenburg, von denen viele verbrannt sind, vgl. die Hauptregistratur zu GStA PK X. HA Rep.  40. Unter den wenigen Konsistorialakten aus der Zeit vor 1920, die sich im Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz befinden, sind sie nicht. Auch für die mittlere Zensurbehörde, die beim Oberpräsidenten der Provinz angesiedelt war, konnten keine entsprechenden Bestände ausfindig gemacht werden (Briefliche Auskunft vom Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam vom 17. Okt. 2007). – Möglicherweise wurde der Geschäftsgang der unteren Zensurbehörde auch gar nicht dokumentiert und das Material nach Erscheinen der jeweiligen Ausgabe geschäftsmäßig ausgeschieden; bei erteiltem Imprimatur wurden die Artikel ohnehin direkt an die Druckerei weitergeleitet.

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4  Hengstenberg und die Politik

Es würde manches Treffliche ans Tageslicht kommen – aber alles wo die Herren nur ein Compromis ahnen wird censirt und inhibirt.“168 Daraus folgt: Bei Untersuchungen zur EKZ muß in sehr viel stärkerem Maße als bisher geschehen berücksichtigt werden, daß Hengstenberg bei weitem nicht alles so veröffentlichen konnte, wie er es wollte: Artikel wurden gekürzt oder auch ganz gestrichen, darüber hinaus mußte er immer schon bei der Aufnahme von Artikeln das mögliche Einschreiten der Zensur mitberücksichtigen. Ein prominentes Beispiel für letzteres ist sein Verhalten im ‚Hallischen Kirchenstreit‘, der im Januar 1830 durch E.L. v. Gerlachs Angriff auf die Hallenser Professoren Gesenius und Wegscheider in der EKZ ausgelöst worden war.169 Nach Erscheinen des Artikels strengten die beiden Professoren sogleich ein gerichtliches Verfahren gegen Gerlach an. Als dieser in der EKZ vom 20. Februar schließlich auch noch über die Wirkung seines Artikels in Halle berichtete, sandte Gesenius an demselben Tag eine berichtigende Darstellung an Heng­ stenberg mit der Bitte, sie in seiner Zeitung zu veröffentlichen.170 Die Berichtigung erschien aber schließlich nicht in der EKZ, sondern in der Hallischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, und zwar mit dem Hinweis des Verfassers, Hengstenberg habe die Gegendarstellung nicht einfach so, sondern nur mit Bemerkungen des hallischen Korrespondenten, also Gerlachs, abdrucken lassen wollen. Darum erscheine sie hier und nicht in der EKZ.171 Der Leser mußte also davon ausgehen, Hengstenberg habe nicht die Größe besessen, auch den Gegner in seinem Blatt zu Wort kommen zu lassen. Tatsächlich aber wollte Hengstenberg Gesenius nur nicht das letzte Wort zur Sache in der EKZ überlassen. Dazu ist ein Blick hinter die Kulissen notwendig: Nachdem der Hal­lische Kirchenstreit zum Politikum geworden war, hatte der Minister die Sache schnellstens an sich gezogen und den Zensor beauftragt, ihm fortan alle die Angelegenheit betreffenden Aufsätze vorzulegen, damit er selbst über das Imprimatur entscheiden könne.172 Später wurde auch Hengstenberg 168

  Es ehre Hengstenberg, „daß Minister von Altenstein, Bischof Neander und Consorten ihm spinnefeind sind, und neulich noch der Bischof geäußert ‚mit der Kirchen-Zeitung müßte es ein Ende nehmen‘“ (Elsner an M. Funk, 30. Mai 1831, abschriftlich in: H. Funk [Elsners Tochter] an Bachmann, Lübeck 9. Nov. 1874: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann [unpaginiert]). Vgl. ders. (Adressat unklar), 18. Juni 1834, abschriftlich in: H. Funk an Bachmann, Lübeck 13. Aug. 1875: ebd.: „Auch weiß ich welche Daumschrauben [sic!] ihm die Censur verlangt“. 169   Vgl. dazu oben 2.1.1 und unten 4.3.2. 170   Gesenius an Hengstenberg, 20. Febr. 1830: Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 134–138, Anm.  2 ; er nahm dabei Bezug auf Gerlachs Artikel unter der Rubrik Nachrichten EKZ 6 (1830), Sp.  117 f., Nr.  15 (20. Febr.). 171   S. ALZ 46 (1830), Ergänzungsblätter, Sp.  161–182, Nr.  32–23. 172   Das erfuhr Hengstenberg vom Minister, nachdem er sich über das Vorgehen des Zensors beschwert hatte. Im gleichen Schreiben erhielt der Herausgeber einen Veweis, weil er dem Zensor „mit der gesetzwidrigen Uebergehung der Zwischenbehörden und sofortiger Beschwerde bei des Königs Majestät“ gedroht habe (Altenstein an Hengstenberg, Berlin 7. Mai 1830: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt.  Preuß. Kultusministerium, f.  22r); über sein

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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offiziell mitgeteilt, eine weitere Verhandlung über die Wahrheit oder Unwahrheit des Gerlachschen Berichts in den öffentlichen Blättern sei während der Dauer der Gerichtsverhandlungen untersagt.173 Gesenius war aber schon bald nach Ausbruch der Affäre von Bischof Neander und dem zuständigen Zensor, Dr. Brescius, geraten worden, einen Artikel zur Richtigstellung an die EKZ zu senden.174 Als er nun tatsächlich, am 20. Februar, die Berichtigung einreichte, saß Hengstenberg in der Zwickmühle: Gesenius’ Artikel würde sehr wahrscheinlich vom Minister zugelassen werden, eine Gegendarstellung aber nicht. Er bat also Gesenius, den Artikel eine Woche später gemeinsam mit der Sichtweise des hallischen Berichterstatters veröffentlichen zu dürfen. Auf diese Weise hoffte er, beides gemeinsam durch die Zensur zu bekommen.175 Dies aber lehnte Gesenius ab und veröffentlichte seinen Artikel in dem von ihm mitherausgegebenen Blatt in Halle.

4.2.2  Schutz der Autoren Es war ein Grundsatz der EKZ von Anfang an, daß bei allen Aufsätzen, „wenn nicht das Gegentheil gewünscht, oder eine bestimmte Chiffre gewählt wird,

Schreiben an den Zensor und den Minister berichtet Hengstenberg an Gerlach, auch über sein Ansinnen, sich an den König zu wenden, „der ja schon in der Gesangbuchsache gezeigt hat, daß er will, daß dem Worte freier Lauf gelassen werde“ (Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 6. Mai 1830: Gerlacharchiv Erlangen, Fasz. Ax). – Die Instruktion an den Zensor hatte Altenstein bereits am 23. Febr. ergehen lassen; das ist dem Vermerk des Zensors auf einem Imprimaturbescheid vom 18. Juli 1833 zu entnehmen, aus dem zugleich hervorgeht, daß sie nach drei Jahren immer noch Anwendung fand (Entscheidung über das Imprimatur für Nr.  58, Berlin 18. Juli 1833 [Dr. Brescius]: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 [unpaginiert]); vgl. auch Bachmann 2, 203 f. 173   Erlaß Altensteins an Hengstenberg, Berlin 15. März 1830: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt.  Preuß. Kultusministerium, f.  2 0r; das Reskript erhielt auch der Oberpräsident der Provinz Sachsen (s. Bachmann 2, 203 f.). 174   So schildert Elsner den Vorgang sicherlich parteiisch, aber trotzdem glaubwürdig seinem Schwiegersohn (Elsner an M. Funk, 5. Aug. 1830, abschriftlich in: H. Funk an Bachmann, Lübeck 9. Nov. 1874: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann [unpaginiert]). Vgl. auch Bachmann 2, 203 f., der ebd., Anm.  * die entscheidenden Passagen aus Elsners Brief abdruckt. 175   Dazu schickte Hengstenberg Gesenius’ Bericht bereits am 20. Febr. an Gerlach (Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, 20. Febr. 1830: Gerlacharchiv Erlangen, Fasz. Ax); Hengstenberg war zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht über das genaue Prozedere der Zensur in der Hallischen Sache informiert, wußte aber sicherlich auch so, womit er zu rechnen hatte. Am 1. Mai beschwerte sich Hengstenberg beim Minister und bat darum, dem Zensor genauere Vorschriften zu machen, da dieser den Erlaß vom 15. März (s. Anm.  173) auf immer mehr Artikel ausdehne (Hengstenberg an Altenstein, Berlin 1. Mai 1830: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preuß. Kultusministerium, f.  24r–25r). Erst darauf erfuhr Hengstenberg, daß es eine weitergehende Instruktion vom 23. Febr. gab (s. Anm.  172).

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4  Hengstenberg und die Politik

Anonymität beobachtet werden“176 soll. Wollte man zu einer Zeit, in der die freie Meinungsäußerung strenger Aufsicht unterlag, eine freie und offene Diskussion ermöglichen, war dies zum Schutz der Autoren nur durch Sicherstellung der Anonymität möglich. Insofern war es nichts Ungewöhnliches, daß die Beiträge in der EKZ in aller Regel anonym erschienen. Auch in der Darmstädter Allgemeinen Kirchen-Zeitung, in Röhrs Kritischer Prediger-Bibliothek oder in der Hallischen Allgemeinen Literatur-Zeitung waren viele Artikel nicht namentlich oder nur mit Initialien gekennzeichnet. Die Frage, ob in einer Zeitschrift anonym oder mit Namensnennung veröffentlicht wurde, hing selbstverständlich vor allem mit dem Charakter des Blattes und der Beiträge zusammen: Die Autoren von wissenschaftlichen Artikeln wollten in der Regel bekannt werden. Doch schon bei Rezensionen war die Sachlage nicht mehr so eindeutig: Sie erschienen teils anonym, teils personalisiert. Je stärker eine Publikation auf aktuelles Tagesgeschehen Bezug nahm, desto wichtiger war die Anonymität. Die Tatsache, daß die EKZ ihren Autoren Anonymität zusicherte, weist also darauf hin, daß sie eine Plattform für den von staatlichen Eingriffen freien kirchlichen Meinungsaustausch bieten wollte, bei dem auch aktuelle umstrittene Themen aufgegriffen werden konnten. Die Autoren sollten durch die Anonymisierung der Beiträge vor dem Zugriff der Behörden oder anderer Interessengruppen geschützt werden. Für Hengstenberg als Herausgeber eröffnete sich durch diese Grundsatzentscheidung allerdings ein weiteres Konfliktfeld. Es wandte sich nämlich wiederholt der Minister, der sich die EKZ regelmäßig vorlegen ließ,177 an Hengstenberg, um die Autoren bestimmter Artikel in Erfahrung zu bringen. In diesen Auseinandersetzungen zeigte sich der Herausgeber aber nicht weniger renitent als im Umgang mit der Zensur. 1830 hatte sich Hengstenberg im Hallischen Kirchenstreit, durch ministerielles Reskript dazu aufgefordert, schließlich bereit erklärt, den Verfasser des Berichtes über die Hallenser Theologen Gesenius und Wegscheider zu nennen, nachdem er sich auf gerichtliches Ersuchen zunächst geweigert hatte.178 Die Gerlachsche Verfasserschaft war zu diesem Zeitpunkt ohnehin überall bekannt. Das Manuskript des Berichtes konnte er dem Minister jedoch nicht zur Verfügung stellen, da er – wie er es Gerlach gegenüber darstellt – „das Mssc. [Manuskript] der KZ [scil. Kirchenzeitung] nicht aufzubewahren pflege“179. In an176   So in Hengstenbergs erstem Aufruf mit der Bitte um Einsendung von Beiträgen: Bachmann 2, Anhang, 6 (Nr.  2a). 177   Vgl. Bachmann 2, 86 und die Vorlageverweise sowie die Rechnungen in den Ministeriumsakten: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1. 178   Bachmann 2, 198 f.; vgl. den Erlaß des Ministeriums an Hengstenberg, Berlin 22. Febr. 1830: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preuß. Kultusministerium; auch Gesenius hatte den Verfasser von Hengstenberg erfragt, vgl. Gesenius an Hengstenberg, 8. Febr. 1830: Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 134–137, Anm.  2 . 179   Hengstenberg an E.L. von Gerlach, Berlin 20. Febr. 1830: Gerlacharchiv Erlangen,

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deren Fällen wehrte sich Hengstenberg erfolgreicher gegen die Forderung nach Auf hebung der Anonymität. Im Herbst 1830 hatte der Artikel ‚Merkwürdiger Versuch einer Kirchentrennung‘ für Aufregung gesorgt.180 Er berichtet von einer Bittschrift, in der von den Fürsten die Möglichkeit des Kirchenaustritts erbeten wird, weil sich die Unterzeichnenden nicht mehr im Einklang mit den kirchlichen Lehren befänden, ja sich nicht einmal mehr als christlich bezeichnen könnten. Der Verfasser des Artikels lehnt diesen Schritt zwar ab, lobt aber das Verhalten der Bittsteller: Ihnen sei der Vorzug zu geben vor vielen anderen, die, obwohl sie an ihren kirchliche Lehrämter festhalten wollten, am Untergang der Kirche mitarbeiteten. Als Hengstenberg vom Minister aufgefordert wurde, den auswärtigen Verfasser zu nennen, weigerte er sich und stellte sich schließlich auf den Standpunkt, der Artikel sei in einer Weise überarbeitet worden, daß sich nicht mehr mit Sicherheit sagen lasse, was ursprünglich von dem auswärtigen Verfasser stamme und was nicht. Die umstrittene Stelle sei aber mit Sicherheit von der Redaktion eingerückt worden, daher sei der Herausgeber als der Verfasser anzusprechen. Hengstenberg verteidigt darauf ausführlich und auf eigene Rechnung die Behauptung, daß es Personen gebe, „die mit dem Chri­ stenthum zerfallen sind, ohne bis jetzt auf hören zu wollen, Mitglieder der kirchlichen Gemeinschaft zu sein“181. Das Vorgehen Hengstenbergs, sich Artikel richtiggehend anzueignen, um den Verfasser nicht nennen zu müssen, findet sich mehrfach,182 ist aber nur eine Fasz. Ax; vgl. ebd.: „Durch Gesenius sind Sie hier allgemein als Verf. bekannt geworden.“ Aus dem Antwortschreiben (Gerlach an Hengstenberg, Halle 22. Febr. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 33) ergibt sich, daß Hengstenberg in Gerlachs Artikel einige Einschübe eingefügt hatte, die der Autor nun als solche kennt­lich gemacht wissen wollte. 180   EKZ 7 (1830), Sp.  657–664, Nr.  83, er stammte von Asmussen aus Kiel (vgl. Kriege, Evangelische Kirchen-Zeitung 2, 14). 181   Hengstenberg an Altenstein, 19. Febr. 1831: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). Das ausführliche Schreiben bietet in einer Beilage namentlich gekennzeichnete Zitate von führenden Rationalisten als Beleg für die Richtigkeit der Behuaptung, u. a. von Wegscheider, Röhr, Schulz und Cölln. Charakteristisch für ihre Richtung sei, daß sie Gerlach als „‚Fanatiker‘ und ‚Irrlehrer‘“ bezeichnet hätten, „nur weil er von den ‚ewigen göttlichen Wahrheiten‘, welche die Evangelische Kirche in ihren Bekenntnisschriften anerkenne, gesprochen hatte“ (ebd., Beilage, 11). 182   Im Fall eines Artikels über den Schaff hausener Antistites Hurter sorgte das Vorgehen für größeres Aufsehen, wie sich einem Tagebucheintrag Varnhagen von Enses vom 23. Febr. 1841 entnehmen läßt (Ders., Tagebücher 1, 275 f.): „Antistites Hurter in Schaff hausen erklärt in der ‚Allgemeinen Zeitung‘‚ den hiesigen Professor Hengstenberg, Herausgeber der ‚Evangelischen Kirchenzeitung‘, für einen ‚Afterredner, Lügner und Verleumder, trotz seines im Munde geführten Christenthums‘ u.s.w. Er hatte auf die andringende Frage, wer der Verfasser eines gegen Hurter gerichteten Aufsatzes sei, sich selbst dafür ausgegeben, um den rechten nicht zu verrathen.“ Hengstenberg erklärt nach den Angriffen in der Allgemeinen Zeitung öffentlich, daß der Artikel erst in der Redaktion seine jetzige Gestalt erhalten habe und der Artikel veröffentlicht worden sei, obwohl der Korrespondent es zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr gewünscht habe (Hengstenberg, Erklärung, EKZ 28 [1841], Sp.  149 f., Nr.  19).

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4  Hengstenberg und die Politik

Weise des Autorenschutzes. In einem anderen Fall übernahm es Hengstenberg schlicht selbst, die Vorwürfe des Ministers gegen einen Artikel zu entkräften, und stellte sich schließlich ganz auf den juristischen Standpunkt, die Preisgabe der Namen von Autoren wäre nur möglich, wenn es dafür eine feste Rechtsgrundlage gäbe. Er, der Herausgeber, sehe sich so lange außer Stande, „der Aufforderung zur Nennung des Verfassers zu entsprechen, bis ihm eine gesetzliche Bestimmung bekannt geworden, welche ihn dazu verpflichtet. Von dem Vorhandenseyn einer solchen hat er [scil. der Herausgeber] bis jetzt auf seine mehrfachen Erkundigungen nichts erfahren können. Nun ist aber nach seiner Ueberzeugung das Verhältniß des Herausgebers zu seinen Mitarbeitern ein Rechtsverhältniß. Der Einsender theilt dem Herausgeber aber seinen Namen als ein Geheimniß mit, über das dieser nicht nach Belieben verfügen kann. Nur eine öffentlich bekannt gemachte Verordnung kann den Herausgeber berechtigen, der vorgesetzten Behörde dieß Geheimnis nicht vorzuenthalten. Denn wenn eine solche vorhanden ist, dann weiß der Einsender vorher, daß er in dieser Beziehung keine Ansprüche an den Herausgeber zu machen hat.“183

In einer geharnischten Antwort machte der Minister Hengstenberg darauf aufmerksam, daß er dann die Konsequenzen dieser Auffassung tragen müsse und sich selbst „als Selbstvertreter solcher Zeitungsartikel“ der Rüge bloßstelle. Außerdem sehe er sich durch Hengstenbergs Schreiben in seiner Ansicht bestätigt, „daß Sie, als ordentlicher Professor der Theologie an hiesiger Universität, sich einen Ihrer Berufsstellung und Ihren Kräften angemesseneren Gegenstand der Thätigkeit hätten erwählen sollen, als dieses, Ihre Zeit zersplitternde und Ihrer amtlichen Wirksamkeit keineswegs förderliche Geschäft.“184

Den Verfasser des Artikels aber erfuhr der Minister nicht.185 Daran wird deutlich, daß er in der Tat keine Rechtsmittel in der Hand hatte, Hengstenberg zur Herausgabe der Namen zu zwingen. Umso wichtiger war es aus Sicht der Behörden, daß die Zensur gute Arbeit leistete. 183   Hengstenberg an Altenstein, 23. Nov. 1834: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). Der betroffene Artikel (‚England‘, EKZ 15 [1834], Sp.  702– 704, Nr.  88) berichtete über die Gründung einer „Diöcesangesellschaft zur Erbauung von Kirchen“ in England und wollte zu weiteren, von den Gemeindegliedern ausgehenden Kirch­ bauaktivitäten in Berlin ermuntern; der Minister faßte ihn aber so auf, als würden die Bemühungen des Königs um Kirchenneubauten herabgesetzt; vgl. zu den in dem Artikel angesprochenen Kirchbauaktivitäten Friedrich Wilhelms III. Röper-Vogt, Parochialkonzeptionen, bes. 134–153. 184   Altenstein an Hengstenberg, 12. Dez. 1834 (Konzept): GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). 185   Der Aufsatz stammte von Otto von Gerlach, der sich zu dieser Zeit um die Pfarrstelle an der neuen Elisabethenkirche beworben hatte. In einem Nachruf auf Gerlach heißt es später, daß dieser die Stelle nicht bekommen hätte, wäre es Hengstenberg nicht gelungen, ihn als Verfasser zu verschweigen (EKZ 45 [1849], Sp.  937–943.945–955, Nr.  101 f. – der Nachruf stammt von E. Meuss [s. Christiani, Gerlach, IV]; vgl. auch Röper-Vogt, Parochialkonzeptionen, 155 mit Anm.  4).

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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Den dargelegten Beispielen läßt sich Hengstenbergs grundsätzlicher Standpunkt entnehmen: Er stellte sich immer schützend vor seine Autoren und war in der Konsequenz bereit, die negativen Folgen auf sich zu ziehen. Daß er sich auch und gerade vom Minister nicht in die Karten schauen ließ, gehörte für ihn zur journalistischen Freiheit. Im übrigen war das Tauziehen um die Namensnennungen, wie die Rüge des Ministers zeigt, Teil des Kleinkrieges, den Altenstein und Hengstenberg über Jahre hin führten und der sich bereits in der Besoldungsfrage zeigte. Nach Altensteins Tod 1840 hörten die Streitereien mit dem Ministerium dann auch sogleich auf, während der Kampf mit der Zensur anhielt.

4.2.3  Verteidigung in Gerichtsprozessen Neben der Einflußnahme durch die Zensur und durch den Minister gab es noch einen dritten Weg, auf dem die journalistische Arbeit eingeengt werden konnte: den des Gerichtsprozesses.186 Dabei kamen unterschiedliche Kläger in Frage: Zum einen gab es Beleidigungsklagen auf Initiative von Privatpersonen. 1847 wurde Hengstenberg „wegen schwerer wörtlicher Beleidigung“ mit „vierzehntägigem Gefängniß oder mit zwanzig Thalern Geldbuße nach seiner Wahl“ bestraft,187 weil in einem Artikel über ‚Die Versammlung von protestantischen Theologen zu Halle‘ die Klagenden, Prediger Meinecke und Hofprediger Fräßdorff in Halberstadt, beleidigt worden seien. 188 Zum anderen wurden aber auch Anklagen von Amts wegen erhoben. Diese waren einschneidender. 1854 und 1860 wurde Hengstenberg „wegen Preßvergehens“ zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt. Das war zu dieser Zeit jedoch nichts Ungewöhnliches. Die Prozesse wegen Preßvergehens müssen im 186

  Darauf macht auch Weichert, Hengstenberg, 207 f. aufmerksam.   Urteil des Kammergerichtes vom 22. Apr. 1847, das dem Ministerium am 3. Mai zugesandt wurde: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). – Auf den Prozeß von 1846/47 bezieht sich wahrscheinlich auch das Stadtgericht in dem Verfahren von 1860, in dessen Urteil ohne nähere Angabe von einer Bestrafung „wegen Preßvergehens“ im Jahre 1846 die Rede ist (Actenstücke, EKZ 67 [1860], Sp.  972, Nr.  82); nur auf dem Urteil von 1860 beruht die Darstellung von Weichert, Hengstenberg, 206 f. – Außerdem wurde 1855 eine Untersuchung wegen Verleumdung gegen Hengstenberg, seine Frau und seinen Sohn Immanuel eingeleitet, die aber nicht auf Aktivitäten der EKZ zurückging und zudem – soweit feststellbar – mit einem Freispruch endete, vgl. Staatsanwalt an das Ministerium, Berlin 15. Nov. 1855: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  100; vgl. ebd., f.  101. 188   Der – nicht von Hengstenberg verfaßte – Artikel, EKZ 38 (1846), Sp.  343 f., Nr.  39 berichtet über eine Versammlung der Lichtfreunde, auf der Fräßdorff eine Einladung für das nächste Treffen ausgesprochen habe; Meinecke wird nicht erwähnt, er könnte sich aber hinter dem Halberstädter Prediger verbergen, von dem erzählt wird, er habe den Toast: „Keine Symbole – aber noch ein Glas Wein!“ (ebd., Sp.  344) ausgesprochen. Schon im Laufe des Verfahrens merkt Minister Eichhorn kritisch an, wie man eine Beleidigungsklage anstrengen könne, ohne daß klar sei, wer der Beleidigte sei. 187

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4  Hengstenberg und die Politik

Zusammenhang der neuen Situation nach 1848 betrachtet werden. Im Jahr der Revolution hatte man die Zensurvorschriften, die seit den Karlsbader Beschlüssen existierten, aufgehoben. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 schrieb dies fest. Doch blieben die Konzessionspflicht für die Presse und andere die Kontrolle über die Presse gewährleistende Maßnahmen erhalten.189 Man suchte sich staatlicherseits weiterhin Einflußmöglichkeit auf die Presse zu sichern, wenn auch mit anderen Mitteln: Hatte man vor 1848 schon das Erscheinen fraglicher Artikel unterbunden, so ließ man sie nach 1848 erscheinen, überzog die Zeitungen dann aber mit Prozessen, indem man ihnen gesetzeswidriges Verhalten nachzuweisen suchte.190 So wäre der Artikel ‚Zur Beurtheilung der neuesten kirchlichen Ereignisse in Rheinbaiern‘191, der 1854 in der EKZ erschien, vor dem Revolutionsjahr sicherlich in ähnlicher Weise wie der Artikel über Hessen von 1828 von der preußischen Zensur gestrichen worden. 1854 konnte er erscheinen. In ihm ging Hengstenberg auf die Verhandlungen der Speyrer Generalsynode von 1853 ein und verurteilte insbesondere die Erhebung der Confessio Augustana variata zum Unionssymbol192 mit scharfen Worten. Darauf wurde die EKZ per Gerichtsbeschluß im ganzen Königreich Bayern verboten und Hengstenberg dort zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe und einer Geldbuße verurteilt.193 1860 kam es auch in Preußen zu einem Prozeß gegen Hengstenberg. Der Staatsanwalt erhob Klage vor dem Königlichen Stadtgericht in Berlin, weil es der Kirchenzeitung als rein wissenschaftlichem Blatt nicht erlaubt sei, politische und soziale Fragen zu verhandeln. Die EKZ habe aber in verschiedenen Ausgaben genau dies getan. Zum Beweis listete die Anklage Auszüge aus dem Vorwort der EKZ von 1860 auf, wo Zeitereignisse wie die Vertreibung der italienischen Fürsten, der neue Entwurf des Ehescheidungsgesetzes, die Zivilehe, die Behandlung kirchlicher Dissidenten, die Judenemanzipation, die Sonntagsfeier und anderes besprochen worden waren. Daß der Prozeß einen politischen Hintergrund hatte, zeigt sich daran, daß auch alle Stellen, in denen von einem negativen Einfluß der „Neuen Ära“ die Rede war, aufgezählt wurden.194 Damit wiederholte sich der Kampf um die Frage der Reichweite kirchlicher bzw. theologischer Aussagen, der erstmals 1831 mit der Zensurbehörde ausgefochten worden war. Ausgangspunkt war aber nun das neue Pressegesetz vom 12. Mai 1851. Darin wurde zwischen solchen Zeitschriften, die wissenschaftliche Fra189

  Vgl. Koszyk, Deutsche Presse, 121 f.   Vgl. Clark, Preußen, 580 f. 191   Hengstenberg, Beurtheilung, EKZ 54 (1854), Sp.  49–56, Nr.  6. 192   Vgl. dazu Bonkhoff, Pfalz, 125 f. 193   S. Bachmann/Schmalenbach 3, 290 f.; Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 497 f. mit Anm.  4. – Das Urteil konnte natürlich nicht vollstreckt werden, solange Hengstenberg nicht nach Bayern kam. 194   Actenstücke zu dem Preßprocesse des Herausgebers der Ev.K.Z., EKZ 67 (1860), Sp.  969–971, Nr.  82. 190

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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gen, und anderen, die politische und soziale Fragen behandelten, unterschieden. Zeitschriften letzterer Art unterlagen einer Kautionspflicht von 5000 Talern.195 Mit der Kaution wurde zweierlei intendiert: Zum einen hoffte man, daß Herausgeber, die in der Lage waren, eine so große Summe aufzubringen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht generell in Frage stellen würden.196 Zum anderen konnte die hinterlegte Kaution als eine Art Konto dienen, von dem man in dem nicht seltenen Fall der Feststellung eines Preßvergehens sogleich die Strafen und Gerichtskosten einziehen konnte.197 Die EKZ war als wissenschaftliche Zeitschrift anerkannt und unterlag daher nicht der Kautionspflicht. Nach Einführung des neuen Pressegesetzes 1851 scheint dies zunächst nicht unumstritten gewesen zu sein. Der Polizeipräsident hatte die EKZ am 14. Mai 1852 der Kautionspflicht unterstellt; dagegen erhob Hengstenberg beim Kultusministerium und Innenministerium Einspruch, worauf die Befreiung von der Kautionspflicht festgestellt wurde. Vorausgegangen war eine Zusage des Innenministers Manteuffel an Stahl, daß die EKZ nicht zur Kautionszahlung herangezogen werde.198 Von da an wurde die Kautionsbefreiung nie mehr in Zweifel gezogen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft im Jahr 1860 zielte nun gerade auf diesen Punkt: Weil sich die EKZ im Vorwort von 1860 zu politischen und sozialen Fragen geäußert habe, habe sie sich eines Verstoßes gegen das Pressegesetz schuldig gemacht, demgemäß sich kautionsfreie Zeitschriften nicht zu solchen Fragen äußern dürften.199 In seiner Verteidigung wies Heng­ stenberg wie schon früher darauf hin, daß „[n]icht der Stoff, sondern die Art und Weise der Behandlung des Stoffes [...] dem Aufsatze die Natur eines politischen oder nicht politischen“ gebe und er überall nur „vom Standpunkt seiner Wissenschaft, der Theologie, so wie im Sinne der Bekenntnißschriften, der Werke Luthers und der Glaubenslehre von Johann Gerhard“ gesprochen habe (Sp.  969). Es sei das Recht der Kirche „als der Auslegerin des göttlichen Wortes, das auch in Bezug auf den Staat die höchsten Grundsätze ausspreche, dem Irr­ thum entgegenzutreten“ (ebd.). Das Königliche Stadtgericht teilte Hengstenbergs Perspektive nicht. Es blieb dabei: Wer über die Vertreibung der italienischen Fürsten oder über die Ehegesetzgebung in Preußen schreibe, der behandle politische und soziale Fragen. Der Herausgeber wurde zu einer Geldbuße von 30 Talern oder einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe verurteilt 195

  Gesetz über die Presse vom 12. Mai 1851, § 12.17: Helm, Preßgesetzgebung, 11.13.   Hengstenberg verdiente zu diesem Zeitpunkt 1300 Taler im Jahr – die Kaution hätte also fast vier Jahresgehälter betragen. 197   Vgl. Koszyk Deutsche Presse, 122. 198   Hengstenberg an den Kultusminister, s.d. [Ende Mai 1852; vgl. das beiliegende Schreiben an den Innenminister]: GStA PK, I.HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 (unpaginiert). 199   Actenstücke zu dem Preßprocesse des Herausgebers der Ev.K.Z., EKZ 67 (1860), Sp.  969, Nr.  82. – Die Belege im Fließtext beziehen sich im Folgenden immer hierauf. 196

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4  Hengstenberg und die Politik

(Sp.  969–971). Hengstenberg ging in die Revision, doch es blieb bei der Entscheidung (Sp.  984).200 Hengstenberg veröffentlichte darauf kommentarlos alle Unterlagen des Prozesses – An­klage, Urteil und seine Verteidigung – in der EKZ, um wenigstens in der Öffentlichkeit von dem Vorwurf unrechtmäßigen Verhaltens freigesprochen zu werden. In seiner Selbstverteidigung im Revisionsprozß vor dem Königlichen Kammergericht machte er demzufolge dreierlei stark: Erstens legte er noch einmal die innere Verbindung von Theologie und politischer Ethik dar (Sp.  979–982), zweitens verwies er darauf, daß die EKZ entsprechende Themen schon immer behandelt habe, auch und gerade zu der Zeit, in der über die Befreiung von der Kautionspflicht entschieden worden war (Sp.  982–983),201 und drittens nähmen auch andere kirchliche Zeitschriften politische Themen auf. Wolle man das unterbinden, müsse man diese Frage grundsätzlich angehen und möglicherweise alle Zeitschriften der Kautionspflicht unterstellen. Solange dies aber nicht geschehe, ließe sich die Anklage wegen Preßvergehens allzu leicht gegen einzelne Personen instrumentalisieren. Die Staatsanwaltschaft könne so „einen Herausgeber, dessen Ueberzeugungen ihr eben nicht zusagen, durch fortwährende Anklagen kränken, plagen und ruiniren oder ihn dadurch nöthigen, Caution zu stellen und sich der Stempelpflichtigkeit zu unterwerfen, während das die anderen Redactoren, die persona grata sind, nicht nöthig haben“ (Sp.  984).202

Was die politische Seite des Prozesses angeht, hatte Hengstenberg damit den springenden Punkt getroffen. Es bestand kein Zweifel, daß sich die Anklage allein den neuen politischen Verhältnissen verdankte. Die EKZ hatte ihren Stil und ihre Gegenstände nicht im Geringsten verändert. Sie gehörte aber zu den kirchlichen Kräften, die Wilhelm I. schon vom Anfang seiner Regentschaft an zurückzudrängen bemüht war.203 Ihr Profil ließ sich zudem kaum mit der Auf200   Revisionsinstanz war das Königliche Kammergericht. Über den Ausgang der Revision zweiter Instanz wird in den in der EKZ veröffentlichten Aktenstücken (ebd. Sp.  984) nichts mitgeteilt; wäre sie erfolgreich gewesen, hätte Hengstenberg sicher an anderer Stelle davon berichtet, was aber nicht der Fall ist. 201   Nur einmal sei er verwarnt worden, als er einen Artikel ‚Was ist Revolution‘ aufgenommen habe (ebd., Sp.  983) – das war 1852, der Artikel stammte von Stahl (EKZ 50 [1852], Sp.  193–205, Nr.  22). 202   Hengstenberg hatte sich bei seiner Selbstverteidigung von Stahl beraten lassen. Der zitierte Satz stammt fast wortwörtlich aus einem Brief Stahls an Hengstenberg, Berlin 2. Okt. 1860: Koglin, Stahl, 444 f., Nr.  197. 203   Vgl. die Ansprache Wilhelms I. an das neuernannte Staatsministerium vom 8. Nov. 1858: Berner 1, 445–449, hier: 447 f.: „In der evangelischen Kirche, wir können es nicht leugnen, ist eine Orthodoxie eingekehrt, die mit ihrer Grundanschauung nicht verträglich ist und die sofort in ihrem Gefolge Heuchler hat. Diese Orthodoxie ist dem segensreichen Wirken der evangelischen Union hinderlich in den Weg getreten, und wir sind nahe daran gewesen, sie zerfallen zu sehen. [...] Alle Heuchelei, Scheinheiligkeit, kurzum alles Kirchenwesen als Mittel zu egoistischen Zwecken ist zu entlarven, wo es nur möglich ist.“ – Hengstenberg rechnete 1859 sogar damit, daß die EKZ verboten würde (Bachmann / Schmalenbach 3, 346).

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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fassung des neuen Königs vereinbaren, derzufolge die Kirche „eine Haltung strikter politischer Abstinenz“204 einnehmen sollte. Eine genaue Betrachtung verdient die theologische Seite der Verteidigung Hengstenbergs. Das Verbot, politische und soziale Fragen zu behandeln, verstand er nämlich als Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit der Theologie: Im Unterschied zu anderen Wissenschaften wie beispielsweise der Medizin sei es der Theologie wesentlich, „von ihrem Standpunkte aus und in ihrer eigenthümlichen Weise dieselben Gegenstände zu besprechen, welche in politischen Blättern als politische und sociale Fragen behandelt werden. Die durch das Gesetz garantirte Freigebung der rein wissenschaftlichen Untersuchung wird der Theologie widerrechtlich entzogen, wenn man es ihr verbieten will, diese Gegenstände zu behandeln, und zwar, was ihr durch das Preßgesetz garantirt ist, kautionsfrei zu behandeln. Die Theologie wird dadurch in eine gesetzwidrige Ausnahmestellung gebracht. Sie wird ungünstiger gestellt wie die Jurisprudenz, die Medizin, die Naturwissenschaft, denen Niemand verbietet, sich auf dem ganzen Umfange ihres Gebietes frei zu bewegen.“ (Sp.  979)

Die Theologie als „Erkentniß der Religion“ habe den ganzen Umfang der Religion zu behandeln. Der Umfang der Religion ergebe sich aber aus ihrer Offenbarungsquelle, der Heiligen Schrift. „Der Umfang der Theologie muß also grade so weit sein, wie der der Heiligen Schrift.“ (Sp.  979). So sei beispielsweise die Revolution nicht nur Gegenstand der politischen Betrachtung, sondern auch eine „Frage christlicher Moral“, weil es um das christliche Verständnis der Obrigkeit gehe. Dazu äußerten sich aber sowohl die Heilige Schrift als auch Luther in den Bauernkriegsschriften sowie Johann Gerhard in seinen Loci und viele der neuern Theologen, „z. B. auch Schleiermacher, Nitzsch, Sartorius, Rothe“ (Sp.  981). Hengstenberg stemmte sich also mit aller Kraft dagegen, daß der Gegenstandsbereich der Theologie von außen vorgegeben wird.205 Ob Stellungnahmen zu aktuellen Fragen primär politischer oder theologischer Art sind, könne nur von Theologen, nicht aber von Juristen festgestellt werden.206 Wenn Heng­ stenberg zudem betonte, daß es sich bei den Äußerungen in seinem Vorwort um „Anwendungen auf die Vorgänge des Tages“ handle, die „auf mühsamen und zu neuen Resultaten führenden theologischen Forschungen“ (Sp.  980) beruhten, dann deckte sich dies ganz mit seinen hermeneutischen Grundsätzen: Die wissenschaftliche Erforschung der Schrift hat das Ziel, die Relevanz der biblischen Botschaft für die Gegenwart ans Licht zu bringen und die Gegenwart 204

  Nowak, Geschichte, 138.   Das entspricht Hengstenbergs Verständnis von der Theologie im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften (vgl oben Teil 2.2.1). 206   Folgerichtig verlangt er, daß in dem Prozeß das Gutachten eines theologischen Sachverständigen einzuholen sei, vgl. Actenstücke zu dem Preßprocesse des Herausgebers der Ev.K.Z., EKZ 67 (1860), Sp.  980, Nr.  82 205

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4  Hengstenberg und die Politik

im Licht der Schrift zu deuten. Dabei konstituiert die Schrift selbst ihren Gegenstandsbereich dadurch, daß sie zu gewissen Fragen Stellung nimmt, zu anderen nicht. Es ist Aufgabe der Theologen zu klären, wann das eine und wann das andere der Fall ist.207 Hengstenberg setzte sich mit seiner Sicht des Verhältnisses von Theologie und Politik vor Gericht nicht durch. Dennoch kam es zu keiner Kurskorrektur der EKZ; auch in den kommenden Jahrgängen erschienen die kritisierten Themen nach wie vor. Wie sollte sich ein kirchliches Blatt auch bei Themen wie der Sonntagsheiligung oder der Ehescheidungsproblematik – beides Themen, die der Staatsanwalt als politisch eingestuft hatte – den Mund verbieten lassen? Die Auffassung von Staatsanwaltschaft und Gericht machte denn auch keine Schule. Es blieb bei der einmaligen Anzeige und der Befreiung von der Kautionspflicht, obwohl Hengstenberg weiterhin die Freiheit beanspruchte, Äußerungen zu allen Lebensbereichen aufzunehmen, die einer Betrachtung von der Schrift her fähig waren. Sein Verständnis des Verhältnisses von Theologie und Politik und die enge Verwobenheit beider Bereiche im 19. Jahrhundert ließ, wie im nächsten Abschnitt noch ausführlicher gezeigt werden wird, gar keine andere Reaktion zu. Nach 1860 mußte sich Hengstenberg nicht mehr vor Gericht verantworten, gleichwohl wurde ihm auch später immer wieder damit gedroht. Besonders bemerkenswert sind die Drohungen, die in den letzten Lebensjahren gegen ihn erhoben wurden; sie kamen nämlich nicht mehr von seiten der staatlichen, sondern von der kirchlichen Obrigkeit. Die EKZ hatte sich dem Evangelischen Oberkirchenrat gegenüber nie mit Kritik zurückgehalten. 1859 kam es, wie oben dargelegt, zu einem ersten Konflikt über eine in der EKZ veröffentlichte Protestation.208 Hengstenberg zeigte sich in diesem Zusammenhang von der Androhung disziplinarischer Maßnahmen durch den Oberkirchenrat unbeeindruckt. Weiterhin äußerte er sich freimütig zu den Maßnahmen der kirchlichen Obrigkeit. Das änderte sich auch nicht, als er sich schließlich persönlich mit Drohungen konfrontiert sah. 1867 wandte sich der Evangelische Oberkirchenrat an den Kultusminister, mit der Bitte, Hengstenberg zu rügen. In seinem Vorwort habe er obrigkeitliche Anordnungen geschmäht, was als ein nach dem Strafgesetzbuch zu ahndender Tatbestand anzusehen sei. Man könne daher den Staatsanwalt einschalten und 207   Vgl. oben unter 2.3.3.2. – Mit „neuen Resultaten“ hat Hengstenbergs übrigens die Resultate seines Apo­ka­lyp­se­kom­men­tars im Auge. Die Anklage hatte nämlich unter anderem auch die Äußerung herangezogen, die gegenwärtige Zeit der „neuen Ära“ gehöre zu „der Weltperiode, in der der Satan losgelassen ist aus seinem Gefängniß“ (ebd., Sp.  970; vgl. Vorwort EKZ 66 [1860], Sp.  52), also Hengstenbergs Verständnis von Off b 20 (vgl. oben 2.3.3.2). Nicht ohne Grund veröffentlichte Hengstenberg 1860 einen weiteren Aufsatz über ‚Das sog. tausendjährige Reich‘ (EKZ 66 [1860], Sp.  217–232.241–258.265–271, Nr.  19– 23). 208   Siehe oben 3.5.4.

4.2  Der Kampf um die Freiheit der Kirchenzeitung

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habe dies auch schon in Erwägung gezogen, weil Hengstenberg „bereits seit mehreren Monaten in Kundgebungen seiner Zeitschrift, welche gegen den Bestand der confessionellen Verhältnisse und der Verfassung in der Landeskirche ergehen,“ Äußerungen Raum gewährt habe, welche die Achtung gegen die Position des Oberkirchenrates verletzten. Nur mit Rücksicht auf die Stellung des Verfassers habe man davon abgesehen.209 Die Kritik bezog sich konkret auf wenige kurze Äußerungen im Vorwort Hengstenbergs über die Stellung treuer Pastoren, die der unkirchlichen Opposition geopfert würden 210 – eine implizite Anklage gegen das Kirchenregiment. Wahrscheinlich stand dahinter aber mehr, nämlich Hengstenbergs wiederholte Forderung, daß die lutherische Kirche im neuerworbenen Hannover nicht dem Berliner Oberkirchenrat unterstellt werden dürfe und daß man nicht nur in Hannover, sondern auch in den alten Provinzen das Recht der Lutheraner anerkennen müsse.211 Hatte er sich doch mit diesem Vorstoß zugunsten einer konföderativen Union in Gegensatz zu den starken unionistischen Kräften in der ober­sten Kirchenbehörde gesetzt.212 Zunächst wies der Minister das Ansinnen des Oberkirchenrates zurück. Er machte Hengstenberg lediglich darauf aufmerksam „daß nach der inneren Natur des Verhältnisses für die akademischen Lehrer der Theologie, gegenüber den bestehenden kirchlichen Behörden, auch auf dem Gebiete der literarischen Thätigkeit jedenfalls die Innehaltung engerer Grenzen und die Beobachtung zarterer Rücksichten geboten ist als nur die Erfüllung der Forderungen des allgemeinen Staatsgesetzes u. daß eine Verletzung dieser feineren Linien unter allen Umständen bedenklich gefunden werden muß.“213

Von kirchlicher Seite ließ man jedoch nicht locker. Im Herbst 1867 konnte man immerhin erreichen, daß sich Hengstenberg gegenüber dem Ministerium zu den Unterlagen eines Aufsatzes äußerte, wobei der Minister darauf hinwies, daß die Sache Hengstenberg nicht in seiner Eigenschaft als Universitätslehrer betreffe.214 Im Juni 1868 wiederholte der Oberkirchenrat die Klage über die maßlosen Verunglimpfungen von seiten Hengstenbergs, der „eine förmliche Agitation gegen die oberste Kirchenbehörde“ betreibe. Man suche daher bei der zu209   Ev. Oberkirchenrat an den Minister v. Mühler, 5. Febr. 1867: GStA PK, I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  102 f., das Zitat auf f.  102v. 210   Vorwort, EKZ 80 (1867), Sp.  43. In erster Linie ging es um den Fall Petrich in Bahn, vgl. dazu EKZ 75 (1864), Sp.  945–953.969–979.993–1002.1009–1019, Nr.  81.83.85–87 und zur Vorgeschichte Nachtigall, Kirchenunion, 202–207. 211   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 80 (1867), Sp.  47 f. 212   Vgl. dazu Nowak, Christentum, 143; Wächter, Landeskirchen, 153; ausführlich Besier, Kirchenpolitik, 117–150; vgl. auch oben 3.3.3. 213   Mühler an Hengstenberg, 27. Febr. 1867: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  106r. Zuvor hatte der Minister Hengstenberg mündlich ermahnt, s. Anna Hengstenberg an ihre Eltern, 23. Febr. 1867: Bachmann / Schmalenbach 3, 483. 214   Vgl. Minister an den Ev. Oberkirchenrat, 21. Sept. 1867: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  107.

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ständigen „staatlichen Disciplinarbehörde“ Schutz vor Verleumdungen, „die mit der auch von uns hochgehaltenen Freiheit der Wissenschaft nichts zu thun haben, wohl aber ein leidenschaftliches Parteiwesen in der Kirche überhaupt zu mehren geeignet sind.“215 Zwar sah der Minister zunächst immer noch keinen Anlaß für disziplinarische Maßnahmen,216 im Oktober sprach er dann aber doch gegenüber Hengstenberg eine offizielle Rüge aus und die Hoffnung, keine weiteren disziplinarischen Schritte unternehmen zu müssen.217 Hengstenberg brachte in seiner – nur als Entwurf erhaltenen – Rechtfertigung sein Unverständnis für die Drohungen zum Ausdruck.218 Die „ruhige und leidenschaftslose Haltung“ der EKZ in den aktuellen Debatten über die Kirchenverfassung sei weithin anerkannt (35r). Man müsse zudem im Blick auf die kritisierten Artikel aufweisen, gegen welche Norm verstoßend sie Anstoß erregt hätten. „Denn einem Urtheil unterworfen zu sein, das sich nicht auf eine solche [sic!] Norm basirt, darin wird sich ein Preusse gar schlecht finden können“ (35v). Darüber hinaus sehe er sich in seiner Eigenschaft als Her­aus­ge­ber nur dem Pressegesetz und den dafür zuständigen Instanzen, nicht aber dem Ministerium gegenüber verantwortlich. Und selbst als Professor sei ihm nach dem preußischen Landrecht erlaubt, sich in anständiger Weise über Maßregeln der Behörden zu äußern. Ganz zu schweigen von der theologischen Dimension der Kritik: „Die Kirche der Reformation würde meines Erachtens ihren Ursprung verleugnen, wenn sie ihren Doctoren nicht ferner eine anständige Freiheit des Wortes gestatten wollte, so unbequem dieselbe auch [aus]fallen mag“ (36r). Von dem einmal eingeschlagenen Weg könne er darum nicht lassen. Damit war die Sache für Hengstenberg erledigt. Nach den vielen Auseinandersetzungen scheinen ihm die Drohungen des Ministers nicht mehr sonderlich imponiert zu haben. Er hatte seine Freiheit erkämpft, eine Freiheit, die sich nur Gott verantwortlich fühlte: „Ich schreibe Nichts und nehme Nichts auf ohne die sorgfältigste und widerholteste im Auf blicke zu Gott angestellte Prüfung“ (35r). 215

  Ev. Oberkirchenrat an Mühler, 30. Juni 1868: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f.  107rv. 216   Mühler an den Ev. Oberkirchenrat, 28. Juli 1868: GStA PK, I. HA Rep.  76, Vf Litt. H. Nr.  16, f., f.  109; im April hatte Mühler gegenüber dem König erklärt, er müsse Hengstenberg trotz seiner irrigen Meinung dieselbe Freiheit lassen, mit welcher er „andere Professoren, Hanne in Greifswald, Beyschlag in Halle und den verstorbenen Hupfeld dasselbst, gegenüber dem Andrängen ihrer orthodoxen Gegner, geschützt habe“ und verwies auf den gerichtlichen Weg, der dem Oberkirchenrat offenstehe (Mühler an den König, Berlin 25. Apr. 1868: GStA PK, Rep.  89, Nr.  22725, f.  40rv). 217   Mühler an Hengstenberg, Berlin 10. Okt. 1868: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preußisches Kultusministerium, f.  34r. Möglicherweise ging dem Schritt eine Warnung voraus, denn Hengstenberg schreibt, der Minister habe ihm 1868 „nicht weniger als viermal eine Zurechtweisung erteilt, [...] zweimal eine mündliche und zweimal eine schriftliche“ (Hengstenberg, EKZ 84 [1869], Sp.  78). 218   Hengstenberg an Mühler, Berlin 24. Okt. 1868: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preußisches Kultusministerium, f.  35r–36r; die im Fließtext folgenden Angaben beziehen sich hierauf.

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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Nur ein halbes Jahr nach diesem letzten Disput starb Hengstenberg. Während der 42 Jahre, in denen er die Herausgeberschaft der EKZ innehatte, kämpfte er also für die Freiheit des Blattes.219 Zu Recht wurde der EKZ in ihrem Verhältnis zu den Behörden ein „hohes Maß an Konfliktbereitschaft nicht nur gegenüber anderen Gruppen in Kirche und politischer Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber staatlichen Institutionen“220 attestiert. Dabei trat Hengstenberg mit seiner ganzen Person für alles in der EKZ Veröffentlichte ein. Auch in der Zeit der strengen Zensurvorschriften suchte er Mittel und Wege, die aktuellen Diskussionen anzuregen. Er ging bis an die Grenzen der Zensur- und Pressevorschriften, die er im Ernstfall auch auszudehnen bereit war. Die schärfsten Auseinandersetzungen fielen in die Anfangsjahre unter Minister Altenstein und in die letzte Phase, beginnend mit der Neuen Ära. Nur in den 50er Jahren, genauer: während der achtjährigen Amtszeit des Kultusministers Karl Otto von Raumer (1850–1858), konnte Hengstenberg seine Herausgebertätigkeit weitgehend frei von äußeren Beeinträchtigungen ausüben.

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik Die Frage, ob die EKZ vom „Standpunkte einer politisch-kirchlichen Partei“221 ausgehe und daher mehr ein politisches als ein kirchliches Blatt sei, hat nicht nur das Berliner Stadtgericht in der Neuen Ära beschäftigt. Auch in der Forschung wurde verschiedentlich die These aufgestellt, die EKZ habe einem kontinuierlichen Politisierungsprozeß unterlegen, ausgehend von der Julirevolution 1830 und gipfelnd im Revolutionsjahr 1848. Darum ist zu klären, welche Rolle die EKZ nach dem Willen ihres Herausgebers in den politischen Diskussionen der Zeit einnehmen sollte, welche Beiträge der Herausgeber selbst zu tagespolitischen Themen beisteuerte, und nicht zuletzt, wo sich Hengstenberg mit seinen öffentlichen Äußerungen im politischen Spektrum seiner Zeit positionierte. Bevor dies geschehen kann, muß aber zunächst präzisiert werden, welches Verständnis von Politisierung für die Beurteilung von Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angemessen ist.

219   Gleichwohl war er kein Vertreter unbegrenzter Pressefreiheit. 1840 nahm er einen Artikel von E. Sartorius über ‚Preßfrechheit’ auf, der sich gegen die ‚Constitutionsschwärmer‘ und ihre Forderungen nach Pressefreiheit richtete (EKZ 27 [1840], Sp.  775, Nr.  97). 220   Graf, Spaltung, 181. 221   Hengstenberg, Actenstücke [...], EKZ 67 (1860), Sp.  970.

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4.3.1  Zum Verständnis von Politisierung Verbreitet ist ein funktionalistisches Verständnis von Politisierung, demzufolge Argumentations­zusammenhänge, die nicht dem politischen Diskurs entstammen, ganz bewußt in den Dienst einer bestimmten politischen Ideologie gestellt und bei Bedarf auch gewaltsam an diese Ideologie angepaßt werden. Diesem Verständnis folgend hat man geltend gemacht, daß sich Hengstenbergs Theologie nicht theologischen Quellen, sondern „einer konservativ-idealistischen Weltanschauung“ verdanke, die ihren Ursprüngen nach nichts mit dem reformatorischen Bibelglauben zu tun habe.222 Demzufolge hätte sich Hengstenberg zunächst einer politisch-weltanschaulichen Richtung angeschlossen und dieser Richtung sodann seine theologische Arbeit und die Ausrichtung der EKZ dienstbar gemacht.223 Politisierung wird in diesem Zusammenhang wertend für einen illegitimen, weil fremdbestimmten Umgang mit der Theologie verwendet. Abgesehen davon, daß sich Hengstenbergs theologische Entwicklung, wie oben unter 1.1 dargestellt wurde, völlig unabhängig von politischen Fragen vollzog, scheitert diese Sichtweise vor allem daran, daß der verwendete funktionalistische Politisierungsbegriff die Verhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht berücksichtigt. Er geht nämlich davon aus, daß bereits in den Anfangsjahren der EKZ rein politische Weltanschauungen oder Parteien exi­ stiert hätten, an die sich Hengstenberg mit seinem Blatt hätte anschließen können. Das war aber gerade nicht der Fall. Klar definierte politische Parteien gab es noch gar nicht. Vielmehr befanden sie sich erst im Entstehungsprozeß, und in diesem waren es gerade auch religiöse Momente, die von Anfang an eine Rolle spielten.224 So verstanden beispielsweise die frühen Vertreter der späteren kon222

  Beckmann, Wurzel, 250 f. mit Anm.  540, dort auch das Zitat.   Nahrung für diese Sicht bietet wiederum die Darstellung von Lenz, Geschichte 2/1, 343; er folgt damit der Einschätzung Altensteins (vgl. oben bei Anm.  65). Von Gabriel, Fortschritt, 154 wird die politisch motivierte Ausrichtung auf den Nenner „Im Namen des Evangeliums gegen den Fortschritt“ gebracht. In eine ähnliche Richtung geht die Behauptung in der ansonsten sehr umsichtigen Studie von Füssl, Stahl, 140, die EKZ sei 1848 das Forum für die Bekämpfung der Revolution geworden: „Das Organ wandelte sich auf diese Weise vom Organ der lutherischen Orthodoxie zum Organ eines politischen Konservatismus.“ Füßl beruft sich wiederum auf Christensen, Hengstenberg, der ebenfalls ein funktionalistisches Verständnis von Politisierung zu vertreten scheint, vgl. z. B. ebd., 163: „Thus the Kirchen-Zeitung faction contributed to the reaction by underwriting the politics of conservatism with the authority of Lutheran orthodoxy“ (kursiv im Original unterstrichen). Nach Schwentker, Vereine, 215 habe sich die EKZ bemüht, „ihre politisch reaktionären Auffassungen in einer religiös inspirierten, aber gleichwohl politisch zielgerichteten Bekenntnis­ publizistik unters Volk zu bringen.“ Ähnlich zuletzt auch Friedrich, Umbruch, 181. 224   Vgl. Graf, Politisierung, 18–20.165–172; Ders., Modernisierung, 65; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 377–396, vgl. ebd., 377: „Um 1840, so kann man überpointiert, aber griffig sagen, bilden sich die modernen deutschen Parteien aus.“ 223

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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servativen Partei ihre Position von Anfang an als christlich.225 Die Ausbildung der politischen und der kirchlichen Parteien stand in einem engen Zusammenhang. Die tiefe Verflechtung von Staat und Kirche, Religion und Politik führte zwangsläufig dazu, daß weder die Politik religiös indifferent noch eine religiöse Position politisch irrelevant sein konnte. Es gab also gar keine rein politischen Optionen, die man erst sekundär hätte religiös aufladen müssen. Das Problem des funktionalistischen Politisierungsbegriffes liegt demnach darin, daß er eine Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik voraussetzt, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts erst entwickelt hat. Dieser Sachverhalt läßt sich besonders deutlich am Zeitschriftenwesen ablesen: Als die EKZ gegründet wurde, gab es in Deutschland noch keine einzige politisch-konservative Zeitung.226 Die Zeitschriften und Zeitungen bildeten später aber die Kristallisationspunkte bei der Ausbildung einer konservativen Partei.227 Nach dem politischen Profil der EKZ zu fragen heißt darum zu klären, welche Stellung sie innerhalb dieser noch voll im Gange befindlichen Entwicklungen einnahm. Es empfiehlt sich daher, einen neutralen Begriff von Politisierung zu verwenden.228 Er geht davon aus, daß kirchlich-theologische bzw. religiöse Überzeugungen unter bestimmten Umständen politisch relevant werden – entweder alleine dadurch, daß sie in einem bestimmten Klima geäußert werden, oder aber auch dadurch, daß sie ganz bewußt in den politischen Diskurs eingebracht werden. Ersteres läßt sich beispielsweise im Zusammenhang mit dem neuen selbstbewußten Auftreten der Erweckten und der schlesischen Lutheraner Anfang der 30er Jahre beobachten 229 oder auch in den Aktionen der Lichtfreunde und Deutschkatholiken zehn Jahre später.230 Beide Male werden religiöse Überzeugungen vertreten, die direkt oder indirekt zu Kritik am bestehenden politischen System führen und dadurch zwangsläufig politisiert werden. Letzteres läßt sich an den Debatten über das Verhältnis von Rechtgläubigkeit und politischer Zuverlässigkeit ablesen, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts als Folge des 225   Vgl. Schildt, Konservatismus, 54: „[...] Gerlach und viele andere Konservative nach ihm konnten sich konservative nur als christliche Positionen (und umgekehrt) vorstellen.“ und Kraus, Gerlach 1, 212–233; Buschmann, Krise, 176. Sowohl Kraus als auch Buschmann sprechen von der „politischen Theologie“ der Altkonservativen, wodurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß deren politische Ansichten in theologischen Überzeugungen wurzelten. Strenggenommen müßte man aber von einer religiösen oder theologiebestimmten Politik reden. 226   Vgl. Obenaus, Zeitschriften 1, 75–85. 227   S. Schildt, Konservatismus, 42–63; Ruetz, Konservatismus, 20–22 und 65–72; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 378; Schwentker, Vereine, 248 f. 228   Einen solchen legt auch F.W. Graf seinen diversen Untersuchungen (Ders., Politisierung; Ders., Formierung; Ders. Modernisierung) zugrunde; ähnlich auch Buschmann, Krise, 176 f. – allerdings ist das moderne Schlagwort „politische Theologie“ nicht geeignet, das „politische Programm“ der EKZ zu umreißen. 229   Vgl. Clark, Confessional policy; Deuschle, Erweckung; Ellis, Piety. 230   Vgl. Graf, Politisierung.

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Woellnerschen Religionsediktes geführt wurden. Hier empfahlen sich bestimmte theologische Richtungen ganz bewußt in der Weise, daß sie auf die politische Verläßlichkeit ihrer Richtung abhoben.231 Politisierung in diesem Sinne kann folglich sowohl intentional als auch nicht-intentional geschehen. Sie beschreibt ganz allgemein den Prozeß, wie es zur Identifizierung einer bestimmten kirchlich-theologischen mit einer bestimmten politischen Richtung kommt. Dabei wird nicht von vornherein eine bestimmte Motivation unterstellt. Hinsichtlich Hengstenbergs und seiner Redaktionsarbeit ist also zu fragen, wie es zu der zunehmenden Identifizierung der EKZ mit dem politischen Konservatismus kam und wie Hengstenberg selbst dazu stand. Es muß untersucht werden, in welchen Zusammenhängen sich die EKZ zu politischen Themen äußerte und wodurch dieses Äußerungen motiviert waren. Dabei wird die Untersuchung streng auf Hengstenbergs Sicht der Dinge beschränkt bleiben.232 Aus den Reihen der Vordenker der EKZ wird nur derjenige einbezogen, der zunächst Hengstenbergs wichtigster Gesprächspartner in politischen Fragen war und wie kein anderer aus dem Kreise der EKZ eine politische Partei verkörperte: Ernst Ludwig von Gerlach. Am Verhältnis zu ihm läßt sich nichts zuletzt auch Hengstenbergs Stellung zum politischen Konservatismus ablesen.

4.3.2  Positionierung – die Jahre 1829–1832 Von Anfang an hatten sich die Initiatoren der EKZ zum Ziel gesetzt, mithilfe ihres Blattes den Gläubigen in den Herausforderungen ihrer Zeit – „den Schwierigkeiten, die sie umringen“233 – beizustehen. Adolf le Coq, der den ersten Entwurf eines Programmes vorlegte, nannte unter anderem das Verhältnis der Gläubigen zur Obrigkeit als Thema der neuen Zeitschrift; 234 es sei in der gegenwärtigen Zeit, „wo von Katholiken und ungläubigen Protestanten Reformation und Revolution für synonym, oder doch beinahe so, angesehen werden“, besonders wichtig „Luthers und der Reformatoren politische Ansichten hervortreten zu lassen“235. In den von Hengstenberg verfaßten Programmen der EKZ wurde die Frage, welche Stellung die EKZ zum Politischen einnehmen würde, 231

  Graf, Formierung, 14–19; Ders., Modernisierung, 69–79.   Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu den Darstellungen von Christensen, Hengstenberg und Kriege, Kirchen-Zeitung, die eine harmonisierende Sicht der unterschiedlichen EKZ-Autoren vorlegen und damit den einzelnen Artikeln und Positionen nicht gerecht werden können. 233   [Le Coq], Plan zu einer christlichen Monatsschrift: Bachmann 2, Anhang, 4, Nr.  1. 234   Ebd. 235   Ebd. – Man kann also nicht wie Christensen, Hengstenberg, 61 f. davon ausgehen, daß sich die EKZ gegenüber politischen Themen wie dem der Revolution zunächst neutral verhalten hätte. 232

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allerdings nicht mehr berührt. Das entsprach Hengstenbergs Desinteresse an politischen Fragen in seinen ersten Berliner Jahren.236 Daß die politische Dimension der Zeitung dennoch nicht aus dem Blick verloren wurde, war in erster Linie Ernst Ludwig von Gerlach zu verdanken. Er hatte gemeinsam mit seinem Bruder Otto und Adolf le Coq die Zeitung ins Leben gerufen,237 doch war er der einzige von den dreien, der im Blick auf ihre Entwicklung dauerhaft einflußreich blieb.238 Hengstenberg hatte, als er die Redaktionsarbeit übernahm, nicht im Sinn, alleine über die Ausrichtung der EKZ zu entscheiden.239 Er traf sich anfangs regelmäßig – zunächst donnerstags, dann dienstags abends – mit dem Initiatorenkreis zur Besprechung.240 Jedoch verstarb Adolf le Coq bereits 1829, und E.L. von Gerlach wurde in demselben Jahr als Landgerichtsdirektor nach Halle versetzt. Hengstenberg wollte aber das offene und manchmal auch verletzende Urteil Gerlachs241 nicht entbehren, zumal sich die EKZ im Sommer 1829 in einer Krise befand: Im August waren ihm die Beiträge ausgegangen, das Erscheinen der Zeitung hatte sich darum bereits einmal verzögert.242 Deshalb wandte sich Hengstenberg mit der Bitte an Gerlach, ihm zumindest brieflich mit kritischem Urteil zur Seite zu stehen. Gerlachs Antwort enthielt dann auch eine ganz Reihe sehr konkreter Ratschläge und Beobachtungen: 243 Zunächst solle sich Hengstenberg davor hüten, daß die EKZ einen rein „compilatorischen Charakter“ bekomme und zu einer profillosen Zusammenstellung evangelischer Ansichten werde. Stattdessen müsse er als Redakteur dafür sorgen, daß die Zeitung „eine bestimmte Tendenz“ verfolge, indem sie sich konsequent auf den anvisierten Leserkreis ausrichte und die konkreten, aktuellen Fragen und Bedürfnisse der Gläubigen in den Blick nehme. Um dies zu erreichen, empfiehlt Gerlach, die frühere Praxis der Redaktionssitzungen wieder aufzunehmen; dort solle man sich „gemeinschaftlich die Bedürfnisse, u[nd] den Zustand der Zeit, u[nd] insbesondere der Leser der EKZ nach ihren Hauptclassen (Gläubige, Ungläubige, Halbgläubige, Feinde, Prediger (Stadt – Land), Gelehrte, Studenten, dann nach den Orten: Berlin, Hamburg, Halle, Süddeutschland) recht vor Augen stellen, u[nd] erwägen, was ihnen gerade jetzt zu sagen Noth ist. Von diesem Mittelpunct, von diesem Bewußtseyn aus müßte dann die Redaction geführt u[nd] was aufgenommen würde, seyen es Aufsätze, Nachrichten oder was sonst, damit in enge Beziehung gesetzt werden, u[nd] hinsichtlich der Haupt236   Es finden sich keine Hinweise dafür, daß Hengstenberg von Anfang an eine „Politisierung der Rationalismuskritik“ betrieben hätte (so Graf, Spaltung, 170). 237   Vgl. Bachmann 2, 65 f.; Kriege, Kirchen-Zeitung, 55. 238   Vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung, 63. 239   Hengstenberg an Brandis, Berlin 30. März 1827 (s.o. Anm.  117). 240   S. Bachmann 2, 93 f.; vgl. E.L. von Gerlach an Hengstenberg, Halle 18. Okt. und 29. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 26 und 27. 241   Vgl. Bachmann 2, 94 f. 242   S. Bachmann 2, 377 f. 243   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 29. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 27.

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mitarbeiter wäre es eine Aufgabe sie nach u[nd] nach mit auf diesen Standpunct zu führen. Dann würde sich bald finden, daß Berlin, Schleiermacher, Halle, Pommern nicht so unberücksichtigt bleiben könnten, u[nd] was bedeutende Classen von Lesern sehr interessiert müßte auch Gegenstand der EKZ werden“244.

Die konsequente Ausrichtung der EKZ auf die Bedürfnisse der Leser bedeutete für Gerlach demnach, daß die Zeitung gerade auch heiße Eisen anfassen und aktuelle Streitfragen in die Öffentlichkeit bringen sollte. Konkrete Namen und Orte müßten dabei benannt werden. Der „kirchenpolitische[...] Enthüllungsjournalismus“245 , den man als Kennzeichen der EKZ angegeben hat, geht also ursprünglich auf Gerlach zurück. Wie konkret dieser sich die Beiträge vorstellte, verdeutlichte er mit einigen Vorschlägen: Auf Schleiermacher müsse man ebenso eingehen wie auf die Erweckung in Pommern und ihr Verhältnis zu „ungläubigen Predigern u. zu Obrigkeiten“. Auch Goethe und Schiller dürfe man nicht aussparen.246 Schon einen Brief vorher hatte er sich selbst erboten, über die Zustände in Halle zu schreiben.247 Zwar bezogen sich Gerlachs Vorschläge nicht explizit auf den politischen Bereich. Doch die geforderte kirchenpolitische Ausrichtung und die Berücksichtigung brennender Lebensfragen bedeutete eine Öffnung für Themen, die von politischer Relevanz sein oder im Zusammenhang mit politischen Ereignissen stehen konnten. Damit hatte Gerlach die Kirchenzeitung wieder zu der von ihren ersten Initiatoren intendierten Ausrichtung zurückgerufen. Hengstenberg ließ sich nicht lange bitten: Alle Vorschläge Gerlachs griff er auf.248 Und so zeigte sich Gerlach im Januar 1830, als er Hengstenberg seinen Artikel über Halle zusandte, höchst erfreut über die Richtung, die die Beiträge im Dezemberheft genommen hatten: „Ueberaus schön ist es, daß die EKZ nach jahrelangen Reisen um die Welt endlich im Preuß. Staat u[nd] namentl[ich] in Berlin angekomm[en] ist. Berlin von 1829/30 christlich, – ich meine practisch u[nd] theologisch zugleich – ins Auge gefaßt, mit etwas von dem Sinne für Thatsachen (plain broad facts), der die Engländer auszeichnet, ist eine unerschöpfl[iche] Quelle der interessantesten, lehrreichsten, erbaulichsten etc. Artikel

244   Ebd. – Mitte 1830 schickt Gerlach eine weiter Liste mit Verbesserungsvorschlägen, E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 13. Juni 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v. I, Bogen 44. 245   Graf, Spaltung, 186; Ders., Modernisierung, 100. 246   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 29. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 27. 247   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 19. Nov. 1829: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 28 [Nummerierung nicht chronologisch]. 248   Kraus, Gerlach, 106 beschreibt insofern sehr zutreffend Gerlachs Bedeutung für die EKZ: „Hauptsächlich ihm war es zu verdanken, daß sich die ‚Evangelische Kirchenzeitung‘ seit den 1830er Jahren zu einem führenden Organ des norddeutschen Konservatismus entwickelte, was nicht unbedingt den ursprünglichen Intentionen des Herausgebers, aber doch einem Bedürfnis der Zeit entsprach.“ Ebs. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 502.

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für die EKZ u[nd] kann sie recht verbreiten, denn dieß muß vorzüglich Interesse erzeugen.“ 249

Der Artikel Gerlachs über die Theologische Fakultät in Halle, der die EKZ schlagartig in die öffentliche Diskussion brachte, war also Teil einer von Gerlach vorangetriebenen pro­grammatischen Neuausrichtung der Zeitung, die – wie die Diskussion zeigen sollte – auch politisch relevant war. Gerlachs Artikel, der darauf zielte, das Verhältnis der rationalistischen Theologen in Halle zu den überkommenen kirchlichen Lehren einer breiten Öffentlichkeit vor Augen zu stellen, war zwar nicht auf politische Konsequenzen berechnet,250 er wurde dennoch zum Politikum. Indem er nämlich die „unbedingte Lehrfreiheit“ theologischer, vom Staat verpflichteter Professoren in Frage stellte und ihre Bindung an die „reine[...] Lehre nach den Bekenntnißschriften der Kirche“251 forderte, mußten sich insbesondere die Gegner der Konservativen zwangsläufig an die Lehrverpflichtungen des Woellnerschen Religionsediktes erinnert fühlen,252 das seinerzeit breite politische Debatten über die Verbindung von Aufklärung und Revolution ausgelöst hatte. 253 Gerlach rührte auf diese Weise an einen Nerv, der schon viele Jahre bloß lag. Und Hengstenberg legte noch einmal nach: In seiner Auseinandersetzung mit Neander wies er offen darauf hin, daß es nicht im Interesse der Staatsraison sei, wenn sich eine Religionsgemeinschaft nicht nach ihren bekannten und vom Staat anerkannten Grundsätzen richte. Im selben Atemzug machte er zudem auf den zwar nicht notwendigen, aber historisch häufig zu beobachtenden Zusammenhang zwischen Demagogie und Rationalismus aufmerksam.254 So war Gerlachs Artikel über Halle zwar aus 249

  E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 2. Jan. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 29; der Brief enthält u. a. die oben in Teil 2.2.1 EXKURS erwähnten Äußerungen über den Schleiermacherartikel vom Dez. 1829. Vgl. auch ders. an dens., Halle 31. Jan. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 30: „Mit herzlicher Freude, mein geliebter Bruder, habe ich die frische Entschiedenheit begrüßt, mit welcher der neue Jahrgang der Evang KZ auftritt. Ach! werden Sie nicht müde zu kämpfen für die Sache des Herrn u[nd] ein gutes Bekenntniß abzulegen, in dieser abtrünnigen Zeit, wenn Ihnen auch noch schwerere Kämpfe, als die mit Ungläubigen, – ich meine Kämpfe mit denen die Ihnen am nächsten stehen, Neander, Strauß, – bevorstehen sollten. Ich höre, daß ersterer sich stark gegen den Angriff auf Schle[ie]rm[acher], letzterer gegen die Entschiedenheit des Vorworts erklären soll. Solcher Widerspruch zeigt, daß Sie den rechten Fleck getroffen haben. Erwägen Sie ja immer recht, was vielen frommt, was die Glieder Christi stärkt u[nd] reinigt, was die Todten u Schlafenden erweckt, – dann wird sich das Anziehende von selbst finden.“ 250   So zu Recht Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 131; gg. Schildt, Konservatismus, 53; vgl. auch oben 3.6. 251   E.L. v. Gerlach, Der Rationalismus auf der Universität Halle, EKZ 6 (1830), Sp.  47. 252   Vgl. dazu Beutel, Auf klärung, 398–402. 253   Graf, Spaltung, 172; Ders., Modernisierung, 77–80. 254   Hengstenberg, Gegenerklärung, EKZ 6 (1830), Sp.  144 und Ders., Gegen Dr. Neander’s rechtfertigende Erörterung, EKZ 6 (1830), Sp.  219; vgl. zum Zusammenhang oben 2.1.1.

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dem – kirchlichen – Interesse erwachsen, zu enthüllen, welchen Einfluß Gesenius und Wegscheider auf die Mehrzahl der hallischen Studenten, „von denen alljährlich eine so bedeutende Menge in das heilige Predigtamt eintritt“255, ausübten. Durch die staatskirchenrechtliche Stellung der Theologieprofessoren mußte die Debatte aber zwangsläufig in den Sog der Politisierung geraten,256 in den in Folge der durch Ger­lach ausgelösten Diskussion schließlich sogar das Augustanajubiläum gezogen wurde.257 Die Folgen der Entscheidung, sich den konkreten Fragen der Gläubigen zuzuwenden, zeigten sich aber noch deutlicher, als die Julirevolution in Frankreich die Gemüter in Deutschland zu beschäftigen begann. Betrachtete man die EKZ nämlich als Organ, das alle Zeitereignisse, die die Christen umtrieben, aus christlich-kirchlicher Sicht zu beleuchten hatte, so mußte man natürlich auch zu den großen politischen Umbrüchen Stellung nehmen. Wieder war es Gerlach, der sich des Themas annahm. Allerdings erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand, was dafür spricht, daß auch er sich nicht von Anfang an klar darüber war, ob und auf welche Weise es in der EKZ behandelt werden sollte.258 Am 10. Oktober sandte er Hengstenberg zwei Beiträge über die Revolution. Gegen den von Tholuck erhobenen Einwand, durch ihre Aufnahme entstehe der Eindruck, die EKZ buhle um die Gunst des Königs und „diene einer politischen Partei“, hob er wiederum die Notwendigkeit hervor, aktuelle Themen aufzugreifen: „Wir dürfen, wenn wir nicht in Nullität versinken wollen, Dinge welche die Herzen der Menschen, und der Christen bis ins Innerste erschüttern, u[nd] Irrlehren, die das ganze innere Leben vergiften können, nicht unberührt lassen.“ Der Herr wisse, daß man nicht Menschen- und Fürstengunst, sondern seine Ehre suche. Gemäß seinen Vorschlägen vom Vorjahr gab er Hengstenberg zudem mit auf den Weg: „Prüfen Sie doch in der nächsten Conferenz – die ich 255

  E.L. v. Gerlach, Der Rationalismus auf der Universität Halle, EKZ 6 (1830), Sp.  38.   Vgl. auch Kraus, Gerlach, 150 f., der zu Recht sowohl darauf hinweist, daß Gerlach eine Kontroverse entfachte, „die weit mehr war als nur ein innertheologischer Richtungsstreit, sondern die höchst aktuellen Fragen von Lehr-, Glaubens- und vor allem Meinungsfreiheit aufwarf und sich damit als eine ausgesprochen politische Angelegenheit herausstellte“, als auch unterstreicht, daß den Gerlachbrüdern diese Dimension erst im Laufe des Jahres 1830 aufging; „daß ihm die politische Bedeutung der öffentlichen Meinung“ ebenfalls erst 1830 „bewußt wurde“ (ebd.), ist hingegen wenig wahrscheinlich, wenn man seine oben vorgestellten, in den Briefen an Hengstenberg von 1829 geäußerten programmatischen Überlegungen berücksichtigt. 257   Vgl. nur die zweite Auflage der Erklärung des im Grunde ganz unpolitischen Neander gegen Hengstenberg, die Betrachtungen zur CA mit Ausführungen über die Lehrfreiheit, die Freiheit des Christentums und die Ablehnung jeder Art von Staatsreligion verbindet, damit also ebenfalls politisch Stellung nimmt (Neander, Erklärung [2. Aufl.], 23–40). 258   Wie wenig Hengstenbergs Blick für die politischen Fragen geschärft war, zeigt sich daran, daß er an der Julirevolution zunächst nur bedauerte, daß sie die Aufmerksamkeit von der Hallischen Angelegenheit abziehe und für das Wachstum des Reiches Gottes von Nachteil sein könne (Hengstenberg an Tholuck, 22. Aug. 1830: Bonwetsch, Aus Tholucks Anfängen, 125). 256

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nochmals dringend empfehle – überhaupt, wie sich die EKZ zu den immer bedeutender u[nd] schrecklicher werdenden politischen Begebenheiten verhalten soll.“259 Hengstenberg entschloß sich, die Beiträge aufzunehmen, obwohl ihm davon abgeraten wurde.260 Dabei leitete ihn die Überlegung, daß Gerlachs Ausführungen, „keine politische Theorie enthalten, die über das Evangelium hinausginge; wäre dies der Fall, so würde ich mich allerdings nicht zur Aufnahme entschließen können, auch wenn ich die Theorie für richtig hielte. So aber würde ich mir ein Gewissen daraus machen, dasjenige zurückzuhalten, was ich bestimmt als göttliche Wahrheit erkannt habe, und will gerne leiden, was dafür etwa zu leiden ist.“261

Für Hengstenberg war offensichtlich entscheidend, daß der Artikel einen theologischen Charakter trägt und keine politische Perspektive einnimmt. In diesem Sinne ermahnte er Gerlach auch zur Unterscheidung des Religiösen vom Politischen.262 Gerlach sah dies im Grunde nicht anders, doch lag bei ihm der Hauptakzent darauf, daß die christliche Botschaft auf die aktuellen Geschehnisse Bezug nehmen müsse: „Was die Scheidung des Religiösen u[nd] Politischen betrifft, so meinen Sie gewiß nicht eine Verweisung des Christenthums hinter die Wolken des Himmels, wo es niemandem etwas zu Leide thut, u[nd] allen sehr ehrwürdig und erträglich ist. Allerdings muß die Tendenz: reine Lehre, u[nd] heiliger Wandel, Reich u[nd] Ehre Gottes seyn, u[nd] nicht eine politische, diese Tendenz aber vorausgesetzt, kann das ins Detail Gehen nur lebendig machen.“263

Sowohl Gerlachs als auch Hengstenbergs Votum machen deutlich, daß beide kein Interesse an einer dezidiert politischen Ausrichtung der EKZ hatten. Die Äußerungen zur Julirevolution lagen vielmehr in der Konsequenz des bereits im Vorjahr eingeschlagenen Kurses. Gerlach war dabei die treibende Kraft, doch läßt sich beobachten, daß Hengstenberg – offensichtlich von Gerlach angeregt – seit 1830 mehr Interesse an politischen Ereignissen zeigte. Daß und in welcher Weise Hengstenberg Gerlachs Profilierung der EKZ übernahm, ist daran abzulesen, wie er sie gegenüber den Lesern vertrat. Bereits im Vorwort von 1830 wandte er sich gegen die „Andichtung eines politischen Zweckes“ der

259   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 10. Okt. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 49 (transkribiert bei Bachmann 2, 289 f. und Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 162 f., Anm.  6 ); dort auch das vorhergehende Zitat. 260   Hengstenberg an Therese, 19. Okt. 1830: Bachmann 2, 288 – wer ihm davon abgeraten hatte, verrät Hengstenberg in seinem Brief nicht. 261   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, 19. Okt. 1830: Bachmann 2, 288. 262   Das ergibt sich aus dem Antwortschreiben des verschollenen Hengstenbergbriefes: E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 5. Dez. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 53. 263   Ebd.

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EKZ.264 Dieser Vorwurf war allerdings noch nicht die Folge der programmatischen Neuausrichtung, sondern knüpfte daran an, daß die Initioren der EKZ vorwiegend aus adligen Kreisen kamen. Hengstenberg wandte sich gegen Kritiker, welche die EKZ in dem Sinne für politisch hielten, wie man bereits 1828 den Anschluß Hengstenbergs an adlige Kreise für politisch gehalten hatte.265 Demgegenüber betonte Hengstenberg, daß es zwar „Aristokraten unter den unseren“ gebe, man aber dennoch nicht vorbehaltlos zur Aristokratie stehe, da es auch viele Adlige gebe, die selbst vom Zeitgeist nicht ganz frei seien und noch ein „Residuum von falschem Liberalismus“ in sich trügen. Was aber die Stellung der EKZ zur Politik angehe, so wisse man sich nur dem himmlischen Vaterland verpflichtet und schaffe gerade dadurch mittelbar „dem irdischen Vaterlande mehr Vortheil“ als wenn man nach Art der „politisirenden rationalistischen Theologen“ tätig würde. Politisch sei die EKZ nur insofern, als sie die biblischen Ansichten von der Obrigkeit vertrete: „Unsere ganze Politik besteht in den Aussprüchen der Schrift über den der Obrigkeit zu leistenden unbedingten Gehorsam, falls nämlich ihre Gebote nicht mit den in der Schrift enthaltenen Geboten Gottes in Widerspruch sind. Diesen Geboten und dem Geiste des Herrn folgend verabscheuen wir allerdings jede Richtung, welche sich, sey es in Thaten, oder sey es in Worten und Gedanken gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit auflehnt; wir würden aber eben so sehr, wie wir jetzt in einem monarchischen Staate Anhänger der monarchischen Verfassung sind, eben so sehr in einer Aristocratie Anhänger der aristocratischen, in einer Democratie der democratischen sein. Uebrigens entschlagen wir uns aller politischen Theorieen, Räsonnements und Bestrebungen, sie denjenigen überlassend, deren Amtes sie sind“266 .

Daran wird deutlich: Hengstenberg sah sich keiner politischen Theorie, sondern einer traditionellen, in der Schrift verwurzelten Obrigkeitslehre verpflichtet. Wie er den Rationalismus an seiner Stellung zur Schrift maß, so beurteilte er denn auch den Liberalismus an seiner Stellung zu der von der Schrift gebotenen Obrigkeitslehre und betrachtete die Auflehung gegen die gottgegebene Obrigkeit als Ausdruck der menschlichen Selbstüberhebung. Die Ansicht von der Zusammengehörigkeit von Liberalismus und Unglaube hatte zudem durch die Begegnung mit den exilierten Deutschen während seines Baselaufenthalts Nahrung erhalten, an denen er eine deutliche Zurückweisung des kirchlichen Glaubens feststellen zu können meinte.267 Die Anfang 1830 vertretene Linie sah Hengstenberg auch dann nicht aufgegeben, als er ab Ende 1830 vermehrt Artikel zur Revolution in Frankreich erscheinen ließ und dafür aus den eigenen Kreisen Kritik erntete.268 Grundsätz264   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  11 – dort auch die folgenden Zitate im Fließtext. 265   Vgl. oben bei Anm.  65. 266   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  10 f. 267   Siehe oben 1.1. 268   S. Bachmann 2, 290–292.

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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lich, so Hengstenberg im Vorwort 1831, gehöre es „zum Berufe der Ev.K.Z. [...], die Zeitmeinungen nach dem ewigen Worte Gottes zu beurtheilen“269. Der Ansicht, die EKZ betrete mit den Aufsätzen zu den jüngsten politischen Ereignissen ein ihr fremdes Gebiet und mache sich dadurch unnötig noch mehr Feinde, hielt er entgegen: „Allein wir müssen von vorn herein den Nerv dieses Grundes dadurch abschneiden, daß wir auf ’s Entschiedenste gegen die Ansicht protestiren, als sey die Aufstellung der ober­ sten Grundsätze über das Verhältniß von Unterthanen und Obrigkeit und die Bekämpfung der verkehrten Zeitmeinungen in dieser Beziehung in irgend einem Sinne der Kirche und also auch einem ihr dienenden Blatte fremdartig. Dies behaupten, heißt zugleich erklären, daß das, was die Schrift in dieser Beziehung enthält, nicht an seiner Stelle sey“ (Sp.  35).

Damit ist zugleich die Grenze bestimmt: „Nie darf sich eine kirchliche Zeitschrift anmaßen, über dasjenige hinauszugehen, was die Schrift in dieser Beziehung ausdrücklich aussagt, oder was eine nothwendige, für jeden Unbefangenen unverkennbare Folge ihrer Aussagen ist. Nie darf sie sich zur Verfechterin von Theorien aufwerfen, die, auch wenn sie sonst durch die stärksten Gründe wahrscheinlich gemacht werden sollten, doch in der Schrift keinen sicheren und festen Grund haben“ (ebd.).

Die EKZ lasse sich darum auch nicht auf Details der streitenden Parteien ein, sondern sei darauf aus, „auf die Gesinnung im Ganzen und Großen zu wirken“ (ebd.). Als kirchlich-theologisches Blatt müsse sie zudem wieder gutmachen, daß gerade die neuere Theologie mit dazu beigetragen habe, der Lehre vom Recht der Obrigkeit ihren Schriftgrund zu entziehen.270 Dies sei umso nötiger, als die nicht in der Schrift gegründeten konservativen Theorien ohne feste Prinzipien seien.271 Die EKZ müsse daher „die ewige Grundlage des Staates“ wieder geltend machen und so „die Herrschaft des schwankenden subjectiven Räsonnements auf diesem Gebiete“ zerstören (Sp.36). Hengstenberg beanspruchte demnach, nicht einer bestimmten politischen Weltanschauung, sondern der ewigen, göttlichen Lehre zu folgen. Ob er damit das Zeugnis der Schrift angemessen auffaßte, ist eine andere Frage. Zweifellos aber stand er mit seiner Ansicht von der Obrigkeit als einer von Gott geordneten Institution in der Tradition der reformatorischen Auslegung der einschlä269   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  33 – darauf beziehen sich auch die folgenden Angaben im Fließtext. 270   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  36: „Was die Theologie zum Theil verschuldet hat, muß die Theologie auch streben, so viel sie vermag, wieder gut zu machen.“ 271   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  36: „Ihre Polemik entbehrt des Principes; sie können sich nur auf ihr Rechtsgefühl, auf die persönlichen Vorzüge des Regenten, und – ein Grund, der unter den ihnen noch zu Gebote stehenden, falls schon einige Erfahrung ihnen zur Hülfe kommt, der kräftigste ist – auf die Unmöglichkeit einer consequenten Durchführung des revolutionären Principes, und auf die Furchtbarkeit seiner Folgen berufen.“

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gigen Schriftzeugnisse.272 Auch Gerlach kam aus dieser Tradition, und seine Beiträge zeugen von einer profunden Kenntnis der reformatorischen Theologie. Gerlach war aber kein Theologe; als Jurist war er von der Hallerschen Staatslehre geprägt, und in seiner konservativen Weltsicht verbanden sich verschiedene Elemente. Darum war Gerlach, als er ab 1830 zunehmend dezidiert politisch tätig wurde, auch offen für konservative Bündnispartner, die seine reformatorischen Ansichten nicht teilten. So beteiligte er sich an der Gründung des ‚Berliner politischen Wochenblatts‘, das sich den politischen Kampf gegen die Revolution zum Ziel gesetzt hatte und sich dabei bewußt interkonfessionell verstand.273 Die Mitarbeiter standen, wenn auch nicht ungebrochen, in der Tradition der Hallerschen Staatslehre und verfochten die Ansicht von der Göttlichkeit des Rechts.274 Redakteur das Blattes war der Professor der Rechte Carl Ernst Jarcke, der zum römischen Katholizismus konvertiert war. Nicht zuletzt deshalb war Hengstenberg über diese Koalition nicht erfreut. In aller Deutlichkeit ließ er Gerlach wissen, daß er es für Glaubensschwachheit halte, angesichts der kleinen Zahl derer, „welche die ganze Wahrheit haben [...] sich zu gemeinsamen Wirken mit Denen zu verbinden, die in wesentlichen Punkten noch vollkommen der Lüge angehören“275 und mit denen die Übereinstimmung in manchen Punkten nur eine scheinbare sein könne. Ger­lachs Verbindung mit der EKZ sei durch die Hallischen Angelegenheiten „weltbekannt“ geworden: „Welche Folgerungen wird man machen, wenn es ebenso bekannt wird, daß Sie mit einem Proselyten und Proselytenmacher der Römischen Kirche gemeinsame Sache machen!“276 Eine solche Verbindung würde auch für die der EKZ Wohlgesonnenen zum Anstoß. Rein politische Koalitionen unter Zurücksetzung der theologischen Differenzen waren für Hengstenberg also höchst problematisch. Daran zeigt sich sehr deutlich das Prä des Theologischen im Verhältnis zum Politischen. Gerlach sah die Sache anders. Zwar versicherte er, daß sein Verhältnis zum Wochenblatt in keinem Fall demjenigen zur EKZ vergleichbar sei, gleichwohl wollte er sich der Mitarbeit nicht völlig versagen. Denn unabhängig davon, ob er an Jarckes Blatt mitarbeite oder nicht, würde doch „alle Welt unsere (meine) Uebereinstimmung mit Jarke u[nd] Rad[owitz] erkennen u[nd] nach Befinden gegen Sie geltend machen“277. Eine Distanzie272   Dementsprechend wird im Vorwort von 1831 auch ein Aufsatz über die Obrigkeitslehre der Reformatoren angekündigt (s. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 8 [1831], Sp.  36). 273   Schildt, Konservatismus, 54 f.; Kraus, Gerlach, 151–157; vgl. auch Gerlach, Aufzeichnungen 1, 199. 274   Kraus, Gerlach, 157–159. 275   Hengstenberg an Gerlach, Okt. 1831: Bachmann 2, 299. 276   Ebd. Vgl. auch Gerlach, Aufzeichnungen 1, 199: „Otto und besonders Hengstenberg ermahnten mich auf das entschiedenste, von der Gemeinschaft mit diesen Katholiken abzustehen, aber ohne mich zu überzeugen.“ Gerlachs offene Sympathien für den römischen Katholizismus unterschieden ihn schon früh von Hengstenberg, vgl. Kraus, Gerlach, 853. 277   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 6. Nov. 1831: Nl Hengstenberg, Mappe Ger-

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rung der EKZ von anderen konservativen Richtungen hielt er demnach weder für nötig noch für praktikabel. Hengstenberg hingegen wollte keinesfalls mit den Kreisen um das konservative ‚Wochenblatt‘, zu denen neben E.L. von Gerlach auch dessen Brüder ­Leopold und Wilhelm gehörten, identifiziert werden und betonte deshalb im Vorwort von 1832 pointiert den Unterschied zwischen der EKZ und einer „christlich politischen Zeitschrift“278 . Während es letztere „direct auf die Hervorbringung von Wirkungen auf dem politischen Gebiete“ (Sp.  22) abgesehen haben müßte, verfolge die EKZ religiöse Ziele und sei „auf das Reich des Herrn gerichtet“ (Sp.  20). Sie behandle die politischen Zeitirrtümer nur insofern, „als sie ein Hinderniß auf dem Weg zur Seligkeit sind“ (Sp.  21) und Menschen vom Glauben abhielten. Auf politische Verhältnisse werde nur dann eingegangen, wenn Beziehungen zu theologischen Prinzipien bestünden, wie beispielsweise bei dem Zusammenhang von Revolution und Sünde: „Das revolutionäre Treiben ist das dem von Gott losgerissenen Menschen natürliche“ (Sp.  21). Dem Unternehmen eines politisch-christlichen Blattes schreibt Hengstenberg aber ins Stammbuch, daß sich auch ein solches nur nach christlichen Grundsätzen richten und sich nicht den „geistlosen Gegnern der Revolution“ anschließen dürfe, „die eben so wie ihre Freunde nur von Rechten, nicht von Pflichten hören mögen“ (Sp.  22). Eine derartige Zeitschrift „müßte erschrecken, wenn sie den dauernden Beifall einer Parthei erhielte, welche, ohne von göttlichen Principien getrieben zu werden, dem politischen Zeitgeiste nur deshalb feind ist, weil er ihre Interessen beeinträchtigt.“ Ein wahrhaft christlich-politisches Blatt müßte sich unter den Gegnern der Revolution ebenso Feinde machen, wie ein christlich-kirchliches Blatt – die EKZ also – „die todten Orthodoxen und Supernaturalisten nicht weniger zu Feinden haben muß, wie die Neologen“ (Sp.  22). Die Vorbehalte gegen das Wochenblatt sind aus diesen Bemerkungen genauso deutlich herauszuhören wie die Vorbehalte gegen eine Junkerpartei, der es nur auf die Verteidigung eigener Interessen ankommt. Hengstenberg selbst wollte kein christlich-politisches Blatt etablieren; ihm ging es um die Profilierung eines rein christlich-kirchlichen Konservatismus, der sich seine Maßstäbe nicht aus „weltlichem“ Kalkül vorgeben läßt. Wie schwierig dies Unterfangen in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre war, zeigt die zitierte Bemerkung Gerlachs, daß die EKZ zwangsläufig als Bündnispartner der politisch Konservativen erscheinen werde. Mit der Aufnahme von politischen Themen war eine faktische Politisierung des Blattes unausweichlich. Von einer zunehmenden Politisierung kann allerdings keine Rede sein. Nachdem in den Jahren 1830 bis 1832 mehrere Grundsatzartikel zur Stellung der lach, Ludwig v., Bogen 61 (teilweise transkribiert bei Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 164, Anm.  4; Bachmann 2, 301). 278   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 10 (1832), Sp.  21 – darauf beziehen sich auch die folgenden Angaben im Fließtext.

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Obrigkeit und zum Verhältnis von Staat und Kirche erschienen waren,279 gerieten die Themen zwischen 1832 und 1848 wieder völlig in den Hintergrund. Hengstenberg regte keine weiteren Diskussionen an und äußerte sich auch selbst nicht dazu. Die Vorworte, die als Gradmesser für die Aktualität von Themen gelten können, weil Hengstenberg in ihnen jeweils die wichtigsten Diskussionen des Vorjahres aufgreift, zeigen, daß in den 30er und Anfang der 40er Jahre kirchliche Themen auf der Tagesordnung standen: 280 zunächst die schlesischen Lutheraner, der Umgang mit ihnen und die durch sie infrage gestellte Union, dann – in Folge der Kölner Wirren und der Ausstellung des Trierer Rockes – das Verhältnis zum römischen Katholizismus281 und schließlich die Diskussion der Kirchenverfassung.282 Auch die im Vormärz geführten Debatten um Lichtfreunde und Deutschkatholiken wurden von Hengstenberg vorrangig unter kirchlichem Aspekt betrachtet, obwohl ihm die politische Dimension der Thematik nicht entging.283 Zu dezidiert politischen Fragen wird in diesen Jahren jedoch kaum Stellung bezogen. Durch die schlesischen Lutheraner und deren Verhältnis zum preußischen Staat angeregt, wird gelegentlich das Verhältnis von Staat und Kirche thematisiert. Daneben kehrt ein Thema periodisch wieder, das die EKZ schon seit 1829 begleitete und bereits damals eine Rüge des Kultusministers eingetragen hatte: die Ehegesetzgebung.284 Anfang der 40er 279   Außer den Gerlachschen Artikeln zur Julirevolution vom Herbst 1830 (‚Frankreich‘, EKZ 7 [1830], Sp.  686–688, Nr.  86; ‚Ueber die Verbindung zwischen Unglauben und Aufruhr‘, ebd., Sp.  703 f., Nr.  88; vgl. dazu Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 162–168 und Kraus, Gerlach, 152) erscheinen in der Folgezeit noch weitere Grundsatzartikel zur Obrigkeitslehre aus der Feder Gerlachs (‚Ueber Staatsreligionen, Toleranz und Trennung von Kirche und Staat‘, EKZ 8 [1831], Sp.  97–104.249–254.257–261, Nr.  13.32 f.; ‚Die Grundzüge der Lehre der heiligen Schrift von der Obrigkeit‘, ebd., Sp.  233–244, Nr.  30 f.; ‚Von einigen Einwürfen gegen die Lehre der heiligen Schrift vom göttlichen Rechte der Obrigkeiten‘, ebd., Sp.  641– 654, Nr.  81 f.) und Sartorius’ (‚Vom göttlichen Recht der Herrscher nach protestantischen Grundsätzen‘, ebd., Sp.  137–140.145–150, Nr.  18 f.); vgl. dazu Bachmann 2, 294–297.304 f. 280   Eine – allerdings sehr grobe – Übersicht über die Themen der Vorworte von 1827 bis 1877 bietet die Beilage zur EKZ 100 (1877). 281   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 24 (1839), Sp.  1–20 und zuvor die Artikel ‚Der Erzbischof von Cölln‘ von Leopold von Gerlach (EKZ 22 [1838], 52–56, Nr.  7 ), ‚Über die Stellung evangelischer Christen zur Cöllnisch-Römischen Streitsache‘ (EKZ 22 [1838], Sp.  307–312, Nr.  39; Verfasser unbekannt) und ‚Die katholische Frage‘ von Sartorius (EKZ 22 [1838], Sp.  321 f f., Nr.  41 f.), dazu Wulfmeyer, Hengstenberg, 250–267. 282   Vgl. dazu oben 3.3–3.5. 283   Sie werden erstmals ausführlich in dem Vorwort 36 (1845) thematisiert, vgl. dazu oben 2.2.3. 284   Das Thema war 1829 erstmals von Julius Müller behandelt worden: ‚Christus und unser Zeitalter in Beziehung auf die Ehebündnisse zw. Geschiedenen‘, EKZ 4 (1829), 169– 173.177–183.185–191.193–200, Nr.  22–25; Minister Altenstein rügte Hengstenberg damals für die Aufnahme des Artikels und mahnte, solche, „das sittliche Gefüge verwirrende Aeußerungen“ in Zukunft zu vermeiden (Altenstein an Hengstenberg, 14. Mai 1829: Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preuß. Kultusministerium [...], f.  4). 1860 weist Hengstenberg selbst darauf hin, daß das Ehethema die EKZ immer begleitet habe (Hengstenberg, Actenstücke, EKZ 67 [1860], Sp.  982). Noch 1867 nennt er J. Müller „den Mann, der zuerst in der

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Jahre erreichte die Diskussion einen neuen Höhepunkt. Auslöser war die angestrebte Eherechtsreform unter Justizminister Savigny, an der E.L. von Gerlach federführend beteiligt war.285. Jedoch war Hengstenberg weit davon entfernt, das Thema für ein rein politisches zu halten. Für ihn wie für seine Mitstreiter war die Ehegesetzgebung ein Kennzeichen für die Christlichkeit des Staat – der christliche Staat aber war ein Thema der EKZ, das ebenfalls unverkennbar politische Implikationen mit sich brachte. Es hatte mit Stahls Berufung nach Berlin 1840 einen vehementen Verfechter bekommen, doch erschien der erste programmatische Artikel Stahls dazu erst 1847.286 Der Blick auf die vorherrschenden Themen in der EKZ bis 1848 erweist, daß die von Gerlach und Hengstenberg in den Jahren 1829/30 vorgenommene Positionierung des Blattes das Gesicht der Zeitung und ihr Verhältnis zur Politik auch in den folgenden Jahren prägte: Politische Themen kamen nur dann in den Blick, wenn sie die Gemüter der Christen beschäftigten oder wenn sie Auswirkungen auf die Kirche hatten, und das war in jenen Jahren nur relativ selten der Fall. Insgesamt überrascht es eher, wie wenig die EKZ an den politischen Debatten im Vormärz beteiligt war.287 Der Schock der Julirevolution hatte auf Hengstenberg und seine Redaktionsarbeit bei weitem keine so nachhaltige

Ehesache der Kirche das stumpfgewordene Gewissen geschärft hat“ (Vorwort, EKZ 80 [1867], Sp.  62, Anm.). Vgl. zu den Anfängen der Debatten um die Ehescheidung Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 102–105.169–172. 285   Der davon handelnde Abschnitt in Hengstenbergs Vorwort, EKZ 36 (1845), Sp.  57–59 stammte von Gerlach (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 65); vgl. zu Gerlachs Beteiligung an der Reform Kraus, Gerlach, 308–329, zum Inhalt der Reform Blasius, Ehescheidung, 53– 76 und zur weiteren Entwicklung Buchholz, Eherecht. 286   Stahl, Der christliche Staat und sein Verhältniß zu Deismus und Judenthum, EKZ 41 (1847), Sp.  633–651.657–687, Nr.  64–68; äußerer Anlaß war der Vereinigte Landtag von 1847, auf dem die politische Gleichstellung von Juden und Angehörigen deistischer Sekten gefordert wurde (vgl. Besier, Revolution, 373; Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 237 f.; allgemein: Mieck, Preußen, 222–225 sowie Hengstenbergs Darstellung im Vorwort, 42 [1848], Sp.  33–41). 287   Dang, Sozialer Kampf, sieht in V.A. Hubers EKZ-Artikeln über die konservative Partei einen ersten Überschritt über die programmatische Verhältnisbestimmung von 1832 hinaus und einen Beleg für die „schrittweise erfolgte Politisierung der EKZ“ (ebd., 121). Doch das Gegenteil ist der Fall: Daß Huber die Gelegenheit bekam, sein Projekt einer christlichkonservativen politischen Zeitung in der EKZ vorzustellen (s. Huber, ‚Zum Verständniß über die Schrift: Die conservative Partei in Deutschland‘, EKZ 30 [1842], 188–200, Sp.  24 f., voraus ging eine Besprechung von Hubers Buch in: EKZ 29 [1841], Sp.  695 f.701–704.709– 712, Nr.  87–89; Huber, ‚Janus. Jahrbücher Deutscher Gesinnung, Bildung und That [...]‘, EKZ 37 [1845], Sp.  836–840, Nr.  9 0; vgl. zu Hubers Zeitschrift ‚Janus‘ und zu seinem Konservatismuskonzept Paulsen, Huber, 42–60; Vierhaus, Konservativ, 547–551; Baumann, Huber, 262–268), ist gerade kein Zeichen der Politisierung der EKZ, denn sonst hätte Hengstenberg Hubers Zeitschrift ja als Konkurrenz auffassen müssen. Hengstenberg begrüßte ein in dem Sinne politisch-christliches Blatte, wie er es im Vorwort von 1832 beschrieben hatte (s.o bei Anm.  278); ein solches Blatt war ihm willkommen, weil seine Existenz die als kirchlich verstandene EKZ davon entlastete, einen solchen Zweck erfüllen zu müssen.

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Wirkung gezeitigt wie in den politisch-konservativen Kreisen.288 Zu einem neuen Politisierungsschub kam es daher erst wieder, als sich die politischen Verhältnisse änderten und die Gläubigen vor der Frage standen, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten sollten. Dies war im März 1848 der Fall.

4.3.3  Recht der Obrigkeit und christlicher Staat – Orientierung in der Revolutionszeit (1848/49) 4.3.3.1  Reaktion auf die Zeitereignisse (März/April 1848) Die Ausrichtung der EKZ in den Revolutionswochen des Jahres 1848 ist in vielem vergleichbar mit den Vorgängen von 1830. Wieder ist es Hengstenberg, der Ernst Ludwig von Ger­lach um Hilfe bittet. Nachdem die Revolution in Paris ausgebrochen war und auf Deutschland überzuspringen begann,289 sandte Hengstenberg am 8. März 1848 einen Hilferuf an Gerlach, der seit 1844 Oberlandesgerichtspräsident in Magdeburg war: „Erbarmen Sie sich und schreiben Sie für die Ev. K.Z. einen Artikel über das, was jetzt aller Herzen bewegt: was soll der Christ thun im Angesicht der Zeichen der Zeit, da Völker toben, Reiche wanken, der Herr seine Stimme ertönen läßt u[nd] darum wanket die Erde. Ich denke, Sie müßten der Rede so voll seyn daß Ihnen die Brust zerspringen möchte. Ich kann noch nichts tun, ich muß der Sache noch länger ins Angesicht schauen u[nd] ihre Entwickelung absehen. Aber das Herz schlägt mir bei jeder Nummer, die ich ausgehen lassen muß u[nd] die von ganz anderem handelt als von dem wonach alle jetzt fragen“290.

Auch die Empfehlungen, die Gerlach gab, entsprachen ganz denjenigen von 1830: „[...] wäre diese Revolution nicht eine Gelegenheit, ihr Blatt wieder mehr zu einer Person zu machen, die wöchentlich zu uns redet, statt daß es eine Sammlung von Aufsätzen ist? Ich fürchte, daß es, wenn dieß nicht geschieht, 288

  Vgl. Vierhaus, Konservativ, 542; über die einschneidende Wirkung der Julirevolution in Deutschland insgesamt Nipperdey, Deutsche Geschichte, 366–377. 289   Vgl. zum Verlauf der Revolution in Deutschland Siemann, Revolution; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 595–673; Clark, Preußen, 536–582; Mieck, Preußen, 229–286; einen Überblick über die Revolutionen in Europa bieten Botzenhart, 1848/49; Langewiesche, Europa, 99–113. – Hinsichtlich des Verhältnisses der evangelischen Kirche in Preußen zur Revolution von 1848 existiert keine befriedigende Darstellung; die Broschüre von Delius, Revolution gibt nur einen groben Überblick; seine zahlreichen Bemerkungen über Hengstenberg leiden darunter, daß er Hengstenberg viele Artikel Gerlachs und anderer unterschiebt (z. B. ebd., 31); von den territorialgeschichtlichen Arbeiten ist die Darstellung über Württemberg hervorzuheben: Dietrich, Christentum; daneben gibt es Monographien über Baden: Dannenmann, Baden und Bayern: Magen, Politik; verwiesen sei des weiteren auf Homrichhausen, Paulskirche und den Tagungsband ‚Die evangelischen Kirchen und die Revolution‘ und die darin enthaltenen Überblicke von Greschat, Revolutionsjahr und Siemann, Kirchen sowie auf den Aufsatz von Hardtwig, Kirchen. 290   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 8. März 1848: Kopie aus dem Gerlacharchiv, Fasz. Ba (Original verschollen), transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 160 f.

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nicht auf der Höhe der Bedürfnisse der Zeit bleibt.“291 Zwar sei Hengstenberg als einem „Stuben Gelehrten“ diese konkrete Ausrichtung nicht gut zuzumuten, doch dem könne mit der Einrichtung wöchentlicher Redaktionssitzungen „wie vor 20 Jahren“, die „das Centrum der von mir gewünschten Persönlichkeit bildeten“, abgeholfen werden.292 Nebenbei läßt Gerlach Hengstenberg wissen, daß er sich durchaus auch Alternativen zur EKZ vorstellen kann: Er habe bereits begonnen, für das ‚Volksblatt für Stadt und Land‘ zu schreiben.293 Was sich Gerlach unter Artikeln vorstellte, die auf aktuelle Bedürfnisse reagieren, zeigte er sogleich selbst, indem er noch vor dem 18. März zwei Artikel an die Redaktion sandte: ‚Die Französische und die Deutsche Revolution‘ und ‚Die Deutsche Revolution und die Evangelische Kirche‘.294 Der erste erschien – aktueller konnte er nicht sein – ausgerechnet am Sonnabend, dem 18. März, als die Barrikadenkämpfe in Berlin trotz erster Zugeständnisse des Königs eskalierten und den Revolutionären der Durchbruch gelang. Gerlachs Strategie, die Revolution darin als einen französischen Import darzustellen, der dem deutschen Geiste und daher auch dem patriotistischen Gebaren der Aufrüher widerspreche, konnte somit kein Gehör mehr finden. Der zweite Artikel behandelte die besonderen Verhältnisse in Magdeburg. Anfang März hatte man der aus den Lichtfreunden hervorgegangenen freien Gemeinde um Uhlich gestattet, ein landeskirchliches Kirchengebäude mitzubenutzen. Das Nachgeben des Kirchenregiments gegenüber den Lichtfreunden, die als Träger der revolutionären Bewegung galten und in Magdeburg schließlich tatsächlich an vorderster Front der Revolution stehen sollten, brachte Gerlach direkt mit den Pariser Ereignis291   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Magdeburg 10. März 1848: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 157 (transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 162 f.); kursiv im Original unterstrichen. 292   Ebd. Als Berater für Hengstenberg dachte Gerlach an seine Brüder Otto und Leopold, an Stahl und an seinen Vertrauten Julius Bindewald. 293   Ebd.: „Ich habe schon angefangen für Tippelskirch zu schreiben, dessen Blatt mehr Persönlichkeit hat u[nd] sich in immer weiteren Kreisen Bahn bricht.“ Vgl. auch Ders. an Hengstenberg, Magdeburg 17. März 1848: Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 158: „Auch werde ich Sie deshalb nicht verlassen, obschon ich für politische Artikel durch das Tippelskirchsche Blatt wohl einen besseren Leser Kreis finde.“ – Vgl. zum ‚Volksblatt für Stadt und Land zur Belehrung und Unterhaltung‘ Obenaus, Zeitschriften 1848–1880, 99–101; die Zeitung wurde bis 1848 von Friedrich von Tippelskirch und dann von Franz von Florencourt herausgegeben; gegenüber letzterem hatte Hengstenberg deutliche Vorbehalte (Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow 16. Apr. 1848: Diwald, Gerlach 2, 507 f.). 294   EKZ 42 (1848), Sp.  2 09–213, Nr.  23 und Sp.  233–236, Nr.  26; der erste Artikel wurde am 10. März (E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Magdeburg 10. März 1848: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 157; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 78), der zweite nach dem 11. März an die Redaktion gesandt, denn er zitiert (Sp.  233; vgl. dazu Gerlach, Aufzeichnungen 1, 508) aus einer Zeitung vom 11. März, allerdings vor Hengstenbergs Antwortbrief vom 16. März (s.u. Anm.  296); die Angabe bei Dang, Sozialer Kampf, 162, der Artikel wäre am 16. März losgeschickt worden, beruht auf einem Lesefehler (sie meint den Begleitbrief vom 10. März) und auf einer Verwechslung (mit dem Brief vom 10. März wurde der erste Artikel eingesandt, s.o.).

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sen in Zusammenhang: Aus Furcht vor revolutionären Aufständen knicke man ein, kein „noch so feierlich zugesagter Schutz“ habe der Evangelischen Kirche „ihre ‚geschicht­lich und durch Staatsverträge begründeten Rechte‘ sichern können“295. Damit aber richtete sich der Artikel auch an den höchsten Schutzherrn der Kirche, den König, und äußerte klar vernehmbare Kritik. Aus diesem Grund hielt Hengstenberg den Artikel zunächst zurück. Nach Absprache mit Leopold von Gerlach teilte er seinem Verfasser mit: „Lebhafte Bedenken gegen ihren zweiten Artikel veranlaßten mich diesen ihrem Herrn Bruder mitzutheilen. Daß er mit diesen Bedenken übereinstimmt, zeigt sein beiliegender Brief.“296 Der König stecke, so erläutert Hengstenberg, in diesen Tagen „in miseriis et aerumnis“, solle man ihm in diesen Zeiten von Not und Trübsal nicht „zarte und schonende Rücksicht beweisen, die wir der Not des geringsten leidenden Bruder schuldig sind? Sollen auch wir noch mit dem zweischneidigen Schwerte auf ihn eindringen? Wie wehe that es mir, wie hatte ich das Gefühl schweren erlittenen Unrechtes, da ich in statu confessionis war vor zwei Jahren, wenn von gläubiger Seite auch wirkliche Schäden und Schwächen mit schonungsloser Hand berührt wurden.“297

Zwar bedauere auch er die Vorgänge in Magdeburg, doch sie beträfen mit den Kirchengebäuden doch nur eine Äußerlichkeit, „die eigentliche Entweihung unserer Kirchen“ sei „durch Zulassung des Rationalismus erfolgt“. Daher bat Hengstenberg Gerlach um Umarbeitung des Artikels, drückte zugleich aber die Hoffnung aus, daß diese Sache Gerlach der EKZ nicht entfremde – ein deutlicher Hinweis auf dessen Mitarbeit beim Volksblatt. Außerdem ließ er Gerlach wissen, daß auch ihm am Herzen liege, „daß die Ev. K.Z. mit der Zeit gleichen Schritt hält. Bisher ist dies doch auch wirklich geschehen, und vom ersten Anbruch dieser neuen Catastrophe an habe ich Briefe nach allen Himmelsgegenden geschrieben, mit der dringenden Aufforderung mir beizustehen, daß wir den neuen Anforderungen gerecht werden.“

Allerdings sei in Berlin wenig Unterstützung zu erlangen.298 Deshalb hoffe er auf Gerlachs Unterstützung: „Verlassen Sie mich nur nicht!“ Gerlach aber dach295   EKZ 42 (1848), Sp.  234; vgl. 235: „Die Sturmglocken des Pariser Aufruhrs wecken den Muth; Magdeburg ist voll von Gerüchten, die Lichtfreunde würden am Sonntag den 12. März eine Kirche, wohl gar den Dom, mit Gewalt wegnehmen, – da sinkt der Muth, da kapitulirt, wie wir gesehen haben die Festung.“ 296   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Berlin 16. März 1848: Kopie aus dem Gerlacharchiv (Original verschollen), teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 132. 297   Ebd. (Kursives im Original unterstrichen.) Hengstenberg spielte damit auf die Auseinandersetzungen von 1845 an (vgl. oben 2.2.3). 298   „Ihr Herr Bruder hat meine dringenden Bitten vorläufig ganz abgewiesen, von Bindewald ist nie etwas anderes zu erlangen als Versprechungen, und Stahl hat, glaube ich, in seinem Leben noch keine kürzeren Artikel geschrieben, folgt auch nie äußeren Impulsen, sondern schreibt nur, wenn es ihn innerlich dazu drängt, u[nd] das ist nur selten der Fall. Doch hoffe ich von ihm in den Ferien etwas zu erlangen. Leo hat mir zugesagt.“ (ebd.; kursiv im Original unterstrichen).

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te gar nicht daran, die EKZ zu verlassen. Er erklärte sich mit der Zurücknahme des Artikels einverstanden, wenn er auch mit Hengstenberg und seinem Bruder in der Sache uneins blieb: Gerade in diesen schwierigen Zeiten sei der König auf die kritischen Stimmen der ihm Nahestehenden angewiesen.299 Eine Wendung trat durch die Ereignisse vom 18. und 19. März ein. Am 25. März teilte Hengstenberg Gerlach kurz mit: „Ich habe nun doch noch Ihren Aufsatz abdrucken lassen. Der Erfolg hat gezeigt, daß Ihre Ansicht der Dinge die richtigere war.“300 Bevor dieser Umschwung bewertet werten kann, muß ein Blick auf Hengstenbergs eigene Haltung in den Revolutionstagen geworfen werden. Nicht nur sein Hilferuf vom 8. März zeigt, wie wenig klare Vorstellungen Hengstenberg von den politischen Verhältnissen in Berlin vor Ausbruch der Revolution hatte. Auch die Tatsache, daß er noch am Montag, dem 20. März, dem Tag nach den schwersten Ausein­andersetzungen, seine Vorlesung halten

299   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Magdeburg 17. März 1848: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 158 (teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 133 f.162 und Kriege, Kirchen-Zeitung 2, 345, Anm.  1; kursiv im Original unterstrichen): „Daß sie diesen Aufsatz nicht aufnehmen wollen, lasse ich mir gern gefallen. Ich bin so eigensinnig nicht, daß ich meinte, grade dieß u[nd] nur dieß müßte grade jetzt erscheinen. Aber das Umarbeiten muß ich Ihnen u[nd] allenfalls Leopold überlassen. [...] In der Sache selbst aber bin ich nicht Ihrer und meines Bruders Meinung. Ich besorge von solchen Aufsätzen keine Schwächung, sondern erwarte Stärkung der Autorität des Königs. Ich provocire auf die Erfahrung, ob nicht grade mir jedermann zutraut, daß ich es mit dem Könige bis auf den letzten Mann halten würde. (Wäre ich nur so treu und entschieden als die Gegner glauben!) Selbständige Männer, die dennoch mit dem Könige stehen, – solche braucht er. In Kirchensachen haben wir – unsre Parthey meine ich – in der That einigermaßen solche Selbständigkeit behauptet u[nd] so nach außen bestätigt, daß wir dadurch des Königs Kirchen Regiment gestützt haben. Aber in politicis nicht also. Und dies gereicht uns zum sauren Vorwurfe (– hier rede ich natürlich nicht Sie, sondern Leopold an –), dafür wird der König uns einmal vor Gottes Gericht ziehen. Darum ist er jetzt so verlassen. Wir haben lieber mit ihm conversiert u[nd] allerlei Witz u[nd] Klugheit ausgehen lassen, als uns, wie wir gekonnt u[nd] gesollt, selbständig zu rüsten und ihm zuzuziehen als ein wohl bewaffneter u[nd] organisirter Haufe. Wollten wir ihm vorwerfen, daß er sich den Liberalen in die Arme geworfen u[nd] mit ihnen schön gethan hat, so würde er uns mit Grund antworten: Wo waret ihr denn damals? Auf dem Schlachtfelde bin ich euch nicht gewahr geworden. Sie sehen, auf Kritik des armen Königs bin ich nicht gerichtet, sondern auf den Balken im eigenen Auge, und wenn es mir an Mitleid mit ihm fehlte, so müßte ich ein Herz haben härter wie Kieselstein. Aber nicht auf Mitleid kommt es an. – Das haben die Diener der deutschen Fürsten, die diese durch den Koth haben schleifen lassen, auch gehabt, – sondern auf treuen Dienst mit Einsetzung unsrer Personen. Die Zartheit, die Leopold empfiehlt, gleicht einem Manne, der seinen Nächsten und Freund fallen sieht und es zu unzart findet, ihn fest anzufassen, – wobey noch der Vor­ theil ist, daß man auch die eigenen Finger sich nicht verbrennt.“ Der Brief vom Vortag des 18. März endet mit einer Ahnung: „Vielleicht sind wir und alle diese Fragen in einigen Wochen unter der Pöbelherrschaft verschüttet! Immanuel!“ 300   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow bei Prenzlau 25. März 1848: Kopie aus dem Gerlach-Archiv (Original verschollen; teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 134).

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wollte,301 spricht dafür, daß die Revolution für ihn bisher eher eine theoretische Angelegenheit gewesen war. Zweifellos hat ihn die konkrete Begegnung mit der Revolution in Berlin schockiert. Da er ohnehin für die Osterferien – wie üblich – einen Erholungsurlaub auf dem Land geplant hatte, beschloß er kurzerhand, die Abreise auf das Gut seines Schwagers in Gramzow vorzuziehen, und verließ im Troß der aus Berlin Flüchtenden die Stadt.302 Die Eindrücke von der in Aufruhr befindlichen Menge scheinen ihn stark bewegt zu haben; zwei Tage nach der Ankunft in Gramzow schreibt seine Frau Therese: „Wilhelm sitzt Stunden lang auf einen Fleck sehend, ohne ein Wort zu sprechen; heute hat er einen Aufsatz für die Kirchenzeitung begonnen.“303 Hengstenberg schien es nun äußerst zweifelhaft, „[o]b man mich im Amte lassen wird [...], ebenso auch das Fortbestehen der Ev.K.Z.“304 Gleichwohl wollte er keinesfalls ohne Widerstand das Feld räumen, und bat dafür wiederum Gerlach um Unterstützung: „Doch werde ich auf keinen Fall meine Entlassung nehmen, u[nd] was die Ev.K.Z. betrifft, so liegt mir nichts mehr am Herzen, als daß sie gerade in dieser critischen Zeit, wo so Manche schon anfangen, den Mantel nach dem Winde zu hängen, in völliger, freilich gehaltener und nicht mensch­lich gereizter Entschiedenheit auftrete. Daß dieß geschehen könne, dazu bedarf es vor Allem auch Ihrer Beihilfe, u[nd] ich erlaube mir, Sie noch einmal um dieselbe so dringend als nur möglich zu bitten. [...] Es wird nöthig seyn, daß wir, wenn der Sturm etwas abgenommen u[nd] die Verhältnisse sich klarer gestaltet haben, eine Versammlung der Notabeln veranstalten um uns über die zu nehmende Stellung zu berathen. Entscheidende Schritte, wie z. B. die Bitte um Entlassung von einem kirchlichen Amte, sollen von dem Einzelnen nur communi consilio geschehen.“305

Erstmals öffentlich meldete sich Hengstenberg in der Kirchenzeitung vom 1. April zu Wort. Der Artikel unter dem Titel ‚Zeitbetrachtungen‘ widmet sich ganz der Frage, was die Kirche zu erwarten habe, wenn der bisher erst politisch 301   Vgl. Therese an ihre Mutter, Fr. von Quast, [21.] März 1848: Bachmann / Schmalenbach 3, 183: „Wilhelm wollte gestern früh lesen, fand aber statt seiner Zuhörer eine gräßliche Aufregung in der Universität und schloß sogleich.“ – Dem Brief zufolge ist Hengstenberg bereits am 20. März aus Berlin abgereist. 302   Der Universitätsbetrieb war am 20. März ohnehin eingestellt worden, vgl. Lenz, Universität 2/2, 223. Gegenüber Gerlach rechtfertigte er seine Abreise: „Ich bin seit einigen Tagen hier, nicht eigentlich als Flücht­ling, sondern auf Verordnung des Arztes, die schon vor einigen Wochen ergangen ist. Ich freue mich aber daß mir die Ferien erlauben hier zu seyn, an einem durchaus wohlgesinnten Orte u[nd] aus der drückenden Revolutionsathmosphäre etwas herausgerückt, damit ich einige Kräfte sammeln kann für die schweren Verhältnisse, denen ich entgegengehe“ (Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow bei Prenzlau 25. März 1848: Kopie aus dem Gerlach-Archiv [Original verschollen; teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 127]). 303   Therese an ihre Mutter, Fr. v. Quast, [22.?] März 1848: Bachmann / Schmalenbach 3, 184. 304   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow bei Prenzlau 25. März 1848: Kopie aus dem Gerlach-Archiv (Original verschollen; teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 127). 305   Ebd. (teilweise transkribiert bei Dang, Sozialer Kampf, 161).

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sich äußernde Geist auch auf das kirchliche Gebiet übergreifen und die „Entkirchlichung der Kirche“ in Angriff nehmen werde.306 Er geht fest davon aus, daß das neue Ministerium für eine demokratische Verfassung der Kirche sorgen und mit Hilfe einer von den Massen gewählten Synode das kirchliche Bekenntnis abschaffen werde. Angesichts dieses Szenarios stellt er die Frage, wie sich die kirchlich Gesinnten verhalten sollten. Keinesfalls sollten sie die Kirche überstürzt verlassen und sich den schlesischen Lutheranern oder der Brüdergemeine307 anschließen. Man solle vielmehr geduldig, betend und wartend, ausharren und gemeinsam das weitere Vorgehen planen. Wenn die Kirche im ganzen nicht beim Bekenntnis zu halten sei, solle man im Zweifelsfall jede einzelne Gemeinde vor dem Zugriff des Konsistoriums, das durch die Aufgabe des Bekenntnisses seine Legitimität verlöre, verteidigen. Der Artikel macht deutlich, daß Hengstenberg die neuen Verhältnisse zunächst einmal als gegeben hinnahm. Eine Hoffnung darauf, daß sich das Blatt noch einmal wenden könnte, läßt er nicht erkennen. Vielmehr schwört er die Gläubigen auf eine Verfolgungszeit ein und stärkt sie in der Hoffnung auf die neue Welt: „Je ärger, desto besser. Denn um so näher ist das Heil, um so näher die Wiedergeburt der Welt“ (Sp.  248) Auch zeigt er sich davon überzeugt, „daß die bevorstehende Zeit eine Zeit des Segens und der gnädigen Heimsuchung für die Kirche seyn wird“ (Sp.  245). Anfechtung und Leiden würden die Gläubigen reinigen und zu neuem Ernst führen, und die Folgen der Revolution würden vielen die Herzen für die Predigt von Buße und Glauben öffnen. Zudem werde die Zeit in die Schrift hineintreiben, besonders in das AT, „in dem die Kirche zu allen Zeiten sich selbst wiederfindet, in denen Gefahr oder Heil das Kirchliche und das Nationale zugleich betreffen“ (Sp.  245). So solle man sich auch in politischer Hinsicht am himmlischen Bürgerrecht orientieren und ganz gleich, wie es um die ir­disch­en Güter stehe, bei dem Wahlspruch „Mit Gott für König und Vaterland“ bleiben. Vor nationalistischen Hoffnungen solle man sich schützen. Es sei eine Verblendung zu „wähnen, aus der Empörung werde sich ein nach innen einiges, nach außen mächtiges Deutschland erheben [...]. Das Königtum, das auf den Barrikaden geboren ist, ist auf den Barrikaden gestorben.“ (Sp.  246). Es ist kein Wunder, daß Gerlach, der sich zu dieser Zeit bereits kräftig um die Sammlung der Revolutionsgegner bemühte, diese Haltung zu quietistisch erschien. Er war, kurz nachdem Hengstenberg Berlin verlassen hatte, geradewegs in die Hauptstadt gereist und hatte sich ein eigenes Bild von den Verhältnissen

306   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen, EKZ 42 (1848), Sp.  241–248, Nr.  27 – darauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 307   Von der Hengstenberg gesteht: „in die sich auch der Schreiber dieser Zeilen von Herzen gerne zurückzöge, wenn er glauben dürfte, daß der Herr ihn bereits aus seinem Dienste entlassen hätte.“ (ebd., Sp.  243).

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gemacht.308 Alles, was nach Flucht aussah, erschien ihm verwerflich; so forderte er Hengstenberg am 27. März auf: „Aber Sie sollten in Berlin seyn. Auch Stahl ist wieder dort. Ihre Abwesenheit macht alles gemeinsame Handeln schwer. Kehren Sie sobald als möglich zurück. Ich war drei Tage dort und kann immer leicht auf 1/2 – 1 Tag hinüber.“309 So kehrte Hengstenberg, zwar nicht so schnell, wie Ger­lach es wünschte, aber doch noch vor Ostern, am 19. April, nach Berlin zurück.310 Bereits am 15. hatte er eine weitere ‚Zeitbetrachtung‘ erscheinen lassen.311 Darin bekräftigte er seine Haltung hinsichtlich der zu erwartenden kirchlichen Umwälzungen. Man solle „den Gegnern jeden Fuß Landes streitig zu machen [suchen], den sie von dem Eigenthum der Kirche sich aneignen wollen“ (Sp.  275). Eine konstitutionelle Kirchenverfasung sei an sich mit dem Wesen der Kirche nicht unvereinbar und daher kein Grund auszutreten. Der „casus belli“ trete erst dann ein, wenn „vermittelst der demokratischen Verfassung, was freilich unvermeidlich scheint, das Bekenntniß abgeschafft oder aufgelockert wird“ (Sp.  274). Wiederum sieht er auch die positive Seite der Entwicklung. Die Lösung der Kirche vom Staat enbinde die Kirche von der Last, die ihr die öffentliche Bedeutung auferlegt habe. Der „Strick ist entzwei und wir sind frei. Der Christ dient am liebsten Gott nach dem Wege, den sie eine Sekte heißen, er liebt es das Kreuz seinem Erlöser nachzutragen, einen anderen Stand läßt er sich nur gefallen um des Rechtes und der Brüder willen“ (Sp.  275). Deutlicher wird nun aber auch zum Politischen Stellung bezogen: Die gegenwärtigen Gegensätze hätten „eine sittlich religiöse Wurzel“; es sei also „für die Glieder und Diener der Kirche kein Übergang auf ein fremdes Gebiet [...], wenn sie sich bei diesen Kämpfen betheiligen. Der Diener der Kirche soll sich nicht dadurch als solcher kund geben, daß er sich mit diesen Sachen überhaupt nicht befaßt, sondern durch den Geist, in dem er es thut, dadurch, daß er stets über den Sachen steht,

308

  S. Kraus, Gerlach, 398–402.   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Magdeburg 27. März 1848: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 159 (teilweise transkribiert bei Bachmann / Schmalenbach 3, 190; Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 358, Anm.  5 ); vgl. zu Stahls Flucht aus Berlin Füssl, Stahl, 122. 310   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow 16. Apr. 1848: Kopie aus dem GerlachArchiv (Original verschollen), transkribiert bei Diwald, Gerlach 2, 507 (kursiv im Original unterstrichen): „Ich wäre schon früher zurückgekommen oder vielmehr gar nicht weggegangen, wenn nicht meine Gesundheit mir die Pflicht auferlegt hätte zu bleiben, und mich für den bevorstehenden viellecht sehr schweren Sommerfeldzug zu stärken. Ohne ein gewisses, wenn auch kleines Maaß an Gesundheit ist in meiner Stellung nicht auszukommmen. Ich hoffe aber, daß nichts versäumt worden ist, für die K.Z. habe ich hier entschieden mehr thun können, u[nd] auch sonst ist meine Anwesenheit hier wohl nicht ganz vergeblich gewesen. Die Gesinnung in den hiesigen Kreisen ist eine recht erfreuliche.“ Es ist daher ein Irrtum, wenn Füssl, Stahl, 122 behauptet, die EKZ sei nur deshalb weiterhin erschienen, weil Gerlach Hengstenberg nach Berlin zurückgerufen habe. 311   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen. Zweiter Artikel, EKZ 42 (1848), Sp.  273–278, Nr.  31 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 309

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sich nicht in ein leidenschaftliches Parteigetreibe verwickeln läßt, an keinen Umtrieben theilnimmt [...]“ (Sp.  277).

Darüber hinaus gab er den konkreten Ratschlag, man soll es hinsichtlich der geplanten Wahlen nicht bei allgemeinen Empfehlungen belassen, „nur solchen ihre Stimme zu geben, welche Gott fürchten und den Könige ehren“, vielmehr sollten sich die „Gutgesinnten“ in jedem Kreise auf einen Kandidaten verständigen, den sie den Wählern empfehlen; in gemischtkonfessionellen Kreisen sollten sich hierzu Evangelische und Katholische die Hände reichen (Sp.  278). Läßt man Hengstenbergs erste Reaktionen auf die Revolution Revue passieren, dann treten folgende Gesichtspunkte hervor und geben zu erkennen, was Hengstenberg bei seiner Redaktionstätigkeit angesichts der revolutionären Ereignisse geleitet hat: Zuerst und zunächst stand bei der Gestaltung der EKZ die – im Grunde seelsorgerliche – Frage im Vordergrund: „was soll der Christ thun im Angesicht der Zeichen der Zeit.“312 Damit blieb Hengstenberg der Positionierung von 1830 treu, auch wenn er sich persönlich noch nicht in der Lage sah, die revolutionären Zeichen angemessen zu deuten. Er selbst beantwortete die Frage erst nach Ausbruch der Revolution, allerdings beschränkte er sich dabei ganz auf die Betrachtung der zukünftigen kirchlichen Existenz. Es scheint so, als habe er unter dem Eindruck des Sieges der Revolution den Beitrag der Christen zur Gestaltung des Staates zunächst völlig aufgegeben und hingenommen, daß die Kirche nunmehr ein Sektendasein fristen müsse. Aber Gerlach rief ihn schon bald wieder aus seiner märkischen Abgeschiedenheit in die Berliner Realität und damit in die dem Christen aufgetragene politische Mitverantwortung zurück. Hengstenberg war ja immer davon ausgegangen, daß den politischen Gegensätze tiefere geistige, theologische Unterschiede zu Grunde liegen. Mit seinem Aufruf zur bewußten Einflußnahme auf die Wahlen 313 kehrte er zu dieser Position zurück.314 Noch in einem anderen Sinne holte Gerlach Hengstenberg in die Realität zurück, und hier ist auf Hengstenbergs Umgang mit Gerlachs königskritischen Äußerungen zurückzukommen. Aufgrund der Zurückweisung des Artikels könnte der Eindruck entstehen, Hengstenberg stelle hier die Loyalität gegen312

  S.o. bei Anm.  290.   Daß er dabei nun auch die überkonfessionelle politische Zusammenarbeit befürwortet, ist kein grundsätzlicher Unterschied zu 1831, da man sich im Blick auf die Wahlen nur in Hinsicht auf Personen, nicht aber grundsätzlich im Programmatischen einigen mußte; außerdem handelte es sich dabei nicht um eine dauerhafte Parteibildung. 314   Es ist denkbar, daß Hengstenbergs ‚Zeitbetrachtungen‘ bereits von Gerlachs Artikel ‚Blick in die Zeit‘ (EKZ 42 [1848], Sp.  313–320, Nr.  34) beeinflußt waren. Beide sprechen unisono davon, daß man in der Kirche den Gegnern „jeden Fuß Land streitig“ (Sp.  275) machen bzw. „jeden Fußbreit Landes vertheidigen“ (Sp.  320) müsse. Gerlachs Artikel lag Hengstenberg schon vor dem 16. April vor, wie lange, ist nicht klar, vgl. Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, Gramzow 16. Apr. 1848: Kopie aus dem Gerlach-Archiv (Original verschollen), transkribiert bei Diwald, Gerlach 2, 507 f. 313

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über dem König über theologische Überzeugung. Doch das ist nicht der Punkt. Hengstenberg hält – wie unten gezeigt werden wird – strikt an dem biblischen Gebot, die Obrigkeit zu ehren, fest, auch wenn er die Entscheidungen des Königs bedauert. Darum erscheint es ihm problematisch, in einer Situation, in der dieses Gebot massiven Anfeindungen ausgesetzt ist, auch nur scheinbar Munition für diesen Angriff zu liefern. Die Ehrfurcht vor Gott und die Ehrfurcht vor der Obrigkeit hängen für ihn so eng zusammen, daß es ihm unmöglich ist, die kirchlichen Felle auf Kosten der staatlichen Ordnung zu retten. Beides, sowohl die Preisgabe der Kirchengebäude durch den König als auch der Angriff der Revolutionäre auf die gottgegebene Obrigkeit, widerspricht Hengstenbergs christlichen Grundsätzen. Bei der Abwägung muß aber das Gebot, die Obrigkeit zu ehren, als ungleich gewichtiger erscheinen. Als der König durch die Zugeständnisse der Märztage selbst seine obrigkeitliche Stellung preiszugeben schien, sah Hengstenberg nun keinen Grund mehr, die Kritik zurückzuhalten. Im Gegenteil: In der Revolution sah er das Gericht Gottes über den Monarchen, und daher galt es nun, dessen Schuld aufzudecken und ihn zur Buße zu rufen.315 Nun war es am Platz, durch die Kritik an dem Monarchen, der seine Obrigkeitswürde aufzugeben schien, die Würde der Obrigkeit im biblischen Sinne zu verteidigen. Hengstenbergs theologische Überzeugung änderte sich also nicht, doch durch die geänderten Verhältnisse veränderte sich sein Verhalten. Nachdem Hengstenberg aus der Schockstarre erwacht war, erschienen 1848 in der EKZ schließlich zahlreiche Artikel zur Revolution, die zu einer christlichen Bewertung oder zum angemessenen christlichen Verhalten aufrufen wollten. Am stärksten politisch gefärbt waren dabei die Artikel Gerlachs, doch auch sie gingen nicht von politischen Theorien, sondern von einer religiösen Deutung der Vorgänge aus.316 Als klassisches Beispiel sei sein Artikel ‚Ein Blick in 315   Vgl. dazu unten 4.3.4.2 Hengstenbergs Äußerungen zum Verhältnis von Legitimität und Gericht Gottes. 316   Bereits in seinem Artikel vom 18. März deutete Gerlach die Herausbildung ideologischer Fronten theologisch: Das Land sei „in Parteien gespalten, unter denen Alles streitig ist, hauptsächlich ob es einen lebendigen Gott gibt, und folglich auch, ob Er es ist, der so wie seine Kirche durch sein Wort und seinen Geist, so die Welt durch die Träger seines Schwertes regiert“ (EKZ 42 [1848], Sp.  212). – Dang, Sozialer Kampf, 150 f. unterteilt die EKZArtikel des Jahres 1848 in solche, die eine „Anerkennung der bürgerlichen Ordnung und Kampf um die Stellung der eigenen Partei darin“ propagierten („Revolutionsartikel“), und solche, die ein „Bündnis mit der Junkerpartei zur Restaurierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf vormärzlicher Basis“ vorantrieben („Restaurationsartikel“), doch die Aufteilung erscheint willkürlich und überzeugt nicht, denn erstens ist Gerlach kein typischer Vetreter der „Junkerpartei“ (vgl. Kraus, Gerlach, 423–425), zweitens finden sich in den meisten Artikeln weder eindeutig Hinweise für die eine noch für die andere Richtung, und drittens nimmt Dang, ebd., 152 den Gegensatz selbst zurück, indem sie zu Recht betont, daß es allen Autoren um „eine Durchdringung des Staates durch das Christentum“ gehe. Richtig ist, daß es im Kreis der EKZ zunächst unterschiedliche Ansichten gab, wie man mit den Ergebnissen der Revolution umzugehen habe und wie man sich zu den „Märzverheißungen“

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die Zeit‘ vom 26. April genannt, in dem Gerlach unerschrocken und mit geschliffener Polemik die deutsche Revolution als Sieg der Radikalen in Paris beschreibt und schonungslos die Feigheit des Königs, der Stände und der Geistlichen anprangert. Dabei betont er: „wir können, wo es auf das Bekennen, der Revolution gegenüber, ankommt, das politische von dem kirchlichen Gebiete nicht scheiden. Die neuesten Revolutionen sind, in ihrem Kerne kirchliche sowohl als politische Begebenheiten. [...] Es ist derselbe Gott, der die Könige und Obrigkeiten gesetzt hat zur Rache über die Übelthäter und zum Lobe der Frommen, und der Seinen Sohn in die Welt gesandt, Seinen Geist ausgegossen hat, daß die Welt versöhnt und selig werde. Und ob dieser Gott oder das Fleisch regieren soll, das ist die große Streitfrage des Tages.“317

Wenn er darum bald die Themen Obrigkeit, Freiheit, Repräsentation, Nationalität näher zu behandeln gedenke, dann tue er dies, „ohne die Schranken des Berufs dieser Blätter irgend zu überschreiten“ (Sp.  316). Wie eng in der Frage der Revolution Theologie und Politik verknüpft waren, hatte Gerlach schon zu Beginn der Revolution in Magdeburg hautnah mitbekommen. Dort begannen die Unruhen nämlich damit, daß Demonstranten unter dem Ruf „Es lebe Uhlich!“ das Konsistorium zu stürmen und die gegen die Lichtfreunde von der Behörde verhängten Beschlüsse mit Gewalt rückgänig zu machen versuch­ ten.318 Insgesamt drang die EKZ im Jahr 1848 gerade auch da, wo sich konservative Politiker wie Gerlach zu Wort meldeten, nicht weiter auf politisches Terrain vor, als es zu einer Orientierung der christlichen Leser geboten erschien. Die Beurteilung der politischen Verhältnisse stand immer unter theologischem Vorzeichen; 319 die Beiträge zielten auf das rechte christliche Verhalten in einer Zeit, in der die alten Ordnungen aus den Fugen gerieten. Damit waren sie nicht unpolitisch, aber sie waren nicht politisch in dem Sinne, daß ihre Weltanschauung von bestimmten politischen Zielen geformt wurde. Verteidigt wurde vielmehr das religiöse Weltbild. In diesem Sinne nutzte Gerlach die EKZ als publizistische Plattform, doch er wollte sie nicht zu einem politischen Blatt transformiedes Königs stellen solle, doch darin sind keine starren Positionen zu sehen, es handelt sich vielmehr um eine Entwicklung, an deren Ende der Konstitutionalismus schließlich von der Mehrheit akzeptiert wird (vgl. zu Gerlach Kraus, Gerlach, 418–421.491 f.). 317   E.L. v. Gerlach, Ein Blick in die Zeit, EKZ 42 (1848), Sp.  313–320, Nr.  34, hier: Sp.  318 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 318   S. Kraus, Gerlach, 395–398; Brederlow, Lichtfreunde, 83 f. Gerlach veröffentlichte in ‚Ein Blick in die Zeit‘ das Schreiben des Predigers Sachse aus Magdeburg, der den Ungehorsam gegenüber dem Konsistorium als Sieg „herzerquickender, vernunftgemäßer Geistordnung“ über die „alte Buchstabenordnung“ rühmte (EKZ 42 [1848], Sp.  318). 319   Das bestätigt auch Krieges zusammenhanglose Auflistung von Schlagwörtern aus den verschiedensten Artikeln, die mit der Feststellung schließt, daß, da als Ursache der Revolution durchweg der Unglaube geltend gemacht werde, „die Ereignisse von vorneherein in Zusammenhang mit der Kirche gebracht“ würden (Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 346; ählich Dang, Sozialer Kampf, 151.165).

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ren.320 Das wird dadurch unterstrichen, daß er – ähnlich wie 1831 – neben der EKZ noch spezielle Organe zur politischen Meinungsäußerung suchte. Das ‚Berliner politische Wochenblatt‘ war – Hengstenberg hatte es vorausgeahnt – an dem konfessionellen Gegensatz zerbrochen und 1841 eingestellt worden.321 Das ‚Volksblatt‘ befriedigte Gerlach auf Dauer nicht. So nahm er die Sache schließlich selbst in die Hand und gründete die ‚Neue Preußischen Zeitung‘. Am 16. Juni 1848 erschien erstmals eine Probenummer des Blattes, das unter dem Kurztitel „Kreuzzeitung“ bekannt werden sollte. Hier fand Gerlach in Zukunft sein politisch-publizistisches Betätigungsfeld. Hengstenberg unterstützte die Gründung, beteiligte sich selbst aber nicht an dem Blatt.322 Daran wird wiederum deutlich, daß er seine eigene Aufgabe nicht im Bereich politischer Publizistik sah. Die Gründung der Kreuzzeitung hatte nun aber zur Folge, daß Gerlach, der nach 1848 zunehmend zu einem politischen Stimmführer wurde, für seine politischen Aktivitäten einen eigenen Kanal hatte und seine Mitarbeit an der EKZ mehr und mehr einschränkte.323 Mitten im Revolutionsjahr war damit ein Schritt getan, der dazu beitrug, eine durch die politischen Verhältnisse verursachte politische Überfrachtung der EKZ zu verhindern. Inwiefern die Position der EKZ aber dennoch politisch relevant blieb, soll an Hengstenbergs eigenen Stellungnahmen zu den Veränderungen im Jahr 1848 und danach verdeutlich werden. Dabei spielen zwei Themenkomplexe eine zentrale Rolle: die Frage nach dem Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates. 4.3.3.2  Das Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates Schon in seiner ersten Stellungnahme nach der Revolution vertrat Hengstenberg die revolutionäre Zeitgenossen sicherlich amüsierende Ansicht, daß man sich nun vor allem in die heilige Schrift vertiefen müsse.324 Im Rückblick auf das Jahr, dem Vorwort von 1849, bekräftigte er diese Ansicht. Die „Ausdeutung 320

  Gg. Christensen, Hengstenberg, 75.94; Füssl, Stahl, 140.   S. Schildt, Konservatismus, 55. 322   Vgl. Kraus, Gerlach, 411–414. Daß Hengstenberg die Wahl Hermann Wageners als Redakteur heftig kritisierte (ebd., 413 f.), weil Wagener Irvingianer war (vgl. Obst, Lichtfreunde, 328 f.; Dang, Sozialer Kampf, 163 f.), zeigt, daß er schlechterdings nicht von der religiösen Beurteilung absehen konnte. 323   Das wird deutlich an der Liste der EKZ-Artikel Gerlachs, die der Autor selbst an Bachmann schickte (E.L. v. Gerlach an Bachmann, Berlin 19. Jan. 1876: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann, ohne Paginierung): 1848 erscheinen sechs Artikel aus der Feder Gerlachs, 1849 nur noch zwei und dann im ganzen nächsten Jahrzehnt nur noch drei! Vgl. zudem Kriege, Kirchen-Zeitung 2, Namenregister, 5 f. (deren Auflistung aber nicht vollständig ist) und Kraus, Gerlach, 939 (der für 1848 elf Gerlachartikel zählt, ansonsten aber mit Gerlachs Liste übereinstimmt). Auch nach Hengstenbergs Verständnis bedeutet das Jahr 1848 in diesem Sinne eine Zäsur; er spricht später von Gerlach als dem, „dessen Hülfe wir seit dem J. 48 ungern entbehren“ (Vorwort 58 [1856], Sp.  48). 324   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen, EKZ 42 (1848), Sp.  245; vgl. oben bei Anm.  306. 321

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der Zeichen der Zeit“ sei „eine der wichtigsten Pflichten einer Kirchen-Zeitung“. Dazu gehöre aber ein „guter“, will sagen: nicht von Selbstsucht bestimmter Wille, und die „Vertiefung in die heilige Schrift“.325 Es wurde bisher nie beachtet, daß ausgerechnet von 1849 an die Vorworte der EKZ in der Regel mit einer biblischen Betrachtung beginnen und nicht wie zuvor sogleich die Jahresereignisse zur Sprache bringen. Dabei geht Hengstenberg, wie bereits oben (2.3.3.2) dargestellt wurde, davon aus, daß die Bibel zu jeder Zeit die Lebensverhältnisse und Ereignisse deuten und erhellen kann. 1849 nun legt Hengstenberg Off b 6,12–17 aus, das sechste Siegel der Offenbarung: „die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel sich bewegen.“ Damit lenkt er den Blick auf die Fürsten und ihre von der Revolution erschütterte Stellung: Die Sterne seien „Symbol der Herrschergröße“ (Sp.  7): Die Herrscher fallen, aber – und das ist der entscheidende Punkt – sie fallen verdientermaßen. Louis Philipp habe die „verdiente Vergeltung“ erhalten. Was hinsichtlich der revolutionären Umtriebe als „schwerer, fluchwürdiger Frevel sich darstellt und als Ursache neuer Gerichte“, das erscheint im Blick auf die Fürsten „als Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, als ein anbetungswürdiger Akt der Heiligung Christi an denen, die ihn nicht heiligen wollten.“ (Sp.  8 ). Wer als Christ dies letztere übersehe, sinke „zum ordinären Legitimisten herab“ (ebd.). Die Kritik an den Herrschern – und damit fällt noch einmal Licht auf Hengstenbergs Haltung im März 1848 – zielt zunächst auf deren feiges Verhalten im Revolutionsjahr. Allerdings sei die Feigheit als „Theil des Gerichtes“ (Sp.  10) nur ein Symptom, in dem sich das eigentliche Übel, der Unglaube, äußere. Der Unglaube aber sei nicht erst ein Produkt dieses Jahrhunderts. „Es wird dasjenige geerntet, was seit einem Jahrhunderte gesäet worden, und bei dieser Abrechnung konnte und kann auch das Reich unseres großen Friedrich nicht leer ausgehen, der, wie Salomo Israel, so Deutschland zuerst sündigen gemacht, und der geistig noch lange nach seinem Tode fortgeherrscht hat, also, daß wir noch bis auf diesen Tag nicht gereinigt sind von der Schuld, die damals über unser Volk kam, und auch nimmer werden gereinigt werden, bis wir uns entschließen mit dieser Vergangenheit zu brechen.“ (Sp.  10 f.).326

Die Kritik an den Fürsten, auch an den preußischen Herrschern, richtet sich darauf, daß sie sich nach Ansicht Hengstenbergs nicht der von Frankreich ausgehenden „Feindschaft gegen Gott“ (Sp.  13) entgegengestellt haben. Indem sie aber die Zersetzung des Christentums zugelassen hätten, hätten sie sich selbst den Boden unter den Füßen weggezogen. Denn, so die zugrundeliegende The-

325   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  2 f. – darauf beziehen sich im folgenden die Angaben im Fließtext. Dang, Sozialer Kampf, 153 vermerkt zu Recht, daß das Vorwort zeige, „wie ungeeignet die EKZ für den politischen Kampf des Adels tatsächlich war“. 326   Deutlich hatte Hengstenberg schon im Vorwort, EKZ 28 (1841), Sp.  3 f. Kritik an Friedrich II. geäußert, der den Ungläubigen als Kultfigur diene.

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se: Gottesverehrung und gesellschaftliche Ordnung stehen in einem engen Zusammenhang. „Gott schwebt nicht über den irdischen Verhältnissen, er ist vielmehr ihrer aller lebendiger Grund. [...] Gott ist das Band der menschlichen Gesellschaft, wo er nicht mehr ist, da ist lauter Verwirrung und Dunkel, Zwietracht und Zerrüttung. Ist die erste Tafel des Gesetzes zertrümmert, so zerspringt die zweite von selbst.“ (Sp.  14)

Mit der Gottesfurcht schwinde auch die rechte Ausübung des Herrscheramtes: „Die ‚Reichen und die Starken‘ vergaßen mit ihrem Heilande auch der barmherzigen Liebe. Sie betrachteten sich nicht ferner als die Haushalter Gottes, ihren Besitz nicht ferner als ein Amt.“ (Sp.  14) Was die preußischen Herrscher angeht, so wird von Hengstenberg allerdings nur Friedrich der Große namentlich für die Misere verantwortlich gemacht. Die späteren Könige werden durch den Verweis auf die Beamtenschaft, in der „Unglauben und Gleichgültigkeit einen Hauptsitz aufgeschlagen“ hätten (Sp.  13), ein wenig entlastet. Das Bemerkenswerte an dem Rückblick von 1849 ist jedoch, daß Hengstenberg die Entheiligung der Obrigkeit nicht allein den Revolutionären zur Last legt, sondern darin die zwangs­läu­fi­ge Folge einer Entwicklung diagnostiziert, an der die Fürsten selbst wesentlichen Anteil hatten.327 Wenn vom Recht der Obrigkeit die Rede ist, darf diese Seite nicht übersehen werden. Denn andererseits wird von Hengstenberg niemals in Frage gestellt, daß die Obrigkeit von Gott eingesetzt wurde, und darum gilt für das Verhalten der Revolutionäre: Das „Ankämpfen gegen die fürstliche Gewalt“ ist „überall im Grunde gegen Gott selbst gerichtet“ (Sp.  17), dem man nicht glauben wolle, daß er einer irdischen Institution „den Stempel seiner Herrlichkeit“ (Sp.  18) aufdrücke und man in „den Regenten den Abglanz der Majestät Gottes“ (Sp.  17) erkennen solle. Jedes Verbrechen gegen Gottes sichtbaren Stellvertreter sei daher ein Verbrechen gegen Gott: „Gott schließt sich nicht in den Himmel ein, er steigt mitten in unsere irdischen Verhältnisse hinab, und wie wir uns gegen den in ihnen offenbar gewordenen bezeigen, das ist der sichere und untrügliche Maßstab für unsere Frömmigkeit oder Gottlosigkeit.“ (Sp.18) 328 Bereits im August 1848 hatte Hengstenberg einen Aufsatz über die Frage ‚Was sagt die heilige Schrift über die Revolution‘ veröffentlicht und darin auf die grundlegende Bedeutung der biblischen Obrigkeitslehre für die Beurteilung der Revolution hingewiesen.329 Bei der Beurteilung der Revolution komme es darauf an, daß man sich nicht nach seinen „subjektiven Gefühlen“, nach „natürlichen Sympathien und Antipathien“ oder nach dem Nutzen für die ei327   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  14: „Wo nicht im Namen Gottes befohlen wird, da wird auch nicht ferner im Namen Gottes gehorcht.“ 328   Wie zentral der Gedanke von der wirkenden Weltgegenwart Gottes für Hengstenberg war, darauf wurde bereits oben (2.4.1.2) aufmerksam gemacht. 329   Hengstenberg, Revolution, EKZ 43 (1848), Sp.  681–684.697–700.705–709.713–715, Nr.  70–73 – darauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext.

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genen Interessen richte, sondern „eine objektive Norm, einen untrüglichen Maßstab“ zugrunde lege (Sp.  681). Das aber sei immer der Anspruch der EKZ bei allen ihren Äußerungen zum Thema gewesen: Sie lege dem Publikum keine Meinungen zur Prüfung vor, „sondern sie ist sich bewußt gewesen, das objektiv richtige Urtheil auszusprechen, und sie hat seine Anerkennung um deswillen gefordert, weil es aus dem untrüglichen Gotteswort geschöpft ist“ (Sp.  682). Es sei ein Irrtum zu meinen, die Schrift äußere sich nicht zu diesen Fragen, „als gäbe es Verhältnisse im Privat- und öffentlichen Leben, wo es ungehörig wäre zu sprechen: Dein Wort, o Herr ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinen Wegen.“ (ebd.) Zwar äußere sich die Schrift nicht über die beste Form der Staatsverfassung, aber sie lasse keine Zweifel „über das wahre sittliche, über das christliche Verhalten [...], welches Jeder, der mit ihr nicht brechen will, auf dem Gebiete des bürgerlichen, des Staatslebens zu beobachten habe.“ (Sp.682) 330 Die Schrift vertrete nun – das zeigt Hengstenberg anschließend an den einschlägigen neutstamentlichen Stellen auf – überall den Grundsatz: „Daß die Obrigkeit mit göttlicher Autorität bestehe, daß sie als ein wesentlich göttliches Institut anzusehen und zu achten sey“ (Sp.  683). Dieser Grundsatz gelte in völliger Allgemeinheit und unabhängig von der Frage, wie die Obrigkeit zustande gekommen ist. Er gelte auch unabhängig vom Verhalten der Obrigkeit, und er gelte für die kon­kre­te Obrigkeit, nicht nur im Blick auf das abstrakte Amt (Sp.  697 f.). Hengstenberg erkennt die Gründe, die für die Revolution geltend gemacht wurden, durchaus an.331 Aber auch sie berechtigten nicht zur Revolution, denn „[d]es Königes Herz ist in der Hand des Herrn, wie Wasserbäche, und er neiget’s, wohin er will; er kann seine Gesalbten zu Werkzeugen seines Segens machen, aber er kann auch durch ihre Hand die Geißel seines Zornes schwingen.“ (Sp.  700) Darum ist der Christ verpflichtet, obrigkeitlichen Druck auszuhalten und gegebenenfalls auf seine Rechte zu verzichten. „Empörung ist Selbsthülfe, ist Leidensscheu und Kreuzesflucht.“ (Sp.  705) Daraus folgt hinsichtlich der Beurteilung der Revolution: „Die Nichtanerkennung der Obrigkeit als einer göttlichen Institution ist die unerläßliche Bedingung, unter der es allein zu einem gewaltsamen Umsturze kommen kann“, es werde die „göttliche Anordnung in Frage gestellt“, das sei der Punkte, „wo der falsche Liberalismus entspringt“ (Sp.  699). 330   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  36: „Die Frage nach dem Ursprunge der obrigkeitlichen Gewalt, um die sich jetzt alles bewegt, wird in der heiligen Schrift so deutlich, so nachdrücklich, so wiederholt beantwortet, wie die nach irgend einem Mysterium des christlichen Glaubens“. 331   Hengstenberg nennt den Druck, unter dem das Volk gelitten habe, die Willkür, mit der es behandelt wurde, die Rechte, die ihm vorenthalten wurden usw. (Hengstenberg, Revolution, EKZ 43 [1848], Sp.  700) – die einzige Stelle, an der in den EKZ-Aufsätzen von 1848 ausdrücklich Argumente für die Revolution genannt werden (vgl. Kriege, KirchenZeitung 1, 359).

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4  Hengstenberg und die Politik

Hengstenberg läßt nur wenige Situationen gelten, in denen ein Widerstreben gegen die Obrigkeit erlaubt sei; das sei der Fall, wenn „die Grundsätze und Anforderungen der bestehenden Obrigkeit an die Unterthanen die letztern mit dem göttlichen Gebote in Conflikt bringen könnten“ (Sp.  706). Allerdings gelte dieser Fall nur abstrakt. Die Bibel gehe gerade nicht von einem Gewissenskonflikt aus, wenn man der Obrigkeit dient, sondern fordert den Obrigkeitsgehorsam gerade um des Gewissens willen. Denn sie betrachte die Obrigkeit als eine sittliche Ordnung. „Die Obrigkeit müßte sich selbst als eine sittliche Ordnung aufgeben, wenn sie an dem moralisch Bösen Wohlgefallen haben, wenn sie es als ihren ausdrücklichen Willen hinstellen wollte“ (Sp.  707). Aus diesem Grund bleibt für Hengstenberg nur ein denkbarer Fall des berechtigten Widerstrebens gegen die Obrigkeit, die Situation nämlich, „daß dieselbe sich auf ein Gebiet verirrte, wohin sie nicht gehört, daß sie Gesetze geben wollte, wo Gott sie nicht zur Gesetzgeberin berufen hat, indem sie die Gränze nicht inne hält, die Christus nicht allein für die Untergebenen, sondern eben so gut auch für die Gewalthaber befestigt hat: Gott, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers“ (Sp.  707). Dieser Fall sei eingetreten, als den Aposteln verboten wurde, den Namen des Herrn zu verkündigen; er sei eingetreten, als den Christen der er­ sten Jahrhunderte befohlen wurde, Christo zu fluchen; „und wer wollte die Möglichkeit in Abrede stellen, daß er auch jetzt noch eintreten könne! Hier wird der Christ sich nun freilich nicht indifferent verhalten können; aber wenn er alsdann den Grundsatz ausspreche und anwende: Richtet ihr selbst, ob es vor Gott recht sey, daß wir euch mehr gehorchen denn Gott, – sollte das Empörung seyn?“ (Sp.  707)

Das Widerstandsrecht des Christen schließe nämlich keinerlei Berechtigung zur Anwendung von Gewalt ein: soweit könne der Christ niemals „und unter keinen Umständen, selbst im Besitze physischer Übermacht“ (Sp.  708) gehen. Insofern bietet auch der einzige Grund für ein Widerstreben gegenüber der Obrigkeit keine Rechtfertigung für die Revolution. Denn von Revolution könne man erst dann sprechen, „wenn jenes Widerstreben in der Anwendung roher physischer Gewalt auftritt; und nur dann kann eine Bewegung mit Fug und Recht eine revolutionäre genannt werden, wenn es ihrer Natur nicht widerstrebt, zu solchen Mitteln zu greifen“ (Sp.  708). Gewaltanwendung gegen die Obrigkeit ist nach Hengstenbergs Deutung des biblischen Befundes kategorisch ausgeschlossen. Diese Ansicht vom göttlichen Recht der Obrigkeit verdankt sich keiner modernen politischen Theorie, sie zeigt vielmehr die größten Affinitäten zur Lehre der Reformatoren.332 Insofern 332   Hengtenberg verweist darauf, „welch’ ein strenges Urtheil Melanchthon über die revolutionären Bewegungen seiner Zeit gefällt hat“ (EKZ 43 [1848], Sp.  713); sachlich berührt sich seine Argumentation aber z. B. auch mit Luthers ‚Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung‘ von 1522 (WA 8, 676–687).

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steht auch seine Kritik, die er an dem Verhalten der Fürsten im Revolutionsjahr äußert, ganz in der Traditon der lutherischen Obrigkeitslehre, die es sich seit jeher zur Pflicht gemacht hatte, dem Inhaber des obrigkeitlichen Amtes die Würde und den Ursprung seines Amtes vor Augen zu stellen.333 Die angemessene Reaktion der Machthaber sieht Hengstenberg darum wie die Reformatoren nicht in gewaltsamen Maßnahmen, sondern in der Buße. Da aber die Fürsten nicht die alleinige Schuld tragen, die Revolution vielmehr „die Frucht eines längeren Lebens ohne Gott“ (Sp.  714) sei, das im ganzen Volk Wurzeln geschlagen habe, richtet sich Hengstenbergs Bußaufruf an alle. Nur die Buße könne vor weiteren Gottesgerichten bewahren, die er unauf haltsam heraufziehen sieht. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß Hengstenberg auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 die Buße zum Thema machte und den Antrag stellte, in Deutschland einen allgemeinen Bußtag auszurufen.334 Ein weiterer maßgeblicher Punkt für Hengstenbergs Einschätzung der Revolution waren die in den Verfassungsentwürfen von 1848 enthaltenen Bestimmungen über das Verhältnis von Kirche und Staat. Seiner Auffassung nach zielten sie letztlich auf „die Proklamirung der Religionslosigkeit des Staates und der Lostrennung desselben von der Kirche“335. Damit aber war die Christlichkeit des Staates grundsätzlich in Frage gestellt. Der „christliche Staat“ war ein Thema, das nicht erst mit Friedrich Julius Stahl in Hengstenbergs Blickfeld getreten war. Bereits 1831 hatte sich Ernst Ludwig von Gerlach in der EKZ grundlegend zu dem Thema geäußert, indem er darauf hinwies, „daß irgend eine Religion so wie dem Leben jedes einzelnen Menschen, so auch dem Regierungssysteme und der amtlichen Thätigkeit jeder Obrigkeit nothwendig zum Grunde liegen muß“336 . Diejenigen, die den Einfluß des Christentums auf das Staatswesen zurückdrängen wollten, übersähen, daß „sie den Staat von aller Religion keineswegs trennten, sondern nur ein deistisches oder materialistisches Religionssystem statt des Christenthums zur Staatsreligion machten“ (Sp.  253). Selbst ein bekennend religionsloser Staat beruhe doch auf Maximen, die an die Stelle der Religion träten, und selbst wenn er diese nicht offen lege, ließen sie sich doch aus seinem Handeln entnehmen 333

  Vgl. Sommer, Gottesfurcht.   Hengstenberg, Die Wittenberger Conferenz, EKZ 43 (1848), Sp.  828 sowie Ders., Ein Antrag, der auf der evangelischen Conferenz in Wittenberg gestellt wurde, ebd., Sp.  777– 780, Nr.  79; vgl. Bachmann / Schmalenbach 3, 191–193. 335   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  23. 336   E.L. v. Gerlach, Ueber Staatsreligionen, Toleranz und Trennung von Kirche und Staat, EKZ 8 (1831), Sp.  97–104.249–254.257–261, Nr.  13.32 f., hier: Sp.  102 – die Verweise im Fließtext beziehen sich im Folgenden hierauf. – Ausgangspunkt des Artikels ist die Trennung von Kirche und Staat in Amerika, die sich in der Praxis als undurchführbar erweise, wie die aktuellen Diskussionen über die Sonntagsheiligung zeigten; vgl. zu den Zensurvorgängen um diesen Aufsatz oben 4.2.1. 334

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(Sp.  251).337 Die Frage sei also gar nicht, ob das Christentum Staatsreligion sei, sondern ob das Christentum oder eine andere Religion dem Staat Grund und Ausrichtung gebe und welche Religion für den Staat die beste sei. Der Christ könne nun aber nichts anderes wünschen, als daß Jesus, der der Herr aller Herren und König aller König ist, auch im Staat herrsche (Sp.  257). Daß ein Staat im christlichen Geist heilsam sei, könnten aber auch alle Nichtchristen wahrnehmen. Es komme allerdings darauf an, daß sich das Christentum treu bleibe: „Je reiner das Christenthum ist, welches in einem Lande regiert, desto reiner und reicher sind auch die politischen Segnungen, die es demselben gewährt, wie denn insbesondere der Protestantismus als wahrhaft Evangelisch sich auch dadurch bewährt hat, daß er, als herrschende Religion, so große politische Segnungen über Deutschland, Großbritannien und Nordamerica [...] verbreitet hat.“ (Sp.  259 f.) 338

Der wahre christliche Geist sorge auch für die Trennung des Amtes des Schwertes und des Geistes und bekämpfe die „schädliche Vermischung der Kirchen- und Staatssachen“ (Sp.  261). Der Zwang zum Glauben an die christliche Religion sei darum grundsätzlich ausgeschlossen. Die von Gerlach hier ausgesprochenen Ansichten – Bindung des Staates an die christliche Religion ohne Religionszwang für den einzelnen und die Hervorhebung der heilsamen Züge des Christentums für das staatliche Zusammenleben – bilden Grundlinien der Lehre vom christlichen Staat, die später von Stahl in seiner Religionsphilosophie ausgezogen und vertieft werden. Zusammengefaßt findet sie sich in der Abhandlung ‚Der christliche Staat und sein Verhältniß zu Deismus und Judenthum‘, die 1847 zunächst in der EKZ veröffentlicht wurde.339 Anschließend an die Verhandlungen des vereinigten Landtages über die politische Gleichstellung der Juden und der neueren Sekten – sprich: Lichtfreunde und Deutschkatholiken –,340 erhebt Stahl die Christlichkeit des Staates „zur Kardinalfrage der Zeit, in Preußen nicht bloß, in ganz Deutschland“ (Sp.  633). Auch er bekräftigt, es gebe keinen Staat, „der gelöst von Religion, Sitte, Volksthum, sich beschränkt auf den Schutz der Rechte“ (Sp.  634). Vielmehr stehe der Staat überall unter „sittlichen Bestimmungsgründen“, die letztlich in der Religion ihren Ursprung fänden (Sp.  635). Es sei daher ganz natürlich, daß ein christliches Volk „nach der Lebenswürdigung, die es vermö337   Nebenbei verweist Gerlach darauf, daß gegenwärtig viele der Religion des Nationalismus anhingen. 338   Demgegenüber komme es im Gefolge eines verderbten Christentums auch zu den Gräueln der Staatsreligion. 339   Stahl, Der christliche Staat und sein Verhältniß zu Deismus und Judenthum, EKZ 41 (1847), Sp.  633–651.657–687, Nr.  64–68 – darauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. Vgl. zu Stahls Konzeption vom christlichen Staat v. a. Link, Stahl; Wiegand, Stahl, 241–263. Hengstenberg macht sich Stahls Ansicht ausdrücklich zu eigen (Vorwort EKZ 42 [1848], Sp.  34). 340   Vgl. dazu oben Anm.  286.

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ge seines christlichen Glaubens hat, nothwendig auch seinen ganzen politischen Zustand einrichten“ müsse, „dies aber eben und nichts Anderes ist der christliche Staat“ (Sp.  635). Stahl entfaltet sodann, wie sich der Einfluß des Christentums auf die Verfassung des Staates, auf die Gesetzgebung, Verwaltung und das Völkerrecht auswirkt (Sp.  642).341 Als Sphären, in denen die christliche Prägung des Staates am deutlichsten hervortreten müsse, werden Ehe und Erziehung benannt (Sp.  644–647). Daß das Christentum Norm, Grundlage und Zweck des Staates ist (Sp.  649), wird durch die Christlichkeit seiner Institutionen gewährleistet: „Er hält nicht seine Untertanen an, Christen zu seyn; aber er bekundet in den öffentlichen Einrichtungen den christlichen Charakter. Er läßt nicht die mannigfachen Gebiete des menschlichen Lebens in Religion aufgehen, aber er läßt sie alle von der Religion getragen seyn. Er unterdrückt nicht in theokratischer Weise (wie Calvin) die natürliche Bestrebung und ihre Schöpfungen, nicht die natürliche Fröhlichkeit und ihre Feste, aber er übt auf alles mittelbar, indem er das Ernsteste und Heiligste in der Nation aufrecht hält, eine Macht des Maaßes und der Läuterung“ (Sp.  649).

Darum ist der Staat auch verpflichtet, die der Christlichkeit des Staates entsprechenden Einrichtungen, nicht zuletzt die Kirche, zu stützen.342 Auf der anderen Seite muß man, um den christlichen Charakter der Institutionen zu gewährlei­ sten, zwischen bürgerlichen und politischen Rechten unterscheiden. Letztere können nur Angehörigen der christlichen Kirchen zukommen.343 Dabei betont Stahl immer wieder, daß es nicht in erster Linie die christliche Kirche sei, die auf den Staat angewiesen sei, sondern umgekehrt: Der Staat bedürfe der Kirche. Darum sei die Entchristlichung des Staates, die sich in der politischen Gleichstellung von Juden und Deisten Bahn breche und sich vor allem im Eherecht, der Volkserziehung und der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche auswirken müsse, zum Schaden des Staates (Sp.  658). Sowohl Gerlachs als auch Stahls Staatslehre sind von ihrem Ansatz her religiös. Beide wa­ren überzeugt, daß sich der Staat nur aufgrund einer wahrhaft 341   Grundlegend für Stahls Verfassungskonzeption ist das harmonische Zusammenwirken zwischen einem souveränen Fürsten und einem freien Volk, wie es nur aus christlichem Geist entstehen könne (Stahl, Der christliche Staat, EKZ 41 [1847], Sp.  636–640); insofern gehören christlicher Staat und monarchisches Prinzip zusammen. 342   Vgl. ebd., Sp.  648: „Der christliche Staat gestattet jedem Unterthan und jeder religiösen Gemeinschaft, nach ihrer façon selig zu werden; aber die Anstalten zur Seligkeit, die er von Staatswegen gründet oder stützt für die, so ihrer gebrauchen wollen, öffentliche Kirche und öffentliche Schule, kann er nur nach der façon bestellen, die er als die wahre erkannt hat.“ – dabei beschreibt Stahl die Christlichkeit nicht als konfessionell gebundene, sondern als ein biblisches Christentums, das auf positivem Offenbarungsglauben beruhe (ebd., Sp.  649). 343   Dabei kommt es nicht auf die tatsächliche Christlichkeit des einzelnen an, das Prinzip muß vielmehr gewahrt werden (ebd., Sp.  657–663); im Notfall könne man daher auch die politische Gleichstellung anderer Religionen zugestehen, aber nicht als Prinzip, sondern nur als Ausnahme (ebd., Sp.  670).

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christlichen Gesinnung gegen die Fluten von Liberalismus und Republikanismus würde wehren können.344 Einer nur äußerlichen Aufrechterhaltung von Monarchie und Ständewesen um persönlicher oder materieller Vorteile könne kein Erfolg beschieden sein.345 Theologisch lag dem die Überzeugung zugrunde, daß sich erstens sittliches Handeln immer einer bestimmten religiösen Gesinnung verdankt und sich zweitens aus der religiösen Gesinnung konkrete Maximen und Normen des Handelns ableiten lassen, die nicht von dieser Gesinnung zu trennen sind. So war Stahl beispielsweise der Auffassung, daß die Unauflöslichkeit der Ehe ein christliches Prinzip sei, „wie es in keinem anderen Religions- und Rechtssystem sich findet“ (Sp.  644). Die Vertreter des christlichen Staates gingen demnach von einer spezifisch christlichen Ethik aus und wandten sich damit gegen ein Naturrechtsdenken, das einen ethischen Konsens auch unabhängig von der Religion für möglich hält.346 So versteht es sich von selbst, daß die Grundfragen politischer Ethik nicht unabhängig von der Religion verhandelt werden konnten. Vielmehr wurde gerade der Behauptung, die Ge­staltung des Staatswesen sei allein der autonomen, religionsunabhängigen Vernunft zu überlassen, als einer dezidiert religiösen, nämlich: antichristlichen Auffassung widersprochen. Als die Zensurbehörde Gerlachs Aufsatz 1831 ablehnen wollte, entgegnete Hengstenberg daher, daß die Behörde damit ein Glaubensbekenntnis ablege, nämlich „ein thatsächliches Bekenntnis zu der materialistischen Ansicht vom Staate und seiner gänzlichen Abtrennung von der Kirche [...], deren Bekämpfung der Zweck des Aufsatzes ist“347. Neben dem göttlichen Recht der Obrigkeit gehören die Fragen des christlichen Staates für Hengstenberg zu denjenigen, die eine christliche Zeitschrift keinesfalls ausblenden darf.348 Er sah sich vielmehr verpflichtet, den Gläubigen vor Augen zu führen, wie sich die Gestaltung des Staatswesens zu den von Gott gegebenen Grundsätzen verhält und welche Auswirkungen für die Kirche die Lösung des Staates von seinen christlichen Grundlagen hätte. In diesem Sinne sind die Aufsätze von Gerlach und Stahl in der EKZ zu verstehen. Darüber 344   Vgl. Link, Stahl, 82 über Stahl: „Seine Religiosität [...] war nicht die vielbehauptete Verbrämung des Politischen, sondern das Zentrum seiner Persönlichkeit“. 345   Gegenüber einem nur auf materiellen Vorteile bedachten Junkertum betont Stahl (Der christliche Staat, EKZ 41 [1847], Sp.  643): „Die conservative Richtung (im lautersten Sinn, die keine gezeitigte Entwicklung ablehnt) kann sich daher nicht behaupten, außer auf seinem [scil. des christlichen Glaubens] Grunde“. 346   In der Staatsauffassung lehnten sie dementsprechend alle „[n]aturrechtlich-rationalistischen Vertragskon­struktionen“ ab (Link, Stahl, 69); vgl. auch Graf, Kulturluthertum, 45–54. 347   Hengstenberg an das Oberzensurkollegium, Berlin 19. Febr. 1831: GStA PK, I. HA, Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 (unpaginiert). 348   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 42 (1848), Sp.  33: „Wir sind aller Vermischung des Kirchlichen und des Politischen abhold, hier aber, wo ein Ineinander von beidem stattfindet, würde es eine große Verirrung der Kirche seyn, wenn sie sich scheu zurückziehen wollte.“

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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hinaus bildete die Lehre vom christlichen Staate den Kompaß für Hengstenbergs eigene Voten in den Jahren nach der Revolution. Im Vorwort von 1849 bekannte er sich ausdrücklich zu den drei Säulen des christlichen Staates: 349 1. Die Organe des öffentlichen Lebens müssten in Beziehung zum Christentum stehen, daher seien Juden und Atheisten von Staatsämtern auszuschließen. 2. Die Gesetzgebung müsse von christlichen Prinzipien beherrscht sein.350 3. Der Staat stehe in freundlicher Beziehung zur Kirche. Mit diesem Kompaß in der Hand beurteilte Hengstenberg die im Anschluß an die Revolution in An­griff genommenen verfassungsgebenden Unternehmen: den Verfassungsentwurf der Paulskirche ebenso wie die preußische Verfassung sowie die Diskussion über ihre Revision. Allerdings erweist sich Hengstenberg dabei als der Theologe unter den Vertretern des christlichen Staates. Die von Stahl und Gerlach vorgegebene Konzeption wird von ihm in einen theologisch-apokalyptischen Kontext gestellt. Daß auch der Staat unter Christi Herrschaft stehen müsse, wird von ihm immer wieder mit Mt 28,18 begründet: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ Dieses Herrenwort „würde eine Lüge seyn, wenn es einem Staate wohlging, der es also versucht hat, sich von der Herrschaft Christi loszureißen.“351 Die revolutionären wie auch die nationalen Bewegungen des Jahrhunderts seien daher einzig und allein eine Variation des Themas: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche“ (Sp.  16). Paragraph zwölf der preußischen Verfassung von 1850, der die politischen Rechte von der Bekenntniszugehörigkeit löste und damit die staatlichen Institutionen generell für Vertreter anderer Glaubensrichtungen öffnete,352 war für Hengstenberg deshalb ein Angriff auf die Gottheit Christi, „ein Angriff in die Rechte seiner Herrschaft, [...] die Erklärung des Preußischen Staates, daß er Christi nicht ferner bedarf “353. Mit dem Ende des vom christlichen Geist geprägten Staates müsse zwangsläufig der heidnische, antichristliche Staat seine Wiederkehr feiern: „denn eine neutrale Stellung ist hier undenkbar, eine bloße Fiktion, eben so wie 349

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  23; vgl. auch schon seine Stellungnahme zum Vereinigten Landtag (1847) im Vorwort EKZ 42 (1848), Sp.  33–41. 350   Der Grundsatz wird aber weder von Stahl noch von Hengstenberg im theokratischen Sinne oder biblizistisch verstanden; die Ausgestaltung der von Gott gegebenen Ordnungen läßt durchaus menschlichen Gestaltungsspielraum zu, vgl. Link, Stahl, 69 f. 351   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  23. Auch Joh 18,36, das als Gegenargument ins Feld geführt werden könnte, verwendet Hengstenberg in diesem Sinne: „‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt,‘ sondern es stammt aus dem Himmel, [...] und deshalb kann sich dies Reich nicht auf eine einzelne Sphäre einengen, in einen Winkel einsperren lassen, sondern wo man das versucht, wird der Himmel gegen die Erde reagiren“ (ebd., Sp.  23). 352   „Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekennt­nisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen“ (ed. Sautter, Deutsche Geschichte 2, 79 f.). 353   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  19. Neben Mt 28 wird auch häufig Ps 2,12 als Aufforderung an die Herrscher herangezogen, ein locus classicus für die christliche Staatslehre seit Erasmus, vgl. Estes, Officium.

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4  Hengstenberg und die Politik

die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft“; es würden sich „wie einst in den Zeiten des heidnischen Staates, die lebendigen Christen von dem Staatsleben zurückziehen, und in demselben Grade werden sich Juden und Atheisten, die sich hier in ihrem Elemente fühlen, ihm zuwenden.“354 Die von der Revolution erstrebte neue Gesellschaftsordnung führe so letztlich nicht nur zum Staat ohne Gott, sondern sogar zum Staat gegen Gott. Damit aber sieht Hengstenberg seine apokalyptischen Ansichten, wie er sie in seinem Kommentar zur Johannesoffenbarung vertrat, bestätigt: Die tausendjährige Verbindung des Staates mit Christus werde aufgelöst,355 mit dem Alten Reich gehe auch die vom Christentum geprägte und der Kirche freundlich gegenüberstehende alte Welt zuende. Der Satan sei losgelassen und tue sein Werk (vgl. dazu oben 2.3.3.2). Gleichwohl – und das ist das eigentlich Erstaunliche – stellt sich Hengstenberg dieser Entwicklung mit aller Kraft entgegen. Hatte schon Stahl die Devise ausgegeben, daß die Kirche die Unterstützung des christlichen Glaubens, die vom christlichen Staat ausgehe, nicht freiwillig, nach dem Motto: „stürze dich von der Zinne des Tempels“ von sich werfen dürfe,356 so gibt auch Hengstenberg die Situation noch nicht verloren.357 Allerdings stehen für ihn keine politischen Aktionen im Vordergrund. Was er von den christlichen Abgeordneten in den Kammern erwartet, ist in erster Linie ein Bekenntnis zur Herrschaft Christi über den Staat, um die Gottlosigkeit der neuen Verfassung aufzudecken; vom Volk und der Regierung aber erwartet er das Eingeständnis der eigenen Schuld und die Bereitschaft zur Buße. Hengstenberg macht sich keine Illusionen darüber, daß die Christlichkeit des Staates von der Christlichkeit des Volkes abhängt und daß in den Verfassungen nur derjenige Geist zum Ausdruck kommt, der sich zunehmend im Volk, vor allem aber bei den Eliten, durchgesetzt hat.358 Darum sieht er die Hauptaufgabe darin, das Volk zu Christus zurückzurufen. Denn daran und nicht an der Frage des Konstitutionalismus hänge die Zukunft des Volkes: „Für ein gottesfürchtiges und unter Gottes Segen ste-

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  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  25.   Ebd., Sp.  24. 356   Stahl, Der christliche Staat, EKZ 41 (1847), Sp.  650 f.; vgl. ebd. 651: „Darum wird ein Volk, das christlichen Glauben hat, auch den christlichen Staat aufrichten und bewahren, und was es von ihm aufgiebt, wird es nur aufgeben, weil und soweit die Ungunst der Zeit es gebietet, und nicht weil es an sich eine bessere Sache sei, den Staat von der Religion zu lösen“. 357   Anfang 1848 gab er den Versuchen, „den Staat zu entchristlichen“ noch keine Aussicht auf Erfolg (Vorwort 42 [1848], Sp.  41), das änderte sich mit Ausbruch der Revolution. Daß die EKZ dennoch den Kampf für den christlichen Staat fortführte, begründete er später so: „Wir meinen, daß es sich um eine Schuldigkeit handele, die unter allen Umständen, zur Zeit und zur Unzeit erfüllt werden müsse, komme dabei heraus was da wolle, [...]“ (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 66 [1860], Sp.  43). 358   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  14 f. 355

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hendes Volk ist die constitutionelle Verfassung eine gute Regierungsform. Einem gottlosen und gottverlassenen muß sie verderblich werden.“359 Hat man einmal erkannt, daß die Christlichkeit des Staates für Hengstenberg nicht primär eine Frage der Politik, sondern eine Frage der religiösen Anschauung ist, dann wundert man sich auch nicht mehr darüber, daß Hengstenberg in seinen Vorworten seitenweise zu den parlamentarischen Debatten um die Verfassung Stellung nimmt. Dabei zeigt er sich gut informiert,360 greift aber immer nur diejenigen Themen heraus, die als Gradmesser für die Christlichkeit des Staates dienen können: die Behandlung der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften, das Eherecht und die Schule.361 Immer steht dabei das Grundsätzliche zur Debatte. Dies gilt genauso für seine Äußerungen zum Recht der Obrigkeit. Es werden nie politische Detailfragen behandelt, geschweige denn politische Handlungsoptionen aufgezeigt,362 die über die öffentliche Bezeugung des Rechtes der Obrigkeit hinausgingen. Als sich im Herbst 1848 die Stimmung zu wandeln begann und die Nationalversammlung schließlich nach Brandenburg an der Havel verlegt worden war, veröffentlichte Hengstenberg einen Aufruf, in dem er die chaotischen Verhältnissen der letzten Wochen in Berlin und die angespannte Atmosphäre nach der Besetzung der Stadt durch die Truppen Wrangels schilderte und eindringlich davor warnte, die Gewalt der Radikalen mit Gewalt zu beantworten.363 Stattdessen sollten sich die Unterstützer des Königs öffentlich durch Adressen in Zeitungen zu erkennen geben und in der Fürbitte für ihn eintreten. Hengstenberg trug also durch Propagierung seiner theologischen Grundüberzeugungen zur Stärkung der Sache der Reaktion bei. Im eigentlichen Sinne politisch aktiv wurde er nicht. 359

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  26.   Hengstenberg zitiert dabei direkt aus den gedruckten Sitzungsprotokollen. So wird beispielsweise auch die ‚Rede des Abgeordneten Stahl in der 49sten Sitzung der ersten Kammer für die Aufrechterhaltung des Christenthums als Prinzip des Staates‘ kommentarlos aus dem stenographischen Bericht in der EKZ abgedruckt, EKZ 45 (1849), Sp.  782–790, Nr.  84. 361   Dies wird häufig übersehen, wenn – wie bei Christensen, Hengstenberg, 135.147 – darauf aufmerksam gemacht wird, daß sich die EKZ nach 1848 vermehrt politischen Themen annahm. 362   Richtig Dang, Sozialer Kampf, 166: „Die Orientierungen, die in der EKZ für das Handeln der Menschen zahlreich gegeben wurden, sind bis auf Ausnahmen für den direkten politischen Kampf nicht geeignet.“ Stattdessen böten sie die Ermutigung, in aussichtslosen Situationen den Prinzipien treu zu bleiben. 363   Hengstenberg, Mit Gott für König und Vaterland, EKZ 43 (1848), Sp.  913–916, Nr.  93, bes. 915: „Wer in den Reihen des Herrn kämpfen will, der thue vor Allem Alles von sich ab, was vor seinen heiligen Augen nicht bestehen kann.“ Die Fürbitte sei die einzige Waffe. – Der Artikel war auf den 14. November datiert, den Tag, an dem das Kriegsrecht über die Stadt verhängt worden war; vgl. dazu, zur Verlegung der Nationalversammlung und zu den vorhergehenden Straßenunruhen in Berlin (am 30. und 31. Okt.) Mieck, Preußen, 269–272. 360

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Ganz anders Ernst Ludwig von Gerlach. Noch im März 1848 legte er ein erstes politisches Programm für eine Sammlung der konservativen Kräfte vor,364 mit der Gründung der Kreuzzeitung wurde ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung gegangen; außerdem war Gerlach Teil der „Kamarilla“, die – wie Kraus gezeigt hat – nicht schon im März, sondern erst Ende August Einfluß auf den König zu nehmen begann.365 Auch Stahl drang auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse. Noch schneller als Gerlach hatte er sich in der neuen Situation zurecht gefunden, indem er die Konservativen auf die Vertretung ihrer Interesse innerhalb des parlamentarischen Rahmens einschwor.366 Damit aber begann die Zeit der konservativen Parteipolitik.367 Sowohl Stahl, der von nun an als „politischer Professor“368 tätig war, als auch Gerlach wurden 1849 in die Erste Kammer des Landtages gewählt; bei beiden führten die Erfahrungen der Revolution und die neuen Rahmenbedingungen zu einem erhöhten politischen Engagement. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Hengstenberg diesen Schritt seiner Wegbegleiter zwar befürwortete, für seine eigene Person ein Weg in die Politik aber nie zur Debatte stand. Ähnlich wie Stahl hatte auch er sich schnell auf die neuen Verhältnisse eingestellt. Dahinter stand die theologische Überlegung: Wenn die Revolution als Gericht Gottes zugelassen wurde, so hilft es auch nichts, ihre Folgen gewaltsam zu überwinden. Die „Märzverheißungen“ des König betrachtete er als ein Verhängnis, dem man nun nicht mehr entrinnen könne, auch wenn man es sich anders gewünscht hätte. „Es ist anders gekommen, durch ein gerechtes göttliches Verhängniß, zur verdienten Strafe unserer Sünden. Denn das ist die Seite der Sache, welche besonders ins Auge zu fassen uns ziemt. Was aber einmal geschehn, konnte, durfte nicht mit Gewalt rückgängig gemacht werden; die ‚Verheißungen‘, die dem einmal als eine nebenstehende Macht anerkannten Volke gegeben worden, mußten, wenn das Volk selbst sie nicht aufgab, erfüllt werden, auch bei der klarsten Einsicht, daß sie zum Verderben führen.“369 364

  Gerlach, Aufzeichnungen 1, 518 f. (Aufruf vom 26. März 1848); vgl. Kraus, Gerlach, 399–401. 365   Kraus, Gerlach, 443; so auch schon Dang, Sozialer Kampf, 159. 366   Vgl. zur anfänglichen Meinungsverschiedenheit zwischen Gerlach und Stahl Kraus, Gerlach, 418–421, zu Stahl auch Füssl, Stahl, 132–137 und Schwentker, 46–48, zum Einlenken der Konservativen auf die neuen Verhältnisse Vierhaus, Konservativ, 557 f. 367   Vgl. Schildt, Konservatismus, 63–77; Schwentker, Vereine, 263–279.335–341; allgemein von Beyme, Partei, 716 f. 368   S. Füssl, Stahl. 369   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  15; offensichtlich haben sich bald demokratische Kräfte auf diesen Satz Hengstenbergs gestützt und einen Beleg dafür gesehen, daß es unter den Konservativen Bestrebungen zur gewaltsamen Beseitigung der Verfassung gab (Weingärtner, Schreiben an den Herausgeber, ebd., Sp.  164–166, Nr.  17 mit einer Anmerkung Hengstenbergs); auch von E.L. von Gerlach erntete Hengstenberg heftige Kritik, weil er aus den „Märzverheißungen“ mehr gemacht habe, als sie seien und sein dürften (E.L. v. Gerlach, Die Märzverheißungen und die Evangelische Kirchenzeitung, ebd., Sp.  2 04–208, Nr.  21); Hengstenberg präzisierte darauf: Zurücknehmen könne man die „aus der Märzbe-

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Im Unterschied zu Gerlach und Stahl wurde Hengstenberg kein Politiker. Er nahm nur zu Fragen Stellung, die ihm von der Schrift her beantwortbar erschienen. In Zeiten großer politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen wollte er den Gläubigen biblische Orientierung bieten. Daß Tagespolitik nicht seine Sache war und sich sein Konservatismus deutlich von dem seiner politischen Mitstreiter unterschied, wird plastisch, wenn man Hengstenbergs Äußerungen zu politischen Fragen in den Jahrzehnten nach der Revolution betrachtet.

4.3.4  Christ und Parteipolitik – Nähe und Distanz zum politischen Konservatismus Hengstenberg hat sich auch in den Jahrzehnten nach der Revolution immer mit den politischen Vorgängen in Preußen und Europa befaßt und öffentlich in der EKZ dazu Stellung genommen. Häufig konzipiert er seine Jahresrückblick so, daß neben den kirchlichen Fragen auch dem staatlichen Gebiet ein eigener umfangreicher Teil gewidmet wird.370 Dabei bewegt er sich immer innerhalb der selbst markierten Grenzen: Auf der einen Seite müßten sich Christen und besonders Theologen mit politischen Themen befassen, wenn das vom Boden der Schrift aus möglich und nötig sei. Ein klares Mandat der Schrift liege ins­be­son­ de­re immer dort vor, wo das Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates zur Debatte stehe. Auf der anderen Seite sollten sich die Kirche und ihre Geistlichen nicht auf politische Sachfragen einlassen, die theologisch nicht zweifelsfrei zu entscheiden seien und dem politischen Sachverstand überlassen werden müßten. „[A]uf die Kanzel“ dürfe der Geistliche „wol die Ehesache bringen, nicht aber die Militärorganisation“371. In das parteipolitische Getriebe der Parlamente dürften sich nur diejenigen begeben, die dazu die Fähigkeiten und den Beruf hätten. Für Geistliche gelte das in der Regel nicht. Mit diesen Grundsätzen trat Hengstenberg, der seine Herausgebertätigkeit dezidiert als kirchlichen Dienst verstand, in Distanz nicht nur zur Parteipolitik im allgemeinen, sondern auch zur konservativen Partei. Darauf wird unten zurückzukommen sein (4.3.4.2). Zunächst ist aber zu zeigen, welche politschen Stellungnahmen Hengstenberg in den 50er und 60er Jahren abgibt und inwiefern sie mit seinen Grundsätzen übereinstimmen. wegung hervorgegangenen, an sich verderblichen Bestimmungen“ nur auf gesetzlichem, nicht auf gewaltsamem Wege (ebd., 208, Anm.). 370   Vgl. Christensen, Hengstenberg, 135 f., der allerdings zu Unrecht davon ausgeht, Hengstenberg hätte die Berechtigung, politische Dinge anzusprechen, erst in den 60er Jahren reflektiert. – Für seine Kommentare legte er, wie unmittelbar nach der Revolution, häufig die Sitzungsprotokolle der Kammern zugrunde, vgl. z. B. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 67 (1860), Sp.  45. 371   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 72 (1863), Sp.  49.

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4.3.4.1  Äußerungen zu politischen Ereignissen in den 50er und 60er Jahren Was Hengstenbergs Äußerungen zur Innenpolitik in den 50er und 60er Jahren angeht, deckt sich das Bild weitgehend mit demjenigen der postrevolutionären Jahre: Unablässig legt Hengstenberg den Finger auf die Christlichkeit des Staates. So bleibt das Eherecht ein Dauerbrenner,372 und die Verhandlungen der beiden Kammern in dieser Frage werden aufmerksam beobachtet und kommentiert. Neue Intensität gewinnt das Eintreten für den christlichen Staat mit Anbruch der Neuen Ära im Jahr 1858. 1860 und 1863 werden im Vorwort jeweils ausführlich die Debatten im Abgeordnetenhaus zur Fragen der Ehe, der Stellung der freien, aus den Lichtfreunden hervorgegangenen Gemeinden, der Christlichkeit der Schule und den politischen Rechten der Juden besprochen – alles Themen, vor denen die Kirche die Augen nicht verschließen dürfe.373 Damit wandte er sich auch gegen Kritiker aus den eigenen Reihen. „Pietistische“ Kreise hatten Einwände gegen die Auffassung vom christlichen Staat geltend gemacht und vorgeschlagen, angesichts der zunehmenden Entchristlichung den Staat sich selbst zu überlassen und die Kräfte in die innerkirchlichen Aufgaben zu investieren. Hengstenberg witterte dahinter den alten Irrtum des Pietismus, die Versuchung nämlich, sich in die engen Konventikel zurückzuziehen. Aus der Geschichte und Nachgeschichte des Pietismus müsse man aber lernen: „Eine Partei, die Staat und Kirche aufgibt, ist sicherm Untergang geweiht. Der Herrschaft über ‚die Höhen der Erde‘ folgt nothwendig auch die über die Thäler. Es ist eine Täuschung, wenn man meint, die kleine Heerde könne blos in äußerer und innerer Mission fortexistiren. [...] Wer sich nicht entweder herrschend oder doch wenigstens kämpfend, Zeugnis gebend in Staat und Kirche zu behaupten vermag, der streiche überhaupt die Segel, er wird sich auf die Dauer sicher nicht halten können.“374

So verteidigte Hengstenberg weiterhin die Lehre vom christlichen Staat, die keine moderne Erfindung, sondern schon seit Karl dem Großen Wirklichkeit und in der Schrift fest verwurzelt sei: Sie stelle die Konsequenz aus dem Sieg Christi über die Macht des Teufels, des Herrschers dieser Welt, dar. Das Königtum Christi lasse keine unabhängige Weltmacht neben sich zu. Während die Behauptung einer von Christus und der Kirche prinzipiell getrennten, selbständigen Weltmacht eine moderne Erfindung sei, müsse daran festgehalten werden: „Der christliche Staat ist vielmehr die Ueberzeugung und mehr als das, der Herzschlag der ganzen Christenheit auf Erden.“375 Zumal nachdem Stahl 1861

372   Vgl. oben Anm.  284 und Hengstenberg, Was Gott zusammengefügt hat, EKZ 64 (1859), Sp.  313: „Es sind jetzt grade dreißig Jahre, als die Ev. K. Z. ihren Kampf für das göttliche Recht der Ehe durch Mittheilung eines Aufsatzes von Dr. Jul. Müller [...] begann.“ 373   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 72 (1863), Sp.  33. 374   Hengstenberg, Vowort, EKZ 66 (1860), Sp.  38. 375   Ebd., Sp.  40.

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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gestorben war, sah es Hengstenberg als seine Aufgabe an, dieses Erbe des Freundes weiterzutragen.376 1862 trat der Kampf um den christlichen Staat in ein neues Stadium ein. Die Neuwahlen hatten eine überwältigende Mehrheit der liberalen und „fortschrittlichen“ Vertreter im Abgeordnetenhaus hervorgebracht.377 In Anträgen wie denen auf Einführung der obligatorischen Zivilehe oder auf Zulassung von Juden als Lehrer und Richter sowie in den Versuchen, die Rechte der freien Gemeinden zu stärken, sah Hengstenberg Anzeichen für die zunehmende antikirchliche Ausrichtung der Kammer.378 Daneben richtete sich Hengstenbergs Aufmerksamkeit noch auf eine andere Entwicklung: In den Debatten wurden immer häufiger Petitionen behandelt, die sich mit Gegenständen der evangelischen Kirche beschäftigten, so z. B. die Beschwerde der Gemeinde in Delitzsch, die sich über die unrechtmäßige Einführung eines Anhanges zu ihrem Gesangbuch beklagte, oder diejenige der Gemeinde Bast in Pommern, man möge ihren „altlutherischen“ Pastor – gemeint ist wohl ein konfessioneller Lutheraner – durch einen unierten ersetzen. Lange wurde auch über die Bitte der Kirchengemeinde Oberholzklau im Kreis Siegen debattiert, die für sich das Recht in Anspruch nahm, ihren Pfarrer selber zu wählen.379 Dabei erklärte sich das Abgeordnetenhaus – trotz Widerspruchs des Kultusministers und einiger Abgeordneter – in allen drei Fällen für zuständig. Daran wird zum einen sichtbar, daß sich das Parlament als eine Art Revisionsinstanz für strittige Entscheidungen des Oberkirchenrates verstand. Zum anderen wird in den Debatten deutlich, daß man die Legitimität des Oberkirchenrates überhaupt in Frage stellte, da es sich bei ihm nicht um das selbständige kirchliche Organ handele, das Art. 15 der Verfassung voraussetze. Es scheint, daß das Parlament, in dem sich verständlicherweise viele Befürworter einer synodal-„demokratischen“ Kirchenverfassung befanden, in dieser Form auf die Ausgestaltung der kirchlichen Verfassung Einfluß nehmen wollte. Ganz offensichtlich wurde das bei dem Streit um das Pfarrerwahlrecht in Ober-Holzklau. Die Debatte kreiste schließlich um die Frage, ob der Landesherr zurecht als Bischof der Kirche und 376   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  19 f.: Stahl sei ein „auserwähltes Rüstzeug Gottes gegen die Revolution“ gewesen, „der mit sinnendem Geiste sich vertiefte in die Gedanken und Ordnungen Gottes, wie sie in seinem heiligen Worte und in der Geschichte sich offenbaren, der in feurigem Eifer und wunderbarer Kraft der Rede nicht für veraltete und überlebte menschliche Einrichtungen, sondern für diese ewigen Gedanken und Ordnungen Gottes einstand [...] [. W]ir aber wollen Alle eifrig fortfahren in gleichem Geiste zu wirken, so lange es noch Tag ist“. 377   Vgl. Clark, Preußen, 590. 378   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 72 (1863), Sp.  32–48. 1860 hatte Hengstenberg noch auf die christliche Färbung des Parlamentes hingewiesen, Ders., Vorwort, EKZ 66 (1860), Sp.  42. 379   Die Debatten finden sich in den Stenographischen Berichten von 1862, Bd.  1, 421–437 (1. Juli), Bd.  2 , 845–848 (25. Juli) und Bd.  4, 2073–2079 (4. Oktober).

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der ihn vertretende Oberkirchenrat als oberstes Organ der Kirche betrachtet werden könne.380 An diesen Vorgängen zeigte sich sehr deutlich – und darauf machte Heng­ stenberg aufmerksam 381 –: Die neue parlamentarische Mehrheit wollte mit Hilfe politischer Mittel die Gestaltung der Kirche entsprechend der neuen Gesellschaftsordnung vorantreiben. Das Votum eines Abgeordneten brachte die Stimmung gut zum Ausdruck: „Ich glaube, daß überall, wo es sich um die Freiheit des Volkes handelt, das Haus dazu berufen ist, für diese Freiheit einzutreten, und auch die religiöse Gemeinde wurzelt in dem Volke.“382 Hengstenberg wandte sich energisch gegen solche Eingriffe in die inneren Belange der Kirche im Namen der Freiheit, und nirgends wird so deutlich wie hier, daß seine politischen Äußerungen kein Zeichen für die Politisierung der EKZ sind, sondern – im Gegenteil – die Reaktion auf die Politisierung von kirchlichen Interna darstellen. Auch zu außenpolitischen Themen ließ sich Hengstenberg vernehmen. Dabei wich er nicht von seinen Grundpositionen ab: Der Konflikt zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark fiel seiner Ansicht nach unter das Obrigkeitsgebot, ein gewaltsamer Widerstand gegen den Dänenkönig war somit verboten (vgl. unten 4.3.4.3). Ebenso geißelte er den Nationalismus, wenn er zur Erhebung gegen die Fürsten oder zum Krieg eines Volkes gegen das andere führe. Die Kirche könne sich an dem „modernen unchristlichen Nationalitätsschwindel“ nicht beteiligen, „ohne zu vergessen, daß sie dem Pfingstfeste ihre Entstehung verdankt, daß wir alle unter der Sünde sind, kein Fleisch und keine Nationalität sich rühmen darf, und daß wie die Einzelnen so auch die Nationen berufen sind, eine der andern Gebrechlichkeit zu tragen“383. Dementsprechend werden die Volksbewegungen in Italien und die Absetzung der Fürsten in Mittelitalien verurteilt. Massiv wird Napoleon III. für seine aggressive Expansionspolitik angegangen. Staatsgrenzen gewaltsam zu verrücken sei Sünde.384 Dazu komme die Ungeheuerlichkeit, daß hier Christen gegen Christen kämpften. Krieg unter Christen, also unter denen, die dem Friedensfürsten unterstünden, 380   Darauf machte der römisch-katholische Abgeordnete Reichensperger aufmerksam und bestritt, „daß wir als Katholiken in der Lage sind, für die eine oder andere Meinung Partei zu ergreifen, indem diese Frage eine wesentlich kirchliche, ja sogar eine theologische ist, wie es mir wenigstens vorkommt“. Indirekt bestätigte dies auch der Abgeordnete Richter in seinem Gegenvotum, in dem er behauptete, daß die evangelische Kirche kein Organ habe, „welches sie zu vertreten das Recht hätte“(Stenographische Berichte 4, 2076). 381   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 72 (1863), wo über die genannten Fälle berichtet wird (Sp.  38.40.47 f.). 382   Abgeordneter Eberty: Stenographische Berichte 2, 845. 383   Hengstenberg, Vorwort, 74 (1864), Sp.  68. Dabei ist zu beachten, daß andere Theologen gerne – genau umgekehrt – auf den Pfingstgeist als Urheber der nationalen „Erweckung“ rekurrierten (vgl. Gramley, Nationalismus, 79). 384   Hengstenberg, Triumphgesang, EKZ 64 (1859), Sp.  532; vgl. Ders., Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  18.

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sei ein Anachronismus und eine tiefe, durch nichts zu rechtfertigende Beschämung.385 Hengstenbergs Grundsätze führten ihn so zu einer dezidiert antinationalistischen und kriegsfeindlichen Haltung.386 In Preußen wurden die Vorgänge in Italien aufmerksam verfolgt, denn es drängten sich viele Parallelen zu Deutschland und Preußen auf.387 Eine derart deutliche Verurteilung der italienischen Kriege und der Einigungspolitik Cavours, des „italienischen Bismarcks“, ließ keinen Zweifel daran, was Hengstenberg von einer militärischen Expansion Preußens hielt. Darauf wird später zurückzukommen sein. Ähnlich kompromißlos wie Napoleons Kriegstreibereien verurteilte Heng­ stenberg auch den amerikanischen Bürgerkrieg. Der Ausgangspunkt für seine Stellungnahme im Vorwort 1862 – also noch im erste Kriegsjahr – war wiederum keine detaillierte Analyse der politischen Verhältnisse in Amerika, sondern die Beobachtung, daß es „die christliche Ueberzeugung“, vor allem in Europa, „vielfach für selbstverständlich gehalten [habe], daß sie unbedingt für den Norden Partei ergreifen müsse“388 . Schließlich lehnten die Nordstaaten die Sklaverei ab; daher seien sie moralisch im Recht und verdienten die volle Unterstützung. Doch Hengstenberg läßt die Abschaffung der Sklaverei nicht als Rechtfertigung eines Bruderkrieges gelten: „Unruhige Agitationen gegen die Sclaverei, Aufreizung der Sclaven zum Ungehorsam, Beförderung ihres Entlaufens, Gewaltmaßregeln zu ihrer Befreiung, das Stoßen in die Posaune eines heiligen Krieges [...] Alles dies hat die heilige Schrift und ebenso die Geschichte, die Praxis der gesammten älteren Kirche gegen sich. Es hat seinen letzten Grund in einer völlig unchristlichen Kreisen entsprungenen Anschauung, welche von allgemeiner Menschenwürde träumt, weil sie den Sündenfall ignorirt und die durch denselben angerichtete gräuliche Verwüstung nach ihren mannnigfachen Abstufungen bis zur thierischen Stumpf heit und Dumpf heit herab“389. 385   Hengstenberg, Triumphgesang, EKZ 64 (1859), Sp.  532; vgl. ebd.: „Wie viel ärgere Strafe als ein heidnischer Monarch muß ein solcher verdienen, der über Christen gebietet und Christen zur Sünde verleitet“. 386   Hengstenberg verlangt vom Staat als ganzem die gleichen moralischen Standards wie von jedem einzelnen Bürger, darum dürfe auch der Staat nicht aus Selbstsucht töten, vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  18: „Was können die zehn Gebote für das Privatleben noch gelten, wenn sie in solchen öffentlichen Verhältnissen unter lautem Applaus oder unter mattherzigem Schweigen mit Füßen getreten werden?“ Für den christlichen Staat gelte, daß er „der Gesamtheit der Gebote Gottes und auch der Bergpredigt unterworfen[...]“ sei (Ders., Vorwort, EKZ 80 [1867], Sp.  22; vgl. Ders., Vorwort, EKZ 56 [1855], Sp.  6 ). – Die Frage sei erlaubt, ob sich die Scheu Friedrich Wilhelms IV. vor dem Eintritt in kriegerische Auseinandersetzungen nicht einer ähnlichen religiösen Sichtweise verdankt haben könnte (vgl. auch Mehlhausen, Friedrich Wilhelm IV., 248). 387   Vgl. Clark, Preußen, 585 f. 388   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  26. 389   Ebd., Sp.  27. Im Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  77 weist Hengstenberg darauf hin, der oberste Grundsatz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von der allgemeinen natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen sei aus einer Doktrin geflossen, „die ihren Menschen sich selbst bildete, statt ihn zu nehmen wie er ist.“

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4  Hengstenberg und die Politik

Die gewaltsame Umkehrung der Verhältnisse werde von der heiligen Schrift nirgends gerechtfertigt. Zwar sieht auch Hengstenberg die Sklavenhaltung als eine gottwidrige Einrichtung an, allein: „Die heilige Schrift kennt keinen andern Weg zur Beseitigung des ungöttlichen Wesens in der Sklaverei als den innerlichen, den, daß sie die Herren lehrt, daß sie einen Herrn im Himmel haben und ihre Herzen mit Demuth und Liebe erfüllt. Und dieser Weg hat sich wie kein anderer als wirksam erwiesen.“390

Überall, wohin das Christentum gedrungen sei, habe sich auch die Sklaverei auf Dauer nicht halten können, allerdings gehe die Veränderung von innen aus und sei nicht durch gewaltsame äußere Umge­staltung zu erstreben.391 Der Versuch, die Sklaverei mit Gewalt abzuschaffen, könne sich nicht auf das Neue Testament berufen; insofern verdankten sich die Sympathien mit den Nordstaaten weniger einer biblisch-christlichen Haltung als vielmehr dem Gedankengut der Auf klärung. Auffällig ist, daß Hengstenberg bei seinen Ausführungen auf die Loslösung der Südstaaten vom Norden und auf die Frage, ob es sich dabei um eine Rebellion gegen die rechtmäßige Obrigkeit handele, gar nicht eingeht. Sein Blick richtet sich ausschließlich auf die Auseinandersetzung um die Sklaverei und die in den dadurch provozierten Parteinahmen für selbstverständlich genommene Annahme, daß es gerechtfertigt sei, aus diesem Grund einen Krieg unter Chri­ sten zu führen. Die weiteren Umstände des Krieges kommen gar nicht in den Blick. So zeigt seine Stellungnahme in erster Linie, wie wenig politisch Heng­ stenberg dachte. Er hatte allein die theologische Argumentation im Auge und wehrte sich gegen die politische Vereinnahmung des Evangeliums durch eine Kriegspartei. Freilich waren auch solche, rein theologischen Erwägungen im Kontext des amerikanischen Bürgerkriegs im höchsten Maße politisch. Das mußte ihm wenig später bewußt werden. Als der Krieg in Amerika kein Ende nehmen wollte, beurteilte er ihn in seinem Vorwort von 1865 als Gericht über die Verletzungen 390   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  28; vgl. Sp.  30: „Die Predigt des Evangeliums ist das einzige Mittel, wodurch die schweren Wunden dieser Zustände geheilt werden können. Wo dieses Mittel nicht anschlägt, da muß man, wenn auch mit blutendem Herzen, die Sache bis auf Weiteres Gott überlassen und warten, bis seine Stunde kommt, und unterdessen um so ernstlicher arbeiten an der Beseitigung der unerträglichen Zustände in seinem eigenen Herzen [...].“ 391   Ebd., Sp.  30: „Wir haben wohl Grund zu warten und zu hoffen, daß das Evangelium, wenn auch langsam, sein Werk vollbringen wird, wenn es nur treulich und eifrig gepredigt und nicht, zur schwersten Verantwortung vor Gott für die Agitatoren, durch einen falschen Beisatz, einen schlechten Sauerteig von Drängen und Stürmen unwirksam gemacht wird, für die armen Sclaven und für ihre Herren. Es hat grade auf diesem Gebiete Wunder gewirkt und sich als eine Kraft aus der Höhe ausgewiesen. Ueberall noch, wohin das Christenthum gedrungen ist, hat die Sclaverei sich nicht behaupten können, ist sie in der Sache und nach und nach auch in der Form, in demselben Maaße, als sich die Sclaven der Freiheit fähig und würdig erwiesen, aufgehoben worden.“

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von Gottes Gebot, die sich – ganz allgemein – Amerika habe zuschulden kommen lassen. Den „Unsinn [...], den vernichtenden Krieg fortzusetzen“, nannte er eine Verhärtung, die sich in der Wiederwahl Lincolns, „des Mannes des Blutes und der Thränen“, zeige.392 Diese beiläufigen Bemerkungen im Rahmen der Auslegung von Mt 24 wurde, offenbar in amerikanischen Zeitungen verbreitet, und nach dem Mord an Lincoln legte man Hengstenberg in manchen Blättern gar „eine moralische Mitschuld“ an der Ermordung bei.393 Er sah sich daher gezwungen, die Pointe seiner Stellungnahmen zum amerikanischen Bürgerkrieg noch einmal deutlich zu machen: Er habe Lincoln nicht persönlich, sondern als „Vertreter der Kriegspolitik“ angeklagt. Nicht „vom Standpunkte einer politischen Partei“ aus, sondern einzig aus dem Grund, daß es ihm unverantwortlich erschien, „die gräuliche Schlächterei unter Christen fortzusetzen.“394 Darüber hinaus sei er immer noch der Meinung, daß man nicht dem Süden allein die Schuld an den Gräueln geben dürfe.395 Der Tod Lincolns am Karfreitag habe tiefere Bedeutung: „Das Blut Christi für uns vergossen soll die Teilnehmer seiner Versöhnung davon abmahnen, daß sie sich unter einander schlachten“396 . Die schrecklichen Folgen des Krieges ließen keine Rechtfertigung zu. Es müsse sich darüber hinaus erst zeigen, ob er „den Negern wirklich zum Heil gereicht“397. Einer der traurigsten Schäden des Krieges aber sei „die tiefe Verflechtung der kirchlichen Gemeinschaften in die weltlichen Händel“, und damit stand Hengstenberg wieder bei seinem Ausgangspunkt: Bei dem Krieg sei es um politische Fragen gegangen. Die falsche Einschätzung der Sklavereifrage habe dies verdeckt. „Es lag gar keine Veranlassung für die Kirche vor, sich in diese Händel zu mischen.“398 In diesem Sinne wollte Hengstenberg auch seine erste Äußerung verstanden wissen. Doch das Dilemma ist offensichtlich: Auch die Verurteilung des Krieges und die Bestreitung seines christlichen Rechtes wurde in die politischen Händel hineingezogen. Hengstenberg konnte, ob er wollte oder nicht, der Politisierung nicht entgehen. 392

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 76 (1865), Sp.  15.   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  74; vgl. auch Frank, Theologie, 446, der Hengstenbergs Stellungnahme zum Bürgerkrieg aber völlig verzeichnet. 394   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  75. 395   Andererseits hatte er bereits 1862 die Schuld des Südens nicht beschönigt (vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 [1862], Sp.  29 f.) und ging auch nun nicht davon ab, daß „in den Südstaaten an den Negern sehr viel gesündigt worden“ und daher auch das Elend des Südens als Gericht zu betrachten sei (Ders., Vorwort, EKZ 78 [1866], Sp.  77). 396   Ebd., Sp.  75. 397   Ebd., Sp.  76. Hengstenberg ging davon aus, daß die befreiten Sklaven gar nicht so schnell in der Lage sein würden, ohne Abhängigkeitsverhältnis zu leben. Er teilte die Auffassung: „Ohne Vorbereitung emancipirt würden die Neger zuerst meist in den Abgrund der Lüderlichkeit versinken und endlich durch den Raçenhaß der Weißen vom Erdboden vertilgt werden.“ (ebd.) 398   Ebd., 78. – Explizit wird nun auch die grundsätzliche Berufung auf das Obrigkeitsrecht zugunsten der Nordstaaten abgelehnt. Die Frage sei politisch komplizierter, außerdem habe man sich in Amerika auch bisher nicht um das Gebot gekümmert (ebd.). 393

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4  Hengstenberg und die Politik

Die Beispiele zeigen aber auch, daß sich Hengstenbergs Äußerungen zu politischen Ereignissen in der Regel im Rahmen theologischer Prinzipienaussagen bewegten, die es ihm gar nicht ermöglichten, auf Details einzugehen. Zu konkreten politischen Sach- oder verzwickten Rechtsfragen äußerte er sich darum in den meisten Fällen nicht. Außerdem nivellierte der Gedanke der allgemeinen Schuldverfallenheit und des gerechten Gerichts Gottes alle nuancierten Beurteilungen.399 In zwei prominenten Fällen sah sich Hengstenberg aber genötigt, die Frage der politischen Schuld nicht nur – wie im Blick auf die Südstaaten – zu relativieren, sondern explizit Stellung zu ergreifen. Gerade diese Stellungnahmen zeigen jedoch wiederum nur, wie wenig politisch geschärft sein Wahrnehmungsvermögen war. Zunächst ist Hengstenbergs Umgang mit der Frage, wem man seine Sympathien im Krimkrieg schenken dürfe, zu betrachten. Daß er sich überhaupt zu der Frage äußerte, lag an der Tatsache, daß sie ganz Preußen beschäftigte – und spaltete! – und daher auch die Gemüter der Christen erhitzte. Welcher Partei sollte man Recht geben: der westorientierten Wochenblattpartei oder der prorussischen Kreuzzeitung? Im Grundsätzlichen stand es Hengstenberg auch hier außer Zweifel, daß ein Krieg unter Christen aufs Schärfste zu verurteilen sei und ein schweres Gericht darstelle.400 Wo es aber um die Verteilung von Schuld und Sympathien ging, stellte sich die Frage ungleich schwieriger dar – insbesondere deshalb, weil Hengstenberg sehr große Sympathien für das christliche England hegte. Die Evangelischen Christen und „namentlich Preußen als die continentale Evangelische Großmacht“ seien „durch die innigsten Bande mit England verbunden“ 401: „Nicht nach Rußland, nach England senden wir unsere Söhne, wenn wir wünschen, daß sie einen Reichthum kirchlicher Anschauungen in sich aufnehmen. Nicht Rußland, sondern England betrachten wir als die Ergänzung unserer Mängel und Einseitigkeiten. In keinem andern Volke erblicken wir einen so bedeutenden Kern wiedergeborner 399

  So ist an der Stellungnahme zum amerikanischen Bürgerkrieg typisch, daß nicht nur beide Seiten als Sünder bezeichnet werden, sondern daß zudem angefügt wird: „Wir sind nicht besser, wie unsere amerikanischen [...] Brüder.“ (Hengstenberg, Vorwort, EKZ 76 [1865], Sp.  16). 400   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  6 : „Krieg zwischen den Erlösten Jesu Christi, [...], wie gewaltig ist da der Widerspruch der Wirklichkeit gegen die Idee! Man kann sagen, daß ein solcher Krieg die factische Verläugnung der Gnaden ist, die Christus seiner Kirche durch sein Sterben und sein Bluten erworben. Denn welche Bedeutung können diese Gnaden haben, wenn sie nicht einmal stark genug sind, blutige Zwietracht zwischen den Mitgenossen derselben zu verhüten.“ Krieg im Reich Christi sei „ein trauriger Anachronismus [...], ein Zurücksinken in die Gottlosigkeit des Heidenthums“. „Jede Nachricht von gelieferten Schlachten in den Zeitungen hat für den Christen etwas haarsträubendes, besonders wenn sie in das Detail eingeht, wenn sie uns das ‚grausam blutig Handwerk‘ recht klar vor Augen stellt. Seht wie sie sich einander lieben, das war eins der ersten Kennzeichen der Christen innerhalb der Heidenwelt.“ 401   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 56 (1855), Sp.  7 – hierauf beziehen sich im Folgenden auch die Zitate im Fließtext.

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Christen, in keinem andern ist die heilige Schrift, unser Manna in der Wüste dieses Lebens, so in Fleisch und Blut übergegangen. Mit keinem Lande stehen wir in einem so bedeutenden geistlichen Wechselverkehr. Von Deutschland hat England seine erste Reformation erhalten. Unter Deutschen Einflüssen stand Wesley, da er als Herold einer zweiten Reformation auftrat, nachdem sich die dunklen Schatten des Deismus und Freimaurerwesens über England gelagert hatten. Aus England erhielt unter uns der Kampf gegen den kirchenverwüstenden Rationalismus die kräftigsten Impulse. Von dort nahmen unsere Bibelgesellschaften ihren Ursprung. Von dort aus wurden wir zuerst erweckt, unsere Schuldigkeit gegen Israel und gegen die Heiden zu bedenken.“ (Sp.  7 ).

Auch seinen Sohn Immanuel hatte Hengstenberg aus den genannten Gründen nach Abschluß seines Studiums auf die britischen Inseln geschickt. Ausgerechnet im Jahr 1854, als der Krimkrieg ausbrach, reiste jener durch England und Schottland, um die dortigen kirchlichen Verhältnisse kennenzulernen.402 Es verstand sich daher von selbst, daß er davor warn­te, über die Kriegsniederlagen der Engländer zu jubeln, wie es teilweise in konservativen Kreisen üblich war – nebenbei anmerkend, daß „wir überhaupt gar sehr auf der Hut seyn müssen gegen die Einflüsse eines innerlich weltlich gesinnten Conservatismus, der so oft ein bloßer Ausfluß des Besitzes ist, und seiner Parteisünden uns in keiner Weise theilhaftig machen dürfen“ (Sp.  7). Gegenüber den Lobeshymnen auf England fällt die Bewertung des christlichen Rußland deutlich zurückhaltender aus. Rußland sei zwar ein christliches Reich, aber die Lehre der russischen Kirche habe „vielfache Trübungen erlitten“ (Sp.  8 ). Damit verbinde sich eine „gar große Intoleranz und Herrschsucht“ (ebd.). Kein evangelischer Christ könne sich darum wünschen, „daß die Russische Herrschaft sich weiter und über die jetzt Türkischen Gebiete ausbreite. Die Ausschließung der reinen Lehre des Evangelii, die dort in so schöner Weise zu wirken begonnen hat [...] würde die unmittelbare Folge sein“ (Sp.  9 ). Des weiteren müsse man annehmen, „daß die allerdings vorhandene Sorge für die Glaubensgenossen in der Türkei nicht das einzige bewegende Princip“ (ebd.) für den Krieg gewesen sei. Die Sympathien im Blick auf die Christlichkeit beider Reiche sind also klar verteilt. Doch geht Hengstenberg nicht so weit, im Chor mit den Liberalen für die Westmächte Partei zu ergreifen. Der Grund dafür liegt in den Allianzen: England habe sich mit Frankreich verbunden, und keines der christlichen Länder stehe den Deutschen ferner als Frankreich, „von dem wir zu allen Zeiten fast nur Uebles empfangen haben“: „im Ganzen und Großen ist Frankreich die concentrirte abtrünnige Welt; der Geist Voltaires, der Geist des Unglaubens, der Frivolität und Zuchtlosigkeit“ (Sp.  10). Daher müsse man sich von Frank402   Vgl. Bachmann / Schmalenbach 3, 474–476 und Hengstenberg an Immanuel, 24. Mai 1854: UB Rostock, Mss. Meckl. P 107/1 Nl Bachmann (unpaginiert); in der EKZ 54 und 55 (1854) sind mehrere Briefe Immanuel Hengstenbergs über die kirchlichen Verhältnisse in England, Schottland und Irland veröffentlicht.

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reich deutlicher abgrenzen als von Rußland. Genau so bedenklich sei die Verbindung Englands mit den Türken. „Es ist eine Schande, daß sich Christen mit Türken gegen Christen verbinden.“ (Sp.  11) 403 Im Ergebnis müsse man sich deshalb zu Rußland stellen. Während es England allein um seine Machtstellung und seinen Handelsvorteil im Orient gehe, es sich darüber hinaus für die Lage der Mitchristen in diesen Gebieten nicht interessiere, sei Rußlands Kaiser und Volk immerhin auch „beseelt von einem tiefen Interesse für die unter dem Türkischen Joche schmachtenden Glaubensbrüder“ (Sp.  12). Zuletzt könnten, „die feststehen auf dem Boden von Röm. 13“, keinsfalls wünschen, „daß Rußland, in dem sie ein Bollwerk gegen die Fluthen der Empörung gegen die Obrigkeit von Gottes Gnaden erblicken, aus diesem Kampfe geschwächt hervorgehe.“ (Sp.  14). So landet Hengstenberg schließlich also doch im Lager der Konservativen. Auffällig ist allerdings wiederum, daß dabei macht- oder realpolitische Erwägungen so gut wie keine Rolle spielen. Den letzten Ausschlag gibt, welche Auswirkung eine Parteinahme für die Westmächte bzw. für Rußland auf die beiden Grundprinzipien, Christlichkeit des Staates und Recht der Obrigkeit, hätte. Von einer eigentlich politischen Argumentation ist Hengstenberg dabei weit entfernt. Wie unbedarft er ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er das machtpolitische Kalkül Rußlands kaum beachtet. Hengstenbergs Haltung im Krimkrieg ist demnach ein Beispiel dafür, wie Hengstenbergs religiöser Bewertungsmaßstab im Ergebnis zu einer konservativen Sicht führte, ohne im eigentlichen Sinne politisch zu sein. Der zweite Fall, in dem Hengstenberg aus aktuellem Anlaß Partei ergriff, lag Preußen ungleich näher. Es ging um die moralische Bewertung der preußischen Feldzüge von 1866 und die Berechtigung der Annexionen. An dieser Frage, die kurz auf den Nenner ‚für oder gegen Bismarck‘ zu bringen ist, sind bekanntlich die starren Parteifronten zerbrochen.404 Ernst Ludwig von Gerlach als erklärter Gegner der Bismarckpolitik trennte sich von seinen Weggefährten und sagte sich sogar von der von ihm gegründeten Kreuzzeitung los. Die Haltung der Konservativen, die noch wenige Jahre zuvor bei den Gewaltakten in Italien entsetzt aufgeschrieen hatten, nun aber die preußische Machtpolitik unterstützten, griff er scharf an.405 Überraschenderweise stand nun auch Hengstenberg auf seiten der Gegner Ger­lachs. Nach seinen Äußerungen zur italienischen Einigung hätte man erwarten können, daß er auch den Expansionsgelüsten Preußens hätte ablehnend gegenüberstehen müssen. Und in der Tat warnte er noch 403   England wolle halten, was von selbst zusammenfällt; „die angestrebte Aufnahme der Türkei in den Europäischen Staatenverband“ sei der größte Gegensatz gegen die heilige Allianz und deren Grundsatz, „daß unser Herr und Heiland die Grundlage des Europäischen Staatenwesens sey“ (Sp.  13). 404   Vgl. z. B. Kraus, Gerlach, 794; Schildt, Konservatismus, 90 f.; Clark, Preußen, 623. 405   Kraus, Gerlach, 810–832; den Bruch mit Bismarck besiegelte endgültig Gerlachs Broschüre: ‚Die Annexionen und der Norddeutsche Bund‘.

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am 19. Mai 1866: „Machterweiterung wird die Losung, während ein wahrhaft christliches Volk zufrieden und dankbar ist, wenn es ein ruhiges und stilles Leben führen kann in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit“406 . Doch sobald der Krieg mit Österreich ausgebrochen war, zog er sich auf eine allgemeinere Sicht zurück: Der Krieg sei ein großes Unglück, eine Schande für die Christen und Gottesgericht über ganz Deutschland. Von einer Schuld Preußens ist hingegen nicht die Rede.407 Vielmehr wird der Krieg als Verhängnis aufgefaßt: Es sei „klar wie der Tag, daß Niemand den Krieg gewollt, daß eine unsichtbare Hand ihn herbeigeführt hat, daß wir darin verwickelt sind, wir wissen nicht wie“408 : „Darum darf der Christ nicht bange werden, ‚wenn Krieg und alle Schrecken die ganze Welt bedecken.‘ Es ist sein Gott und sein Heiland, der alles leitet und regiert, er ist der Feldherr über alle Heere, die feindlichen und die freundlichen [...]. In Wahrheit zieht nicht Oestreich gegen Preußen, sondern ‚der Herr der Heerscharen mustert Kriegsheer‘, Jes. 13,4, um die abtrünnige Welt heimzusuchen und in ihr zur Buße zu führen, was der Buße noch fähig ist, und zu verderben, was ihr hartnäckig widerstrebt.“409

Die Betonung liegt auf der allgemeinen Schuldverfallenheit. Ihre Anerkenntnis mache „es uns leicht, unsere Feinde zu lieben [...]. Die uns mit unsern Feinden gemeinsame Sünde hat über uns beide das gerechte Gericht Gottes herbeigeführt“410. Es verwundert nicht, daß nach dem Krieg Theologen aus den Mittelstaaten Hengstenberg vorwarfen, er habe durch den Verweis auf Gott als den eigentlichen Kriegsherrn von der politischen Schuld Preußens ablenken wollen.411 Das Vorwort von 1867, in dem sich der Beschuldigte verteidigt, gibt nun zu erkennen, wie schnell Hengstenberg sich auf die neue Situation eingestellt hatte. Freilich war er nach wie vor ein Gegner egoistischer Expansionspolitik. Doch er hatte sich nun ganz die Bismarksche Sichtweise zu eigen gemacht, nach der ein Krieg gegen Österreich ohnehin nicht zu vermeiden gewesen wäre, es demnach unaufrichtig sei, Preußen alleine die Schuld für den Zusammenstoß zu geben. Weder dem König noch Bismarck dürfe man selbstsüchtige Absichten unterstellen.412 In diesem Sinne verstand er den Krieg als Verhängnis und verlangte – ähnlich wie 1848/49 –, die neue Situation als gottgegeben anzunehmen. Zudem stellte er sich auf den Standpunkt, die Lage sei vor Kriegsausbruch 406

  Hengstenberg, Feigenbaum, EKZ 78 (1866), Sp.  475.   Hengstenberg, Die vier Reiter, EKZ 79 (1866), Sp.  633.662 f. 408   Ebd., Sp.  633; vgl. auch Sp.  658. 409   Ebd., Sp.  657. 410   Ebd., Sp.  658. 411   Vgl. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 80 (1867), Sp.  21. 412   Ebd., Sp.  26 f. – Vgl. zu Bismarcks Sicht, der bereits im Februar 1866 den Krieg zwischen den beiden deutschen Großmächten für unausweichlich hielt, Clark, Preußen, 609 und Engelberg, Bismarck, 566–573. – Auch in späteren Auseinandersetzungen stellte sich Hengstenberg auf Bismarcks Seite, vgl. Anna Hengstenberg an ihre Mutter, 20. Febr. 1868: Bachmann / Schmalenbach, 3, 486. 407

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4  Hengstenberg und die Politik

nicht derart klar gewesen, als „daß hier für die Mahnung im Stile der Propheten das rechte Terrain wäre.“413 Zwar sei er vom Recht Preußens überzeugt, doch könne man auch anderer Meinung sein. Sein Schweigen zur Kriegsschuld begründet er schließlich mit Johann Gerhard, der empfiehlt: „Wenn die Ursache des Krieges zweifelhaft und verborgen ist, so sollen die Unterthanen die gemeine Regel beobachten: halte dich an das Gewisse, laß fahren das Ungewisse. Nun ist es aber gewiß, daß die Untertanen der Obrigkeit Gehorsam leisten müssen, wenn sie nicht offenbar Ungerechtes oder Gottloses befiehlt. Darum muß man nicht allzugenau und naseweis die Ursachen des Krieges und die Rathschläge der Obrigkeit untersuchen, sondern vielmehr tun, was man schuldig ist.“414

Grundsätzlich erkennt Hengstenberg nach dem Sieg die Mission Preußens in Deutschland an; die Niederlage Österreichs wird andererseits als Gottesgericht gedeutet, das die jahrhundertelangen Versündigungen gegen das Evangelium richte.415 Die heilige Allianz, die beispielsweise Gerlachs Denken stark bestimmte, war für Hengstenberg nicht sakrosankt. Fest standen ihm allein die Gebote Gottes, nach denen sich auch Preußen zu richten habe und gegen die nach allem, was man wissen könne, die Regierung nicht verstoßen habe. Heng­ stenberg wurde also nicht zum Nationalisten,416 doch gelangte er, indem er – um in Bismarcks Diktion zu sprechen – „den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten“417 sah, zu ähnlichen Ergebnissen wie die Nationalkonservativen. Ähnlich wie in der Krimkrise wurde seine Betrachtung den politischen Realitäten aber kaum gerecht; die bewußten Provokationen und machtpolitischen Schachzüge Bismarcks konnte und wollte er nicht sehen. An Hengstenbergs Stellung zum Krieg von 1866 zeigt sich in besonderer Weise die Problematik seiner Zeitdeutung. Daß Preußen erfolgreich aus dem Krieg hervorgegangen ist, wird als göttliche Bestätigung der preußischen Mission gewertet, Österreichs Niederlage hingegen als Strafe für die Verfolgung des wahren Glaubens. Wie bereits erwähnt, sah Hengstenberg in der Weltgeschichte die richtende Hand Gottes am Werk (s.o. 2.4.1.2). Dabei galten ihm Art und Ausmaß des als Strafe verstandenen Gerichtes als Hinweis auf Art und Ausmaß der Sünde der Völker. Insofern war er, nachdem sich der Pulverdampf 413

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 80 (1867), Sp.  29.   Ebd., Sp.  30; vgl. Gerhard, Loci theologici, locus 24 (ed. Preuß, Bd.  6, 506). 415   Ebd., Sp.  27 f.37–42. 416   Das sieht man nicht nur daran, daß Hengstenberg dem preußischen Trachten nach der Mission für Deutschland „sehr bestimte Gränzen gestellt“ (ebd., Sp.  25) sieht, sondern auch an der Kritik, die gleichzeitig an Preußen geübt wird (Sp.  30 f.) und an der permanenten Warnung vor der „Neigung zur Selbstüberhebung“ als der „Erbsünde Preußens“ (Sp.  36; vgl. Sp.  25) – insofern, aber nur insofern war er sich mit Gerlach und dessen Ausführungen in ‚Die Annexionen und der Norddeutsche Bund‘ einig (ebd., Sp.  21); ungenau ist daher die Darstellung bei Gramley, Nationalismus, 141, Anm.  173 – daß Hengstenberg einen Aufruf um finanzielle Unterstützung für die Feldgeistlichen abdruckte und befürwortete (vgl. EKZ 78 [1866], Sp.  631 f.), sagt allein noch nichts über seine politische Haltung. 417   Nach Gall, Bismarck, 56. 414

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des Gerichtes einmal gelegt hatte, durchaus bereit, seine Einschätzungen zu korrigieren. Die Notwendigkeit der nachträglichen Korrektur weist aber auf die Lücke seiner theologischen Deutung hin: Zwar hatte er feste, aus der Schrift gewonnene moralische Prinzipien, doch für ihre Anwendung gab es keinen Haftpunkt, solange man die politischen Motivationen der Akteure nicht durchschaute. Dazu aber war Hengstenberg nur sehr begrenzt in der Lage. Er behalf sich daher mit einem Rückschlußverfahren: Das Ergebnis einer Auseinandersetzung war ihm eine Art Gottesentscheidung, die Rückschlüsse auf die Sünde der Beteiligten zuließ. Das führte aber allzu leicht zu einer Sanktionierung des Faktischen. Andererseits bewahrte sich Hengstenberg auf diese Weise eine Ela­ stizität in der Bewertung weltgeschichtlicher Ereignisse, wie sie konservative Freunde vom Schlag E.L. von Gerlachs in ihrer Anhänglichkeit an das Legitimitätsprinzip, an die heilige Allianz oder andere politische Theorien nicht besaßen. Gerlach legte als Politiker den Finger auf die Motivation der beteiligten Parteien; er erkannte die strategischen und taktischen Ränke und durchschaute – wie Hengstenberg schon 1848 eingestand418 – politische Verhältnisse wesentlich genauer als der Theologieprofessor. Vom scheinbar Faktischen ließ er sich nicht blenden. Er war viel mehr Prinzipienpolitiker, als es Stahl gewesen war. In den unterschiedlichen Bewertungen des Krieges zeigte sich nun, 1867, daß Stahls Einfluß auf Hengstenberg auf lange Sicht prägender geworden war als derjenige Gerlachs.419 Gleichwohl war Hengstenbergs sachliche Trennung von Gerlach nicht einfach identisch mit der Spaltung der Konservativen; sie war vielmehr Ausdruck dessen, daß er zu seinen – zweifellos konservativen – Standpunkten auch zuvor schon auf sehr eigenen Wegen gekommen war. Damit stellt sich die Frage, wie weit die Schnittmenge zwischen Hengstenbergs theologischer Weltsicht und den Ansichten der politisch Konservativen faktisch reichte, und wie sich die Kluft, die sich zwischen den beiden Einstellungen immer wieder auftat, beschreiben läßt. 4.3.4.2  Konservatismus und Junkertum Erwartungsgemäß zeigte sich Hengstenberg zu Beginn des Jahres 1850 zufrieden mit der politischen Entwicklung. Den Sieg der Reaktion über die Revolution schrieb er nicht zuletzt den kirchlich Gesinnten zu: „Mit großer Einmüthigkeit haben, die Gott fürchten, auch den König geehrt. In dem großen Kampfe der Zeit um die Obrigkeit von Gottes Gnaden haben sie mit Muth und

418

  Vgl. oben bei Anm.  290.   Zur Einordnung Stahls neben Gerlach vgl. bes. Füssl, Stahl, 356–358, der Stahls Richtung als „konstitutionellen Konservatismus“ (ebd., 356) bezeichnet. 419

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Entschiedenheit auf der rechten Seite gestanden.“420 Allerdings sah er nun eine neue Gefahr heraufziehen: „die religiös Gerichteten treten auf dem politischen Gebiete in eine enge Verbindung mit solchen, die conservativ sind ohne eine religiöse und somit auch ohne eine tiefere sittliche Grundlage, und diese Verbindung führt Gefahren mit sich, die auf dem kirchlichen Gebiete, wo wir ein Volk sind, das alleine wohnet, nicht stattfinden.“421

Es komme bei dem gegenwärtigen Kampf nicht nur auf das gemeinsame Ziel, sondern auch auf die Gesinnung und die Wahl der Mittel an. Die völlige Identifizierung mit konservativen Interessen verleite aber dazu, mit „dem Geist der Roheit und Bosheit“ gegen die polischen Gegner vorzugehen. Für Christen sei eine gewaltsame, „rote“ Reaktion nicht weniger verwerflich als die blutige Revolution: „Ein fatales Wort, das Wort rothe Reaktion! Gerechtigkeit muß geübt werden, unter Umständen blutige Gerechtigkeit, aber wer lachenden Mundes und inter pocula von rother Reaktion redet, ohne Schmerz über die Versunkenheit seiner Brüder, ohne der eigenen Sünde zu gedenken, ohne im Herzen zu bitten: ‚Bewahre deinen Knecht vor den Freveln [...]‘, der steht mit den Anhängern der rothen Republik auf demselben sittlichen Grunde und stärkt sie in ihrer Bosheit“422 .

Für Christen seien zudem die sittlichen Grundsätze wichtiger als der Erfolg. Darum berge die politische Betätigung für sie Gefahren. In der Politik komme es auf Majoritäten an, das lege aber die Versuchung nahe, „daß die kleine Heerde ihre Grundsätze verbirgt, abschwächt, verläugnet, um populär zu werden, oder wenigstens in der Art und Weise der Vertheidigung der Grundsätze dem Geschmacke der Menge fröhnt.“423 Allein aus diesen Voten wird deutlich: Hengstenberg hielt eine dauerhafte Verbindung der kirchlich-konservativen mit der politisch-konservativen Partei für problematisch. Zwar war er inzwischen auch zu dem Schluß gekommen, daß man in Zeiten der Bedrohung gemeinsamer Güter Koalitionen eingehen könne, doch generell blieb er dabei, daß für die kirchlich Gesinnten die kirchliche Grundhaltung die dominierende sein müsse. Darum distanzierte sich Hengstenberg auch mehr als einmal deutlich von konservativen Politikern. Als 1857 ein neues Ehegesetz, das die Ehescheidungsgründe gegenüber dem Landrecht reduziert hätte, auch von einem Teil der konservativen Abgeordneten abgelehnt wurde,424 machte er seinem Ärger unmißverständlich Luft: Es bestehe eine tiefe Kluft zwischen denjenigen,

420

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  7.   Ebd., Sp.  9. 422   Ebd., Sp.  9 (auch die vorhergehenden Zitate). 423   Ebd., Sp.  10. 424   Vgl. Buchholz, Eherecht, 39–47. 421

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„welche die Ordnungen des lebendigen Gottes und denjenigen, welche ihren Besitz, ihre Standesvorrechte, die Bureaukratie u. dergl. conserviren wollen. Das unter Umständen nothwendige Zusammengehen beider hat leider in der öffentlichen Meinung eine unheilvolle Vermengung veranlaßt. Auch die Kirche sollte dieser Vermengung kräftig entgegentreten, sollte jede Gelegenheit benutzen um zu zeigen, daß sie die Dienerin des lebendigen Gottes ist, die sein Schwert, wenn es seyn muß, auch gegen die Bevorrechteten führt, nicht ein Werkzeug zur Beförderung der Interessen der letzteren.“425

So rechnete er in gleichem Atemzug auch mit den Adligen in Mecklenburg ab, die ihre Tagelöhner sonntags arbeiten ließen. Allen „Pharaonen der Jetztzeit, den adligen noch mehr als den bürgerlichen“ sollte mit kräftiger Stimme das Wort Gottes zugerufen werden.426 Bereits 1856 hatte Hengstenberg eindringlich gemahnt, daß man dem Adel kein „Privilegium der Exemtion“ im Bereich der Moral einräumen dürfe. Ansonsten müsse man sich nicht wundern, wenn auch der gemeine Mann an der Ordnung irre werde: „Kann die Ehre eine solche Exemtion begründen, warum nicht auch der Hunger?“427 Anlaß war ein Ärgernis, auf das Hengstenberg immer wieder zu sprechen kam: die unter Adligen nach wie vor verbreitete Praxis des Duells. Am 10. März 1856 hatte der junge Adlige Hans Wilhelm von Rochow, Mitglied des Herrenhauses, den preußischen Polizeigeneraldirektor Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey im Duell erschossen.428 Viele Adlige und nicht zuletzt der König waren über das drohende Unheil informiert gewesen, doch man hatte nichts dagegen unternommen. Gegen diese Haltung brachte Hengstenberg kurze Zeit später unmißverständlich die kirchliche Sicht zur Geltung: „Das Duell und die Kirche stehen in einem absolut feindlichen Verhältnisse zu einander. Die Kirche betrachtet das Duell aus dem Gesichtspunkt des Mordes.“429 Von diesem Ausgangspunkt griff er dann nicht nur die Duellanten als Vertreter des adligen Standes respektive der Obrigkeit scharf an, sondern mißbilligte darüber hinaus auch die Haltung des Präsidenten des Herrenhauses und seines Schriftführers, die – wenn auch verklausuliert – die adlige Praxis des Duells gebilligt hatten. Darüber hinaus nahm er die Kreuzzeitung unter Beschuß, die in einem Leitartikel das Duell in allen Einzelheiten geschildert hatte, „gleich als handelte es sich um eine nach göttlichen und menschlichen Rechten erlaubte Handlung, welche in keiner Weise das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen habe“ (Sp.  268). Dem jungen Rochow wird zudem zur Last gelegt, es habe ihm an Achtung vor der Obrigkeit gefehlt, die zweifellos auch von Ad425

  Hengstenberg, Vorwort EKZ 62 (1858), Sp.  64.   Ebd. 427   Hengstenberg, Duell, EKZ 58 (1856), Sp.  268. 428   S. Wippermann, ADB 12. 429   Hengstenberg, Duell, EKZ 58 (1856), Sp.  265 – darauf beziehen sich auch die folgenden Angaben im Fließtext. 426

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ligen gefordert sei (Sp.  268).430 Auch der Adel müsse sich an Gottes Geboten messen lassen: „Neben Vorzügen, die wir gern und freudig anerkennen, hat auch der Adel seine Erbgebrechen und Erbsünden, und deren Herrschaft können sich manchmal nach der menschlichen Schwäche auch ‚sehr conservative und christliche Männer‘ leider nicht entziehen“ (Sp.  270). Hengstenberg war also weit davon entfernt, die Standeszugehörigkeit für einen Ausweis kirchlichchristlicher Gesinnung zu halten.431 1865, als das Thema Duell wieder aktuell wurde, schleuderte er seinen adligen Gesinnungsgenossen an den Kopf: „Wir Conservative wollen nicht allen alten Unrath conserviren, sondern die ewigen Ordnungen Gottes. In allem, was diesen widerstreitet, huldigen wir einem entschiedenen und thatkräftigen Fortschritt. Wer diesem wahren Fortschritt widersteht, arbeitet dem falschen in die Hände.“ (Sp.  74).

Es war nicht Hengstenbergs Art, seine theologische Einstellung politischen Bündnissen zu opfern. Das zeigt sich noch an einer anderen Stelle. Zwar verehrte Hengstenberg seinen alten Freund Ernst Ludwig von Gerlach und folgte ihm in vielen Fragen, bei einem Thema widersprach er ihm aber bis zuletzt: bei der Frage der dynastischen Legitimität des Monarchen.432 Hengstenberg hatte schon bei der Beurteilung der Julirevolution gegenüber Ger­lach den Gesichtspunkt hervorgehoben, daß man den Sturz der gekrönten Häupter als Strafgericht Gottes verstehen müsse.433 Auf die gleiche Weise argumentierte er auch noch über 30 Jahre später, als nach dem Krieg von 1866 die Frage nach der Haltung zu den abgesetzten Herrschern in den annektierten preußischen Territorien auf der Tagesordnung stand. Dabei machte er in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, daß man bei der Frage, wer die rechtmäßige Obrigkeit sei, nicht von einem legitimistischen Standpunkt ausgehen dürfe: „Die im höheren Sinne rechtmäßige Obrigkeit ist nur die bestehende. Der Legitimismus, indem er hartnäckig die Rechtmäßigkeit der abgetretenen verteidigt, widerstrebt nicht minder der Ordnung Gottes, als die Revolution, indem sie die bestehende angreift“434. An die Adresse seiner konservativen Freunde gerichtet, fügte er unmißverständlich hinzu, die Autorität des Herrn müsse man höher stellen als „die Hallers und seiner Restauration der Staatswissenschaft“435 : 430

  Vgl. ebd., 280: „Das Duell ist [...] eine Auflehnung gegen die Obrigkeit“, da es einen Akt der Selbstjustiz darstelle. 431   Noch mehrmals kommt Hengstenberg auf das Duellthema zurück, Hengstenberg, Vorwort, 60 (1856), Sp.  69; Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  67; vgl. zum Letzteren, dem Duell zwischen Edwin von Manteuffel und Karl Twesten, Clark, Preußen, 591. 432   Zur Konzeption der Legitimität vgl. z. B. Huber, Verfassungsgeschichte 2, 332. 433   Hengstenberg an E.L. v. Gerlach, 24. Mai 1831: Bachmann 2, 297. Zu Unrecht behauptet Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 502, Hengstenberg hätte erst nach 1861 mit dem Prinzip des Legitimismus gebrochen. 434   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 80 (1867), Sp.  52. 435   Ebd., Sp.  52; vgl. ebd., Sp.  51: „Die Schrift ist ebenso entschiedene Gegnerin des Legitimismus, wie der Revolution, welche beide darin übereinstimmen, daß sie das Auge von

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„Wenn das Amt durch Gottes Fügung dem bisherigen Träger entrissen wurde und auf einen anderen überging, so gehört auch diesem die Pflicht des Gehorsams und man muß ihm denselben, wenn auch mit blutendem Herzen, nicht blos äußerlich (denn das ist kein wahrhaftiger Gehorsam), sondern auch innerlich leisten, und wenn er es verlangt, zu schwören.“436

Anderslautenden Auslegungen von Röm 13, wie derjenigen seines verstorbenes Freundes Otto von Gerlach, die „von legitimistischen Einflüssen“ nicht frei geblieben sei, erteilte er eine klare Absage.437 Der Satz, daß Gott Könige absetzt und einsetzt, steht für Hengstenberg über allen anderen monarchischen Theorien438 und befähigt ihn zu einem erstaunlich elastischen Umgang mit neuen politischen Konstellationen. So wurde auch die konstitutionelle Monarchie nach 1848 nie von ihm abgelehnt,439 und wenn er die Demokratie kritisierte, dann in erster Linie nur deshalb, weil mit ihr für gewöhnlich die Feindschaft gegen die Kirche einhergehe.440 Die Beispiele bestätigen, was bereits in anderen Zusammenhängen deutlich geworden ist: Hengstenberg hielt trotz aller sachlichen Gemeinsamkeiten kritische Distanz zum politischen Konservatismus, insbesondere zu einem in erster Linie den ökonomischen Interessen verpflichteten Junkertum. Sein politisches Weltbild blieb zutiefst religiös. Hengstenberg wußte sich dabei einig mit seinem konservativen, aber gleichfalls nicht adligen Freund Stahl, dessen posthum erschienene Abhandlungen über die ‚Parteien in Staat und Kirche‘ er vorbehaltlos empfahl und zustimmend zitierte: „es ist in Kirche und Staat nur Ein Kampf, nur Eine Entscheidung, wer der Herr der sittlichen Welt sei, die Ordnung GotGott abwenden und ihn nicht in den Mittelpunkt der politischen Verhältnisse stellen. Der Legitimismus ist auch nicht aus dem Boden der Kirche, der heiligen Schrift entsprungen, er ist aus der Katholischen Kirche hervorgegangen und führt auch, wo er gehegt und gepflegt wird, zur Katholischen Kirche hin.“ Die pauschalen Behauptung, die EKZ stehe „ganz in der Denktradition des Staatsrechtlers Carl Ludwig von Haller“ (Buschmann, Krise, 176), ist also nicht zu halten. 436   Ebd., Sp.  53. 437   Ebd. 438   Vgl. ebd., Sp.  52: Die Schrift lehre, „daß Gottes Königtum eine Wahrheit ist, daß er Könige absezt und Könige einsezt, Gewalt hat über der Menschen Königreiche und gibt sie, wem er will“. 439   Vgl. auch Hengstenberg, Vorwort EKZ 72 (1863), Sp.  52: „Der Absolutismus wird von Niemand unter uns proclamirt. [...] Die uns vorgeworfene Abneigung gegen das Abgeordnetenhaus trift [sic!] nicht die Institution an sich, wir ehren sie wie alle menschlichen Ordnungen, wenn sie sich in ihren Schranken hält“. Schon im AT sei die Monarchie eine beschränkte gewesen. 440   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 72 (1863), Sp.  53: „Denn die Demokratie geht mit der Feindschaft gegen die Kirche und dem Drange, sie zu Grunde zu richten, Hand in Hand.“ Falsch ist die Behauptung Nowaks, Hengstenberg entwickle die Gleichung „Abgeordnetenhaus = Demokratie = Kirchenfeindschaft“ (Nowak, Politische Pastoren, 155, Anm.  14); das tut er – wie die auch von Nowak, allerdings unvollständig, herangezogene Stelle im Vorwort von 1863 (s. Anm.  439) zeigt – gerade nicht.

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4  Hengstenberg und die Politik

tes oder der Wille der Menschen“441. Dieser Kampf wütete nach Hengstenbergs Sicht auch in den Reihen der äußerlich Konservativen. Die Schnittmenge mit dem politischen Konservatismus ging demnach nur so weit, als sich seine Anschauung einer religiösen Wurzel verdankte. Je mehr sich das Konservative aus anderen Quellen speiste – aus legitimistischen Positionen, mißverstandenen Standesrechten oder theologisch zweifelhaften politischen Theorien –, desto mehr ging Hengstenberg auf Distanz; seine Koalitionsbereitschaft war nie vorbehaltlos, sondern blieb in der Regel auf seine Lieblingsthemen – das göttliche Recht der Obrigkeit und das christliche Fundament des Staates – begrenzt. 4.3.4.3  Geistliche in der Politik „Der Prediger soll nicht bloß den Katechismus treiben, er soll auch wie die Propheten des A.[lten] B.[undes] auf der Warte stehen und den Leuten die Zeichen der Zeit deuten, die Thaten des Herrn verständlich machen, die ohne solchen Commentar, der von dem von Gott selbst verordneten Lehramt ausgeht, nicht zu Herzen reden können.“442

Hengstenberg hat, das wurde bereits hinlänglich deutlich, die Geistlichen ermutigt, sich im Rahmen des von der Schrift Gebotenen, zu den grundlegenden Fragen der Zeit zu äußern.443 Dennoch grenzte er sich genauso bestimmt von „politisierenden“ Theologen ab. Diese zweite, bereits erwähnte Leitlinie für Hengstenbergs Haltung zur Politik soll nun auch noch an einigen Beispielen konkretisiert werden. Bereits in den Märztagen 1848 hatte Hengstenberg die Pfarrer einerseits dazu aufgefordert, die sittlich-religiöse Wurzeln der gegenwärtigen Kämpfe zu benennen und sich so in die Auseinandersetzung einzumischen, andererseits warnte er sie davor, sich in die Parteileidenschaften verwickeln zu lassen: „Der Diener der Kirche soll sich nicht dadurch als solcher kund geben, daß er sich mit diesen Sachen überhaupt nicht befaßt, sondern durch den Geist, in dem er es thut, dadurch, daß er stets über den Sachen steht, sich nicht in ein leidenschaftliches Parteigetreibe verwickeln läßt, an keinen Umtrieben theilnimmt [...]“444.

Was er damit meinte, ergab sich schließlich aus seinem Rückblick auf das Jahr 1850, in dem er die Geistlichkeit von Schleswig-Holstein dafür kritisierte, genau diesen Grundsatz nicht beachtet zu haben; wenig später nahm er ausführlich Stellung zu diesem Vorwurf.445 Der Anlaß für die Kritik waren die poli441   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 74 (1864), Sp.  65; vgl. zu Stahls Parteienbegriff Graf, Politisierung, 21–23. 442   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  3. 443   Eine Regel gibt Hengstenberg im Vorwort, EKZ 74 (1864), Sp.  4: Der Beruf des Christen und speziell des Amtsträgers sei es, „einzutreten für Alles, was in dem Bereiche der zehn Gebote liegt“. 444   Hengstenberg, Zeitbetrachtungen, 2. Artikel, EKZ 42 (1848), Sp.  277. 445   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  7 f.; Ders., Schleswig-Holstein und die

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tischen Auseinandersetzungen zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden muß.446 Nur soviel: Die Herzogtümer Schleswig und Holstein waren in Personalunion mit der dänischen Krone verbunden.447 König Christian VIII. versuchte nun, bedrängt von nationalistischen Ideen im eigenen Land, Schleswig, das nicht zum Deutschen Bund gehörte, dem dänischen Staat einzugliedern, worauf es schließlich zu militärischen Auseinandersetzungen kam, in die unter anderem Preußen verwickelt war. Ziel Christians VIII. war, die dänische Vorherrschaft auch für den Fall zu sichern, daß nach seinem Tode die komplizierten Erbfolgeregelungen zuungunsten Dänemarks ausfallen würden. Doch überkreuzten und verbanden sich mit den dynastischen Problemen die nationalistischen Auf brüche auf beiden Seiten.448 So machte sich auf deutscher Seite das Paulskirchenparlament die Sache zu eigen. Der Widerstand der Schleswig-Holsteiner gegen die Dänen wurde damit zum Symbol nationaler Freiheit im Zeichen der Revolution. Die Geistlichen Schleswig-Holsteins hatten sich in dieser Auseinandersetzung einmütig und quer durch die theologischen Lager gegen die dänischen Ansprüche gestellt.449 Besonders aktiv in dieser Hinsicht war Hengstenbergs einstiger Schüler Michael Baumgarten, der schließlich, nach dem Sieg der Dänen, zur Flucht gezwungen war.450 Hengstenberg stellte sich nun ganz energisch gegen die schleswig-holsteinischen Geistlichen mit der Begründung, es gebe für den Geistlichen nur dann eine Verpflichtung, sich auf das politische Gebiet zu werfen, wenn es sich um Grundsatzfragen handle, bei denen der Zusammenhang mit der christlichen Anschauung klar zu Tage liege.451 Dies sei aber bei den Erbstreitigkeiten um die Herzogtümer in Schleswig und Holstein, bei denen es um komplizierte Legitimitätsfragen gehe, gerade nicht der Fall. Heng­ stenberg prüft ausführlich die politischen, sittlichen und geistlichen Gründe, die politische Stellung seiner Geistlichkeit (2 Artikel), EKZ 46 (1850), Sp.  233–247.417– 422.425–430.433–440, Nr.  24 f.44–46. – Der Aufsatz erschien später als Separatdruck, sowohl deutsch (Ders., Auflehnung) als auch dänisch (Ders., Opsaetsighed), in Kopenhagen – ein weiterer Beleg für die Politisierung theologischer Stellungnahmen. Allerdings war man auch auf dänischer Seite nicht ganz zufrieden mit Hengstenbergs Ansicht: er habe „in historischer Rücksicht zum Theil sich damit begnügt, denjenigen unrichtigen Ansichten, welche von der Partei der schleswig-holsteinischen Separatisten mit so viel Glück verbreitet worden, sich anzuschließen“ (Ders., Auflehnung, Vorwort). Darum wird der Aufsatz mit korrigierenden Anmerkungen versehen. 446   Vgl. dazu z. B. Botzenhart, 1848/49, 106–111; Clark, Preußen, 562–564; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 624–626; Göbell, Erhebung. 447   Göbell, Erhebung, 88 f. weist zu Recht darauf hin, daß die Beziehungen de facto enger waren als es eine äußerliche Personalunion suggeriert. 448   Vgl. Clark, Preußen, 599. 449   Vgl. Göbell, Erhebung, 88–95; selbst der alte Claus Harms stellte sich schließlich in die Front. 450   Darauf kam es zu seiner Anstellung in Rostock mit den fatalen Folgen, vgl. oben 2.5.2. 451   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  9.

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4  Hengstenberg und die Politik

zur Rechtfertigung der Beteiligung an der Erhebung ins Feld geführt wurden, kommt aber zu dem Schluß, daß sie keine feste Basis für das politische Engagement und schon gar nicht für die Beteiligung an einer Erhebung böten. Die Geistlichen wären vielmehr verpflichtet gewesen, der historisch gegebenen Obrigkeit, in diesem Fall dem Dänenkönig als Herzog von Schleswig, Gehorsam zu leisten.452 Doch damit nicht genug. Hengstenberg wirft den Geistlichen darüber hinaus vor, daß sie mit ihrem politischen Engagement ihr Amt beschädigt hätten. Die Besonderheit des geistlichen Amtes liege nämlich darin, daß der Amtsträger den Geist, den er mit allen anderen Gläubigen teile, ex professo und standesgemäß zur Darstellung bringe. Zwar sei es natürlich, daß er in allen Bereichen des Lebens zu Hause sei, doch solle er „öffentlich und im Amtscharakter nie anders auftreten denn als das, was über seine Natur geht, und worin er mehr als Dilettant ist, nämlich als Christi Diener und Haushalter über seine Geheimnisse“453. Der Geistliche habe im Heiligtum zu stehen und „von dort aus alle Dinge anzusehen und zu beurtheilen.“ Das sei sein Privileg, aber vor allem auch „seine unerläßliche und selbstverläugnungsvolle Aufgabe“ (Sp.  421) und unterscheide ihn von anderen Christen, die im Dienst der Wissenschaft oder des Vaterlandes stünden. Die Distanz des Geistlichen zu den übrigen Christen bringe aber zugleich eine Distanz zu allen menschlichen Bindungen mit sich. So könne auch die „vaterländische Pflicht“ den Geistlichen „nur in sehr vermitteltem Sinne als Pflicht“ zugeschrieben werden (Sp.  421).454 Keinesfalls dürfe er – auch nicht „um des Vaterlands willen“ – „den Posten verlasse[n], auf dem er ihm [sc. dem Vaterland] am besten dient und den zurückzustellen, aufzugeben auch nur eine Weile, der größte Verrath an seinem irdischen und himmlischen Vaterland wäre“ (Sp.  421). Ja, im Dienst für seinen Herrn müsse der Geistliche sogar oft „als Feind des Vaterlandes“ erscheinen.455 Hengstenberg ging also von einem betont geistlichen Profil der Amtsträger aus: Sie verkörpern in ihrem öffentlichen Reden und Handeln den Geist Chri­ sti. Mischt sich der Geistliche nun aber, wie in Schleswig-Holstein geschehen, in rein politische Händel, dann läuft er Gefahr, menschliche Standpunkte „geistlich“ aufzuladen und mit einer „politischen Dogmatik“ für angeblich „heilige Rechte“ einzutreten (Sp.  428). Darum warnte Hengstenberg: „Wer politische Haltung beweisen will, ohne die geistliche dabei völlig behaupten zu können, dem wird sie zu einem Strick.“ (Sp.  428). Es sei widerwärtig, „wenn 452   Hengstenberg, Schleswig-Holstein, 1. Artikel, EKZ 46 (1850), Sp.  233–247, Nr.  24 f. 453   Hengstenberg, Schleswig-Holstein, 2. Artikel, EKZ 46 (1850), Sp.  425 – hierauf beziehen sich die folgenden Angaben im Fließtext. 454   Deutlich klingt darin eine Kritik an der absolutistisch-territorialistischen Vereinnahmung des kirchlichen Amtes an. 455   Ebd., Sp.  425: Der Geistliche müsse „oft als Feind des Vaterlandes und noch öfter mit dem Scheine der Nichtachtung für seine Interessen für seinen Herrn Eroberungen an demselben“ machen.

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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man mit dem Ansehen pastoralen Pflichtgefühls politische Verhaltensmaßregeln oktroyiren sieht“ (Sp.  434). Zwar müsse der Geistliche auf Gewissensfragen Antwort geben, aber der Seelsorger „wird sich bescheiden müssen, nur so weit fragenden Gewissen zu Hülfe zu kommen, als er an der Hand des Wortes Gottes, welches allein ihm Fundort der Geistessprüche ist, es vermag“ (Sp.  434). Er dürfe keine „politische Seelsorge“ treiben.456 Damit schadeten die Geist­ lichen nicht nur dem Staat, sondern auch und vor allem der Kirche: „Wenn die Geistlichen auf hören geistlich zu seyn, die Seelen mehr auf ein Landrecht als auf das unverrückbare Gottesrecht gewisen, die Tempel wie Sitze politischer Parteiversammlungen behandelt werden, so braucht man nach keiner weiteren Ursache zu fragen, warum das Volk keine Kirche mehr kennen und suchen will.“ (Sp.  439).

Die Auseinandersetzung mit der schleswig-holsteinischen Geistlichkeit kann als paradigmatisch für Hengstenbergs Haltung gelten: 457 Die Geistlichen erweisen demnach weder dem Staat noch der Kirche einen Dienst damit, daß sie zu Fragen Stellung nehmen, für die sie keine besondere Kompetenz und Ermächtigung besitzen. Ihre Verantwortung ist vielmehr, das Schwert des Geistes zu führen. Gerade damit aber nehmen sie ihre staatliche und politsche Verantwortung in eigenständiger und kritischer Weise wahr. Hengstenberg hatte mit diesen Worten Stellung bezogen, lange bevor ein deutscher Kaiser mit dem berühmten Diktum „Politische Pastoren sind ein Unding“458 auftrat. Was sich ähnlich anhört, ist allerdings nicht dasselbe. Wilhelm II. ging es wie seinem Großvater Wilhelm I. um völlige politische Abstinenz der Geistlichen. Die Grenze des Politischen wurde also nicht – wie bei Hengstenberg – theologisch bestimmt, sondern aus politischen Erwägungen. Eine solche Entpolitisierung des geistlichen Amtes und der Theologie überhaupt verstand Hengstenberg aber als Eingriff in das Selbstdefinitionsrecht der Theologie und lehnte sie daher als illegitimen Übergriff der Politik ab, wie sich oben im Zusammenhang des Presseprozesses gegen Hengstenberg von 1861 gezeigt hat. Daß sich Hengstenbergs Position nicht zur Vereinnahmung von staatlicher Seite eignete, wurde auch deutlich an seiner Stellung zu den Wahlerlassen des Oberkirchenrats Anfang der 60er Jahre, worauf abschließend einzugehen ist. Die Neue Ära und der seit 1861 sich zum Verfassungskonflikt entwickelnde Streit um die Heeresreform hatte der Politisierung der Öffentlichkeit einen 456   Ironisch fragt Hengstenberg, ebd., Sp.  436: „Meinte man wirklich, sie [sc. die Gläubigen] sollten sich stärken auf der Weide des Schleswig-Holsteinschen Rechtsgrundes, auf die man sie so fleißig führte; oder hoffte man sie zu schärfen an den Revolutionsgeschichten des A.T., auf deren Auswahl einige so viel Sorgfalt verwendet haben?“ 457   Ganz abgesehen davon, ob er die Verhältnisse in Schleswig-Holstein richtig eingeschätzt hatte; vgl. zu den typischen Argumentationsmustern in der Diskussion und dem Ringen um die angemessene theologische Sicht, die auch den Stuttgarter Kirchentag 1850 beschäftigte, Göbell, Erhebung, 95–104. 458   Nach Nowak, Geschichte, 140.

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neuen Schub gegeben, weswegen sich der Evangelische Oberkirchenrat im Vorfeld der Landtagswahlen von 1862 genötigt sah, erstmals mit einem Wahl­erlaß an die Geistlichen heranzutreten.459 Dieser lag nicht einfach auf der Linie Wilhelms I., er sah durchaus Spielraum für politische Betätigung vor, z. B. in der Unterstützung gottesfürchtiger Politiker,460 allerdings wurde den Pfarrern die Anwendung ihrer „für die ewigen Angelegenheiten der Gemeindegenossen“ übertragene Amtsgewalt „für politische Zwecke“ verboten.461 Hengstenberg war diese restriktive Bestimmung des geistlichen Amtes zu ungenau, denn soweit das rechte Verhalten gegenüber der Obrigkeit von der Schrift geboten sei, gehöre es auch zu den „ewigen Angelegenheiten“. Der Oberkirchenrat habe dem Mißverständnis nicht ausreichend gewehrt, daß seine Warnung „statt gegen eine unrechte Art und Weise der politischen Betheiligung der Geistlichen gegen diese selbst gerichtet wäre“462 . Durch die Initiative des Oberkirchenrates war die Diskussion um die po­ litische Haltung der Geistlichen erst richtig in Schwung gekommen.463 Am 15. Jan. 1863 erging ein neuer Runderlaß, der sich eng an ein von Dorner verfaßtes Gutachten anschloß.464 Und es äußerten sich immer mehr Stimmen, die hinsicht­lich der „Stellung des Christen zur Politik“465 große Zurückhaltung empfahlen. Wie sich Hengstenberg 1850 den „politisierenden“ Geistlichen in Schleswig-Holstein entgegengestellt hatte, wandte er sich gut zehn Jahre später nun ebenso entschieden gegen die Entpolitisierung des Evangeliums. Daran wird besonders deutlich, daß sich seine Position weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen ließ.466 Es seien sich doch alle völlig einig, schreibt er 1864, „daß es ein politisches Gebiet gibt, auf dem der Christ, der 459

  Zirkularerlaß des Evangelischen Oberkirchenrats an die Konsistorien vom 2. April 1862, in Auszügen bei Nowak, Geschichte, 138 mit Anm.  14; vgl. auch Ders., Politische Pastoren, 150. 460   Vgl. Nowak, Geschichte, 138 – ob man von einer „völlig entgegengesetzt[en] Position“ (ebd.) des Königs sprechen kann, ist aber fraglich. 461   Zitiert nach Hengstenberg Vorwort, EKZ 72 (1863), Sp.  49. 462   Ebd.; Nowak, Politische Pastoren, 150 nennt den Erlaß vom 2. April „ein vorläufiges und nach allen Seiten unfertiges Votum“. 463   Die Diskussion wurde zudem durch die Auseinandersetzung um eine Predigt des Hofpredigers und entfernten Vetters von Hengstenberg, Wilhelm von Hengstenberg, zur Eröffnung des Landtages befördert; der König hatte ihren Druck mit der Begründung verboten, es handle sich um eine politische Rede (vgl. Nowak, Politische Pastoren, 151). 464   Text bei Nowak, Politische Pastoren, 164–168. 465   So der Titel der Schrift von Fabri (Barmen 1863); vgl. zudem Harless, Christenthum und Politik (1862); dazu Nowak, Politische Pastoren, 153. 466   Insofern ist Hengstenberg von der Haltung des EOK in seinem Erlaß von 1863 gar nicht so weit entfernt; falsch ist es, wenn Nowak Hengstenberg in Zusammenhang mit der den König unterstützenden Adresse der Pastoralkonferenz von 1865, deren Hauptinitiator G. Knak war, bringt (Nowak, Politische Pastoren, 155); Hengstenberg kritisierte die Adresse öffentlich (Vorwort, EKZ 78 [1866], Sp.  40 f.) und hatte Knak bereits im Vorfeld davon abgeraten, vgl. Knak an Hengstenberg, Berlin 26. Jan. 1866: Bonwetsch 1, 163: „Sie riethen zu meiner Betrübniß von dem ganzen Vorhaben ab, weil Sie der Ansicht waren, man müsse

4.3  Politisierung wider Willen: Die Evangelische Kirchenzeitung und die Politik

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Diener der Kirche als solcher nicht competent ist und vom dem er daher wohltut wegzubleiben.“ Dazu zählten „verwickelte Rechtsfragen, die nur von solchen gelöst werden können, deren eigentlicher Lebensberuf es ist sich eingehend mit solchen Fragen zu beschäftigen, für die das Wort Gottes keine Entscheidung, wenigstens keine offen zu Tage liegende und sich den Gewissen Aller bezeugende darbietet, die keine tiefere ethische und religiöse Wurzel haben“467.

Auf der anderen Seite gebe es aber staatliche Fragen, „die eine tiefe sittliche und religiöse Bedeutung haben, an denen sich zu beteiligen also für den Christen nicht bloß Recht, sondern heilige Pflicht ist.“ (Sp.  61) Dazu gehöre beispielsweise alles, „was in dem Bereiche der zehn Gebote liegt“ (Sp.  61).468 Solche Fragen gehörten „vor das Forum der Kirche“, und daraus ergebe sich „die Pflicht die schwebenden politischen Fragen sorgsam zu prüfen um zu erkennen, ob sie nicht einen religiösen Hintergrund haben.“ (Sp.  64) Hengstenberg bot also, was die Stellung der Geistlichen zur Politik angeht, keine feste Formel, sondern mahnte zur Prüfung der einzelnen Sachfragen. Nur von der Sache her lasse sich entscheiden, was vor das Forum der Kirche gehöre und was nicht. Die Entscheidung darüber könne aber nur der Theologe selbst und keine externe Instanz treffen.469 Dieses Prä der Theologie, das die Haltung des Geistlichen bestimmen müsse, machte Hengstenberg auch in seinen letzten Äußerungen zur Sache stark: 1866 kritisierte er nicht nur seinen Erlanger Kollegen von Hofmann wegen seines Eintritts in die Bayerische Fortschrittspartei,470 sondern auch das Engagement verschiedener Erlanger Professoren im Schlewig-Holsteinschen Verein.471 Dabei wird wiederum nicht das politische Mandat des Theologen an sich kritisiert, doch wird hervorgehoben, daß der Theologe Theologe bleiben und als Theologe, also unter Auf bietung seiner ureigensten theologischen Kompetenz, politisch wirke müsse und nicht, indem er sich in rechtliche Sachfragen wie die nach den An­sprüchen des Erbprinzen von Augustenburg einmische. Das führe nämlich zu einer Sakralisierung politischer Optionen, wofür die Behauptung der Erlanger: „Die nationalen Güter dürfen

als Geistlicher auch den Schein einer jeden Einmischung in politische Dinge vermeiden.“ Darauf ließ sich Knak von Büchsel beraten. 467   Hengstenberg Vorwort, EKZ 74 (1864), Sp.  60 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Angaben im Fließtext. 468   Ebd., Sp.  61–64 bietet Hengstenberg Schriftbelege, die das Recht einer solchen Art von politischer Äußerungen belegen sollen. 469   Dementsprechend ist die Meinungsverschiedenheit in dieser Frage, wie im Fall Schleswig-Holstein, eine theologische und keine politische; vgl. dazu auch oben (bei Anm.  2 06) die Argumentation Hengstenbergs im Presseprozeß 1861. 470   Vgl. Behr, Hofmann, 232–242. 471   Vgl. ebd., 244–248; Blessing, Gottesdienst, 234–236; Wischmeyer, Theologiae Facultas, 271.

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und sollen auch dem Christen nach dem vierten Gebot heilig sein.“472 ein abschreckendes Beispiel gebe. Hengstenberg blieb also auch in den politisch erregten Jahren vor der Reichsgründung im wesentlichen seiner Position aus den früheren Jahren treu. Er schrieb den Theologen von Profession das ins Stammbuch, was er auch für seine eigenen politischen Äußerungen wie überhaupt für seine ganze Arbeit fortwährend in Anspruch genommen hatte: Sie sollten sich auf einen einseitig theologischen Standpunkt stellen, denn „Einseitigkeit“ sei „die Grundlage jeder kräftigen und soliden Wirksamkeit. Wer sich selbst und die Sache, der er dient, herunterbringen will, der mische sich in Alles.“473

4.3.5  Zusammenfassung Die hier vorgetragene Analyse der Art und Weise, wie Hengstenberg sich selbst und seine Kirchenzeitung ins Verhältnis zur Politik setzte, wirft ein neues Licht auf die Frage nach der Politisierung der EKZ: Es hat sich gezeigt, daß die EKZ in der politisch aufgeladenen Atmosphäre des Vormärz und der Revolution gleichsam zwangsläufig in den Strudel der Politisierung geriet, weil sie sich – wie es ihr Anspruch war – weiterhin zu allen aktuellen Fragen, die den Chri­ sten betrafen, äußern wollte. Doch es war eine Politisierung wider Willen. Hengstenberg wollte die EKZ zu keinem Zeitpunkt zum Organ einer politischen Partei machen. Allerdings wehrte er sich gegen die Monopolisierung einer ‚rein politischen‘ Deutung der anstehenden Fragen, die religiöse Argumente als sachfremd oder opportunistisch abtat. Hengstenberg hatte sich damit auseinanderzusetzen, daß die öffentliche Meinung im 19. Jahrhundert in immer stärkerem Maße in politisches Licht geriet. Scharfsinnig beobachtete Kahnis in seiner Geschichte des Protestantismus: „Seit dem Jahre 1848 hat in Deutschland das politische Interesse die Herrschaft über alle anderen“.474 Dem konnte sich auch die EKZ nicht entziehen. Zumal Hengstenberg keineswegs bereit war, dem Trend nachgebend politisch heikle Themen aufzugeben. Er sah in dem Argument, die Theologie dürfe nichts behandeln, was politisch aufgefaßt werden könnte, eine unzulässige Beschneidung der Freiheit der Theologie. Wie wenig die EKZ geeignet war, ein politisches Blatt im eigentlichen Sinne zu sein, zeigt das Verhalten Ernst Ludwig von Gerlachs. Der nutzte Hengstenbergs Blatt zwar für grundsätzliche Fragen christlicher Sozialethik, für die Diskussion dezidiert polisch-rechtlicher Probleme suchte er aber immer andere Organe und gründete schließlich mit der Kreuzzeitung sein eigenes Medium. Die Gründung der Kreuzzeitung befreite denn auch Hengstenbergs Kirchen472

  Hengstenberg, Vorwort, EKZ 78 (1866), Sp.  39.   Hengstenberg Vorwort, EKZ 74 (1864), Sp.  40. 474   Kahnis, Protestantismus, 292; vgl. dazu auch Mehlhausen, Politik, 20–25. 473

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zeitung von der Gefahr politischer Vereinnahmung. Denn obwohl der Herausgeber stets Wert darauf legte, daß politische Themen nur theologisch behandelt werden dürften, konnte er seine Linie nicht immer gegenüber den Interessen der Autoren durchsetzen, solange sie keine anderen Publikationsmöglichkeiten hatten.475 Es ist also richtig, von einer Politisierung der EKZ zu reden, jedoch nur in dem hier vertretenen wertneutralen Sinne. Bezogen auf den wertenden Begriff, der vielfach auf die EKZ angewandt wird und Hengstenberg eine Funktionalisierung der Theologie im Dienst der Politik unterstellt,476 könnte man mit gleichem Recht das Gegenteil, nämlich die – freilich zugespitzte – These von einer Entpolitisierung der EKZ vertreten. In Zeiten, in denen das Politische alle anderen Dimensionen geistigen Lebens zu verdrängen drohte, trat Hengstenberg für die freie theologische Meinungsäußerung ein und ließ sich nicht durch die Gefahr beirren, zu einer politischen Gestalt gestempelt zu werden.477 Zudem wehrte er sich gegen die Vereinnahmung der EKZ durch solche politischen Kräfte, welche ihre religiösen Grundlagen nicht teilten. Es ist also die Politik, die sich der Theologie unterordnen und eine theologische Behandlung gefallen lassen muß. Die theologische Wahrnehmung des Politischen ist dabei – das soll abschließend noch einmal betont werden – von einer ganz spezifischen, an der reformatorischen Theologie geschulten Sicht bestimmt. Sowohl Hengstenberg als auch Gerlach und Stahl betrachteten den status politicus als göttliche Ordnung, der göttlichen Bestimmungen unterliegt und insofern religiös bestimmt ist. Es kann nicht genug betont werden, daß die theologischen Köpfe der EKZ keine Form der „Zwei-Reiche-Lehre“ vertraten, derzufolge die strikte Trennung von Geistlichem und Weltlichem der Grundsatz Luthers und des Luthertums gewesen sein soll. Hengstenberg bezeichnete die These von einer von Christus unabhängigen weltlichen Macht, wie sie sich zu seiner Zeit in erwecklich-„pieti­ stischen“ Kreisen verbreitete, geradezu als moderne Erfindung; 478 die im 20. Jahrhundert entstandenen Theorien zu den „zwei Reichen“ lagen ihm selbstverständlich völlig fern. Er und seine Mitstreiter standen hingegen ganz in der 475   Das Problem zeigte sich bereits in der Zeit nach der Julirevolution. So bemerkt Hengstenberg zu einem Aufsatz Sartorius’ über das göttlichen Recht der Herrscher nach protestantischen Grundsätzen, daß die Ausführungen bisweilen weiter auf juristisches Gebiet vordrängen, als es sich für eine kirchliche Zeitschrift gezieme, gleichwohl enthalte der Aufsatz auch die biblischen Grundlehren, die er den Lesern nicht vorenthalten wolle (EKZ 8 [1831], Sp.  137 f., Anm.). 476   Siehe oben 4.3.1. 477   Es ist kennzeichnend, daß ihn gerade der politische Kopf Gerlach auf diese Gefahr aufmerksam machen mußte und Hengstenberg Anfang der 40er Jahre wissen ließ: „Auch ihre Freunde trauen ihnen mehr Ab­sicht­lichkeit u[nd] Politik zu, als sie haben“ (E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, s.l. s.a.: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., undatierte Briefe; Kursives im Original doppelt unterstrichen.). 478   Vgl. dazu auch Graf, Kulturluthertum, 51 f.

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Tradition der lutherischen Drei-Stände-Lehre, die das Handeln Gottes in allen Sphären menschlichen Daseins unterstreicht und nur die Art und Weise des Handelns Gottes in den verschiedenen Sphären unterscheidet.479 Damit war jede Isolierung eines von der Weisung Gottes nicht betroffenen, absolut autonomen weltlichen Bereiches im Keim erstickt, ja, gerade die Postulierung eines solchen Bereiches war für Hengstenberg bereits Kennzeichen der neuen „gottlosen“ Zeit. „Gott schwebt nicht über den irdischen Verhältnissen“, betonte Hengstenberg immer wieder, „er ist vielmehr ihrer aller lebendiger Grund“480. Die relative Eigengesetzlichkeit der politischen Sphäre wird dadurch nicht bestritten: Auch die von Gott gegebenen Institutionen müssen auf vernünftige Weise von Menschen gestaltet werden. Komplizierte politische und rechtliche Fragen können nur mit politischem Spezialwissen gelöst werden, und deren Verhältnis zu religiösen oder überhaupt weltanschaulichen Positionen entzieht sich in vielen Fällen dem einfachen Blick. Hier öffnet sich ein eigenes Feld des Politischen mit einer eigenen Rationalität. Aufs ganze gesehen wird die relative Autonomie des Politischen von Hengstenberg jedoch nicht sehr betont. Die Frontstellung gegen rationalistische Staatslehren und Vertragskonzeptionen à la Rousseau, welche den Gedanken der göttlichen Institution durch menschliche Konstruktion ersetzten, und die Furcht vor der Selbstüberschätzung des Menschen, die Hengstenbergs ganzes Werk prägt, drängte sie deutlich in den Hintergrund.

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß 4.4.1  Die Durchsetzung des Parteibegriffs Im Frühjahr 1846 veröffentlichte Ernst Ludwig von Gerlach in der EKZ eine Artikelserie mit dem Titel ‚Die Partei der Evangelischen Kirchen-Zeitung‘481. Man hat sie als „ersten Versuch einer konservativen Theorie der Partei“482 bezeichnet, sie bietet aber auch und vor allem die erste theoretischen Erwägungen über den 479   Gerlachs lutherische Sicht zeigt sich z. B. in seinem Aufsatz ‚Die Evangelische Kirche und die Revolution‘, EKZ 42 (1848), Sp.  278–283, Nr.  31; vgl. zu Stahls Lutherrezeption, die noch unzureichend untersucht ist, die wenigen Bemerkungen bei Rieske-Braun, ZweiBereiche-Lehre, 82–87, und zur Sozialethik der von Stahl ausgehenden Richtung Graf, Kulturluthertum, bes. 51–55. Was Stahls theologische Einflüsse angeht, müßte vor allem sein Verhältnis zur lutherischen Orthodoxie genauer in den Blick genommen und Hengstenbergs Bemerkung in einer Anzeige von J. Gerhards Loci nachgegangen werden: „Der selige Stahl verdankte, wie er gern bekante, Chemnitz und Gerhard einen großen Theil seiner Theologie.“ (EKZ 73 [1863], Sp.  1025 f.). 480   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 44 (1849), Sp.  14. 481   E.L. v. Gerlach, Die Partei der Evangelischen Kirchen-Zeitung (Von einem Laien) [Drei Artikel], EKZ 18 (1846), Sp.  129–134.137–139.161–175.257–262.265–274, Nr.  15 f.18 f.30–32. 482   Kraus, Gerlach, 372; allerdings sind auch V.A. Hubers Versuche vom Anfang der 40er

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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Charakter und die Konstitutionsbedingungen kirchlicher Parteien. In innovativer Weise wird der Parteibegriff positiv gewendet und die darin ausgedrückte Positionalität als Faktum innerhalb der Kirche der Moderne anerkannt. Damit durchschlägt Gerlach den gordischen Knoten der Begriffsverwirrung, die sich hinsichtlich des Parteibegriffs in der Kirche und nicht zuletzt auch in den Kreisen der EKZ breit gemacht hatte. Hengstenberg war an dieser Begriffsverwirrung nicht ganz unschuldig. Der von ihm formulierte Programmentwurf für die EKZ zeigte das Dilemma, in dem die durch die EKZ repräsentierte Gruppe stand, in aller Deutlichkeit: Auf der einen Seite verstand man die EKZ als Reaktion darauf, daß bisher „die Gegner des Evangelii fast in dem ausschließlichen Besitze der gelesensten Zeitschriften gewesen“483 seien; sie sollte daher das Organ sein, „welches in streng gehaltener Einheit die Evangelische Wahrheiten, wie sie in der heiligen Schrift enthalten, und aus ihr in den Bekenntnißschriften unserer Kirche abgeleitet sind“484, gegen die entgegenstehenden Meinungen ins Licht setze. Die EKZ war also von Anfang an ein positionelles Blatt.485 Auf der anderen Seite verwahrte man sich aber dagegen, als Partei verstanden zu werden: „Die Evangelische Kirchenzeitung soll keiner Parthei angehören; sie will der Evangelischen Kirche als solcher dienen.“486 Hengstenberg vertrat nämlich die Auffassung, daß nicht die wahre Kirche, als deren Vertreter man sich sah, sondern nur deren Gegner als Partei bezeichnet werden dürften.487 Dahinter stand, daß der Parteibegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einen beinahe ausschließlich negativen Beiklang hatte.488 Unter den Theologen brachte besonders häufig August Neander in polemischer Absicht den negativen Ton des Parteibegriffs zum Klingen und verurteilte leidenschaftlich alles Parteiwesen in der Kirche.489 Jahre zu berücksichtigen (vgl. oben Anm.  287), wenngleich sie nicht auf den Parteibegriff als solchen abzielen. 483   So die erste Fassung des Programms: Bachmann 2, Anhang, 9, der Passus wurde auf Veranlassung Altensteins in der endgültigen Fassung gestrichen, in der an die Mitarbeiter verschickten Anzeige blieb er aber sinngemäß erhalten: „Bedenkt man, wie die dem Evangelio mehr oder weniger entgegenstehenden Parteien fast alle ein Organ haben“ (Ebd., 7). 484   Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 15 f. 485   Insofern ist die Aussage, die EKZ sei von Anfang an als Parteiblatt konzpiert gewesen (so Graf, Modernisierung, 100; auch schon Hase, Kirchengeschichte, 400) zutreffend. 486   Anzeige und Plan einer Evangelischen Kirchen-Zeitung: Bachmann 2, Anhang, 16; ebs. Hengstenberg, Vorwort, EKZ 1 (1827), Sp.  4. 487   Vgl. die Ausdrucksweise in der an die Mitarbeiter verschickten Anzeige (s.o. Anm.  483). 488   Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 378: „In der deutschen Tradition hatten Partei und Parteiwesen eigentlich einen negativen Klang; Parteien waren etwas Besonderes, verfolgten Eigen- und Sonderinteressen, nicht das Gesamtwohl“; Kraus, Gerlach, 375 f. In diesem negativen Sinne bezeichnete Altenstein einst Hengstenberg als Mitglied einer (adligen) Partei (s.o. bei Anm.  65). 489   Z.B. Neander, Geschichte 2/2, VII (Vorwort vom 20. Sept. 1829), vgl. oben 2.1.1.

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4  Hengstenberg und die Politik

Schleiermacher hingegen wollte auch in der Kirche Platz machen für die Parteien; 490 als Partei verstand er freilich nicht seinen eigenen Standpunkt, sondern nur denjenigen der Rationalisten und ihrer Gegner, u. a. der „Hengstenbergischen Partei“491. Hengstenberg akzeptierte also den herrschenden Parteibegriff, der sich in seiner Anwendung auf die Kirche stark dem Sektenbegriff annäherte,492 unreflektiert. Darin spiegelt sich unverkennbar die romantische Abscheu gegenüber allem Trennenden wider. Außerdem bestätigt die Auffassung, die wahre Kirche sei keine Partei, den bereits aufgewiesenen Befund, daß Hengstenberg zunächst einem eher spiritualisierenden Kirchenbegriff anhing, wie er beispielsweise auch von Neander vertreten wurde. Denn daß sich in der vorfindlichen Kirche die Vertreter der wahren Kirche allererst durchsetzen mußten, die wahre Kirche mithin die verborgene Kirche sei, wurde dabei immer stillschweigend vorausgesetzt. Es zeigte sich aber schon bald, daß Hengstenberg die Ablehnung des Parteibegriffs nicht würde durchhalten können. Schon 1830 gestand er zu, daß die EKZ in gewissem Sinne eine Partei repräsentierte. Doch seine Bestimmung der Partei machte die Sache nicht einfacher, denn nun versuchte er, die Zugehörigkeit zur Partei empirisch zu beschreiben. Man erkenne sie daran, „daß die, welche sich früher nie von Angesicht kannten, gleich in der ersten Stunde so mit einander vertraut sind, wie sonst nach jahrelanger Freundschaft, daß sie in ihren Urtheilen oft auf auffallende Weise übereinstimmen, daß auch die persönlich Unbekannten und durch weite Entfernungen Getrennten häufig die genaueste Kenntniß von den gegenseitigen Verhältnissen besitzen, und sich als Engverbundene betrachten, die sich gegenseitig vertreten, ohne daß darum der Eine des Anderen menschliche Schwachheiten ableugnete.“493

Partei bezeichnete nun also das Netzwerk der Erweckten, der – wie Hengstenberg schreibt – im Geist verbundenen Glieder am Leib Christi: „Je inniger der Zusammenhang mit dem Haupte, desto lebendiger wird auch in Jedem das Gefühl des Zusammenhanges mit den Gliedern. In diesem Sinne gestehen wir gerne, daß auch wir Parthei sind“494. Allerdings verwahrte sich Hengstenberg dagegen, daß die EKZ in dem Sinne parteilich sei, daß sie keine Kritik an der eigenen Richtung übe und in ihrer Darstellung historische Genauigkeit vermissen lasse.495 490

  Schleiermacher, An Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben: KGA I, 10, 358,6–9.   Schleiermacher an Twesten, 31. Aug. 1829: Heinrici, Twesten, 412. 492   Diesen Klang hatte der Parteibegriff auch, wenn er – wie in der zeitgenössischen Polemik üblich – auf die ‚pietistische‘ Partei angewandt wurde (z. B. bei Weidemann, Pietisten, 33 oder Märklin, Pietismus, XI). 493   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 6 (1830), Sp.  9. 494   Ebd., Sp.  3. Das sei auch die Erfahrung der ersten Christen gewesen: „In gewissem Sinne ist das Christenthum von seinem ersten Ursprunge an als Parthei aufgetreten.“ (ebd.). 495   Ebd. Sp.  4 f. 491

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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Die Verwendung des Begriffs „Partei“ für die empirisch wahrnehmbare Seite der un­sicht­baren Kirche und ohne Bezug zur äußeren verfaßten Kirche findet sich jedoch nur ver­übergehend bei Hengstenberg. Denn je mehr er sich von der einseitigen Betonung der verborgenen Kirche entfernte und die äußere sichtbare Kirche in den Blick nahm, desto mehr mußte auch die Lehre als das Verbindende in den Vordergrund treten; 496 so verwahrte sich Hengstenberg bald schon wieder dagegen, als Vertreter der wahren Lehre eine Partei zu repräsentieren: „Die Lehre, die wir vertheidigen, ist die der Evangelischen Kirche, die Gott sey Dank durch freie Zustimmung die unsrige geworden. [...] Warum sollen wir also einer einzelnen Partei und nicht einfach der Evangelischen Kirche angehören? Dies kann wohl nur von denen behauptet werden, welche die wirkliche Evangelische Kirche für eine Partei erklären, und an ihre Stelle eine selbstgemachte setzen, in der ihre Partei, die in der wirklichen Evangelischen Kirche kein Heimathsrecht hat, ein rechtliches Unterkommen finden kann. Man denke sich aus der Evangelischen Kirche diejenigen hinweg, die ihr Bekenntniß nicht mitbekennen, so wird man ferner gar keinen Grund finden von einer Partei zu reden, der wir angehören sollen. Denn die Lehre ist das Einzige, was allen Mitarbeitern der Ev. K. Z. gemeinsam ist, das Einzige, worin ihr Charakter gesucht werden kann, worin also auch ihr Parteicharakter begründet sein müßte; in allem Übrigen, in Individualität, Schule, Richtung, Ansichten, findet sich die größte Mannichfaltigkeit, deren sich der Herausgeber von Herzen freut.“497

Hengstenberg blieb also im Großen und Ganzen bei der Ablehnung des Parteibegriffes, indem er beanspruchte, mit der EKZ die wahre evangelische Kirche zu vertreten, für die die Parteibezeichnung ungeeignet sei. Dadurch daß Heng­ stenberg unter der ‚wahren‘ evangelischen Kirche zunehmend die sichtbare Kirche verstand, war er jedoch gezwungen, die Vetreter anderer Richtungen in einer Weise zu marginalisieren, die sich mit den realen Gegebenheiten nicht deckte. Dies mußte spätestens in den kirchlichen Auseinandersetzungen der 40er Jahre deutlich werden. Auf den Provinzialsynoden und schließlich auf der Generalsynode fanden sich die Konservativen nämlich tatsächlich auch nur als eine Partei unter anderen vor.498 Gerlach erkannte als erster, daß man mit der Abweisung des Parteibegriffs den Herausforderungen der Zeit nicht gerecht werden konnte.499 Als der König 496   Das Vorwort, EKZ 8 (1831), Sp.  5 –8 signalisiert die Abkehr von einem rein erwecklichen Kirchenverständnis; vgl. dazu oben 3.1.1. 497   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  667. 498   Vgl. nur Neuser, Landeskirchliche Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen, 349 f. 499   Schon 1830 hatte er die – wenn auch nur halbherzige – Anerkennung des Parteibegriffs in Hengstenbergs Vorwort gelobt, E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Halle 31. Jan. 1830: Nl Hengstenberg, Mappe Gerlach, Ludwig v., Bogen 30: „Vorzüglich habe ich mich der schönen Stelle des Vorworts gefreut, wo Sie sich zu der Parthey [zweimal unterstrichen], ‚zu der Seite der überall widersprochen wird‘ bekennen“ (Kursiviertes im Original unterstrichen).

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4  Hengstenberg und die Politik

1845 sich darüber gekränkt zeigte, daß in der gegen die EKZ gerichteten Eingabe des Magistrats die „kirchlich Gläubigen“ als Partei bezeichnet wurden,500 zeigte Gerlach kein Verständnis für das „‚beledigte‘ Ablehnen“501 der Parteibezeichnung durch den König. In seiner Artikelserie von 1846 ging Gerlach dann in die Offensive, indem er erklärte, „daß die Gläubigen heut zu Tage die Bezeichnung: ‚Partei‘ nicht von sich zu weisen haben, weil sie wirklich eine Partei sind.“502 Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen legte Gerlach einen neutralen Parteienbegriff zugrunde, wie er sich dem Juristen aufdrängte: Als Partei bezeichne man diejenigen, die vor einer übergeordneten – realen oder ideellen – Instanz um ihr Recht streiten. Entscheidend war nun aber, daß er darüber hinaus seinen Ausgangspunkt ganz pointiert von der realen, sichtbaren Kirche nahm. Diese betrachtend müßten die Gläubigen aber anerkennen, daß ihre Gegner einen bedeutenden Anteil an der Kirche hätten. Ja mehr noch, sie müßten zugestehen, daß sie selbst in der Kirche lange Zeit eine Minderheit waren: „Es ist wahr, daß viele berühmte, vornehme, gelehrte Männer, unzählige Geistliche, viele Superintendenten, Consistorialräthe u. s. w. die Licht­ freunds­re­ligion gehabt haben und noch haben, – wahr auch, daß sie im Preußischen Staate lange Zeit herrschend gewesen ist“ (Sp.  271 f.).503 Darum könne man – im Unterschied zum 16. Jahrhundert – die Gegner der wahren Lehre nicht einfach als Sekte abtun, sondern müsse sie als Partei anerkennen und sich mit ihnen in einen fairen Kampf um die Wahrheit begeben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen könne auch die Wahrheit nur als eine Position unter anderen auftreten: „Die Parteiuniform ist der Knechtsrock der Wahrheit.“ (Sp.  258). Gerlach findet also – und das ist ebenfalls neu! – nichts Anrüchiges an den Parteikämpfen. Er sieht in ihnen vielmehr ein Kennzeichen der Treue zu Christus. Denn in Christus zeige sich, wie die Wahrheit in Gestalt der Liebe Knechtsgestalt annehmen müsse: „Zu dieser Gestalt der Wahrheit gehört es, daß sie von ihren blendenden und zerschmetternden Blitzen und Donnern keinen Gebrauch macht, sondern ihren Gegnern als ihres Gleichen gegenüber tritt und mit ihnen rechtet“ (Sp.  257). Darum gelte für die Kirche, „daß die Partei eben die Gestalt der kämpfenden und werdenden Kirche ist“ (Sp.  273).

500   Bericht über die Gemeinde-Verwaltung, 26 (vgl. o. 2.2.3): „Das Allerschmerzlichste aber, was in der Adres­se enthalten ist, muß Ich zuletzt berühren. Es bezeichnet der Magistrat die kirchlich Gläubigen der evangelischen Kirche als eine Partei; das hat mir wehe gethan.“ Anschließend spielt er den Parteibegriff zurück, indem er ihn auf die Lichtfreunde anwendet. Daran zeigt sich die nach wie vor polemische Funktion der Verwendung des Parteibegriffs. 501   E.L. v. Gerlach, Aufzeichnungen 1, 432. 502   E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  129 – hierauf beziehen sich im Folgenden die Anmerkungen im Fließtext. 503   Auf der anderen Seite wird aber beansprucht, „daß die Reformatoren, die Apostel, die Propheten und der Herr selbst auf unserer Seite stehen“ (Sp.  272).

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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Für Gerlach ist demnach die Anerkennung des faktischen innerkirchlichen Pluralismus ein unabdingbarer Schritt auf dem Weg zu dessen Überwindung.504 Als Konsequenz folgte für ihn daraus, daß man den Gegnern ebenfalls ihre Position zugestehen müsse.505 Es sei nur konsequent, daß auch sie ins Kirchenregiment drängten, es sei ihnen zugestehen, daß sie die Partei der EKZ mit Begriffen wie ‚Finsterlinge‘ oder ‚Jesuiten‘ bezeichneten (Sp.  271). Darüber hinaus stellt Gerlach den vielfach bemühten Standpunkt der Überparteilichkeit, der vor allem von Kirchenbehörden erwartet würde, als den eigentlich unhaltbaren dar und wirft ihm Bequemlichkeit und Inkonsequenz vor. Von der Positionalität seien alle erfaßt – nicht zuletzt auch das Kirchenregiment. Das Kirchenregiment sei nämlich von Amts wegen dazu verpflichtet, dem kirchlichen Recht zur Geltung zu verhelfen. Sei das höchste Recht der Kirche aber umstritten, müsse das Kirchenregiment Stellung nehmen und werde damit selbst zur Partei. Der Versuch, nicht zwischen dem Recht der Parteien zu unterscheiden, verleugne das Wesen des Kirchenregiments, ja mehr noch: das Stehen über den Parteien sei „nichts Anderes, als der Widerwille des natürlichen Menschen gegen die Knechtsgestalt des Leibes Christi“ (Sp.  273). Gerlach lieferte mit seiner Artikelserie also ein sehr realitätsnahes Bild der kirchlichen Situation und forderte die Anhänger der EKZ zu einem unbefangenen, selbstbewußten Auftreten als Partei auf. Man müsse endlich lernen, – wie die Bekenner der Confessio Augustana im Jahr 1530 – „das liebliche Wort: ‚die Unseren‘ auszusprechen“ (Sp.  274) und gemeinsam aufzutreten. Damit aber ließ Gerlach den bisherigen Umgang mit dem Parteibegriff in kirchlichen Kreisen weit hinter sich und rief dazu auf, die Chancen auszuloten, die das ParteiSein im Ringen um die öffentliche Meinung bot. Mit der positiven Aufnahme des Parteibegriffs hatte Gerlach zudem beim Namen genannt, was Hengstenberg schon immer als „Amt“ der EKZ verstanden hatte, doch nie mit diesem Begriff bezeichnet haben wollte.506 Die Partei der EKZ war längst zum Vorbild einer Interessenvertretung geworden, das sowohl auf Gerlachs eigene politische Arbeit als auch auf die politische Parteibildung insgesamt anregend ausstrahlte.507 504

  Er sah somit klar die moderne Herausforderung, wie sie z. B. Buschmann, Krise, 175 benennt, empfand sie aber nicht als „Dilemma“ (ebd.). 505   E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  270: „Wir müssen ihnen vorläufig Raum lassen zu seyn, was sie sind, und zu handeln, wie es ihrer Natur gemäß ist, und, um dies zu können, müssen wir ihnen die Ehre und Liebe erweisen, uns ihren Charakter, ihre Stellung und was daraus folgt, zu vergegenwärtigen.“ 506   Vgl. dazu oben 3.6. – Im zweiten Artikel der Serie bietet Gerlach eine aufschlußreiche Darstellung des Charakters und der Geschichte der Partei der EKZ, E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  166–174. 507   Vgl. Christensen, Hengstenberg, 72, der die Partei der EKZ allerdings zu stark als politische Partei versteht; zum Verhältnis der kirchlichen und politischen Parteibildung generell Graf, Politisierung, 18–21.171.

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4  Hengstenberg und die Politik

Es spricht alles dafür, das Hengstenberg Gerlachs Schachzug und die implizite Kritik an seinem bisherigen Sprachgebrauch akzeptierte, denn nach 1846 sparte er sich die verzweifelten Versuche, den Parteibegriff zurückzuweisen.508 Man konnte es auch wirklich nicht bestreiten: Hengstenberg und seine Kirchen­ zeitung repräsentierten eine Partei. Aber aus welchen Personen setzte sich die Partei zusammen?

4.4.2  Die Zugehörigkeit zur „Partei Hengstenberg“ Als Gerlach 1846 mit seiner Charakterisierung der Partei der EKZ an die Öffentlichkeit trat, war es für ihn selbstverständlich, daß es sich bei ihr um eine rein kirchliche Partei handelte.509 Er hielt die EKZ ebensowenig für eine politische Partei wie Hengstenberg (vgl. oben 4.3); politisch sei sie nur insofern, als „sie das Christenthum als wesentliche Basis, als Seele unserer Staaten, und die Zerrüttung der Kirche als nothwendig verbunden mit der Zerrüttung des Staates, mithin allerdings diejenigen, welche, wie die Licht­freunde, die Kirche zu zerstören trachten, als politisch im höchsten Grade gefährlich [...]“ be­trachte und „für das Christenthum objektive Geltung in der Kirche und durch die Kirche im Staat“ erstrebe.510 Als Gerlach schließlich daran ging, die politisch konservativen Kreise zu sammeln, zunächst un­mittelbar nach der Revolution und schließlich nach dem Beginn der parlamentarischen Arbeit, war Hengstenberg folgerichtig nicht beteiligt.511 Hengstenberg hätte, wie sich gezeigt hat, daran auch kein Interesse gehabt. Bei der „Partei Hengstenberg“ 512 handelte es sich 508

  Gerlach selbst verwendet den Parteibergriff für die EKZ fortan ganz offen und unbefangen (vgl. z. B. Gerlach, Blick in die Zeit, EKZ 42 [1848], Sp.  316). Bereits im Vorwort 40 (1847), Sp.  28 gebraucht Hengstenberg selbst die Wendung „Partei der Ev. K. Z.“, wenn auch in Anführungszeichen; 1861 akzeptiert er unkommentiert, daß die eigene Richtung als „conservativ-kirchliche Partei“ bezeichnet wird, Ders., Raumer, EKZ 68 (1861), Sp.  514. 509   Gerlach charakterisiert die Partei mit Hilfe ihrer Geschichte und unter Aufnahme der Fortschrittssemantik der Liberalen: Sie sei eine „Partei des Fortschritts, des Fortschrittes nämlich vom Pietismus zum evangelischen Kirchenthume“ (E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 [1846], Sp.  167); darin zeige sich auch das verbindende Anliegen, ihre Sache: „Unsere Sache, unser Beruf ist [...] der Fortschritt zum evangelischen Kirchenthume. Die Kleinodien, die Heilig­ thümer der Evangelischen Kirche sind also unser Panier, um das wir uns schaaren müssen. Das Bekenntnis zu denselben ist die Losung, an der wir uns zu erkennen, durch die wir der Welt uns kenntlich zu machen haben. Sonach ist die Treue in diesem Bekenntnisse unsere erste Parteipflicht.“ (ebd., Sp.  258) 510   Ebd., Sp.  173. 511   Vgl. Kraus, Gerlach, 411–414.489 f. und oben bei Anm.  364. 512   Es spielt – wie im weiteren Verlauf der Darstellung deutlich werden wird – keine Rolle, ob man von der „Partei Hengstenberg“ spricht, wie in der Literatur häufig üblich (vgl. z. B. Huber, Verfassungsgeschichte, 277), oder von der „Partei der EKZ“, wie es Gerlach getan hatte. Allerdings sollte man die „Partei“ von dem unterscheiden, was oben (2.5.2) – wenn auch mit Einschränkung – als „Hengstenberg-Schule“ bezeichnet wurde: Letztere Bezeichnung ist allein auf Hengstenbergs wissenschaftliche Richtung zu beziehen.

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um eine rein kirchliche Partei. Daß sie als kirchliche Partei auch politisch war, wurde bereits hinlänglich dargelegt. Mit Nachdruck sei jedoch noch einmal darauf hingeweisen, daß man sorgfältig zwischen ihr und der „Kamarilla“ bzw. der „kleinen aber mächtigen Partei“513 um Gerlach und Stahl differenzieren muß.514 Wer im einzelnen zur Partei Hengstenberg zu zählen ist, läßt sich nicht einfach bestimmen. Eine große Zahl der Autoren der EKZ muß man zu ihr rechnen; der Redaktionsnachlaß gibt Zeugnis von dem erstaunlichen Netzwerk, das Hengstenberg gesponnen hatte.515 Allerdings ist schon hier Vorsicht geboten: Die Pluralität der Meinungen in der EKZ ist größer, als sie gemeinhin dargestellt wird.516 Hengstenberg sah zwar die Einheit in der Lehre als das Verbindende des Autorenkreises, doch bezog sich die Einheit nur auf die Grundlehren.517 Bei allen Fragen, welche die von ihm als solche betrachteten Grundlehren nicht in Frage stellten, war Hengstenberg an einem bunten Meinungsbild gelegen, und nicht selten löste er sogar selbst kontroverse Diskussionen aus.518 Zwar spielte bei der Aufnahme eines Artikels in die EKZ sicherlich auch das 513

  Die Bezeichnung „kleine aber mächtige Partei“ bezieht sich ihrem Ursprung nach nur auf die politisch Konservativen und entstand nicht zufällig erst bei Aufnahme der parlamentarischen Arbeit 1850, vgl. Gerlach, Aufzeichnungen 2, 67 bzw. Kraus, Gerlach, 490; häufig wird sie unpräzise auch für die kirchliche Richtung verwendet, so z. B. bei Mau, Protestantismus, 69 f. 514   Weil dieser Nachweis erst (unter 4.1–3) erbracht werden mußte, konnte die Partei Hengstenberg noch nicht unter 3. behandelt werden, obwohl sie sachlich auch dort ihren Platz hätte finden können 515   Im Nl Hengstenberg finden sich ca. 6000 Briefe von 1790 unterschiedlichen individuellen Absendern (vgl. Nl Hengstenberg, Findbuch und Graf, Spaltung, 186 f. mit Anm.  71); wie Wulfmeyer, Hengstenberg, II bzw. Nachlaß, 208 und Kramer, Hengstenberg, II auf eine Anzahl von rund 7000 Briefen kommen, ist unerfindlich – der Nachlaß umfaßt insgesamt nur 6964 Blatt; dazu zählen auch 47 Dokumente von Hengstenbergs eigener Hand und Schreiben nichtindividueller Absender sowie unidentifiziertes Material. Da die Aufstellungen von Wulfmeyer und Kramer auf die Zeit vor der Neuordnung und Erschließung des Nachlasses in den Jahren 1868/69 zurückgehen, sind die Angaben im Findbuch vorzuziehen. – Vgl. auch das Autorenverzeichnis bei Kriege, Kirchen-Zeitung 2; die einflußreichsten Autoren werden ebd. 1, 501 f. kurz zusammengestellt. 516   Man kann nicht – wie es in der Regel geschieht – davon ausgehen, daß Hengstenberg die Ausführungen aller Artikel, die er nicht ausdrücklich mit einer Anmerkung versah, vorbehaltlos geteilt hätte. Er hat nur dasjenige kommentiert, wo er schwerwiegende Bedenken hatte und was seiner Einschätzung nach zu den zentralen Fragen gehörte (vgl. oben, Einleitungsteil 3.). 517   Hengstenberg, Schulz, EKZ 25 (1839), Sp.  667 (vgl. o. bei Anm.  497): „Denn die Lehre ist das Einzige, was allen Mitarbeitern der Ev. K. Z. gemeinsam ist, das Einzige, worin ihr Charakter gesucht werden kann, worin also auch ihr Parteicharakter begründet sein müßte; in allem Übrigen, in Individualität, Schule, Richtung, Ansichten, findet sich die größte Mannichfaltigkeit, deren sich der Herausgeber von Herzen freut.“ So wurde schon von Zeitgenossen immer wieder auf die zahlreichen heterodoxen Ansichten in der EKZ aufmerksam gemacht, vgl. z. B. Erbkam, Beleuchtung. 518   Die von ihm angeregte Diskussion über die stufenweise Aneignung der Rechtfertigungslehre (vgl. o. 2.4.1.1) zeigt, daß in der EKZ selbst zu Zentrallehren unterschiedliche

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Urteil des Herausgebers über den Verfasser eine Rolle, letztlich aber machte er die Annahme vom Inhalt des Beitrags abhängig.519 Infolgedessen schrieben auch Autoren in der EKZ, die man nicht im strengen Sinne zu Hengstenbergs Partei zählen konnte.520 Was die Redaktionskorrespondenz angeht, ist zudem zu beachten, daß sie natürlich nicht nur Briefe von Freunden, sondern auch solche der Kritiker der EKZ enthält. Es ist daher problematisch, von der Zahl der Absender direkt auf die Größe des Hengstenbergschen Netzwerkes Rückschlüsse ziehen zu wollen.521 Dazu kommt, daß sich verschiedene Personen nur zeitweise zur EKZ gestellt und ihr zu anderen Zeiten die Unterstützung versagt haben, auf das prominenteste Beispiel, Neander, wurde bereits hingewiesen.522 Ebensowenig wie man alle Autoren der EKZ der Partei Hengstenberg zurechnen kann, kann man ihre Parteigänger auf die Autoren der EKZ beschränken. Selbstverständlich gab es viele Sympathisanten Hengstenbergs, die sich nie in der EKZ zu Wort meldeten. Ein genaues Bild läßt sich von dieser Seite aus also nicht gewinnen. Weiter kommt man hingegen, wenn man die Partei an ihren Vordenkern festmacht. Nachdem sich der Kreis der Initiatoren schnell aufgelöst hatte, stand Hengstenberg am Anfang seiner Redaktionstätigkeit nahezu allein da: nur Ernst Ludwig von Gerlach und mit größerer Distanz dessen Bruder Otto blieben ihm für längere Zeit als Berater erhalten. 1848 führte die Gründung der Kreuzzeitung und 1849 der Tod Otto von Gerlachs zu der neuen Konstellation, daß letzterer wegfiel, Ernst Ludwig von Gerlach aber seine Aktivitäten auf ein anderes Feld verlegte und an seine Stelle nun Stahl trat.523 Stahl Meinungen vertreten wurden. Allerdings ging Hengstenberg davon aus, daß die Frage einen Aspekt der Lehre beleuchte, der bisher nicht genügend bedacht worden sei. 519   In einer Auseinandersetzung mit dem Tübinger Steudel (s. dazu Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 115–124) gibt Hengstenberg 1831 ausführlich Rechenschaft über die Kritierien, die über Aufnahme und Ablehnung eines Aufsatzes entscheiden, vgl. Hengstenberg, Herr Dr. Steudel, EKZ 8 (1831), Sp.  361–374.377–399, Nr.  46–50, bes. 363.395 f. 520   Z.B. publizierte E. Huschke 1832 und 1833 in der EKZ, obwohl Hengstenberg den schlesischen Lutheranern erklärtermaßen distanziert gegenüberstand und sich dadurch Ärger mit der Zensur einhandelte; Gleiches gilt für Scheibel und andere Lutheraner, die sich der Separation anschlossen (z. B. F. Guericke); daneben findet sich anfänglich auch Bunsen unter den Autoren. 521   Was Graf, Spaltung, 186 f. zu tun scheint. 522   Daneben sind beispielsweise G.F.A. Strauß, J.Ch.F. Steudel, V.A. Huber, A. Kahnis, A.G. Rudelbach zu nennen; auch Tholucks Verhältnis zur EKZ war wechselhaft. Von den auf der ersten Liste der Unterstützer Erscheinenden – Neander, Tholuck, G.F.A. Strauß und L. Heubner (Hengstenberg, Plan [...]: Bachmann 2, Anhang, 9) – blieb auf Dauer nur der Letztgenannte übrig, der allerdings kaum Beiträge in der EKZ veröffentlichte (vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 2, Verfasserverzeichnis, 9). In der ersten öffentlichen Anzeige (Bachmann 2, Anlage, 18) werden darüber hinaus A. Hahn, Lindner, J.Ch.A. Heinroth, J.F. v. Meyer, J.G. Scheibel, J.Ch.F. Steudel, F.A. Krummacher, H. Olshausen, A.G. Rudelbach genannt; viele von ihnen hatte Tholuck gewonnen; nur wenige von ihnen lieferten tatsächlich Beiträge oder identifizierten sich dauerhaft mit dem Anliegen der EKZ, vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 73–79. 523   Stahl schrieb nicht häufig, aber dafür seit Ende der 40er Jahre regelmäßig in der EKZ,

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dürfte unter den prominenten Gestalten derjenige gewesen sein, der Hengstenberg sowohl inhaltlich als auch persönlich am nächsten stand.524 Umgekehrt hatte Stahl, soweit man weiß, „nur wenig nähere Freunde [...], die er von seiner politischen und kirchlichen Arbeit her kannte. Hier wäre eigentlich nur Heng­ stenberg zu nennen.“525 Unter den führenden Kirchenmännern, die zu Hengstenbergs Richtung zählten, ist zunächst Ernst Wilhelm Christian Sartorius (1797–1859) hervorzuheben.526 Von 1828 an bis zu seinem Tode veröffentlichte er Jahr für Jahr in der EKZ und nahm sich dabei vor allem der dogmatischen Themen an.527 Nachdem Sartorius zunächst an den theologischen Fakultäten in Marburg und Dorpat als Ordinarius Dogmatik gelehrt hatte, wurde er 1835 Generalsuperintendent in der Provinz Preußen und erster Hofprediger an der Schloßkirche zu Königsberg. Zu seiner – nicht unumstrittenen – Berufung in das kirchliche Amt dürfte ein Gutachten Hengstenbergs, das sich günstig über Sartorius Stellung zur Union äußerte, beigetragen haben.528 Über 20 Jahre lang leitete und prägte er dann die Provinzialkirche im Osten. Neben Sartorius ist besonders Carl Albert Ludwig Büchsel (1803–1889) zu nennen, seit 1846 Pfarrer an der Matthäuskirche in Berlin und seit 1853 Generalsuperintendent der Neumark und Niederlausitz.529 Hengstenberg hatte an dessen Berufung nach Berlin wesentlichen Anteil getragen, wie überhaupt die Gründung der Matthäus-Gemeinde zu seinen Herzensangelegenheiten gehört vgl. Kriege, Kirchenzeitung, Verfasserverzeichnis, 22, und Hengstenbergs Äußerung über Stahl oben bei Anm.  298. 524   Stahl war bis kurz vor seinem Tod, besonders in der Zeit, als Therese Hengstenberg schwer erkrankte, oft zu Gast im Hause Hengstenberg (vgl. Hengstenbergs Nachruf auf Stahl, EKZ 69 [1861], Sp.  777 f., Nr.  66); er starb dann aber bereits kurz vor Therese (gest. 14. Sept. 1861) am 10. Aug. 1861. Es fiel Hengstenberg schwer, von „seine[m] seligen Freund, mit dem er in zwei und zwanzig Jahren seiner Wirksamkeit in Berlin stets auf das Innigste verbunden war“ (ebd.) Abschied zu nehmen. 525   S. Nabrings, Stahl, 148. 526   Vgl. zu ihm Erdmann, RE3 17 – eine monographische Würdigung Sartorius’ steht noch aus. 527   Vgl. die Auflistung der Artikel bei Kriege, Kirchen-Zeitung 2, Verfasserverzeichnis, 19 f. Sartorius dürfte neben Hengstenberg und E.L. v. Gerlach die meisten Artikel zur Kir­ chenzeitung beigetragen haben. 528   S. Hengstenberg, Dr. Sartorius, EKZ 65 (1859), Sp.  833 f.; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 491; eine Nachricht bei Koenig, Hengstenbergs Leben, 743 erklärt den ungewöhnlichen Umstand, daß man zur Zeit des Ministeriums Altenstein Hengstenberg als Gutachter herangezogen haben soll, so, daß eigentlich Eylert um das Gutachten gebeten worden sei; weil er sich dem aber nicht gewachsen gefühlt habe, habe er Hengstenberg mit der Bitte um Stillschweigen darum gebeten. – Vgl. zu der umstrittenen Berufung Sartorius’, der sich außer Altenstein auch Oberhofprediger Ehrenberg und Bischof Neander widersetzt haben sollen, Foerster, Landeskirche 2, 250 f.; Hubatsch, Geschichte 1, 287. Nach Foerster und Hubatsch war der König selbst an Sartorius interessiert, weil sich bei ihm Verteidigung der CA und Verteidigung der Agende verbanden. 529   Die beste Darstellung zu ihm bietet derzeit Pötschke, Büchsel – eine ausführlichere Studie zu Büchsel gibt es leider nicht.

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hatte.530 Zwischen Büchsel und Hengstenberg entwickelte sich ein vertrautes Verhältnis. Jeden Donnerstagabend waren die Büchsels zu Gast im Hause Hengstenberg; 531 in späterer Zeit schaute der Pfarrer, „welcher in Hengstenbergs Hause wie zuhause war“, auch gewohnheitsmäßig am Samstagabend vorbei.532 Am Sonntag ging dann Hengstenberg in Büchsels Matthäuskirche in den Gottesdienst, wo auch Stahl regelmäßig zu sehen war.533 In Zeiten von Krankheit und Tod wie z. B. nach dem Tod ihrer Tochter Elisabeth stand Büchsel den Hengstenbergs seelsorgerlich bei.534 Als Hengstenberg zunächst nach dem Tod Thereses 1861 und dann wieder nach dem Tod Immanuels 1863 mit dem Gedanken spielte, die EKZ aufzugeben, war es nicht zuletzt Büchsel, der ihn – mit Unterstützung E.L. von Gerlachs – zur Weiterarbeit motivierte.535 Büchsel war schließlich auch an Hengstenbergs Sterbebett anwesend und hielt in der Mat­ thäuskirche eine liturgische Feier am Sarg, bevor der Leichnam nach Radens­ leben überführt wurde.536 Mit Karl Friedrich Göschel (1784–1861), von Hause aus Jurist, war eine Zeitlang auch in der Provinz Sachsen ein Vertrauter Hengstenbergs an der Kirchenleitung beteiligt.537 Göschel war allerdings nur kurz, vom Juli 1845 bis März 530   Vgl. Büchsel, Erinnerungen 4, 1–25; Pötschke, Büchsel, 222–225. Wichern berichtet, daß die treibenden Kräfte bei der Gründung der Matthäuskirche Hengstenbergs und Stahls Ehefrauen gewesen seien; Hengstenberg habe sich im Hintergrund gehalten, damit die Sache keinen Parteicharakter annehme (Tagebucheintrag, 23. Juni 1846: Wichern, Gesammelte Schriften 1, 402 f.). Zur Gründung der 1846 eingeweihten, später vor allem als Ordinationskirche Bonhoeffers bekannt gewordenen Kirche, die heute vom Berliner Kulturforum nahe dem Potsdamer Platz gerahmt wird, Hegel, Matthäuskirche. 531   S. Bachmann / Schmalenbach 3, 465. 532   S. Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1008 (dort auch das Zitat), der von Büchsel den Satz überliefert: „Ich kann Sonntags nicht predigen, wenn ich nicht Sonnabend Abend Hengstenberg eine Stunde ins Angesicht gesehen habe.“ 533   Hengstenberg ging in der Regel sogar zweimal, einmal in den Hauptgottesdienst und nachmittags zur liturgischen Andacht, s. Tauscher, Erinnerungen, Sp.  1013; Bachmann / Schmalenbach 3, 464. – Vgl. zu Stahl Nabrings, Stahl, 147 und Büchsel, Erinnerungen 4, 109, wo er berichtet: „Als einmal der Professor Stahl durch die Sakristei ging, trat er zu mir heran und fragte, ob droben im Himmel auch wohl die Frauen um so viel zahlreicher als die Männer sein mögen, wie hier in der Kirche auf Erden?“ 534   Vgl. Therese Hengstenberg an Immanuel Hengstenberg, [Berlin] 4. Juli 1854: Bachmann / Schmalenbach 3, 476: „Unser lieber Büchsel ist gestern zur Visitation nach Sorau abgereist. Uns wird es recht schwer, ihn die drei Wochen zu entbehren. Schon in eine andere Kirche zu gehen, hat mir etwas Schweres, jetzt und in unsrer melancholischen Einsamkeit war sein Besuch für Papa jedesmal eine Erfrischung.“ 535   E.L. v. Gerlach an Hengstenberg, Magdeburg 6. Nov. 1861: Bachmann / Schmalenbach 3, 480; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 508 mit Anm.  4; Büchsel in der Todesanzeige für Hengstenberg: EKZ 84 (1869), Sp.  521 f.; Ders., Ansprache. 536   S. Bachmann / Schmalenbach 3, 465; Büchsel, Ansprache; Büchsel gibt schließlich auch in der EKZ den Tod Hengstenbergs bekannt und vermerkt: „Ich habe meinen seligen Freund in seiner Krankheit täglich gesehen.“ (EKZ 84 [1869], Sp.  521 f.). 537   Vgl. zu ihm Haubold, Göschel und Cochlovius, Bekenntnis, 131–139. – Göschel wohnte vor seinem Umzug nach Magdeburg in Berlin und war dort Nachbar Hengstenbergs

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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1848, Konsistorialpräsident in Magdeburg. Als im Revolutionsmonat die Agitationen der Anhänger Uhlichs gegen ihn die Stadt immer mehr in Aufruhr brachten, verließ er sie auf Bitte des Oberpräsidenten, der seinen Schutz nicht mehr gewährleisten zu können glaubte.538 Gegen Ende der 40er Jahre näherte sich Göschel immer mehr den Vereinslutheranern an und wurde schließlich zu einem der wichtigsten Wortführer der lutherischen Bewegung innerhalb der preußischen Landeskirche. Zahlreiche Artikel hat er, der schon seit seiner Zeit am Naumburger Oberlandesgericht (1819–1834) mit E.L. v. Gerlach befreundet und als Mitarbeiter der Kirchenzeitung hervorgetreten war, in dieser Sache zur EKZ beigesteuert.539 Insgesamt darf man sich die Partei Hengstenberg, von der hier nur einige der wichtigsten Persönlichkeiten erwähnt werden sollten, nicht als fest organisierte Kampftruppe vorstellen. Sie war ein lockeres Netzwerk, eine Gesinnungsgenossenschaft, die ihren Kristallisationspunkt in der EKZ fand. Ihre Anhänger sahen sich verbunden durch die Grundlehren der Reformation. Die Bindung an die Schrift und die Überzeugung von der Übereinstimmung von Schrift und Bekenntnis sowie das Bewußtsein, durch die Aktualisierung der ‚alten‘ Wahrheiten die Auf klärung überwinden zu müssen, waren ihnen gemeinsam. Die Fähigkeiten der gefallenen Vernunft beurteilten sie skeptisch. Sie verfochten selbstbewußt die Rechte der Kirche gegenüber allen Arten von äußerer Einmischung und hoben die Stärke der Kirche als Institution hervor. Darüber hinaus traten sie für das göttliche Recht der Obrigkeit und die Christlichkeit des Staates ein. Kurz gesagt: Es handelt sich bei der Partei Hengstenberg um diejenigen, die Hengstenbergs kirchlichen Konservatismus, wie er in den vorigen Kapiteln nachgezeichnet wurde, teilten. Letztlich läßt sich die Partei Hengstenberg nämlich nicht anders bestimmen als daß man sie – zugegebenermaßen zirkulär – als die Partei derjenigen bestimmt, die sich selbst mit Hengstenbergs Position identifizierten oder – wie im Falle Gerlachs, Stahls und anderer – auf Hengstenbergs Position prägend einwirkten. In diesem Sinne war Hengstenberg „Haupt“ einer Partei; sie sammelte sich um die EKZ, von der man zu Recht sagte, daß sie „im Wesentlichen [...] Organ ihres Herausgebers“540 gewesen sei. in der Potsdamer Straße; in dieser Zeit kam ihm Hengstenberg näher, dem Göschels Hegelianismus zunächst suspekt gewesen war (s. Haubold, Göschel, 84.63). 538   Vgl. dazu oben bei Anm.  318 und Haubold, Göschel, 126–138. Zuvor hatte die Staatsregierung, ohne ihn zu informieren, der freien Gemeinde um Uhlich die Benutzung einer landeskirchlichen Kirche gestattet (vgl. Haubold, Göschel, 130 f. und oben bei Anm.  295). 539   Vgl. Cochlovius, Bekenntnis, 135–139; Haubold, Göschel, 149–156.223–225 und Kriege, Kirchen-Zeitung 2, Verfasserverzeichnis, 6. 540   Tauscher, Eben Ezer, Sp.  624; vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 510; ähnlich Hase, Kirchengeschichte, 400: „Sie wurde sofort ein so entschiedenes Parteiblatt, daß sie alles Abweichende zurückwies und mit Hengstenberg fast identisch schien. [...] aber so lange Hengstenberg lebte, ist die Zeitung doch eine mit Verstande redigirte Urkunde dieses Parteichristenthums gewesen, seitdem wurde sie unbedeutend, langweilig“.

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4  Hengstenberg und die Politik

4.4.3  Der Einfluß Hengstenbergs als Parteihaupt Die Frage nach dem Einfluß der Partei Hengstenberg läßt sich ebenfalls nur dann präzise beantworten, wenn man sie nicht im Blick auf ein nicht exakt abgrenzbares Netzwerk, sondern im Blick auf das ‚Parteihaupt‘ selbst stellt: Welchen Einfluß hatte Hengstenberg? In vielen Darstellungen wird Hengstenberg so gezeichnet, als sei er einer der einflußreichsten Männer in Preußen gewesen. Eine „überragende Macht“ habe er besessen: „Dem Minister Altenstein trat er fast wie eine selbständige Gewalt gegenüber. Es hing ganz und gar von ihm ab, ob und wann ein junger Theologe in ein Pfarramt kam.“541 Die theologische Fakultät, an der er „Jahrzehnte hindurch der stärkste Faktor“542 gewesen sei, habe unter seiner „Diktatur“543 gestanden. Ja, in den 50er Jahren habe er es so weit gebracht, daß er „in der Theologischen Fakultät und damit in der Landeskirche“ nicht weniger als „der Allmächtige“544 gewesen sei. An diesen Charakterisierungen, die sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, fällt auf, daß es fast immer Kritiker Heng­ stenbergs sind, die seinen Einfluß ins Unermeßliche schrauben. Dahinter steht ein Programm, das sich besonders gut an Nippolds ‚Handbuch der neuesten Kirchengeschichte‘ ablesen läßt: 541   Schnabel, Geschichte, 491; Schnabel hat auch die wiederholt abgeschriebene Behauptung aufgestellt, daß Hengstenberg dafür verwantwortlich gewesen sei, daß den Theologiestudenten wieder der „altlutherische Brauch, sich einen Beichtvater zu wählen, zur Vorschrift gemacht“ wurde; „die Zulassung zum theologischen Examen wurde an die Vorlage von Abendmahlszeugnissen gebunden“ (ebd.); vgl. demgegenüber Hengstenbergs Kommentar zu der Maßnahme, die man seinerzeit – ebenfalls zu Unrecht – seinem Kollegen G.F.A. Strauß zuschrieb: „Es ist freilich traurig, wenn man auf diese äußerliche Weise der verfallenen Kirche glaubt auf helfen zu können, der doch nur durch Gott aufgeholfen werden kann.“ (Hengstenberg an Unbekannt, 14. Nov. 1827: Bachmann 2, 20). Abgesehen davon wäre es völlig unerklärlich, wie Hengstenberg 1827 so etwas hätte durchsetzen können. Die Anordnung ging vielmehr vom Ministerium Altenstein aus, Strauß als Dekan kam lediglich die Aufgabe zu, sie bekannt zu machen (vgl. dazu die Akten: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 190, f.  1–14). 542   Harnack, Fakultät, 163. 543   Dress, TRE 5, 636,20: „Auf dem niedrigen Niveau einer kirchlichen Fachschule hielt sich die Fakultät nach den ersten beiden Jahrzehnten ihrer klassischen Periode vier Jahrzehnte lang unter der Diktatur des einem massiven reaktionären Orthodoxismus huldigenden Hengstenberg“. Abgesehen von der Bewertung Hengstenbergs bedenke man nur, daß zu dieser Zeit immerhin auch Neander, Twesten, Nitzsch, Dorner, (dessen Berufung Dress, ebd., 636,23 sechs Jahre nach hinten verschiebt!) u. a. lehrten (vgl. jetzt zum Zeitraum 1850– 1870 Wischmeyer, Theologiae Facultas). 544   Lenz, Geschichte 2/2, 280; die Bemerkung bei Schnabel, Geschichte, 529 für die Zeit nach 1840: „die ‚Partei Hengstenberg‘ besetzte alle theologischen Lehrstühle.“ kann nur hyperbolisch gemeint sein; sie wurde aber z. B. von Christensen, Hengstenberg, 137 f. – nur leicht gemildert – abgeschrieben. Elliger, Fakultät widerpricht sich selbst, wenn er einerseits konstatiert, Hengstenberg habe es „nicht vermocht, die Berliner Fakultät nach seinen Wünschen zu gestalten“ (ebd., 29), dann aber – in völliger Abhängigkeit von Lenz – von „der schier unbeschränkten Herrschaft Hengstenbergs“ (ebd., 57) in den 50er Jahren ausgeht.

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In der ersten Auflage von 1867 hebt der Rotheschüler und spätere Nachfolger auf Hases Jenaer Lehrstuhl hervor, wie erfolgreich Hengstenberg in seinem Bemühen gewesen sei, der ‚modernen Orthodoxie‘ die Herrschaft in der Kirche zu verschaffen. Man müsse zugestehen, daß Hengstenberg „für die Entwickelung der Kirche einen bedeutend höheren Einfluß erlangt hat als ein Schleiermacher und Baur.“545 Dabei wird der Berliner Alttestamentler als gewitzter, wendiger Politiker gezeichnet, der seine Lehre mit Hilfe der Staatsgewalt in der Kirche durchzusetzen verstand.546 Seit der verhängnisvollen Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. habe er versucht, die Alleinherrschaft zu erreichen; 1848 sei ihm dies schließlich gelungen und die Herrschaft der „jesuitischen Richtung im Protestantismus“547 am Ziel angekommen. Nimmt man die dritte, völlig umgearbeitete und erweiterte Auflage von Nippolds Lehrbuch aus dem Jahr 1890 zur Hand, stellt sich die Sache ganz anders dar. Der Abschnitt zu Hengstenberg fällt wesentlich kürzer und das Urteil über ihn deutlich milder aus.548 Von der übermächtigen Rolle ist kaum mehr die Rede. Der Skopus liegt nun auf dem Nachweis, daß Hengstenberg durch die Geschichte gerichtet und überholt sei. Der Tatbestand, daß der dritte Band der Hengstenberg­biographie bis 1890 nicht erschienen war, woran – was Nippold wohl nicht wußte – der Tod des Biographen schuld war, wird kurzerhand als Beleg dafür genommen, daß sich niemand mehr für Hengstenberg interessiere. Durch diese markante Veränderung fällt ein Licht auf die Intention des Kirchenhistorikers: Die Darstellung des übergroßen Hengstenberg in der ersten Auflage sollte als Warnung dienen angesichts einer aktuellen Bedrohung. Nachdem Hengstenberg gestorben war, schien dies nicht mehr nötig zu sein. Nun ging es darum, sein Wirken und seinen tatsächlichen Einfluß möglichst marginal erscheinen zu lassen. Jedoch blieb die frühere Darstellung für die Hengstenbergrezeption einflußreicher. Nicht zuletzt deshalb, weil sie im Einklang stand mit anderen verbreiteten Darstellungen, die zu Hengstenbergs Lebzeiten entstanden waren und bei denen sich Nippold reichlich bedient hatte.549 Das Hengstenbergbild jener frühen Darstellungen war zudem durch Zeitungsberichte im Todesjahr Hengsten-

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  Nippold, Handbuch1, 327.   Ebd., 331.334. Die Darstellung des Aufstiegs und die Charakterisierung Hengstenbergs ist dabei bis in die Details hinein von Schwarz, Theologie abhängig; vgl. zur Abhängigkeit Nippolds von Schwarz auch Voigt, Schwarz, 96. 547   Nippold, Handbuch1, 337. 548   Nippold, Handbuch 3 3/1,1, 161–171. Ein gewisses Vorbild bietet die dritte Auflage von Schwarz, Theologie3 von 1869, in der ebenfalls stärker als in der ersten Auflage die Isolierung Hengstenbergs betont wird (ebd., 75–92). 549   Letzteres gilt vor allem für Schwarz, Theologie; daneben sei auf Baur, Kirchengeschichte verwiesen; die ähnlich ausgerichteten Darstellungen von Hase, Kirchengeschichte und dessen Schüler Frank, Theologie sind zwar erst später veröffentlicht worden, doch handelt es sich dabei um Vorlesungen, die bereits in früheren Jahren gehalten worden sind. 546

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bergs popularisiert worden.550 Seine Bestätigung bedurfte keiner weiteren Begründungen. Doch nicht nur die Tendenz der Darstellungen macht mißtrauisch. Schwerer wiegt noch, daß es von so gut wie keinem der Autoren für nötig gehalten wurde, Belege für den behaupteten Einfluß Hengstenbergs anzuführen.551 Es wird auch schwierig sein, solche beizubringen, denn die Äußerungen über Heng­ stenbergs Machtstellung sind so allgemein gehalten, daß sie sich schon allein dadurch mehr als Mythos denn als Geschichte zu erkennen geben. Eine historische Betrachtung muß demgegenüber genau zwischen den verschiedenen Bereichen differenzieren, die für eine Einflußnahme Hengstenbergs in Betracht kommen, und darüber hinaus die intendierte von der faktischen Einwirkungsmöglichkeit unterscheiden. Als Bereiche kommen in Betracht: Hengstenbergs Einfluß auf die Regierung im allgemeinen und auf die Kultusverwaltung im besonderen, sein Einfluß in der theologischen Fakultät und sein Einfluß in der Kirche. Was Hengstenbergs Einfluß auf die Regierung und den König angeht, wird – wie bei Nippold – meist das Jahr 1840 als verhängnisvoll bezeichnet. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. und der ehemaligen ‚pietistischen Kronprinzenpartei‘ sei der Aufstieg der protestantischen Jesuiten nicht mehr aufzuhalten gewesen.552 Eine Kariktatur von 1842 mit dem Titel ‚Ein Kampf ums Kreuz‘ bringt dies markant zum Ausdruck (s. Anhang): Hengstenberg mit Pferdekopf dirigiert die kirchlichen Truppen, die als Schafsköpfe in Chorhemden dargestellt sind. Sie versuchen verzweifelt, das Kreuz aufrecht zu halten, das von einem Vogel (David Friedrich) Strauß und einem Bauersmann 550   Ein Beispiel ist der Nachruf in der Leipziger ‚Illustrierten Zeitung‘ vom 26. Juni 1869 (Nr.  1356, 492.493), der unverkennbar Jenaer Stallgeruch trägt, also auf der Linie SchwarzHase-Nippold-Frank liegt. Außer der üblichen Angabe, Hengstenberg habe seine Anhänger in die höchsten Ämter gebracht, findet sich dort die eindrückliche Beschreibung: „Man konnte sagen, Hengstenberg habe sich zum protestantischen Papst gemacht, und in der That nannte man ihn nicht nur so, sondern er übte auch einen Einfluß aus, der mit der Allmächtigkeit eines obersten Kirchenherrn wohl verglichen werden konnte. Nicht nur Preußen war die Domäne seiner Macht, sondern das gesammte protestantische Deutschland. Er entsandte seine Jünger mit der durchdachten Umsicht eines Ordensgenerals der Jesuiten in alle deutsche Lande, und die Zahl der Seelsorger fürstlicher Höfe und der Erzieher fürstlicher Kinder, die er bestellte, war nicht gering. Sein Bruder stand unter diesen als Hofprediger in Berlin obenan.“ (ebd., 491). Daß der Hofprediger Wilhelm von Hengstenberg keineswegs Hengstenbergs Bruder war und Letzterer mit der Berufung des Ersteren rein gar nichts zu tun hatte, ist nur einer der zahlreichen Fehler in dieser Darstellung. 551   Eine Ausnahme bildet Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 486–500, die allerdings in erster Linie nach dem Einfluß der EKZ fragt. Sie stellt aus dem Nl Hengstenberg wertvolle Belege für die Tatsache zusammen, daß Hengstenbergs Rat und seine Hilfe von vielen gesucht wurden; inwiefern den Bitten entsprochen wurde, kann sie aber nicht beantworten. 552   So neben Nippold (s. bei Anm.  547) auch Schwarz, Theologie1, 98. Von den jüngeren Darstellungen betont z. B. Besier, Revolution, 373 den Machtgewinn der Neuorthodoxie durch die Protektion Friedrich Wilhelms IV.

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(Bruno Bauer) umgerissen wird. Zwischen den Schafsköpfen und dem Kreuz flammt ein Feuerbach auf. Wichtig ist nun aber die andere Seite: Auf einem Baum über Hengstenberg sitzen ein Eichhörnchen, der Minister Eichhorn, und ein General mit einem Buch in der Hand, der Kabinettsminister von Thile („Bibel-Thile“), die Hengstenbergs Kampf unterstüzten, indem sie auf die kämpfenden Truppen Orden und kirchliche Stellen herabregnen lassen.553 Die Karikatur belegt, daß die Auffassung, Hengstenberg habe mit Hilfe der Staatsgewalt die Herrschaft in der Kirche übernommen, bis an den Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. zurückdatiert werden kann. Besonders genährt wurde sie, wie bereits erwähnt (s.o. 2.2.3), in den Kreisen der Lichtfreunde.554 Doch: Welchen Einfluß hatte Hengstenberg tatsächlich auf den König? Dafür, daß er in besonders engem Kontakt zu ihm gestanden hätte, wie beispielsweise der Hofprediger G.F.A. Strauß,555 gibt es keinerlei Belege.556 Sicherlich hat Friedrich Wilhelm IV. – wie im übrigen auch schon sein Vater und Minister Altenstein – die Kirchenzeitung gelesen.557 Doch das heißt nicht viel. Sicherlich hat Hengstenberg dem einen oder anderen königlichen Berater, Leopold von Gerlach oder L.G. von Thile, gelegentlich dieses oder jenes Stichwort geliefert, aber hier steht man bereits auf unsicherem Gelände, denn dabei geht es nicht mehr allein um Hengstenbergs Einfluß, sondern um den der ‚pietistischen Kreise‘ und der „Kamarilla“ um die Gerlachbrüder. Was Letztere angeht, wurde aber in jüngster Zeit mehrfach gezeigt, daß Friedrich Wilhelm IV. keineswegs einem festen Beraterkreis sein Ohr lieh. Vielmehr zog er verschiedene Ratgeber in seine Umgebung, entschied dann aber oft nach ganz eigenen Gesichtspunkten, was die Berater nicht selten ratlos zurückließ.558 Die Brüder Ger553   Und das, obwohl Hengstenberg als erbitterter Gegener der staatlichen Ordensverleihung für Geistliche auftrat, vgl. Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  2 0–23. – Die Karikatur scheint sehr verbreitet gewesen zu sein. Sie existiert nämlich noch in einer Variante, die neben Eichhorn – anstelle des Generals – eine Eule sitzen läßt (abgedruckt bei Otto, Lieder, 234). 554   Wie der Volksmund das Verhältnis zwischen Hengstenberg und dem König einschätzte, beleuchtet Varnhagen von Enses Tagebucheintrag vom 18. Apr. 1846: Ders., Tagebücher 3, 242: „Die Terasse vor dem Schlosse, die der König hat bauen lassen, wo die russischen Pferde stehen, wird hier jetzt der ‚Hengstenberg‘ genannt. Der König habe seinen Hengstenberg, heißt es, ganz nahe haben wollen!“ 555   Vgl. dazu v. a. Roseeu, Theologie, 240–286. 556   Aus Familien- und Freundeskreisen überliefert Koenig, Hengstenbergs Leben, 742 f., daß Hengstenberg mit seinen Königen nie in nähere Berührung gekommen sei. 557   Vgl. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 492 und oben bei Anm.  177 sowie E.L. von Gerlach an Hengstenberg, 24. Nov. 1845: Bachmann / Schmalenbach 3, 145, der mitteilt, daß Friedrich Wilhelm IV. immer nur das Vorwort der EKZ lese. Aber auch dies tat er längst nicht immer zustimmend, s. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 494. 558   Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 112–116 beschreibt das politische System in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. als „instabilen und amorphen Absolutismus [...], in dem verschiedene Individuen, Gruppen und Splittergruppen um Einfluß auf den Monarchen wetteiferten, der wiederum jeden verwirrte und verärgerte“ (ebd., 115); vgl. Friedrich, Eichhorn,

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lach beispielsweise litten sehr unter diesem Verhalten. Dementsprechend kann heute als gesichert gelten, daß man den Einfluß E.L. v. Gerlachs auf den König lange Zeit viel zu hoch veranschlagt hat.559 Was die Kirchenpolitik betrifft, so bildete während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. von Anfang an Carl Josias von Bunsen ein starkes Gegengewicht zu Gerlach, Stahl und Heng­ stenberg.560 Der Gegensatz verstärkte sich im Laufe der Zeit immer mehr.561 1856 rechnete Hengstenberg schonungslos mit Bunsen ab und nannte seine jüngste Publikation, die ‚Zeichen der Zeit‘, „zwei Bände, angefüllt mit dem Ostwinde bloßer Phrasen“, hinter denen sich der Pantheismus verstecke.562 Daß in den letzten Jahren Friedrich Wilhelms IV. der Einfluß Bunsens auf den König schließlich wesentlich weiter trug als derjenige der Partei Hengstenberg, zeigte sich nicht zuletzt in der königlichen Förderung der von Bunsen befürworteten und von Hengstenberg und Stahl befehdeten Evangelischen Allianz (vgl. oben 3.4.2).563 Hengstenbergs direkte Einflußmöglichkeiten auf den König dürften sich auch nach dem Scheitern der Revolution nicht wesentlich gesteigert haben. Trotz seiner monarchischen Haltung – oder gerade deshalb – blieb er in kritischer Distanz zum Herrscherhaus. Wenn gelegentlich angeführt wird, die Hengstenbergsche Richtung habe nach 1848 die Alleinherrschaft in Preußen erreicht, dann bezieht sich dies genau genommen weniger auf die Beziehungen zum König als vielmehr auf die Beziehung zum Kultusminister.564 Damit aber kommt

73; Kraus, Gerlach, 291–301; Ders., Königtum, bes. 57–93 und schon Wagener, Politik, 12. 559   S. Kraus, Gerlach, 291–301; aber auch schon Loock, Kirche, 444. 560   Vgl. Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 138; Kraus, Gerlach, 303 f.; Friedrich, Eichhorn, 73; Schmidt-Clausen, Einheit, 214–217. – Im Unterschied zu Bunsen lehnte Hengstenberg die vom König favorisierte bischöfliche Kirchenverfassung ab, vgl. Vorwort, EKZ 30 (1842), Sp.  4 f.; Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  31 f. 561   Vgl. zu der Auseinandersetzung zwischen Stahl und Bunsen Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 134–152; Link, Stahl, 77–80. 562   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 58 (1856), Sp.  32 f. 563   Gleiches beweist der Fall Kuno Fischer (s.u. Anm.  608). – Viele Jahre später berichtet E.L. v. Gerlach, Bunsen habe 1857 darauf gedrungen, Stahl und Hengstenberg abzusetzen, was der König ablehnte, „weil Hengstenberg kein Mann der Kirche sei, sondern ein Mann der Wissenschaft und weil er, der König, gegen Stahl Verpflichtungen habe“ (E.L. v. Gerlach an Pfr. Wilkens, Berlin 3. Advent 1873: Schoeps, Neue Quellen, 477); in seinen Aufzeichnungen verweist Gerlach (Ders., Aufzeichnungen 2, 214) dafür auf die von Bunsens Witwe veröffentlichten Notizen ihres Mannes aus dem Jahr 1857, die dies bestätigen (Nippold, Bunsen 3, 501 mit Anm.  +++). In ähnliche Richtung geht eine Äußerung Varnhagen von Enses, der im Zusammenhang mit der Allianzkonferenz 1857 in seinem Tagebuch notiert, Hengstenberg habe sich so scharf gegen die vom König protegierte Versammlung geäußert, daß er kaum mehr werde einlenken können (Tagebücher 14, 58). 564   Daß Hengstenberg zu dem Nachfolger Friedrich Wilhelms IV., Wilhelm I., keinen Kontakte hatte, muß nach dem oben bei Anm.  2 03 Dargestellten nicht noch einmal betont werden, vgl. auch Besier, „Neue Ära“, 110–112.

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ein weiterer Bereich in den Blick, der eng mit dem ersten verbunden ist: Welchen Einfluß hatte Hengstenberg auf die Kultusminister? Unter Altenstein – das dürfte oben zur Genüge gezeigt worden sein und wird sogar von so scharfen Kritikern wie Schwarz zugegeben – so gut wie keinen.565 Doch auch Eichhorn gehörte nicht zur Hengstenbergpartei, wie man gelegentlich behauptet hat und wie es die oben beschriebene Karrikatur suggeriert,566 ganz zu schweigen von den Ministern der Märzregierungen. Erst mit Karl Otto von Raumer kam 1852 ein Minister zum Zug, der sich in kirchlichen und theologischen Fragen von Hengstenberg beraten ließ.567 Auf diese Weise konnte er Einfluß nehmen auf die Kirchenpolitik; 568 die inneren Belange der Kirche waren aber zu dieser Zeit bereits Sache des Evangelischen Oberkirchenrates und damit dem direkten Zugriff Raumers entzogen. Deshalb ist in erster Linie zu beleuchten, welchen Einfluß Hengstenberg durch seine Verbindung zu Raumer auf universitätspolitische Entscheidungen hatte. Zuvor sind aber noch die weiteren Kultusminister zu erwähnen. Mit Bethmann-Hollwegs Amtsantritt (1858) war an einen Einfluß Heng­ stenbergs nicht mehr zu denken.569 Sowohl politisch als auch kirchenpolitisch hatten sich beide – einst standen sie gemeinsam dem Kirchentag vor – weit voneinander entfernt. Darüber hinaus hatte Wilhelm I. bereits die neuen Leitlinien seiner Kirchenpolitik ausgegeben.570 Im Abgeordnetenhaus bezeichnete der neue Kultusminister das „antirevolutionaire“ Auftreten der EKZ als „echt revolutionairen Fanatismus“ und beschuldigte sie der Auflehnung gegen „die geordneten Auctoritäten in Kirche und Staat“571. 1862 wurde schließlich Mühler Kultusminister, der zwar auch konservativ war, aber nicht Hengstenbergs Kurs, sondern den Kurs der – wie der Name schon zu erkennen gibt – gegen 565

  Vgl. oben 4.1 und Schwarz, Theologie1, 98.   S. dazu v. a. Friedrich, Eichhorn, 86–99.452 und passim; auch schon Lenz, Geschichte 2/2, 107; überholt ist Bussmann, Friedrich Wilhelm IV., 135. 567   Vgl. Varrentrapp, Schulze, 546; Lenz, Geschichte 2/2, 280; Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 492 f.; vgl. auch Tholuck an Bunsen, 17. Mai 1853: Nippold, Bunsen 1, 347, Anm.: „Ich bin Ostern in Berlin gewesen und bin erstaunt über den Fortschritt des Confessionalismus. Diesen ließe ich mir nun noch gefallen, aber er ist so unmittelbar mit Verleugnung wissenschaftlicher Wahrheitsliebe und wissenschaftlichen Interesses verbunden. Ich habe mich immer noch mit Hengstenberg in dem Glaubensbande eins halten können, wenn auch die wissenschaftliche Methode uns trennte, und ich habe, wie ich nicht anderes sagen kann, von ihm keine harte Beurtheilung erfahren. Aber die Kluft wird nun zu stark. Wie Sie wissen, ist er nun unbedingter Stimmführer bei dem Cultusminister [...]“. 568   Vgl. oben zur Kabinettsordre von 1852. 569   Vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 101. 570   Vgl. Besier, „Neue Ära“, 111 und oben bei Anm.  2 03; 1858 wurde Hengstenberg aus der wissenschaftlichen Prüfungskommission für das Lehrerexamen entlassen (Baur, Kirchengeschichte, 479; Wischmeyer, Theologiae Facultas, 240). 571   Kultusminister Bethmann-Hollweg am 8. Apr. 1859: Stenographische Berichte 2, 1859, 710; die EKZ wird zwar nicht genannt, aber aus dem Kontext ist klar, daß sie gemeint ist, vgl. Hengstenberg, Oberkirchenrath, EKZ 64 (1859), Sp.  499 und oben 3.5.4. 566

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Hengstenberg gerichteten Neuen Evangelischen Kirchenzeitung förderte.572 Wie bereits erwähnt, handelte sich Hengstenberg von ihm auf Betreiben des Oberkirchenrates mehrere Rügen ein.573 Die ‚Herrschaft Hengstenbergs‘ beschränkte sich also auf die acht Jahre der Amtszeit Karl Otto von Raumers (1850–1858). Da Raumer auf die kirchlichen Stellenbesetzungen keinen direkten Einfluß mehr hatte, müßte sich Hengstenbergs Handschrift – abgesehen von den bereits genannten kirchenpolitischen Weichenstellungen (s.o. 3.) – vor allem im Bereich der Universitätspolitik zu erkennnen geben. Welchen Einfluß aber hatte Hengstenberg auf fakultäts- und universitätspolitische Entscheidungen? Dabei richtet sich der Blick zunächst auf die theologische Fakultät in Berlin. 43 Jahre lang war Hengstenberg dort Professor, elfmal war er Dekan. Welchen Einfluß konnte er dadurch auf die Zusammensetzung des Lehrkörpers nehmen? Um dies feststellen zu können, ist ein Blick auf die Berufungen zu werfen. Während Hengstenbergs Zeit als ordentlicher Professor gab es sieben Neuberufungen auf Ordinariate: 1834 A.D.Ch. Twesten, 1847 C.I. Nitzsch, 1851 J.K.L. Lehnerdt, 1858 F.K.L. Steinmeyer, 1859 Ch.W. Niedner, 1862 I.A. Dorner, 1865 K.G. Semisch.574 In welchem Verhältnis standen die Berufenen zu Heng­ stenberg? Twesten, der die Nachfolge seines Lehrers Schleiermacher antrat, hatte ein vergleichs­weise unbefangenes Verhältnis zu Hengstenberg.575 Dennoch war er nicht Hengstenbergs, sondern Neanders Wunschkandidat gewesen. Hengstenberg hatte sich bei den Verhandlungen für Hermann Olshausen ausgesprochen,576 war damit aber nicht zum Zug gekommen. Nitzschs Berufung stand im Zusammenhang mit den kirchenpolitischen Bestrebungen des Ministeriums Eichhorn. Der Minister selbst setzte sich dafür ein, daß der Bonner Professor, 572   S. Reichle, Mühler; vgl. zu dem vom Ministerium geförderten und von Hengstenberg abgelehnten Redakteur der NEKZ K.F.H. Meßner Wischmeyer, Theologiae Facultas, 166, Anm.  91.169, Anm.  101.233 f. sowie Meßners Schreiben an den Minister v. Mühler, 6. Dez. 1863: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  2 , f.  14. – Zu Recht weist Wischmeyer, ebd., 105 darauf hin, daß man den Einfluß Hengstenbergs auf den Minister in freisinnigen Kreisen zu hoch veranschlagte. 573   Die ambivalente Stellung zu Mühler zeigt sich in Hengstenbergs letztem Vorwort, EKZ 84 (1869), wo er einerseits darauf hinweist, daß er keinen Grund habe, dem Minister zu schmeicheln; dieser habe ihm als Her­ausgeber der EKZ im vergangenen Jahr „nicht weniger als viermal eine Zurechtweisung erteilt, [...] zweimal eine mündliche und zweimal eine schriftliche“ (ebd., 78); andererseits lobt er das mutige Eintreten des Ministers für den christlichen Charakter der Schule (ebd., 70–78; vgl. zur „Breslauer Schulfrage“ und den Versuchen der Liberalen, Mühler zum Rücktritt zu bewegen Reichle, Mühler, 189–208). 574   Den schnellsten Überblick gibt die Übersicht bei Wischmeyer, Theologiae Facultas, 364. 575   Vgl. Heinrici, Twesten; im Streit um die Stellung des Alten Testaments stand Twesten nicht eindeutig auf seiten seines Lehrers, vgl. Twesten an Schleiermacher, 9. Okt. 1829: ebd., 416 f. und oben 2.2.1. 576   Vgl. Hengstenberg an Rudelbach, 29. März 1829: Kaiser, Rudelbach, 99 f.

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der sich auf der Generalsynode von 1846 als vermittelnde Kraft und Verfechter der Union gezeigt hatte, nach Berlin geholt wurde.577 Hengstenberg hatte sich hingegen mehrfach offen und scharf gegen das Verhalten der Vermittlungstheologen auf der Generalsynode ausgesprochen und Nitzschs Vorschläge heftig kritisiert. Ein Wunschkandidat war Nitzsch für ihn keineswegs.578 Anders sieht es mit Lehnerdt aus.579 Der aus Königsberg berufene Nachfolger Neanders war zweifellos ein Mann in Hengstenbergs Sinne. Seine Berufung wurde während der kurzen Amtszeit des Kultusministers Ladenberg eingeleitet, und zwar gegen das Votum des Ministers. Dies gelang jedoch nur, weil sich die Fakultät nachdrücklich und mit einer Stimme für ihn aussprach.580 Er war also nicht nur Hengstenbergs Kandidat gewesen. Eindeutiger scheinen die Verhältnisse im Falle Steinmeyers zu liegen, der 1858 als Universitätsprediger und erster Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für neutestamentliche Exegese berufen wurde. 581 Steinmeyer zählte zu Hengstenbergs Richtung. Die Wahl des Bonner Neutestamentlers, der sich in Berlin habilitiert hatte und anschließend zunächst auf ein Ordinariat in Breslau berufen worden war, dürfte der Berliner 577   Theurich, TRE 24, 577. – Wie aus den Fakultätsakten hervorgeht, versetzte Eichhorn Nitzsch nach Berlin, ohne zuvor die Fakultät konsultiert zu haben, vgl. Eichhorn an die Fakultät, Berlin, 20. Febr. 1847: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  67. 578   Zutreffend Wischmeyer, Theologiae Facultas, 317: „Wesentlich stärker als der lutherische Neukonfessionalismus war um die Mitte des Jahrhunderts eine unionsfreundliche Vermittlungstheologie in Berlin institutionalisiert.“ 579   Vgl. zu ihm Wischmeyer, BBKL 27. 580   In einem ersten Gutachten wurden dem Minister die Kandidaten Ullmann (Heidelberg), Lehnerdt (Königsberg), Niedner (Leizig) und Liebner (Kiel) präsentiert; einig war sich die Fakultät in der Hochschätzung Lehnerdts und in der Empfehlung Liebners, nur gegen Niedner erhob Hengstenberg Einspruch; da es sich nicht um mehr als eine Empfehlung an den Minister handelte, wurde keine Rangfolge erstellt (Fakultät an den Ladenberg, Berlin 20. Juli 1850: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  79r–80v). Der Minister lehnte alle Bewerber ab – den am meisten empfohlenen Lehnerdt mit dem Hinweis, daß seine Besoldung in Königsberg so hoch sei, daß man ihm in Berlin nichts Entsprechendes werde bieten können; stattdessen präsentierte er eigene Vorschläge (Ladenberg an die Fakultät, Berlin 12. Aug. 1850: ebd., Bogen 81). Darauf unternahm die Fakultät einen weiteren Anlauf und lieferte dem Minister nun einen Vorschlag mit Rangfolge. Bezüglich Platz eins gab es keine Uneinigkeit: „[...] so haben wir nur dahin uns sämmtlich geeinigt, daß Eurer Excellenz jetzt in erster Stelle und noch einmal der Consistorialrath Dr. Lehnert in Königsberg zur Berufung in die hiesige Facultät bezeichnet werde; wogegen darüber, ob in zweiter Stelle der Professor Dr. Niedner, einige Differenz stattfindet.“ (Fakultät an Ladenberg, Berlin 13. Okt. 1859: ebd., f.  83r; das Sondervotum Hengstenberg ebd., f.  84rv) Darauf gab der Minister, wenn auch zögernd, nach (Ladenberg an die Fakultät, Berlin 20. Okt. 1850: ebd., f.  87). Vorgenommen wurde die Versetzung Lehnerdts von Königsberg nach Berlin schließlich von Ladenbergs Nachfolger Raumer. – Unzutreffend ist die Darstellung bei Lenz, Geschichte 2/2, 281 und – davon abhängig – Wischmeyer, BBKL 27, Sp.  850, Hengstenberg habe seinen Wunschkandidaten gegen die Mehrheit der Fakultät durchgesetzt. 581   Vgl. zu ihm Kawerau, RE3 18. – Gräb, Theologie, 76 irrt, wenn er die Geschichte der neutestamentlichen Disziplin an der Berliner Fakultät erst im Jahr 1876 mit Bernhard Weiß beginnen läßt.

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Alttestamentler daher mit Nachdruck unterstützt haben.582 Gleichzeitig mit Steinmeyer brachte die Fakultät nun aber wiederum den 1850 von Hengstenberg abgelehnten Niedner als Nachfolger für Lehnerdt in Vorschlag.583 Dieses Mal widersprach Hengstenberg nicht,584 obwohl sich an seiner Ablehnung nichts geändert haben dürfte. Möglicherweise war dabei die gleichzeitige Berufung Steinmeyers ausschlaggebend, den ebenfalls die ganze Fakultät als einzigen Kandidaten unterstützt hatte.585 Konnte Hengstenberg mit dem Berufungsergebnis von 1858/59 also halbwegs zufrieden sein, so dürfte ihn die Neubesetzung des systematischen Lehrstuhls 1862 wiederum nicht glücklich gemacht haben. Dorner war einer der renommiertesten systematischen Theologen seiner Zeit. Seine Berufung war von dem ihm nahestehenden Kultusminister Bethmann-Hollweg persönlich durchgesetzt worden.586 In Berlin erhielt der gebürtige Württemberger bereits seine fünfte ordentliche Professur, nachdem er zuvor in Kiel, Königsberg, Bonn 582   1856 hatte sich Hengstenberg auf Nachfrage Raumers entschieden gegen Constantin Tischendorf ausge­sprochen, der sich bisher kaum mit eigentlich theologischen Leistungen hervorgetan habe und exegetische Schwächen zeige (Votum vom 31. Mai. 1856: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  103v). Schon 1852 hatte er sich auf Anfrage des Ministers hin ablehnend über Tischendorf geäußert, der Hengstenberg gegenüber aber – aus welchen Gründen auch immer – sehr freundlich gegenüber stand, vgl. Nl Hengstenberg, Kasten 22, Abt. Preuß. Kultusministerium, f.  58r–60r und Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 493, Anm.  3 (dort auch eine Transkription von Hengstenbergs Schreiben). 583   S. Fakultät an Minister von Raumer, Berlin 20. März 1858: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 167, f.  1–4. = GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  1, f.  197–206. – Das Schreiben behandelt sowohl die Nachfolger Lehnerdt als auch die Berufung Steinmeyers. Daß letzterer schließlich vor dem Kirchenhistoriker aufzog, hing mit den komplizierten Verhandlungen mit Niedner zusammen. Es geht jedenfalls nicht an, die Berufung Niedners als „Wendepunkt“ zu interpretieren, der das Ende des Hengstenbergschen Einflusses markiere (so Wischmeyer, Theologiae Facultas, 316, Anm.  152). Gerade an dem Berufungspaket Steinmeyer / Niedner zeigt sich, daß Hengstenbergs Einfluß auch in der Zeit des Ministeriums Raumer sehr begrenzt war. 584   Der Vorschlag Niedners erfolgte einstimmig. Niedner lehnte den Ruf allerdings zunächst ab; darauf bat der Minister erneut um Vorschläge; dieses Mal kam es zu keiner Einigung: Twesten und Nitzsch befürworteten auswärtige Bewerber, Hengstenberg schlug A. Wuttke vor, dem Piper als Honorarprofessor und Liz. Schneider als außerordentlicher Professor zur Seite gestellt werden sollten. Damit nahm er Überlegungen aus dem Schreiben vom 20. März auf (s. Theologische Fakultät an Minister von Raumer, Berlin 6. Dez. 1858 und das Sondervotum von Twesten und Nitzsch, Berlin 9. Dez. 1858: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  1, f.  239–242). Als Niedner schließlich doch bereit war zu kommen, war die Kontroverse bedeutungslos. Aus den Akten geht an keiner Stelle hervor, daß Hengstenberg Wuttke anstelle von Niedner vorgeschlagen hätte (gg. Lenz, Geschichte 2/2, 325 und Wischmeyer, Theologiae Facultas, 316, Anm.  152). 585   Man nahm damit den Vorschlag des Ministers, die Universiätspredigerstelle neu zu besetzen, auf und suchte dafür einen Gelehrten, der zugleich das NT eigenständig würde vertreten können, das bisher von Twesten und Lehnerdt mit abgedeckt worden war; allerdings ließ die Fakultät den Minister wissen, daß die Besetzung des kirchengeschichtlichen Lehrstuhls höhere Priorität habe, s. Fakultät an Minister von Raumer, Berlin 20. März 1858 (s. Anm.  583). 586   S. Lenz, Geschichte 2/2, 325.

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und Göttingen ein Ordinariat versehen hatte. Kirchenpolitisch stand Dorner Nitzsch nahe, dessen Nachfolge er übernahm. 1850 hatte er sich auf dem Stuttgarter Kirchentag im Zusammenhang der durch die Schleswig-Holsteiner Angelegenheit ausgelösten Obrigkeitsdebatte mit seinem Referat über Röm 13 den Widerwillen Stahls und Hengstenbergs zugezogen.587 1854 hatte er in einer Streitschrift gegen Hengstenberg die Göttinger theologische Fakultät in Schutz genommen.588 Das waren keine günstigen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit. In näherer Verbindung dürfte Hengstenberg schließlich wieder zu Semisch gestanden habe, der 1865 den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl von Niedner übernahm; jedoch ist über die positionelle Ausrichtung des aus Breslau Berufenen zu wenig bekannt, als daß man hier Genaueres sagen könnte.589 Es läßt sich auch nicht erkennen, daß Hengstenberg seine Berufung betrieben hätte. Hingegen ist bekannt, das Semisch ungeachtet der Vorschläge der Fakultät im Alleingang und als Wunschkandidat von Minister Mühler nach Berlin geholt wurde.590 Als Ergebnis ist festzuhalten, daß sich in drei von sieben Fällen Bewerber durchsetzen konnten, die von Hengstenberg befürwortet wurden; bei zweien von ihnen handelte es sich allerdings um Wunschkandidaten der ganzen Fakultät, und im dritten Fall wurde die Fakultät von einem Minister, der Hengstenberg nicht sonderlich nahe stand,591 völlig übergangen. Umgekehrt ausgedrückt wird es noch deutlicher: Gegen das Votum seiner Kollegen brachte Hengstenberg keinen einzigen Bewerber durch; demgegenüber wurden mehrere Ordinarien berufen, die nicht in Hengstenbergs Sinne oder sogar ausdrücklich von ihm abgelehnt worden waren. Das Bild verändert sich nicht wesentlich, wenn man neben den Ordinarien auch die außerordentlichen und Honorarprofessuren mitberücksichtigt. 1837 wurde Wilhelm Vatke als außerordentlicher Professor berufen. Gemeinsam mit Neander hatte sich Hengstenberg dem entgegengestellt. Nachdem der Ruf ergangen war, strengte Hengstenberg schließlich eine Beschwerde beim Minister an, fand dafür aber keine Unterstützung von seiten der Kollegen.592 Auch gegen 587   Vgl. Göbell, Erhebung, 101 f.; ein grober Überblick über die Diskussion bei Kreft, Kirchentage, 112–120. 588   Dorner, Abwehr. Dabei rechnete Dorner grundsätzlich mit Hengstenberg ab, ohne zu wissen, daß der Aufsatz, gegen den er sich richtete, gar nicht von Hengstenberg stammte. Jedoch hat Hengstenberg darauf hin die Kritik, daß es an der Göttinger Fakultät keinen einzigen wirklich ‚kirchlichen‘ Professor gebe, bekräftigt (Vorwort, EKZ 56 [1855], Sp.  62 f. mit Anm.  *). 589   Das Wenige bei Tschackert, ADB 33. 590   Die Fakultät, Hengstenberg eingeschlossen, hatte Reuter aus Greifswald empfohlen (Fakultät an den Minister, Berlin 4. Okt. 1865: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  29 f.); vgl. Lenz, Geschichte 2/2, 337. 591   Siehe dazu oben bei Anm.  572. 592   Vgl. Theologische Fakultät an den Minister, Berlin 25. Juni 1835: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  104 f. (Das Votum Hengstenbergs: f.  105rv); Hengstenberg an seine Kol-

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die Berufung Hermann Meßners, des Redakteurs der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung, zum außerordentlichen Professor hatte Hengstenberg 1860 ein Sondervotum abgegeben, das nicht gehört wurde.593 Weniger ablehnend stand er der 1869 erfolgten Berufung von Benno Bruno Brückner zum Honorarprofessor gegenüber; er sprach sich allerdings auch nicht eindeutig dafür aus.594 In zwei Fällen konnten sich Kandidaten Hengstenbergs durchsetzen. Der prominenteste Fall ist die Berufung Otto von Gerlachs, der darum auch häufig zum Beleg für Hengstenbergs Einfluß herangezogen wird. Gerlach wurde 1827 gegen den Protest Marheinekes und auf Betreiben Neanders, G.F.A. Strauß’ und Hengstenbergs habilitiert. Hengstenberg, selbst erst Extraordinarius, war an der Prüfung beteiligt.595 1849 wurde Gerlach, nachdem er inzwischen zum Hofprediger ernannt worden war und sich durch seine Konzeptionen zum Gemeindediakonat und zum Großstadtpastorat einen Namen gemacht hatte, schließlich Honorarprofessor,596 doch starb er noch in demselben Jahr. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß die Ernennung Gerlachs zum Honorarprofessor im Unterschied zu seiner Habilitation keine Meinungsverschiedenheiten in der Fakultät hervorrief. Sie erfolgte vielmehr – wie bei dem Anlaß üblich – einstimmig 597 und kann daher nicht allein auf Hengstenbergs Rechnung gesetzt werden. Lediglich die Berufung Adolf Wuttkes als außerordentlichen Professor nach Berlin im Jahr 1854 dürfte sich eindeutig der Hilfe Hengstenbergs verdankt haben; doch wurde Wuttke schon 1861 als Ordinarius nach Halle berufen.598 Fällt die Bilanz also insgesamt nicht sehr eindrücklich aus, was Hengstenbergs Einfluß angeht, so wird sie noch weiter relativiert, wenn man die Rahmenbedingungen der Berufungsverfahren berücksichtigt. Selbst wenn Heng­ stenberg die überragende Gestalt an der Fakultät gewesen wäre, zu der er gerne stilisiert wird,599 hätte das nur im Zusammenspiel mit dem Kultusministerium legen, 22. Juli 1837: ebd., Nr.  166, f.  52rv. Zu Hengstenbergs theologischer Beurteilung Vatkes vgl. nur Hengstenberg, Authentie des Pentateuches 1, LI f.; Ders., Vorwort 18 (1836), Sp.  33 f. 593   Bethmann-Hollweg an den Prinzregenten [Wilhelm], 3. Mai 1860: GStA PK, I. HA Rep.  76, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  1, f.  284r; Stellungnahme der Fakultät, 12. März 1860: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 167, f.  13rv; Hengstenberg nennt Meßner dort einen „farblose[n] Eklektiker“. 594   Zirkular der theologischen Fakultät, 25. Jan. 1869: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 167, f.  43rv. 595   S. Lenz, Geschichte 2/1, 350–362; Christiani, Gerlach, 49–53; vgl. zu Otto von Gerlach oben 2.5.2. 596   S. Lenz, Geschichte 2/2, 280. 597   Schreiben der Fakultät, Berlin 5. Febr. 1849: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  76r: „Wir sind einstimmig dahin überein gekommen, dieß Gesuch zu befürworten.“ Es unterzeichnen Hengstenberg (als Dekan), Neander, Twesten, Nitzsch und Strauß. Die Initiative zu dem Schritt ging freilich von Hengstenberg aus (vgl. Gerlach, Aufzeichnungen 1, 533; Christiani, Gerlach, 221 f.). 598   Vgl. zu Wuttke oben 2.5.2. 599   Zuletzt in der Darstellung von Gräb, Theologie, 73.

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wirkungsvoll sein können. Berufungen waren in Berlin Sache des Ministeriums. Die Vorschläge, die die Fakultäten einreichen durften, waren „nach ihrem Status nicht mehr als Fachgutachten“600. Generell war vor 1848 der Einfluß der Fakultät bei Berufungsverfahren gering.601 Erst unter den Ministern Schwerin, Ladenberg und Raumer bekamen die Fakultäten größere Autonomie.602 Doch schon Bethmann-Hollweg nahm die Fakultäten wieder an kürzere Zügel.603 Diese Konstellationen erhellen, warum sich Hengstenberg so selten mit seinen Voten durchsetzen konnte: Gerade zu der Zeit, als er die besten Verbindungen zum Minister hatte, wurde der Fakultät das größte Mitspracherecht eingeräumt. Zwar förderte Raumer die konservative Richtung, gleichwohl mischte er sich nicht in dem Maße wie beispielsweise Eichhorn in die Berufungsverfahren der Fakultäten ein.604 Darum konnten sich unter Raumer Hengstenbergs Kandidaten nur durchsetzen, wenn sie eine Mehrheit in der Fakultät hatten. Immerhin erreichte auf diese Weise mit Steinmeyer ein Vertreter der konservativen Richtung das Ordinariat. In den Gutachten und Sondervoten, die Hengstenberg im Laufe von Berufungsverfahren einreichte, wird darüber hinaus erkennbar, welche Kriterien er an die zu Berufenden anlegte. Auffällig ist zunächst, daß sich kein Beleg dafür finden läßt, daß er die Bekenntnistreue im strengen Sinne zum Maßstab genommen hätte.605 Gegen Vatke wandte er ein, daß dessen Ansichten „mit den Grundlehren des Christenthums und der evangelischen Kirche in empfind-

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  Wischmeyer, Theologiae Facultas, 97.   Insbesondere Eichhorn verfolgte eine „dirigistische Politik“ (Wischmeyer, ebd., 97, Anm.  2 09; schon Lenz, Geschichte 2/2, 280 spricht von der „Rücksichtslosigkeit, mit der Eichhorn in die Selbstbestimmung der Fakultäten eingegriffen hatte“). Das zeigt sich besonders deutlich bei der Berufung von Nitzsch (s.o. Anm.  577). 602   Vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 97, Anm.  2 09; vgl. auch die Berufung Lehnerdts oben bei Anm.  580. 603   Vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 97, Anm.  2 09 604   Das gesteht selbst Lenz, Geschichte 2/2, 280 als scharfer Kritiker Raumers zu; ebenso urteilt die anonyme Raumer-freundliche Darstellung Staatsminister von Raumer, 72–81. 605   Als Hengstenberg von Eichhorn 1842 zu einer Stellungnahme zu Delitzsch aufgefordert wurde, lobte jener, daß dieser sein anfänglich übertrieben lutherisches Auftreten aufgegeben und erkannt habe, daß eine Repristination des 17. Jhs. nicht zu wünschen sei (UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  230 f.), vgl. Rengstorf, Delitzsch’sche Sache, der allein aus der Tatsache, daß sich Delitzsch mit der Bitte um Hilfe an Hengstenberg gewendet habe, den Rückschluß zieht, Hengstenberg habe Anfang der 40er Jahre Einfluß auf die Besetzung von Lehrstühlen gehabt (ebd., 13). Dabei läßt sich aus der Tatsache, daß sich ein Alttestamentler aus Leipzig an einen ihm theologisch nahestehenden Alttestamentler in Berlin mit der Bitte um Verwendung in seiner Sache richtet, ebensowenig ableiten wie aus der Tatsache, daß Eichhorn Hengstenberg als Alttestamentler um ein Gutachten über einen anderen Alttestamentler bittet. Beides sind ganz gewöhnliche Vorgänge. Der Fall Delitzsch, an dem nicht nur Hengstenberg beteiligt war, weist im übrigen eher auf die Begrenztheit seines Einflusses hin (vgl. zu den vergeblichen Versuchen, Delitzsch für Preußen zu gewinnen Wagner, Delitzsch, 65–72). 601

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lichem Widerspruche“606 stünden. Auch in anderen Voten, die seine Handschrift tragen, wird – ganz im Sinne des bereits oben unter 2. und 3. Festgestellten – lediglich auf die „christlich-kirchliche Gesinnung“607 abgehoben, die man von einem Mitglied der theologischen Fakultät erwarten könne. Allerdings ist eine solche Gesinnung für Hengstenberg noch längst nicht der Ausweis wissenschaftlicher Eignung. Wie für die Gattung der Berufungsgutachten üblich legte auch Hengstenberg den Schwerpunkt auf das wissenschaftliche Werk und den Werdegang des Bewerbers. Daß bei der Bewertung der wissenschaftlichen Lei­ stungen seine Positionalität eine Rolle spielte, steht außer Zweifel, doch darin unterschied sich Hengstenberg in nichts von seinen Kollegen. Jede Richtung war überzeugt, daß ihre Art, Theologie zu betreiben, die richtige sei, und versuchte, die eigene Richtung zu verstärken. Hengstenberg hob sich lediglich dadurch hervor, daß er durch seine solitäre wissenschaftliche Stellung häufiger als seine Kollegen Bedenken gegenüber Bewerbern anmeldete. Keineswegs aber war er hier in einer Position, die es ihm erlaubt hätte, seinen Interessen mit Hilfe staatlicher Macht Erfolg zu verschaffen. Der Einfluß Hengstenbergs auf die personelle Zusammensetzung der Berliner Theologischen Fakultät ist also von vielen Zeitgenossen und Historikern maßlos überschätzt worden.608 Wie aber sah es außerhalb von Berlin aus? Konnte Hengstenberg seine Schüler und Parteigänger aufgrund seiner Verbindungen zum Minister vielleicht in anderen preußischen Universitäten unterbringen? 609 Dazu ist ein Blick auf die 606   Theologische Fakultät an den Minister, Berlin 25. Juni 1835: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 80, f.  104 f. (Das Votum Hengstenbergs: f.  105rv). 607   Hengstenberg in dem Fakultätsvotum vom 13. Okt. 1850: UA HU Berlin, Theolog. Fak. 166, f.  84r. 608   Zu dem Ergebnis kommt auch Wischmeyer, Theologiae Facultas, 316 für die Jahre 1850–1870. – Die Frage, ob Hengstenberg über Minister Raumer auf die Berufungen in anderen Fächern Einfluß nehmen konnte, kann hier nicht eingehend untersucht werden. Allerdings ist anzunehmen, daß, was über die theologische Fakultät gesagt wurde, im Blick auf andere Fakultäten noch in verstärkterem Maße gilt. Bekannt ist jedoch der Fall des Philosophen Kuno Fischer, der die Ablehnung seiner Habilitation in Berlin auf ein Gutachten Hengstenbergs zurückführte (vgl. Wischmeyer, Theologiae Facultas, 309, Anm.  122; Lenz, Geschichte 2/3, 290–291 – Lenz gibt für das Gerücht, Hengstenberg habe zunächst ein Gutachten über einen anderen Fischer erstellt, nur Fischer selbst als Quelle an). Es existiert in der Tat ein Schreiben, in dem Raumer, allerdings bereits nach der Ablehnung, die ihn offensichtlich in Begründungsnot gebracht hatte, Hengstenberg um Informationen über Fischer bat (s. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 494). Möglicherweise hatte ihm Hengstenberg auch schon zuvor die Ablehnung empfohlen. Erfolg hatte aber schließlich Bunsen, der sich beim König für Fischer einsetzte (Lenz, ebd., 291 f.). 609   Kramer, Lasson, 217 leitet aus Rengstorfs Ausführungen (vgl. Anm.  604) und den allgemeinen Bemerkungen Lenz’ (s.o. bei Anm.  544) die weitreichende These ab, Hengstenbergs Einfluß auf die Besetzung theologischer Lehrstühle „vor allem natürlich in Preußen, aber zum Teil auch in den übrigen deutschen Staaten, selbst im Ausland“ sei „kaum hoch genug einzuschätzen“. Für das Ausland kann er dabei lediglich auf den Hengstenbergschüler Caspari verweisen, dem Hengstenberg eine Empfehlung für seine Bewerbung in Christiania (vgl. oben 2.5.2) verfaßte.

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aus der Schule Hengstenbergs stammenden Alttestamentler, die es bis zum Ordinariat brachten, aufschlußreich: Hävernick, Keil, Caspari, Bachmann, F.W. Schultz und der junge Baumgarten. Lediglich Hävernick und Schultz gelangten auf ein Ordinariat in Preußen. 1841 wurde Hävernick nach Königsberg berufen. Dabei spielte der zur „Partei Hengstenberg“ gehörige Ernst Wilhelm Sartorius eine Vermittlerrolle.610 Durchgesetzt wurde die für alle Seiten unglückliche Besetzung aber im Alleingang von Eichhorn.611 Schultz wurde 1864 nach achtjährigem Extraordinariat schließlich ordentlicher Professor in Breslau; es ist jedoch schwer zu beurteilen, wie nahe er seinem Lehrer zu diesem Zeitpunkt noch stand.612 Die anderen genannten Schüler kamen außerhalb Preußens unter: Keil wurde – ebenfalls durch Sartorius vermittelt – Ordinarius in Dorpat.613 Caspari wollte Hengstenberg als Nachfolger Hävernicks für Königsberg gewinnen, der aber sah sich aufgrund seiner Vorbehalte gegen die Union dazu außerstande und wurde 1847 Professor in Christiania (Oslo).614 Bachmann gelangte 1858 auf ein Ordinariat in Rostock. Dessen Vorgänger Baumgarten wurde 1839, als er noch als Hengstenbergschüler galt, in Halle zunächst nicht einmal zur Habilitation zugelassen.615 Das alles spricht nicht dafür, daß Hengstenbergs Schüler in Preußen alle Türen offen gestanden hätten. Wie im Fall Hävernicks deutlich wird, sind es in der Regel auch immer mehrere Faktoren gewesen, die einem Hengstenbergschüler ein Ordinariat eröffneten.616 Außerhalb Preußens scheint Hengstenberg in Rostock einen gewissen Einfluß besessen zu haben. 1834 wurde Hävernick mit Hengstenbergs Empfehlung dorthin berufen. Auch Bachmann kam dort unter; Baumgarten ebenfalls, wenn auch ohne Hengstenbergs Placet. Ebenso in Hengstenbergs Sinne war 1851 die Berufung Philippis. Für die Zeit nach 1844 ist dabei aber weniger der Einfluß 610

  S. Ernst, Auferstehungsmorgen, 252.   Dafür holte Eichhorn Gutachten bei den theologischen Fakultäten in Bonn und Berlin ein. Das Berliner Gutachten vom 24. Jan. 1840 fiel verständlicherweise geteilt aus; Marheineke lehnte Hävernick kategorisch ab, vgl. dazu Ernst, Auferstehungsmorgen, 253–256. 612   Lenz, Geschichte 2/2, 280 f., Anm.  2 vermerkt, Schultz habe sich aus der Gefolgschaft Hengstenbergs zu befreien gesucht. Ausführlichere Studien zu Schultz liegen aber nicht vor. 613   Vgl. Siemens, Keil, 57–59. 614   Vgl. oben Anm.  608. 615   Vgl. oben 2.5.2. 616   Das zeigt sich auch am Beispiel Wuttkes, für dessen Berufung nach Halle man ebenfalls Hengstenbergs Einfluß geltend machen könnte. Wuttke stand in Berlin aber nicht nur in Kontakt mit Hengstenberg, sondern auch mit Stahl und E.L. v. Gerlach; mit Halle war er durch H. Leo verbunden. Darüber hinaus wurde „[s]ein großes Ansehen bei den protestantischen Konservativen [...] dadurch gefördert, daß er nach der Emeritierung des Vermittlungstheologen Carl Immanuel Nitzsch zeitweilig das Amt des Universitätspredigers [sc. in Berlin] innehatte“ (Graf, BBKL, 14, Sp.  210; dort auch die anderen Informationen). Wuttke war also, wie man heute sagen würde, schlicht gut vernetzt. Zudem muß man fragen, ob ihm die Kontakte zu den Konservativen 1860, als er – in der Neuen Ära – den Ruf nach Halle erhielt, überhaupt noch etwas nützten. – Zum Fall Delitzsch s.o. Anm.  605. 611

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Hengstenbergs als vielmehr derjenige Kliefoths in Anschlag zu bringen. Darüber hinaus versteht es sich von selbst, daß Hengstenberg im Blick auf Mecklenburg über keinerlei Machtmittel verfügte.617 Bleibt also noch die Frage nach Hengstenbergs Einfluß in der Kirche. Vor Gründung des Oberkirchenrates war die Abteilung für innerkirchliche Angelegenheiten im Kultusministerium zuständig. Bis 1839 war Nicolovius Direktor dieser Abteilung; von seiner eigenen Ausrichtung her stand er der Erweckungsbewegung aufgeschlossen gegenüber.618 Daß er aber besonders auf Hengstenberg gehört hätte, läßt sich nicht erkennen. Demgegenüber wurde gelegentlich auf die Verbindungen des Wittenberger Predigerseminardirektors Heubner und des Barons von Kottwitz zu Nicolovius hingewiesen; 619 doch auch hier liegen die Dinge nicht so einfach: Was Kottwitz angeht, hat Maser gezeigt, daß man seine Bedeutung lange überschätzt hat.620 Heubner hingegen wurde als derjenige, der ständig mit Nachwuchskräften zu tun hatte, nolens volens zu einer zentralen Gestalt der Personalpolitik.621 Auch steht außer Frage, daß Heubner Hengstenbergs Richtung nahestand. Dafür aber, daß Hengstenberg über Heubner auf das Ministerium Einfluß genommen hätte, gibt es keinerlei Belege.622 617   Daß Hengstenberg einen guten Draht nach Rostock hatte, belegt sein Briefwechsel mit Bachmann. Dieser holte in einem laufenden Bewerbungsverfahren für eine Geschichtsprofessur bei Hengstenberg Erkundigungen über einen Berliner Privatdozenten ein. Auf der anderen Seite empfahl Hengstenberg den Berliner Privatdozenten Adolf Lasson für eine Philosophieprofessur in Rostock (vgl. dazu die Materialien bei Kramer, Lasson). Allerdings ist dies kein Beleg dafür, daß Hengstenberg – auch noch in den 60er Jahren – besondere Möglichkeiten hatte, „auch ferner auf die Fakultätspolitik mancher Universitäten in seinem Sinne einzuwirken“ (wie Kramer, ebd., 217 meint). Denn abgesehen davon, daß Hengstenberg mit seinen „Interventionen“ scheiterte, gehörte diese Art von Informationsaustausch zum ganz normalen Gang von Berufungsverfahren. Bemerkenswert ist vielmehr, daß Hengstenberg auf Bachmanns Anfrage hin über den Geschichtsdozenten, den er nicht kennt, Erkundigungen bei Fachkollegen anderer Fakultäten, bei Adolf Trendelenburg und bei Moriz Haupt, einholt. Ebenso standen bei seinem Eintreten für den Philosophen Lasson dessen wissenschaftlichen Fähigkeiten im Vordergrund: Hengstenberg hatte ihn bei den Prüfungen kennengelernt und lobte seinen Scharfsinn und seine Lehrgabe. Daß er zudem „gläubiger Christ“ (Hengstenberg an Bachmann, Berlin 14. Febr. 1866: ebd., 219) war, spielte selbstverständlich auch eine Rolle. Doch Hengstenberg hätte dies für eine Empfehlung für eine Professur nie für ausreichend gehalten. 618   Vgl. zum Auf bau des Ministeriums Lüdicke, Kultusminister, 1–3 und zu Nicolovius Fischer, Nicolovius. 619   Bigler, Politics, 69 u.ö. 620   Maser, Kottwitz, 173; Bigler, Politics arbeitet fast nur mit Sekundärliteratur; u. a. schreibt er einfach Schnabels unbelegte bzw. falsche Behauptungen (s.o. Anm.  541) ab; daneben schöpft er kräftig aus Hausraths polemischer Rothebiographie; viele Informationen zu einzelnen Protagonisten des seiner Ansicht nach politisch protegierten ‚Pietismus‘ sind fehlerhaft; andere Befunde werden für seine Hauptthese zurechtgestutzt. 621   S. Dibelius, Predigerseminar, 74–76. 622   Dibelius, der offenbar noch Zugriff auf Heubners Korrespondenz hatte, zählt (ebd., 75) Heubners wichtigste Korrespondenzpartner aus Kirche und Politik auf; Hengstenberg ist nicht darunter. Wie bereits erwähnt, war auch Heubners Mitarbeit in der EKZ hauptsächlich nomineller Art, vgl. oben Anm.  522.

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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1839 übernahm der spätere Kultusminister Ladenberg die kirchlichen Angelegenheiten; eine enge Verbindung zu Hengstenberg wird man ihm kaum unterstellen dürfen. Besonderes Augenmerk verdienen jedoch die Jahre nach Gründung des Evangelischen Oberkirchenrates am 29. Juni 1850, in den die Abteilung für innere evangelische Kirchensachen schließlich überführt wurde. Zu den 1852 neu berufenen Mitgliedern dieser Behörde gehörte auch Stahl.623 Damit dürften die Einflußmöglichkeiten Hengstenbergs auf die Gestaltung der kirchlichen Angelegenheiten gestiegen sein. Allerdings ist diese Möglichkeit mehr theoretischer Art, denn faktisch stellte sich heraus, daß sich Stahl innerhalb des Oberkirchenrates – insbesondere mit seinen Herzensthemen Union und Konfession – kaum durchsetzen konnte.624 Nachdem Stahl bereits mehrmals seinen Rücktritt angeboten hatte, wurde er 1858 vom Prinzregenten entlassen; bereits seit 1857 hatte seine Mitgliedschaft geruht.625 Wie in der Fakultät waren es auch im Oberkirchenrat schließlich die der Vermittlungstheologie nahestehenden, unionsfreundlichen Theologen, die in der Jahrhundertmitte und danach zunehmend den Ton angaben.626 Festhalten läßt sich demnach nur soviel: Mitte der 50er Jahre hatte Hengstenberg sowohl zum Kultusminister Karl Otto von Raumer als auch zu einem Mitglied des Oberkirchenrates, Friedrich Julius Stahl, engste Verbindungen. Die Darstellungen, die Hengstenbergs Einfluß ins Unermeßliche steigern, dürften von der personellen Konstellation dieser Jahre bestimmt sein, ohne danach zu fragen, welche Interessen Hengstenberg auf diesem Wege tatsächlich durchsetzen konnte.627 Dazu kommt, daß man in dieser Zeit auch faktisch Wirkungen der Machtposition Hengstenbergs ausmachen zu können glaubte. In den 40er 623   S. Nabrings, Stahl, 138 f. Die Mitglieder standen dem Oberkirchenrat schon ab 1850, also vor der offiziellen Bestallung, beratend zur Seite, vgl. Loock, Kirche, 469. 624   Nabrings, Stahl, 141 urteilt aufgrund der Aktenlage: „Ein Urteil über die Tätigkeit Stahls im EOK ist mit wenigen Worten zu geben. Es scheint ihm nicht gelungen zu sein, in diesem Gremium Einfluß zu gewinnen.“ Vgl. Neuser, Union, 36. 625   Nabrings, Stahl, 140–142. 626   Vgl. zur Zusammensetzung des ersten Oberkirchenrates Loock, Kirche, 469; 1853 klagt Stahl darüber, daß „er bei allen auf die Konfession sich beziehenden Abstimmungen im E[vangelischen] O[ber]K[irchenrat] in der Minorität gewesen sei“ (Nabrings, Stahl, 140). Die Behauptung Nachtigalls (Dies., Kirchenunion, 154), die lutherischen Konfessionalisten hätten den größten Einfluß im Oberkirchenrat gehabt, ist nicht zu halten. Strauß, von Mühler und Twesten kann man trotz ihres lutherischen Bekenntnisses nicht als Konfessionalisten bezeichnen; sie standen zur Union, wenn auch in der von der Kabintettsordre von 1834 beschriebenen Gestalt (vgl. ebd., 414). Von den vier Genannten, die ohnehin noch keine Mehrheit darstellten, bleibt also nur Stahl, der allerdings zu der Zeit, auf die es Nachtigall ankommt, noch gar nicht in den Oberkirchenrat berufen worden war (vgl. Neuser, Union, 36 und Nachtigall, Kirchenunion, 160). 627   Schwarz veröffentlicht die erste Auflage seiner Theologiegeschichte im Jahr 1854 – sie enstand also, kurz nachdem Raumer und Stahl ihre Ämter übernommen hatten. Schwarz gab die Schuld an seinen eigenen akademischen Mißerfolgen zunächst Tholuck und schließlich Kultusminister von Raumer (vgl. Voigt, Schwarz, 88–90).

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4  Hengstenberg und die Politik

und 50er Jahren waren in der Tat immer mehr kirchenleitende Ämter von Männern besetzt worden, die aus der Erweckungsbewegung stammten bzw. der konservativen Richtung angehörten oder ihr nahestanden. In einzelnen Fällen war bekannt, daß sich Hengstenberg für ihre Verwendung stark gemacht hatte.628 Da Hengstenberg in der EKZ Jahr für Jahr betonte, wie wichtig es sei, daß die Konsistorien mit Vertretern der ‚kirchlichen‘ Richtung besetzt würden, und jede Besetzung in diesem Sinne mit Genugtuung bekannt­gab,629 lag es nur nahe, Hengstenberg für die positionelle Ausrichtung der Gremien verantworlich zu machen. Dazu kam, daß sich Hengstenberg durch persönliche Kontakte und inhaltliche Übereinstimmung tatsächlich mit Vertretern der Konsistorien einzelner Provinzen verbunden wußte.630 Die kirchliche Bedeutung der Provinzialkonsistorien hatte aber 1845 insofern zugenommen, als sie von den Provinzialregierungen gelöst worden waren; nun waren nicht mehr automatisch die Oberpräsidenten der Provinz die Vorsitzenden der Konsistorien, sondern eigene Konsistorialpräsidenten.631 Die Besetzung der Konsistorialstellen wurde damit umso mehr zum Kennzeichen für die theologischen Kräfteverhältnisse innerhalb der Kirche.632 Schließlich scheint die Sorge der Gegner Hengstenbergs aber noch von etwas anderem motiviert zu sein: Es konnte ihnen nicht entgehen, daß Hengstenbergs Ansichten in den 50er Jahren in der Pfarrerschaft auf immer fruchtbareren Boden fielen.633 Wie die positionelle Ausrichtung der preußischen Pfarrerschaft in den 40er und 50er Jahren und das Kräfteverhältnis der verschiedenen Richtungen zahlenmäßig aussah, ist schwer zu sagen, da es keine präzisen Untersuchungen gibt. Aber die Pfarrkonferenzen, Kirchentage, lutherischen Vereine, dazu die Initiativen der Inneren Mission weisen auf eine Stärkung der konservativen Richtung hin. Die Evangelische Kirchenzeitung wurde nun aber als das 628

  Vgl. z. B. zu Sartorius oben Anm.  528.   Im Vorwort, EKZ 46 (1850), Sp.  44 lobt Hengstenberg das sächsische Konsistorium dafür, daß dort die alten bürokratischen Kräfte schon weitgehend durch frische ‚kirchliche‘ Kräfte ausgetauscht worden seien; schon 1843 berichtet Hengstenberg allgemein über die Besserungen in der Kirche und die Zunahme der ‚kirchlichen‘ Kräfte (Vorwort 32 [1843], Sp.  1–5). 630   Die Unterschiede in den einzelnen Provinzen waren dabei allerdings erheblich. In Hengstenbergs Sinne wirkten z. B. die Generalsuperintendenten Sartorius (Preußen), Hahn und dessen Nachfolger Erdmann (Schlesien), Möller und dessen Nachfolger Lehnerdt (Sachsen), Carl Büchsel (Brandenburg: Neumark und Niederlausitz); unter den Leitern der Konsistorien sind vor allem Anton Graf zu Stolberg Wernigerode und Karl Friedrich Göschel (Sachsen) zu nennen; eine Übersicht über alle Generalsuperintendenten und Leiter der Konsistorien und ihre Amtszeiten findet sich in: Goeters / Rogge, Geschichte 1, 419–423 und 2, 499–504. 631   Vgl. Huber / Huber, Dokumente, 609–612 und oben 3.5.3. 632   E.L. v. Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  271 nennt als ein Zeichen für die kirchlichen Parteien, daß sie sich gegenseitig aus den Leitungsämtern zu verdrängen suchen. 633   Als Hinweis dafür kann auch gewertet werden, daß in den 50er Jahren viele Aufsätze Hengstenbergs aus der EKZ als Separatdrucke erschienen (vgl. Literaturverzeichnis 1.2). 629

4.4  Die „Partei Hengstenberg“ und ihr Einfluß

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zentrale Organ dieser Richtung wahrgenommen. So ist es nur selbstverständlich, daß man die Zunahme der konservativen Kräfte, die vielerlei Ursachen hatte, auf den Herausgeber der Kirchenzeitung projizierte: 634 Je stärker die konservativen Kräfte in der Kirche wurden, umso mehr wurde Hengstenbergs Einfluß betont.635 Damit soll nicht gesagt sein, daß Hengstenbergs Einfluß gering gewesen wäre. Seine Korrespondenz zeigt, daß er vielfach um Rat gefragt und mit allerlei Bitten überhäuft wurde.636 Insbesondere was die Vergabe von Pfarrstellen anging, trauten ihm viele Mitsprachemöglichkeiten zu. Inwiefern er zu solcher Hilfestellung wirklich in der Lage war, wem er tatsächlich helfen konnte und mit welchen Mitteln er es tat, ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen.637 Es ist nicht verwunderlich, daß man ihm, der als Herausgeber einer einflußreichen Zeitung im Zentrum Preußens tätig war und Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten pflegte, große Einflußmöglichkeiten zutraute. Ebensowenig überrascht es, daß, je mehr von seiner Bedeutung die Rede war, sein Wort auch tatsächlich Gewicht erhielt. Man wird hier einen gewissen Selbstläufereffekt in Rechnung stellen dürfen. Entscheidend ist jedoch: Hengstenberg hat den Resonanzboden, der seinem Wort und Wirken Gehör verschaffte, nicht erst selbst hergestellt. Er verkörperte an exponierter Stelle eine breite Strömung.638 Darum hörte man auf ihn. 634

  Bereits 1846 geht Hengstenberg auf die Frage ein, warum gerade die EKZ zur Zielscheibe zahlreicher Angriffe wird, obwohl „jetzt neben ihr eine ganze Anzahl von Blättern, gewiß in ganz Deutschland zwischen funfzig und hundert, die gleiche Tendenz“ verfolge (Vorwort, EKZ 38 [1846], Sp.  5 f.). 635   Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Entwicklung Anfang der 40er Jahre mit dem Regierungswechsel; nicht zufällig führten die Lichtfreunde in ihrer Furcht vor einem konservativen Kirchenregiment einen Stellvertreterkrieg gegen die Partei der EKZ (vgl. oben 2.2.3). 636   Eine kleine Zusammenstellung von solchen, z.T. skurrilen Bitten aus dem Nl Hengstenberg bietet Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 490 f. 637   Anlaß zu Zweifeln an Hengstenbergs Einfluß auf die Pfarrstellenvergabe gibt die glaubhaft überlieferte Nachricht, daß Hengstenbergs ältester, früh verstorbener Sohn Immanuel als Pastor in Jüterbog „in einem elenden Pfarrhause wohnte und bei einem Einkommen von 400 Thaler eine Gemeinde von 4000 Seelen zu versorgen hatte“ (Koenig, Hengstenbergs Leben, 743). 638   Ebs. Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 501: „Der Name Hengstenberg stand für eine ganze Richtung, wie aber auch er selbst und sein Name durch diese Richtung erst zu ihrer Bedeutung gelangt waren.“ – Die Richtung hatte ihre Wurzeln in der Erweckungsbewegung; allerdings sei noch einmal wiederholt, daß Hengstenbergs Hinwendung zur Kirche als Institution, sein Eintreten für den christlichen Staat und sein Bekenntnis zum Luthertum ihm viele alte Freunde, teils aus den Anfängen der Berliner Zeit, teils aus den früheren Zeiten, insbesondere solche, die Tholuck oder Neander näher standen, entfremdete. S. neben den Ausführungen zu den gerade Erwähnten (o. 1.3 und 2.1.1) noch die aufschlußreichen Briefe seines reformierten Studienfreundes W. Keetmann (vgl. Nl Hengstenberg, Mappe Keetmann, Wilhelm und Bonwetsch, Briefe 1, 154–156, der aber oft die schärfsten Stellen aus den Briefen weggekürzt hat) oder des Judenmissionars H. Ball (v. a. Ball an Hengstenberg, 22. Dez. 1856: Kriege, Kirchen-Zeitung 1, 505 f., Anm.  3).

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4  Hengstenberg und die Politik

Den größten Einfluß hat Hengstenberg darum auch nicht über seine persönlichen Kontakte oder seine vermeintlichen Beziehungen zu einflußreichen Persönlichkeiten, sondern über sein Publikationsorgan ausgeübt.639 Er war Theologe, er war ein Mann des geschriebenen Wortes. Hengstenbergs Stellung war darum in einzigartiger Weise mit dem schon früh von ihm in seinen Möglichkeiten erkannten und souverän gehandhabten Medium der Presse verbunden.640 Die Einflußnahme auf die öffentliche Meinung war sein Ziel, und dieses Ziel hat er wie kaum ein anderer erreicht. Die Gegner aber konnten sich den Erfolg, den die Hengstenbergsche Richtung hatte, nur so erklären, daß sie ihn nicht dem Einsatz des – von ihnen ebenfalls genutzten – modernen Mediums, sondern politischen Machtmittel zuschrieben. Als im Vormärz die Politisierung kirchlicher Fragen ihren Höhepunkt erreichte und in den Erklärungen des Jahres 1845 die Gefährlichkeit der Partei Hengstenberg beschworen wurde, schrieb ein unbefangener Beobachter: „Es verräth kein großes Zeichen männlicher Tapferkeit, wenn man so viel klagen hört über die Herrschsucht von Männern, deren einzige Macht in ihrer Feder ruht.“641 Diese Feststellung ist auch für die Zeit nach 1848 nicht überholt.

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  Vgl. zur Verbreitung der EKZ Kriege, Kirchen-Zeitung, 49.482–486 – genaue Auflagenzahlen lassen sich nicht mehr ermitteln, besagen aber auch wenig, da die EKZ nachweislich häufig in Lesezirkeln oder in öffentliche Lokalen gelesen wurde. 640   Deshalb war es nur äußerlich zutreffend, wenn Hengstenberg 1845 betonte, er habe immer noch genau dieselbe Stellung inne wie vor 17 Jahren, als er Ordinarius wurde, vgl. Hengstenberg, Erklärung vom 15. August, in: EKZ 37 (1845), Sp.  787. 641   Erbkam, Beleuchtung, 59.

Schluß Ernst Wilhelm Hengstenberg, seine theologische Prägung, die Kontexte seines Wirkens, seine Beiträge zur Theologie, zu Fragen der Kirchengestaltung sowie zur Politik wurden in den vier Teilen dieser Arbeit untersucht. Am Schluß soll nun eine Bündelung stehen, in der die verschiedenen Perspektiven auf Heng­ stenbergs Denken und Wirken zusammengeführt werden. Es bietet sich an, diese Bündelung so anzulegen, daß sie zugleich über zwei Darstellungsgesichtspunkte Rechenschaft ablegt, die von Anfang an leitend waren, deren explizite Begründung aber noch aussteht: Die Rede ist erstens vom Auf bau (1.) und zweitens vom Untertitel dieser Arbeit (2.). 1.  Die vier Themenkomplexe der Untersuchung – Erweckungsbewegung, Theologie, Kirche, Politik – wurden zunächst schlicht gewählt, um einen zusammenhängenden Überblick über vier zentrale Felder zu bieten, auf denen sich Hengstenberg bewegte. Rückblickend wird aber deutlich, daß die Bereiche in einem inneren Zusammenhang stehen und daß die gewählte Abfolge der Themen keineswegs eine rein zufällige Anordnung bietet. Die Reihenfolge weist nämlich auf den Stellenwert hin, den das jeweilige Thema in Hengstenbergs geistiger Welt einnimmt. 1.1  Am Anfang steht die Verwurzelung in der Erweckungsbewegung. Heng­ stenberg hat die zentralen Impulse nicht nur für seine Frömmigkeit, sondern gerade auch für sein theologisches Denken im Umfeld der Erweckungsbewegung erhalten. In Auseinandersetzung mit Neander und Tholuck formte sich sein Zugang zur Theologie und ihren Quellen. Dabei spielte eine wichtige Rolle, daß Hengstenberg selbst diejenige Erfahrung gemacht zu haben glaubte, die von den Theologen der Erweckungsbewegung propagiert und theologisch expliziert wurde, mit Hengstenbergs Worten: Er hatte die Wahrheit der Schrift an sich selbst erfahren. Das ist der Grund, warum der Berliner Alttestamentler zeitlebens Bibeltheologe geblieben ist. Daß der Glaube und darum auch die Theologie allein von der heiligen Schrift auszugehen hätten, stand für ihn immer fest. Damit ging er aber zugleich einen Schritt über die Erweckungstheologie Tholuckscher Prägung hinaus. Stärker als Tholuck, der in seinem theologischen Erstlingswerk, der Sündenlehre, um das rechte Zusammenspiel von Schrift, Erfahrung und Vernunft rang, betonte Hengstenberg, daß die Schrift

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als objektive Norm der Ausgangspunkt des theologischen Denkens sein müsse. Die Erfahrungskomponente rückte damit ins zweite Glied. So entstand ein eigener Typus von Erweckungstheologie, der, was den Umgang mit der Schrift anging, bewußt an die Reformatoren und die Prinzipienlehre der altprotestantischen Orthodoxie anzuknüpfen versuchte. Damit tritt ein weiterer Aspekt hervor: Die Eindrücke und Anregungen, die Hengstenberg aus der Erweckungsbewegung empfing, bestimmten zugleich sein Bild von der Geschichte und vom Wesen der evangelischen Kirche. Das ‚Erwachen des christlichen Lebens in der Zeit nach den Befreiungskriegen‘, wie er die neue religiöse Bewegung stereotyp nannte, interpretierte er als Revitalisierung des reformatorischen Erbes. Neben dem Wiedererstarken des Schriftprinzips identifizierte er reformatorische Erkenntnis vor allem in der Wiederentdeckung der Radikalität der Sünde und in der Konzentration auf das Heilswerk Christi. Wie viele seiner Zeitgenossen erkannte er das spezifisch Protestantische daher in zwei Prinzipien: im Schriftprinzip und in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben. Daß die beiden Prinzipien im 19. Jahrhundert von Vertretern der unterschiedlichsten theologischen Richtungen vertreten wurde, zeigt freilich, daß es jeweils auf ihre konkrete Füllung ankam. Hengstenberg konzentrierte sich vor allem auf den ersten Aspekt: Er versuchte, mit dem Schriftprinzip einen objektiven Ausgangspunkt zu fixieren und der durch die Auf klärung heraufgeführten Konzentration auf den Menschen und auf die menschliche Selbsterfahrung einen Gegenpol entgegenzustellen. Hier liegt der Ausgangspunkt seiner theologischen Arbeit. Bevor darauf eingegangen wird, ist jedoch noch ein weiterer Aspekt anzuführen, der mit Hengstenbergs Auffassung von der Erweckungsbewegung zusammenhängt. Die religiöse Bewegung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte nach seinem Verständnis das wahrhaft christliche Leben wiederbelebt, das sich auch schon früher in der Geschichte der Kirche immer wieder zu besonderen Zeiten Bahn gebrochen hatte: zunächst selbstverständlich im Urchristentum, dann aber vor allem wieder in der Zeit der Reformatoren. Insofern war die Erweckungsbewegung für Hengstenberg niemals nur eine bestimmte Richtung innerhalb der Kirche, sondern er verstand sie von Anfang an als die legitime Erbin der Reformation und die Vertreterin der einen Kirche Jesu Christi. Diese Zu­sam­menschau gründete wiederum in seiner eigenen Erfahrung: Nicht nur die Wahrheit der Schrift war ihm in der Beschäftigung mit der erweckten Theologie aufgegangen, sondern auch die – damit überein­stim­mende – Wahrheit der kirchlichen Bekenntnisse, sowohl der altkirchlichen Be­kennt­nisse als auch der Bekenntnisschriften aus der Reformationszeit. Hengstenberg ging auch in dieser Hinsicht von Anfang an einen Schritt über Tholuck und Neander hinaus. Mochten sein Verständnis der Kirche und seine Bindung an ein bestimmtes Bekenntnis zunächst noch so ungeklärt gewesen sein, fest stand ihm,

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daß es eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Schrift, kirchlicher Lehre und der eigenen Glaubenserfahrung geben müsse. Die Glaubenserfahrung der Erweckten und die Auseinandersetzung mit der Er­weckungstheologie führten bei Hengstenberg also dazu, daß bereits früh drei Faktoren sein Denken bestimmten: Schrift, Bekenntnis, Erfahrung. Es muß nicht lange ausgeführt werden, daß Hengstenberg damit im 19. Jahrhundert nicht alleine dastand. Von Schleiermacher bis zu den Erlanger Theologen wurde das Zusammenspiel der drei Faktoren in den unterschiedlichsten theologischen Entwürfen problematisiert und verschiedenen Lösungen zugeführt. Gerade in diesem Kontext aber läßt sich das Charakteristische von Hengstenbergs Position erkennen. Er widmete seine theologische Arbeit nämlich vor allem dem ersten Aspekt, der Auslegung der Schrift. Im Unterschied zu Schleiermacher, aber auch im Unterschied zu Tholuck, von Hofmann, Frank und anderen hat er sich nie intensiv mit den Grundfragen und philosophischen Hintergründen einer Erfahrungstheologie auseinandergesetzt. Wenn bei Hengstenberg von Erfahrung die Rede ist, dann in einem ganz vorwissenschaftlichen Sinne. Im Unterschied zu den – im strengen Sinne – lutherischen Theologen in Leipzig (v. a. Kahnis) und Erlangen hat sich Hengstenberg aber auch nie um die Aktualisierung der Bekenntnisinhalte bemüht. Zwar hat er sich mit Fragen der Bekenntnishermeneutik beschäftigt, aber eine systematisch-theologische Entfaltung der Bekenntnisaussagen in die Gegenwart hinein und in Auseinandersetzung mit der modernen Welt- und Selbsterfahrung hat er nicht geleistet; es kann sogar der Eindruck entstehen, daß er solche Unternehmungen auch gar nicht für notwendig erachtete, weil er damit rechnete, daß sich die Bekenntniswahrheiten von selbst Anerkennung verschaffen würden. Ein eindeutiges Urteil läßt sich darüber aber nicht fällen, was nicht zuletzt damit zu tun hat, daß die Dogmatik nicht Hengstenbergs eigentliches Aufgabenfeld war. Hengstenberg war kein systematischer Theologe, und er machte keinen Hehl daraus, daß in diesem Bereich nicht seine Stärke lag. Wenn es um dogmatische Entwürfe ging, hielt er sich im wesentlichen an Sartorius, Philippi und später an Wuttke. Das erklärt, aber entschuldigt nicht, warum er an zeitgenössische systematisch-theologische Arbeiten mit einer gewissen hermeneutischen Naivität her­anging. 1.2  Hengstenbergs Verwurzelung in der Erweckungsbewegung prägte dauerhaft seine Theologie. Damit entfaltet sich der zweite Themenkomplex wie von selbst aus dem ersten. Sein Grundinteresse ging dahin, der im Glauben erfahrenen Wahrheit der Schrift auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Theologie neu zur Anerkennung zu verhelfen. In gewissem Sinne verstand er dabei Schleiermacher als richtungsweisend. Auch Schleiermacher hatte nach Heng­ stenbergs Ansicht eine der neu auf brechenden Religiosität entsprechende The

  Vgl. zu den Erlanger Theologen Hein, Bekenntnis; Slenczka Glaube, bes. 15–31.

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ologie entworfen. Allerdings war Schleiermacher in Hengstenbergs Augen dabei nicht weit genug gegangen: Beim Erstarken der Kirchlichkeit und des christlichen Lebens habe er sich genötigt gesehen, wiederum auf die Seite der Rationalisten zu treten. Hengstenberg hielt nun aber die Zeit für gekommen, in der man sich, ohne Konzessionen an die Gebildeten unter den Verächtern des Christentums machen zu müssen, wieder der ganzen Schriftwahrheit zuwenden könne. Daß die Schrift objektive Wahrheit bietet, muß man nach Hengstenbergs Verständnis dem Glaubenden nicht beweisen. Deshalb war er auch selbst von der Wahrheit der Schrift, wie sie sich ihm eröffnet hatte, schon überzeugt, bevor er seine wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Feld der Exegese aufnahm. Daß die Schrift der Erfahrung und dem subjektiven Erleben voran-, ja entgegengestellt werden müsse und so eine feste Basis für den Glauben und die Theologie bilde, stand für ihn fest. Seine Schriftforschung sollte daher zweierlei leisten: Auf der einen Seite sollte die objektive Wahrheit auf dem Feld der Wissenschaft, und das hieß letztlich: auf dem Feld der Geschichte verteidigt werden. Dadurch, daß er durchweg geschichtlich dachte und Wahrheit auf dem Feld der Geschichte zu erweisen suchte, gibt sich Hengstenberg als Kind seiner Zeit zu erkennen. Sein Bemühen, mit den herkömmlichen Mitteln historischer Forschung das Konzept einer heiligen Geschichte zu verteidigen, mußte allerdings auf die Quadratur des Kreises hinauslaufen. Auf der anderen Seite wollte Hengstenberg die objektive Wahrheit der Schrift mit Hilfe der Auslegung plausibel machen. Die Wahrheit der Schrift zeige sich nämlich nicht zuletzt in der – aufweisbaren – Einheit der Schrift. Der Erweis der Einheit der Schrift muß nach Hengstenbergs Ansicht nun aber auf dem Wege philologisch-historischer Kleinarbeit und vernünftigen Argumentierens erbracht werden. In dieser Hinsicht stand Heng­ stenberg den kritischen Exegeten näher, als seine Prinzipien es zugaben. Infolgedessen brachte seine Forschung keineswegs nur traditionelle Ergebnisse hervor. Was die Anknüpfung an die Tradition angeht, ist vielmehr ein Doppeltes kennzeichnend: Einerseits ist es zweifellos ein Charakteristikum der exegetischen Werke Hengstenbergs, daß er wie kaum einer seiner Zeitgenossen die Exegese der ‚Alten‘ wieder ins Bewußtsein gebracht hat. Unter diesem Aspekt sollen seine Kommentare, wie verschiedentlich zu lesen ist, auch anderen Forschern als Steinbruch gedient haben. Es ist jedoch kein Zufall, daß Hengstenberg insbesondere diejenigen älteren Schriftausleger bevorzugte, die – in der Zeit der Frühauf klärung – bereits mit der geschichtlichen Fragestellung konfrontiert waren, vor allem Vitringa und Bengel. Denn – andererseits – hatte Hengstenbergs Schriftauslegung eine ganz andere Gestalt als diejenige des Zeitalters vor der Auf klärung. Die geschichtliche Frage ist durchweg präsent. Die Bibel ist ihm keine flache Ebene, die es zulassen würde, verschiedene Schriftaussagen gleichsam im Überblick einzelnen loci zuzuordnen, sie ist ihm vielmehr ein tief zerklüftetes und vielgestaltiges Gebirge, das mühsam abzuschrei-

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ten und abzumessen ist: Dabei muß man in die Tiefen der Geschichte hinabsteigen und die unterschiedlichen Formen der literarischen Gestaltung beherrschen. Hengstenberg nutzte daher den ganzen gelehrten Apparat, der seinerzeit zur Verfügung stand – wenn auch auf sehr eigene Weise. Geschichtliche Forschung und das Festhalten an der Einheit der Schrift – beides zusammen bestimmte seine exegetische Arbeit. In diesem doppelten Anliegen sah er aber auch den hauptsächlichen Gegensatz zu den Arbeiten der historischen Kritik, die er, was ihre Grundhaltung anging, pauschal ablehnte, doch in der konkreten Arbeit am Text reichlich rezipierte. Selbstverständlich war sich Hengstenberg bewußt, daß die Subjektivitätsproblematik durch die bloße Berufung auf Schrift und auf Offenbarung nicht erledigt war. In seinen frühen Arbeiten suchte er daher zu erweisen, daß die biblischen Schriften zwar einerseits durch die Individualität ihrer Autoren und deren Zeit geprägt sind, daß sie dem Bewußtsein der biblischen Schriftsteller aber andererseits auf übernatürliche Weise eingegeben wurden. Vor diesem Hintergrund sind seine Aussagen über die Inspiration der Schrift zu verstehen. Die Schrift ist für Hengstenberg nicht nur Zeugnis von der Offenbarung, sondern selbst Produkt der Offenbarungswirklichkeit, und deshalb lehnt er die Unterscheidung von Schrift und Wort Gottes strikt ab. Ebensowenig blieb Hengstenberg verborgen, daß nicht nur beim Offenbarungs­em­pfang, sondern auch bei der Auslegung der Schrift immer die Subjektivität, nämlich diejenige des Auslegers, beteiligt ist. Eine überzeugende Lösung für das damit gestellte Problem hatte er allerdings nicht. Der historische Zugang erschien ihm nur bedingt tauglich, hier Abhilfe zu schaffen, da er die historische Vernunft als von der Willensausrichtung des Subjekts abhängig betrachtete. Unverzichtbar erschien es ihm daher, daß sich der Ausleger der Schrift mit grundsätzlichem Einverständnis nähere und mit den Grundwahrheiten der Schrift übereinstimme, kurz: daß der Ausleger selbst Glaubender sei. Freilich befand sich Hengstenberg damit im hermeneutischen Zirkel, denn andererseits sollte sich gerade auch der Glaubende, der ja für die Sünde anfällig blieb, von der Schrift korrigieren lassen. Woher sollte der Glaubende aber gewiß sein, daß er im Grundsätzlichen tatsächlich mit der Schrift und nicht nur mit seinen eigenen Vorstellungen von der Schrift übereinstimmte? Hengstenberg hat diese Fragen nicht prinzipell erörtert. Hier zeigt sich einmal mehr ein hermeneutisches Defizit. Darüber hinaus wird daran deutlich, daß seine Auslegungsmethode mit seinen hohen Prinzipien nicht mithalten konnte. Allerdings dürfte ihm an dieser Stelle wiederum seine Vorliebe für die Auslegungstradition zu Hilfe gekommen sein. Als subjektive Selbsttäuschung müßte dem Glaubenden seine Auffassung von den Grundlehren der Schrift nämlich dann erscheinen, wenn nur er alleine sie verteten würde. Insofern er aber wahrnehmen konnte, daß sein Schriftverständnis nicht nur mit vielen anderen Auslegern, sondern vor allem auch mit den Grundlehren seiner Kirche im

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wesentlichen übereinstimmte, war die Gefahr des subjektivistischen Mißverständnisses gebannt. Die kirchliche Lehre oder das kirchliche Bekenntnis erhielten somit eine hermeneutische Funktion; die Auslegung selbst dürfen sie nach Hengstenbergs Verständnis allerdings nicht regulieren. Hengstenbergs theologische Hauptwerke sind in der deutschen alttestamentlichen Forschung ein Fremdkörper geblieben. Gleichwohl sollte man nicht die Impulse übersehen, die von ihnen ausgegangen sind. In ihrem Gefolge hat die theologische Auslegung des Alten Testaments einen neuen Aufschwung genommen. Die Auffassung von der Einheit des Alten und Neuen Testaments und die Unverzichtbarkeit des Alten Testaments für den christlichen Glauben hat sich im 19. Jahrhundert wieder weitgehend durchgesetzt. Darüber hinaus hat Hengstenberg – gemeinsam mit Tholuck und anderen – das Interesse an der kirchlichen Auslegungstradition neu befördert. Nicht zuletzt aber hat seine Auffassung von der Theologie als eigenständiger Wissenschaft, die nur ihren Quellen verpflichtet ist, zum Selbstbewußtsein der theologischen Disziplin beigetragen. Ihren Nutzen für die Allgemeinheit und ihre Verankerung an staatlichen Universitäten konnte er gleichwohl plausibel vertreten, weil und solange des Christentum in besonderer Weise mit der Kultur und dem Staat verbunden war. 1.3  Betrachtet man Hengstenbergs exegetisches Werk im Überblick, dann ergibt sich das Bild eines in der kirchlichen Tradition verwurzelten und dennoch in erster Linie dem Bibeltext verpflichteten Schriftforschers. Die Bezeichnung „konfessionell“ drängt sich hingegen in keiner Weise auf. Es hat insofern klare sachliche Gründe, daß sich Hengstenberg mit der Kirche und dem kirchlichen Bekenntnis erst intensiver beschäftigte, als er sich über seine exegetischen Prinzipien bereits im klaren war. Sein Weg führte von der individuellen Glaubenserfahrung des Erweckten über die Einsicht von der Einbettung der Glaubenserfahrung in die kirchliche Gemeinschaft hin zur Identifikation mit einer spezifischen, nämlich der lutherischen Kirche. Das Bewußtsein kirchlicher Identität führte bei Hengstenberg aber nicht zu konfessioneller Abschottung, im Gegenteil: Die Hochschätzung der eigenen Konfession verband sich von Anfang an mit dem Bewußtsein einer grundlegenden Gemeinsamkeit aller christlichen Konfessionen, von der trotz aller benennbarer Unterschiede auszugehen sei. Stärker als die konfessionellen Gräben wurde der Graben zwischen Glaube und Unglaube empfunden, den Hengstenberg in der Kirche seiner Zeit diagnostizierte. Kirchliches Leben gab es für Hengstenberg gleichwohl immer nur in einer konkreten, historisch gewachsenen Kirchlichkeit mit historisch gegebenem Bekenntnis. Darum bekämpfte er alles, was die Auflösung konfessioneller Kirchlichkeit zugunsten neuer, ‚unhistorischer‘ Kirchenformen bedeuten könnte als ersten Schritt auf dem Weg zur Auflösung der Kirche. Zu seinem Verständnis von der konfessionellen Identität der Kirche fand Hengsten-

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berg durch Be­obachtung der kirchlichen Entwicklung. Er verstand die Rückkehr zur kirchlichen Eigenart als Konsequenz aus dem neu erwachten christlichen Leben. Insofern war es für ihn selbstverständlich, daß sich die Kirche für die neuen Impulse der Erweckungsbewegung öffnen und ihre Verfassung so gestalten müsse, daß sie in ihr Eingang fänden. Umgekehrt trat er für eine Verkirchlichung der Erweckungsbewegung ein. Seinem Selbstverständnis nach bedeutete dies keine Ablösung der Erweckungsbewegung durch die neue Kirchlichkeit, sondern gerade umgekehrt, eine Ausbreitung und Verstetigung des erwecklichen Grundimpulses. Henstenberg wurde so zum Repräsentanten der erweckten Kirchlichkeit oder der verkirchlichten Erweckungsbewegung. Er blieb auch als überzeugter Lutheraner ein erweckter Christ. So ist das von Büchsel überlieferte und oft zitierte Wort zu verstehen, das Hengstenberg kurz vor seinem Tod geäußert haben soll: „Gott bewahre unsre Kirche vor einer Orthodoxie ohne Pietismus und ebenso: Gott bewahre uns vor Pietismus ohne Orthodoxie.“ Hengstenbergs Interesse an der Kirche als Institution und an der kirchlichen Verfassung waren ursprünglich gering. Am Anfang stand auch hier das spezifische Verständnis der Erweckungsbewegung als Wiederbelebung des reformatorischen Christentums und die Bemühungen um eine der Erweckungserfahrung entsprechenden Lehre. Die Auffassung von der Übereinstimmung der als wahr erkannten biblischen Lehre mit der Lehre der Bekenntnisschriften führte ihn dann zu der Kirche, die sich in der Bindung an eben diese Lehre zu erkennen gab. Der Zugang zur Kirche führte also über die Lehre. Dem­entsprechend vertrat Hengstenberg auch immer die Ansicht, daß, wenn man von der Schriftgemäßheit des kirchlichen Bekenntnisses in wesentlichen Teilen nicht überzeugt sei, man auch nicht mehr Glied dieser Kirche sein könne. Hier mußte sich der Vorrang der Schrift vor der Kirche bewähren. Andererseits sorgte Heng­ stenbergs Theorie von der Gel­tung und Wirkung des Bekenntnisses dafür, daß die Bindung des einzelnen an die Bekenntnisschriften nicht besonders eng verstanden wurde. Von Bekenntnis- oder gar Gewissenszwang hielt Hengstenberg nichts. Hengstenbergs Ansichten von der preußischen Union und der Kirchenverfassung waren im einzelnen nicht originell. Während er mit seinen Arbeiten zum Alten Testament und seinen wissenschaftlichen Grundsätzen anfangs weitgehend als Einzelkämpfer auftrat und weder bei den Erweckungstheologen noch bei den Vertretern des Supranaturalismus auf völlige Zustimmung rechnen konnte, befand er sich mit seinen Auffassungen zur Gestaltung der Kirche von Anfang an in Gesellschaft. Wie die Abhängigkeitsverhältnisse dabei genau aus   Büchsel, Ansprache; meist wird das Wort, das laut Büchsel im Zusammenhang der Suche nach einem Nachfolger für die Redaktion der EKZ gefallen ist, in einer kürzeren Version zitiert, wie sie sich bei Kahnis, Gedächtniß, 421 findet: „Keine Orthodoxie ohne Pietismus, kein Pietismus ohne Orthodoxie.“

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sehen, kann beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht entschieden werden. Offenkundig ist, daß Hengstenberg maßgeblich von Ernst Ludwig von Gerlach beeinflußt wurde und daß er mit Friedrich Julius Stahl in regem Austausch stand. Der Kreis derjenigen, von denen Hengstenberg Anregungen empfing, wird sich bei intensiverer Erforschung des konservativen Milieus aber sicher noch erweitern. An der Tatsache, daß Hengstenbergs Ansichten von der Kirche, unbeschadet seiner eigenen Akzente, eine Gruppensicht zum Ausdruck brachten, dürfte es liegen, daß man ihnen eine größere Breitenwirksamkeit zugeschrieben hat. In Hengstenbergs geistiger Welt stehen sie aber nicht an oberster Stelle. 1.4  Ähnliches gilt für Hengstenbergs Verhältnis zur Politik. Hier hat er ebenfalls wesentliche Impulse von Gerlach und Stahl erhalten – mit dem Unterschied, daß in diesem Bereich die beiden Juristen und Vollblutpolitiker die Fachleute waren und Hengstenberg, was die rechtlichen Konzepte und politischen Schachzüge anging, nur begrenztes Interesse zeigte. Seine Auffassung von Politik und seine Ansicht vom politisch Guten und Richtigen war vor allem theologisch bestimmt. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für Politiker vom Schlage Stahls und Gerlachs; ihre – bisher nur unzureichend erforschte – theologische Weltsicht deckte sich in weiten Teilen mit derjenigen Hengstenbergs, allerdings nicht völlig. Für Hengstenberg hatte die Theologie auch auf dem Feld des Politischen den absoluten Primat. Indem er die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen theologisch deutete und eine der Theologie eigene Kompetenz für politisch relevante ethische Themen verteidigte, geriet er zwangsläufig in den Sog der Politisierung. Sein Umgang mit politischen Fragen läßt sich darum als ein Kampf um die Deutungshoheit der Theologie verstehen. 1.5  Damit ergibt sich aber eine umfassende Perspektive: Sowohl Hengstenbergs Ausrichtung der Theologie als auch sein Verständnis der Kirche sowie seine Äußerungen zur Politik stabilisierten das Selbstbewußtsein von Theologie und Kirche in der sie umgebenden, zunehmend als feindlich empfundenen ‚Welt‘. Gleichwohl wurde die ‚Welt‘ nicht aufgegeben. Dafür sorgte die Lehre vom christlichen Staat. Der Anspruch auf die christliche Prägung der kulturellen Wirklichkeit wurde aufrecht erhalten und jeder Quadratmeter christlichen Terrains in der staatlichen und politischen Wirklichkeit mit aller Kraft verteidigt. Hengstenberg sah sich dazu nicht nur um des Wohl des Staates willen, sondern auch um des Herrschaftsanspruchs Christi willen verpflichtet. Daneben gab er aber verschiedentlich zu erkennen, daß er sich von der Christlichkeit des Staates außerdem günstigere Bedingungen für die Verbreitung des neu erwachten christlichen Lebens versprach. Das sahen nicht alle Erweckten so, und auch Hengstenbergs Vorstellungen von der Zukunft der Kirche waren nicht zwangs-

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läufig mit der Zukunft des christlichen Staates verbunden, wie seine Stellungnahmen aus der Zeit der Märzrevolution zeigen. Dennoch hielt er an der Christlichkeit des Staates fest, so lange es irgend möglich erschien. Hier bleibt, was die Gesamtperspektive angeht, ein Widerspruch. Hengstenberg hatte ein Gespür dafür, daß die Tage des Christentums als des einigenden Bandes für Staat und Gesellschaft gezählt waren. Darüber hinaus trug er, indem er die Kirche als Bekenntnisgemeinschaft verstand, selbst dazu bei, daß die Kluft zwischen dem christlichen Bekenntnis und einer ungebundenen, verdünnten Christlichkeit deutlicher als bisher zum Vorschein kam. Die Selbstvergewisserung der Kirche führte zwangsläufig zu einer schärferen Unterscheidung von allem, was nicht Kirche war. War damit der Anspruch, eine Volkskirche zu sein und in einem christlichen Staat zu leben, nicht aufgegeben? Stahl schon hatte die Vorstellung des christlichen Staates nur so aufrecht erhalten können, daß er ihn auf eine allgemeinchristliche Grundlage stellte, die mit der Konfession verbundene Wahrheitsfrage aber sistierte. Das war im Grunde die Lösung des Alten Reiches seit dem Augsburger Religionsfrieden gewesen. Auch Hengstenberg war der Meinung, daß es eine christliche Übereinstimmung in sozialethischen Fragen gebe, die jenseits der konfessionellen Differenzen liege, etwa was das Eheverständnis oder die Sonntagsheiligung anging. Daneben rekurrierte er auf die christliche Prägung, die der Staat aufgrund seiner Herkunft auch in nachchristlicher Zeit nicht verliere. Doch widersprach das nicht seiner Ansicht von der notwendigen Verlebendigung des Christentums und der Sammlung in der Kirche? Wahrscheinlich war es auch hier das Erbe der Erweckungsbewegung, das wider bessere Wahrnehmung die Hoffnung auf eine gesamtgesellschaftliche christliche Erneuerung wach hielt. Denn auch den Anspruch der Volkskirchlichkeit hat Hengstenberg nie aufgegeben, obwohl es doch – gerade in Berlin – unübersehbar war und es die in der EKZ veröffentlichten Zahlen über Kirchenmitgliedschaft und Kirchenbesuch unmißverständlich klar machten, daß eine Volkskirche in dem von Hengstenberg vertretenen Sinne nicht existierte. So wurde sie schließlich zur Zielvorstellung. Mehr als am christlichen Staat lag Hengstenberg denn auch am wahrhaft christlichen Volk. Dementsprechend unterstützte er alle Initiativen der Inneren Mission und anderer kirchlichen Vereine, die zu einer Ausbreitung des Glaubens führen konnten. Hengstenbergs Zukunftsaussichten waren in dieser Hinsicht überhaupt nicht pessimistisch. Er war sich im klaren darüber, daß auch die neu erwachte Frömmigkeit in der Kirche zunächst in der Minderheit gewesen war. Wenn sie sich innerhalb der Kirche nach und nach durchgesetzt hatte, warum sollte sie nicht auch wieder auf weitere Kreise der Gesellschaft ausgreifen? Hengstenberg nahm die Distanz zwischen dem kirchlichen Christentum und den entkirchlichten Bevölkerungsgruppen demnach ohne Schönfärbung wahr, doch seine Konzentration auf die theologische Lehre und die schriftgemäße Verkündigung verhinderten einen differenzierten Blick auf die gesellschaft-

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lichen Ursachen der Entkirchlichung. Die großen Wandlungen, die durch die Industrialisierung heraufgeführt wurden, und die damit verbundene soziale Frage werden in seinen Beiträgen nicht thematisiert. Er vertraute allein auf die Macht des Evangeliums, die zunächst den einzelnen, dann aber auch die Gesellschaft verändern sollte. In dieser Konzentration lag seine Stärke, aber auch seine Begrenzung. 2.  Was den Untertitel der vorliegenden Studie angeht, so wurde schon in der Einleitung darauf aufmerksam gemacht, daß es sich nur um einen „Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts“ handeln kann. Dem erheblichen Forschungsbedarf, der in diesem Bereich besteht, kann nur durch eine Vielzahl von Einzelstudien begegnet werden, deren Zusammenschau erst mit größerer Tiefenschärfe hervortreten ließe, welche Ausprägungen und Eigenarten unter dem Stichwort ‚kirchlicher Konservatismus‘ zusammengefaßt werden können. Stillschweigend vorausgesetzt wurde bisher die These, daß es Sinn hat, von ‚kirchlichem Konservatismus‘ zu sprechen und Hengstenbergs Denken und Handeln mit der Bezeichnung ‚konservativ‘ zu belegen. Dies ist nun abschließend zu begründen. Mit der Verwendung der Kategorie ‚Konservatismus‘ soll zunächst einer Verlegenheit begegnet werden, die sich bei dem Studium der einschlägigen kirchen- und theologiegeschichtlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts wie von selbst einstellt: Dort wird die Richtung, für die Hengstenberg als repräsentativ gesehen wird, wahlweise als „orthodox“, „neuorthodox“, „konfessionell“, „konfessionalistisch“, „neukonfessionell“, „repristinatorisch“, „reaktionär“, „lutherisch“ oder „neulutherisch“, im Anschluß an die Begriffswahl des 19. Jahrhunderts teilweise auch noch als „pietistisch“ oder „neupietistisch“ bezeichnet. Nimmt man Spezialuntersuchungen über Hengstenberg und die Evangelische Kirchenzeitung zur Hand, ändert sich das Bild nur unwesentlich, abgesehen davon, daß sich der Kreis der Begriffe reduziert: Hier werden die Bezeichnungen „konfessionell / konfessionalistisch“ oder „orthodox“ bevorzugt.

   Vgl. zu den Herausforderungen der Industrialisierung Greschat, Zeitalter und Brakelmann, Frage.    In der Regel bevorzugen hengstenbergkritische Darstellungen die Bezeichnung „orthodox“ (so z. B. Lenz, Geschichte 2/1, 337 u.ö.; Christensen Hengstenberg; Taylor, Old Testament) und die Hengstenberg freundlicher gesonnenen Untersuchungen die Kategorie “konfessionell / konfessionalistisch“ (so Wulfmeyer, Hengstenberg). Daneben wird auch der ‚Antirationalismus‘ als integrierendes Charakteristikum genannt (so Kramer, Hengstenberg, 298–300, der feststellt, daß Hengstenberg in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus nicht spezifisch „konfessionell“ argumentiert). Hirsch, Geschichte 5, stellt Hengstenberg unter der Überschrift „Neupietismus“ dar, worunter er die Verschmelzung von „Orthodoxie“ und „Pietismus“ zu verstehen scheint (ebd., 122).

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Das Problem dieser Bezeichnungen ist nun nicht, daß sie völlig unzutreffend wären, sondern daß sie immer nur eine Facette von Hengstenbergs Denken treffen. Wenn man Hengstenbergs Richtung als „konfessionell“, „orthodox“ oder „pietistisch“ bezeichnet, dann ist das alles so richtig wie falsch – je nach dem, was man unter der jeweiligen Bezeichnung versteht. Allerdings spricht viel dafür, daß die Verwendung ausschließlich eines dieser Prädikate immer eher falsch als richtig ist. Die Bezeichnungen suggerieren nämlich einen Grad von Begriffsschärfe, der in der Anwendung auf Hengstenberg nicht angemessen ist. Das liegt daran, daß das verwendete Ensemble von Bezeichnungen historische Konnotationen mit sich führt und von daher eine ganz bestimmte Füllung nahelegt. Teilweise wird das Problem dann so gelöst, daß man die historische Kategeorie mit dem Präfix „neu“ versieht, doch gerade dies zeigt, daß von einem vermeintlich Bekannten ausgegangen wird, das dann in einer bestimmten, meist nicht näher definierten Weise neu geworden sein soll. Problematisch an den genannten Begriffen ist also nicht ihre Unbestimmtheit, die sich bei genauerer Beleuchtung zweifellos ebensogut aufweisen ließe, sondern ihre scheinhafte Präzision, die bei Anwendung der Begriffe auf Hengstenberg zu einer unzutreffenden Überbestimmung führt. Man könnte der Verlegenheit nun dadurch entgehen, daß man für Hengstenberg einen schärferen Begriff wählt und ihn beispielsweise als einen bekenntnis­ orientierten, lutherischen Schrifttheologen mit erweckungstheologischem Ein   In dieser Hinsicht ist der Begriff „konfessionell / konfessionalistisch“ in doppelter Hinsicht problematisch: Er kann nämlich sowohl – in der von Troeltsch geprägten Terminologie – mit dem nachreformatorischen „Konfessionellen Zeitalter“ als auch mit einer spezifischen Form des Konfessionalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich dem Neuluthertum in Erlangen, Mecklenburg oder anderswo, in Verbindung gebracht werden. Komplett wird die Verwirrung, wenn man – wie unlängst vorgeschlagen – das 19. Jahrhundert als ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“ (O. Blaschke; vgl. dazu Ders., Konfessionen) benennen möchte, dabei aber nur von einer Bikonfessionalität – evangelisch und römisch-katholisch – ausgeht und das spezifische Kennzeichen der Konfessionalisierung in der frühen Neuzeit, die kulturelle Prägung der ganzen Gesellschaft durch eine Konfession, aufgeben muß (zur Kritik an Blaschkes Konzept vgl. Friedrich, „Zweites Konfessionelles Zeitalter“). Wenn man den Konfessionalisierungsbegriff für das Verhältnis zwischen evangelischer und römisch-katholischer Seite im 19. Jh. verwendet, steht man im übrigen vor zusätzlichen Erklärungsnöten, weil die schärfste antikatholische Konfessionspolemik auf evangelischer Seite in Kreisen verbreitet war, die man gängigerweise nicht als „konfessionell“ bezeichnet (vgl. Schieder, Sozialgeschichte, 26 f.; v. a. Vertreter des Protestantenvereines traten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit antikatholische Äußerungen hervor, vgl. Lepp, Auf bruch, 294–360). – Ein Versuch, der zweideutigen Verwendung von „konfessionell / konfessionalistisch“ zu entgehen ist die gängige Unterscheidung zwischen „Konfessionellem Zeitalter“ (16./17. Jh.) und „konfessioneller Theologie“ (19. Jh.); daß sich an letztere gleichwohl immer Konnotationen des ersteren haften, zeigt z. B. der Lexikonartikel von Fischer, TRE 19, der einerseits die Unterscheidung betont (ebd., 426, 26–44), aber andererseits die konfessionelle Theologie des 19. Jhs. als den „Versuch einer förmlichen Repristination lutherischer Lehre des 16. und 17. Jh.“ (ebd., 430, 37 f.), also der Lehre des Konfessionellen Zeitalters, bewertet.

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schlag bezeichnet. In bestimmten Zusammenhängen ist eine solche präzise Bestimmung unverzichtbar, und nicht zuletzt dazu sollte die vorliegende Untersuchung beitragen. Zur Einordnung in größere Zusammenhänge trägt sie allerdings wenig aus. Deshalb wird hier der umgekehrte Weg eingeschlagen und für Hengstenberg eine Bezeichnung gewählt, der die begriffliche Schärfe von Anfang an mangelt. Hengstenberg wird schlicht als konservativ bezeichnet. Zur Unterscheidung vom politischen Konservatismus, deren Notwendigkeit oben (4.3) dargelegt wurde, wird aber die Verbindung ‚kirchlicher Konservatismus‘ gewählt. Was ist dadurch – abgesehen davon, daß die Zweideutigkeiten der oben genannten Begriffe vermieden werden – gewonnen? Erstens signalisiert die Bezeichnung „konservativ“, daß es sich um eine moderne Geisteshaltung handelt, die in ihrer ausgeprägten Form erst im 19. Jahrhundert auftritt. Dazu unten mehr. Zweitens wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, daß sich die ersten Theoretiker des Konservatismus im 19. Jahrhundert im Umfeld der EKZ finden: Victor Aimé Huber hat sein Konservatismuskonzept in der EKZ präsentiert und sich der Diskussion gestellt. Sowohl Ernst Ludwig von Gerlach als auch Friedrich Julius Stahl legten in der EKZ die für ihre konservativen Konzepte entscheidenden religiösen Grundlagen dar. Der Konservatismusbegriff ist deshalb nicht nur eine nachträglich angelegte wissenschaftliche Schablone – das ist er auch! –, er wird vielmehr gerade in dem Milieu, dem Hengstenberg nahe stand, ausführlich diskutiert. Drittens zeigen Hengstenbergs Einstellungen trotz aller Skepsis gegenüber einem ‚falschen‘ politischen Konservatismus eine große Nähe zu den preußischen Konservativen um Gerlach und Stahl. Auch für Stahl und Gerlach sind bestimmte religiöse Grundanschauungen konstitutiv, gleichwohl bezeichnet man Stahl oder Gerlach in der Regel nicht als konfessionalistisch oder neuor   Diese Bezeichnung findet sich bereits gelegentlich in Hengstenbergdarstellungen (z. B. Beckmann, Wurzel, 267). Sie wird insbesondere im angelsächsischen Sprachraum verwendet (dabei wird allerdings in der Regel die Identität mit dem politischen Konservatismus behauptet, so Christensen, Hengstenberg, VII u.ö.). – In dieselbe Richtung geht F.W Graf, wenn er in seinen Publikationen zum Thema von einem „protestantisch-konservativen Milieu“ (Graf, Spaltung, 163; vgl. Ders., Modernisierung; Ders., Formierung) spricht und darunter sowohl die Erweckungsbewegung als auch den lutherischen Konfessionalismus faßt. Einen ähnlichen Sprachgebrauch bietet die bei Graf entstandene Arbeit von Wischmeyer, Theologiae Facultas, die daneben aber die Bezeichnung „lutherischer Neukonfessionalismus“ (ebd., 317 u.ö.) für die Hengstenbergsche Richtung verwendet.    In bestimmten Zusammenhängen ist es sicher sinnvoll, noch präziser von einem evangelischen kirchlichen Konservatismus zu sprechen. Im vorliegenden Fall ergibt sich das aber von selbst und muß nicht speziell betont werden.    Vgl. zu Hubers Konservatismus Vierhaus, Konservativ, 547–551; Baumann, Huber, bes. 196–229.262–268; zu Hubers Verhältnis zu Hengstenberg ebd., 292–295.

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thodox. Die Bezeichnung „konservativ“ betont also die Gemeinsamkeit Heng­ stenbergs mit diesen und anderen Vertretern des Konservatismus, deren Wurzeln in der Erweckungsbewegung zu suchen sind. Um aber deutlich zu machen, daß Hengstenberg in anderen Bereichen und mit anderen Zielen wirkte, zudem teilweise auch andere Konzepte zur Begründung der konservativen Anschauungen verwandte, empfiehlt es sich, seine Richtung als kirchlichen Konservatismus in Unterscheidung von einem politischen Konservatismus zu bezeichnen. Viertens, daran anknüpfend, erlaubt die Aufnahme des Konservatismusbegriffes den Anschluß an die Konservatismusforschung, die in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend Aufmerksamkeit gefunden hat. Bevor hierauf näher eingegangen wird, muß einem naheliegenden Einwand vorgebeugt werden, der dahingehend lauten könnte, daß der Konservatismusbegriff viel zu weit sei, um Hengstenberg in den Blick zu bekommen. Schließlich bot das kirchlich-konservative Milieu sehr viele verschiedene Schattierungen. Es gab konservative Theologen, deren Theologie sich von derjenigen Hengstenbergs deutlich unterschied und die von Hengstenberg deswegen befehdet wurden (z. B. Kahnis). Es gab konservative Vertreter in der Kirchenleitung, die man nicht gut zu Hengstenbergs Richtung rechnen kann, beispielsweise Heinrich von Mühler, der 1863–1865 dem EOK vorstand, oder Wilhelm Hoffmann, Generalsuperintendent der Provinz Brandenburg (1853–1873). Auch der von Mühler und Hoffmann unterstützte Kreis um die von Hengstenberg bekämpfte Neue Evangelische Kirchenzeitung kann mit gutem Recht als konservativ bezeichnet werden, daneben selbstverständlich auch das Erlanger Luthertum oder Repräsentanten des Württembergischen Pietismus und andere mehr. Keine Frage, wählt man, wie hier vorgeschlagen, den Konservatismusbegriff als Gruppenbezeichnung, dann muß man auch Binnendifferenzierungen vornehmen. Gerade deshalb wird Hengstenberg nur als ein Vertreter und seine Erforschung nur als ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus bewertet. Darüber hinaus ist es aber nicht hinderlich, sondern gerade hilfreich, wenn deutlich wird, warum trotz aller Verschiedenheit Theologen wie Tholuck und Kahnis oder auch die Erlanger Fakultät in entscheidenden Fragen auf Hengstenbergs Seite traten.10 Die darin feststellbare Gemeinsamkeit läßt sich nämlich nicht auf den Nenner des „Konfessionalismus“ bringen, oder nur dann,

   Vgl. zum Strand der Konservatismusforschung Kraus, Stand sowie den älteren Literaturbericht Ders., Konservativismus und den Überblick bei Schildt, Konservatismus, 9–22. 10   Vgl. nur das Vorwort Tholucks, in: Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt 10 (1840), 6 (vgl. dazu oben 1.3.1) und Kahnis’ Nachruf auf Hengstenberg (Kahnis, Gedächt­niß) sowie die Rückendeckung für Hengstenberg durch die Erlanger Fakultät 1845 (abgedruckt bei Bachmann / SChmalenbach 3, 141–144).

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wenn man diesen Begriff bis zur Unkenntlichkeit erweitert.11 Die konsequente Verwendung des Konservatismusbegriffes könnte insofern auch dem Konfessionalismusbegriff dienen, wenn man letzteren als historischen Terminus nicht ohnehin so weit wie möglich vermeiden möchte.12 Unbeschadet der Tatsache, daß mit Hengstenberg noch nicht das ganze konservative Spektrum erfaßt ist, wird hier aber dennoch die These vertreten, daß Hengstenberg in besonderem Maße als Prototyp des kirchlichen Konservatismus gelten kann. Er verkörperte die konservative Ausprägung des Protestantismus nämlich bereits zu einem Zeitpunkt, als der kirchliche Konservatismus noch sehr wenig ausdifferenziert war.13 Die Entstehung der (neu)lutherischen Bewegung als einer eigenen, von Hengstenberg unterschiedenen theologischen Richtung begann um 1830, Einfluß entfaltete sie jedoch erst ab den 40er Jahren, der Begriff „Konfessionalismus“ begegnet erstmals Ende der 40er Jahre.14 Auch der von Hengstenberg zu unterscheidende preußische kirchliche Konservatismus, der schließlich in der ‚Positiven Union‘ Gestalt annahm, entstand erst viel später und ist ohne die ältere und ihn vorbereitende „Partei Hengstenberg“ nur schwer denkbar. Die spätere Ausdifferenzierung der Konservativen, die im übrigen ebenfalls Parallelen im politischen Bereich bietet, spricht also nicht gegen, sondern gerade für die Aufnahme des Konservatismusbegriffes. Der kirchliche Konservatismus kann trotz aller Unterschiede als Einheit begriffen werden, dem auf der anderen Seite die Vertreter des liberalen Protestantismus gegenüberstehen. 11   Das zeigt sich sehr deutlich bei Fischer, TRE 19, der sehr unterschiedliche Theologen unter der Überschrift „Konfessionalismus“ zusammenfaßt und darin schließlich die Aporie dieser Richtung entdeckt; vgl. zu den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Konfessionalismus auch Hein, Bekenntnis, 13–15. 12   Was spräche dagegen, den Begriff „Konfessionalismus“, wie er in der evangelischen Theologie und für das 19. Jh. verwendert wird, ganz zugunsten des Terminus „Neuluthertum“ fallen zu lassen? Der reformierte Konfessionalismus, von dem es auch einige wenige Vertreter gab, wird in der Regel sowieso nicht unter dem Stichwort „Konfessionalismus“ subsumiert (so auch nicht bei Fischer, TRE 19). Der Art. „Konfessionalismus“ in der TRE behandelt denn auch Personen, die ebenfalls im Art. „Neuluthertum“ (Kantzenbach / Mehlhausen, TRE 24) auftauchen. Der Vorteil des Terminus Neuluthertum ist zudem, daß er es erlaubt, die entsprechenden Erscheinungen außerhalb Deutschlands mitzuberücksichtigen (so auch Fischer, TRE 19, 427, 13–17). – Im Blick auf die konfessionelle Richtung in Preußen könnte man schlicht von den preußischen Lutheranern oder auch von den Vereinslutheranern sprechen. 13   Diese Annahme deckt sich mit den Beobachtungen von Fagerberg, Bekenntnis, der Hengstenberg – wie im übrigen vor ihm bereits Kahnis, Protestantismus, 208 – als eine Übergangsgestalt beschreibt, die noch nicht der konfessionellen Theologie zuzurechnen ist, sondern deren Voraussetzung bildet. 14   Der Begriff „Confessionalismus“ findet sich nicht erst 1854 bei Hagenbach, wie Fischer, TRE 19, 427 anführt (dagegen schon Ernst, Auferstehungsmorgen, 187). Hengstenberg redet bereits 1847 von einem „falschen Confessionalismus“ (Ders., Thier, EKZ 41 [1847], Sp.  965) – charakteristischerweise benutzt auch er den Begriff, wie anfangs generell üblich, polemisch.

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Selbstverständlich gibt es dazwischen zahlreiche Mischformen. Es gab wie im politischen Bereich so auch in Kirche und Theologie liberale Konservative und konservative Liberale. Insbesondere die Vermittlungstheologen entziehen sich per definitionem einer klaren Zuordnung. Doch das schadet der Nützlichkeit des Begriffes nicht. Entscheidender ist die Frage: Was hat man sich unter kirchlichem Konservatismus vorzustellen? Dazu sind die Ergebnisse der Konservatismusforschung aufzunehmen, die den Konservatismus als historisches Phänomen und in Unterscheidung von landläufigen Verwendungen des Begriffes begreifen lehrt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung zeichnet sich ein Konsens ab, demzufolge der Konservatismus im engeren Sinne als eine bewußte Abwehrreaktion auf das als Bedrohung empfundene Auf klärungsdenken des 18. Jahrhunderts sowie auf die Französische Revolution als Höhepunkt der Auf klärung begriffen werden muß. Er ist also ein spezifisch modernes Phänomen.15 Das bedeutet allerdings nicht, daß das vom Konservatismus vertretene Gedankengut erst Ende des 18. Jahrhunderts entstanden wäre. Der Konservatismus greift vielmehr auf ältere Konzepte zurück, die er angesichts aktueller Bedrohungen verteidigt.16 Erste Elemente des Konservatismus finden sich daher auch bereits vor 1789, insbesondere in Abwehr eines auf klärerischen Absolutismus. Es hat sich daher eingebürgert, von der ausgeformten Position des Konservatismus, wie sie sich im 19. Jahrhundert findet, einen noch wenig konturierten Frühkonservatismus zu unterscheiden.17 Der Konservatismus des 19. Jahrhundert setzte sich von seinen Vorformen vor allem dadurch ab, daß er nun aktiv und gestaltend in die Verhältnisse einzugrei-

15   So pointiert Schildt, Konservatismus, 16: „Der Konservatismus – und dies ist die Bedingung für sein Überleben – hat sich als äußerst vielgestaltig und eben nicht nur regressiv und destruktiv, sondern ebenso anpassungs- und wandlungsfähig gezeigt. Als reaktive und aktive Bewegung nahezu gleichzeitig mit der neuzeitlichen Auf klärung entstanden, ist er als politisch-gesellschaftliches Phänomen der Moderne zu verstehen, mit all den sich daraus ergebenden Differenzierungsmöglichkeiten und ebensowenig abgeschlossen wie die Moderne selbst.“ Ähnlich Kraus, Stand, 13. 16   Darauf hat insbesondere Kondylis, Konservativismus, 23–28 und passim aufmerksam gemacht. Als zu verteidigendes Konzept wird bei ihm die mittelalterliche societas civilis geltend gemacht Die weitergehende These Kondylis’, der Konservatismus sei mit seiner Trägergruppe, dem Adel, untergegangen und darum nur noch als historisches Phänomen zu betrachten, hat sich hingegen nicht durchgesetzt. Sie geht auf eine einseitige sozialpolitische Betrachtungsweise zurück (vgl. zur Kritik Kondylis’ Schildt, Konservatismus, 13–15 und die ausführliche Darstellung bei Kraus, Konservatismus, 225–237). – Auch der jüngste Vorschlag von Ruetz, Konservatismus, 39–54, die Begriffe Liberalismus und Konservatismus streng auf die Positionen im Kampf um die Verfassungsfrage zu begrenzen, beide Bewegungen also der Geschichte zu überantworten, überzeugt nicht. 17   S. zum Stand seiner Erforschung Kraus, Stand, 9–13; zur Rolle der religösen Debatten bei der Formierung der frühkonservativen Öffentlichkeit Ende des 18. Jhs. Graf, Spaltung, 164–168.

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fen begann.18 Als Ausgangspunkt für den sich schließlich formierenden politischen Konservatismus wird in der Regel die Julirevolution geltend gemacht.19 Der sich nun bildende Konservatismus zeichnete sich dadurch aus, daß er, die Herausforderungen der Zeit aufnehmend, nicht mehr die Erhaltung des status quo, sondern die „Bewahrung im Wandel“20 auf seine Fahnen schrieb. Damit trat der Gedanke der Entwicklung in den Vordergrund. In Anlehnung an die historische Rechtsschule verstand man die Entwicklung aber nicht als sprunghafte, revolutionäre, das Alte zerstörende, sondern als eine organische, das geschichtlich Gegebene weiterentwickelnde Bewegung.21 Wandlung und Anpassung an neue Verhältnisse gehören also zum konservativen Selbstverständnis und dürfen darum nicht als Verrat an der konservativen Haltung gewertet werden.22 Die Konservativen im Umkreis der EKZ haben schon früh gerade diesen Aspekt stark gemacht. Victor Aimé Huber vertrat die Auffassung, daß es Erhaltung nur als Fortbildung und Entwicklung gebe.23 Ebenso warnte Gerlach davor anzunehmen, daß sich die mit „Parteinamen wie: Liberale und Conservative“ zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen einfach aus ihrem „Wortlaut“ ableiten ließen.24 „Schon der erste Anfang christlichen, wie politischen Denkens lehrt, daß Vergangenheit und Zukunft, Erhaltung und Fortschritt, Einheit und Mannigfaltigkeit zusammengehören [...].“25 Man sei daher „nicht gesonnen, den Blick in die Zukunft, das Princip der fortschreitenden Entwickelung, die Freiheit in der Mannigfaltigkeit den Gegnern zum ausschließlichen Besitz zu überlassen.“26 Durch solche Reflexionen auf das wahre Wesen des Konservativen wurde schließlich „der Konservatismus dem Vorwurf der Bewegungsfeindlichkeit entzogen und von starrer Reaktion und bloßem Besitzstanddenken abgehoben“27. 18

  Vgl. Vierhaus, Konservativ, 549 f.   Vgl. Vierhaus, Konservativ, 542; Kraus, Stand, 17: „Man sah im konservativ-gegenrevolutionären Lager sehr schnell ein, daß es nicht mehr ausreichen konnte, die Kräfte der Revolution nur gewaltsam niederzuhalten oder ihnen nur im intellektuell-theoretischen Bereich entgegenzutreten. Man mußte, im Gegenteil, versuchen, mit ihnen auf der Ebene der langsam entstehenden politischen Öffentlichkeit gleichzuziehen. Mit den 1830er Jahren beginnt die Epoche der kleineren und größeren konservativen Zeitschriften [...].“ 20   Vierhaus, Konservativ, 547. 21   Zu Recht weist Kraus, Konservatismus, 238 auf „die große Bedeutung des Savignyschen historischen Rechtsdenkens für die Herausbildung des preußischen Altkonservatismus in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts“ hin. 22   Vgl. Schildt, Konservatismus, 16 f.22 und das Zitat bei Anm.  15. 23   S. zu Huber Vierhaus, Konservativ, 547–551. 24   Gerlach, Partei, EKZ 18 (1846), Sp.  166. 25   Ebd., Sp.  165. 26   Ebd., Sp.  166. 27   Vierhaus, Konservativ, 549 – freilich wurden dadurch auch die Übergänge zwischen konservativen und liberalen Konzepten erleichtert (vgl. ebd., 554). 19

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Der Gedanke der organischen Weiterentwicklung, der Bewahrung des geschichtlich Gewordenen angesichts neuer Konstellationen und Herausforderungen kann also als grundlegendes Strukturmerkmal des Konservatismus gelten. Daneben lassen sich weitere Elemente benennen, die für konservatives Denken und Handeln im 19. Jahrhundert trotz aller Wandlungen des Konservatismus charakteristisch sind. Dazu gehört zunächst die religiöse Fundierung des Konservatismus, das Festhalten an einer transzendenten, göttlichen Wirklichkeit und die Kritik an der Absolutsetzung des Menschen und der menschlichen Vernunft. Daneben sind die Ablehnung von Subjektivismus und Atomisierung zu nennen. Das Ganze und die Gemeinschaft werden gegenüber der Vereinzelung und der Individualisierung betont. Die Gesellschaft wird als hierarchisch gegliederte verstanden. Das Konkrete, geschichtlich Gewordene wird allemal dem allgemein Vernünftigen und Machbaren vorgezogen. Eine sich auf rationalistische Prinzipien berufende Neukonstruktion von Staat und Gesellschaft wird abgelehnt. Ungleichheit als Herausforderung und Aufgabe begriffen, die Gleichmacherei verworfen.28 Viele Kennzeichen des Konservatismus weisen deutlich auf ihre religiöse Wurzel hin: die Warnung vor menschlicher Hybris, die Annahme einer gottgegebenen Ordnung, das Rechnen mit der Allgegenwart Gottes in Natur und Geschichte, das von den Konservativen dem Deismus und Pantheismus entgegengehalten wurde.29 Daneben treten rechts- und geschichtsphilosophische Elemente. Oben (4.3) wurde bereits am Beispiel Hengstenbergs verdeutlicht, daß sich die Übereinstimmungen zwischen politischem und kirchlichem Konservatismus der gemeinsamen religiösen Wurzel verdanken,30 daß für den kirchlichen Konservatismus die religiösen Motive aber als die bleibend bestimmenden zu betrachten sind, während sich an den politischen Konservatismus auch andersgeartete Theorien und Interessen anlagerten.31 Was die Eigenart des kirchlichen Konservatismus ausmacht, läßt sich nun aber sehr deutlich an Hengstenbergs Position ablesen. Unter diesem Gesichtspunkt sollen hier wesentliche Gesichtspunkte, die sich aus der Untersuchung ergeben haben, zusammengestellt werden; sie geben allerdings nur sehr verkürzt und ausschnitthaft wieder, was in den Hauptteilen der vorliegenden Studie ausführlich und mit zahlreichen Belegen dargestellt wurde. Die stichwortartigen Hinweise 28   Vgl. zu diesen und weiteren notae Conservatismi Vierhaus, Konservativ, 547; Schildt, Konservatismus, 13; Kondylis, Konservativismus, 322–340 sowie Nipperdey, Deutsche Geschichte, 313–319. 29   S. Kondylis, Konservativismus, 329. 30   Vgl. auch Schildt, Konservatismus, 54. 31   Dabei ist insbesondere auf das Auftreten eines ausschließlich an den materiellen Interessen orientierten Konservatismus zu verweisen, wie er sich nach 1848 herauskristallisierte und zu innerkonservativer Kritik führte, vgl. Vierhaus, Konservativ, 559–561; Kraus, Gerlach, 423–425.

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lassen vor dem Hintergrund der dargestellten Einsichten aus der Konservatismusforschung sowohl die Verwandtschaft von Hengstenbergs Position mit dem allgemeinen Konservatismus seiner Zeit als auch die charakteristischen Züge des kirchlichen Konservatismus hervortreten.32 Dabei wird zwischen theologischen, kirchlichen und politischen Grundannahmen unterschieden. Als theologische Axiome des kirchlichen Konservatismus können zunächst die Anschauung von der völligen Sündenverfallenheit des Menschen und von der daraus resultierenden Notwendigkeit der Erlösung durch Christus gelten, der gemäß den Formulierungen der altkirchlichen Bekenntnisse als Sohn Gottes verstanden wird. Was die Anthropologie angeht, ist entscheidend, daß auch die Vernunft als in der Sünde befangen angesehen wird. Die Vorstellungen einer autonomen Vernunft, die unabhängig von Gottes Wort sich selbst, die Welt oder gar Gott in angemessener Weise erkennen könnte, wird abgelehnt. Der kirchliche Konservatismus präsentierte sich daher als Alternative zum theologischen Rationalismus. Er war aber nicht generell antiauf klärerisch. Er lehnte die Auf klärung insofern ab, als es ihr Signum war, den Menschen ins Zentrum zu stellen und Gottes gegenwärtiges Wirken in der Welt auszublenden oder auch ganz zu leugenen. Aus dem gleichen Grund wurden denn auch andere, etwa idealistische Konzepte, abgelehnt, die die Grenze zwischen Gott und Mensch aufzuheben drohten. Sie alle wurden als Ausdruck dessen gewertet, daß der Mensch Gott nicht Gott sein lassen will. Was hingegen neue Methoden und Medien anging, war der Konservatismus durchaus bereit, an die Errungenschaften der Auf klärung anzuknüpfen. Seine Erkenntnis über Gott und die Welt gewann der kirchlich Konservative nicht aus philosophischen Überlegungen oder theologischen Spekulationen, sondern aus der Bibel, die als geschichtlich gewordenenes und von Gott selbst gegebenes Wort verstanden wurde. Die Eigenständigkeit der theologischen Wissenschaft und ihrer Arbeitsweise wurde hervorgehoben. Die Anerkennung der Schriftautorität galt als Ausdruck der vom Menschen geforderten Demut. Die Auslegung der Schrift mußte dem entsprechen und der Gefahr der subjektiven Vereinnahmung der Schrift wehren. Es galt, den durch den Rationalismus gestellten Herausforderungen nicht auszuweichen, sondern sich ihnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden entgegenzustellen. Darum mußte der konservative Theologe auf der Höhe der Zeit sein. Gleichzeitig orientierte er sich bei der Auslegung aber auch an der Auslegungstradition, die ihm 32   Offen gelassen werden muß vorerst die Frage nach dem Verhältnis von Hengstenbergs Konservatismus zum protestantischen Frühkonservatismus, da letzterer noch kaum erforscht ist (vgl. Jordan, Frühkonservatismus). Daß es hier Traditionslinien gibt, ist unbestreitbar und ergibt sich aus verschiedenen Hinweisen Hengstenbergs, beispielsweise wenn er (Vorwort, EKZ 22 [1838], Sp.  24) die Frage stellt: „Sind Nicolai, Mendelssohn und ihre Genossen jetzt die Gefeierten aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, oder Claudius, Hamann, Lavater?“ – Eine allgemeine Beschreibung des kirchlichen Konservatismus bietet auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, 424–427.

Schluß

585

jedoch nicht heilig war. Selbstverständlich war der Rückbezug auf die Reformatoren und die auf dem Boden der Reformation gewachsene Theologie. Die reformatorische Lehre nahm insofern eine Sonderstellung ein, als nach konservativer Auffassung sich in ihr die für das evangelische Christentum maßgeblichen Glaubenseinsichten finden lassen. Darüber hinaus wurden aber auch andere ältere Schriftsteller rezipiert, die sich in Übereinstimmung mit den evangelischen Grundanschauungen bringen ließen. Des weiteren zeigt der kirchliche Konservatismus ein besonderes Interesse an einer der reformatorischen Lehre entsprechenden Frömmigkeit. Darum werden Klassiker der Erbauungsliteratur ausgegraben und christliche Lebensbeschreibungen unter das Volk gebracht. Generell kann die Belebung der Frömmigkeit beim ‚einfachen‘ Kirchenvolk als zentrales konservatives Anliegen gelten. Die Theologie sollte daher stets auf Tuchfühlung mit dem Glauben der Laien bleiben. Ähnlich wie der politische Konservatismus 33 sah sich die konservative Theologie als Sachwalterin des Kirchenvolkes und betrachtete die liberale Gegenspielerin als Promotorin einer Professorenkirche, die bestenfalls das gebildete Bürgertum, nicht aber die breiten Massen der Gläubigen ansprechen könne. Wenn die EKZ unbeschadet ihres theologischen Charakters von Minister Altenstein schon früh als „Volks Blatt“34 bezeichnet wurde, dann traf dies im Grunde genau jenes konservative Selbstverständnis. Damit ist bereits das konservative Verständnis der Kirche im Blick. Der kirchliche Konservatismus bejahte eine Partizipation von einfachen Pastoren und Laien an der Kirchenleitung, aber nur in dem Maße, als sie sich dazu als befähigt erwiesen. Die Befähigung ergab sich aber aus der Übereinstimmung mit der Glaubenssubstanz der Kirche. Ein reiner Re­prä­sentationsgedanke, der die geistliche Verfassung des zu repräsentierenden Kirchenvolkes nicht in Rechnung stellt, wurde daher abgelehnt und mit Luthers Worten als die Herrschaft des „Herrn Omnes“ oder als der Anfang einer „Pöbelkirche“ charakterisiert. Stattdessen wurde die Kategorie der Berufung – unter Berücksichtigung der von Gott gegebenen Begabung und Befähigung – als Kritierium für die Mitwirkung an der Leitung der Kirche stark gemacht, die Übertragung von poli33

  Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 316 benennt „den Angriff auf den Liberalismus als Ideologie der Bourgeoisie und der Intelligenz“ als „eine scharfe Waffe des Konservativismus“. 34   Altenstein an den König, Berlin 6. Juli 1830: GStA PK, I. HA Rep.  76, III Sekt.  1 Abt.  X IIIa Nr.  5 Bd.  1, f.  127r. – Das konservative ‚Volksblatt für Stadt und Land‘, das ab 1844 erschien trug diese Bezeichnung dann sogar im Titel (vgl. Obenaus, Zeitschriften 1848– 1880, 99–101). Auch Schwarz erkannte scharfsichtig dieses Anliegen der konservativen Richtung und nahm es unter Beschuß. Es werde in den Kreisen der EKZ ein „recht massives, derbes, volksthümliches Christenthum im Sinne Luther’s versucht“ (Theologie1, 67). Dazu unternehme man einen „kecke[n] Sprung über jenen garstigen Graben, der in Deutschland die Niederung des Volks von dem Höhenzuge seiner Literatur, von den sogenannten Geistreichen und Gebildeten trennt“ (ebd., 68).

586

Schluß

tischen Verfassungskonzepten auf die Kirche aber strikt zurückgewiesen, wie überhaupt die wesensmäßige Verschiedenheit der Kirche vom Staat betont wurde. Man hielt zwar am landesherrlichen Kirchenregiment als legitimer, weil geschichtlich gewachsener Form der Kirchenleitung fest. Eine behutsame, organische Weiterentwicklung wurde gleichwohl nicht ausgeschlossen, sondern erstrebt. Man orientierte sich dabei an Luthers konservativem Kirchenreformprogramm und verhielt sich kritisch gegenüber einer mit der Schweizer Reformation in Zusammenhang gebrachten Vorgehensweise, die – mit dem Vorhandenen brechend – eine Neukonstruktion aus den Prinzipien der Schrift propagiert habe. Alles, was nach selbst erdachter ‚Kirchenfabrikation‘ aussah, wurde abgelehnt. Damit steht in Zusammenhang, daß man sich auch gegen den kirchlichen Bürokratismus und zentralistische Vereinheitlichungsversuche richtete und sie als dem geistlichen Wesen der Kirche gegenüber unangemessen beurteilte. Das Bekenntnis betrachtete man als zentrale Lebensäußerung der Kirche. Daß die konservative Sicht die kirchliche Identität und das Selbstbewußtsein der Kirche stärkte, muß nicht noch einmal wiederholt werden. Dennoch beschränkte man die eine Kirche Jesu Christi nicht auf die eigene Konfession. Die Vielgestaltigkeit, in der die weltweite Kirche Gestalt annahm, sah man vielmehr als Ausdruck dessen an, daß das Evangelium in den menschlichen Verhältnissen konkrete Gestalt annehmen müsse. Auch in dieser Hinsicht wurde die Vielfalt, das Konkrete, das geschichtlich Gewachsene dem Vereinheitlichenden, Abstrakten, künstlich Gemachten vorgezogen. Einheit unter den Kirchen und Konfessionen müsse, so die Devise, wachsen und dürfe nicht erzwungen werden. Die politische Sphäre verstand der kirchlich Konservative nicht als sein eigentliches Wirkungsfeld. Doch beanspruchte er, dem Herrschaftsanspruch Gottes über alle Bereiche des menschlichen Lebens in Wort und Tat Ausdruck verleihen zu müssen. Die Bibel war nach konservativem Verständnis nicht nur der Wegweiser zum Heil, sondern sie galt auch als Quelle verläßlicher, gottgegebener Ordnungen für das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft. Die äußeren Ordnungen – Kirche, Staat, Ehe, Familie – verstand man als Ausdruck der Fürsorge Gottes. Daher wurde es als heilsam empfunden, den Staat nach christlichen Grundsätzen zu organisieren. Die gegebene Obrigkeit wurde als von Gott gegeben anerkannt, aber auch nach den Maßstäben des göttlichen Wortes kritisiert. Die Konflikte zwischen dem Staat und Vertretern der Erweckungsbewegung während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. waren nicht vergessen 35 und fanden zur Zeit Wilhelms I. ihre Fortsetzung unter neuen Bedingungen. Das kritische Potential einer nur an der Bibel orientierten Erneuerungsbewegung blieb auch in ihrer domestizierten Form präsent. Der kirchliche Konservatismus war deshalb noch lange nicht revolutionär, aber 35

  Vgl. dazu Clark, Politics; Deuschle, Erweckung; Ellis, Piety.

Schluß

587

er war auch nicht einfach angepaßt und obrigkeitsgläubig. Vielmehr konnte er nicht weniger als sein liberales Pendant in Opposition zu den Herrschenden geraten. Auch hier war es der alte reformatorische Grundsatz, daß die zweite Tafel der Zehn Gebote an der ersten Tafel ihre Grenze finden müsse, an dem man sich orientierte. Die Kennzeichen konservativer Kirchlichkeit, wie sie sich aus der Position Hengstenbergs ergeben, fügen sich zu einer geschlossenen und in sich kohärenten Weltsicht zusammen. Darin zeigt sich ein weiterer Vorzug des Konservatismusbegriffes: Seine Anwendung auf Hengstenberg erlaubt eine einheitliche Charakterisierung der unterschiedlichen Bereiche seiner Wirksamkeit. Sowohl sein theologisch-wissenschaftliches Werk als auch seine Sicht der Kirche und der Politik kann man als typisch konservativ beschreiben.36 Darüber hinaus bringt der Konservatismusbegriff präzise die Zweiseitigkeit von Heng­ stenbergs Standpunkt zum Ausdruck: Sein Denken und Handeln, die theologische Frontstellung, die er einnahm, und die Methoden und Medien, die er einsetzte, zeichnen ihn durch und durch als Theologen der Moderne aus. Die theologischen Ideen und Konzepte aber, die er vertrat, waren nicht neu, sondern geben sich bis in Einzelheiten hinein als Wiederaufnahme reformatorischer Grundeinsichten zu erkennen. Letzteres gilt nicht zuletzt für die theologische Begründung der konservativen Haltung selbst. Als theologisches Argument für seine Ausrichtung bringt Hengstenberg nämlich immer wieder das Vierte Gebot ins Spiel.37 Es wird als „Grundpfeiler der menschlichen Gemeinschaft“38 betrachtet, als „Gebot der Pietät“39, das sich nicht nicht nur auf die Eltern, sondern auf alle von Gott verordneten Autoritäten, mithin auch auf die weltliche Obrigkeit und das geistliche Amt bezieht. Nicht zuletzt wird es von Hengstenberg auch auf die Kirche, in die man hineingeboren wird, angewandt und auf die Väter und Mütter im Glauben.40 Das leichtfertige Hinweggehen über die eigene Tradition und Geschichte und die in ihnen verwahrten Einsichten wird als Ausdruck der menschlichen Hybris gewertet, die sich in Subjektivismus, Atomisierung und Individualisierung Ausdruck verschaffe. 36

  Es wurde verschiedentlich – bereits zu Lebzeiten Hengstenbergs – darauf aufmerksam gemacht, daß sich Bezeichnungen wie „orthodox“, „repristinatorisch“ oder „konfessionell“ zur Beschreibung von Hengstenbergs exegetischer Arbeit nicht eignen (vgl. als eines der älteren Urteile Hupfeld, Einleitung, 84 f., als eines der jüngeren Beckmann, Wurzel, 247.269; siehe auch oben 2.3.4). Die Rede von Hengstenberg als einem „Konfessionellen“ oder „Konfessionalisten“ hatte im Grunde immer schon nur seine – mißverstandene – Haltung zur Kirche im Auge. 37   Es ist für Hengstenberg grundlegender als Röm 13, weil er in der paulinischen Weisung – wie die Reformatoren – nur eine Anwendung des vierten Gebotes sieht. 38   Hengstenberg, Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp.  77. 39   Ders., Vorwort, EKZ 50 (1852), Sp.  18. 40   Ders., Vorwort, EKZ 22 (1838), Sp.  3.

588

Schluß

„Halte was du hast, damit dir niemand deine Krone raube“ – das Wort aus der von Hengstenberg so intensiv studierten Johannesoffenbarung (Off b 3,11) kann als Leitwort für seine vielfältigen Beschäftigungen gelten.41 Das Anliegen, dieses Motto in einer Zeit der großen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Umbrüche zur Geltung zu bringen, bewegte Hengstenberg und mit ihm den gesamten kirchlichen Konservatismus.

41

  Vgl. als einen Beleg unter vielen Hengstenberg, Augsburgische Konfession, EKZ 54 (1854), Sp.  112.

Anhang

Anhang

591

Abbildung 1: Sechswöchentlicher Katechismus-Unterricht den Irrlehrern dieser Zeit ertheilt von der Redaktion der Evangelischen Kirchen-Zeitung (SBB PK, Sig. YB 15352m)

592

Anhang

Abbildung 2: Ein Kampf ums Kreuz (SBB PK, Sig. Yb 15374 kl)

Anhang

Abbildung 3: Ernst Wilhelm Hengstenberg (aus: Bachmann 1, Vorblatt)

Abbildung 4: Gut Radensleben (Aufnahme vom Verf.)

593

594

Anhang

Abbildung 5: Campo Santo in Radensleben bei Neuruppin

Abbildung 6: Gedenktafel in Radensleben (Aufnahme vom Verf.)

Anhang

Abbildung 7: Erste Ausgabe der Evangelischen Kirchenzeitung

595

  1834/35: Passionsgeschichte; 1835/36: Passionsgeschichte nach den vier Evangelien.   1842–1846: verbunden mit Geschichte der theologischen Wissenschaften und theologischer Bücherkunde.

1

2

Theologische Enzyklopädie (und Methodologie)

Stellen aus syrischen Kirchenschriftstellern (o.ä.) 2

Übung in der Erklärung der Apokalypse des Johannes

Römerbrief

Geschichte des Leidens und der Auferstehung 1

Mt.evangelium unter Vergleichung des Mk und Lk

Matthäusevangelium

Geschichte der Juden vom Babylonischen Exil [...]

Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bund

4

5

4

1

5 5

4

5

4

5

5

Einleitung in die kanonischen Bücher des AT

4

4

4

4

5

4

4

5

5

Jesaja

Weissagungen des Jesaja

Psalmen

Hiob

4

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5

5

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4

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1

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1840 1839/40 1839 1838/39 1838 1837/38 1837 1836/37 1836 1835/36 1835 1834/35 1834 1833/34 1833 1832/33 1832 1831/32 1831 1830/31 1830 1829/30 1829 1828/29 1828 1827/28 1827 1826/27

Exodus

Genesis

596 Anhang

Tabelle 1: Hengstenbergs Vorlesungen (Quelle: Verzeichnis der Vorlesungen)

Theologische Enzyklopädie (und Methodologie)

Stellen aus syrischen Kirchenschriftstellern (o.ä.)

Übung in der Erklärung der Apokalypse des Johannes

Römerbrief

Geschichte des Leidens und der Auferstehung

Mt.evangelium unter Vergleichung des Mk und Lk

5

Matthäusevangelium

5 1

2

5

5

5

Geschichte der Juden vom Babylonischen Exil [...]

Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bund

Einleitung in die kanonischen Bücher des AT

Jesaja

Weissagungen des Jesaja

Psalmen

5

5

2

Exodus

Hiob

4

2

5

5

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5

5

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1

5

5

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1

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2

5

5

1856 1855/56 1855 1854/55 1854 1853/54 1853 1852/53 1852 1851/52 1851 1850/51 1850 1849/50 1849 1848/49 1848 1847/48 1847 1846/47 1846 1845/46 1845 1844/45 1844 1843/44 1843 1842/43 1842 1841/42 1841 1840/41

Genesis

Anhang

597

Theologische Enzyklopädie (und Methodologie)

Stellen aus syrischen Kirchenschriftstellern (o.ä.)

Übung in der Erklärung der Apokalypse des Johannes

Römerbrief

Geschichte des Leidens und der Auferstehung

Mt.evangelium unter Vergleichung des Mk und Lk

Matthäusevangelium

Geschichte der Juden vom Babylonischen Exil [...]

Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bund 5

2

2

1

5

2

2

5

5

Einleitung in die kanonischen Bücher des AT 5

5

5

5

5

Jesaja

Weissagungen des Jesaja

Psalmen

Hiob

Exodus

5

5

5

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5 1*

5

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5

5

2

5

5

5

5

2

5 2*

5

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2

5 2*

5

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2

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2

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(1869) 1868/69 1868 1867/68 1867 1866/67 1866 1865/66 1865 1864/65 1864 1863/64 1863 1862/63 1862 1861/62 1861 1860/61 1860 1859/60 1859 1858/59 1858 1857/58 1857 1856/57

Genesis

598 Anhang

Anhang

599

Erläuterungen zur Übersicht: – Die Zahlen geben die Anzahl der Semesterwochenstunden an. – Zahlen in Klammern weisen darauf hin, daß der Titel der Vorlesung oder der Gegenstand der Vorlesung leicht variiert wird. – Hochgestellte Sternchen markieren, daß es sich um eine bloße Fortsetzung der Vorlesung des vorhergehenden Semesters handelt. Nicht aufgenommen sind Vorlesungen, die Hengstenberg nur einmal gehalten hat: – Elemente der syrischen Sprache (1827, 2st.) – Anfangsgründe der syrischen Sprache (1828, 2st.) – Anfangsgründe der arabischen Sprache (1828, 2st.) – Pentateuch (1832–1833 über drei Semester: 6st., 2st., 2st.) – Exegetische Übungen (1833/34, 1st.) – Geschichte der Theokratie (1835, 5st.), entspricht wahrscheinlich der Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bund – Anleitung zur Erklärung des Deuteronomiums (1837/38, 2st.)

Literaturverzeichnis Eine streng funktionale Unterteilung der gedruckten Werke in Quellen und Sekundärliteratur ist nicht möglich, da zahlreiche Titel aus dem 19. Jahrhundert sowohl in die eine als auch in die andere Kategorie gehören. Darum wird ein zeitlicher Schnitt bei 1918 gesetzt. Der Tendenz nach gehören die vor 1918 erschienenen Werke eher zu den Quellen; deshalb werden ihnen auch eigentliche Quellenausgaben – auch diejenigen mit späterem Erscheinungsdatum – zugeordnet. Die funktionale Unterscheidung ist also nicht völlig aufgegeben. Zur besseren Orientierung werden Hengstenbergs gedruckte Schriften separat verzeichnet. In den Anmerkungen werden Kurztitel verwendet. Sie bestehen aus dem Namen des Autors und einem oder mehreren Titelwörtern, die im Literaturverzeichnis leicht zu identifizieren oder im Zweifelsfall in Klammer angegeben sind. Auch spezielle Titelabkürzungen sowie Abkürzungen für Titel ohne Autoren finden sich hier in Klammern verzeichnet. Bei Lexikonartikeln werden grundsätzlich Autor, Abkürzung des Lexikons und Bandzahl verwendet. Artikel aus der EKZ erscheinen immer mit zusätzlicher Angabe des Jahrgangs, um ihre Einordnung zu erleichtern.

1  Gedruckte Schriften Hengstenbergs 1.1  Veröffentlichungen in der Evangelischen Kirchenzeitung (chronologisch geordnet) – Vorwort, EKZ 1 (1827) – EKZ 84 (1869) (nur eine kurze Vorbemerkung an Stelle des Vorwortes in: 14 [1834]; 54 [1854]) – Ueber das innere Verhältniß der Evangelischen Kirche zu der Römischen, EKZ 1 (1827), Sp.  4–7.9–15.17–22.25–31.33–39.41–44, Nr.  1–6. – Über den Unterschied des Rationalismus und des Evangelischen Christenthums in praktischer Hinsicht, EKZ 1 (1827), Sp.  121–125, Nr.  16. – Litterarische Anzeige: Beschäftigungen mit der heiligen Schrift [...] Hamburg 1827, EKZ 1 (1827), Sp.  147–151, Nr.  19. – Ueber Mystizismus mit Beziehung auf die Schrift: „über Schwärmerei, christlichen Mystizismus und Proselytenmacherei von Ernst Stange, mit einer Vorrede von Böckel. Altona 1827 [...]“, EKZ 1 (1827), 145–147.153–156.161–167.169–175, Nr.  19– 22. – Ueber das hohe Lied, EKZ 1 (1827), Sp.  177–180.181–189, Nr.  23 f. – Ueber die Stunden der Andacht [...], EKZ 1 (1827), Sp.  249–253.257–262, Nr.  32 f. – Ueber die Tractaten-Gesellschaft zu Berlin. Von einem Mitglied des Comitté dieser Gesellschaft, EKZ 1 (1827), Sp.  392.397–400, Nr.  49 f. 

  Bei den mit * gekennzeichneten Artikeln bleibt eine gewisse Unsicherheit bei der Zuschreibung zu Hengstenberg (vgl. im Einleitungsteil, 3.).

602

Literaturverzeichnis

– Ueber die zweckmäßigste Art christlicher Einwirkung auf nichtchristliche Angehörige, EKZ 1 (1827), Sp.  385–390.393–395, Nr.  49 f. – Abraham, EKZ 2 (1828), Sp.  73–76, Nr.  10. – Anmerkungen zur Litterarischen Anzeige: August Hermann Francke. Eine Denkschrift zur Säcularfeier seines Todes [...] von Dr. Heinrich Ernst Ferdinand Guericke [...], EKZ 2 (1828), Sp.  337–341, Nr.  43. – (Cassel.), EKZ 3 (1828), Sp.  749–751, Nr.  94. – (Berlin.), EKZ 6 (1830), Sp.  48, Nr.  6.* – Gegenerklärung der Redaction, EKZ 6 (1830), 140–149, Nr.  18 f. – Gegen Dr. Neander’s rechtfertigende Erörterung der Erklärung über seine Theilnahme an der Ev. K.Z. (Berlin, bei Haude und Spener.), EKZ 6 (1830), 209–216.217– 224, Nr.  27 f. – Litterarische Anzeige: Bericht über die Umtriebe der Frömmler in Halle [...]. Von Freimund Lichtfreund [...], EKZ 6 (1830), Sp.  302–304.310–312, Nr.  38 f.* – Ueber christliche Leihbibliotheken, zugleich Uebersicht über die ascetische Litteratur, EKZ 8 (1831), Sp.  217–223.225–230, Nr.  28 f.; EKZ 12 (1833), Sp.  209–215.217– 223.225–244.249–256, Nr.  27–32 * – Herr Dr. Steudel in Tübingen und die Ev. K. Z., EKZ 8 (1831), Sp.  361–374.377–399, Nr.  46–50. – Erklärung des Herausgebers, EKZ 10 (1832), Sp.  352, Nr.  44. – Ein theologisches Bedenken, EKZ 10 (1832), Sp.  411–419, Nr.  52 f.* – Ueber die Kindertaufe, EKZ 11 (1832), Sp.  449–455.457–461.465–468, Nr.  57–59. – Das Stillestehen der Sonne Jos. C. 10, EKZ 11 (1832), Sp.  697–704, Nr.  88. – Ueber die angebliche Entwendung der Gefäße der Aegypter durch die Israeliten, EKZ 11 (1832), Sp.  812–826, Nr.  102–104. – Die Rechte der Israeliten an Palästina, EKZ 12 (1833), 41–46.49–55.57–62.73–86, Nr.  6 –11. – Zur Auslegung der Propheten, EKZ 12 (1833), Sp.  182–191, Nr 23 f. – Ignatius Aurelius Feßler, EKZ 13 (1833), Sp.  454–475.492–494.497–510.513–516, Nr.  57–60.62–65. – Der Sabbath der Juden und der Sonntag der Christen, EKZ 13 (1833), Sp.  641– 651.657–668.729–735.737–747.801–807.809–814, Nr.  81–84.92–94.101 f. – Zur Breslauer Angelegenheit, EKZ 13 (1833), Sp.  652–655, Nr.  82. – Silvio Pellico von Salluzo, EKZ 17 (1835), Sp.  457–460.465–486, Nr.  58–61. – Litterarische Anzeige: F.W.C. Umbreit, Jesus Christus in der Weissagung des Propheten Jesaja [...], in: Studien und Kritiken 1835, 551 ff. und Ders., Christliche Erbauung aus dem Psalter [...] Perthes 1835, EKZ 17 (1835), Sp.  625–629.633–638.641–645, Nr.  79–81. – Charlotte Stieglitz, ein Denkmal. Berlin bei Veit, 1835 [...], EKZ 17 (1835), 750– 767.769–783, Nr.  94–98. – Litterarische Anzeige: Über den geschichtlichen Charakter der kanonischen Evangelien [...] mit Beziehung auf das Leben Jesu von D. F. Strauß. Von Lange [....], EKZ 19 (1836), Sp.  433–436.441–456.463 f., Nr.  55–58. – Litterarische Anzeige: Die kritische Bearbeitung des Lebens Jesu von D. F. Strauß [...] von Professor Dr. Harleß [...], EKZ 19 (1836), Sp.  513–516.521–526.534–536, Nr.  65– 67. – Georg Hermes, EKZ 19 (1836), Sp.  473–486.489–493.497–501.505–510, Nr.  60–64.

1  Gedruckte Schriften Hengstenbergs

603

– Die Tochter Jephtah’s. (Richt. 11,30–40), EKZ 21 (1837), Sp.  593–597.601–605, Nr.  75 f. – Vertheidigung des Aufsatzes: Die Tochter Jephtah’s, EKZ 21 (1837), Sp.  657–663.667– 672, Nr.  83 f. – Zu dem Streite über das letzte Mahl des Herrn, EKZ 23 (1838), Sp.  777–782.785– 790.793–795.801–808.813–816, Nr.  98–102. – Antiprotestantismus des Herrn Dr. Strauß, EKZ 23 (1838), Sp.  817–820, Nr.  103. – Bedenken der theologischen Fakultät in Berlin über das Rescript des Herzogl. Consistoriums in Altenburg vom 13. November 1838, EKZ 24 (1839), Sp.  462–464.468– 472.477–480.483–491, Nr.  58–61 [gemeinsam mit Marheineke, Neander, Twesten und Strauß]. – Die Gestalt der Theokratie zur Zeit des Alten Bundes, EKZ 25 (1839), Sp.  597–602, Nr.  75. – Herr Dr. Schulz in Breslau und die Evangelische Kirchen-Zeitung, EKZ 25 (1839), Sp.  645–651.653–671, Nr.  81–84. – Eduard Irving nach der Schrift: Bruchstücke aus dem Leben und den Schriften Eduard Irving’s [....], EKZ 25 (1839), Sp.  701–706.709–712.717–720.773–777.781–787.793– 795, Nr.  88–90.97–99. – Die Zeichen und Wunder in Ägypten, EKZ 26 (1840), Sp.  321–323.329–334.337– 342.345–352, Nr.  41–44. – König Friedrich Wilhelm III., EKZ 27 (1840), Sp.  489–493.497–501.505–507, Nr.  62–64.* (eventuell gemeinsam mit E.L. von Gerlach?) – Erklärung, EKZ 28 (1841), Sp.  149 f., Nr.  19. – Die angeblichen Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung Jesu und die Erscheinungen des Auferstandenen, EKZ 29 (1841), Sp.  489–492.497–504.505– 512.513–520.521–523, Nr.  62–66. – Das heilige Land und die Evangelische Kirche Deutschlands, EKZ 29 (1841), Sp.  777– 791.793–803, Nr.  98–101. – Erklärung, EKZ 33 (1843), 474–476, Nr.  60. – Entgegnung des Herausgebers, EKZ 35 (1844), Sp.  725–731, Nr.  91. – Über die Notwendigkeit, mit dem Schriftprinzip der Evangelischen Kirche mehr Ernst zu machen, nebst Auslegung von Ps. 110 (Ein Vortrag, gehalten auf der Berliner Pastoral-Conferenz), EKZ 36 (1845), Sp.  433–440.441–448.452–456, Nr.  45–47. – Die Erklärung vom 15. August, EKZ 37 (1845), Sp.  761–804, Nr.  84–87. – Der evangelische Bücherverein, EKZ 39 (1846), Sp.  451–453, Nr.  52.* – Zur Bekenntnißfrage, EKZ 39 (1846), Sp.  496–504, Nr.  57 f. – Entwurf zu einem Schreiben an die Londoner Conferenz zu Evangelischer Vereinigung, EKZ 39 (1846), Sp.  517–520, Nr.  60. – Das Thier in der Offenbarung Johannis, EKZ 41 (1847), 937–942.945–952.953– 957.961–965, Nr.  96–99. – Zeitbetrachtungen, EKZ 42 (1848), Sp.  241–248, Nr.  27. – Das tausendjährige Reich, EKZ 42 (1848), 257–261.265–270.287 f.293–296, Nr.  29– 32. – Zeitbetrachtungen. Zweiter Artikel, EKZ 42 (1848), Sp.  273–278, Nr.  31. – Was sagt die heilige Schrift über die Revolution?, EKZ 43 (1848), Sp.  681–684.697– 700.705–709.713–715, Nr.  70–73. – Ein Antrag, der auf der evangelischen Conferenz in Wittenberg gestellt wurde, EKZ 43 (1848), Sp.  777–780, Nr.  79.

604

Literaturverzeichnis

– Das eilfte Capitel der Offenbarung St. Johannis, EKZ 43 (1848), Sp.  785–791.793– 799, Nr.  80 f. – Die Wittenberger Conferenz, EKZ 43 (1848), Sp.  817–824, Nr.  83. – Mit Gott für König und Vaterland, EKZ 43 (1848), Sp.  913–916, Nr.  93. – Gutachten der theologischen Fakultät zu Berlin in der Kirchenverfassungsfrage, EKZ 44 (1849), Sp.  265–271, Nr.  29 [gemeinsam mit Neander, Twesten, Nitzsch und Strauß]. – Berlin. Der evangelische Bücherverein, EKZ 45 (1849), Sp.  848, Nr.  90. – Schleswig-Holstein und die politische Stellung seiner Geistlichkeit, EKZ 46 (1850), Sp.  233–247.417–422.425–430.433–440, Nr.  24 f.44–46. – Erwiderung, EKZ 47 (1850), Sp.  544–548, Nr.  56 f. – Gegen die deistische Eidesformel (Ein Vortrag gehalten auf dem Stuttgarter Kirchentage), EKZ 47 (1850), Sp.  849–852.857–861, Nr.  85 f. – Das Opfer. Ein Vortrag gehalten auf Veranlassung des Evangelischen Vereines in Berlin, EKZ 50 (1852), Sp.  105–107.113–142, Nr.  12–16. – Die Katholischen Missionen und die Evangelische Kirche, EKZ 50 (1852), Sp.  473– 476, Nr.  51. – Die Katholischen Missionen und die Evangelische Kirche. Ein Vortrag gehalten auf dem Bremer Kirchentag, EKZ 51 (1852), Sp.  713–722, Nr.  77. – Das Passa. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evangelischen Vereins in Berlin, EKZ 52 (1853), Sp.  137–162, Nr.  16–18. – Der Apokryphenstreit, EKZ 53 (1853), Sp.  533–546.553–580, Nr.  54–59. – Ueber den Conflict des Staates mit der Katholischen Kirche in Baden, EKZ 54 (1854), Sp.  25–32.41–45, Nr.  4 f. – Zur Beurtheilung der neuesten kirchlichen Ereignisse in Rheinbaiern, EKZ 54 (1854), Sp.  49–56, Nr.  6. – Die Augsburgische Confession und der Kirchentag, EKZ 54 (1854), Sp.  105–117, Nr.  11 f. – Die Freimaurerei und das Evangelische Pfarramt, EKZ 54 (1854), Sp.  193–229, Nr.  19–22. – Noch einmal über die Apokryphen, EKZ 54 (1854), 293–304.313–317, Nr.  29–31. – Ein Nachtrag zu dem Aufsatze: Die Freimaurerei und das Evang. Pfarramt, EKZ 54 (1854), Sp.  403 f., Nr.  40. – Die Freimaurerei und das Evangelische Pfarramt. Zweither Theil, EKZ 55 (1854), Sp.  630–664, Nr.  63–66. – Bitte an den Herausgeber der Ev. K. Z. und Antwort der Redaction, EKZ 55 (1854), Sp.  1024–1026, Nr.  102. – Kain erhob sich wider seinen Bruder Habel, EKZ 56 (1855), Sp.  64–66, Nr.  6. – Der Prophet Jesaja. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evangelischen Vereins zu Berlin, EKZ 56 (1855), 241–259, Nr.  23 f. – Ueber das Buch Hiob. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evangelischen Vereins in Berlin, EKZ 58 (1856), Sp.  153–159.169–172.177–192, Nr.  16–19. – Ein Gutachten der theologischen Facultät in Berlin, die Irrlehre des Propstes Krause in Breslau betreffend, EKZ 58 (1856), Sp.  192–199, Nr.  19 [gemeinsam mit Twesten, Nitzsch, Lehnerdt und Strauß]. – Das Duell und die christliche Kirche, EKZ 58 (1856), Sp.  265–271.277–293, Nr.  27– 29. – Die Bilderbibel des Evang. Büchervereins, EKZ 59 (1856), Sp.  991 f., Nr.  97.*

1  Gedruckte Schriften Hengstenbergs

605

– Zur Frage über die verbotenen Ehen in der Verwandtschaft, EKZ 60 (1857), Sp.  265– 270, Nr.  25. – Die Juden und die christliche Kirche (Drei Artikel), EKZ 60 (1857), Sp.  449–459.499– 520, Nr.  40.44 f. [zwei der drei Artikel]. – Die Juden und die christliche Kirche. Dritter Artikel, EKZ 61 (1857), Sp.  652– 662.665–667.673–680, Nr.  57–59. – Die evangelische Allianz, EKZ 61 (1857), Sp.  8 01–806, Nr.  71. – Dr. Krummacher und die neun Artikel, EKZ 61 (1857), Sp.  87–89, Nr.  9. – Der Prediger Salomo. Ein Vortrag gehalten im Auftrag des Evangelischen Vereines, EKZ 62 (1858), Sp.  193–199.209–214.217–223.233–240, Nr.  19–22. – Die Söhne Gottes und die Töchter der Menschen, EKZ 62 (1858), Sp.  319– 330.399 f.407–422, Nr.  29.35–37 [Zwei Artikel]. – Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden (Zwei Artikel), EKZ 64 (1859), Sp.  313–317.321–326.361–379, Nr.  28 f.32 f. – Replik, EKZ 64 (1859), Sp.  406, Nr.  35. – Der Hochw. Evangelische Oberkirchenrath und die Evangelische Kirchenzeitung, EKZ 64 (1859), Sp.  481–486.489–500, Nr.  42 f. – Der Triumphgesang über den Fall des Königes von Babel, Jes 14,3 f f., in Beziehung zur Gegenwart, EKZ 64 (1859), Sp.  529–546, Nr.  46. – Ueber den Eingang des Evangeliums St. Johannis. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 65 (1859), Sp.  609–632, Nr.  53 f. – Das zweite Capitel des Propheten Habakuk, ausgelegt in Beziehung auf die Verhältnisse der Gegenwart, EKZ 65 (1859), Sp.  673–679.681–694, Nr.  58 f. – Minister von Raumer, EKZ 65 (1859), Sp.  761, Nr.  65. – Meditationen von Dr. Satorius, EKZ 65 (1859), Sp.  833–844, Nr.  73. – Das sogen. tausendjährige Reich. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evang. Vereines, EKZ 66 (1860), Sp.  217–232.241–258.265–271, Nr.  19–23. – Das vierzigste Capitel des Propheten Jesajas. Ein Vortrag gehalten auf der Gnadauer Conferenz, EKZ 66 (1860), Sp.  409–436.440–444, Nr.  35–38. – Christus und Nicodemus. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 66 (1860), Sp.  577–595, Nr.  49–50. – Minister von Raumer, EKZ 68 (1861), Sp.  513–532, Nr.  44 f. – Ober-Consistorialrath Prof. Dr. Stahl, EKZ 69 (1861), Sp.  777 f., Nr.  66. – Die Auferweckung des Lazarus. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 70 (1862), Sp.  601–619, Nr.  51 f. – Judas Ischariot. Ein Vortrag gehalten im Evangelischen Verein, EKZ 72 (1863), Sp.  353–372, Nr.  30 f. – Das hohenpriesterliche Gebet Jesu, EKZ 73 (1863), Sp.  761–775, Nr.  64 f. – Ioannis Gerhardi Loci theologici. Ed. Preuss […], EKZ 73 (1863), Sp.  1025 f., Nr.  87.* – Moses und Colenso, EKZ 74 (1864), Sp.  169–177.190–202, Nr.  15–17. – Die Ehen in der Verwandtschaft, EKZ 74 (1864), Sp.  313–323.329–342, Nr.  27–29. – Der Antichrist. Ein Vortrag im Evangelischen Verein, EKZ 76 (1865), Sp.  193– 198.217–227.241–253, Nr.  17.19 f.21 f. – Das Evangelium des heiligen Matthäus und die moderne Kritik [Erster Artikel], EKZ 76 (1865), Sp.  337–347.361–372 , Nr.  29–32. – Die sieben Seligkeiten in der Bergpredigt. Ein Vortrag auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 76 (1865), Sp.  595–616, Nr.  50 f.

606

Literaturverzeichnis

– Das Evangelium des heiligen Matthäus und die moderne Kritik. Zweiter Artikel, EKZ 77 (1865), Sp.  673–684.697–711.721–732, Nr.  57–62. – Die Weisen aus dem Morgenlande [Vier Artikel], EKZ 78 (1866), Sp.  169–179.201– 209.217–221.241–252, Nr.  15 f.18 f.21 f. – Der Zinsgroschen. Matth. 17,24–27, EKZ 78 (1866), Sp.  385–391, Nr.  33. – Der Feigenbaum. Matth. 21, 18–22. Marc. 11, 12–14. 20–26, EKZ 78 (1866), Sp.  473– 476.497–505.513–520, Nr.  40.42 f. – Die vier Reiter. Offenbarung 6, 1–8, EKZ 79 (1866), Sp.  633–639.641–650.657–664, Nr.  53–55. – Der Eid, EKZ 79 (1866), Sp.  785–790.809–818.833–847, Nr.  66.68.70. – Die sieben Gleichnisse vom Reiche Gottes, EKZ 79 (1866), Sp.  857–862.881– 887.905–914.929–936.953–956, Nr.  72.74.76.78.80. – Der Brief des Jakobus. Ein Vortrag, EKZ 79 (1866), Sp.  1089–1104.1113–1129, Nr.  91–94. – Die Lutherische Kirche und die Union, EKZ 79 (1866), Sp.  1161–1184, Nr.  97 f. – Warum wandeln wir im Glauben und nicht im Schauen?, EKZ 80 (1867), Sp.  129– 138.145–149.201–209.217–228, Nr.  12 f.18–20. – Die Sünderin. Luc. 7, EKZ 80 (1867), Sp.  265–283.289–305, Nr.  23 f.25 f. – Gegen den Artikel: „Die Rechtfertigung von Lic. Preuß“, EKZ 80 (1867), Sp.  553– 575.605–610, Nr.  47 f.51. – Die Zukunft des Jüdischen Volkes. Ein Vortrag auf der Berliner Pastoralconferenz, EKZ 81 (1867), Sp.  670 f.701–708.733–738.749–758, Nr.  56.59.62–64. – Das Fortbestehen der Spielhöllen, EKZ 82 (1868), Sp.  113–116, Nr.  10. – Sonne stehe stille zu Gibeon, EKZ 82 (1868), Sp.  Sp.  553–558.577–584, Nr.  47.49. – Eine Klage gegen den Herausgeber nebst Beantwortung derselben, EKZ 83 (1868), Sp.  649–664, Nr.  55 f. – Zu den evangelischen Berichten über die Himmelfart unsers Herrn, EKZ 83 (1868), Sp.  793–800.825–832.849–855, Nr.  67.70.72.

1.2  Selbständig erschienene Veröffentlichungen und außerhalb der EKZ erschienene Artikel und Aufsätze  – Alttestamentliche Kritik. Kritische Uebersicht der Untersuchungen über die Aechtheit des Pentateuch, in: Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft 1833, Sp.  245–254.257–264.303–322.345–351.353–357, Nr.  32 f.38–40.44 f. – Amrulkeisi Moallakah cum scholiis Zuzenii e codicibus Parisiensibus edidit latine vertit et illustravit Ern. Guil. Hengstenberg, Bonn 1823. – Aristoteles Metaphysik, übersetzt von E.W. Hengstenberg; mit Anmerkungen und erläuternden Abhandlungen von Ch.A. Brandis, Bonn 1824. – Auflehnung der schleswigschen Geistlichkeit, beurtheilt von einem berühmten deutschen Theologen. Mit einem Vorwort und Anmerkungen neu abgedruckt, Kjøbenhavn 1850 (=EKZ 46 [1850], Sp.  233–247.417–422.425–430.433–440, Nr.  24 f.44– 46). 

  Von den englischen Übersetzungen der Werke Hengstenbergs wurden nur einige Beispiele aufgenommen, vgl. dazu ausführlich oben 2.5.3.

1  Gedruckte Schriften Hengstenbergs

607

– Die Authentie des Daniel und die Integrität des Sacharjah, Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament Bd.  1, Berlin 1831. – Die Authentie des Pentateuches, 2 Bde., Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament Bd.  2 und 3, Berlin 1836 und 1839. – Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament siehe unter: Authentie des Daniel bzw. des Pentateuches – Das Buch Hiob, 2 Bde., Berlin 1875. – Ueber das Buch Hiob. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des Evangelischen Vereins in Berlin, Berlin 1856 (=EKZ 58 [1856], Sp.  153–159.169–172.177–192, Nr.  16–19). – Die Bücher Mose’s und Ägypten nebst einer Beilage: Manetho und die Hyksos, Berlin 1841. – Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten, 1. Theil, 1. Abtheilung enthaltend die Allgemeine Einleitung, Berlin 1829; 1. Theil, 2. Abtheilung enthaltend die Messianischen Weissagungen des Jesaja, Berlin 1829; 2. Theil, 1. und 2. Abtheilung enthaltend Sacharjah und Daniel, Berlin 1832; 3. Theil, Berlin 1835. – Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen, Zweite Ausgabe, Bd.  1, Berlin 1854; Bd.  2 , Berlin 1855; Bd.  3, 1. Abtheilung, Berlin 1856; Bd.  3, 2. Abtheilung, Berlin 1857. – Christology of the Old Testament and a Commentary on the Messianic Predictions, Second Edition greatly improved, transl. by the Rev. Theod. Meyer and James Martin, vol. 1–4, Edinburgh 1854–1868 (2. Aufl. von Bd.  1 der Übersetzung: Edinburgh 1858; ND von Bd.  1–4 der letzten Auflage 1872–1878 mit einem Vorwort von Merrill F. Unger, Grand Rapids, Michigan 1956). – Christology of the Old Testament and a Commentary on the Messianic Predictions, Second Edition, greatly improved, transl. by the Rev. Theodore Meyer und James Martin, vol. 1–4, Clark’s Foreign Theological Library, Second / New Series vol. I. IX. XIX. XX, Edinburgh 1863 / 1861 [sic!] / 1864 / 1865. – Christology of the Old Testament and a Commentary on the Predictions of the Messiah by the Prophets, transl. by Reuel Keith, vol. 1–3, Alexandria / Washington D.C. 1836–1839. – Commentar über die Psalmen, 4 Bde., Berlin 1842 / 1843 / 1844 / 1845 [Bd.  4/1] / 1847 [Bd.  4/2] (2. Aufl. 1849–1852). – Ueber den Eingang des Evangeliums St. Johannis. Ein Vortrag gehalten auf der Berliner Pastoral-Conferenz, Berlin 1859 (=EKZ 65 [1859], Sp.  609–632, Nr.  53 f.). – Einige Worte über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere, nebst Stellen aus Luther’s Schriften, in: Bachmann 1 (s.u. 3.), 334–354. – Das Evangelium des heiligen Johannes, 3 Bde., Berlin 1861 / 1862 / 1863 (2. Ausgabe Berlin 1867–1870). – Das Duell und die christliche Kirche. Aus der evangelischen Kirchenzeitung, Berlin 1856 (=EKZ 58 [1856], Sp.  265–271.277–293, Nr.  27–29). – Die Freimaurerei und das Evangelische Pfarramt, 3 Teile, Berlin 1855 (=EKZ 54 [1854], Sp.  193–229, Nr.  19–22; 55 [1854], Sp.  630–664, Nr.  63–66). – Frimureriet och det evageliska prestambetet, Ofvers. af. H. Aspeling, Norrköping 1860.**  (= Freimaurerei [s. o.])    Die mit ** gekennzeichneten Titel konnten nicht selbst eingesehen werden, weil sie nur sehr selten in Bibliotheken zu finden sind; sie wurden aber der Vollständigkeit halber aufgenommen.

608

Literaturverzeichnis

– Die Geschichte Bileams und seiner Weissagungen, Die wichtigsten und schwierigsten Abschnittes des Pentateuchs, 1. Theil, Berlin 1842. – Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde, 3 Bde., 1. Periode. Von Abraham bis auf Moses, Berlin 1869; 2. Periode in zwei Hälften. Von Moses bis zu Christi Geburt, Berlin 1870 und 1871. (engl. Übersetzung siehe unter: History) – Guyak ui Gidokron [= Christologie des Alten Testaments], übers. v. Gwang-yeon Won, Seoul 1997.** – Hengstenberg über die Entlassung des Prof. Dr. Baumgarten in Rostock (Abdruck aus der Evangelischen Kirchenzeitung), Schwerin 1859 (=Teilabdruck aus dem Vorwort, EKZ 64 [1859]). – History of the kingdom of God under the Old Testament, 2 vols., Edinburgh 1871– 1872. – Das Hohelied Salomonis, Berlin 1853. – (Hg.), Ioannis Calvini in librum Geneseos Commentarius. Ad editionem Amstelodamensem accuratissime exscribi curavit E. Hengstenberg, 2 Teile in 1 Bd., Berlin 1838. – Art. „Isaiah“, in: The Cyclopaedia of Biblical Literature10, ed. John Kitto, 2 (1854), 33–50 (1. Aufl. von 1845). – Art. „Job, The book of “, in: The Cyclopaedia of Biblical Literature10, ed. John Kitto, 2 (1854), 115–125 (1. Aufl. von 1845). – Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus mit einigen erläuternden Bemerkungen und einer authentischen Erklärung versehen, Berlin 1826 = Bachmann 1 (s.u. 3.), 354–376, Beilage VIII. – (Hg.), Die Kraft der Wahrheit, eine wahre Geschichte, von Thomas Scott, Berlin 1831. – Lebensplan, in: Bachmann 1 (s.u. 3.), 329–332, Beilage IV. – Die Offenbarung des heiligen Johannes für solche die in der Schrift forschen, Bd.  1, Berlin 1849; Bd.  2 , 1. Abteilung, Berlin 1850; Bd.  2 , 2. Abteilung, Berlin 1851 (2. Aufl. 1861 f.). – Die Opfer der heiligen Schrift. Die Juden und die christliche Kirche, Zweite Auflage, Berlin 1859 (=EKZ 50 [1852], Sp.  105–107.113–142, Nr.  12–16 und EKZ 60 [1857], Sp.  449–459.499–520, Nr.  40.44f; 61 [1857], Sp.  652–662.665–667.673–680, Nr.  57– 59). – Der Prediger Salomo, Berlin 1859. – Art. „Prophecy“, in: The Cyclopaedia of Biblical Literature10, ed. John Kitto, 2 (1854), 561–568 (1. Aufl. von 1845). – Der Prophet Jesajas, in: Vorträge auf Veranstaltung des Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke zu Berlin gehalten im Winter 1855, Berlin 1855, 194–219 (=EKZ 66 [1860], Sp.  409–436.440–444, Nr.  35–38). – De rebus Tyriorum commentatio academica, Berlin 1832. – Slesvigske Gejstliges Opsaetsighed, bedömt af en berömt tydsk Theolog. Oversat paa Dansk og forsynet med Forord og et par oplysende Anmaerkninger, Kjøbenhavn 1850 (=Auflehung [s.o.]). – Ueber den Tag des Herrn, Berlin 1852 (enthält u. a. eine überarbeitete Version von EKZ 13 [1833], Sp.  641–651.657–668.729–735.737–747.801–807.809–814, Nr.  81– 84.92–94.101 f. und einen Teilabdruck aus dem Vorwort, EKZ 48 [1851]).

2  Archivalien

609

– Das theologische Seminar, in: Köpke, Rudolf, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personalbestand, Berlin 1860, 239 f. – Theses theologicae, in: Bachmann 1 (s.u. 3.), 333 f., Beilage VI [=Berliner Lizentiatenthesen]. – (Hg.), Ueber die Unfehlbarkeit der Römischen Kirche. Ein Brief des Herrn MollardLefevre. Aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet, Berlin 1827. – Vitae Suae Curriculum, in: Bachmann 1 (s.u. 3.), 325–329, Beilage III; daran angehängt: Theses Controversae ad disputandum propositae [=Bonner Doktorthesen]. – Vorlesungen über die Leidensgeschichte, Leipzig 1875. – Die Weissagungen des Propheten Ezechiel für solche die in der Schrift forschen, 2 Bde., Berlin 1867 und 1868.

2  Archivalien Archiv der Kirchengemeinde Mennighüffen (Löhne) – Nachlaß Th. Schmalenbach Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle) (kurz: AFSt Halle) – Nachlaß F.A.G. Tholuck Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin) (kurz: GStA PK) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, III Sekt.  1 Abt.  X IV Nr.  29 Beiheft B Der evangelische Bücher-Verein hierselbst (ab Juni 1845) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, III Sekt.  1 Abt.  X IX Nr.  1 Die in Berlin erscheinende evangelische Kirchenzeitung (Mai 1827–1886) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  11 Universität Berlin (Sept. 1824–Okt. 1825) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  12 Universität Berlin (Nov. 1825–Aug. 1827) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  13 Universität Berlin (Sept. 1827–Okt. 1828) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  14 Universität Berlin (Nov. 1828–Jan. 1830) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  5 Bd.  15 Universität Berlin (Febr. 1830–Mai 1831) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  6 Bd.  6 Universität Berlin ( Juli 1841–Aug. 1843) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  1 Die Anstellung und Besoldung der außerordentlichen und ordentlichen Professoren in der theologischen Fakultät der Universität zu Berlin (Nov. 1843–Juni 1862) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Va Sekt.  2 Tit.  I V Nr.  44 Bd.  2 Die Anstellung und Besoldung der außerordentlichen und ordentlichen Professoren in der theologischen Fakultät der Universität zu Berlin ( Juli 1862–Dez. 1874) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Vf Litt. H. Nr.  1 (Hengstenberg, Studierende zu Bonn, Juli 1821–Januar 1826) – I. HA Rep.  76 Kultusministerium, Vf Litt. H. Nr.  16 (Hengstenberg, E.W., Professor zu Berlin, 1826–1895)

610

Literaturverzeichnis

– I. HA Rep.  77 Ministerium des Innern [Abt.  II Polizeiabteilung, Sekt.  9 ], Tit.  2 Specialia, Lit. K., Nr.  18 Zensursachen im Innenministerium – I. HA Rep.  89 Geheimes Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr.  18712 Acta des Königl. Geheimen Cabinets betr. des Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten und dessen Personal, 1818–1846 – I. HA Rep.  89 Geheimes Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr.  22725 betr. die Säkularfeier des Reformationsfestes und die Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen – I. HA Rep.  101 E, Lit. K, Nr.  6 Ober-Censur-Collegium: Die Censur der in Berlin erscheinenden evangelischen Kirchen-Zeitung (ab Dez. 1829) – VI. HA Nachlaß v. Altenstein, B Altensteins Briefwechsel, Nr.  15 – VI. HA Nachlaß Strauß – Vater – [G.F.A. Strauß] Gerlach-Archiv am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen (kurz: Ger­ lacharchiv Erlangen) - Faszikel Ax - Faszikel Ba Hessisches Staatsarchiv Marburg – Nachlaß A.Ch.F. Vilmar Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz – 14/23086 Ernst Carl Georg Hengstenberg, 18. März 1858–5. März 1894 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (kurz: SUB Göttingen) – Cod. Ms. Ewald University of Chicago Library, Special Collections Research Center (kurz: UChL und SCRS) – Hengstenberg file – Ms 206 – Ms 987 (zitiert als „Catalog“) Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (kurz: SBB PK) – Acta KB III C 9 Bd.  21 – Nachlaß E.W. Hengstenberg (kurz: Nl Hengstenberg) Stadt- und Landesbibliothek Dortmund Autograph Nr.  6786 Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (kurz: ThULB Jena) Nachlaß Ch.A. Brandis Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (kurz: UA HU Berlin) – Theolog. Fak. 18 Verbot des Studiums preußischer Studenten an den Universitäten Basel und Tübingen wegen burschenschaftlicher Umtriebe an den genannten Universitäten (1824) – Theolog. Fak. 80 Gesuche an die Theologische Fakultät um Erstattung von Gutachen Bd.  1 (1813–1843) – Theolog. Fak. 81 Gesuche an die Theologische Fakultät um Erstattung von Gutachten Bd.  2 (1844–1902) – Theolog. Fak. 166 Angelegenheiten der Professoren, Bd.  1 (1811–1857) – Theolog. Fak. 167 Angelegenheiten der Professoren, Bd.  2 (1858–1900) – Theolog. Fak. 171 Urlaubsgesuche der Professoren 1827–1828. 1848–1931 – Theolog. Fak. 190 Verordnung über die Einreichung von Attesten über den Kirchenbesuch durch die Theologiestudenden vor Ablegung ihrer Examina (1824)

3  Gedruckte Quellen und vor 1918 erschienene Literatur

611

– Theolog. Fak. 252 Verteilung des Stipendiums aus der Stiftung des Professor Dr. theol. Ernst Wilhelm Hengstenberg an bedürftige Theologiestudenten Bd.  A (1873– 1920) Universitätsbibliothek Rostock (kurz: UB Rostock) – Mss. Meckl. P 107/1 Nachlaß J.F.J. Bachmann Wilhelm Löhe-Archiv Neuendettelsau – Nachlaß Wilhelm Löhe

3  Gedruckte Quellen (inklusive moderne Quellenausgaben) und vor 1918 erschienene Literatur Aktenstücke aus der Verwaltung des Evangelischen Oberkirchenraths. Amtlicher Abdruck, 10. Heft, Berlin 1859. Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, Leipzig, 1 ff. (1868 ff.). Allgemeine Kirchen-Zeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche, nebst einer kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen Urkundensammlung, hg. v. Ernst Zimmermann, Darmstadt, 1 ff. (1822 ff.). (kurz: AKZ) [Hallische] Allgemeine Literatur-Zeitung (mit Ergänzungsblättern und Intelligenzblatt), hg. v. Christian Gottfried Schütz u. a., Halle / Leipzig 1804 ff. (kurz: ALZ) Allgemeines Landrecht für die preussischen Staaten von 1794, mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert, 3., erw. Aufl., Neuwied u. a. 1996. Anonym, Art. „Ehlers, L.O.“, in: Kirchliches Handlexikon, in Verbindung mit einer Anzahl von ev.-lutherischer Theologen hg. v. C. Meusel, Bd.  2 , Leipzig 1889, 312. – Glaubest du, daß du ein Sünder bist. Ein Gespräch, Berlin 1825. – Art. „Hengstenberg, Dr. Ernst Wilhelm“, in: Kirchliches Handlexikon, hg. in Verbindung mit einer Anzahl von ev.-lutherischer Theologen. Begründet von C. Meusel, Bd.  3, Leipzig 1891, 237–239. – Art. „Hengstenberg, Ernst Wilhelm“, in: The Encyclopaedia Britannica. A Dictionary of Arts, Sciences, Literature and General Information, Eleventh edition, Bd.  13 (1910), Sp.  268 f. – Art. „Schmieder, Heinrich Eduard“, in: Kirchliches Handlexikon, hg. in Verbindung mit einer Anzahl von ev.-lutherischer Theologen. Begründet von C. Meusel, Bd.  6, Leipzig 1900, 56. – Art. „Schulze, Ludwig Theodor“ , in: Kirchliches Handlexikon, hg. in Verbindung mit einer Anzahl von ev.-lutherischer Theologen. Begründet von C. Meusel, Bd.  6, Leipzig 1900, 112 f. – Der Staatsminister von Raumer und seine Verwaltung des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten in Preußen, Berlin 1860. Bachmann, Johannes, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd.  1 und 2, Gütersloh 1876 und 1880. (kurz: Bachmann 1 und 2) – Art. „Hengstenberg, Ernst Wilhelm“, RE3 7 (1899), 670–674. – Hengstenberg und die Evangelische Kirchen-Zeitung, EKZ 92 (1873), Sp.  161– 174.185–196, Nr.  15–18.

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Literaturverzeichnis

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3  Gedruckte Quellen und vor 1918 erschienene Literatur

613

– Aus vierzig Jahren Deutscher Kirchengeschichte. Briefe an E.W. Hengstenberg, 2 Bde., BFChTh 22,1 und 24,1/2, Gütersloh 1917 und 1919. (kurz: Bonwetsch 1 und 2) Bornkamm, Heinrich (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 31989. Büchsel, Carl, Die Ansprache des General-Superintendenten Dr. Büchsel am Sarge des Professors Dr. Hengstenberg bei der liturgischen Feier in der St. Mätthäus-Kirche, Neue Preußische Zeitung 1869, Nr.  126 (3. Juni). – Erinnerungen aus meinem Berliner Amtsleben, Vierter Band der „Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen“, Berlin 1886. – Über die kirchlichen Zustände in Berlin nach Beendigung der Befreiungskriege. Vortrag im evangelischen Verein, Berlin 1870. Calvin, Johannes, Opera selecta, hg. v. P. Barth, W. Niesel und D. Scheuner, 5 Bde., München 1926–1952. Coelln, Daniel von / Schulz, David‚ Ueber theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher. Eine offene Erklärung und vorläufige Verwahrung, Breslau 1830. Cohrs, Ferdinand, Art. „Herberger, Valerius“, in: RE3 7 (1899), 695–697. Dechent, H., Art. „Passavant, Johann Karl P.“, in: ADB 25 (1887), 203–207. Delitzsch, Franz, Die biblisch prophetische Theologie, ihre Fortbildung durch Chr. A. Crusius und ihre neuste Entwicklung seit der Christologie Hengstenbergs. Historisch-kritisch dargestellt, Biblisch-theologische und apologetisch-kritische Studien 1, Leipzig 1845. De Wette, Wilhelm Martin Lebebrecht, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, 2 Bde., Halle 1806 / 1807, ND Hildesheim / New York 1971. – Commentar über die Psalmen, in Beziehung auf seine Uebersetzung derselben, 2., verbess. und verm. Auflage, Heidelberg 1823; nebst beigefügter Uebersetzung, 4., verbess. und verm. Aufl. Heidelberg 1836. – Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments, Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments. Erster Theil: Die Einleitung in das A. T. enthaltend, Berlin 1817. Dibelius, Otto, Das Königliche Predigerseminar zu Wittenberg 1817–1917, Berlin 1918. Diestel, Ludwig, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869. Diestelmann, Th[eodor], Die letzte Unterredung Luther’s mit Melanchthon über den Abendmahlsstreit, nach den geschichtlichen Zeugnissen und den darüber ergangenen Urtheilen, so wie mit Rücksicht auf Luther’s ganze Stellung im Abendmahlsstreit, Göttingen 1874. Diwald, Hellmut (Hg.), Von der Revolution zum Norddeutschen Bund – Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848–1866. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde., Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 46/I und II, Göttingen 1970. Dorner, Isaak August, Abwehr ungerechter Angriffe des Herrn Professor Dr. Heng­ stenberg gegen zwei Mitglieder der theologischen Facultät der Georgia Augusta, Göttingen 1854. Dorow, Wilhelm (Hg.), Denkschriften und Briefe zur Charakteristik der Welt und Litteratur, Bd.  5, Berlin 1841.

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Literaturverzeichnis

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   Mit Autor und Titel wurden im Literaturverzeichnis nur die wichtigsten der behandelten EKZ-Artikel aufgenommen; zu allen weiteren finden sich die genauen Angaben in den Anmerkungen.

3  Gedruckte Quellen und vor 1918 erschienene Literatur

615

Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847. Enthält die Verordnungen vom 5. Januar bis zum 27. November 1847, [...], Nr.  1 bis incl. 43, Berlin s.a. [1848]. Geschichte der Gründung und der ersten fünfzig Jahre der St. Matthäus-Kirche zu Berlin. Im Auftrag der Gemeindeorgane dargestellt zur Feier des Kirchweihfestes am Sonntag Rogate 1896, Berlin 1896. Goethe, Johann Wolfgang von, Schriften zur Kunst [...], Maximen und Reflexionen, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. E Trunz, Bd.  X II, München 131999. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser. Der in Deutschland eingeborene Adel (Uradel), Jg. 5, Gotha 1904. Gutachten der theologischen Fakultät zu Berlin in der Kirchenverfassungsfrage siehe oben 1.1 Gutzkow, Karl, Das Kastanienwäldchen in Berlin (1869), in: Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hg. v. Reinhold Gensel, Achter Teil: Kleinere biographische Dokumente, Berlin u. a. 1910, 9–49. – Aus der Knabenzeit, in: Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hg. v. Reinhold Gensel, Siebenter Teil, Berlin u. a. 1910. Harless, Adolf von, Christenthum und Politik (1862), in: Ders., Das Verhältniß des Christenthums zu Cultur- und Lebensfragen der Gegenwart, Erlangen 1863, 64–85. Harnack, Adolf von, Die Theologische Fakultät der Universität Berlin (1910), in: Ders., Aus Wissenschaft und Leben, Bd.  II (Reden und Aufsätze, NF Bd.  II), Gießen 1911, 155–164. Hase, Karl von, Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Dritter Theil, Zweite Abtheilung, Zweite Hälfte, I, hg. v. G. Krüger, Leipzig 1892. Hausrath, Adolf, Richard Rothe und seine Freunde, 2 Bde., Berlin 1902 / 1906. [Hegel, Immanuel], Geschichte der Gründung und der ersten 25 Jahre der St. Matthäus-Kirche zu Berlin. Dargestellt zur Feier des Kirchweihfestes am Sonntag Rogate 1871 von dem Gemeinde-Kirchenrath der St. Matthäus-Kirche, Berlin 1871. Heine, Heinrich, Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen, bearb. von Winfried Woesler, Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr [Düsseldorfer Ausgabe], Bd.  4, Düsseldorf 1985. Heinrici, C.F.Georg, D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889. Helm, Oscar (Hg.), Die preußische Preßgesetzgebung. Eine Zusammenstellung aller auf die Presse bezüglichen Gesetze und Verordnungen zunächst zum Gebrauch für Buch- und Kunsthändler [...], Halberstadt 1852. Hengstenberg, A[lfried], Die Wohlvereinbarkeit der biblischen Kosmogonie mit den feststehenden Resultaten der kosmogenischen Wissenschaft. Vortrag im wissenschaftlichen Verein zu Bochum gehalten, in: Der Beweis des Glaubens. Monatsschrift zur Begründung und Vertheidigung der christlichen Wahrheit für Gebildete, unter Mitwirkung von O. Zöckler und R. Grau hg. von O. Andreae und C. Brachmann, Bd.  3, Gütersloh 1867, 400–418. Hengstenberg, Immanuel, Evangelische Allianz, EKZ 59 (1856), Sp.  1041–1054, Nr.  102 (Erster Artikel); EKZ 60 (1857), Sp.  209–212.217–236, Nr.  21 f. (Zweiter Artikel). Hengstenberg, Rudolph, Lebenserinnerungen, 4 Bde., Wannsee bei Berlin 1914– 1916.

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Literaturverzeichnis

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4  Nach 1918 erschienene Literatur Aland, Kurt, Berlin und die bayrische Erweckungsbewegung, in: Stupperich, R. (Hg.), Verantwortung und Zuversicht. FS für O. Dibelius zum 70. Geburtstag, Gütersloh 1950, 117–136. Althaus, Paul, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 51959. Althausen, Johannes, Kirchliche Gesellschaften in Berlin 1810–1830. Ein Beitrag zur Geschichte des Laienapostolats in den evangelischen Kirchen des 19. Jahrhunderts, Diss. masch., Halle-Wittenberg 1965. Angelow, Jürgen, Wilhelm I. (1861–1888), in: Kroll, Frank-Lother (Hg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., München 22001, 242–264. Axt-Piscalar, Christine, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, BHTh 94, Tübingen 1996. Barclay, David E., Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995.

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640

Literaturverzeichnis

– Ernst Wilhelm Hengstenberg und sein Nachlaß in der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in: Töpner, Kurt (Hg.), Wider die Ächtung der Geschichte. Festschrift für Hans-Joachim Schoeps, München / Esslingen 1969, 207–215. Zoellner, Wilhelm, Ernst Wilhelm Hengstenberg, in: Westfälische Lebensbilder, im Auftrage der Historischen Kommission des Povinzialinstituts für westfälische Landesund Volkskunde hg. v. A. Bömer, O. Leunenschloß und J. Bauermann, Hauptreihe Bd. III, Münster i. Westfalen 1934, 62–90.

Register Kursive Ziffern verweisen darauf, daß ein Begriff oder eine Bibelstelle etc. auf der betreffenden Seite nur in der Fußnote erscheint.

1  Bibelstellen Genesis Kap.  1 Kap.  3 3,15 6,1–4

235 65 218 238

Leviticus 12,4–8

188

Deuteronomium 31,24–30

222

Josua 10,12–14

284

2. Samuelbuch 2,12–15 10,5

218 132

1. Königebuch Kap.  18

174

2. Königebuch 17,24–41

222

Psalmen 2,12 120,5 104,30

507 242 274

Prediger 1,1

227

Jesaja 13,4

521

Jeremia 23,19

150

Klagelieder 1–3 3,37

274 274

Matthäus Kap.  24 28,18

517 507

Lukas 9,36–50

265

Johannes Kap.  8 18,36

228 507

Apostelgeschichte 5,29

410

Römerbrief Kap.  7 13,1–7

65 520, 527, 587

Philipperbrief 1,13 f.

266

2. Timotheusbrief 3,16

184, 237 f.

642 Offenbarung 3,11 324, 588 6,1–8 239 6,12–17 499

Register

Kap.  13 20,1–6 21,7–9 22,17

241, 242 240–242 242 150

2  Orte, Länder und Landschaften

643

2  Orte, Länder und Landschaften Ägypten  223 f., 281 Bad Kissingen 443 f. Baden, Großherzogtum  488 Bahn  471 Barby  54 Basel  7, 34–36, 39 f., 41, 43 f., 49–52, 62, 261 f., 301, 303, 342, 428, 429 Bast (Provinz Pommern)  513 Bayern, Königreich  56, 466, 488 Berlin  1, 4, 7 f., 19, 23, 30, 32, 33–36, 43 f., 49, 51 f., 54–56, 58, 59–61, 71, 77, 81 f., 85, 88–90, 96–98, 106 f., 129, 132, 137, 142 f., 153, 158, 161, 173, 176, 206, 248 f., 261, 294 f., 301, 310, 316, 367, 377 f., 382, 413, 422, 429– 432, 436, 440, 442, 444 f., 477 f., 489– 494 Biere  154 Bodensee  35 Bonn  7, 27 f., 32, 33 f., 36, 40, 50, 52, 57, 58, 137, 142, 262, 316, 367, 428–430, 432, 440 f., 442, 444 f., 450, 554–556, 561 Brandenburg an der Havel  509 Brandenburg, Provinz  564 Bremen 375 Breslau 33, 62, 126, 161, 294–296, 310, 320, 555, 557, 561

Frankreich 480, 482, 519 Fröndenberg  27 Genf  295 Gießen  298 Glauchau 443 f. Gnadau  4, 152, 154 Göttingen  112, 120, 367, 557 Gramzow  291, 492 Greifswald 33, 472, 557 Großbritannien 385 Halberstadt 465 Halle an der Saale 33, 61, 84, 91, 111 f., 120, 128, 129–132, 142 f., 152, 155, 157, 158 f., 206, 294 f., 308, 431, 433, 434, 457, 460 f., 465, 472, 477–480, 558, 561 Hamburg  120, 128, 477 Hanau, Grafschaft 361 Hannover 360, 471 Heidelberg  35, 310, 555 Herrnhut  129 Hessen, Kurfürstentum (Landgrafschaft Hessen-Kassel) 452, 466 Holland 318 Irland  519 Italien  514 f., 520

Calw  104 Cambridge  298 Chicago  248 f., 253, 258

Jena  549 f. Jerusalem  389 Jüterbog  565

Dänemark  514, 529 Delitzsch  513 Dorpat  293, 295, 545, 561 Dortmund  27

Karlsbad 443 f. Kiel  294, 555, 556 Königgrätz 360 Königsberg 33, 97, 293, 295, 298, 437 f., 440 f., 545, 555 f., 561 Köthen  155, 158 Kopenhagen  450, 529

Edinburgh  297 Elberfeld 380 England  56, 72, 85, 313, 378–380, 518 f. Ergste  27 Erlangen  23, 533, 569, 577, 579 Esslingen am Neckar  22

Leipzig  9, 130, 155, 213, 294, 296, 335, 437, 456, 458, 555, 559, 569 Limburg, Grafschaft  27 Litauen 458

644

Register

London 380, 382 Magdeburg  152, 158, 295, 488 f., 497, 546, 547 Marburg  171, 545 Mark, Grafschaft 316, 320 Mecklenburg  294, 332, 334 f., 525, 562, 577 Nassau, Herzogtum 361 Naumburg  547 Neumark, Landschaft  545, 564 Neuwied 301 New York  298 Niederlausitz  545, 564 Oberholzklau (Kreis Siegen)  513 Österreich  521 f. Oslo (Christiania)  293, 560, 561 Ostfriesland 361 Paris  32, 488 Pömmelte  152 Polen, Königreich  289 f. Pommern, Provinz 303, 304, 454, 478 Preußen, Königreich  3, 4, 33, 39 f., 56, 95, 102, 315 f., 335–366, 412, 423, 433, 435, 452, 458 f., 466 f., 504, 511, 515, 518, 520–522, 529, 548, 522, 559 f., 561, 656 Preußen, Provinz  545, 564 Princeton  299 Radensleben  7, 97, 261, 291, 413, 437, 441, 442 Ravensberger Land  8 Rheinbayern (Rheinpfalz) 466 Rom  129

Rostock  9, 294 f., 435, 529, 561 Rudolstadt  131 Rußland  518 f. Sachsen, Königreich 362 Sachsen, Provinz  152 f., 345, 458, 564 Schaff hausen  463 Schlesien, Provinz  295, 317, 345, 564 Schleswig-Holstein  514, 528–530, 533 Schönebeck  152 Schottland 378 f., 401, 519 Schwäbische Alb  35 Sonnewalde  6 f., 8 Sorau  546 Speyer 466 St. Gallen  94 Straßburg  130 f. Stuttgart  557 Südkorea  299 Tiergarten (Berlin)  161 Trieglaff  4, 330, 351, 422 Tübingen  35, 39, 298, 448 Türkei  519 f. Urach  172 USA  297, 313, 515–517 Warschau  289 Westfalen, Provinz  8, 27, 316, 427, 452 Wetter an der Ruhr / Freiheit Wetter  8, 27, 427 Wittenberg  158, 310, 432, 503, 562 Württemberg, Königreich  241, 313, 390, 488 Wuppertal  27 Zürich 323

3  Personen

645

3  Personen Abraham a Sancta Clara  257 Alexander, Joseph Addison  299 Altenstein, Karl Sigmund Franz Fhr. vom Stein zum  51, 98, 161, 427–429, 439, 450 f., 454, 458–460, 462, 464 f., 473, 474, 486, 537, 545, 548, 551, 553, 585 Ambrosius  255 Ammon, Friedrich Christoph von  255 Ancillon, Johann Peter Friedrich 459 Anselm von Canterbury  65, 255 Aristoteles  29, 51 Arndt, Ernst Moritz  57 Arndt, Friedrich  89 Arndt, Johann  94–96, 117, 255, 257, 271 f., 318 Athanasius  255 Augusti, Johann Christian Wilhelm 30 Augustin  117, 255, 271, 303, 311 Bachmann, Johann Friedrich  8 Bachmann, Johannes  6–9, 294, 561 Bädecker, Karl  58 Bahrdt, Karl Friedrich  69, 258 Ball, Hermann  35, 565 Bauer, Bruno  551 Baumgarten, Michael  294, 529, 561 Baur, Ferdinand Christian  203, 259, 448 Bayle, Pierre  217 Beck, Johann Tobias  233 Beckedorff, Georg Philipp Ludolph von 368, 431, 433 Bellermann, Friedrich  164, 407 Bellermann, Johann Joachim  58 Benda, A.  162 Bengel, Ernst Gottlieb  35 Bengel, Johann Albrecht  101, 159 f., 232, 241, 243, 255, 258–260, 275 f., 385, 570 Bernhard von Clairvaux  255 Bertholdt, Leonhard  256 Besser, Friedrich Wilhelm 351 Bethmann-Hollweg, Moritz August von  57, 406 f., 422, 553, 556, 559 Beyschlag, Johann Heinrich Christoph Willibald  472

Beza, Theodor  311 Bileam  181, 203 Bindewald, Julius  94, 354, 489 f. Bismarck, Otto von  520–522 Bleek, Friedrich  137, 444 Blum, Robert  162 Blumhardt, Christian Gottlieb 38, 39 Böckel, Ernst Gottfried August  128 Boeckh, August  225 Böhl, Georg  84, 288 Bohlen, Peter von  149 Bonhoeffer, Dietrich  546 Boos, Martin  56 Brandis, Christian August  29, 34, 37, 40, 51, 59 f., 133, 367, 450 Brenn, Gustav von  459 Brescius, Friedrich 453, 461 Bretschneider, Karl Gottlieb  128 Brückner, Benno Bruno  558 Brunnemann, Karl H.  88 Bucer, Martin 322 Büchsel, Carl Albert Ludwig  4, 6, 164, 288, 383, 421, 533, 545 f., 564, 573 Bülow, Friedrich Karl von  93 Bugenhagen, Johannes  95 Bunsen, Carl Josias Freiherr von 382, 388, 445, 455, 544, 552, 560 Calixt, Georg  126, 258 Calov, Abraham  256, 258, 276, 277, 288, 333 Calvin, Johannes 48 f., 117, 204, 223, 228, 255 f., 258 f., 271, 275–277, 303, 311, 317 f., 320–323, 324, 411, 505 Caspari, Carl Paul  294, 560, 561 Castellio, Sebastian  228 Cavour, Camillo Benso Graf von  515 Cellarius, Christoph  222 Chalmers, Thomas 378 Champollion, Jean-François  223 Chemnitz, Martin  255, 258, 277, 311, 333, 536 Christian VIII.  529 Chrysostomos 41 f., 255 Claudius, Matthias  65, 584 Clericus siehe Le Clerc, Jean

646

Register

Coelln, Daniel von  123, 152, 463 Credner, Karl August  298 Crüger, Johann  257 Crusius, Christian August  275 Cyprian  311 Delitzsch, Franz  229, 275, 293, 296, 559 De Wette, Wilhelm Martin Lebe­ brecht 33,   35, 37, 40, 61, 63, 149, 203, 206 f., 209, 232, 254, 256, 259, 427 Dieckhoff, August Wilhelm 332 Diez, Heinrich Friedrich von  60 Dillmann, Christian Friedrich August 291 Dinter, Christian Gustav Friedrich  128, 144 Döring, Friedrich Christlieb  72 Dorner, Isaak August  532, 548, 554–557 Dräseke, Johann Heinrich Bernhard  164 Droste-Vischering, Clemens August Freiherr von 370 Droysen, Johann Gustav Bernhard  286 Eardley, Culling Eardley  384 Ebers, Georg  225 Ehlers, Ludwig Otto  144 f. Ehrenberg, Friedrich  89, 545 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich  154, 161, 208, 256, 345, 448, 465, 551, 553, 559, 561 Elsner, Samuel  53, 54, 63, 86, 90, 92, 96, 121, 143, 290, 459 Eltester, Heinrich  164 Erdmann, David Christian  295, 564 Everts, William W. jun.  248 f. Everts, William W. sen.  249 Ewald, Georg Heinrich August von 172, 209, 241, 298, 367 Eylert, Rulemann Friedrich  33, 164, 316, 339, 428, 433, 439, 441, 446, 454, 545 Feneberg, Johann Michael 371 Feuerbach, Ludwig  157 Fichte, Johann Gottlieb  29, 108 Fischer, Kuno  552, 560 Flacius Illyricus, Matthias  258, 288

Florencourt, Franz von  489 Focke, Friedrich 304 Fontane, Theodor 3, 4 Francke, August Hermann  99, 101 f., 117 Frank, Franz Hermann Reinhold von  569 Freytag, Georg Wilhelm Friedrich  28 f., 31–34, 36, 52, 58, 428, 434 Friedrich II.  208, 458, 499 f. Friedrich Wilhelm III. 34, 154, 161, 315, 363, 387, 442, 445, 449, 454, 458, 464, 539 f., 551, 586 Friedrich Wilhelm IV.  153, 332, 344, 349, 351, 356, 363, 367, 372, 377, 388, 393, 396, 417, 442, 445 f., 457, 515, 550–552 Fritzsche, Karl Friedrich August  128 Funk, Henriette  53 Gallitzin, Amalia Fürstin 371 Gerhard, Johann  257 f., 267, 270, 271, 275, 276 f., 311, 333, 411, 467, 469, 522, 536 Gerhardt, Paul 318 Gerlach, Ernst Ludwig von  4, 18, 20, 23, 25, 97 f., 112, 122, 124, 128, 142–144, 152, 154 f., 247, 285, 299, 303 f., 308, 335, 350, 354, 355, 367, 382, 387–390, 397 f., 419, 420, 424, 456 f., 460, 462, 463, 476–481, 484 f., 487–489, 492– 498, 503, 507, 510 f., 520, 522, 523, 526, 534–544, 546 f., 552, 561, 574, 578, 582 Gerlach, Leopold von  93, 304, 388, 485, 489, 490, 491, 551 Gerlach, Otto von  4, 91, 152, 230, 282, 295, 299, 303, 317, 378, 435, 464, 477, 489, 527, 544, 558 Gerlach, Wilhelm von 485 Gesenius, Heinrich Friedrich Wilhelm  111 f., 120, 128, 130, 206, 215, 216, 222, 259, 460–462, 480 Gieseler, Johann Karl Ludwig 30, 249 Görres, Joseph von 370 f. Göschel, Karl Friedrich  20 f., 131, 272, 347, 350 f., 354, 357, 358, 382, 421, 546 f., 564

3  Personen

Goethe, Johann Wolfgang von  1, 128, 478 Goßner, Johannes  56, 89, 304 Gregor der Große  311 Gröben, Karl Graf von der 442 Grotius, Hugo  256, Guericke, Heinrich Ernst Ferdinand 125, 544 Habermann (Avenarius), Johann  95 Hävernick, Heinrich Andreas Christoph  10, 13, 128, 153, 223, 293, 298, 561 Hahn, August  152, 347, 437, 544, 564 Haller, Karl Ludwig von  55, 484, 526, 527 Hamann, Johann Georg  584 Hanne, Johann Wilhelm  472 Hardenberg, Carl August Fürst von  55 Harleß, Adolf von  20 Harms, Claus  69, 529 Harnack, Adolf von  23, 183 Hase, Karl August von  172, 549 Hauck, Albert  293 Haupt, Moriz  562 Hausrath, Adolf  8 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm  17, 29, 51, 108, 116, 149, 158, 162, 229, 272 f., 311, 430 Hegel, Immanuel  6 Heine, Heinrich  1 f. Heinrich, Karl Friedrich  29 Heinroth, Johann Christian Augsut  544 Held, Karl Friedrich Wilhelm 323 Hengstenberg, Alfried  279, 286 Hengstenberg, Anna  7, 248, 298 Hengstenberg, Elisabeth  546 Hengstenberg, Ernst Karl Georg  6 Hengstenberg, Hans  248 Hengstenberg, Immanuel  298, 379, 465, 519, 546, 565 Hengstenberg, Johann Heinrich Karl 6, 27, 83, 436, 441 Hengstenberg, Karl  6, 7 f., 84, 248, 288 Hengstenberg, Richard Alfried  22 Hengstenberg, Rudolph  286 f.

647

Hengstenberg, Therese (geb. v. Quast) 6 f., 23, 83, 97, 213, 287, 437, 439, 440, 448, 465, 545, 546 Hengstenberg, Therese (Tochter von Hans) 248 Hengstenberg, Wilhelm Hermann Alfried  22 Hengstenberg, Wilhelm von 33, 532, 550 Herberger, Valerius  93, 255, 257 Herder, Johann Gottfried  134 Hermes, Justus Gottfried  54 Heubner, Leonhard  347, 544, 562 Hieronymus  311 Hinckeldey, Karl Ludwig Friedrich von  525 Hodge, Charles  299 Höfling, Johann Wilhelm Friedrich 414 f. Hoffmann von Fallersleben, Heinrich  58 Hoffmann, Wilhelm  579 Hofmann, Johann Christian Konrad von  15, 25, 194, 226, 533, 569 Hollaz, David  257, 333 Hoogstraeten, Jakob von  129 Hoßbach. Peter Wilhelm  164 Huber, Victor Aimé  95, 487, 544, 578, 582 Hupfeld, Hermann  215, 247, 472 Hurter, Friedrich Emanuel von  463 Huschke, Eduard 459, 544 Jacobi, Friedrich Heinrich Ritter von  29 Jänicke, Johann  54, 89, 91, 275 Jahn, Johann  256 Jakobus  269, 271 Jarcke, Carl Ernst 484 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm  258 Jonas, Ludwig  140, 142, 164, 407 Kahnis, Karl Friedrich August  9 f., 25, 83, 210, 213 f., 296, 335, 544, 569, 579 Kamptz, Karl von  433, 443, 444, 445 Kant, Immanuel  29, 69 Karbe, Lydia  291 Karbe, Mathilde  291 Karl der Große  241, 512 Karlstadt, Andreas Bodenstein von  75

648 Keetmann, Wilhelm 41, 52, 86, 301, 565 Keil, Carl Friedrich  37, 238, 293, 561 Klaiber, Christian Friedrich  261 Klee, Emil Wilhelm 394 Kliefoth, Theodor 332, 562 Knak, Gustav Friedrich Ludwig  284, 532 f. Knapp, Georg Christian  37 Konrad von Marburg  128 Korner, W.  248, 252 Kottwitz, Hans Ernst von  54, 66, 84 f., 86 f., 310, 562 Krug, Wilhelm Traugott  128 Krummacher, Emil Wilhelm  384 Krummacher, Friedrich Adolph  544 Krummacher, Friedrich Wilhelm  383, 384, 385 f. Krummacher, Gottfried Daniel  103 Kühnöl, Christian Gottlieb  37 Küster, Samuel Christian Gottfried  88 Kuntze, Eduard Wilhelm Theodor  376 Kurtz, Johann Heinrich  238, 293 Ladenberg, Adalbert von 404 f., 555, 559, 563 Lämmer, Hugo  295 Lampe, Friedrich Adolph  324 Lancizolle, Karl Wilhelm von  57 Lasson, Adolf  562 Lavater, Johann Caspar  584 Le Clerc, Jean  207, 256 Le Coq, Adolf 304, 476 f. Lehmann, Gottfried Wilhelm  376 Lehnerdt, Johannes Karl Ludwig  554 f., 559, 564 Lenz, Max  8, 11 Leo, Heinrich  6, 18, 23, 97, 129–131, 210, 367, 376, 490, 561 Lepsius, Richard  225 Lessing, Gotthold Ephraim  268 f. Lichtenberg, Georg Christoph  149 Liebner, Albert  555 Lincoln, Abraham  517 Lindl, Iganz  56 Lindner, Friedrich Wilhelm  544 Lisco, Emil Gustav  164, 284 Lisco, Friedrich Gustav  89

Register

Lobwasser, Ambrosius  257 Löhe, Wilhelm  294, 414 Löscher, Ernst Valentin  101, 258, 418 Louis-Philippe I. 499 Lücke, Friedrich 30, 137, 139, 152, 164, 240, 241, 249, 316, 450 Luther, Martin 48, 65 f., 69, 72, 75 f., 93–95, 117, 124 f., 127, 241, 255, 258, 270 f., 275 f, 277, 285, 311, 318 f., 322, 327, 333, 415 f., 467, 469 Märklin, Christian  104 Manetho  224 f. Manteuffel, Edwin Freiherr von  526 Manteuffel, Otto Freiherr von 354, 467 Marcion  38, 133, 137 Maresch, A. W. 420 Marheineke, Philipp Conrad 33, 34, 325, 430, 434, 435, 437, 448, 561 Marianne, Prinzessin 417 Marot, Samuel  88 Mathesius, Johann  95 Mehring, Daniel G. Gerhard  88 Melanchthon, Philipp 48 f., 95, 258, 282, 285, 303, 311, 318 Mendelssohn, Moses  584 Merle d’Aubigné, Jean Henri  384 Meßner, Karl Ferdinand Hermann  554, 558 Meurer, Moritz  93 Meyer, Johann Friedrich von  544 Michaelis, Johann David  207, 255 f., 258, 275 Möller, Johann Friedrich  564 Mörlin, Joachim  318 Mohammed  198 Mollard-Lefèvre  437 Monbilly, G. H.  407 Moser, Johann Jacob  92 Mühler, Heinrich von  553, 563, 579 Müller, Adam  55 Müller, Heinrich  93–96, 255, 257 Müller, Julius  346, 348 f., 358, 422, 486 Mylius, August  257, 453 Nagel, Julius  330, 351 Napoleon Bonaparte  55, 223 Napoleon III.  514 f.

3  Personen

Neander, Daniel Amadeus Gottlieb 441, 442, 443 f., 446, 451, 460, 461, 545 Neander, Johann August Wilhelm  15, 17, 25, 33, 34, 37, 40–45, 48, 50–53, 57–62, 81, 83 f., 87 f., 98, 106, 110– 122, 125, 126, 129, 131, 140, 142, 172, 249, 290, 295, 299, 301, 304, 309 f., 313, 325, 342, 374, 378, 391, 427, 430, 432–436, 439, 441, 447, 479 f., 537 f., 544, 548, 554 f., 557 f., 565, 567 f. Nicolai, Friedrich 418, 584 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig  450, 562 Niedner, Christian Wilhelm  554, 555, 557 Nippold, Friedrich  548 f. Nitzsch, Carl Immanuel  15, 29 f., 316, 346, 347, 349, 358, 422, 450, 469, 548, 554 f., 556, 557-559, 561 Oehmigke, Ludwig  129 Oertzen, Frau von  97 Olshausen, Hermann  544, 554 Overberg, Bernhard Heinrich 371 Pascal, Blaise  271, 371 Passavant, Johann Carl  191 Paulus  269, 271 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob  37, 258 Perthes, Friedrich  120, 129 Petrich, Hermann Friedrich Wilhelm 471 Petrus Lombardus  222 Pfaff, Christoph Matthäus 314 Philippi, Friedrich Adolf  294, 561, 569 Piper, Anna (geb. Hengstenberg)  7, 9 Piper, Ferdinand Karl Wilhelm  556 Pischon, Friedrich August  164, 177, 179 Planck, Gottlieb Jakob 42 Plinius  232 Porst, Johann 453 Ptolemäus II. Philadelphos  224 Puchta, Georg Friedrich  392 Pusey, Edward Bouverie  367 Quast, Charlotte von  6–8, 96, 439, 440

649

Quast, Ferdinand von  84, 96, 288, 291, 421 Quast, Therese von  siehe Hengstenberg, Therese Quenstedt, Johannes Andreas  277, 311, 333 Radowitz, Joseph Maria E.Ch.W. von 484 Rambach, Johann Jakob  257 Ranke, Leopold von  208 Raumer, Karl Otto von 332, 354 f., 407, 448, 456, 473, 553 f., 559, 563 Redern, Charlotte von  97 Rehfues, Philipp Joseph von  30, 34, 428 f. Reichensperger, Peter  514 Rennecke, Christian Huldreich  72 Reuss, Eduard  130 f. Reuter, Hermann  557 Richter, Ämilius Ludwig  405, 409 Ritschl, Albrecht 336, 452 Ritschl, Georg Carl Benjamin  452, 454 Rochow, Hans Wilhelm von  525 Rockefeller, John D.  249 Röder, Karl von 446 Röhr, Johann Friedrich  121, 127–129, 418, 463 Ronge, Johannes  162, 373 Rosellini, Ippolito  223 Rothe, Richard  8, 25, 243, 309–315, 353, 469, 549 Rousseau, Jean-Jacques  536 Rudelbach, Andreas Gottlob  146, 444, 450, 544 Sack, Karl Heinrich 30, 31, 137 f., 316, 450 Sailer, Johann Michael von  56, 192, 371 Sartorius, Ernst Wilhelm Christian  4, 108, 123, 125, 126, 295, 342, 347, 424, 469, 545, 561, 564, 569 Savigny, Friedrich Karl von  57, 487 Schaff, Philipp  145 Schede, Hermann  94, 167, 354, 357 Scheibel, Johann Gottfried  13, 70, 72, 82, 317, 336, 338, 364, 544

650

Register

Schelling, Johann Wilhelm Joseph Ritter von  29 Schenkel, Daniel 384, 421 Schiller, Friedrich von  128, 273, 283, 478 Schleemüller, Karl Gottfried  88 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  15, 17, 25, 29 f., 33, 34, 37, 38, 57, 61, 64, 66, 71 f., 77 f., 79, 80, 81, 98, 108, 109, 111 f., 114, 115, 122, 124, 125, 126, 128, 132–179, 214, 229, 234, 276, 299, 345, 427, 430, 432, 434, 435, 453, 469, 478, 479, 569 Schleiermacherschüler  2, 151, 157, 159 f., 164, 167 f., 170–173, 176 f., 278, 325, 346, 349, 356–358, 385, 407 Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg, Christian August von 533 Schmalenbach, Theodor  6–9 Schmalz, Adele  86 Schmalz, Theodor Anton  85 Schmieder, Heinrich Eduard 310 Schneider, Karl Friedrich Theodor  556 Schnorr von Carolsfeld, Julius Veit Hans  95 Schönburg, Graf Heinrich von 443 Schubert, Gotthilf Heinrich  23, 192 Schultz, Ernst Ferdinand Sigismund  164 Schultz, Friedrich Wilhelm  294, 561 Schulz, David  123, 152, 161, 310, 320, 325, 463 Schulze, Friedrich Wilhelm  164, 167 Schulze, Johannes  248, 427, 429, 431, 433, 434, 445 Schulze, Ludwig Theodor  295 Schwarz, Karl 427 Schwerin, Maximilian H. K. A. K. Graf  559 Scott, Thomas  271 Scriver, Christian  93, 96, 257 Seegemund, Johann Georg  158 Semisch, Karl Gottlob  554, 557 Semler, Johann Salomo  114, 119, 120, 123, 126, 134, 179, 184, 200, 206, 218, 258 Senfft-Pilsach, Adolf von  86 Senfft-Pilsach, Ernst von  86

Sintenis, Wilhelm Franz  153 f., 164 Smith, Culling Eardley siehe Eardley, Culling Eardley Spalding, Johann Joachim  258 Spencer, John  207, 215 Spener, Philipp Jakob  94, 96, 99, 101 f., 106, 117, 257, 326 Stähelin, Johann Jakob 35, 37 f., Stahl, Friedrich Julius  3 f., 18, 25, 94, 153, 154, 158, 167, 283, 285, 332, 347, 354, 359, 362, 367, 380, 382 f., 394, 407, 415, 421–424, 467, 468, 487, 490, 494, 503 f., 507 f., 510–512, 523, 527, 535, 536, 543–547, 552, 557, 561, 563, 574 f., 578 Steane, Edward 380 f. Steffens, Heinrich  37 Steiger, Wilhelm  109, 144 f., 295, 316 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom  55 Steinbeck, Albert  191 Steinmeyer, Franz Karl Ludwig  291, 427, 554–556, 559 Steudel, Johann Christian Friedrich  35, 137, 221, 272, 544 Stieglitz, Charlotte  149 Stier, Rudolf 38, 39, 72 Stip, Gerhard Chryno Hermann  95 Stoecker, Adolf  96 Stolberg-Wernigerode, Anton Graf zu 153, 564 Strauß, David Friedrich  15, 20, 104, 108 f., 146–152, 157–160, 168, 172, 175, 203, 207, 215, 242, 254, 259, 272, 273, 284, 309 f., 325, 550 Strauß, Gerhard Friedrich Abraham  57, 86, 89, 97, 316, 430, 431, 433- 435, 439, 442 f., 445, 479, 544, 548, 551, 558, 563 Suckau, Karl Adolf  161 Sumner, John Bird  298 Sydow, Adolf  157, 164, 346, 347, 407 Tauler, Johann  257 Tauscher, Hermann 366 Teller, Wilhelm Abraham  258 Terenz  281 Thadden-Trieglaff, Adolf von  347

3  Personen

Theremin, Franz  89 Theresa von Avila 371 Thiersch, Heinrich  171 Thile, Ludwig Gustav von  94, 153, 350, 388, 551 Thilo, Johann Karl  431 Tholuck, Friedrich August Gottreu  8, 10, 17, 25, 33, 40 f., 43 f., 48, 50–53, 57–60, 63–81, 83–87, 91, 106 f., 128, 132, 152, 154, 268, 289, 295, 298, 301, 310, 342, 378, 427, 430, 434, 436, 439, 455, 480, 544, 563, 565, 567–569, 579 Thomas von Kempen 371 Tippelskirch, Friedrich von 489 Tischendorf, Constantin  556 Trendelenburg, Friedrich Adolf  562 Twesten, August Detlev Christian  29, 137 f., 325, 447, 548, 554, 556, 558, 563 Twesten, Karl  526 Tzschirner, Heinrich Gottlieb  128 Uhlich, Lebebrecht  152, 154, 157, 158, 164, 489, 497, 547 Ullmann , Karl  128, 555

651

Wagener, Hermann  498 Walch, Johann Georg  277 Wallmann, Johann Christian 323 Wegscheider, Julius August Ludwig  111, 112, 121, 128, 129, 130, 132, 144, 145, 152, 153, 255, 460, 462, 463, 480 Weiße, Christian Hermann  172 Wesley, John  519 Westermeier, Emil Bogislaus  154 Wichern, Johann Hinrich  93, 94, 416, 546 Wilhelm I.  173, 364, 407 f., 468, 531 f., 552, 553, 586 Wilhelm II.  531 Wilkinson, John Gardner  223 Winer, Johann Georg Benedikt  37 Wislicenus, Gustav Adolph  155–164, 169, 171, 176, 178 Witte, Leopold  8 Wölbling, Friedrich  291, 413 Woellner, Johann Christof von  161, 419 Wrangel, Friedrich Graf von  509 Wuttke, Karl Friedrich Adolf  4, 177, 283, 295, 556, 558, 561, 569 Young, Thomas  223

Varnhagen von Ense, Karl August  164 Vatke, Johann Karl Wilhelm  149, 203, 209, 557, 559 Vilmar, August Friedrich Christian  99 Vitringa, Campegius  232, 241, 255 f., 259, 260, 275, 276, 324, 570 Volkhart, Treumund  162 Voltaire  1, 242, 519

Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von  99, 102, 105, 159, 168, 177, 303, 314 Zoellner, Wilhelm  10 Zschokke, Johann Heinrich David  128 Zwingli, Ulrich 322

652

Register

4  Sachen und Themen Abendmahl 318–322, 327, 352, 357, 361 Ägyptologie  223–225, 281 Agendenstreit 316, 336, 352, 434, 458 f. Allegorische Auslegung  39, 234 Allgemeines Priestertum siehe Priestertum aller Gläubigen Altes Testament  52, 107 f., 133–142, 180, 256, 427, 435, 437, 443, 447 – Verhältnis zum Neuen Testament 37, 137, 572 Amerikanischer Bürgerkrieg  515 Amosbuch  217 Amt 328, 330, 410, 413–423, 530, 587 – ordentliches – außerordentliches Amt 416, 421 analogia fidei  233 Anfechtung  226 Anthropologie 44–48, 584 Apologetik  67 f., 226, 229 Apostel  185 Arabistik  29 Aristokratie 482 Auf klärung  1, 55, 72, 75 f., 81, 105 f., 116, 179, 258 f., 479, 516, 547, 570 Auf klärungstheologie 30, 69, 126 Augsburger Religionsfriede  575 Authentizität biblischer Bücher  217, 220 f., 227, 229

Bibel 48, 50 f., 115, 117, 140, 142, 151, 155 f., 160, 167, 169–171, 178–180, 183, 198, 200, 265, 328, 330, 356, 383, 469, 499–501, 547, 567, 569, 571, 584, 586 Bibelgesellschaft  519 – Preußische Hauptbibelgesellschaft 45, 56, 74, 90, 113, 184, 434 Buchstabe (versus Geist)  164 f., 178 Buchstabenknechtschaft  162 Burschenschaften  57 Buße  266, 503 Bußkampf  101, 268

Baptisten  366, 374, 376, 382, 383 Baptist Theological Union Seminary 249 Baseler Missionsanstalt 38 Befreiungskriege  54 f., 57, 60, 98, 147 f., 315, 363 f., 387 Bekenntnis  2, 10, 169 f., 179, 328, 330, 404, 425, 493 f., 547, 559, 563, 568 f., 572, 575 Bekenntnishermeneutik  125, 425 Bekenntnisschriften  123–125, 160, 169, 174, 178, 259, 277, 279, 307, 324, 331, 333 f., 341, 402, 415, 424, 467, 479, 537, 573 Bekenntnisverpflichtung 331 Berliner Erklärung  162

Danielbuch  216 f., 219 f. Deismus  505, 519, 583 Demokratie  527 Demut  49 Deutsche Christentumsgesellschaft  54 Deutschkatholiken 373, 396, 422, 475, 486, 504 Dissenters 380 Dissidenten 396, 466 Dogma  165, 175 Drei-Stände-Lehre  536 Duell  525

Christlicher Staat 394, 398, 487–512, 547, 565, 574 f. Christologie 44 f., 47 f., 63, 72, 168, 171 f., 175 f., 334 Chronikbücher  216 Church of England 314, 380 Church of Scotland  298 communicatio idiomatum 322 Confessio Augustana  113, 123, 126, 157, 169, 259, 327, 331, 341–343, 348, 350, 356, 362, 384, 395, 424, 466, 480, 541 – Jubiläum der Confessio Augustana  123, 125, 126, 342, 480 Confessio Sigismundi  352

Ehegesetzgebung 407, 466, 470, 486, 505 f., 509, 512 f., 524 Eigengesetzlichkeit  536

4  Sachen und Themen

Einheit – der Kirche 313, 329, 334, 376 f., 403 – der Lehre 424 f., 543 – der Schrift  200, 232 f., 571 Einleitungswissenschaft  181, 207, 216, 236 Ekklesiologie 307, 334, 423 Ekstase  186, 190 f. Entfremdung von Gott 46 f. Entkirchlichung  576 Enzyklopädie, theologische  292 Erbauung 43, 50, 230, 237, 257, 260, 278 Erfahrung  69, 265, 567–569 Erfurter Versammlung (1860)  367 Erklärung der 87  163, 165, 167 f., 171, 345, 349 Erklärung vom  15. August siehe Erklärung der  87 Erlösung 46 Erneuerung der Kirche 389 f. Erweckungsbewegung  8, 10, 56 f., 62, 71 f., 74, 80, 82, 96, 97, 98 f., 104–108, 132, 139, 147, 150, 153, 157, 177, 243, 261, 271, 274, 282, 301–315, 317, 342 f., 351 f., 365, 368, 377 f., 387, 402, 421, 424, 436 f., 475, 562, 564, 565, 567–569, 573, 575, 586 – Berliner Erweckungsbewegung 44, 53, 56, 83, 90, 96, 132, 262, 447, 449 – Englische Erweckungsbewegung  56 – Ravensberger Erweckungsbewegung 8 Erweckungstheologie 48 f., 60, 62, 73, 77, 81, 132, 262, 279, 567, 569 Eschatologie 334 Eselin Bileams  203 Estherbuch  216 Ethik, politische  506 Evangelical movement  298, 380 Evangelische Allianz  376, 377–387, 552 Evangelischer Bücherverein siehe unter Vereine Evangelium  136 Exegese 34, 37, 41, 51, 61 – Historisch-kritische Exegese  108, 159 Ezechielbuch  217, 235

653

Fakultät – Theologische Fakultät  52, 117, 119, 316, 378, 429, 448, 479, 548, 550 – Philosophische Fakultät  52 fides infantium  270 Formalprinzip  155 Fortschrittspartei  533 Forschung, historische  138, 140, 200, 206–229, 247 Freie Gemeinden  513 Freimaurer  24, 251, 421, 519 Frömmigkeit  278, 280 f., 585 Frömmigkeitswende  277 Frühkonservatismus  581, 584 Fundamentallehren / -artikel 319, 327, 386 Gegenwartsrelevanz  237–244 Geist  155 f., 161, 162, 164 f., 171, 178, 185 Gemeindekirchenordnung 406, 412 Generalkonzession 351, 396 Generalsuperintendenten 363 Generalsynode, preußische (1846)  259, 344–351, 384, 402 Genesis  292 Gesangbuch  257, 260, 453 – Berliner Gesangbuch 453 Geschichte  61, 78, 80, 116, 195 f., 197– 208, 273 f., 282, 570 – Heilige Geschichte  197–207 – Geschichte Israels  292 Geschichtlichkeit  232, 245, 278 Gesetz  100, 136 – Mosaisches Gesetz  224 – Gesetz und Evangelium  212 Gewissensfreiheit  328, 398 Glaube 47–49, 67, 114 f., 117, 132, 170, 174 f., 212, 226, 267, 269–271, 333 – Stufen des Glaubens  263 f. Gnadauer Konferenzen  387 Gnade  100 – zuvorkommende Gnade siehe gratia praeveniens Gottähnlichkeit 47 Gottesdienst 334 Gottesvorstellung  174 gratia praeveniens  212, 264

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Register

Haggaibuch  217 Hallischer Kirchenstreit  9, 111, 125 f., 127, 131 f., 152, 306, 309, 418, 420, 460, 462, 480, 484 Hamartiologie  63–64, 72 Heeresreform  531 Hegelianismus  4, 129, 149, 159, 433 „Heidelberger Landlüge“ 318 Heilige Allianz  523 Heilige Schrift siehe Bibel Hellsehen  191 f. Hermeneutik Hengstenbergs  13 f., 246, 469 Hermeneutischer Zirkel  571 Hermesianismus 370 Herrnhuter Brüdergemeine  54, 66, 102, 154, 159, 257, 288, 301, 303, 305, 314, 366, 493 Hiobbuch  216, 227, 235, 261, 292, 432 Hoffnung besserer Zeiten 301 Hoheslied  216, 228, 234 f., 244 Hoseabuch  217 Hyksos  224 f. Industrialisierung  26 Innenministerium  450, 467 Innere Mission 414, 416 f., 564 Inspirationslehre  179, 180, 183–186, 188–193, 195–197, 235, 278, 571 Irvingianer  498 Jakobusbrief  263, 269, 271 Jansenismus 371 Jeremiabuch  217 Jesajabuch  217 Joelbuch  217 Johannesapokalypse  181, 231 f., 240– 244, 261 Johannesevangelium  181, 227, 231 Josephinismus 371 Judenemanzipation 466, 504 Judenmission  83 Judentum  15, 135, 504 f., 512 f. – Verhältnis zum Christentum  38, 137 Kamarilla 354, 510, 543, 551 Kanon  136, 140, 183 f., 213 Karlsbader Beschlüsse 452, 466

Katechismus  117, 169, 244, 528 Katechismuswahrheiten  117, 125, 127, 131, 325, 330 Katholizismus, römischer  108 f., 363, 367–377, 387 Kirche  152, 167, 170, 301–315, 329 f., 334, 423, 425, 547, 550 – Kirche und Staat  155, 456, 486, 503– 511, 586 – Lutherische Kirche  275, 318 f., 322, 324, 333, 359–364, 406, 471 – Sichtbare Kirche 310–315 – Römisch-katholische Kirche  56, 243, 314, 367–377 – Unsichtbare Kirche 308, 311 f., 539 Kirchen – Bethlehemskirche (Berlin)  54, 89 – Dorotheenstädtische Kirche (Berlin)  88 – Elisabethenkirche (Berlin)  464 – Friedrichwerdersche Kirche (Berlin)  91 – Garnisonskirche (Berlin) 377 – Neue Kirche (Berlin)  88 – Matthäus-Kirche (Berlin) 421, 545 – Spittelkirche (Berlin) siehe St.Getraud-Kirche – St.-Gertraud-Kirche (Berlin)  54, 89 – St. Nikolai (Berlin)  173 Kirchenaustritt 463 Kirchengeschichte 34, 37, 41–43, 51, 122 Kirchenpolitik 423 Kirchenregiment 352–355, 358–360, 362–364, 410, 418 – Landesherrliches Kirchenregiment 388, 391–399, 406, 412, 413, 425, 513 Kirchentag  4, 362, 375, 380, 422, 423, 503, 531, 557, 564 Kirchenverfassung  163, 165, 280, 309, 315, 344 f., 350, 387–406, 414, 424, 459, 472, 486, 493 f., 513, 573, 586 Kölner Wirren 370 f., 486 König 490 Kommentare, exegetische  181 Konfession siehe Bekenntnis Konfessionalismus  12, 387, 572, 580 Konfessionalist  10, 11, 170, 364, 572

4  Sachen und Themen

Konkordienformel  117, 321, 326 f., 329, 333, 341 Konservatismus  2 f., 55, 246 f., 474, 476, 576–588 Konsistorien 390, 392, 399 f., 405, 412 f., 564 Konstantinische Wende  243 Konstitutionalismus  508 f., 527 Konventikel  307 Konzil – Konzil von Trient  259, 369 – Erstes Vatikanisches Konzil 370 Kreuzberg-Antiquariat  249 Krimkrieg  518, 522 Kritik, historische  14, 206, 208–211, 214, 216, 228, 245, 247 Kryptocalvinisten 352 Kulturluthertum  283 Kultusministerium  19, 399, 405, 409, 412, 427, 429, 450 f., 453 f., 467, 471, 513, 550, 552 Landrecht, Allgemeines Preußisches 397 Lebensmagnetismus  192 Legitimismus 499, 523, 526, 528 f. Lehramt 328, 413 Lehre, kirchliche  117, 124 f., 170, 425, 539, 572 f. – Lehre und Leben  120 Lehrfreiheit 396, 479, 480 Liberalismus  2 f., 3, 338, 506, 580 Libertinismus  264 Lichtfreunde  152–166, 170 f., 259, 278, 288, 345 f., 349, 373, 396, 399, 420, 465, 475, 486, 489, 497, 504, 512, 540, 542, 551, 565 Lutheraner, Breslauer bzw. Schlesische  126, 309, 317, 330, 336–338, 351, 355, 359, 396, 397, 400, 403, 475, 486, 493, 544 Lutherausgabe  277 Lutherisch / Luthertum  2, 13, 69, 88, 213, 241, 243, 271, 275, 276, 294, 300, 315–324, 327, 329, 332–340, 351–353, 357, 359–366, 376, 381, 395, 401, 406 f., 424, 471, 535, 536, 559, 565, 569, 576–580 Lutherischer Zentralverein 351

655

Märzregierung (1848) 404 Magdeburger Gebetsstreit  154 Maikäferei  55 Maleachibuch  217 Mariendogma 370, 373 Materialprinzip  159 Matthäusevangelium  292 Methode  209, 216, 236, 245 f., 297, 571, 584, 587 Methodisten  366, 376, 382 Michabuch  217 Mission  83, 519 Missionsgesellschaften 323 – Berliner Missionsgesellschaft  91, 323 – siehe auch unter Vereine Missionsseminar  91 Mittelalter  243 Monarchie  506, 527 Monbijou-Konferenz (1856)  407, 422 Muslime  269 Mystizismus  185, 306 Mythen  204 Mythosbegriff  147 Nachlaß Hengstenberg  23, 543 Nathansweissagung  218 Nationalismus  514, 529 Naturwissenschaft  285 „Neue Ära“ 466, 470, 473 Neues Testament 427, 443 notae ecclesiae 403 Oberkirchenrat, Evangelischer  173, 354, 357, 360, 363 f., 404–413, 470 f., 513, 563 Oberzensurkollegium 452–454, 457, 459 Obrigkeit 469, 476, 482 f., 486, 488–511, 520, 522 f., 525, 528, 532, 547, 557, 586 f. Offenbarung  69, 79, 116, 132, 187 f., 190–197, 199 f., 204, 224, 272, 278, 571 Ordinationsbekenntnis 347 Ordinationsverpflichtung 346 Orientalistik  28, 31–33, 35, 237, 256 Orthodoxe Kirche 458 Orthodoxie, altprotestantische  14, 177, 257 f., 260, 276 f., 333, 536

656

Register

Oxford Movement 380 Pantheismus  149, 583 Papsttum  241, 375 Partei(en)  2, 345, 474 f., 536–542 Passionsgeschichte  292 Pastoralkonferenz  4, 158, 160, 288, 351, 382, 413, 420, 422, 532, 564 Pentateuch  207, 216, 220 f., 223, 227 – Samaritanischer Pentateuch  222 Philosophie  29, 32 Pietismus  1, 96, 98–108, 109, 129, 159, 257, 280 f., 385, 579 Politisierung 474–476, 535 praecipuum membrum ecclesiae 354, 357, 391 Prädestinationslehre  271, 322 Prediger Salomo  235 Predigerseminar 310, 432 Presbyterialverfassung 401, 403 f., 406, 412 Presbyterianer  298 f. Pressefreiheit 457 Pressegesetz 466 f. Priestertum aller Gläubigen  66, 113, 399, 413–415 principium cognoscendi  178 f. Prinzipien des Protestantismus 326 Propheten  185–187, 189 f., 201 f., 235 Protevangelium  218 Protestantenverein  173 Protestantische Freunde siehe Lichtfreunde Protestation, Speyrer (1529) 410 Protologie siehe Schöpfungslehre Provinzialkonsistorien 363, 399 Provinzialsynoden 345 f., 402 Psalmen  181, 189, 231, 235, 292 Publizistik, kirchliche 417 Puritaner  298, 376 Puseyiten 379–381 Quäker  374 Rationalismus 33, 70 f., 75, 101, 103, 108 f., 111, 115, 118–120, 123, 129, 140, 142, 144, 145, 147–150, 152–159, 165, 168, 171, 174, 176, 185, 246, 272,

273, 280, 306, 308, 324, 346, 348, 349, 369, 384, 385, 433, 479, 490, 519, 538, 584 – Theologischer Rationalismus  14, 17, 570 Rechtfertigungslehre  101 f., 159, 165, 263–272, 383, 568 Reformation  2, 72, 163, 243, 257, 260, 267, 277, 282, 312, 334, 343, 369–371, 416, 476, 585, 586 Reformierte  2, 27, 88, 144, 257, 259, 276, 299, 309, 311, 315–324, 327, 336– 339, 341, 342, 348, 354, 357, 361, 362, 364, 401, 403, 406, 424, 565, 580 Religionsedikt, Woellnersches  419, 476, 479 Repristination  244 Republikanismus  506 Restauration  55, 122, 279 Revolution  26, 469, 476, 479, 485, 529 – Französische Revolution  55 – Julirevolution  131, 473, 480, 482, 487, 582 – Revolution von 1848  274, 411,473, 488–511, 534, 542 Romantik  72 Sacharjabuch  216, 217 Säkularisierung  26 Sakramentenlehre 334 Satisfaktionslehre  65 Schöpfungslehre  63, 140 Schriftlehre  168 Schriftprinzip  155, 159 f., 169, 171, 177– 179, 568, 584 Schule  509, 512 Selbsterfahrung 48, 51 Selbsterkenntnis 45 f., 64 Selbstsucht 47 f. Selbstverleugnung  49 Seminar, Alttestamentliches 430 Separation 301–309, 344, 351, 355, 359 Sklaverei  515 f. Sonntagsheiligung 466, 470 Soteriologie  63, 568 Spiritualismus  186 status politicus  535

4  Sachen und Themen

Subjektivismus / Subjektivität  75–77, 160, 169, 171, 179, 185, 188, 209, 311, 385, 571, 583, 587 Sünde 47–49, 76, 100, 109, 175, 265 f., 568, 584 Sündenerkenntnis  67 f. Sündenerfahrung  67 Sündenlehre siehe Hamartiologie Sündenvergebung  265 f., 270 Supranaturalismus  147, 272, 485, 573 Syllabus 370 Synode 340 f., 388, 390, 393 f., 399–405, 412, 493 Täufer 311 Tausendjähriges Reich  232, 240 f. Territorialismus 392 testimonium internum spiritus sancti  227 f. Teufel  175 Theodizee  274 Theologie  107, 113, 115, 117, 119, 123, 132, 141, 175, 283, 425, 569, 572, 584 – Kirchliche Theologie  126 – Konfessionelle Theologie  13, 122, 278 – Konservative Theologie  262 – Liberale Theologie  259 – Natürliche Theologie  280 – Vermittlungstheologie  126, 316, 346– 350 Toleranzedikt (1847) 397 tota scriptura  160, 169, 276 Tradition, kirchliche  219, 244 Trierer Wallfahrt 370, 373, 486 Trinitätslehre 383 Tropuslehre 314 Ubiquität 322 Ultramontanismus 371 f. Unglaube  210 Union  10, 309, 314–320, 324, 335–366, 379, 382 f., 387, 395, 400, 402, 407, 423 f., 458 f., 468, 486, 563, 573 – Bekenntnisfreie Union 344, 356 – Geistliche Union 337 f., 340, 365 – Lehrunion 345 – Kabinettsordre (1834) 355 – Kabinettsordre (1852) 354

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– Kabinettsordre (1853) 355, 357 – Konföderative Union 353–366, 471 – Konsensunion 358, 365 – Positive Union  358, 580 Universität 33 – Berlin / Friedrich-Wilhelm-Univer­ sität zu Berlin  11, 18, 153, 249 – University of Chicago  249 Vereine  4, 416, 421 – Evangelischer Bücherverein  92–96, 422 – Evangelischer Verein für kirchliche Zwecke  6 f., 95, 422 – Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden  56, 91 – Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden  56, 83, 91 – Gustav-Adolph-Verein 422 – Hauptverein für christliche Erbauungsschriften („Traktatgesellschaft“)  56, 90, 92, 96 – Lutherische Vereine 351, 353, 356– 358, 359, 547, 564 – Unionsverein  173, 407 Vereinigter Landtag von 1847  507 Verfassung, Preußische 405, 466, 507 Vernunft  72, 76, 120, 154 f., 185, 567, 584 – Vernunft und Offenbarung  69 f., 73, 80 Verstand  190 Vormärz  155, 534, 566 Vorverständnis  213 Wahlerlaß  531 Weisheit  189 Weissagungen – Messianische Weissagungen  133–142, 218 f. – Prophetische Weissagungen  186, 188, 194, 196, 198, 201, 292 Wesen des Christentums  135–137, 178 Widerstandsrecht  502 Wingolf  291 Wille  211 f., 264, 270 – Unfreier Wille  264, 270

658

Register

Wissenschaft 43, 103 f., 140 f., 156 f., 168, 172, 174 f., 285, 333, 457 – Theologische Wissenschaft  114, 116, 139, 584 Wittenberger Konkordie 318, 321 Wochenblattpartei  518 Wort Gottes  159, 356 Zeitungen / Zeitschriften 475 – Allgemeine Deutsche Bibliothek 418 – Allgemeine Kirchenzeitung (Darmstadt) 418, 462 – Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle)  128, 451, 460 – Allgemeine Zeitung (Augsburg)  463 – Berliner Politisches Wochenblatt 484 f., 498 – Evangelische Kirchenzeitung  5 f., 10, 12–21, 70, 107, 108 f., 110–113, 120– 122, 125, 127, 130, 139, 142–145, 152, 154 f., 165, 172, 175, 213, 230, 239 f., 302–304, 307–309, 316, 320, 328, 331, 335–338, 344, 358 f., 365 f., 367, 368, 378, 388, 396, 407, 409, 413, 417–419, 421, 425, 436, 440, 446, 450–536, 542

– Hallesche Allgemeine Literaturzeitung siehe Allgemeine Literatur-Zeitung – Kreuzzeitung siehe Neue Preußische Zeitung – Kritische Prediger-Bibliothek  127, 129, 418, 462 – Literarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt (Halle)  455 – Neue Evangelische Kirchenzeitung 411, 554, 558, 579 – Neue Preußische Zeitung 498, 510, 518, 520, 525, 534 – Protestantische Kirchenzeitung 384 – Volksblatt für Stadt und Land zur Belehrung und Unterhaltung (Quedlinburg u. a.) 489 f., 498, 585 Zensur 452–461, 466, 473 Zentrumspartei  367 Zorn Gottes  209 Zwei-Reiche-Lehre  535 Zwinglianismus 380