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German Pages 262 [264] Year 2008
Tim Stichlmair Stadtbürgertum und frühneuzeitliche Sprachstandardisierung
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Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Tim Stichlmair
Stadtbürgertum und frühneuzeitliche Sprachstandardisierung Eine vergleichende Untersuchung zur Sprachentwicklung der Städte Emmerich, Geldern, Nimwegen und Wesel vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020875-7 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Den Freunden des Niederrheins und der guten alten Zeit
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel im Jahre 2007 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen und mit dem Prädikat "opus valde laudabile" (1,0) ausgezeichnet. Ich möchte hiermit allen danken, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben, insbesondere meinem Erstgutachter Prof. Dr. Michael Elmentaler, der mir über viele Jahre mit Rat und Tat beigestanden hat und ohne den die Vollendung dieser Dissertation nicht möglich gewesen wäre. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Markus Hundt für die freundliche Übernahme und die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Mein besonderer Dank gilt selbstverständlich auch Prof. Dr. Arend Mihm, dem Leiter des Duisburger DFG-Projektes "Zur Entstehung der deutsch-niederländischen Sprachgrenze im Rheinmaasraum", in dessen Kontext diese Dissertation entstanden ist. Er hat mir in den vergangenen Jahren viele wertvolle Denkanstöße gegeben, die in die Arbeit eingeflossen sind. Außerdem gilt mein Dank den Mitarbeitern der verschiedenen Archive für die freundliche Bereitstellung der frühneuzeitlichen Handschriften. An dieser Stelle möchte ich stellvertretend Dr. Martin Wilhelm Roelen vom Stadtarchiv Wesel erwähnen, der mir durch sein stets hilfsbereites Verhalten besonders positiv in Erinnerung bleiben wird. Dinslaken, im Sommer 2008
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................ VII Abkürzungsverzeichnis .................................................................... XIII Abbildungsverzeichnis ....................................................................... XV 1.
Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen ............................................................................ 1
1.1.
Der norddeutsche Sprachentausch und die Ausbildung des Neuniederländischen ....................................................................... 1 Der Einfluss der Territorien auf die Sprachstandardisierung .......... 7 Zur Rolle des Buchdrucks: Sprachausgleich auf rein schreibsprachlicher Basis? ....................... 10 Der Einfluss der überregionalen religiösen Erneuerungsbewegung: Luther und die Reformation..................... 13 Die Bedeutung der Städte und der Mehrsprachigkeit der Oberschichten für die Sprachgeschichtsforschung: Neuere Ansätze zur Erklärung der sprachlichen Modernisierung .............. 16
1.2. 1.3. 1.4. 1.5.
2.
Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse ................................... 23
2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.
Zielsetzung und methodische Überlegungen ................................... 23 Untersuchungsverfahren...................................................................... 28 Untersuchungsgebiet ............................................................................ 28 Stichprobenauswahl.............................................................................. 33 Auswertungsverfahren ......................................................................... 36
3.
Wesel und Emmerich: Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve .................................................... 49
3.1. Einleitung ............................................................................................... 49 3.1.1. Benutzte Quellen, Untersuchungszeitraum, Stichprobenwahl ...... 50 3.1.2. Der realhistorische Hintergrund......................................................... 53
X
Inhaltsverzeichnis
3.2.
Die autochthonen Stadtsprachen in Wesel und Emmerich vor Beginn der Überschichtungsprozesse......................................... 55 3.3. Überblick über den Überschichtungsverlauf in beiden Städten .... 58 3.4. Die Frühphase der hochdeutschen Überschichtungsprozesse in Wesel und Emmerich: Ripuarisierung oder neuhochdeutsche Überschichtung?.................................................... 63 3.5. Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale: oberdeutsche oder ostmitteldeutsche Überschichtung? ................. 66 3.6. Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld........................................................................................... 77 3.7. Verlauf und Profil der „hochdeutschen Welle“ in Emmerich....... 88 3.8. Der plötzliche Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel.................. 95 3.9. Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld: Erneuter Rückgang des hochdeutschen Anteils............................. 101 3.10. Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich........................... 109 3.11. Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung................. 118 3.11.1. Die Übernahme allochthoner Varianten (positive Akkommodation)................................................................ 120 3.11.2. Die Reduktion autochthoner Varianten (negative Akkommodation)............................................................... 130 3.11.3. Die Reihenfolge der Veränderungen in Emmerich....................... 141 3.12. Ergebnisse der Überschichtungen.................................................... 145 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2.
Geldern und Nimwegen: Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Geldern .............................................. 149
Einleitung ............................................................................................. 149 Benutzte Quellen, Untersuchungszeitraum, Stichprobenwahl .... 150 Der realhistorische Hintergrund....................................................... 153 Die autochthonen Stadtsprachen in Geldern und Nimwegen vor Beginn der Überschichtungsprozesse....................................... 155 4.3. Überblick über die schreibsprachliche Entwicklung in Geldern und Nimwegen ................................................................ 158 4.4. Die hochdeutsche Welle in Geldern und Nimwegen.................... 161 4.4.1. Neuhochdeutsche Diphthongierung und Lautverschiebung (Variablenkatalog 1) ............................................................................ 161 4.4.2. Weitere hochdeutsche Merkmale (Variablenkatalog 2)................. 177
Inhaltsverzeichnis
XI
4.5. Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung................. 184 4.5.1. Die Übernahme allochthoner Varianten (positive Akkommodation)................................................................ 185 4.5.2. Die Reduktion autochthoner Varianten (negative Akkommodation)............................................................... 201 4.5.3. Die Reihenfolge der Veränderungen in Geldern und Nimwegen .................................................................................... 214 4.6. Vergleich der neuniederländischen Überschichtung in Geldern und Nimwegen mit derjenigen in Emmerich............. 219 4.7. Ergebnisse der Überschichtungen.................................................... 222 5.
Ergebnisse ............................................................................................ 227
6.
Literaturverzeichnis ............................................................................ 233
Abkürzungsverzeichnis GP RP SR
Gerichtsprotokoll Ratsprotokoll Stadtrechnung
EMM GEL NIM WES
Emmerich Geldern Nimwegen Wesel
{ } { *} { -} { -*}
Kennzeichnung der Lautpositionen Kennzeichnung einer geschlossenen Silbenposition Kennzeichnung einer offenen Silbenposition Kennzeichnung einer sekundär geschlossenen Silbenposition steht für die Lautposition westgermanisch u vor n und beliebigem Konsonant Bezeichnung der Graphien Verbindung einer Graphie mit einer Lautposition = Graphem frühneuzeitlicher Beleg neuhochdeutsche Übersetzung Bezeichnung eines gesprochenen Lautes Umlaut von westgermanisch û (in den Abbildungen) Morphemtypen
z.B. {unx}
< >≈{ } z.B. vnd z.B. 'und' Z\ û-UL MT
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23:
Ripuarischer Variablenkatalog Hochdeutscher Variablenkatalog 1 Hochdeutscher Variablenkatalog 2 Oberdeutscher bzw. ostmitteldeutscher Variablenkatalog Neuniederländischer Variablenkatalog Die Realisierung der neuniederländischen Variablen in Brüssel und Amsterdam Stichprobenübersicht Wesel Stichprobenübersicht Emmerich Stichprobenübersicht Emmerich (hochdeutsche Überlieferung) Die hochdeutsche Überschichtung in Wesel Die hochdeutsche Überschichtung in Emmerich Diachrone Entwicklung der Merkmale Nr. 1-9 des neuniederländischen Variablenkataloges in Emmerich Anteil der hochdeutschen Varianten bei verschiedenen Lautpositionen in Wesel Anteil der hochdeutschen Varianten bei verschiedenen Lautpositionen in Emmerich Anteil der oberdeutschen Varianten in den Weseler Stichproben der Jahre 1591 und 1622 Anteil der ostmitteldeutschen Varianten in den Weseler Stichproben der Jahre 1591 und 1622 Oberdeutsche Varianten in Wesel Anteil der oberdeutschen Varianten in der hochdeutschen Emmericher Überlieferung Anteil der ostmitteldeutschen Varianten in der hochdeutschen Emmericher Überlieferung Anteil der hochdeutschen Varianten in den Texten des Weseler Stadtschreibers Reid (1587) Anteil der hochdeutschen Varianten in den Texten des Weseler Stadtschreibers Raesfeld (1587) Anteil von hochdeutsch für {-b-}, {-b} in Wesel Anteil von hochdeutsch für {î-}, für {û}, für {üÎ/iu} in Wesel
XVI
Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37: Abb. 38: Abb. 39: Abb. 40: Abb. 41: Abb. 42: Abb. 43: Abb. 44: Abb. 45: Abb. 46:
Abbildungsverzeichnis
Anteil von hochdeutsch für {p} in Wesel (Angaben in %) Anteil von hochdeutsch für {t} in Wesel Anteil von hochdeutsch für {k} in Wesel Anteil von hochdeutsch für {d} in Wesel Anteil hochdeutscher Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1627 Anteil hochdeutscher Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1654a Diachrone Entwicklung von für {b} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {î}, für {û} und für {üÎ/iu} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {p} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {t} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {k} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {d} in Emmerich Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld vor dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591) Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591) Übersicht über die rheinmaasländischen Reliktformen in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591) Anteil der hochdeutschen Varianten in der letzten Stichprobe des Schreibers Raesfeld aus dem Jahr 1622 Anteil der hochdeutschen Varianten in den Konzeptfassungen des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen im Jahre 1591 Anteil der hochdeutschen Varianten in der Konzeptfassung des Schreibers Raesfeld vom 25.11.1591 Anteil der hochdeutschen Varianten in der Ausfertigung des Schreibers Raesfeld vom 25.11.1591 Vergleich von fünf doppelt überlieferten aufeinander folgenden Stichproben des Schreibers Raesfeld aus dem Jahr 1591 Diachrone Entwicklung aller Variablen der hochdeutschen Überlieferung in Emmerich Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1617 a Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1627
Abbildungsverzeichnis
Abb. 47: Abb. 48: Abb. 49: Abb. 50: Abb. 51: Abb. 52: Abb. 53: Abb. 54: Abb. 55: Abb. 56: Abb. 57: Abb. 58: Abb. 59: Abb. 60: Abb. 61: Abb. 62: Abb. 63: Abb. 64: Abb. 65: Abb. 66: Abb. 67: Abb. 68: Abb. 69: Abb. 70:
XVII
Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1654 Diachrone Entwicklung von für {au} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ord, ort} in Emmerich Diachrone Entwicklung von soo für 'so' in Emmerich Diachrone Entwicklung von e-Graphien für '-ieren/ -iert' in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ai-} (vor r, h, w) in Emmerich Diachrone Entwicklung der h-anlautenden Pronomina in Emmerich Diachrone Entwicklung von en/ende für 'und' in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ald, alt} sowie {old, olt} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ô} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {o-, ö-} in Emmerich Diachrone Entwicklung von a-Graphien für {o-, ö-} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {â*, a-*} in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 1 in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 2 in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {û-, üÎ,} (nicht vor {r}) in Emmerich Diachrone Entwicklung von für {î-} bzw. {i*} in Emmerich Übernahme neuniederländischer Varianten in der Schreibsprache von Emmerich (ab 1600) Durchsetzung autochthoner, mit der neuniederländischen Schreibtradition übereinstimmender Varianten in Emmerich (ab 1600) Stichprobenübersicht Geldern und Nimwegen Übersicht über die Stichprobengrößen in Geldern Übersicht über die Stichprobengrößen in Nimwegen Diachrone Entwicklung des hochdeutschen Einflusses in Geldern und Nimwegen („hochdeutsche Welle“) Diachrone Entwicklung des neuniederländischen Einflusses in Geldern und Nimwegen
XVIII
Abb. 71: Abb. 72: Abb. 73: Abb. 74: Abb. 75: Abb. 76: Abb. 77: Abb. 78: Abb. 79: Abb. 80: Abb. 81: Abb. 82: Abb. 83: Abb. 84: Abb. 85: Abb. 86: Abb. 87: Abb. 88: Abb. 89: Abb. 90: Abb. 91:
Abbildungsverzeichnis
Diachrone Entwicklung von für {î} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {üÎ/iu} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {û} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-k-} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-k} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-b-} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-b} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-d-} in Geldern und .. Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-t-} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {-t} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von 'und' (und/vnd) in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von postvokalischem in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von postkonsonantischem in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {un*} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von -ung für '-ung' in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {au} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ord, ort} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für 'so' in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von e-Schreibungen für '-ieren/ -iert' in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ai-} (vor r, h, w) in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von h-anlautenden Pronomina in Geldern und Nimwegen
Abbildungsverzeichnis
Abb. 92: Abb. 93: Abb. 94: Abb. 95: Abb. 96: Abb. 97: Abb. 98: Abb. 99: Abb. 100: Abb. 101: Abb. 102: Abb. 103: Abb. 104: Abb. 105: Abb. 106: Abb. 107: Abb. 108: Abb. 109: Abb. 110:
XIX
Diachrone Entwicklung von en/ende für 'und' in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ald, alt} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {old, olt} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von nieuwe, nyeuwe für 'neu' in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ô} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {o-, ö-} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {â*, a-*} in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 1 in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 2 in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {û-, üÎ-} (nicht vor { r}) in Geldern und Nimwegen Diachrone Entwicklung von für {î-} und {i-*} in Geldern Diachrone Entwicklung von für {î-} und {i*} in Nimwegen Diachrone Entwicklung der graphematischen Differenzierung von {î-} und {i*} in Geldern und Nimwegen Übernahme neuniederländischer Varianten in der Schreibsprache von Geldern Übernahme neuniederländischer Varianten in der Schreibsprache von Nimwegen Durchsetzung autochthoner, mit der neuniederländischen Schreibtradition übereinstimmender Varianten in Geldern Durchsetzung autochthoner, mit der neuniederländischen Schreibtradition übereinstimmender Varianten in Nimwegen Die Reihenfolge der Durchsetzung der allochthonen Varianten für die einzelnen Variablen in Geldern, Nimwegen und Emmerich Die Reihenfolge der Durchsetzung der autochthonen, mit der neuniederländischen Schreibtradition übereinstimmenden Varianten für die einzelnen Variablen in Geldern, Nimwegen und Emmerich
1. Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen 1.1. Der norddeutsche Sprachentausch und die Ausbildung des Neuniederländischen Bei der Standardisierung von Sprachen sind nach Lüdi (1994, S. 281f.) vier völlig verschiedene Dimensionen zu unterscheiden: 1. Verschriftlichung, d.h. Schaffung einer Schriftsprache ausgehend von einer mündlichen Varietät, 2. Ausbau, d.h. die Sprache erlangt einen gehobenen Status, so dass sie in allen Bereichen des modernen Lebens verwendet werden kann, 3. Normierung, d.h. Schaffung einer übergeordneten, einheitlichen Standardvarietät mit größerer kommunikativer Reichweite, mit orthographischen und grammatisch-lexikalischen Normen, 4. Emanzipation, d.h. Schaffung soziokommunikativer Bedingungen, die es dem Sprecher erlauben, sich konfliktfrei mit einer Sprache zu identifizieren, Statusreformen, Erweiterung der Anwendungsdomänen, prestigemäßige Höherbewertung. Neben Lüdis Einteilung der verschiedenen Entwicklungsschritte der Standardisierung existieren weitere Kategorisierungsschläge, z.B. von Haugen (1966a, 1966b), Kloss (1969), Joseph (1987), Cooper (1989), Haarmann (1990) oder Ager (2001). Haugens Modell aus dem Jahre 1966 gilt auch heute noch als weitreichend und detailliert, so dass auch in dem neuen Sammelband zur Standardisierung der germanischen Sprachen von Deumert/Vandenbussche (2003) darauf zurückgegriffen wird. Haugen unterscheidet vier Standardisierungsschritte: 1. Normselektion, d.h. Auswahl einer Variante aus verschiedenen alternativen Möglichkeiten, unterteilt in a) monozentrisch (Auswahl aus einer bereits bestehenden regionalen oder sozialen Varietät) und b) polyzentrisch (Selektion aus verschiedenen Varietäten), 2. Normkodifikation, d.h. normative Grammatiken und Wörterbücher halten zum vorbildlichen Gebrauch der Sprache an, 3. Ausbreitung, d.h. die allmähliche Verbreitung und Akzeptanz der neu kreierten Norm bei den Sprechern und in den unterschiedlichen Domänen, 4. Ausbau, d.h. Funktionsausweitung der neuen Norm auf alle Bereiche des modernen Lebens und der Technologie (Deumert/Vandenbussche 2003, S. 4ff.).
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Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen
Bei der Beschäftigung mit frühneuzeitlicher Sprachstandardisierung rücken besonders die Anfänge der Entwicklung ins Zentrum des Interesses. Der Beginn der Standardisierung innerhalb einer historischen Sprache (Haugens Phase der „Normselektion“) kann nach Mattheiers Theorie des Sprachwandels (1988a, S. 2) in zwei Entwicklungsschritte eingeteilt werden: Zuerst findet ein Auswahl- und Ausrichtungsprozess aus der Menge der vorhandenen Varianten statt, dann leitet dieser Prozess der Variantenselektion in einen Generalisierungsvorgang über, durch den sich bestimmte Varianten innerhalb der gesamten historischen Sprache durchsetzen. Diese frühen Entwicklungsschritte auf dem Weg zur Standardsprache lassen sich sowohl bei den historischen Stadtsprachen als auch bei dem Phänomen des norddeutschen Sprachentauschs in der frühen Neuzeit beobachten. Im Verlauf des 16.-18. Jahrhunderts finden in weiten Teilen des kontinentalwestgermanischen Dialektkontinuums tief greifende sprachliche Veränderungen statt. Die autochthonen Regionalsprachen werden von neuhochdeutschen bzw. neuniederländischen Varietäten überschichtet. Durch diese Sprachveränderungsprozesse findet eine Zweiteilung des bis dahin bestehenden niederdeutsch-niederländischen Kontinuums in eine West- und eine Osthälfte statt, die die Entstehung der deutsch-niederländischen Sprachgrenze einleitet. Das Gebiet der heutigen Niederlande nimmt nicht an der hochdeutschen Überschichtung teil und scheidet somit aus dem gemeinsamen Sprachgebiet aus. Auf der Grundlage nordwestniederländischer Varietäten entwickelt sich eine eigenständige neuniederländische Hochsprache (u.a. de Vries/Willemyns/Burger 1994, van der Wal 1995, 2002, Willemyns/Daniels 2003, van der Sijs 2004). Umgekehrt wird im östlichen Teil des Rheinmaaslandes, am Niederrhein, eine frühe Ausprägung des Neuhochdeutschen übernommen, die in der Schriftlichkeit und oberschichtlichen Mündlichkeit das autochthone Rheinmaasländisch ersetzt. Diese Überschichtungen durch großräumige Varietäten, die bereits einsetzen, bevor durch den nationalen Gedanken Einheitssprachen als Identifikationsmittel gefördert wurden, müssen als die Anfänge der frühneuzeitlichen Standardisierung in diesem Gebiet betrachtet werden. Sie stellen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Ausbildung der modernen Nationalsprachen Deutsch und Niederländisch dar (Mihm et al. 2000, S. 115, Mattheier 2000, S. 1088f.). Deshalb könnte die Untersuchung dieses frühneuzeitlichen Sprachausgleichs wichtige Erkenntnisse über die Modalitäten der Entstehung der neuhochdeutschen und neuniederländischen Schriftsprachen liefern. Als wichtige Ursachen für die Übernahme des Hochdeutschen in Nord- und Westdeutschland werden vielfach das Erstarken der europäi-
Der norddeutsche Sprachentausch und die Ausbildung des Neuniederländischen
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schen Nationalstaaten, die Konkurrenz süddeutscher Städte, divergierende Interessen der Hansestädte sowie ein kultureller Niedergang auf niederdeutschem Gebiet geltend gemacht (Gabrielsson 1983, S. 120ff.). Zudem seien durch die Einführung des römischen Rechts der Schriftverkehr und die Universitätsbeziehungen zu Süddeutschland und somit zum Hochdeutschen gefördert worden (Gabrielsson 1983, S. 120ff., von Polenz 2000, S. 261). Eine besondere Bedeutung wird hierbei dem Niedergang der Hanse infolge der Verlagerung des Welthandels auf Mittelmeer und Atlantik beigemessen (Sanders 1982, S. 126, Keller 1986, S. 365, Wells 1990, S. 213). Die Standardisierung des Niederländischen wird in der Regel ebenfalls mit außersprachlichen Faktoren in Verbindung gebracht. Territoriale Veränderungen, die Reformation und die Massenflucht aus den südlichen Niederlanden während des 80jährigen Krieges, aber auch philosophische und künstlerische Entwicklungen wie Humanismus und Renaissance hätten bedeutende Auswirkungen auf das Niederländische des 16. Jahrhunderts gehabt (Vekeman/Ecke 1992, S. 91, de Vries/Willemyns/Burger 1994, S. 67ff., van der Wal 1995, S. 23, Willemyns/Daniels 2003, S. 109ff., van der Sijs 2004, S. 29ff.). Durch die zunehmenden Kontakte zwischen den verschiedenen niederländischen Gebieten und die wachsende nationale Einheit sei das verstärkte Bedürfnis nach einem überregionalen Kommunikationsmittel entstanden (van der Sijs 2004, S. 30f.). Die flämische und brabantische Sprache der südniederländischen Einwanderer hätte vom späten 16. Jahrhundert an einen starken Einfluss auf die Sprache Hollands gehabt, so dass die niederländische Standardsprache erheblich durch diese Varietäten mitgeprägt worden sei (Vekeman/Ecke 1992, S. 92, van der Wal 2002, S. 2003ff.), wohingegen den ostniederländischen Varietäten kein großer Anteil an der Standardisierung beigemessen wird, da sie nicht als „gutes Niederländisch“ angesehen worden seien (van der Wal 2002, S. 203). Nach dieser Hypothese wäre von einem Sprachausgleich auszugehen, der zusätzlich durch die Reformation und protestantische Bibelübersetzungen gefördert worden sei. In neueren Arbeiten wird die marginale Position des Ostniederländischen jedoch in Zweifel gezogen (Boyce Hendriks 1998, van der Sijs 2004, S. 46ff.). In neuerer Zeit ist allerdings der Zusammenhang zwischen diesen wirtschaftspolitischen bzw. kulturellen Veränderungen und dem sprachlichen Wandel vermehrt in Frage gestellt worden. So erscheint es prinzipiell problematisch, die Hanse als tragfähiges Bindeglied und wichtigsten Faktor für die sprachliche Entwicklung ganz Nord- und Westdeutschlands zu bewerten, da sich nicht stichhaltig belegen lässt, wie ein loser Städtebund, deren Vertreter sich wenige Male im Jahr trafen, die stadtinterne Sprache sämtlicher Mitgliedsstädte beeinflusst haben sollte. Darüber hinaus gibt es
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Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen
Anhaltspunkte dafür, dass die vielfach behauptete allgemeine Geltung der mittelniederdeutschen Hansesprache von Flandern bis nach Nowgorod in der älteren Forschung überschätzt wurde. Nach Peters (1987b, S. 76f.) überdachte die lübische Ausgleichssprache zwar einige Gebiete des niederdeutschen Sprachraums; doch blieben zumindest der westfälische und der niederrheinische Raum außerhalb ihres Einflusses. Darüber hinaus war die „Hansesprache“ viel inhomogener als ursprünglich angenommen. Selbst in Lübeck bestand keine einheitliche Sprachform (Peters 1997, S. 176ff., S. 185f., 2000, S. 1499ff.). Dort aber, wo die so genannte Hansesprache keine Geltung besaß, dürfte auch der Niedergang der Hanse von geringer Relevanz für die Sprachentwicklung gewesen sein. Daher scheidet dieser Faktor als Erklärungshypothese für die Sprachveränderungen im Rheinmaasraum aus. Auch für die übrigen in der Forschung genannten historischen Prozesse gilt, dass deren tatsächlicher Einfluss auf die Sprachgeschichte gegenwärtig nur unzureichend geklärt ist. Dieses Erkenntnisdefizit wird von Gabrielsson (1983, S. 138) folgendermaßen umschrieben: „Wann eine bestimmte Landschaft, eine einzelne Stadt mit der Umstellung beginnt und wann der Vorgang zum Abschluß kommt, das hängt von vielen Faktoren, von mancherlei lokalen Bedingungen ab, die sehr verschieden sein können.“ Um welche Faktoren es sich hierbei handeln könnte, wird nicht vertiefend thematisiert. Die Sprachwechselvorgänge werden in erster Linie durch außersprachliche Faktoren erklärt, es wird jedoch nicht nach ihren kommunikativen Hintergründen und nach den Akteuren gefragt, die diese sprachliche Modernisierung vollzogen haben. Zudem fehlt eine schlüssige Hypothese, um noch weitere offene Fragen zu klären. So liegen derzeit keine ausreichenden Erklärungen für das Vorhandensein so genannter „Mischtexte“ vor, d.h. für schriftliche Zeugnisse, die sich weder der autochthonen Schreibsprache noch einer vollständig hochdeutschen Varietät zuordnen lassen. Gabrielsson (1983, S. 127ff.) beschreibt den Sprachwechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in einem Drei-Phasen-Modell. In der ersten Phase bewahrt der Schreiber gemäß dieser These den niederdeutschen Grundcharakter der Sprache, es treten jedoch eine Reihe von „hochdeutschen Eindringlingen“ auf. Die zweite Phase wird als die eigentliche Übergangszeit beschrieben, in der das „Bemühen“ um Verhochdeutschung erkennbar sei, wobei dies jedoch nur unvollkommen gelungen sei. In der dritten Phase schließlich sei der Grundcharakter der Sprache bereits hochdeutsch, es seien jedoch nach wie vor niederdeutsche Sprachreste zu verzeichnen. Diese Übergangsvarietäten werden als „eigenartig“ (Gabrielsson 1983, S. 129) und teilweise „falsch“ (ebd., S. 128) interpretiert und durch die mangelnde Bildung mancher Stadtschreiber erklärt. Eine gewisse Ratlosig-
Der norddeutsche Sprachentausch und die Ausbildung des Neuniederländischen
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keit angesichts dieser Sprachformen wird dadurch deutlich, dass im gleichen Satz eingeräumt wird, diese „Halbübertragungen“ seien auch bei „sog. Gebildeten durchaus keine Seltenheit“ (Gabrielsson 1983, S. 128). Unklar bleibt hierbei, ob es sich bei den Übergangsvarietäten tatsächlich um das Resultat fehlerhafter Verhochdeutschungen handelte, die dann im Verlauf eines sukzessiven Lernprozesses zurück gehen müssten, oder ob das Auftreten dieser Übergangsvarietäten möglicherweise andere Ursachen hatte. Die für die hochdeutsche Überschichtung genannten Interpretationsprobleme gelten auch für die Entwicklung im Gebiet der heutigen Niederlande bzw. im flämischen Teil des heutigen Belgien. Im Gegensatz zu den Sprachveränderungsvorgängen in Niederdeutschland, die auf Grund der deutlichen Differenzen zwischen autochthoner und allochthoner Sprachform einschneidende Veränderungen mit sich bringen, ist der Sprachwechsel von den mittelniederländischen Regionalsprachen bzw. vom Rheinmaasländischen zum Neuniederländischen eine erheblich weniger auffällige Erscheinung. Dies ist offenbar die Erklärung dafür, dass die Ausbildung der neuniederländischen Standardsprache in der niederländischen Sprachgeschichtsforschung bisher gar nicht als language shift wahrgenommen wurde und somit bisher auch nicht in ihren linguistischen Abläufen untersucht wurde. In keiner der einschlägigen niederländischen Sprachgeschichten ist von einem Sprachwechsel die Rede, wenn es um die Herausbildung der neuniederländischen Standardsprache geht. In den niederländischen Darstellungen werden lediglich einzelne lexemspezifische Merkmale genannt (van der Wal 1995, S. 34, 2002, S. 205, van der Sijs 2004, S. 400ff.), die sich der brabantischen bzw. der holländischen Varietät zuordnen lassen. Darüber hinaus gibt es Untersuchungen zur Variantenauswahl in den zeitgenössischen Grammatiken (van der Sijs 2004, S. 426ff.). Eine quantifizierende linguistische Analyse, nach welchen Modalitäten sich bestimmte Varianten gegenüber konkurrierenden Formen durchgesetzt haben, existiert bislang jedoch nicht. Die Orientierung an allochthonen Sprachnormen wird in der Regel durch die Vorbildfunktion prestigebesetzter Städte, Höfe oder Regionen erklärt. Hierbei wird der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung von verschiedenen Metropolen eine große Rolle zugeschrieben. Das rheinische Wirtschafts- und Kulturzentrum Köln übte über viele Jahrhunderte eine Anziehungskraft auf die umliegenden Gebiete aus, ebenso galten die kaiserliche Kanzlei der Habsburger, der oberdeutsche und der ostmitteldeutsche Raum phasenweise als vorbildhaft. Die französische Hofsprache hatte in manchen Epochen ebenfalls einen starken Einfluss auf die Kultur und Sprache verschiedener germanischer Regionen. Für die niederländischen Gebiete wird in der Sprachgeschichtsforschung angenommen, dass
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Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen
es im 16. Jahrhundert zu einer kulturellen Entfremdung bzw. Abkoppelung von östlichen bzw. südlichen Regionen gekommen sei. Die ehemals starke Anziehungskraft Kölns habe nachgelassen, darüber hinaus hätten allgemeine politische Gewichtsverlagerungen eine westliche Orientierung begünstigt. Durch den 30jährigen Krieg habe der Einfluss der habsburgischen Zentralmacht abgenommen und die Kultur der oberdeutschen Fürstenhöfe und Städte an Attraktivität verloren. Gleichzeitig habe die niederländische Kultur durch die Unabhängigkeit der sieben Nordprovinzen und die Entwicklung der oranischen Niederlande zu einer Weltmacht eine zusätzliche Ausstrahlungskraft entwickelt, die zu einer Ausrichtung der angrenzenden Regionen nach Westen geführt habe (Eickmans 2003, S. 2634, van der Sijs 2004, S. 30f.). Es habe sich ein niederländisches Selbstbewusstsein entwickelt, das in sprachlicher Hinsicht besonders in der Entstehung zahlreicher frühneuniederländischer Grammatiken und Orthographielehren zum Ausdruck gekommen sei (Dibbets 1977, de Vries/Willemyns/Burger 1994, S. 78-80, van der Wal 1995, van Leuvensteijn 1997, S. 362-366, van der Wal 2002). Sie verdeutlichen, dass man das Niederländische als eine moderne Kultursprache ansah, die gleichberechtigt neben dem Hochdeutschen und dem Französischen stand. Durch das Wirken dieser Grammatiker sei ein Normierungsprozess eingeleitet worden, der zur Entstehung der neuniederländischen Standardsprache geführt habe (van der Wal 1995, S. 26, van der Sijs 2004, S. 244ff.). Dieser Prozess kann nach Haugen bereits als zweite Stufe der Sprachstandardisierung angesehen werden und ist in der einschlägigen Forschungsliteratur hinreichend dokumentiert. Offen bleiben jedoch nach wie vor die Modalitäten des Beginns dieser Entwicklung. Es existieren bislang keinerlei Untersuchungen zum Sprachwechsel von einer Regionalvarietät (wie dem Rheinmaasländischen) hin zum Neuniederländischen. In diesem Kapitel konnte die Problematik außersprachlicher Faktoren, wie z.B. dem Niedergang der Hanse, als Erklärungshypothese für die Sprachveränderungsvorgänge im kontinentalwestgermanischen Sprachgebiet aufgezeigt werden. Hierdurch wurden gleichzeitig Defizite in der bisherigen Forschung deutlich. Im Folgenden sollen weitere häufig diskutierte potentielle Ursachen der Sprachstandardisierung behandelt werden, die Rolle der Territorien, des Buchdrucks sowie der Reformation. Hierbei ist zu fragen, welche Argumente in der bisherigen Forschung für die jeweiligen Thesen ins Feld geführt wurden und auf welchen empirischen Grundlagen sie basieren. Ziel ist eine Überprüfung der Tragfähigkeit der verschiedenen Hypothesen.
Der Einfluss der Territorien auf die Sprachstandardisierung
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1.2. Der Einfluss der Territorien auf die Sprachstandardisierung Noch vor dem norddeutschen Sprachentausch finden im hochdeutschen Sprachgebiet ebenfalls Ausgleichsprozesse statt, die zur Entstehung einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache führen. Die Ursachen ihrer Entstehung werden in der neueren Forschung in einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren gesehen (u.a. Eggers 1992, von Polenz 2000, Berthele et al. 2003).1 Den fürstlichen bzw. kaiserlichen Territorien wird bei der sprachlichen Standardisierung vielfach eine besonders starke Bedeutung beigemessen. Hierbei geht man gemeinhin von der Annahme aus, dass sich die Territorien eigenständig entwickelt hätten und die Sprache eines Territoriums als relativ homogen anzusehen sei bzw. sich der politische Einfluss der Territorien vereinheitlichend auf die Sprache der ihr zugehörenden Gebiete bzw. Institutionen auswirke (z.B. Frings 1924, S. 8, 15f.).2 Nach derzeitiger Forschungslage (Wolff 2004, S. 110, Schmidt 2007, S. 347) lassen sich um 1500 unter Absehung landschaftlicher Differenzierungen sieben überregionale Schreibtraditionen unterscheiden: 1. Das Mittelniederdeutsche mit den Hauptkanzleiorten Lübeck, Magdeburg, Braunschweig, Paderborn, Dortmund und Soest. 2. Die westmitteldeutsche Kanzleisprache mit den Hauptorten Köln, Mainz, Frankfurt, Speyer und Worms. 3. Die ostmitteldeutsche Kanzleisprache mit den Schreiborten Wittenberg, Leipzig, Erfurt, Dresden, Prag, Danzig und Königsberg. 4. Die bairisch-österreichische Schreibsprache, das Gemeine Deutsch, unterstützt von der Autorität der kaiserlich-habsburgischen Kanzlei, mit den Orten Wien, München, Ingolstadt. _____________ 1
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Es handelt sich im Wesentlichen um folgende Faktoren: Wertschätzung der deutschen Sprache und die damit verbundene Ablösung des Lateinischen als Schriftsprache durch das Deutsche, die Entwicklung des Städtewesens, die Einrichtung von Schulen und Universitäten, der Niedergang der kaiserlichen Zentralgewalt und der damit verbundene Machtzuwachs der Landesfürsten, die deutsche Ostkolonisation, die Ausbildung und der spätere Ausgleich zwischen den Kanzlei- und Druckersprachen, die Erfindung und Entwicklung des Buchdrucks, die Bedeutung der Bibelübersetzung Luthers sowie der normierende Einfluss der Grammatiker. Bereits Müllenhoff (1863) vertrat die These von der Kontinuität einer kaiserlichen Reichssprache, die sich von den Höfen der Karolinger bis hin zu den Luxemburgern und Habsburgern entwickelt habe. Burdach (1884) vermutete den Ursprung der neuhochdeutschen Standardardisierung in der Kanzlei des Luxemburgerkaisers Karl IV. in Prag, wo unter dem Einfluss des italienischen Humanismus eine vorbildliche Schriftsprache entstanden sei. Beide Thesen sind jedoch bereits durch die neuere Forschung als nicht hinreichend tragfähig widerlegt worden.
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5. Die südwestliche Schreibsprache auf alemannischer Grundlage mit den Kanzleiorten Basel, Bern, Zürich und Straßburg. 6. Die ostfränkische Kanzleisprache mit dem Hauptort Nürnberg. 7. Die schwäbische Kanzleisprache mit den Orten Augsburg, Ulm, Tübingen. Unterhalb dieser Ebene werden Schreibsprachen mit regionaler Reichweite angenommen, im ostmitteldeutschen Raum etwa das Thüringische, Obersächsische und Schlesische, im niederdeutschen Raum das Westfälische, Ostfälische, Nordniedersächsische etc. Hierbei werden im Zusammenhang mit diesen Regionalsprachen häufig explizit oder implizit zwei Thesen vertreten: 1. die These von der territorialen Reichweite der Regionalsprachen, 2.die Annahme, dass sich die einzelnen Städte des jeweiligen Territoriums mit Blick auf die Übernahme sprachlicher Neuerungen gleich verhalten. Beide Thesen sind jedoch bislang noch nicht durch empirische Untersuchungen untermauert worden. Die Bedeutung der historischen Territorien ist nicht nur für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache immer wieder betont worden, auch in der regionalen Sprachgeschichte gilt die Zugehörigkeit eines Ortes zu einem bestimmten Territorium als bedeutend für die Sprachwahl. Für den Rheinmaasraum wird die mittelalterliche Territorienbildung als von entscheidendem Einfluss für den Verlauf der Sprachgeschichte angesehen (Frings 1916, 1924, Goossens 1984, Cornelissen 1988, 2003, Tervooren 1996, Eickmans1998, 2003). Für die meisten Territorien des östlichen Rheinmaaslandes, d.h. für den Teil des heute auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liegenden Teils des Gebietes, hätten die Grenzziehungen des 16. Jahrhunderts und die nachträglichen Besitzübergänge an deutsche Fürsten eine allmähliche Herauslösung aus westlichen Zusammenhängen und eine Integration in das hochdeutsche Sprachgebiet bedeutet (Goossens 1984, S. 29). Im östlichen Rheinmaasland sei die Bindung an die Niederlande zunächst verstärkt worden durch den Beitritt Gelderns zur Utrechter Union 1597 und durch die Zugehörigkeit von Moers zu den oranischen Niederlanden ab 1598. Eine gegenläufige Entwicklung sei durch die preußische Inbesitznahme von Kleve im Jahre 1609, Moers 1702 sowie eines Teils des geldrischen Oberquartiers 1713 eingeleitet worden (Tervooren 1985, S. 31). Als für die Sprachgeschichte des westlichen Rheinmaaslandes besonders entscheidend wird die Eingliederung des Herzogtums Geldern in den Burgundischen Kreis 1543 und dessen faktische Unabhängigkeit vom Deutschen Reich ab 1548 gedeutet (Eickmanns 2003, S. 2631f., Cornelissen 2003, S. 35). Hierdurch habe erstmals eine Teilung des Rheinmaasraumes in eine West- und eine Osthälfte stattgefunden, die als erstes realhistorisches Faktum angesehen werden könne, das auf die spätere sprachliche Teilung des Gebietes hindeutet
Der Einfluss der Territorien auf die Sprachstandardisierung
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(Mihm 2000, S. 143). Arbeiten von Cornelissen (2001, zu Geldern) und Weber (2003, zu Venlo und Duisburg) geben mit Bezug auf das Rheinmaasland allerdings erste Hinweise darauf, dass verschiedene Städte desselben Territoriums durchaus eine unterschiedliche sprachliche Entwicklung aufweisen können. Auch Gabrielsson (1983) verzeichnet bezüglich des Sprachwechsels in manchen benachbarten Städten, die zu ein und demselben Territorium gehören, unterschiedliche Datierungen. Insgesamt können diese Einzeluntersuchungen jedoch keine Erkenntnisse bezüglich eines übergeordneten historischen Gesamtprozesses liefern, da sie nach gänzlich verschiedenen Prinzipien durchgeführt wurden. Die Materialerhebung erfolgte in vielen älteren Arbeiten unsystematisch, eine Trennung der Quellen nach Textsorten fand oftmals nicht statt. In anderen Arbeiten wurden jeweils unterschiedliche Domänen (Kanzleisprachen, Schulen, Kirche usw.) bzw. Textsorten untersucht, so dass eine Generalisierung nur schwer möglich ist. In einigen Untersuchungen wurden die Schreiborte nicht differenziert (z.B. Tille 1925, Neuß 1973), so dass keine Aussagen zur Sprachentwicklung in einer bestimmten Stadt gemacht werden konnten. Darüber hinaus wurde des Öfteren keine exakte Quantifizierung der unterschiedlichen Varianten durchgeführt. Ein weiteres Defizit bestand in der schematischen Zuordnung der schreibsprachlichen Quellen zu bestimmten Entwicklungsstufen innerhalb des DreiPhasen-Modells nach Gabrielsson. Moderne kontaktlinguistische Forschungen wurden hingegen nur selten in die Interpretation mit einbezogen, man beschränkte sich zumeist auf die Zuordnung der linguistischen Befunde zu bestimmten Variablenkatalogen (Peters 1987a, 1988, 1990). Auftretende Variationen sind vielfach nicht genügend untersucht worden. In der Regel bieten die bisherigen Studien Erkenntnisse zu einer bestimmten Stadt und beschränken sich auf die Beschreibung von verschiedenen Einzelphänomenen. Daher besteht auf diesem Gebiet nach wie vor ein erhebliches Erkenntnisdefizit. Angesichts dieser bislang ungeklärten Sachverhalte sollen in der vorliegenden Untersuchung erstmals durch einen diachronischen Vergleich des Modernisierungsprozesses in verschiedenen Städten die Typik der sprachlichen Vorgänge und die Besonderheiten, die durch die stadtspezifischen Gegebenheiten möglich waren, beschreibbar gemacht werden. Hierdurch wird ein Material bereitgestellt, das eine Modellierung der Abläufe und eine Interpretation der inner- und außerlinguistischen Bedingungen erlaubt. Hierzu kann nur eine Analyse beitragen, die nach einheitlichen Prinzipien durchgeführt wird, so dass ein zuverlässiger Langzeitvergleich der Sprachentwicklung in den verschiedenen Städten angestellt werden kann. Zur Beantwortung der offenen Fragen ist zu prüfen, ob eine Übernahme einer regionalen Kanzleisprache in den einzelnen Städten
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Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen
stattgefunden hat. Im Falle einer ähnlichen sprachlichen Entwicklung der Städte eines Territoriums wäre ein wichtiger Hinweis auf die Tragfähigkeit der Territorialthese gegeben, im Falle einer deutlich unterschiedlichen Entwicklung ließe sich die Tragfähigkeit der These zumindest für das vorliegende Untersuchungsgebiet ausschließen.
1.3. Zur Rolle des Buchdrucks: Sprachausgleich auf rein schreibsprachlicher Basis? Der Erfindung und späteren Ausbreitung des Buchdrucks wird in der bisherigen Forschung vielfach eine zentrale Bedeutung bei der Sprachstandardisierung beigemessen. Durch die Entwicklung des Buchdrucks sei die sprachliche Einheit zunehmend gefördert und – als Weiterführung der Vereinheitlichungstendenzen der früheren Kanzleisprachen – ein weiterer Ausgleich zwischen den verschiedenen Schriftdialekten durchgeführt worden (vgl. die Auflistung der Befürworter dieser These bei Hartweg 2000, S. 1686). Im 16. Jahrhundert verlieren die Kanzleien gemäß dieser These ihre führende Bedeutung als Motor und Vorbild des Sprachausgleichs an den Buchdruck bzw. die Druckersprachen. Für Moser (1985, S. 1406) liegt die wichtige sprachhistorische Bedeutung der Kanzleisprachen in erster Linie darin, dass sie den neuen Wirtschaftskräften, d.h. den Buchdruckern, ein einigermaßen festes Gerüst der äußerlichen sprachlichen Formen hinterlassen hätten. Der Buchdruck habe durch die relativ preisgünstige Möglichkeit des Erwerbs von Büchern zur Teilhabe breiterer Schichten an schriftsprachlicher Kommunikation beigetragen. Durch die neuartigen technischen Möglichkeiten könnten Bücher nun viel schneller, zahlreicher und in völlig identischen Exemplaren hergestellt werden. Während Abschriften mehr oder weniger stark von der Vorlage abgewichen seien, könnte es nunmehr eine verbindliche Textgestalt geben (Schmidt 2007, S. 116). Fördernd auf die Ausbreitung des Buchdrucks hätten sich in den Handelsstädten der Absatzmarkt und die Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung ausgewirkt, in Bischofsstädten begünstigte der Bedarf an liturgischen Büchern die Ansiedlung von Offizinen, in Universitätsstädten ließen sich, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls Drucker nieder. Der Buchdruck breitete sich im Laufe der Zeit mehr und mehr aus, sowohl in den einzelnen Orten als auch über das deutsche Sprachgebiet hinweg, die Zahl der Buchproduktionen vervielfachte sich rasant (ebd.). Zusätzlich zur schnelleren und zahlreicheren Reproduktion kamen nach dieser These größere Verbreitungsmöglichkeiten, ein neuer Autor-Adressatenbezug, schnelle Rückkoppelung, schnellerer Informationsfluss und bessere Möglichkeiten der wissenschaftlichen Datensammlung hinzu, die Wirkungen
Zur Rolle des Buchdrucks: Sprachausgleich auf rein schreibsprachlicher Basis?
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auf Textproduktion und Leserinteresse hatten (Kästner/Schütz/Schwitalla 1985, S. 1362). Die Drucker strebten gemäß der Buchdruckerthese bewusst nach einer überlandschaftlich verständlichen Sprachform, die dialektale Züge vermeiden sollte (Bach 1970, S. 254). Dies resultierte nicht aus gesellschaftlich-kulturellen Interessen, sondern vielmehr aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit, das Absatzgebiet der Drucke zu vergrößern (Hartweg 2000, S. 1686). Es entstanden verschiedene regionale Druckersprachen, ähnlich den früheren Kanzleisprachen, die miteinander in Wechselwirkung getreten seien. Während Wells (1990, S. 192ff.) und Mazal (1975, S. 123) die Bedeutung des Buchdrucks sehr hoch einstufen, warnen von Polenz (2000, S. 126f.) und Schirokauer (1957, S. 894) vor einer Überschätzung seiner Bedeutung. Es sei zu bedenken, dass Drucker auch vor der Übernahme fremder Formen zurückgeschreckt haben könnten, um einheimische Kunden nicht durch für sie schwerer verständliche Texte zu verärgern. Hierbei seien zudem der geringe Anteil des Exports am Buchhandel, die weiterhin vorrangige Stellung der lateinischen Drucke sowie der mangelnde Formsinn des zeitgenössischen Publikums zu berücksichtigen. Nach Hoffmann (1993, S. 145) stellt die Frage, ob die neue Technik des Buchdrucks die sprachliche Modernisierung der Texte entscheidend beschleunigt hat, ein Desiderat für die rheinische Sprachgeschichte dar. Hartweg (2000, S. 1692, 1697) sieht ebenfalls ein Forschungsdefizit, da auch die neueren Ergebnisse im Bereich der Druckersprachen kein abschließendes Urteil über das Ausmaß des Einflusses des Buchdrucks auf die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache zuließen. Auch in neuerer Zeit gehen die Meinungen zu dieser Thematik auseinander. Während Haas (2003, S. VII.) konstatiert, dass sich die These von der Pionierrolle der Druckersprache nicht mehr „völlig ungeteilter Zustimmung“ erfreue, sieht Glaser (2003, S. 70) die Kritik an der traditionellen Forschungsmeinung als „weitgehend verstummt“ an. Die Bedeutung des Faktors „Buchdruck“ für die Standardisierung kann daher nach wie vor als umstritten gelten. Um weitere Aufschlüsse darüber zu erhalten, ob die Druckersprachen den Standardisierungsprozess vorangetrieben haben, müsste der Frage nachgegangen werden, ob es sich um einen rein schreibsprachlichen Prozess gehandelt hat. Wenn sich durch empirische Untersuchungen belegen ließe, dass die Sprachveränderungsvorgänge zunächst auf der schreibsprachlichen Ebene abgelaufen sind, so würde dies tendenziell die Buchdruckthese stützen. Umgekehrt bedeutete ein Ergebnis, dass ein Einfluss der gesprochenen Sprache stattgefunden hätte, dass die These von der Bedeutung des Buchdrucks nur eingeschränkt Gültigkeit besitzen dürfte.
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Die gängigen Erklärungshypothesen für den norddeutschen Sprachentausch und die neuhochdeutschen Standardisierungsprozesse basieren auf der Annahme eines Sprachausgleichs, der sich zunächst auf rein schreibsprachlicher Ebene vollzogen habe. Erst nach der schriftlichen Überschichtung hätten die externen Varietäten in der gesprochenen Sprache Fuß gefasst (Kluge 1918, S. 150, Schulte Kemminghausen 1939, S. 9, Foerste 1957, Sp. 1800, Möhn 1983, S. 158-160). Wie Mihm (2003, S. 100ff.) ausgeführt hat, gibt es jedoch bereits in der älteren Forschung Ansätze, nach denen auch der Mündlichkeit ein Anteil an der Standardisierung beizumessen ist. So hat z.B. Lasch (1910, S. 173) nachgewiesen, „daß in Berlin die neue Sprache nicht nach dem Schriftbilde, sondern nach dem Gehör rezipiert ist.“ Dahl (1960, S. 184ff.) nimmt in ihrer Untersuchung zu Rostock an, dass sich die Ausgleichsprozesse „nicht nur orthographisch, sondern auch lautlich“ vollzogen hätten. Auch Balan (1969, S. 387) ist der Meinung, die in Köln verwendete oberdeutsche Varietät könne nicht auf rein schreibsprachlichen Vorbildern beruhen, da die Art der Übernahme „in starkem Maße von den Lautverhältnissen der gesprochenen Mundart abhing“. Mattheier (1981/82, S. 45) nimmt an, dass im 16. Jahrhundert in Köln eine oberdeutsch geprägte Patriziervarietät gesprochen wurde. Mihm (2003, S. 93ff.) selbst macht anhand der Untersuchung der Schriftlichkeit des Duisburger Stadtsekretärs Weymann die Existenz einer oberschichtlichen hochdeutschen Sprechvarietät plausibel. Daher besteht zumindest die Möglichkeit, dass es auch an anderen Orten eine gesprochene hochdeutsche Sprache gegeben haben könnte. Darüber hinaus existieren zahlreiche metasprachliche Äußerungen, die auf eine mündliche Verwendung der hochdeutschen Sprache in Norddeutschland hinweisen (Mihm 2000, S. 153f.). Diese Erkenntnisse stehen in einem Widerspruch zur weit verbreiteten These der schreibsprachlichen Überschichtung. Zur Klärung dieses Problems kann möglicherweise die Analyse der reichlich überlieferten Übergangsvarietäten beitragen. Die bisher nur unzureichende Deutung von Übergangsvarietäten, d.h. von schriftlichen Zeugnissen, die sich weder der unverschobenen autochthonen Sprache noch dem „reinen“ Neuhochdeutschen zuordnen lassen, stellt ein großes Forschungsdefizit dar. In der Regel wurden die entsprechenden Texte nach dem Drei-PhasenModell (vgl. Kapitel 1.1.1) zugeordnet, „das weder die soziopragmatischen Voraussetzungen noch die spezifischen Verwendungsfunktionen der Übergangsvarietäten problematisierte, sondern nur den Verlust an Sprachreinheit beklagte und psychologische Erklärungen dafür bot“ (Mihm et al. 2000, S. 118). Vielfach ist diesen „Mischtexten“ in der bisherigen Forschung mit beträchtlicher Geringschätzung begegnet worden, die durch die junggrammatische Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze
Der Einfluss der überregionalen religiösen Erneuerungsbewegung
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und durch die Vorstellung von der Reinheit der Sprache erklärt werden könnte (Mihm 2001a, S. 317f. mit Zitaten zu den älteren Bewertungen der Übergangsvarietäten). Sie sind jedoch wertvolle Erkenntnisquellen, die wichtige Informationen über die sprachhistorischen Abläufe enthalten und bislang vernachlässigt wurden (Eickmans 2000, S. 221). Die Übergangsvarietäten können wertvolle Hinweise auf die kommunikativen Hintergründe der Sprachveränderungsvorgänge liefern und lassen möglicherweise Rückschlüsse darauf zu, ob auch die mündliche Ebene Anteil an der sprachlichen Überschichtung gehabt haben könnte. Ließe sich dies nachweisen bzw. plausibel machen, so stände diese Erkenntnis im Widerspruch zu der These eines Sprachausgleichs auf rein schreibsprachlicher Ebene und somit gleichzeitig zur besonderen Bedeutung des Buchdrucks für die Standardisierung.
1.4. Der Einfluss der überregionalen religiösen Erneuerungsbewegung: Luther und die Reformation Martin Luther und der Reformation wird in der bisherigen Forschung eine bedeutende Rolle bei der Sprachstandardisierung beigemessen. Da die frühe Neuzeit eine stark von der Religion geprägte Epoche war und die von Luther ausgelöste Reformation zu einer großen Volksbewegung wurde, ist es nach dieser These nahe liegend, dass die religiöse Erneuerungsbewegung auch für die sprachliche Entwicklung von Bedeutung gewesen sein könnte. Laut Schmidt (2007, S. 118) sei es unstrittig, dass die Reformation auf die Geschichte der deutschen Sprache einen großen Einfluss gehabt habe. Luthers Bibelübersetzung, begünstigt durch die Entwicklung des Buchdrucks, habe einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung einer einheitlichen Sprachform geleistet. Durch Luthers auch dem einfachen Volk verständliche Sprache, die sich durch Umschreibungen anstelle von wörtlichen Übertragungen und durch einen großen Reichtum an bildhaften Redewendungen auszeichnete, habe seine Bibel eine Langzeitwirkung erzielt, die nur durch die Güte dieser Übersetzung möglich gewesen sei (Erben 1985, S. 46). Luther habe sich der ostmitteldeutschen Schreibsprache seiner Landschaft bedient und mit dem Abbau von sprachlichen Varianten begonnen, d.h. mit der Beseitigung von Doppelformen für ein und dasselbe Wort sowie der Ausmerzung von mundartlichen Besonderheiten. Luther habe mitten in der Entwicklung der Vereinheitlichungstendenzen gestanden, er sei zum Katalysator, später zur Autorität geworden, die die gemeinsprachliche Bewegung vorangetrieben und danach fixiert habe. Sonderegger (1984, S. 140) sieht in diesen sprachlichen Qualitäten die Voraussetzungen dafür, dass die Lutherbibel eine hochsprachlich-nor-
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mative Bedeutung erhalten konnte. Diese Bedeutung werde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die lateinischen Übersetzer des 16. Jahrhunderts weitgehend von Luther abhängig waren und so dazu beitrugen, die Luthersche Diktion noch weiter zu verbreiten (ebd. S. 68). Seine große Leistung läge in fundamentalen textgeschichtlichen Neuerungen (Schmidt 2007, S. 122). Die Lutherbibel sei Norm gebend für die Grammatiker geworden. Nach Grosse (1983, S. 50) wurde Luthers Werk und Wirken, auch ohne dass er es darauf angelegt hatte, in dieser Epoche der Herausbildung einer einheitlichen Schriftsprache zu einem entscheidenden Faktor. Nach Besch (2000, S. 1740) verdankt das große und dialektal extrem untergliederte deutsche Sprachgebiet letztlich Luthers Bibelübersetzung die Einheit der Schriftsprache: „Kein anderer Text hätte dies bewirken können. Kein anderer Text hat zudem mit seiner Sprache so intensiv auf die Literatur eingewirkt, wie Luthers Bibeldeutsch“. Durch den raschen Beitritt Norddeutschlands zum Hochdeutschen, der nicht zuletzt unter dem prestigeträchtigen Einfluss der Sprache Luthers vonstatten gegangen sei, sei es zu einer entscheidenden Vergrößerung des Geltungsareals des Hochdeutschen gekommen. Die These von der großen Bedeutung Luthers bezieht sich nicht ausschließlich auf die schreibsprachliche Ebene. Zwar spielt die geschriebene Sprache, Luthers Bibelübersetzung, eine wesentliche Rolle, doch hat es daneben auch eine ostmitteldeutsche gepredigte Sprache gegeben (Weithase 1961, S. 106f.), so dass nach dieser These auch die Sprechvarietät einen Anteil am Sprachausgleich gehabt haben könnte. Der Faktor Konfession wird nicht nur als wichtig für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache angesehen, sondern auch als relevanter Faktor für die regionale Sprachgeschichte (Eickmans 2003, S. 2632, Cornelissen 2003, S. 11). Die Zugehörigkeit eines Gebietes zu einer bestimmten Konfession könne ebenso die sprachliche Entwicklung beeinflussen wie die Reformation die Ausbreitung der hochdeutschen Sprache gefördert habe (Gabrielsson 1983, Bellmann 1983, von Polenz 2000). Eine weit verbreitete These besagt, dass bei Protestanten eine stärkere Hinwendung zur Volkssprache stattgefunden habe als bei Katholiken. Für den Rheinmaasraum betont Tervooren die Reformation als „Einfallstor der deutschen Sprache“ (1996, S. 36). Auch für Neuß (1973, S. 28) ist die Reformation ein wichtiger Faktor, den er neben der Schreiberausbildung an verschiedenen deutschen Universitäten als Ursache für die hochdeutsche Überschichtung innerhalb der niederrheinischen Synodalprotokolle erwähnt. Cornelissen nimmt an, dass Niederländisch (bzw. Rheinmaasländisch) in den geldrischen, katholisch geprägten Städten und der überregionalen Verwaltung des Herzogtums Geldern bevorzugt wurde, wohingegen die klevischen Städte durch die evangelische Kirche eher zum
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Hochdeutschen tendierten. Als Ursache wird die preußische Übernahme Kleves 1609 und die deutsche Prägung des Protestantismus vermutet (Cornelissen 1989). Dieser Zusammenhang von Konfession und Sprache muss jedoch zumindest für bestimmte Regionen als problematisch gelten, da z.B. sowohl protestantische Nordniederländer als auch das katholische Brabant eine sehr ähnliche niederländische Sprache verwendeten. Die Bedeutung Luthers und der Reformation für die sprachliche Modernisierung wird in der bisherigen Forschung in der Regel als sehr groß eingeschätzt. Es gibt jedoch auch Stimmen, die vor einer Überschätzung warnen. So geht Mihm (2000, S. 146) davon aus, dass zumindest für das Rheinmaasländische ein Einfluss der Reformation auf den Sprachwechsel zum Hochdeutschen als unwahrscheinlich gelten kann, da die hochdeutsche Überschichtung lange vor der Wittenberger Reformation begonnen habe. Außerdem seien katholische Städte im Rheinmaasraum eher zum Hochdeutschen übergegangen als protestantische, so dass von einer Begünstigung des Hochdeutschen durch die Reformation keine Rede sein könne. Im Folgenden gilt es, durch die Analyse der sprachlichen Entwicklung in den verschiedenen Städten Aufschlüsse über die Tragfähigkeit der Reformationshypothese zu erhalten. Falls Luther und die Reformation tatsächlich eine wichtige Rolle bei den Sprachveränderungsvorgängen gespielt hätten, müsste sich nachweisen lassen, dass Luthers ostmitteldeutsche Sprache auch im Rheinmaasraum Verbreitung gefunden hatte. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass ein Großteil der rheinmaasländischen Bevölkerung auch nach der Reformation katholisch blieb und ein weiterer Teil unter dem Einfluss niederländischer Exulanten vom Luthertum zum Calvinismus überging (Stempel 1991). Es stellt sich die Frage, ob das Ostmitteldeutsche trotz dieser Bedingungen im Rheinmaasland Verwendung gefunden hat. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst die Untersuchung der regionalen Provenienz der adaptierten Merkmale von entscheidender Wichtigkeit: Aus welcher Region stammt die übernommene Varietät? Lassen sich die übernommenen Merkmalsmuster als ostmitteldeutsch oder eher als oberdeutsch, ripuarisch oder westniederländisch interpretieren? Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit die sprachliche Entwicklung mit den religiösen bzw. konfessionellen Gegebenheiten in Einklang steht, ob es zeitliche Übereinstimmungen zwischen den sprachlichen und den religiösen Veränderungen gibt, die einen direkten Zusammenhang zwischen beiden Neuerungen plausibel machen könnten, oder ob sich möglicherweise linguistische Befunde konstatieren lassen, durch die ein solcher Kausalzusammenhang für das vorliegende Untersuchungsgebiet ausgeschlossen werden kann.
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1.5. Die Bedeutung der Städte und der Mehrsprachigkeit der Oberschichten für die Sprachgeschichtsforschung: Neuere Ansätze zur Erklärung der sprachlichen Modernisierung Als ein bislang zu wenig beachteter potentieller Einflussfaktor bei der Standardisierung kann die Rolle der frühneuzeitlichen Stadt angesehen werden. Von den Vertretern der Territorialthese wurde in erster Linie nach der Rolle der fürstlichen Regierungen und der verschiedenen Institutionen, wie den Kanzleien, den Buchdruckern, den kirchlichen Repräsentanten oder den Schulen gefragt. Unberücksichtigt blieb jedoch vielfach die Bedeutung der Städte in diesem Prozess, die in der frühen Neuzeit selbstständige kulturelle Zentren waren und auch die Sprachwahl in den verschiedenen Domänen bestimmt haben könnten. Die Rolle der Städte, insbesondere ihrer Führungsschichten als potentielle Träger und Initiatoren sprachlicher Veränderungen, wurde bislang nur unzureichend erforscht und stellt daher eine zentrale Frage der vorliegenden Untersuchung dar. Für einen möglichen Einfluss der Städte auf diese Prozesse sprechen bereits einige bekannte Fakten. Die Gründe, warum sich verschiedene Städte in Hinblick auf die sprachlichen Innovationsprozesse unterschiedlich verhalten haben, sind bisher kaum untersucht worden. Als mögliche Erklärungsansätze wären Gegensätze zwischen zentral gelegenen Städten und solchen an der Peripherie denkbar. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich konservativ geführte Städte sprachlich anders verhalten haben als eher fortschrittliche. Des Weiteren wären Hypothesen zu prüfen, nach denen sich die Sprachneuerungen von Ort zu Ort, in der Reihenfolge der abnehmenden Größe, nach dem Muster des „city-hopping“ ausbreiten (Trudgill 1983, Chambers/Trudgill 1998, Labov/Ash/Boberg 2006) oder wellenförmig in eine bestimmte geographische Richtung vordringen (Schmidt 1872, Höfler 1955). Auch diese Erklärungshypothesen würden sich jedoch als problematisch erweisen, wenn sich herausstellte, dass in den verschiedenen Städten völlig unterschiedliche Merkmalskomplexe übernommen wurden. In diesem Fall müsste geprüft werden, inwieweit sich weitere Erklärungshypothesen als tragfähig erweisen. Da Sprachwandel in der neueren Forschung zunehmend als soziokulturell bedingt interpretiert wird, müssen insbesondere die möglichen Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen in den frühneuzeitlichen Städten auf die Sprachentwicklung beleuchtet werden. Dass die Entstehung bzw. Ausbreitung des Städtewesens fundamentale Veränderungen in den kommunikativen Verhältnissen bewirkte und somit auch eine gewisse Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte
Neuere Ansätze zur Erklärung der sprachlichen Modernisierung
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gehabt hat, wird bereits in verschiedenen Sprachgeschichtsdarstellungen eingeräumt (Bach 1970, Eggers 1992, von Polenz 2000, Schmidt 2007). Das Sozialgebilde „Stadt“ offenbare sich als Ereignisfeld intensiver und vielfältiger Sprachentwicklungen (Möhn 2003, S. 2297). Schon Ludwig Erich Schmitt (1942, S. 203) stellt fest, dass die führenden Schichten eines Sprachraums vor allem und am dichtesten in den Städten beheimatet und zugleich Träger von Handel, Verkehr und Verwaltung seien. Die Stadt nehme dadurch eine sprachlich führende Stellung gegenüber ihrer dörflichen Umgebung ein. Während Schmitt den mittelalterlichen Territorien eine sprachliche Statik bescheinigt, die großräumiges Sprachleben hemme, gehe die Sprachdynamik hingegen von den Städten aus. Die Stadt sei die bewegende Grundkraft des Sprachlebens. Sie dränge auf Vereinheitlichung der Sprache, sie hemme die weitere Ausdifferenzierung der Mundarten und wirke ausgleichend (ebd., S. 226). Hieraus leitet Schmitt die Folgerung ab, dass der Stadt in der Sprachgeschichte breiterer Raum gewidmet werden müsse. Zwischen den Jahren 1200 und 1500 steigt die Zahl der mitteleuropäischen Städte von 250 auf 3000 an (Schmidt 2007, S. 105). Insbesondere durch die deutsche Ostkolonisation kommt es zu zahlreichen planmäßigen Städtegründungen. Viele Städte sind Marktorte, was dazu führt, dass verschiedene Berufsgruppen mit den vielfältigsten Interessen aufeinander treffen. Dadurch werden die Städte zu Orten eines reichhaltigen kulturellen und kommunikativen Lebens. Bei diesen neuen Kommunikationsformen, die durch Handwerk, Handel und Gewerbe geprägt sind, spielen Lateinkenntnisse eine immer geringere Rolle, so dass hierdurch die (auch schriftlich fixierte) Verwendung der Volkssprache gefördert wird. Das städtische Zusammenleben bedingt eine starke Differenzierung und Spezialisierung des Berufslebens, die zur Entstehung von Berufs- und Sondersprachen führt. Es kommt in den Städten zu einer Erweiterung des Sprachverkehrs, das städtische Rechtsleben erreicht eine neue Blüte: Stadtprivilegien und Satzungen, verschiedene Stadtbücher, Schöffensprüche und stadtrechtliche Privatarbeiten entstehen in großem Umfang (Schmitt 1942, S. 209). Durch die Weiterentwicklung des Geld- und Kreditwesens weitet sich der Personenkreis aus, der auf Lese- und Schreibkenntnisse angewiesen ist (Pirenne 1971, S. 122). Um diesen gestiegenen Bildungsnotwendigkeiten Rechnung zu tragen, entstehen Schul- und Bildungszentren mit deutscher Lehrsprache. Am Ende des 13. Jahrhunderts kann bereits jeder Großkaufmann der führenden Städte schreiben, lesen und schriftlich rechnen (Schmitt 1942, S. 201). Für das Funktionieren des städtischen Lebens ist die Schriftlichkeit unerlässlich. Im späten Mittelalter verlagert sich somit die wirtschaftliche und kulturelle Potenz in Städte. Hier werde der Grund gelegt zu einer neuen Ge-
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sellschaft, die die Sprache von innen her umgestalte (Eggers 1992, S. 14). Es sei eine neuartige soziale Gruppe, die sehr heterogene Schicht des „Stadtbürgers“ entstanden. Den typischen Stadtbürger gebe es nicht, wohl aber die städtische Gesellschaft als eine Einheit mit neuen Lebensformen, die außerhalb der hergebrachten Agrargesellschaft steht (Eggers 1992, S. 39). Eine neue soziale Gruppe, durch die große Anzahl ihrer Mitglieder, durch Tatkraft und wirtschaftlichen Erfolg einflussreich, beginne eigene Kulturformen zu entwickeln, die von der Stadt, ihren Erfordernissen und Möglichkeiten bestimmt sei (ebd.). Sie entwickele eine Eigendynamik, die zunächst ganz auf die Bedürfnisse des städtischen Alltags gerichtet sei, dann aber auch zu einer neuen, städtisch orientierten Geisteskultur gelange (ebd.). In zunehmendem Maße werde die Stadt in frühneuhochdeutscher Zeit zum kulturbestimmenden Raum und die geistige Elite der Städte, aus allen Ständen zusammengesetzt, zum Kulturträger (Eggers 1992, S. 40). Nach Eggers (1992, S. 43) wäre ohne die Stadt als Lebens- und Kulturgemeinschaft eine solche Wende, wie sie sich in der Geisteskultur und der von ihr geprägten Sprache ausdrückt, kaum denkbar. Stadtbürger seien es zum großen Teil, denen wir die Sprachdenkmäler der Zeit verdanken. Das Frühneuhochdeutsche könne als „Sprache des Stadtbürgertums“ bezeichnet werden. Die moderne europäische Stadt könne als Prototyp der komplexen Gesellschaft verstanden werden, eine Gesellschaft, die sich durch soziale Heterogenität und einen hohen Mobilitätsgrad auszeichne (Möhn 1973, S. 115). Auf Grund dieser Gegebenheiten erscheint es geboten, die Bedeutung des Faktors „Stadt“ bei der Sprachstandardisierung näher zu untersuchen. In diesem Zusammenhang ist die soziale Schichtung der Stadtbevölkerung von Wichtigkeit, insbesondere die Rolle der Oberschichten, die für die sprachliche Entwicklung von großer Bedeutung gewesen sein könnte. Für die mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Stadt wird eine vielfältige soziale Schichtung angenommen. Rangmäßige Abstufungen, soziale Distanzen und Hierarchien in der städtischen Gesellschaft werden gemäß zeitgenössischer Auffassung meist in einem zweistufigen Modell zum Ausdruck gebracht: So stellt der Augsburger Kaufmann und Chronist Burkhard Zink die Reichen dem gemeinen Volk gegenüber (Isenmann 1988, S. 249). Thomas von Aquin hingegen unterscheidet im Rahmen eines dreistufigen Modells Stadtadel, Handwerker und die zwischen diesen beiden Schichten stehenden „Mitterburger“, eine Art Mittelschicht, die aus dem Handwerk hervorgegangen ist, jedoch nicht die volle Gerichtsfähigkeit besitzt (ebd.). Auch die Reichspolizeiordnung von 1530 differenziert die Ratsleute (als Oberschicht), „Kauf- und Gewerbeleute und andere“ sowie gemeine Bürger und Handwerker (ebd.). Für das Ende des 15. Jahrhunderts kann von einer fünfstufigen Sozialordnung ausgegangen
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werden: 1. Angehörige der alten stadtadeligen Geschlechter, die den Rat besetzen (das Patriziat), 2. Großhändler, 3. kleinere Kauf- und Handelsleute, 4. Handelsleute, die erst seit Kurzem selbständig sind, Krämer, Kaufmannsdiener, 5. gewöhnliche Krämer, Handwerker und alle anderen (zu Nürnberg Bog 1958, S. 333). Isenmann (1988, S. 254) erstellt ein vergleichbar differenziertes Modell der städtischen Gesellschaft: Die Oberschicht (I.) wird in (1.) Führungs- und Oberschicht und (2.) Nachgeordnete Oberschicht und „Ehrbarkeit“ im weiteren Sinne unterteilt. Die Mittelschicht (II.) wird in diesem Modell in (1.) die obere Mittelschicht, (2.) die Mittelschicht und (3.) die untere Mittelschicht eingeteilt. Mittlere und kleinere Vermögen finden sich in der Regel in der Mittelschicht, wohingegen die Unterschicht im Wesentlichen ohne Vermögen ist. Eine abgeschlossene spezifische Berufsausbildung, berufliche Selbständigkeit, in Zünften organisierte Berufstätigkeit und volles Bürgerrecht grenzen die Mittelschicht von der Unterschicht ab, die als unterbürgerlich, unzünftig und vermögenslos gelten kann (Isenmann 1988, S. 254). Eine quantitative Zuordnung der Stadtbevölkerung zu den verschiedenen sozialen Schichten kann auf Grund erheblicher stadtspezifischer Differenzen nur schwer in generalisierender Form durchgeführt werden (Isenmann 1988, S. 266f.). Feststehen dürfte jedoch, dass nur ein zahlenmäßig geringer Anteil der Oberschicht angehört. Gerade diese kleine, aber bedeutende soziale Gruppe könnte jedoch zum Träger einer sprachlichen Modernisierung geworden sein. Es dürften im Wesentlichen die Oberschichten gewesen sein, die sprachliche Außenkontakte gehabt haben. Groß- und Fernkaufleute, Unternehmer und Stadtsekretäre kommunizierten mit auswärtigen Personengruppen und kamen somit mit anderen Sprachformen in Berührung, wohingegen sich die Kommunikation von mittleren und unteren Schichten eher auf die städtische Umgebung und ggf. auf den umliegenden ländlichen Raum beschränkt haben dürfte. Durch diese oberschichtlichen Außenkontakte könnte es zu sprachlichen Ausgleichstendenzen gekommen sein, etwa beim Schriftverkehr mit weit entfernten Regionen. Dies wiederum hatte langfristig weitreichende Konsequenzen für die weitere sprachliche Entwicklung. Im Zuge des Übergangs von der feudalistischen Sozialstruktur zum System des Absolutismus lässt sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts eine zunehmende Betonung der ständischen Hierarchie feststellen. Die Oberschichten waren bemüht, die bestehenden gesellschaftlichen Rangverhältnisse zu markieren. Als charakteristisches Zeichen für das Bestreben zur symbolischen Repräsentation der eigenen Standeszugehörigkeit und zur gleichzeitigen Abgrenzung von unteren Schichten dienten z.B. Kleiderordnungen und Etikettenbücher, die für jeden Stand ein angemessenes Verhalten vorschrieben (Mihm 2000, S. 161). Auch die Zulas-
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sung zu Tänzen und Festveranstaltungen, die nur bestimmten gehobenen Schichten vorbehalten war, kann als eine Statusfrage und gesellschaftliche Distanzierung verstanden werden (Isenmann 1988, S. 260). Aus diesen Gründen besteht die Möglichkeit, dass sich diese Abgrenzung der Führungsschichten von niederen Schichten auch auf die sprachliche Ebene ausgewirkt haben könnte (Mihm 2001b, S. 278). Bereits Schmitt (1942, S. 207) geht von der Existenz einer „Herrensprache“ aus, ebenso Wiesinger (1996, S. 201). In der jüngeren Forschung werden daher vermehrt solche kommunikationsgeschichtlichen Ansätze als mögliche Erklärungshypothesen für die Sprachstandardisierung diskutiert. Die kulturellen Interessen und kommunikativen Bedürfnisse der Oberschichten sowie damalige Sprachbewertungsstrukturen, die bislang nur wenig erforscht sind, könnten bei den Sprachveränderungen eine bedeutende Rolle gespielt haben (Mihm 2001b, S. 274). Maas (1983, 1987) führt den Begriff der oberschichtlichen Heterozentrierung ein, d.h. die Ausrichtung der einheimischen Eliten auf den Lebensstil entfernter Kulturen. Die Distanzierung von niederen Schichten sollte durch die Wahl einer gehobenen, prestigeträchtigen, nichtautochthonen Sprache betont werden. Die Sprachveränderungen werden demnach als Herrschafts- und soziales Distanzierungsmittel verstanden (Maas 1983). Als ein in diesem Zusammenhang bedeutender Faktor wird die Vertikalisierung (Reichmann 1988, 1990), d.h. die hierarchische Rangordnung der ursprünglich gleichberechtigt nebeneinander stehenden Territorialsprachen angesehen. Eine grundlegende Voraussetzung für die Heterozentrierung ist die Mehrsprachigkeit der Oberschichten. In den mittelalterlichen Städten bestand bereits frühzeitig eine Mehrsprachigkeit durch Zuzug Auswärtiger und durch Handelsbeziehungen, die eine Verständigung mit den Handelspartnern notwendig machten. Es entstanden Niederlassungen in auswärtigen Gebieten, die Oberschichten schickten ihre Söhne ins Ausland zum Studium bzw. zur Erlernung der jeweils für den Beruf benötigten Fremdsprache. Später, im Laufe des 16. Jahrhunderts, werden dann auch in der internen Kommunikation zwischen Angehörigen der Oberschichten externe Varietäten verwendet (Französisch, Italienisch, Oberdeutsch, Ostmitteldeutsch). Somit existiert im Spätmittelalter eine stabile oberschichtliche Mehrsprachigkeit (Mihm 2001b, S. 267). Für das Untersuchungsgebiet des Rheinmaasraumes konnte Mehrsprachigkeit bereits nachgewiesen werden. Cornelissen (1986, S. 315) hat für das Gelderland des 18./19. Jahrhunderts gezeigt, dass im Zuge der Ablösung der unverschobenen Varietät durch das Hochdeutsche für einen Übergangszeitraum schriftsprachliche Diglossie und Bilingualismus prägend ist. Bereits im späten Mittelalter (Rheinmaasländisch und Ripuarisch) und in der frühen Neuzeit (Rheinmaasländisch und Frühneuhochdeutsch) sind unterschiedliche Va-
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rietäten nebeneinander überliefert (Cornelissen 1989). Eickmans (1998) weist ebenfalls auf die Konkurrenz von „Deutsch und Niederländisch“ am selben Ort bis ins 19. Jahrhundert hin. Tervooren (1979, S. 191) stellt fest, das der untere Niederrhein „über lange Jahrhunderte mehrsprachig war“ und zitiert einen Gocher Arzt aus dem 19. Jahrhundert, der feststellt, dass in dem Ort Klevisch, Holländisch, Französisch und Deutsch gesprochen würde. Mihm (2001b, S. 269) weist für Duisburg eine frühe oberschichtliche Verwendung des Hochdeutschen nach. Während dort bis zum Ende des 16. Jahrhunderts die rheinmaasländische Schreibsprache in der innerstädtischen Verwaltung uneingeschränkte Gültigkeit besaß, ist bereits 1559 eine Eingabe Duisburger Bürger an den Rat der Stadt in einer stark oberdeutsch geprägten Varietät überliefert. Der Duisburger Stadtsekretär Weymann zeichnet in einem Gerichtsbuch zwischen 1562 und 1593 die Vogtgerichtsprotokolle in einer stark rheinmaasländisch geprägten Sprachform auf, während er die Hochgerichtsprotokolle in einer wesentlich gehobeneren Übergangsvarietät abfasst (Mihm 1999). Auch für die Grafschaft Lingen (Taubken 1981, S. 386) ist eine verschieden starke Präsenz der niederdeutschen, niederländischen und hochdeutschen Sprache in den landesherrlichen, kommunalen und konfessionellen Institutionen und innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert vorhanden. Bei der Beschreibung der Mehrsprachigkeit der frühneuzeitlichen Oberschichten und des Sprachwechsels vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in Norddeutschland allgemein müssten nach Besch (1979) und von Polenz (2000) neben den faktischen Gegebenheiten auch soziolinguistische bzw. sozialgeschichtliche Faktoren Berücksichtigung finden. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die unterschiedlichen Sichtweisen der sprachlichen Veränderungen. Während diese von den Trägern und Befürwortern der Neuerungen, vor allem dem Besitz- und Bildungsbürgertum, als „kulturelle Modernisierung“ (von Polenz 2000, S. 260) begrüßt wurden, empfanden die unteren, niederdeutsch sprechenden Schichten den Sprachwechsel als Unterdrückung und „innere Kolonisierung“ (Gessinger 1980; 1982). Im Rahmen einer kulturpatriotischen und aufklärerischen Sprachkultivierung, die die Abwertung des Regionalen als ungebildet nach sich zieht (von Polenz 2000, S. 49), kommt es zu einer rasch modisch werdenden Geringschätzung und Verachtung des Niederdeutschen durch Norddeutsche selbst (von Polenz 2000, S. 254). Von Polenz (2000, S. 258f.) sieht hierin eine Modernisierung der Sprachkultur Norddeutschlands: Obrigkeitliche Institutionen und einflussreiche Aufsteigerschichten (Besitz- und Bildungsbürgertum) hätten die Bevölkerung zum Gebrauch des Hochdeutschen in kulturell wichtigen Domänen und somit zum mühsamen Erlernen des Hochdeutschen gezwungen. Daraus resultierte eine
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Einleitung: Die frühen Standardisierungsprozesse und ihre Bedingungen
Diglossie zwischen (1.) der als minderwertig empfundenen Muttersprache (Dialekt) und (2.) dem prestigebesetzten Hochdeutschen (von Polenz 2000, S. 259). Von Polenz (2000, S. 259 f.) und Besch (1979, S. 343) sehen darin einen „Zwangsbilinguismus“. Es stellt sich im Folgenden die zentrale Frage, welchen Einfluss die städtischen Führungsschichten auf die sprachliche Entwicklung hatten. Was waren ihre Interessen und Motivationen in jener Zeit? Welche Präferenzen der damaligen Stadtbürger waren für die Ausbildung der neuen, überregional gültigen Sprachen entscheidend und in welchen bürgerlichen Kommunikationsprozessen hat sich im Einzelnen die Herausbildung dieser neuen Sprachen vollzogen? Der Erklärungsansatz des städtischen Einflusses auf die Sprachwahl steht in einem gewissen Gegensatz zu den anderen o.g. Hypothesen. Wäre der territoriale Einfluss allein für die Sprache einer Stadt entscheidend, so müssten sich die Stadtoberen landesherrlichen Vorgaben unterordnen und hätten keinen großen Spielraum bei der Gestaltung ihrer Sprache. Andererseits spräche ein weitreichender Handlungsspielraum der städtischen Oberschichten bezüglich ihrer Sprache gegen die Annahme eines starken territorialen Einflusses auf die Stadtsprachen. Daher ist im Folgenden eine Überprüfung dieser gegensätzlichen Hypothesen nötig. Hierzu soll ermittelt werden, inwieweit sich zwei Städte eines Territoriums in ihrer sprachlichen Entwicklung ähnlich bzw. unterschiedlich verhalten. Eine ähnliche Entwicklung spräche für einen gewissen territorialen Einfluss, wohingegen unterschiedliche Entwicklungen einen Entscheidungsspielraum der einzelnen Städte bzw. ihrer Führungsschichten plausibel machen würden.
2. Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse 2.1. Zielsetzung und methodische Überlegungen Aus den verschiedenen Erklärungsansätzen für die Standardisierungsvorgänge ergeben sich folgende Fragestellungen: 1. Inwieweit ist der sprachliche Modernisierungsprozess von überregionalen Gegebenheiten wie der landesherrlichen Kanzleisprache bzw. direkten oder indirekten Einflüssen der Landesverwaltung, den Auswirkungen von Luthers Bibelübersetzung oder der Entwicklung des Buchdrucks abhängig? 2. Inwieweit können die diachronischen Abläufe der Innovationsprozesse innerhalb der einzelnen Städte als Indizien für Veränderungen im Kommunikationsverhalten der städtischen Oberschichten gedeutet werden? Lässt sich durch die Analyse der linguistischen Veränderungen ein Wandel des zeitgenössischen Sprachwertsystems nachweisen? Zur Beantwortung dieser Fragen sind Texte von besonderer Bedeutung, die vor der vollständigen Übernahme einer externen Varietät bereits in erheblichem Umfang Elemente allochthoner Zielvarietäten enthalten. Hoffmann (1993, S. 152) bezeichnet die „inter- wie intratextuellen Mischungsverhältnisse als d a s Thema der rheinischen Sprachgeschichte“ des 16. Jahrhunderts. Peters (1999, S. 240) dehnt die regionale Gültigkeit dieser Einschätzung auf den gesamten niederdeutschen Raum aus. Diese Texte wurden in der älteren Forschung meist undifferenziert als „mischsprachlich“ bezeichnet (Neuß 1973, S. 29-32, 36f., Tervooren 1985, S. 3235, 1996, S. 31-37, Eickmans 1999, S. 269-273). Erst durch die neuere Forschung ist deutlich geworden, dass es sich bei diesen allochthon geprägten Übergangsvarietäten um wertvolle Erkenntnisquellen handelt, die wichtige Informationen über die sprachhistorischen Abläufe enthalten. Aus diesem Grunde werden die erhobenen Daten jeweils unter folgenden Fragestellungen ausgewertet: - Welche Merkmale sind von den Überschichtungsvorgängen betroffen? Treten für alle Variablen allochthone Varianten auf oder nehmen bestimmte Merkmale nicht an den Neuerungsprozessen teil? - Welche Aufschlüsse lassen sich aus der diachronen Auftretensreihenfolge der allochthonen Merkmale gewinnen? Ergeben sich Hinweise auf das
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
Prestige dieser Formen innerhalb des stadtbürgerlichen Sprachwertsystems, so dass über eine variablenlinguistische Analyse dieser Innovationsschübe eine jeweils ortsbezogene Skalierung der Prestigemerkmale möglich ist? (Möller 1998 mit weiterer Literatur). - Finden sich in den Texten dialektologische Informationen, die die Herkunft der übernommenen Sprachmerkmale anzeigen? a) Gab es eine Ripuarisierung? b) Hat eine Niederlandisierung stattgefunden? c) Gab es eine oberdeutsche Überschichtung? d) Gab es eine ostmitteldeutsche Überschichtung? Welche Aufschlüsse können diese Informationen bei einer systematischen Auswertung über die verschiedene kulturelle Orientierung der Städte im Sinne einer oberschichtlichen Heterozentrierung geben? (Mattheier 1981, Mihm 1999; 2001a, 2002b). - Welche Rückschlüsse lassen die übernommenen Merkmale, als Manifestationen von stadtbürgerlicher Mehrsprachigkeit betrachtet, durch die Qualität ihrer „transkodischen Markierungen“, d.h. durch die Qualität der allochthonen Varianten (Lüdi 1996, S. 241-243), auf den Charakter und die jeweiligen Entstehungsbedingungen der Übergangsvarietäten zu? Lassen sich Aufschlüsse darüber gewinnen, ob es sich um sprachliche Anreicherungen und Stilisierungen oder um Lernervarietäten handelt? Ergeben sich Hinweise darauf, ob sich der Sprachwandel neben der schriftlichen auch auf der mündlichen Ebene vollzogen haben könnte? - Können die sprachlichen Orientierungen der städtischen Oberschichten auch dort sichtbar gemacht werden, wo es nicht zu einer vollständigen Überschichtung durch externe Varietäten gekommen ist, so dass im Sinne einer umfassenden, nicht-teleologischen regionalen Sprachhistoriographie auch die „Umwege“ und „Sackgassen“ der Sprachgrenzenentstehung rekonstruierbar werden? (Mattheier 1981, Reiffenstein 1995, S. 326, Wiesinger 1998, S. 129-131). - In welchem Tempo und in welcher Intensität setzen sich allochthone Merkmale durch? Wie dicht folgen die einzelnen Innovationsschritte aufeinander? Hierbei ist zu prüfen, ob es sich jeweils um lineare oder eher um mehrdimensionale Vorgänge handelt. Ein allmählicher Übergang von der autochthonen Sprache zur Zielvarietät im Sinne des Drei-PhasenModells von Gabrielsson (1983), der mehrere Jahrzehnte dauert, wäre theoretisch ebenso denkbar wie ein abrupter Sprachwechsel innerhalb weniger Tage. Es soll ermittelt werden, wie lange die Prozesse in den unterschiedlichen Städten dauern, wie stabil die Zielvarietät ist, d.h. ob es nach dem Sprachwechsel zu einer „Renaissance“ einer bestimmten Varietät kommen kann (Tervooren 1985, S. 34) oder ob sich die neue Sprache uneingeschränkt durchsetzt.
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- Gibt es Überschneidungen zwischen den Prozessen? Findet eine Ausrichtung auf eine Zielvarietät statt oder ist auch eine Orientierung an verschiedenen externen Zentren denkbar? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich, folgende Gesichtspunkte für jeden der zu untersuchenden Ortspunkte zu ermitteln: 1. Welche Unterschiede bestehen in den Stadtsprachen vor Beginn der Überschichtung? 2. Wann und mit welchen Merkmalen setzt die Überschichtung ein? 3. Wie unterscheidet sich der Überschichtungsverlauf in verschiedenen Städten eines Territoriums? 4. Welche Ergebnisse lassen sich aus den Modalitäten der Überschichtung ableiten? Die in Kapitel 1.5. beschriebenen soziokulturellen Erklärungsansätze könnten sich möglicherweise als fruchtbar für die Interpretation der sprachlichen Modernisierung erweisen. Die linguistischen Befunde der Sprachentwicklung in den zu untersuchenden rheinmaasländischen Städten sollen zur Entwicklung eines integrativen Interpretationsmodells genutzt werden, das zunächst die spezifische kommunikative Eignung der Neuerungen für die Sprachteilhaber analysiert und davon ausgehend die möglichen Zusammenhänge mit den damals gegebenen soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen diskutiert. Hierbei wäre zu fragen, welche Bedeutung die innerstädtische Verständigung mit den Dialekt sprechenden Unterschichten hatte. Welche Bedeutung hatte die Teilhabe an externen Kulturen? Findet ein Sprachwandel oder ein Sprachwechsel statt? Welche Entwicklungsschritte sind bei den Sprachveränderungsvorgängen zu verzeichnen? Zur Entwicklung dieses Interpretationsmodells sollen im Folgenden verschiedene bereits bestehende Untersuchungskonzepte miteinander kombiniert werden: Die Variablenlinguistik sowie die historische Soziolinguistik und Kulturanalyse. Variationslinguistische Analysemethoden können präzise Erkenntnisse über sprachimmanente Veränderungsprozesse liefern und sind darüber hinaus geeignet, um sprachkontaktbedingten Wandel zu rekonstruieren (Elmentaler/Mihm 2006, S. 50). Die historische Soziolinguistik bietet zusätzlich Theorien und Methoden, um den Bereich der außersprachlich bedingten Variantenverwendung zu erfassen und Erklärungen für die vorgefundenen variablenlinguistischen Ergebnisse zu finden. Um ein integratives Interpretationsmodell zu entwickeln, ist es wichtig die Typologie der Sprachveränderungsvorgänge zu ermitteln: Hierbei kann grundsätzlich zwischen Sprachwandel und Sprachwechsel unterschieden werden. Die Abgrenzung zwischen Phänomenen, die sich noch einem stadtsprachlichen Varianteninventar zuordnen lassen, und Erscheinungen, die schon einem fremden System angehören, ist allerdings
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vielfach nicht unproblematisch: Handelt es sich nur um einen Sprachwandel oder ist bereits von einem Sprachwechsel auszugehen? Einen Sprachwandel definiert Mattheier (1988b, S. 1438) dadurch, dass die Identität des Systems erhalten bleibt. Im Gegensatz dazu sei ein Sprachwechsel vorhanden, wenn in einer Sprachgemeinschaft eine bis dahin unbekannte Varietät für bestimmte soziokommunikative Aufgaben als allein angemessen betrachtet wird (Mattheier 1988b, S. 1444). Für Goossens (1994, S. 82) ist ein Sprachwechsel dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur einzelne sprachliche Elemente ausgewechselt werden. Die Situation sei für eine gewisse Zeit durch ein Nebeneinander der beiden konkurrierenden Varietäten gekennzeichnet, man versuche aber entweder die eine oder die andere Sprache zu schreiben. Vermischung komme in der Regel nur als Einsprengsel vor. Nach Maas (1985, S. 614) liegt der Bruch zwischen Sprachwandel und Sprachwechsel an dem Punkt vor, „wo ein hochdeutscher Text beabsichtigt wird, auch wenn er noch mehr oder weniger stark von niederdeutschen Elementen bestimmt ist“. Problematisch an diesem Ansatz bleibt jedoch, dass über die von Maas beschriebene Intention des Schreibers nur Vermutungen angestellt werden können (Fischer 1998, S. 22). Maas (1984, S. 39, 58) interpretiert sprachlichen Wandel als Ergebnis einer Verunsicherung des Textproduzenten. Als besonders wichtige Arbeiten auf diesem Gebiet werten Elmentaler/Mihm (2006, S. 49ff.) die Ansätze der neueren kontaktlinguistischen Forschung von Trudgill (1986), Thomason/Kaufman (1988), van Coetsem (1988, 2000), Auer/Hinskens (1996) sowie Thomason (2001), durch die wichtige Kategorisierungsvorschläge eingebracht worden sind. Hiernach ließen sich bei der Entwicklung der frühneuzeitlichen Stadtsprachen grundsätzlich zwei deutlich unterscheidbare Arten von Sprachwandelerscheinungen differenzieren, die jeweils zu verschiedenen Ergebnissen führen. Für diese beiden Haupttypen interlingualer Beeinflussung werden die Begriffe Entlehnung („borrowing“) und Imposition verwendet. Beide Prozesse haben gemein, dass sie auf eine spezifische Sprachenkonstellation in einer zweisprachigen Sprechergemeinschaft zurückgehen, bei der eine Sprache linguistisch dominant ist, weil sie als Erst- oder Basissprache besser beherrscht wird, während die andere Sprache durch politisches Übergewicht oder kulturelles Prestige eine soziale Dominanz besitzt und deshalb als Vorbildsprache fungiert (Mihm 2001a, S. 316f.). Unter dem Begriff „Entlehnung“ werden diejenigen Ausgleichssprachen subsummiert, bei denen die Erstsprache grundsätzlich beibehalten wird, aber durch sukzessive Anreicherung mit allochthonen Elementen aus der sozial dominanten Zweitsprache in zunehmendem Maße eine Entfernung von der ursprünglichen Form stattfindet. Als „Imposition“ hingegen lassen sich solche Sprachtypen bezeichnen, bei denen die bilinguale Sprecher-
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gemeinschaft in einem language shift dazu übergeht, die sozial dominante Zweitsprache mit einer gewissen Regelhaftigkeit zu verwenden (Thomason/ Kaufman 1988). Hierbei wird diese durch die linguistisch dominanten Strukturen der Erstsprache in einer spezifischen Weise überformt (Mihm 2001a, S. 317). Die Endprodukte der Sprachveränderungsvorgänge in den norddeutschen Städten und in Köln können demnach als Impositionen bezeichnet werden, wohingegen die Ausgleichssprachen sowohl im hochdeutschen Sprachraum als auch im niederländischen Bereich als Entlehnungssprachen zu charakterisieren wären. Nach Elmentaler/Mihm (2006, S. 51) ermögliche diese „Typologie der Ausgleichssprachen […] eine differenzierte Beschreibung historischer Sprachkontakterscheinungen“ und sei umso ertragreicher, je komplexer die sprachlichen Verhältnisse in einer Region seien. Die Kulturanalyse stellt einen weiteren wichtigen Forschungsansatz dar, durch den Rückschlüsse auf die Bedingungen der Sprachveränderungsvorgänge gezogen werden können. Diese Methode bezieht sich auf die Mechanismen der Sprachbewertung und Sprachsteuerung, die im Bereich der funktionalen Differenzierung eine wichtige Rolle spielen (Fischer 1998, S. 23). Nach Maas (1984, S. 61) wird eine Form „immer im Horizont weiterer Formen markiert, zu denen sie in Kontrast gesetzt wird“. Zur Einordnung der kulturellen Zielvorstellungen verwendet Maas den Gegensatz Auto- und Heterozentrierung (vgl. Kapitel 1.5.). Unter Autozentrierung wird die „Orientierung an den eigenen Potentialen“ (Maas 1985, S. 619) verstanden, wohingegen Heterozentrierung die „Orientierung der Wahrnehmung bzw. des Handelns an einem (fremden) empirischen 'Vorbild'“ darstellt. Der Kulturanalyse geht immer eine variationslinguistische Untersuchung voraus, anschließend werden die verschiedenen Varianten den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet (Fischer 1998, S. 23f.). Zur weiteren Erklärung der sprachlichen Veränderungsvorgänge existiert ein von Haas (1994, S. 205) in Anlehnung an Mattheier (1988a, S. 2) entwickeltes Modell, das versucht, die Intentionen der Schreiber bei der Wahl bestimmter Varianten zu rekonstruieren. Es basiert auf den folgenden Maximen: "(1) Schreibe wie X, weil X ein angesehener Schreiber ist. (2) Schreibe wie Y, weil Y politisch einflussreich ist. (3) Wähle die Variante a, weil sie in einer vorbildlichen Region gilt. (4) Wähle die Variante b, wenn du weisst, dass sie weiter verbreitet ist. (5) Wähle die Variante c, weil sie einheimisch ist. (6) Wähle die Variante d, weil sie systematischer ist. (7) Wähle die Variante e, weil sie älter ist. usw." (Haas 1994, S. 205).
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
Zur Beantwortung der o.g. Fragen soll die vorliegende Arbeit durch eine neuartige Untersuchungsmethode beitragen. Es sollen zwei Städtevergleiche nach ein und demselben Analyseschema durchgeführt werden, um auf diesem Wege eine größtmögliche Generalisierbarkeit zu erzielen. Zur Entwicklung eines integrativen Interpretationsmodells sollen die o.g. Methoden der Variablenanalyse sowie der historischen Soziolinguistik und der Kulturanalyse miteinander kombiniert werden.
2.2. Untersuchungsverfahren 2.2.1. Untersuchungsgebiet Als Untersuchungsgebiet für die vorliegende Arbeit wurde der rheinmaasländische Sprachraum ausgewählt, dessen genuine Eigenständigkeit bereits durch früh- und hochmittelalterliche Quellen bezeugt ist (Mihm et al. 2000, S. 115). Dieses Areal ist von besonderem Interesse, da es sich um ein ursprünglich geschlossenes Sprachgebiet handelt (Elmentaler 2000, Weber 2003, Eickmans 2003), das bereits seit dem späten Mittelalter unter dem Einfluss angrenzender Nachbarvarietäten stand (Elmentaler/Mihm 2006, S. 52). Bezüglich der sprachlichen Modernisierungsvorgänge im Rheinmaasland ist derzeit lediglich bekannt, dass das Gebiet im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts von zwei Seiten durch allochthone Varietäten überschichtet wird, nämlich von Süden her durch hochdeutsche und von Westen her durch brabantische und holländische. In einer ersten Phase findet bereits im 15. Jahrhundert im südlichen Rheinmaasland eine Übernahme ripuarischer Merkmale statt (Otten 1977, Gillessen 1994). Wie weit diese Ripuarisierung nach Norden vorgedrungen ist und ob sie auch die hier zu untersuchenden Ortspunkte erreicht hat, ist derzeit noch ungeklärt. Anschließend, ab dem 16. Jahrhundert, findet besonders im östlichen Rheinmaasland eine Anreicherung der Schreibsprache mit hochdeutschen Formen statt, die teilweise zu einem vollständigen language shift führt (Otten 1977, Gillessen 1994, Egert 1994, Mihm 1999). Nach welchen Modalitäten diese Sprachveränderungsvorgänge vonstatten gehen, kann nur durch eine Analyse der Schreibsprache mehrerer Ortspunkte näher bestimmt werden. In einer dritten Phase, einige Jahrzehnte später im 17. Jahrhundert, dringen westliche Varietäten in die Stadtsprachen des westlichen Rheinmaaslandes ein (Wintgens 1982, Egert 1994). Da diese Überschichtung weniger tief greifend war als die hochdeutsche – bedingt durch die geringe Differenz zwischen dem Brabantischen bzw. Holländischen und dem Rheinmaasländischen – sind die derzeitigen Kenntnisse
Untersuchungsverfahren
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über diesen Sprachwechsel wesentlich geringer als bezüglich der hochdeutschen Überschichtung.1 Die unzureichende Erforschung des Sprachwechsels im Rheinmaasraum ist immer wieder hervorgehoben worden (Goossens 1984, S. 30-32, 1998, S. 46-47, Tervooren 1985, S. 32, Mihm 1986, S. 331-332, 1992, S. 114-117, Cornelissen 1989, S. 5-7, Hoffmann 1993, S. 143, Eickmans 1998, S. 44-46, 2003, S. 2634). Der gegenwärtige Forschungsstand kann vor allem deshalb kein Bild vom diachronischen und diatopischen Ablauf der sprachlichen Modernisierungsprozesse vermitteln, weil die Räume beiderseits der neu entstehenden deutsch-niederländischen Sprachgrenze nicht ausreichend repräsentiert sind. Notwendige Voraussetzungen dafür wären vergleichbare Beobachtungen aus einem Netz von repräsentativen Ortspunkten beiderseits der entstehenden Grenze, durch die zunächst die Faktizität der zeitlich-räumlichen Entwicklungsprozesse aufgedeckt würde. Eingehendere Untersuchungen liegen bisher nur zur nachnapoleonischen Schlussphase dieser Entwicklung vor, die mit der Durchsetzung der jeweiligen Standardsprachen beiderseits der neu geregelten Staatsgrenzen einsetzt (Merges 1977, Cornelissen 1986) und mit dem Verschwinden der rheinmaasländischen Dialekte in der Domäne der Alltagskommunikation ihren Abschluss erreicht (Münstermann 1989, Gerritsen 1991, Peerenboom 1993, Hinskens et al. 1993, Hinskens 1993, Vousten 1995, Willemyns 1997). Bezüglich der frühneuzeitlichen Epoche besteht jedoch in mehrfacher Hinsicht ein empirisches Forschungsdefizit, da von den insgesamt sechs bisherigen Beiträgen, die auf diese Vorgänge Bezug nehmen, vier aus einem schmalen, unmittelbar der Benrather Linie vorgelagerten Gebietsstreifen östlich der Maas stammen, nämlich aus den Ortspunkten Sittard (Otten 1977), Eupen/Lontzen/Baelen (Wintgens 1982), Heinsberg (Gillessen 1994) und Erkelenz (Egert 1994), so dass eine räumliche Verallgemeinerung schon aus diesem Grunde unmöglich ist. Aufgrund der besonderen Verhältnisse in diesem Gebiet, in dem zunächst eine ripuarische Überschichtung stattfindet, sind die Ergebnisse dieser Untersuchungen nicht mit dem nördlichen Rheinmaasland, das in dieser Arbeit behandelt werden soll und für das noch keinerlei ortsspezifische Analysen existieren, vergleichbar. Darüber hinaus besteht auch bei diesen Untersuchungen zum Rheinmaasraum ein methodologisches Defizit. Die Materialerhebung ist jeweils nach gänzlich verschiedenen Prinzipien durchgeführt worden, was auch für die beiden übrigen Studien gilt. Neuß (1973) legte seiner Analyse Synodalprotokolle zugrunde, deren Verfasser nicht den jeweiligen Schreibort repräsentieren, während Mihm (1999) seine _____________ 1
Den aktuellen Forschungsstand zum räumlich-zeitlichen Überschichtungsverlauf im Rheinmaasraum referiert Mihm (2000, S. 148 ff).
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Analyse auf die serielle Quelle eines einzigen Duisburger Stadtschreibers beschränkt. Die Ergebnisse dieser Einzeluntersuchungen sind daher, auch wenn man von der fehlenden räumlichen Repräsentativität absieht, weitgehend unvergleichbar. Hieraus muss die Folgerung gezogen werden, dass sich ein zuverlässiger Überblick über den Gesamtprozess nur dann gewinnen lässt, wenn an allen berücksichtigten Ortspunkten ein und dasselbe Untersuchungsprogramm durchgeführt wird. Für die vorliegende Untersuchung wurden vier Ortspunkte ausgewählt, die sich auf zwei Territorien erstrecken, deren historische Entwicklungen gänzlich unterschiedlich verlaufen sind. Während das Herzogtum Kleve zu Preußen und somit zu Deutschland kam, war das Herzogtum Geldern niederländisch beherrscht. Die Grafschaft bzw. das Herzogtum (seit 1417) Kleve wurde 1539 unter Wilhelm dem Reichen mit Jülich und Berg zu einem niederrheinischen Großterritorium vereinigt. Der zusätzliche Erwerb des Herzogtums Geldern scheiterte 1543. Nach dem Tode des letzten Herzogs 1609 wurde Jülich-Kleve-Berg gemeinschaftlich von Brandenburg-Preußen und PfalzNeuburg regiert, ehe es ab 1614 durch den Vertrag von Xanten (staatsrechtlich besiegelt 1666 im Vertrag von Kleve) zu einer Teilung des Territoriums kam. Pfalz-Neuburg erhielt die Herzogtümer Jülich und Berg, Brandenburg das Herzogtum Kleve und die Grafschaften Mark und Ravensberg sowie die Herrschaft Ravenstein (Hantsche 1999, S. 72). Die Grafschaft bzw. das Herzogtum (seit 1339) Geldern bestand seit dem 12. Jahrhundert aus insgesamt vier Quartieren, den drei Niederquartieren Nimwegen, Arnheim und Zutphen sowie dem Oberquartier Roermond. Bis ins 14. Jahrhundert hinein regierten die geldrischen Grafen das Land in einer Art Reiseherrschaft, indem sie sich auf verschiedenen, meist ländlichen Burgen aufhielten. Ab etwa 1440 kamen unter Herzog Arnold städtische Residenzen hinzu, z.B. Grave und vor allem Arnheim, das sich zum Hauptsitz der herzoglichen Zentralverwaltung entwickelte. Das Herzogtum wurde bis zum Jahre 1538 durch die Herzöge von Geldern regiert. Nach dem Tod des letzten Herzogs Karl von Egmont kam es zu einem kurzen geldrischen Erbfolgekrieg zwischen dem klevischen Erbprinzen Wilhelm V., der von den geldrischen Ständen zum Nachfolger Herzog Karls bestimmt wurde, und den Habsburgern unter Kaiser Karl. V., nach dessen Ende 1543 das gesamte Herzogtum Geldern an Habsburg fiel. Hierdurch verlor das Herzogtum Geldern seine Selbständigkeit. Es wurde von nun an von Statthaltern regiert, wobei das Oberquartier einen eigenen Statthalter bekam. Die Verwaltung wurde von Brüssel aus organisiert, in Arnheim wurde der „Hof von Geldern und Zutphen“ gegründet. Durch die Reichsteilung im Jahre 1555/56 kam Gesamtgeldern zusammen mit den übrigen Niederlanden an Spanien. Ab 1579 kam es zum Abfall der
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drei Niederquartiere, und somit auch der Stadt Nimwegen, die sich der Utrechter Union der sieben nördlichen Provinzen der Niederlande anschlossen und sich von der spanisch-habsburgischen Herrschaft in Brüssel lossagten. Dies bedeutete für die Brüsseler Zentralregierung faktisch den Verlust dieser Gebiete, der durch den Westfälischen Frieden 1648 auch staatsrechtlich besiegelt wurde. Nur das Oberquartier Roermond verblieb weiterhin bei den spanischen Niederlanden. 1580 wurde der Hof von Geldern durch den Herzog von Parma nach Roermond verlegt. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg 1713 wurde das geldrische Oberquartier aufgeteilt. Den größten Anteil – mit der Stadt Geldern – erhielt Preußen, die übrigen Gebiete fielen an die Generalstaaten (u.a. Venlo), Österreich (u.a. Roermond) sowie an Jülich (Erkelenz). Zur Beantwortung der o.g. Fragenkomplexe wurden vier Städte ausgewählt, deren sprachliche Entwicklung verglichen werden soll: Wesel, Geldern, Emmerich und Nimwegen. Sie stimmen in ihrer rheinmaasländischen Basissprache weitgehend überein und wenden sich im Laufe des 16.-18. Jahrhunderts teils der neuniederländischen, teils der neuhochdeutschen Standardsprache zu. Alle vier Orte haben gemeinsam, dass sie nördlich der Uerdinger Linie liegen. Sie waren in der frühen Neuzeit von großer Bedeutung, zählten zu den wichtigsten Städten im nördlichen Rheinmaasraum. Die vier Orte wurden so ausgewählt, dass jeweils zwei Städte in ein und demselben Territorium liegen. Der Ortspunkt Wesel, an der Mündung der Lippe in den Rhein gelegen, repräsentiert innerhalb des Untersuchungsplanes den südöstlichen Teil des Herzogtums Kleve. Wesel war im 16. Jahrhundert die bedeutendste Stadt im Herzogtum Kleve. Die Stadt Emmerich, etwa vierzig km nordwestlich gelegen und nur etwas kleiner als Wesel, wird stellvertretend für den nördlichen Teil des Herzogtums Kleve untersucht. Der Ortspunkt Geldern repräsentiert innerhalb des Untersuchungsplanes den südlichen Teil des Herzogtums Geldern, das Oberquartier Roermond. Die Stadt Nimwegen, etwa fünfzig km nordwestlich gelegen, wird stellvertretend für das geldrische Niederquartier Nimwegen analysiert. Durch die Auswahl dieser Städte, die beide weiter vom ripuarischen Sprachgebiet entfernt liegen als beispielsweise Venlo und Roermond, sollte der nördliche Teil des Rheinmaaslandes abgedeckt werden, für den kein früher ripuarischer Einfluss zu erwarten ist. Durch die geographisch ähnliche Lage wird zudem eine adäquate Vergleichbarkeit gewährleistet, so dass der Maxime der größtmöglichen Konstanz sprachbeeinflussender Faktoren Rechnung getragen wird. Zur sprachlichen Entwicklung in den vier ausgesuchten Städten liegen derzeit nur wenige Untersuchungen vor, die alle kein präzises Bild von den Überschichtungsvorgängen bieten können. Während Tille (1925) in
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
ihrer Arbeit zur Urkundensprache des Herzogtums Geldern weder Schreiber noch Orte differenziert und keine systematische Untersuchung durchführt, beschränkt sich Cornelissen (1986) auf die Spätphase der Überschichtung – Beginn seiner Untersuchung ist 1770 – und auf eine Analyse anhand weniger Variablen. In einem kurzen Aufsatz zu Geldern (2001) sowie in seiner „kleinen niederrheinischen Sprachgeschichte“ (2003) bietet Cornelissen darüber hinaus anhand von knappen Textbeispielen aus verschiedenen Schreiborten einen Abriss der rheinmassländischen Sprachgeschichte, der jedoch keine umfassende quantitative Analyse liefert. Auf die Weseler Sprache wird lediglich von Möller (2000) und Neuß (1973) peripher Bezug genommen. Zu Emmerich existiert eine unveröffentlichte Examensarbeit (Wolpert 1991), wohingegen für Nimwegen noch keine Arbeiten vorliegen. Das nördliche Rheinmaasland, in dem die vier Untersuchungsorte liegen, ist insgesamt weniger stark erforscht als der südliche Teil des Areals. Durch die Auswahl der Untersuchungsorte ist es möglich zwei Paarvergleiche durchzuführen, mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede in der sprachlichen Entwicklung der verschiedenen Städte innerhalb eines Territoriums zu ermitteln. Auf diesem Wege sollen Lösungsansätze zur Beantwortung der Ausgangsfragen gefunden werden. Wäre der Modernisierungsprozess von überregionalen Gegebenheiten wie der territorialen Zugehörigkeit der jeweiligen Stadt abhängig, so müssten sich deutliche Gemeinsamkeiten bezüglich der Sprachentwicklung der einzelnen Städte nachweisen lassen. Wenn jedoch nennenswerte Unterschiede zwischen der Entwicklung der Städte eines Territoriums zu verzeichnen wären, spräche dies für eine gewisse Unabhängigkeit der Städte von der territorialen Entwicklung. In diesem Fall wäre zu prüfen, inwieweit ein Erklärungsansatz plausibel ist, der den städtischen Führungsschichten einen Gestaltungsspielraum bei der Sprachwahl zubilligt. Wäre der Einfluss von Luthers Bibelübersetzung für die rheinmaasländische Sprachgeschichte von Bedeutung, so müssten sich in den Texten typisch ostmitteldeutsche Merkmale nachweisen lassen. Um die große Bedeutung des Buchdrucks zu belegen, müsste sich aufzeigen lassen, dass sich die Sprachveränderungsvorgänge zunächst auf der schreibsprachlichen Ebene vollzogen haben.
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Die geographische Lage der vier Städte veranschaulicht folgende Karte:
Karte 1: Das Rheinmaasland
2.2.2. Stichprobenauswahl Die verschiedenen bislang durchgeführten Untersuchungen zum Sprachenwechsel lassen eine domänenspezifische Ungleichzeitigkeit der Übernahmeprozesse erkennen, die ein Problem für die Erfassung und Darstellung der Vorgänge insgesamt bedeuten könnte. Im Bereich der schriftlichen Sprachverwendung zeigt sich in der Regel eine institutionenspezifische (fürstliche Kanzleien, Stadtkanzleien, Schule, Kirche), außerdem eine adressatenspezifische Reihenfolge (auswärtige, adlige, patrizi-
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
sche, bürgerliche, unterbürgerliche Adressaten) (Bichel 1985). Um dieses Problem der domänenspezifischen Ungleichzeitigkeit angemessen zu berücksichtigen, stehen grundsätzlich zwei Herangehensweisen zur Verfügung. Es könnte an jedem zu untersuchenden Ortspunkt ein möglichst breites Textsortenspektrum erhoben werden, um so domänenübergreifende Erkenntnisse zu gewinnen (Taubken 1981, Fischer 1998). Aufgrund des hohen dafür erforderlichen Arbeitsaufwandes erschien es unter methodischen Gesichtspunkten jedoch notwendig, eine Fokussierung auf die sprachliche Entwicklung innerhalb einer einzigen Domäne vorzunehmen. Für diese Untersuchung wurde somit der zweite Weg gewählt. Hierbei ist es nötig, ein möglichst homogenes Untersuchungskorpus zu erstellen, das aus Texten derselben Varietät besteht, da nur auf diesem Wege sichergestellt ist, dass die sprachlichen Veränderungen nicht auf einen Wechsel der Schreiblage, der Textsorte oder des Adressaten zurückzuführen ist. Daher bezieht sich der Begriff „Schreibsprache“ im Folgenden „auf eine einzige, durch bestimmte äußere Faktoren determinierte Schreibvarietät, deren Struktur und Wandel über den gesamten lokalen Überlieferungszeitraum beobachtet wird und von der angenommen wird, dass sie auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem geschichteten Spektrum mündlicher Sprachvarietäten in der Stadt referiert“ (Elmentaler 2003, S. 69). Da die Verlässlichkeit und Aussagekraft der Ergebnisse entscheidend von der diatopischen und diachronischen Vergleichbarkeit der Stichproben abhängt, müssen die Einflüsse der variationsbewirkenden Faktoren bei der Korpuserhebung möglichst gering gehalten werden. Daher wurde bei der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus folgendes berücksichtigt: 1. Literarische Texte wurden auf Grund ihres nicht-seriellen Charakters , ihrer Vorlagen- und Traditionsgebundenheit, ihrer stilistischen Überformung und ihrer oft nur losen Bindungen an den Schreibort ausgeklammert. Von den nicht-literarischen Quellen wurden in erster Linie Texte herangezogen, die als repräsentativ für den offiziellen städtischen Schreibusus gelten können. Dies ist am ehesten bei der Schriftlichkeit der leitenden Stadtsekretäre der Fall, die im Auftrag des Rates und der Oberschicht schrieben. Diese Texte besitzen eine lokale Repräsentativität, da Veränderungen der Schreibweise nicht ohne Wissen und Willen der städtischen Führungsschicht vollzogen werden. Es werden ausschließlich Texte professioneller Stadtschreiber herangezogen, die als die höchste Schreiblage einer Stadt anzusehen sind und somit als repräsentativ für die städtischen Führungsschichten gelten können. 2. Zur Kontrolle der Aussteller- und Kanzleispezifik werden ausschließlich Texte städtischer Kanzleien herangezogen. Um sicher zu gehen, dass es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um eine möglichst autochthone Schreibsprache handelt, die frei ist von adressatenorientierten fremden
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Sprachmerkmalen, wurden nur Quellen aus der stadtinternen Schriftkommunikation verwendet. Die Verfasser derartiger Texte weisen in Ausbildung und sozialem Status eine hinreichende Homogenität auf. Als Adressaten sind Bürgermeister, Schöffen, Rat, Stadtvögte, Schultheißen und in der Stadtführung beteiligte Personen anzusehen, so dass damit gerechnet werden kann, dass die Stadtsekretäre bestrebt waren, sich einem von den städtischen Oberschichten favorisierten gehobenen Sprachstil anzupassen. 3. Um die diachronen schreibsprachlichen Veränderungen kontinuierlich erfassen zu können, musste einerseits ein ausreichend langer Untersuchungszeitraum gewährleistet sein, andererseits musste für eine ausreichende Stichprobendichte gesorgt werden. Deshalb wurden für die vorliegende Analyse ausschließlich serielle Quellen herangezogen, die für einen Untersuchungszeitraum von mehreren Jahrhunderten in ausreichender Anzahl und mit möglichst wenigen Überlieferungslücken vorhanden waren. Sie ermöglichen eine relativ kontinuierliche Beobachtung der schreibsprachlichen Entwicklung über den gesamten Übergangszeitraum hinweg. Auf diesem Wege werden textsortenbedingte Schwankungen kontolliert, die insbesondere für die diachronische Fragestellung der Untersuchung von Bedeutung sind. Nach Maßgabe dieser Kriterien beschränkt sich die Stichprobenerhebung im Wesentlichen auf folgende Textsorten: a) Ratsprotokolle b) Gerichtsprotokolle c) Stadtrechnungen Die auf diese Weise in Hinblick auf den diachronischen und diatopischen Ablauf vergleichbaren Daten können dann für spätere domänenübergreifende Untersuchungen als gesichertes Bezugssystem gelten. Es werden für die zu vergleichenden Städte jeweils analoge Korpora erstellt. Dieses Vorgehen bildet die Grundlage für eine optimale Vergleichbarkeit der sprachlichen Veränderungen innerhalb verschiedener Städte, so dass durch eine Variablenanalyse die Regelmäßigkeiten bzw. die Spielräume bei den stadtspezifischen Entwicklungen sichtbar gemacht werden können. Als zeitlicher Einstiegspunkt der Untersuchungen wird der Überlieferungsbeginn der für jeden Ort ausgewählten Textsorten angesetzt. Hierdurch werden mögliche frühe ripuarische Einflüsse im Blickfeld behalten. Anhand von Stichproben wird jeweils der genaue Beginn der Überschichtung ermittelt. Die Stichprobenwahl erfolgt hierbei nicht schematisch, d.h. im immer gleich bleibenden Abstand von mehreren Jahren, sondern entweder schreiberbezogen oder es werden Stichproben an besonders markanten Stellen der Entwicklung erhoben. Bei den schreiberbezogenen Analysen wird jeweils der Beginn und das Ende der Tätigkeit eines Stadtsekretärs herangezogen. Falls notwendig, werden Zwischenstichproben
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gezogen. Auf diesem Wege wird der Abschluss der Entwicklung ermittelt. Für den sich daran anschließenden Zeitraum werden weitere Kontrollstichproben erhoben, um die Stabilität der Veränderungen und einen evtl. erneuten Rückgang der sprachlichen Neuerungen im Blickfeld zu behalten. Somit kann der Untersuchungszeitraum unter Umständen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ausgedehnt werden. Jede Stichprobe umfasst im Schnitt etwa 1000 Wörter, wobei wichtige Stichproben, z.B. die älteste Stichprobe als Zeugnis der autochthonen Varietät oder die erste Stichprobe nach einem vollständigen Sprachwechsel, einen größeren Umfang haben können, wohingegen sich Kontroll- und Zwischenstichproben auf einen geringeren Umfang beschränken können. Da für den Untersuchungszeitraum entsprechende Quelleneditionen kaum zur Verfügung stehen, musste in der Regel auf die Originalhandschriften zurückgegriffen werden, so dass zugleich normalisierende Textwiedergaben ausgeschlossen sind. Alle Stichproben wurden transkribiert, computerlesbar gemacht und (ggf. durch Anfertigung von wörtlichen Übersetzungen schwieriger Passagen) so weit inhaltlich erschlossen, dass die für die Variationsanalyse erforderlichen lautetymologischen Zuordnungen sicher durchgeführt werden konnten. Darüber hinaus wurden zu allen erhobenen Stichproben alphabetische Indizes erstellt, die als Basis für die Variationsanalyse dienen. Die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Materialien wurden von mir im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Zeit von 1999 bis 2002 geförderten Projektes „Die Entstehung der deutschniederländischen Sprachgrenze im Rheinmaasraum“ (Elmentaler/Mihm 2006, S. 52ff.) erhoben. Die vorliegende Arbeit steht somit im Kontext dieses Forschungsprojektes, verfolgt jedoch eine eigenständige Fragestellung, indem die These einer möglichen Bindung der Sprachentwicklung an die historischen Territorien geprüft wird. 2.2.3. Auswertungsverfahren Die Auswertung und Interpretation der Daten erfolgt zunächst auf der Basis der Variablenlinguistik, die sich mit der Erforschung und Beschreibung variabler linguistischer Größen beschäftigt. Sie nimmt innerhalb der Variationslinguistik eine zentrale Stellung ein (Fischer 1998, S. 18) und stellt neben der historischen Soziolinguistik und Kulturanalyse einen zweiten wichtigen methodischen Ansatz der diachronischen Stadtsprachenforschung dar (Fischer 1998, S. 15). Innerhalb der Variablenlinguistik lassen sich verschiedene Analyseschritte zusammenfassen: a) Aufstellen eines Varianteninventars, b) Untersuchung der Vorkommenshäufigkeit, c) der
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Vorkommensdauer, d) der innersprachlichen und e) der außersprachlichen Bedingtheit einzelner Varianten (Fischer 1998, S. 20). Im Bereich der niederdeutschen Sprachgeschichtsforschung existiert durch den „Katalog sprachlicher Merkmale zur variablenlinguistischen Erforschung des Mittelniederdeutschen“ (Peters 1987a, 1988, 1990) bereits eine wichtige Grundlagenarbeit zur Variablenanalyse auf graphematischer Ebene. Darin wird unter einer Variablen ein linguistisches Element verstanden, das mindestens zwei verschiedene Realisationsmöglichkeiten bietet (Peters 1987a, S. 61). Der Variablenkatalog beinhaltet Sprachmerkmale, die im Mittelniederdeutschen hinsichtlich verschiedener sprachlicher Ebenen, insbesondere der Graphematik, variieren. Die verschiedenen Realisierungen einer Variable werden Varianten genannt. Bei der Variantenanalyse ist darüber hinaus häufig ein Bezug zu einer hypothetischen Lauteinheit vorhanden, der in Anlehnung an Elmentaler (1993) und das Duisburger DFG-Projekt zur historischen Graphematik „Niederrheinische Sprachgeschichte“ (Elmentaler 1998, 2003) Lautposition genannt wird. Unter diesem Begriff ist „eine Lauteinheit unabhängig von ihrer spezifischen phonetischen Realisation oder ihrem phonematischen Status im Lautsystem eines bestimmten Dialekts zu einer bestimmten Zeit“ zu verstehen (Elmentaler 1993, S. 5). Als Bezugssystem dient hierbei das rekonstruierte Lautsystem des Westgermanischen. Die Lautposition ist definiert durch die Lautetymologie und den Lautkontext. In der vorliegenden Arbeit wird eine Lautposition in geschweiften Klammern dargestellt, so bedeutet z.B. {p-} westgermanisch p im Anlaut (z.B. perdt 'Pferd'), {-p-} westgermanisch p im Inlaut (z.B. open 'offen') und {-p} westgermanisch p im Auslaut (z.B. op 'auf'). Frühneuzeitliche Belege sind kursiv gesetzt, wohingegen neuhochdeutsche Übersetzungen in einfachen Anführungszeichen stehen. Vokale in offener Silbe werden durch einen Strich gekennzeichnet (z.B. bedeutet {î-} westgermanisch lang î in offener Silbe), Vokale in geschlossener Silbe durch ein Sternchen (z.B. steht {i*} für westgermanisch kurz i in geschlossener Silbe) und ein beliebiger Konsonant wird durch das Zeichen x repräsentiert (z.B. {unx} = westgermanisch u vor n und beliebigem Konsonant). Die Schreibung < > kennzeichnet eine Graphie (z.B. = Graphie ). Voraussetzung für die Analyse der sprachlichen Verhältnisse ist zunächst die Erstellung von Variablenkatalogen zur Erfassung der sprachlichen Varianten unterschiedlicher Provenienz. Dazu wird die bodenständige Regionalvarietät des Rheinmaasländischen zunächst mit den drei einschlägigen externen Varietäten des Ripuarischen, Neuhochdeutschen und Neuniederländischen kontrastiert. Für das Ripuarische kann auf bereits vorliegende Kontrastierungen zurückgegriffen werden, wobei sich vor allem die ripuarischen Lautverschiebungsvariablen als trennscharf erweisen:
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
Variable 1) {-p-} 2) {-p} 3) {t-} 4) {-t-} 5) {-t} 6) {-k-} 7) {-k}
Rheinmaasländische Variante (Beispiel)
, z.B. open
, z.B. loep , z.B. tyt , z.B. laten , z.B. groet , z.B. maken , z.B. oyk
Ripuarische Variante (Beispiel) , z.B. offen , z.B. loif , z.B. zit, tzit , z.B. laissen , z.B. grois , z.B. maichen , z.B. oich
Abb. 1: Ripuarischer Variablenkatalog
Für das Neuhochdeutsche wurde ein zweifach abgestufter Variablenkatalog erstellt. Auf der ersten Stufe, im Folgenden „hochdeutscher Variablenkatalog 1“ genannt, enthält er die klassischen Merkmale des neuhochdeutschen Konsonantismus und Vokalismus, d.h. die Ergebnisse der Verschiebung von {p, t, k, d}, des Frikativverschlusses von {-b-, -b} und der neuhochdeutschen Diphthongierung von {î, üÎ, iu, û}. Auf dieser Basis wird die sprachliche Entwicklung der Ortspunkte beschrieben, bei denen eine hochdeutsche Überschichtung stattfindet: Variable 1) {p-} 2) {-p-} 3) {-p} 4) {t-} 5) {-t-} 6) {-t} 7) {-k-} 8) {-k} 9) {d-} 10) {-d-} 11) {î} 12) {û-} 13) {üÎ/iu} 14) {-b-} 15) {-b}
Rheinmaasländische Variante (Beispiel)
, z.B. pert
, z.B. open
, z.B. koep , z.B. tyt , z.B. laten , z.B. groet , z.B. maken , z.B. oyk , z.B. dochter , z.B. gode , z.B. myn , z.B. hus , z.B. tuge , z.B. selue , z.B. af
Hochdeutsche Variante (Beispiel) , z.B. pfert , z.B. offen , z.B. kauf , z.B. zeit , z.B. lassen , z.B. gross , z.B. machen , z.B. auch , z.B. tochter , z.B. gute , z.B. mein , z.B. haus , z.B. zeuge , z.B. selbe , z.B. ab
Abb. 2: Hochdeutscher Variablenkatalog 1
Daneben wurden durch die Kontrastierung frühneuhochdeutscher und rheinmaasländischer Texte eine Reihe „sensiblerer“ Variablen ermittelt, die geeignet sind, hochdeutsche Einflüsse unterhalb der „klassischen“ Merkmale sichtbar zu machen. Hierbei handelt es sich im Unterschied zum Variablenkatalog 1, der in erster Linie phonologische Differenzen
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beschreibbar macht, um morphologisch-lexematische Variablen sowie erheblich geringere phonologische Differenzen wie etwa die Hebung von o bzw. ô zu u bzw. û in schult (vs. rheinmaasländisch scholt) bzw. bruder (vs. rheinmaasländisch broder). Zum Teil sind die als hochdeutsch klassifizierten Varianten auch in der autochthonen rheinmaasländischen Schreibtradition in Variation mit anderen Varianten üblich (z.B. die Graphien , oder die Graphie für {o-}). Ein hochdeutscher Einfluss ließe sich in diesen Fällen an der Durchsetzung der hochdeutschen Varianten gegenüber den bislang konkurrierenden rheinmaasländischen Formen aufzeigen. Variable 1. ≈{unx} 2. ≈{urx} 3. ≈{uld} 4. ≈{ô} 5. ≈{au}, ≈{äu} 6. ≈{i-, i-*} 7. ≈{o-} 8. ≈{sl, sm, sn, sw} 9. Postvokalisches 10. Postkonsonantisches 11. 12. 13. Pronomina 14. 'auf' 15. 'oder' 16. 'und' 17. '-ung' 18. 'nicht' 19. '-schaft' 20. 'haben' 21. 'sagen' 22. 'nach' 23. 'fünf' 24. 'durch' 25. 'von' 26. 'ist' 27. 'stehen' 28. 'gehen'
Rheinmaasländische Variante (Beispiel) onder borch scholt broder ogen boeme segelen auer sniden loen naeme raet oeck oere op ofte ind -ing nyet -schap hebben seggen nae vief doer van is staen gaen
Abb. 3: Hochdeutscher Variablenkatalog 2
Hochdeutschaffine Variante (Beispiel) vnder burch schult bruder augen bäume, beume siegelen ouer schniden lohn nhame rait, rayt oick, oyck ire vp oder vnd -ung nicht -schaft haben sagen nach funf durch von ist stehen gehen
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
Dieser Teil des Variablenkatalogs, im Folgenden „hochdeutscher Variablenkatalog 2“ genannt, kommt in den Ortspunkten zur Anwendung, in denen die „klassischen“ neuhochdeutschen Merkmale des hochdeutschen Variablenkatalogs 1 nicht oder nur in geringen Frequenzen nachzuweisen sind. Zur näheren regionalen Eingrenzung des Neuhochdeutschen wird der folgende Variablenkatalog herangezogen. Er enthält diejenigen oberdeutschen und ostmitteldeutschen Merkmale, die als charakteristisch für diese Varietäten angesehen werden können und in anderen Regionalsprachen nicht bzw. nur selten auftreten. Es handelt sich hierbei in erster Linie um die Verwendung von für das Oberdeutsche charakteristischen Graphien wie
für westgermanisch b im Anlaut (purg, pleiben, pitten), für westgermanisch k im Anlaut (khommen, kheren, khind), für westgermanisch ai (aid, bain, arbait) sowie für westgermanisch ô (bruoder, muoder, guot). Des Weiteren wurden die spezifisch oberdeutschen Partizipformen ohne die Vorsilbe '-ge' (gangen, bracht, khommen)2, Wörter mit oberdeutscher Vokaltilgung (gnug, dweil, anglangt) sowie Apokope des e (er stünd, vrsach, ohn) aufgenommen. Außerdem fanden lexemspezifische Besonderheiten des Oberdeutschen wie die 1. bzw. 3. Person Plural von 'sein' (wir seind), deme/ihme 'dem'/'ihm', 'nicht' (nit) sowie die Endungen '-nis' (-nus) und '-lich' (-leich) Berücksichtigung. Als ostmitteldeutsches Charakteristikum kann die Verwendung von in unbetonten Endsilben (untir, adir) gelten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den jeweiligen Gegenbelegen um Formen handelt, die in der Regel sowohl in der anderen Regionalvarietät als auch im Rheinmaasländischen regelmäßig auftreten können:
_____________ 2
Es wurden hierbei ausschließlich die Formen im Wortanlaut ausgezählt (z.B. bracht 'gebracht'), nicht jedoch die Belege im Wortinlaut (vorbracht 'vorgebracht'), da diese Formen auch im Rheinmaasländischen belegt sind.
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Untersuchungsverfahren
Variable
1) {b-} 2) {k-} 3) {ai} 4) {ô} 5) Partizip Perfekt 6) oberdeutsche Vokaltilgung 7) Apokope des e 8) {-er} 9) 'sind' (1./3. Pl.) 10) 'dem'/'ihm' 11) '-nis' 12) 'nicht' 13) '-lich'
oberdeutsche (bzw. nicht ostmitteldeutsche) Variante (Beispiel) purg khommen aid bruoder gangen gnug, dweilen er stünd unter, ader wir seind deme, ihme -nus nit -leich
ostmitteldeutsche (bzw. nicht oberdeutsche) Variante (Beispiel) burg kommen eid bruder gegangen genug, deweilen er stünde untir, adir wir sind dem, ihm -nis nicht -lich
Abb. 4: Oberdeutscher bzw. ostmitteldeutscher Variablenkatalog
Für die Zusammenstellung der neuniederländischen Variablenkataloge konnte nicht auf vorhandene Forschungsliteratur zurückgegriffen werden, so dass eigenständige graphematische Analysen von brabantischen bzw. holländischen Texten des 16.-17. Jahrhunderts erforderlich waren. Zur Gewinnung der neuniederländischen Variablen wurden jeweils 20 in Brüssel und in Amsterdam gedruckte Erlasse des Zeitraums 1500-1660 ausgewertet und mit rheinmaasländischen Texten verglichen. Die Kanzleisprachen von Brüssel und Amsterdam ähneln sich einerseits untereinander sehr, unterscheiden sich jedoch andererseits durch einige Merkmale relativ deutlich von der autochthonen rheinmaasländischen Schreibsprache, so dass sich eine eventuelle Orientierung der rheinmaasländischen Schreiber an diesen westlichen Kanzleisprachen anhand der auszuwertenden Stichproben aufzeigen lassen müsste. Mithilfe dieser Textkorpora wurde nach dem Kriterium der diatopischen Trennschärfe und der Auftretensfrequenz ein Katalog von 17 Variablen zusammengestellt. Hierbei können die Merkmale 1-9 als direkte Indikatoren für die neuniederländischen Varietäten herangezogen werden, da die westliche Variante dem Rheinmaasländischen grundsätzlich fremd ist. Bei den Variablen 10-17 hingegen treten die neuniederländischen Varianten in der rheinmaasländischen Tradition ebenfalls – in Variation mit anderen Varianten – auf, so dass erst eine hohe Frequenz dieser Merkmale
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
bzw. das Fehlen anderer Varianten einen westlichen Einfluss anzeigen kann (Elmentaler/Mihm 2006, S. 54ff.).3 Variable (mit Angabe der jeweils mit der neuniederländischen Tradition übereinstimmenden Variante) 1) ≈{au} 2) ≈{ord/ort} 3) ≈{ai-} (vor r, h, w) 4) h-anlautende Pronomina 5) soo 'so' 6) -eeren/-eren '-ieren' 7) ende 'und' 8) nieuwe 'neu' 9) ≈{ald/alt, olo/olt} 10) ≈{ô} 11) ≈{ai} (nicht vor r, h, w) 12) ≈{ai, äi} (nicht vor r, h, w) 13) ≈{î-} 14) ≈{i*} 15) ≈{û-, üÎ-} (nicht vor r) 16) ≈{â*, a-*} 17) ≈{o-, ö-}
Rheinmaasländische Variante (Beispiel)
Neuniederländische Variante (Beispiel)
boem, groet voert, ort heren, ere et/it, oem, oer so/soe -ieren/-iren ind/vnd nie, nuwe halden, holt broder/broider meyster, beine beide, bereit sniden, myne winter, bynnen huis, ruemen rait, betalt gebaren, genamen
boom, groot voort, oort heeren, eere het, hem, haer soo -eeren/-eren ende nieuwe, nyeuwe houden, hout broeder meester, beene beyde, bereyt snyden, mijne winter, binnen huys, ruymen raet, betaelt geboren, genomen
Abb. 5: Neuniederländischer Variablenkatalog
Um zu überprüfen, ob sich zwischen den beiden Varietäten Brabantisch und Holländisch signifikante Unterschiede nachweisen lassen, die dazu geeignet wären, die regionale Provenienz allochthoner westniederländischen Merkmale näher zu bestimmen, wurde ein umfangreiches Korpus aus Brüssel und Amsterdam (mit jeweils mehr als 10000 Wörtern) anhand dieses Variablenkataloges ausgewertet. Das Ergebnis veranschaulicht die folgende Tabelle:
_____________ 3
Nähere Erläuterungen zu den einzelnen Variablen, etwa zu lexemspezifischen Sonderentwicklungen, die nicht berücksichtigt wurden, finden sich in Kapitel 3.11.
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Variable
1) ≈{au} 2) ≈{ord/ort} 3) ≈{ai-} (vor r, h, w) 4) h-anlautende Pronomina 5) soo 'so' 6) -eeren/-eren '-ieren' 7) ende 'und' 8) nieuwe 'neu' 9) ≈{ald/alt, old/olt} 10) ≈{ô} 11) ≈{ai} (nicht vor r, h, w) 12) ≈{ai, äi} (nicht vor r, h, w) 13) ≈{î-} 14) ≈{i*} 15) ≈{û-, üÎ-} (nicht vor r) 16) ≈{â*, a-*} 17) ≈{o-, ö-}
Anteil westniederländischer Merkmale in Brüssel (in %) 100 100 100 100 100 87 100 100 100 92 100 100 100 99 100 99 100
Anteil westniederländischer Merkmale in Amsterdam (in %) 100 100 100 100 84 100 100 100 100 88 93 95 99 100 100 100 91
Abb. 6: Die Realisierung der neuniederländischen Variablen in Brüssel und Amsterdam
Es zeigt sich, dass für die ausgewählten Variablen kein signifikanter Unterschied zwischen der brabantischen und der holländischen Schreibtradition zu verzeichnen ist. Darüber hinaus konnten auch bei genauer Analyse der beiden Vergleichskorpora keine weiteren Merkmale ermittelt werden, durch die eine eindeutige Differenzierung der beiden regionalen Varietäten vorgenommen werden könnte. Daher werden die brabantische und die holländische Schreibsprache im Folgenden zusammengefasst und als „Neuniederländisch“ bezeichnet. Unter Verwendung dieser Merkmalskataloge werden die Stichproben der vier Schreiborte einer Variablenanalyse unterzogen. Hierbei wird zunächst für alle Textstichproben ein Merkmalsprofil erstellt, indem für jede Variable die Auftretenshäufigkeit der jeweils autochthonen und allochthonen Variante präzise quantifiziert wird. Im Vergleich dieser Merkmalsprofile können die sukzessiven Überschichtungsstufen herausgearbeitet und die diachronischen Veränderungen der Übergangsvarietät in Form von Verlaufsdiagrammen dargestellt werden.
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Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse
Die folgenden Abbildungen veranschaulichen die Berechnung des Anteils der allochthonen Varianten. Es wurden jeweils die rheinmaasländischen und die allochthonen Belege miteinander kontrastiert, wobei die Auszählung nach Morphemtypen erfolgte, d.h. alle Belege, die sich einem Morphem zuordnen ließen, wurden zusammengefasst. Auf diesem Wege konnten verzerrende Ergebnisse, die sich etwa bei einer Berechnung nach absoluten Beleganzahlen (z.B. durch besonders häufig belegte Lexeme) ergeben könnten, ausgeschlossen werden. Der Begriff „Morphem“ wurde anstatt der Bezeichnung „Lexem “ verwendet, da Lexeme mit gleichem Stamm, wie z.B. schrieuen/schrieuinge zusammengefasst wurden (analog zu Elmentaler 1999). Zur Ermittlung der Werte für die einzelnen Morpheme wurde die Anzahl der rheinmaasländischen bzw. allochthonen Belege durch die Gesamtbeleganzahl für das jeweilige Morphem geteilt. Anschließend wurden die so gewonnenen Werte für alle belegten Morpheme addiert. Die Gesamtanzahl der Morphemtypen für die allochthonen Varianten wurde abschließend durch die Gesamtanzahl aller Morphemtypen geteilt. Das Ergebnis ist der Anteil der allochthonen Varianten in Prozent. Die Anzahl der Belege wird in Klammern angegeben. Die Werte werden jeweils auf eine Stelle nach dem Komma auf- oder abgerundet. Der Berechnungsmodus wird an folgendem Beispiel veranschaulicht:
Stichprobe X
Rheinmaasländische Varianten
MT
Allochthone Varianten
MT
Allochthone Varianten in %
dat/int (3) 0,8 MT wat (99) 1,0 MT et (105) 1,0 MT
2,8
das (1) 0,3 MT was (1) 0,0 MT -
0,3
9,7
Die rheinmaasländischen Belege dat und int (= in dat), die dem Morphem dat 'das' entsprechen, werden zusammengefasst und mit der allochthonen Form das kontrastiert. Aufgrund der Rundung ergibt die Division der rheinmaasländischen bzw. allochthonen Belege durch die Gesamtbeleganzahl die Werte 0,8 MT bzw. 0,3 MT (3:4 = 0,75 MT bzw. 1:4 = 0,25 MT). Das Morphem wat 'was' dominiert in so starkem Maße gegenüber der allochthonen Form was, die nur einmal belegt ist, so dass sich durch die Rundung die Werte 1,0 MT wat bzw. 0,0 MT was ergeben (99:100 = 0,99 MT bzw. 1:100 = 0,01 MT). Der rheinmaasländischen Form et steht keine allochthone Variante gegenüber, so dass sich für dieses Morphem in jedem Fall ein Wert von 1,0 MT ergibt (1:1 = 1,0 MT). Hierbei ist es nicht von Belang, ob für dieses Mophem 105 oder z.B. nur 1 Beleg zu verzeichnen ist. Die Addition der einzelnen Morpheme ergibt folglich die Werte
45
Untersuchungsverfahren
0,3 MT allochthone Varianten bzw. 2,8 MT rheinmaasländische Varianten, so dass sich durch die Division des Wertes der allochthonen Varianten durch die Gesamtanzahl der Morphemtypen (0,3 MT:3,1 MT) ein Prozentanteil von 9,7 % allochthoner Varianten ergibt. So ergibt sich beispielsweise bei der Kontrastierung von rheinmaasländischen und hochdeutschen Varianten für {-b-} in Wesel (vgl. Abb. 22) folgende Berechnung: Rheinmaasländische Varianten
MT
Hochdeutsche Varianten
MT Allochthone Varianten in %
WES 1558 Broiel (Ende)
geuen (13) oeuer/auer (5) schriuen (1) leue 'Leben' (3) blyuen (1) seluig (2) derhaluen (1) erue (1)
8,0
-
-
-
WES 1558 Reid (Anfang)
geuen (25) schriefer/ geschreuen (4) -haluen (9) auer 'aber' (4) bliuen/bleuen (4) auer 'über' (2)/bauen (1) auentz (1) seluig (5) drewen (1) heuen 'heben' (1) grauen (1) gelouen 'Glauben' (2) wiuen 'Weiber' (1)
12,1
geben (2) schreiber/ schreiben (2) halber (1) aber (3)
0,9
6,9
WES 15681575 Reid (Zwischenstichprobe)
schrieuen (4) auer 'über' (12) geuen (11) selue (5) eruen (1) dufen 'Tauben' (2) blieuen (1)
7,0
-
-
-
WES 1586/87 Reid (Ende)
lieue 'Leib' selue (7) schrieuen/ beschreuen/ verschrieuong (9) geuen (3) seuen blieuen/verbleuen (4) neuen 'neben' bauen (1)/auer (3) haluen (2)
15,5
leibe 'Leib'
0,5
3,1
46
Methodische Überlegungen zur Analyse städtischer Sprachstandardisierungsprozesse Rheinmaasländische Varianten
MT
Hochdeutsche Varianten
MT Allochthone Varianten in %
weuer 'Weber' leuen (2) gelouen 'geloben' greuer 'Gräber'/ graue (2) siluer (2) wieuer 'Weiber' gestoruen WES 1587 Raesfeld (Anfang)
auer 'aber' (1) begrauen/graue 'Graben' (4) blieuen (2) erlouet (2) gerouet 'geraubt' (1) geuen (12) greuer 'Gräber' (1) neuen (1) selue (9) schrieuen/geschreuen (2) seuen (1) steuen 'Stäbe' (1) bauen (1)/auer (9) haluen (3) verstoruen (1)
11,8
neben (1) gestorben (1) pleiben (1) selbe (7) aber (5) geben (1) schreiben (1) silbere (1) vber (5)
4,2
26,3
WES 1591 Raesfeld (vor dem Wendepunkt)
seluen (4) auer (14)/auerst (4)/ bauen(1)/ oeuer (1) neuen (4) belieuen (1) haluen (2) erue (1) bliuen/bleuen (4) schriuen/geschreuen (11) geuen (13) seuen (1) garue (1)
10,8
selbe (1) vber (1) aber (1)
1,2
10
WES 1591 Raesfeld (nach dem Wendepunkt)
selue (1) halue (2) gelauet (1)
1,6
selbe (15) halbe (2) vber (20) schreiben/ -schrieben (17) leben (4) aber (14) pleiben/ pliebe (5) geben (8) neben (11) erbe (1) lieber (2) -oberster (1) sterben (1)
15, 4
90,6
47
Untersuchungsverfahren Rheinmaasländische Varianten
MT
Hochdeutsche Varianten
MT Allochthone Varianten in %
ebenfalls (1) treiben (1) begraben (1) WES 1622 Raesfeld (Ende)
euenfals
0,3
ebenfals (3) vber (8) selbe (5) aber (8) siebende geplieben abendt Stube (2) verderben schreiben (2) Erben geben
11, 8
97,5
Die kompletten Beleglisten konnten aus Platzgründen nicht in diese Veröffentlichung aufgenommen werden, können aber bei Bedarf beim Autor eingesehen werden.
3. Wesel und Emmerich: Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve 3.1. Einleitung Um die Tragfähigkeit der Hypothese von der Unabhängigkeit der städtischen Oberschichten bei der Sprachwahl zu überprüfen, wird im Folgenden ein Vergleich der sprachlichen Entwicklung in den beiden klevischen Städten Wesel und Emmerich durchgeführt. Sollten sich hierbei nennenswerte Unterschiede zwischen diesen beiden Orten ergeben, so spräche dies für einen gewissen Entscheidungsspielraum der städtischen Oberschichten bei der Wahl ihrer Sprache und gleichzeitig gegen die These eines starken territorialen Einflusses auf die Sprachentwicklung. In diesem Fall ließe es sich nur schwer anders erklären, aus welchem Grund zwei benachbarte Städte, die zu ein und demselben Territorium gehören, grundsätzlich voneinander abweichende Entwicklungen durchlaufen. Im Falle eines weitgehend ähnlichen Verlaufs der Sprachveränderungsvorgänge in den beiden Städten würde hingegen die These des territorialen Einflusses gestützt. Es wäre in diesem Fall durchaus plausibel, dass diese Gemeinsamkeiten aus der Zugehörigkeit zum selben Territorium herrührten. Es ergäben sich dann keine Hinweise auf einen Einfluss der städtischen Oberschichten bei der Sprachwahl. Eine Übernahme ostmitteldeutscher Merkmale in Wesel und Emmerich würde tendenziell die These von der Vorbildfunktion dieser Sprachlandschaft für ganz Norddeutschland stützen, wohingegen das Fehlen eines solchen Einflusses die herausragende Bedeutung des Ostmitteldeutschen als Vorbild für den Rheinmaasraum abschwächen würde. Sollten sich bei der Analyse der Sprachentwicklung in den beiden Städten Befunde ergeben, die darauf hindeuteten, dass auch den gesprochenen Varietäten ein Anteil an den Neuerungen beizumessen ist, so bedeutete dies, dass die These von der besonderen Bedeutung des Buchdrucks – zumindest für die untersuchten Städte – keine Gültigkeit haben dürfte. Der umgekehrte Fall würde wiederum zur Untermauerung dieser Hypothese führen. Es wird im Folgenden zu untersuchen sein, in welcher Art und Weise in Wesel und Emmerich die Ablösung der autochthonen rheinmaasländischen Schreibsprache durch allochthone Varietäten vonstatten gegangen ist und ob sich aus den Modalitäten der Sprachveränderungsvorgänge
50
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Rückschlüsse ziehen lassen, die zur Beantwortung der Ausgangsfragen beitragen können. 3.1.1. Benutzte Quellen, Untersuchungszeitraum, Stichprobenwahl Trotz der herausragenden Bedeutung der Stadt Wesel seit dem späten Mittelalter ist ihre lokale Sprachentwicklung bisher weitgehend unerforscht geblieben, so dass die folgenden Darstellungen ausschließlich auf direktem Quellenstudium beruhen. Bei der Durchsicht der im Weseler Stadtarchiv vorhandenen Archivalien1 erwiesen sich für die Dokumentation der sprachlichen Veränderungen jener Zeit vor allem die Ratsprotokolle als geeignet, die von 1466 bis 1807 nahezu kontinuierlich überliefert sind.2 Durch diese gute Überlieferungslage bei Protokollen und Rechnungsbüchern waren zwei serielle Textsorten in hinreichendem Umfang vorhanden. Da Stadtrechnungen in der Regel durch eine begrenzte lexikalische Variation gekennzeichnet sind, wurden ihnen die Ratsprotokolle vorgezogen. Die für diese Textsorte charakteristische inhaltliche Vielfalt und der damit verbundene reichhaltige Wortschatz ließ eine genauere Beurteilung der schreibsprachlichen Veränderungen erwarten. Da sie sich durch ihre handschriftliche Charakteristik eindeutig den nach Namen, Amtszeiten und Tätigkeitsbereichen bekannten Stadtsekretären des 16. und 17. Jahrhunderts zuweisen lassen, bot sich hier die Möglichkeit einer schreiberspezifischen Quellenauswertung. Hierdurch können zusätzliche Erkenntnisse über die Ursachen der diachronischen Veränderungen gewonnen werden, etwa ob es sich bei sprachlichen Neuerungen um schreiberspezifische Entwicklungen handelt oder ob diese von der Persönlichkeit der Stadtsekretäre unabhängig sind. Außerdem werden eventuelle verzerrende Einflüsse, die sich z.B. durch auswärtige Stadtsekretäre oder Hilfsschreiber ergeben könnten, im Blickfeld behalten.
_____________ 1
2
Im Stadtarchiv Wesel sind neben umfangreichen Beständen an städtischen Urkunden (283 Stück von 1241-1749), Vikarien-Rechnungen (102 Bände, 1510-1610), Stiftungsrechnungen (1680 Bände, 1417-1851), Missivenbücher (81 Bände, 1496-1767), Akten aus dem Bereich der Magistratsregistratur (3470 Akten, 1322-1933) und Stiftungsregistratur (392 Akten, 1530-1890) auch Stadtrechnungen (553 Bände, 1349-1814) sowie Schöffen- (nur 2 Bände erhalten) und Ratsprotokolle (224 Bände, 1466-1807) vorhanden. Die Weseler Ratsprotokolle werden im Stadtarchiv unter der Signatur A 3 geführt. Für den Zeitraum von 1550 bis 1650 sind die Bände 43-97 vorhanden. Die Jahrgänge 1551, 156567 und 1648 fehlen (nach Langhans 1950). Einige Bände sind doppelt vorhanden: 1572/73, 1573 (Reminiscere)-1576 (24.1.), 1590-93, 1593-95, 1597. Es handelt sich hierbei jeweils um Konzeptschriften und Ausfertigungen.
51
Einleitung
Wie erste Voruntersuchungen ergaben, liegt etwa zwischen 1550 und 1620 die entscheidende Phase der Überschichtung durch hochdeutsche Varietäten. In diesen Zeitraum fallen die Amtszeiten von insgesamt drei Stadtschreibern: Heinrich Broiel (1535-1558), Wilhelm van Reid (15581587) und Johann van Raesfeld (1587-1622). Für die diachronische Untersuchung wurden für jeden dieser Schreiber zunächst Stichproben aus der Anfangs- und der Endphase seiner Tätigkeit erhoben, die jeweils variablenanalytisch ausgewertet wurden. Bei tief greifenden Sprachveränderungen innerhalb dieser Zeiträume – insbesondere innerhalb der Amtszeit Raesfelds – wurden die Umschlagpunkte durch umfangreiche Zusatzstichproben erfasst, bei relativ geringen Veränderungen wurde die Kontinuität der Entwicklung durch kleinere Kontrollstichproben überprüft. Dementsprechend wurden der Untersuchung folgende acht Stichproben zugrunde gelegt: Stichprobe Nr. Jahr
1
2
3
RP 1558 RP 1558
4
5
RP RP RP1587 1568-75 1586/87
6
7
8
RP 1591
RP 1591
RP 1622
Schreiber
Broiel (Ende)
Reid (Anfang)
Reid (Zwischenstichprobe)
Reid (Ende)
Raesfeld (Anfang)
Raesfeld (vor dem Wendepunkt zum Hochdeutschen)
Anzahl der Wörter
1284
3048
1965
3138
3693
2642
Raesfeld Raesfeld (nach dem (Ende) Wendepunkt zum Hochdeutschen) 3784
1610
Abb. 7: Stichprobenübersicht Wesel
Für die Stadt Emmerich liegen alle Urkunden und Handschriften im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. Neben 321 Urkunden aus der Zeit von 1233-1783 sind dort ein Privilegienbuch (1233-1522), das Liber diversorum (1377-1612), das Bürgerbuch (1427-1663), „Der visscher bueck“ (15. Jahrhundert), das Tolbuek (1388-1406), Kämmereirechnungen (15711716), Ratsprotokolle (1627-1639, 1722-1730, 1749-1760), Protokolle des Schöffengerichts (1523-1727, mit großen Lücken), Edikte (1559-1799), Protokolle des Montagsgerichts (1526-1736, mit großen Lücken), Kriminalprotokolle (1525-1615), Protokolle des Dienstags- und Freitagsgerichtes (1510-1569, mit großen Lücken) sowie Kontraktenprotokolle (15231697, mit kleineren Lücken) vorhanden.3 Aus diesen Beständen wurde die Textsorte „Kontraktenprotokolle“, d.h. Gerichtsprotokolle, ausgewählt. _____________ 3
Oediger 1972: Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und seine Bestände. Nicht in allen Fällen stimmen Oedigers Angaben jedoch mit dem heutigen Bestand überein.
52
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Bei den Kontraktenprotokollen handelt es sich um die Protokollsorte, die für den zu untersuchenden Zeitraum die geringsten Überlieferungslücken aufweist. Sie werden im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf unter der Signatur Depositum Stadt Emmerich, B Akten, VI. Gerichtsbücher, 6) Kontraktenprotokolle geführt. Überliefert sind die Protokolle der Jahre 1523-33, 1563-70, 1574-78, 1586-97, 1603-08, 1612-27, 1629-32 und 1646-97. Da sich während der Arbeit herausstellte, dass der Untersuchungszeitraum bis in das 18. Jahrhundert hinein ausgedehnt werden musste, wurden für diesen Zeitabschnitt zusätzlich Stichproben der Kämmereirechnungen, d.h. Stadtrechnungen (Signatur B II. 9), 1705-16) herangezogen. Mit Hilfe der Stadtrechnungen sowie der Ratsprotokolle (Signatur B III. 1), 1722-30) wurden darüber hinaus Überlieferungslücken der Gerichtsprotokolle geschlossen. Das folgende Diagramm veranschaulicht die Größe der einzelnen Stichproben in rheinmaasländischer Sprache. Angegeben ist jeweils die Anzahl der Wörter pro Stichprobe: Stichprobe Nr.
1
2
3
4
5
6
7
8
Jahr
GP 15101515
GP 1578
GP 1587
SR 1588
GP 1593
GP 1603
GP 1612
GP 1617
Anzahl der Wörter
1076
853
1763
981
1585
1109
1016
1108
Stichprobe Nr.
9
10
11
12
13
14
15
16
Jahr
SR 1620
GP 1625
RP 1627
GP 1632
RP 1633
RP 1636
GP 1646
SR 1653
Anzahl der Wörter
1048
865
924
373
1686
439
5047
1361
Stichprobe Nr.
17
18
19
20
21
22
23
24
Jahr
GP 1654
GP 1664
GP 1670
GP 1676
GP 1682
SR 1690
GP 1697
SR 1715
Anzahl der Wörter
693
581
1532
1155
604
653
742
566
Abb. 8: Stichprobenübersicht Emmerich
Parallel zu diesen rheinmaasländischen Stichproben sind einige Passagen in einer neuhochdeutschen Schreibsprache überliefert. Diese hochdeutschen Stichproben wurden gesondert ausgewertet. Hierbei handelt es sich um folgende Stichprobengrößen:
53
Einleitung Stichprobe Nr.
1
2
3
4
5
6
7
8
Jahr
GP 1617
RP 1627
GP 1632
RP 1633
RP 1636
GP 1646
GP 1654
GP 1682
Anzahl der Wörter
90
137
457
560
158
193
807
524
Stichprobe Nr.
9
10
Jahr
GP 1697
SR 1716
Anzahl der Wörter
199
1042
Abb. 9: Stichprobenübersicht Emmerich (hochdeutsche Überlieferung)
3.1.2. Der realhistorische Hintergrund Das Herzogtum Kleve wurde im Jahre 1539 unter Wilhelm dem Reichen mit Jülich und Berg zu einem Großterritorium zusammengefasst, das nach dem Tod des letzten Herzogs 1609 gemeinsam von Brandenburg-Preußen und Pfalz-Neuburg regiert wurde. 1614 kam es zu einer Teilung des Territoriums, das Herzogtum Kleve wurde preußisch (Hantsche 1999, S. 72, vgl. Kapitel 2.2.1.). Nimmt man die Möglichkeit eines Zusammenhangs von realhistorischer und sprachlicher Entwicklung an, so könnte vermutet werden, dass die Zugehörigkeit des Herzogtums Kleve zu BrandenburgPreußen in Wesel und Emmerich eine Hinwendung zum Hochdeutschen bewirkt haben könnte. Ob es einen solchen Zusammenhang tatsächlich gegeben hat, soll im Folgenden geklärt werden. Eine Verifizierung dieser These würde gleichzeitig Argumente zur Untermauerung der Territorialthese liefern. Darüber hinaus könnten auch verschiedene Aspekte aus der Geschichte der einzelnen Städte Auswirkungen auf die Sprache gehabt haben, z.B. längere Besatzungszeiten oder die Konfessionszugehörigkeit. So stand die Stadt Wesel, die sich im 16. Jahrhundert zu einem dominierenden Wirtschaftszentrum am Niederrhein entwickelt hatte und zahlreiche wohlhabende Bürger hervorbrachte (Prieur 1991), im Unabhängigkeitskrieg der niederländischen Nordprovinzen auf oranischer Seite und wurde in der Folge dieses Konfliktes von 1614 bis 1629 von spanischen, 1629 bis 1672 von oranischen Truppen besetzt. Daher wäre in dieser Zeit eine niederländische Beeinflussung denkbar. Emmerich, seit 1233 Stadt, war zunächst geldrisch und ging 1402 an die Grafen von Kleve über. Unter deren Herrschaft erlebte Emmerich eine wirtschaftliche und kulturelle
54
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Blütezeit, war Mitglied der Hanse, ehe im Verlauf des 80jährigen Krieges der Niedergang der Stadt einsetzte. Im Jahre 1598 wurde die Stadt von spanischen Truppen eingenommen. Nach deren Abzug war Emmerich, obwohl seit 1609 wie das gesamte Kleve zu Brandenburg-Preußen gehörig, von 1614 bis 1672 von Truppen der Generalstaaten besetzt. Von 1672 bis 1674 lag eine französische Garnison in Emmerich. Im Jahre 1794 wurde die Stadt von französischen Revolutionstruppen eingenommen, ehe sie ab 1815 wieder preußisch wurde. Ob sich ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit Wesels bzw. Emmerichs zu den verschiedenen Machtzentren und der sprachlichen Entwicklung feststellen lässt, soll im Folgenden ebenfalls geprüft werden. Auch der Faktor Konfessionszugehörigkeit wurde in der bisherigen Forschung des Öfteren als für die sprachliche Entwicklung bedeutend eingestuft (vgl. Kapitel 1.4.). Der lutherische Protestantismus habe die Entwicklung zum Hochdeutschen begünstigt, wohingegen die katholische Kirche eher dem Niederländischen bzw. dem autochthonen Rheinmaasländischen nahe gestanden habe (u.a. Tervooren 1979, 1985, Cornelissen 1989). Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass sich der Protestantismus in Form des Kalvinismus auch in den nördlichen Niederlanden durchgesetzt hatte, ohne dass dies eine Hinwendung zum Hochdeutschen bewirkt hätte. In Wesel gab es seit 1521 reformatorische Bestrebungen, die sich nach der Vertreibung der Wiedertäufer (1535) ab 1540 vollständig durchsetzten. Aus diesem Grunde wurde die Stadt seit dieser Zeit zum Anziehungspunkt für kalvinistische Glaubensflüchtlinge, wodurch sich seit 1545 eine wallonische, seit 1567 eine flämisch-brabantische Exilgemeinde entwickelte (Stempel 1991, S. 122, 137ff.). Bis in die 60er Jahre hatte man sich fast ausschließlich der lutherischen Lehre zugewandt, ging dann aber unter dem Einfluss der niederländischen Exilgemeinden seit 1575 allmählich zum Kalvinismus über (Stempel 1991, S. 139f.). Ob sich Zusammenhänge zwischen der religiös-konfessionellen und der sprachlichen Modernisierung nachweisen lassen, soll im Folgenden durch eine Analyse der diachronischen Sprachentwicklung geklärt werden. Wenn die Reformation und der Protestantismus tatsächlich einen Einfluss auf die rheinmaasländische Sprache gehabt hätten, müssten sich im Laufe des 16. Jahrhunderts Auswirkungen der ostmitteldeutschen Sprache Luthers nachweisen lassen. In diesem Fall wäre es plausibel, dass ostmitteldeutsche Drucke als Vorbilder gedient hätten, an denen sich die einheimischen Schreiber orientiert hätten. Dieser Befund würde wiederum zur Stützung der These von der großen Bedeutung des Buchdrucks beitragen.
Die autochthonen Stadtsprachen in Wesel und Emmerich
55
3.2. Die autochthonen Stadtsprachen in Wesel und Emmerich vor Beginn der Überschichtungsprozesse Die autochthone rheinmaasländische Schreibsprache, die etwa bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts verwendet wurde, ist durch die Beibehaltung des alten Konsonantenstandes und das Fehlen der neuhochdeutschen Diphthongierung gekennzeichnet. Ein Charakteristikum der rheinmaasländischen Schreibsprache ist die Verwendung von a-Graphien für westgermanisch o in offener und sekundär geschlossener Silbe (z.B. aver vs. mittelniederdeutsch over 'über'). Die Eigenständigkeit des Rheinmaasländischen, die trotz kleinerer regionaler Differenzen zweifelsohne vorhanden ist, kann an verschiedenen Merkmalen veranschaulicht werden, durch die sich das Rheinmaasländische von den benachbarten Schreibregionen unterscheidet. Als Abgrenzung vom Ripuarischen fungiert neben der Lautverschiebung von {p, t, k} (ripuarisch scheffen, zu, machen vs. rheinmaasländisch schepen, to, maken) die Realisierung von 'haben, hat' (ripuarisch haen, hait vs. rheinmaasländisch hebben, hefft) sowie von 'wir, ihm' (ripuarisch wir, ime, eme vs. rheinmaasländisch wy, oem). Der westfälische Einheitsplural (wi, ji, se maket vs. rheinmaasländisch wi maken, ji maket, sy maken 'wir machen, ihr macht, sie machen') tritt im Rheinmaasländischen ebenso wenig auf wie e-Graphien für {ê/eo} (westfälisch breyf, deynst vs. rheinmaasländisch brief, dyenst). Weitere differenzierende Merkmale gegenüber der westfälischen Schreibtradition sind die Pronomina 'er' und 'der, die' (westfälisch hey, dey vs. rheinmaasländisch hy, he, die) sowie 'ihm, ihn, ihr' (westfälisch eme, en, ere vs. rheinmaasländisch oem, oen, oer) und das Lexem 'kein' (westfälisch neyn, neen vs. rheinmaasländisch ghyen, geen). Die brabantische lVokalisierung für westgermanisch a bzw. o vor ld bzw. lt (houden, oude vs. rheinmaasländisch halden, alde 'halten', 'alte' ) tritt im Rheinmaasländischen ebenso wenig auf wie die Graphie für {iu} (brabantisch liede 'Leute', vier 'Feuer' vs. rheinmaasländisch luyde, vuir), für {s-} (zeven, zomer vs. rheinmaasländisch seven, somer) sowie bestimmte h-anlautende Pronomina (brabantisch hem, het vs. rheinmaasländisch oem, et). Im 16. Jahrhundert unterliegt das Rheinmaasländische bereits einer geringfügigen ripuarischen Beeinflussung, die sich in erster Linie lexembezogen an dem Auftreten von für westgermanisch k in '-lich', 'ich', 'sich'‚ 'auch', 'gleich', 'welch' und 'solch' manifestiert, des Weiteren an Formen wie vp 'auf', ind 'und', ist 'ist' sowie an der Verwendung der Graphien und . Dieser autochthone Sprachstand, der in Wesel bis zum Beginn der Überschichtung durch allochthone Varianten im Jahre 1558 vorherrscht, wird anhand des folgenden Textbeispiels aus einem Protokoll des Schreibers Broiel veranschaulicht:
56
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
[WES 1558: Schreiber Broiel] It(em) Israhel Refschen frouw z(elig) heft vp tolaiten derich Jacobss(en) mit oire(n) eidt bewairet In tit des vithgewesene(n) vrdels kranck gewest to sin Vnd vpt Raithuiss nit erschine(n) solde konde vnd also dat better Recht Inbracht vnd dar neist hefft frouw Israhels na vermoige des vithgewesenen vrdelss vmbracht etliche Siegel vnd brieue na vermoige der anspraicke. [Neuhochdeutsche Übertragung des Textauszuges WES 1558] Ebenso hat die Frau des verstorbenen Israhel Refschen mit Derich Jacobssens Erlaubnis durch ihren Eid bekräftigt, zur Zeit der Urteilsverkündung krank gewesen zu sein und auf dem Rathaus nicht haben erscheinen zu können, und hat auf diese Weise das bessere Beweismittel vorgebracht. Danach hat Israhels Frau kraft des verkündeten Urteils gemäß der Anklage einige urkundliche Nachweise beigebracht.
Die untersuchte Stichprobe des Schreibers Broiel weist für die Variablen 1-15 des hochdeutschen Variablenkatalogs 1 (hochdeutsche Lautverschiebung, neuhochdeutsche Diphthongierung, Realisierung von westgermanisch d und b) noch keinerlei hochdeutsche Formen auf, wie sich u.a. an den Formen vp, tit, vith-, vrdel, to, sin erkennen lässt. Es sind lediglich Belege des hochdeutschen Variablenkatalogs 2 zu verzeichnen: vp (statt op), vrdel (statt ordel), vnd (statt ind), etliche (statt etlike), Siegel (anstelle von segel). Hierbei handelt es sich um meist lexemgebundene Entlehnungen aus dem Ripuarischen bzw. Hochdeutschen. Für das Protokoll aus Emmerich ergibt sich im Jahre 1578 ein ähnlicher Befund: [EMM 1578] Smit, hoen ind Bongart Scepen: Wilhem van aldenhaeuen ind fyken Balendonx, syn huisf(rouwe), erfflick verkofft ind geuest Engelbert van Schrieck, Gerritgen, syner huysf(rouwe), ind oeren Eruen ein alinge huisinge ind hoffstat, angen Nyen Steinwegh gelegen, die gemeyn strait gnant, Tilmanss Stege ter ey(n)er Ind Gerret ysselhuisen ter anderer syde(n) vitgaende, Jairlix S(ankt) Aldegundis kerck eynen pacht gulden loesber Ind den vicarien, der her henrick te Cruss nu besitter van Is, viff ort pachte(n) loesber Noch eynen pacht guld(en) loesber Ind dem hospital binnen Embrick i ort pacht(en) onloesber Vertegen ut moris Gelaift to waeren.
Die autochthonen Stadtsprachen in Wesel und Emmerich
57
[Neuhochdeutsche Übertragung des Textauszuges EMM 1578] Smit, Hoen und Bongart (Schöffen): Wilhem van Aldenhaeuen und Fyken Balendonx, seine Ehefrau, haben Engelbert van Schrieck, Gerritgen, seiner Ehefrau, und ihren Erben ein ganzes Wohnhaus und zugehörigen Hofplatz, an dem neuen Steinweg gelegen, die Gemeindestraße genannt, zur einen Seite nach Tilmans Stege und Gerret Ysselhuisen zur anderen Seite hinausgehend, zu beständigem Besitz verkauft und bestätigt. Hierfür jährlich ohne Verzug zu verzehnten gelobt: der St. Aldegundis Kirche einen ablösbaren Pachtgulden und den Vikarien, deren Besitzer nun Herr Henrick te Cruss ist, fünf Ort ablösbare Pacht, des Weiteren einen ablösbaren Pachtgulden und dem Hospital innerhalb Emmerichs ein Ort nicht ablösbare Pacht.
Der Textausschnitt verdeutlicht, dass im Emmerich des Jahres 1578, ebenso wie in Wesel 1558 vor dem Schreiberwechsel, noch der alte Konsonantenstand vorherrscht (Scepen 'Schöffen', Eruen 'Erben', strait 'Straße', vit 'aus', kerck 'Kirche', besitter 'Besitzer', Gelaift 'gelobt'). Darüber hinaus wird auch hier vollständig auf die Durchführung der neuhochdeutschen Diphthongierung verzichtet (syn 'seine', huisige 'Behausung'). Betrachtet man zusätzlich zu diesen Textauszügen die vollständigen Stichproben, so treten in Wesel als frühe ripuarische Einflüsse die zumeist lexemspezifischen Belege solch (4), -lich (6), gelich (1) vs. gelick (1), wilch (1), ouch (2), sich (5), wider (2), diese (2), sehen (1)/sihen (1), biss (1), bringen (1) vs. brengen (1), siegel (2), vnd (44), ist (9), oder (4), durch (3) auf. In Emmerich sind ebenfalls geringe ripuarische Entlehnungen auf der lexikalischen Ebene belegt: -sulche (2 Belege), -lich (6) vs. -lick/-licke (3), vnder (1) vs. onder (1), ehe (2), vp (3) vs. op (9) sowie ader (5) vs. off/offte (2). Ganz vereinzelte oberdeutsche Einflüsse sind mit ehr 'er' (1) vs. he (1) sowie wher (1) zu verzeichnen. Weitergehende Lautverschiebungs- sowie Diphthongierungserscheinungen treten jedoch erst in den nächsten überlieferten Protokollen des Jahres 1558 (Wesel, nach einem Schreiberwechsel) bzw. 1587 (Emmerich) auf.4 Diese markieren den Beginn der sprachlichen Überschichtungsprozesse.
_____________ 4
Für den Zeitraum 1579 bis 1586 sind für Emmerich keine entsprechenden Quellen überliefert.
58
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
3.3. Überblick über den Überschichtungsverlauf in beiden Städten Aufgrund der Komplexität des schreibsprachlichen Entwicklungsverlaufs in Wesel und Emmerich soll an dieser Stelle zunächst ein allgemeiner Abriss der Überschichtungsprozesse geliefert werden, dem sich dann in den folgenden Kapiteln Einzelanalysen der besonders markanten Entwicklungen anschließen. In Wesel findet eine Überschichtung der autochthonen Schreibsprache durch hochdeutsche Varietäten statt. Das Ergebnis der Variablenanalyse für die insgesamt acht untersuchten Stichproben in Wesel veranschaulicht zusammenfassend die folgende Abbildung.5
Broeil
Reid
Raesfeld
Abb. 10: Die hochdeutsche Überschichtung in Wesel
_____________ 5
Angegeben ist der Anteil aller hochdeutschen Varianten in %. Die Auszählung erfolgte auf Basis der Morphemtypen. Die gestrichelte Linie markiert die Werte für die parallel überlieferten Konzeptfassungen. Zur Ermittlung des Gesamtwertes für die Konzeptfassungen des Jahres 1591 wurden die Prozentzahlen der fünf Einzelstichproben gemittelt.
Überblick über den Überschichtungsverlauf in beiden Städten
59
Die entscheidende Phase der hochdeutschen Überschichtung in Wesel ist der Zeitraum von 1558 bis 1591. Die Graphik lässt erkennen, dass die hochdeutsche Überschichtung in Wesel 1558 einsetzt. Bis zum Ende der Amtszeit Broiels im gleichen Jahr sind für die untersuchten Merkmale des hochdeutschen Variablenkataloges 1 keinerlei hochdeutsche Varianten belegt, es treten lediglich die in Kapitel 3.2. angeführten lexemgebundenen Entlehnungen aus dem Ripuarischen bzw. Hochdeutschen auf. Erst mit dem Schreiberwechsel zu Reid im Herbst 1558 ist ein nennenswerter, auch auf andere Lexeme ausgreifender Anstieg hochdeutscher Merkmale zu verzeichnen, der während seiner etwa 28jährigen Amtszeit allerdings nur zwischen 15 und 18% schwankt. Auch der nachfolgende Schreiber Raesfeld (ab 1587) verwendet zunächst noch eine Übergangsvarietät mit geringem hochdeutschen Merkmalsanteil, wechselt jedoch im Oktober 1591 plötzlich zu einer nahezu hochdeutschen Schreibsprache, bei der die rheinmaasländischen Varianten nur noch etwa 10 % ausmachen. Parallel hierzu verwendet er aber nach wie vor in seinen Konzeptfassungen (gestrichelte Linie) eine Übergangsvarietät, bei der der hochdeutsche Anteil nur bei durchschnittlich 37 % liegt. Zum Ende von Raesfelds Amtszeit hin geht der Anteil der hochdeutschen Varianten in den Reinschriften wieder leicht zurück, wobei allerdings der überwiegend hochdeutsch geprägte Charakter der Übergangsvarietät nicht in Frage gestellt wird. Zusammenfassend kann die Varietät, die in Wesel zwischen 1558 und 1591 Verwendung fand, als Entlehnungssprache charakterisiert werden, bei der eine unvollständige Akkommodation an das Hochdeutsche stattgefunden hat, ehe im Oktober 1591 ein language shift einsetzte. Seit diesem Zeitpunkt ist von einer Impositionssprache auszugehen, bei der in der Folgezeit eine teilweise „revidierte“ Akkommodation stattfindet.6
_____________ 6
Zur Terminologie Elmentaler/Mihm 2006, S. 65f.
60
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Ganz anders stellt sich der Verlauf der hochdeutschen Überschichtung in Emmerich dar:
Abb. 11: Die hochdeutsche Überschichtung in Emmerich
Die Graphik veranschaulicht, dass auch in Emmerich in der Zeit von 1587 bis 1654 ein hochdeutscher Einfluss zu verzeichnen ist, der jedoch – im Unterschied zu Wesel – nicht zu einem language shift führt. Diese schwache Form der Überschichtung wird im Folgenden als „hochdeutsche Welle“ bezeichnet. Diese erreicht im Jahre 1593 mit einem Morphemanteil von 22 % einen ersten Höchststand. In der Folgezeit schwankt ihr Anteil, ehe l627 mit 36 % hochdeutschem Morphemanteil der endgültige Höhepunkt erreicht wird. Anschließend sinkt der hochdeutsche Anteil relativ stark ab, so dass er sich zwischen 1632 und 1654 zwischen 3 % und 13 % bewegt. Ab dem Jahre 1664 sind keine hochdeutschen Merkmale des Variablenkataloges 1 mehr belegt.7 Dieser Sprachwandelprozess entspricht dem Typus einer „revidierten“ Akkommodation (Elmentaler/Mihm 2006, S. 65), bei dem die entlehnten Merkmale wieder vollständig zurückgehen. Eine eingehendere Analyse der hochdeutschen Welle in Emmerich bietet _____________ 7
Die Unterschiede bezüglich der hochdeutschen Anteile könnten möglicherweise mit Schreiberwechseln zusammenhängen. Eine Schreiberseparierung, die für Wesel aufgrund bereits geleisteter umfangreicher paläographischer Vorarbeiten vorgenommen werden konnte, konnte für Emmerich nicht eindeutig durchgeführt werden.
61
Überblick über den Überschichtungsverlauf in beiden Städten
Kapitel 3.7. Parallel zu dieser hochdeutschen Welle ist ein rein hochdeutscher Überlieferungsstrang zu verzeichnen (gestrichelte Linie), bei dem der hochdeutsche Morphemanteil immer bei mindestens 74 % liegt. Bei dieser Quellengruppe findet eine relativ kontinuierliche und vollständige Annäherung an die Zielvarietät statt, so dass der hochdeutsche Anteil ab dem Jahre 1632 nie mehr unter 97 % sinkt. Eine genauere Untersuchung dieser Entwicklung findet in Kapitel 3.10. statt. Diese Sprachveränderungserscheinung lässt sich als kontinuierliche Akkommodation charakterisieren, bei der eine vollständige Konvergenz mit der Vorbildsprache erreicht wird (Elmentaler/Mihm 2006, S. 65). Darüber hinaus findet in Emmerich eine neuniederländische Überschichtung statt. Eine zusammenfassende Darstellung bietet die folgende Graphik8:
100
89 90
90 80 69 67
70
61
60
52
63
57
50 40 27 32
23 25
30 20
20
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1636
1633
1632
1627
1625
1620
1617
9
10
0 0 0 1612
0 1603
1578
1510-15
5 1593
0
7
1588
0
0
2
1587
10
Abb. 12: Diachrone Entwicklung der Merkmale Nr. 1-9 des neuniederländischen Variablenkataloges in Emmerich
_____________ 8
Es handelt sich um eine Zusammenfassung der Merkmale Nr. 1-9 des neuniederländischen Variablenkataloges, bei denen bereits das bloße Auftreten einer allochthonen Variante einen Indikator für einen westlichen Einfluss darstellt (positive Akkommodation, vgl. Kapitel 3.11.1.). Die Berechnung erfolgte auf der Basis von Morphemtypen. Es wurde jeweils die Gesamtanzahl der hochdeutschen Morphemtypen ermittelt und durch die Gesamtanzahl aller Morphemtypen geteilt.
62
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die Abbildung verdeutlicht, dass in Emmerich parallel zur hochdeutschen Überschichtung eine Anreicherung der Schreibsprache mit neuniederländischen Varianten vollzogen wird. Erste Ansätze hierzu treten bereits in geringem Maße gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf, die jedoch in den darauf folgenden Stichproben wieder rückgängig gemacht werden. Ein vorläufiger Höhepunkt der westlichen Beeinflussung ist im Jahre 1625 – möglicherweise schreiberbedingt – zu verzeichnen, ehe in der Folgezeit ein erneuter Rückgang der neuniederländischen Formen stattfindet. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts findet ein relativ kontinuierlicher Anstieg des westlichen Anteils bis auf 90 % statt. Eine genauere Analyse dieses Prozesses erfolgt in Kapitel 3.11. Diese Sprachwandelerscheinung kann als kontinuierliche Akkomodation (Trudgill 1986, Elmentaler/Mihm 2006, S. 65) charakterisiert werden. Zusammenfassend betrachtet entspricht die schreibsprachliche Entwicklung in Emmerich dem Typus der parallelen Annäherung an zwei Vorbildsprachen (Elmentaler/Mihm 2006, S. 66). Es findet einerseits in der hochdeutschen Überlieferung ein language shift zum Neuhochdeutschen statt. Parallel hierzu liegt in der anderen Quellengruppe, in der die hochdeutsche Welle anschließend wieder rückgängig gemacht wird, eine „revidierte“ Akkommodation vor. Andererseits findet eine gleichzeitige kontinuierliche Akkommodation an das Neuniederländische statt. Dieser schreibsprachliche Entwicklungsverlauf in Wesel und Emmerich macht deutlich, dass die Überschichtung der autochthonen Sprache durch hochdeutsche Varietäten in den beiden Städten keineswegs gleich verläuft. Während in Wesel ein language shift zum Neuhochdeutschen zu verzeichnen ist, existiert in Emmerich über einige Jahrzehnte eine hochdeutsche Welle, die sich jedoch nicht entscheidend der Zielvarietät annähert. Darüber hinaus ist eine rein hochdeutsche Quellengruppe überliefert. In Emmerich findet zusätzlich eine neuniederländische Überschichtung statt, die in Wesel nicht zu verzeichnen ist. Hierdurch wird die These von der Einheitlichkeit der Sprachentwicklung innerhalb eines Territoriums in Frage gestellt. Durch diesen Befund ergeben sich gleichzeitig Hinweise auf die Tragfähigkeit der Hypothese von der Unabhängigkeit der städtischen Oberschichten bei der Sprachwahl. Die Oberschichten in den beiden Städten waren offenbar nicht an übergeordnete, für das gesamte Herzogtum Kleve geltende Normen gebunden, sondern konnten die Form ihrer Sprache weitgehend selbst bestimmen. Zumindest für Emmerich deuten diese Ergebnisse außerdem darauf hin, dass die Stadtschreiber sich offenbar nicht an der ostmitteldeutschen Sprache Luthers orientiert haben. Denn im Falle einer intendierten Adaption des Ostmitteldeutschen hätte es in Emmerich zu einer wesentlich stärkeren hochdeutschen Beeinflussung kommen müssen.
Die Frühphase der hochdeutschen Überschichtungsprozesse in Wesel und Emmerich 63
3.4. Die Frühphase der hochdeutschen Überschichtungsprozesse in Wesel und Emmerich: Ripuarisierung oder neuhochdeutsche Überschichtung? Da bis zu diesen Zeitpunkten (vgl. Kapitel 3.2) in Wesel und Emmerich eine rheinmaasländische Schreibsprache verwendet wurde, die nur sehr geringe, lexemspezifische ripuarische, seltener auch hochdeutsche Einflüsse enthielt, wird der eigentliche Beginn der Überschichtungen der autochthonen Stadtsprachen mit dem ersten Auftreten von hochdeutschen Formen, die sich dem Variablenkatalog 1 zuordnen lassen, im Jahre 1558 (Wesel, ab dem Amtsantritt des Stadtsekretärs Wilhelm van Reid) bzw. 1587 (Emmerich) angesetzt. Um genauere Aufschlüsse über die Art der Überschichtungen zu gewinnen, ist es nötig zu ermitteln, ob dem Prozess der hochdeutschen Überschichtung eine Ripuarisierung vorausgeht, wie sie in den südrheinmaasländischen Städten Ratingen, Neuß und Heinsberg stattfindet (Mihm et al. 2000). Dort ist eine zweistufige Entwicklung zu verzeichnen, wobei zunächst bereits im 15. Jahrhundert eine Anreicherung der autochthonen Schreibsprache mit verschobenen, ripuarischen Varianten stattfindet, lange bevor etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Übernahme von exklusiv oberdeutschen bzw. ostmitteldeutschen Merkmalen zu verzeichnen ist. Hierzu soll zunächst für Wesel untersucht werden, welche Merkmale zu Beginn der Entwicklung in der hochdeutschen Form vorkommen. Im Falle einer Ripuarisierung würden nur die ripuarischen Lautverschiebungsvarianten des ripuarischen Variablenkatalogs (vgl. Abb. 1, S. 38: ripuarisch für {-p-, -p}, für {t-}, für {-t-, -t}, für {-k-, -k} z.B. slaiffen, tzit, laissen, saiche) auftreten, im Falle einer hochdeutschen Überschichtung darüber hinaus zusätzlich für {p-}, für {-b-, -b}, für {d-, -d-} sowie die Diphthongierungsgraphien für {î}, für {û} und für {üÎ/iu} (vgl. den hochdeutschen Variablenkatalog 1, Abb. 2, S. 38). Die folgende Abbildung veranschaulicht den Anteil der hochdeutschen Varianten der letzten Stichprobe vor Beginn der Überschichtung (Ende Schreiber Broiel) sowie der ersten Stichprobe nach Beginn der Entwicklung (Anfang Schreiber Reid). Um zu zeigen, dass es sich nicht um Zufallsergebnisse handeln kann, wurde eine weitere Stichprobe des Schreibers Reid ausgewertet:
64
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Broiel 1558 Reid 1558 Reid 1586
Broiel 1558 Reid 1558 Reid 1586
{-p-} 0 0 0 {p-} 0 0 0
{-p} 0 40 31 {d-} 0 4 7
{t-} 0 18 0 {-d-} 0 15 25
{-b-} 0 7 3
{-t-} 0 20 8 {-b} 0 1 1
{-t} 0 26 8 {î} 0 28 31
{-k-} 0 8 5
{-k} 0 47 25
{û} 0 3 0
{üÎ/iu} 0 61 28
Abb. 13: Anteil der hochdeutschen Varianten bei verschiedenen Lautpositionen in Wesel (Angaben in %)
Diese Übersicht veranschaulicht zunächst, dass die Neuerungen nicht auf eine ripuarische Überschichtung zurückgehen, denn es treten zusätzlich zu den ripuarischen Varianten (die im oberen Teil der Tabelle aufgelistet sind) auch exklusiv neuhochdeutsche Formen (unterer Teil der Tabelle) auf. Dies ist für sieben (Stichprobe Reid 1558) bzw. sechs (Stichprobe Reid 1586) der insgesamt acht exklusiv neuhochdeutschen Variablen der Fall. Hätte hingegen eine Ripuarisierung stattgefunden, so hätten für diese acht Variablen keinerlei neuhochdeutsche Varianten auftreten dürfen. Zu Beginn der Amtszeit des Schreibers Reid, mit dessen Tätigkeit die hochdeutsche Überschichtung beginnt, sind für 13 der 15 untersuchten Variablen hochdeutsche Varianten belegt. Es bestehen jedoch deutliche quantitative Unterschiede zwischen den verschiedenen Variablen. Insgesamt treten nur in wenigen Fällen hochdeutsche Anteile von über 30 % auf. Am stärksten ist die hochdeutsche Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor bzw. westgermanisch iu (61 %) und î (28 %) sowie die Lautverschiebung von westgermanisch k im Auslaut (47 %) bzw. p im Auslaut (40 %) durchgeführt. Für 10 weitere Variablen schwankt der hochdeutsche Anteil zwischen 1 % und 26 %. Lediglich für westgermanisch p im Inlaut und im Anlaut treten ausschließlich rheinmaasländische Formen auf. Offen bleibt zunächst, aus welchem Grund manche Variablen häufiger in der hochdeutschen Form auftreten als andere und warum einige gar nicht belegt sind (vgl. Kapitel 3.6.). Es handelt sich hierbei um eine Übergangsvarietät, bei der die rheinmaasländische Basisvarietät im Sinne einer Entlehnungssprache mit hochdeutschen – oberdeutschen oder ostmitteldeutschen – Elementen aus benachbarten Regionen überformt wird. Durch das Fehlen einer Ripuarisierung unterscheidet sich Wesel von den Städten des südlichen Rheinmaaslandes, die bereits im 14./15. Jahrhundert zu einer ripuarisch geprägten Schreibsprache wechseln. Dasselbe Untersuchungsraster wird im Folgenden auch auf die Emmericher Stichproben angewendet. Die folgende Abbildung veranschau-
Die Frühphase der hochdeutschen Überschichtungsprozesse in Wesel und Emmerich 65
licht den Anteil der hochdeutschen Varianten der letzten Stichprobe vor Beginn der Überschichtung (EMM GP 1578) sowie der ersten Stichprobe nach Beginn der Entwicklung (EMM GP 1587). Um zu zeigen, dass es sich nicht um Zufallsergebnisse handeln kann, wurden zusätzlich die beiden nächsten Stichproben herangezogen:
EMM GP 1578 EMM GP 1587 EMM SR 1588 EMM GP 1593
{-p-} 0 0 0 33 {p-}
{-p} 0 0 0
{t-} 0 0 0 1
{-t-} 0 0 0 6
{d-} {-d-} {-b-} {-b}
{-t} 0 10 0 43
{-k-} 0 0 6 57
{-k} 0 0 0 33
{î}
{û}
{üÎ/iu}
EMM GP 1578
0
0
0
0
0
0
0
0
EMM GP 1587 EMM SR 1588
0 0
0 0
0 0
0 0
0 0
15 17
0 0
0 0
EMM GP 1593
33
23
21
3
14
33
0
67
Abb. 14: Anteil der hochdeutschen Varianten bei verschiedenen Lautpositionen in Emmerich (Angaben in %)
Diese Übersicht veranschaulicht, dass es sich bei den Neuerungen – genau wie in Wesel – nicht um eine ripuarische Überschichtung handeln kann, denn es treten zusätzlich zu den ripuarischen Merkmalen auch neuhochdeutsche Varianten auf. Eine Ripuarisierung kann nicht stattgefunden haben, denn in diesem Fall wäre die neuhochdeutsche Diphthongierung von {î} nicht zu verzeichnen gewesen. Im Vergleich zu Wesel handelt es sich zunächst um eine Übergangsvarietät mit deutlich schwächeren hochdeutschen Anteilen (Stichproben 1587 und 1588). Lediglich für {-t}, {-k-} und {î} sind in dieser Phase hochdeutsche Formen belegt (maximaler Morphemanteil 17 %)9. Erst die Stichprobe 1593 weist bereits für vierzehn der insgesamt fünfzehn Variablen hochdeutsche Formen auf. Der hochdeutsche Anteil der einzelnen Variablen schwankt jedoch stark zwischen 1 und 67 %. Ähnlich wie in Wesel zu Beginn der Amtszeit des Schreibers Reid ist auch in dieser Emmericher Stichprobe die Diphthongierung von {üÎ/iu} (67 %) sowie {î} (33 %) tendenziell am stärksten durchgeführt, wohingegen westgermanisch û gar nicht durch die hochdeutsche Form realisiert wird. _____________ 9
Es handelt sich um die Formen diss (1) sowie gleick (1), meyn (1), sein (Inf.) (3), seine (Pron.) (10)
66
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die Tatsache, dass in beiden Städten eine hochdeutsche Überschichtung stattfindet, ohne dass dieser Entwicklung eine Ripuarisierung vorausgeht, könnte zunächst auf eine einheitliche Entwicklung innerhalb des Herzogtums Kleve hindeuten. Eine stadtspezifisch unterschiedliche Entwicklung, die die These von der Freiheit der Oberschichten bei der Sprachwahl untermauern würde, kann zwar für diesen einen Punkt nicht konstatiert werden, dennoch ist sie aufgrund der in Emmerich – im Gegensatz zu Wesel stattfindenden – Niederlandisierung bereits eindeutig ersichtlich.
3.5. Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale: oberdeutsche oder ostmitteldeutsche Überschichtung? Im Folgenden soll für den späteren Teil des Untersuchungszeitraums, in dem eine hochdeutsche Varietät verwendet wird, ermittelt werden, ob es sich bei den allochthonen Varianten um Übernahmen aus dem Oberdeutschen oder dem Ostmitteldeutschen handelt. In der Forschung wurde vielfach die Meinung geäußert, dass das Ostmitteldeutsche einen großen Anteil an den Ausgleichsprozessen hatte, die zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache geführt haben, und dass in Norddeutschland in frühneuhochdeutscher Zeit ostmitteldeutsche Varietäten übernommen worden seien (vgl. Kapitel 1.4.). Um diese These für Wesel zu verifizieren, müsste nachgewiesen werden, dass hier tatsächlich für das Ostmitteldeutsche typische Formen belegt sind. Die Frage, ob es sich bei der in Wesel übernommenen Varietät um Oberdeutsch oder Ostmitteldeutsch handelt, kann mit Hilfe des bisher verwendeten hochdeutschen Variablenkatalogs 1 nicht hinreichend beantwortet werden. Hierzu sind sich beide Regionalsprachen zu ähnlich10: Die hochdeutschen Formen der o.g. Variablen treten sowohl im Oberdeutschen wie auch im Ostmitteldeutschen auf. Zur präziseren Ermittlung der regionalen Herkunft der übernommenen Sprache müssen weitere Variablen herangezogen werden: Als charakteristisch für das Oberdeutsche gelten folgende Formen (Wiesinger 2006, S. 247ff., Rössler 2005, S. 359, Möller 1998, S. 82, 181ff., vgl. Kapitel 2.2.3.): _____________ 10
Möller (1998, S. 25ff.) kommt sogar zu dem Schluss, dass Ostmitteldeutsch und Oberdeutsch kaum voneinander zu trennen sind.
Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale
67
1.
für {b-} (purg 'Burg') vs. ostmitteldeutsch burg 2. für {k-} (khommen 'kommen') vs. ostmitteldeutsch kommen 3. für {ai} (aid 'Eid') vs. ostmitteldeutsch eid 4. für {ô} (bruoder 'Bruder') vs. ostmitteldeutsch bruder 5. Partizipform ohne ge- (gangen 'gegangen') vs. ostmitteldeutsch gegangen 6. oberdeutsche Vokaltilgung (gnug 'genug') vs. ostmitteldeutsch genug 7. Apokope (er stünd 'er stünde') vs. ostmitteldeutsch er stünde 8. 'unter' (unter) vs. ostmitteldeutsch untir 9. 'sind' (1.Pl.) (wir seind) vs. ostmitteldeutsch wir sind 10. 'dem', 'ihm' (deme, ihme) vs. ostmitteldeutsch dem, ihm 11. '-nis' (-nus) vs. ostmitteldeutsch -nis 12. 'nicht' (nit) vs. ostmitteldeutsch nicht 13. '-lich' (-leich) vs. ostmitteldeutsch –lich Als Kennzeichen für einen ostmitteldeutschen Einfluss kann nach Mihm (2001, S. 351f.) die frühe Verwendung der Lautverschiebungsgraphie für {p-} sowie von anstelle von in Endsilben (untir 'unter', adir 'oder') angesehen werden (Möller 1998, S. 93). Im Umkehrschluss wird der jeweilige Gegenbeleg der anderen Regionalsprache zugeordnet, d.h. die Form burg, die nicht dem oberdeutschen purg entspricht, wird – sofern in einem hochdeutschen Zusammenhang vorkommend – als ostmitteldeutsch gewertet (vgl. den Variablenkatalog in Kapitel 2.2.3). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass burg auch in der rheinmaasländischen Tradition die Standardvariante darstellt. Im Falle einer Orientierung der Weseler Schreiber an ostmitteldeutschen Vorbildern wäre zu erwarten, dass die ostmitteldeutschen Varianten in den untersuchten Texten auftreten, wohingegen die exklusiv oberdeutschen Merkmale nicht belegt wären. Läge ein oberdeutscher Einfluss vor, wären stattdessen die erstgenannten Varianten zu verzeichnen und die ostmitteldeutschen Formen würden nicht auftreten. Die folgende Abbildung veranschaulicht das Auftreten der genannten Merkmale in den hochdeutschen Weseler Stichproben Nr.7 (von 1591) und 8 (von 1622), die zusammenhängend ausgewertet wurden (Angaben in %):11: _____________ 11
Es handelt sich im Einzelnen um folgende Belege, die in Wesel von der rheinmaasländischen Tradition abweichen: pepur/gepurlige/gepurliche (8), pleiben/pliebe/geplieben (6), kommen 'gekommen' (3), bracht 'gebracht' (2), gangen 'gegangen' (4), funden 'gefunden' (1), kregen 'gekriegt' (1), dweil (7), gnugh (3), beredt 'beredet' (1), vergwißung 'Vergewisserung' (1), vngewontlichs 'ungewöhnliches' (1), menschegedencken (1), niemaln (1), vnverschuldter 'unverschuldeter' (1), geredt 'geredet' (PP) (1), weitern 'weiteren' (1), anglangt 'angelangt' (1), angemeldt 'angemeldet' (1), sulchs 'solches' (5), vndern 'unteren' (1), begern 'Begehren' (1), anderm 'anderem' (1), diß 'diesen' (1), straf 'Strafe' (4), ohn 'ohne' (4), geboren 'geborene' (1), vermogh 'Vermögen' (1), hab 'habe' (3. Sg., Konj.) (1), vrsach 'Ursache' (1), wer 'wäre' (3. Sg. Konj.) (1), wurd 'würde' (1), stund 'Stunde' (1), seindt 'sind' (3.Pl.) (7), deme (2), ihme (3)/ime (14), erkantnus (1), nith (49).
68
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Oberdeutsche Merkmale: 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10
7
6
0 1 purg
100
0
0
0
2 khommen
3 aid
4 bruoder
100
100
90
5 gangen
10
10
6 gnug
7 stünd
98
78
80 70 60
46
50 40 30 20 10
0
0 8 unter
9 wir seind
10 deme/ihme
11 -nus
12 nit
13 -leich
Abb. 15: Anteil der oberdeutschen Varianten in den Weseler Stichproben der Jahre 1591 und 1622 (Angaben in %)
69
Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale
Ostmitteldeutsche Merkmale: 100 90
94
100
100
100
93
90
90
6 genug
7 stünde
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1 burg
2 kommen
3 eid
4 bruder
5 gegangen
100
100
90 80 70
54
60 50 40 30
22
20 10 0
0
0 8 untir
9 wir sind
10 dem/ihm
11 -nis
2 12 nicht
13 -lich
Abb. 16: Anteil der ostmitteldeutschen Varianten in den Weseler Stichproben der Jahre 1591 und 1622 (Angaben in %)
70
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die Abbildungen verdeutlichen, dass in Wesel sowohl oberdeutsche als auch ostmitteldeutsche Varianten zu verzeichnen sind. In der Stichprobe Nr. 7 beispielsweise verwendet der Schreiber Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen für mehrere Variablen parallel oberdeutsche und ostmitteldeutsche Formen: gepur, pleiben neben burger; kommen 'gekommen', bracht 'gebracht' neben genommen; dweil, gnugh neben gemeldt; deme, ihme neben dem, ihm. Während für die Variablen Nr. 2 ('kommen'), 3 ('Eid'), 4 ('Bruder') und 13 ('-lich') in den hochdeutschen Stichproben Nr. 7 und 8 keine oberdeutschen Varianten belegt sind, treten für alle anderen Merkmale oberdeutsche Formen auf. Der Befund, dass die oberdeutschen Varianten in Wesel für einige Variablen gegenüber den ostmitteldeutschen Formen deutlich in der Minderheit sind, korrespondiert mit der Variantenverteilung in der oberdeutschen Schreibtradition, denn selbst dort sind die oberdeutschen Signalformen um 1600 bei einigen Merkmalen bereits deutlich gegenüber den ostmitteldeutschen Formen in der Minderheit (Rössler 2005, S. 359). Dies gilt für die Variablen Nr. 1-4 ('Burg', 'kommen', 'Eid', 'Bruder'). Für die Merkmale Nr. 5, 6 und 10 ('gegangen', 'genug', 'dem', 'ihm') ist das Verhältnis zwischen oberdeutschen und ostmitteldeutschen Varianten in der oberdeutschen Schreibsprache in etwa ausgeglichen, während für die Variablen Nr. 7-9 sowie 11-13 ('stünde', 'unter', 'wie sind', '-nis', 'nicht', '-lich') die oberdeutschen Formen eindeutig überwiegen (Rössler 2005, S. 359, Otto 1970, S. 256ff.). Vergleicht man diese oberdeutsche Variantenverteilung mit dem Weseler Befund, so lässt sich eine partielle Übereinstimmung konstatieren. Für die letztgenannte Variablengruppe sind auch in Wesel bei den Merkmalen Nr. 8, 9, 11 und 12 ('unter', 'wir sind', '-nis', 'nicht') die oberdeutschen Formen eindeutig dominant. Lediglich für Variable Nr. 13 ('-lich') sind in Wesel keine oberdeutschen Formen belegt. Für Merkmal Nr. 7 ('stünde') dominieren in Wesel ostmitteldeutsche Varianten. Für die zweite Variablengruppe, die in der oberdeutschen Schreibsprache um 1600 ein relativ ausgeglichenes Variantenverhältnis aufweist, liegt ebenfalls eine tendenzielle Übereinstimmung mit der Weseler Verteilung vor. Auch hier variieren oberdeutsche und ostmitteldeutsche Varianten. Bei den Variablen Nr. 1-4, bei denen auch im Oberdeutschen um 1600 die ostmitteldeutschen Varianten dominieren, sind in Wesel auch nur geringe oberdeutsche Anteile zu verzeichnen (bei Merkmal Nr. 1 ('Burg'), während für die Variablen Nr. 2 und 3 ('kommen', 'Eid') gar keine oberdeutschen Formen belegt sind).
Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale
71
Diese Befunde machen eine Orientierung des Weseler Stadtsekretärs Johann van Raesfeld an der oberdeutschen Schreibtradition plausibel. Zu berücksichtigen ist zwar die Tatsache, dass auch in der ostmitteldeutschen Schreibsprache oberdeutsche Formen übernommen worden sind und auch im 16. Jahrhundert Verwendung fanden (Otto 1970, S. 256ff.), so dass eine eindeutige regionale Zuordnung der Varianten auf den ersten Blick schwierig erscheint. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass gewisse Merkmale den zeitgenössischen Schreibern als Signalformen für bestimmte Sprachregionen bewusst gewesen sind (Macha 1998, Rössler 2001), d.h. dass besonders charakteristische Formen wie etwa pleiben 'bleiben', khommen 'kommen' oder aid 'Eid' als Kennzeichen für das Oberdeutsche erkannt wurden, genau wie pfund 'Pfund' ein Kennzeichen der ostmitteldeutschen Schreibsprache war – ganz gleich in welcher anderen Region diese Graphien sonst noch verwendet wurden. Auch bei Raesfelds Vorgänger Wilhelm von Reid treten bereits in der zweiten Stichprobe aus dem Jahre 1558, während der Phase der rheinmaasländisch-hochdeutschen Übergangsvarietät, Varianten auf, die auf eine oberdeutsche Orientierung hinweisen. Die folgende Tabelle veranschaulicht das Auftreten der genannten Merkmale in den untersuchten Weseler Stichproben12:
_____________ 12
Es handelt sich bei Stichproben Nr. 1-6 im Einzelnen um folgende Belege: Stichprobe Nr. 1: deme (3), nit (4), Stichprobe Nr. 2: nith (16), ihme (1), dweil (10), bracht 'gebracht' Stichprobe Nr. 3: bracht 'gebracht' (3), seindt (3. Pl.) (2), ihme (3), nit/nith (6) Stichprobe Nr. 4: aide 'Eid' (1), nith/nit (9), ihme (5), dweil (1), bracht 'gebracht' (4) Stichprobe Nr. 5: pitten 'bitten' (1)/ pit 'Bitte' (1)/pittlichen (1), verpleiben (1), gepur 'Gebühr' (1), bracht ‚gebracht’ (1), dweil (11)/gnugh (2), straf 'Straf' (2), seindt 'sind' (3. Pl.) (8), deme (3)/ihme (1)/ime (6), nith (22) Stichprobe Nr. 6: gepur 'gebühre' (3. Sg. Konj.) (1), bracht 'gebracht' (1), dweil (1), seindt (5), ihme (7)/ime (5), nit/nith (26), straff 'Strafe' (2)
72
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Oberdeutsche Merkmale: Stichprobe Nr.
1
2
3
4
5
6
7
8
1558
1568-75
1586/87
1587
1591
1591
1622
Reid (Ende)
Raesfeld (Anfang)
Raesfeld (vor dem Wendepunkt)
Raesfeld (nach dem Wendepunkt)
Raesfeld (Ende)
Jahr
1558
Schreiber
Broiel (Ende)
statt
-
-
-
-
+
+
+
+
statt
-
-
-
-
-
-
-
-
statt
-
-
-
+
-
-
-
-
für {ô}
-
-
-
-
-
-
-
-
Partizip ohne Vorsilbe ge-
-
+
+
+
+
+
+
+
obd. Vokaltilgung
-
+
-
+
+
+
+
-
Apokope des e
-
-
-
-
+
+
+
+
in Endsilben (unter, ader)
+
+
+
+
+
+
+
+
seind’sind’ (1./3.Pl.)
-
-
+
-
+
+
+
+
deme, ihme
+
+
+
+
+
+
+
+
-nus
-
-
-
-
-
-
+
-
nit
+
+
+
+
+
+
+
+
-leich
-
-
-
-
-
-
-
-
Reid Reid (Anfang) (Zwschenstichprobe)
Abb. 17: Oberdeutsche Varianten in Wesel
Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale
73
Die Tabelle verdeutlicht, dass auch vor dem eigentlichen Wechsel zum Hochdeutschen oberdeutsche Varianten belegt sind, u.a. die auffälligen Signalformen
und . Diese Befunde sprechen für Wesel gegen die These von der Übernahme der ostmitteldeutschen Varietät Luthers. Es lässt sich nämlich nicht schlüssig erklären, aus welchem Grund exklusiv oberdeutsche Merkmale wie die Verwendung von
statt oder statt auftreten, wohingegen ausschließlich ostmitteldeutsche Formen wie anstelle von in Nebensilben oder nicht, -nis gar nicht belegt sind, wenn die Schreiber eine Adaption der ostmitteldeutschen Sprache intendiert hätten. Die für das Ostmitteldeutsche typische frühe Verwendung der Graphie für {p-} (pfund 'Pfund') ist in Wesel ebenfalls nicht zu verzeichnen. Die Graphie ist vor dem Jahr 1591 gar nicht belegt. Für Emmerich veranschaulicht die folgende Abbildung das Auftreten der verschiedenen Merkmale in der hochdeutschen Überlieferung13, die zusammenhängend ausgewertet wurde (Angaben in %):14:
_____________ 13 14
Diese Auswertung bezieht sich ausschließlich auf den rein hochdeutschen Überlieferungsstrang (vgl. Kapitel 3.10.) und nicht auf die Quellen, für die eine hochdeutsche Welle zu verzeichnen ist (vgl. Kapitel 3.7.). Es handelt sich im Einzelnen um folgende Belege, die in Emmerich vom Neuhochdeutschen abweichen: pleiben (2)/verplieben (1)/verpliebt (1), pitten (1), [tuispurg (1)] waysen (1), saiten (1), aidtlich (1)/aides (1) aldweill (1) erb 'Erbe' (1), muhl 'Mühle' (1) seindt (4)/sein (2) 'sind' (3. Pl.) deme (2)/ihme (4) anerkentnuß (1)/bekantnuß (1)/gebuhrnus (1) nitt (7)
74
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Oberdeutsche Merkmale:
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10
1
5
1
0
0
0
4 bruoder
5 gangen
2
0
1 purg
100
100
2 khommen
3 aid
100
6 gnug
7 stünd
100
90 80 70
58 60 50
40
40 30 20 10
0
0 8 unt er
9 wir seind
10 deme/ihme
11 -nus
12 nit
13 -leic h
Abb. 18: Anteil der oberdeutschen Varianten in der hochdeutschen Emmericher Überlieferung
75
Die regionale Provenienz der neuhochdeutschen Merkmale
Ostmitteldeutsche Merkmale:
100
95
90
100
99
100
100
99
98
5 6 genug gegangen
7 stünde
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1 burg
2 kommen
3 eid
4 bruder
100
100
90 80 70 60
60 50
42
40 30 20 10 0
0 8 untir
0 9 wir sind
0 10 dem/ihm
11 -nis
12 nicht
13 -lich
Abb. 19: Anteil der ostmitteldeutschen Varianten in der hochdeutschen Emmericher Überlieferung
76
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
In Emmerich zeigt sich tendenziell eine ähnliche Variantenverteilung wie in Wesel. Auch hier sind für die Variablen Nr. 8-12 ('unter', 'wir sind', 'dem/ihm', '-nis', 'nicht') die stärksten oberdeutschen Anteile zu verzeichnen, wobei der oberdeutsche Anteil für Variable Nr. 9 ('wir sind') in Emmerich bei 100 % liegt, während in Wesel hierbei eine Variation mit der ostmitteldeutschen Form vorliegt. Für Variable Nr. 12 ('nicht') hingegen ist der oberdeutsche Anteil in Emmerich deutlich geringer als in Wesel. Die Merkmale Nr. 2, 4 und 13 ('kommen', 'Bruder', '-lich') treten in Emmerich – genau wie in Wesel – ausschließlich in der ostmitteldeutschen Form auf. Für Merkmal Nr. 3 ('Eid') sind in Emmerich – im Gegensatz zu Wesel – geringe oberdeutsche Anteile belegt, wohingegen für Variable Nr. 5 ('gegangen') – für die in Wesel recht häufig oberdeutsche Belege zu verzeichnen sind – gar keine oberdeutschen Varianten auftreten. Für die Merkmale Nr. 6 und 7 ('genug', 'stünde') liegt der oberdeutsche Anteil in Emmerich niedriger als in Wesel. Ähnlich wie in Wesel treten auch in Emmerich bereits in der Phase, in der rheinmaasländische Texte mit hochdeutschen Interferenzen überliefert sind, in seltenen Fällen oberdeutsche Varianten auf. Für die Merkmale Nr. 1-3 sind folgende Formen belegt: 1587: erenthachtparen (1), 1593. khunnen 'können' (1), 1603: gekhommen (1), 1617: pittendt (1), khonnen 'können' (1), 1633: aidtt 'Eid' (1), 1636: aidtt (2). Auch dies verdeutlicht, dass tendenziell eine Orientierung am Oberdeutschen vorgelegen hat. Insgesamt zeigt sich in Emmerich ein ähnliches Bild wie bereits in Wesel, wenn auch mit einer etwas unterschiedlichen Variantenverteilung. Die für das Oberdeutsche charakteristischen Merkmale treten auch in Emmerich auf. Es lassen sich daher keine Anhaltspunkte finden, die die These von einer Orientierung des städtischen Schreibusus am Ostmitteldeutschen untermauern könnten. Daher erscheint es aufgrund dieser Befunde notwendig, die These von der herausragenden Bedeutung Luthers und der Reformation sowie des Buchdrucks für die Sprachentwicklung in Norddeutschland zu relativieren. Im Falle einer Orientierung der Stadtsekretäre an ostmitteldeutschen Drucken wären keine oberdeutschen Varianten adaptiert worden, insbesondere nicht die auffälligen oberdeutschen Signalformen, die den Schreibern als solche bekannt gewesen sein müssten. In beiden Schreiborten des Herzogtums Kleve wird eine hochdeutsche Varietät verwendet, die sowohl oberdeutsche als auch ostmitteldeutsche Merkmale aufweist. Aufgrund dieser Ähnlichkeit in der Sprachentwicklung der beiden klevischen Orte kann eine stadtspezifische Unabhängigkeit bei der Sprachwahl in diesem Punkt nicht belegt werden.
77
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
3.6. Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld In Wesel ist in der Amtszeit der Schreibers Wilhelm van Reid und in der frühen Phase des Schreibers Johann van Raesfeld über mehr als drei Jahrzehnte ein relativ gleich bleibender Anteil hochdeutscher Merkmale zu verzeichnen (vgl. Abbildung 10). Betrachtet man die Variantenverteilung zum Ende der Schreibertätigkeit des Wilhelm van Reid, so zeigt sich tendenziell ein ähnlicher Befund wie in der Anfangsphase seiner fast dreißigjährigen Amtszeit (vgl. Abbildung 13):
100 90 80 70 60 50 40 31
31
30
28
25
24
0
0
0
0
{t-}
{-p-}
{p-}
1
{û}
3
{-b}
5
{-k-}
7
{d-}
8
{-t}
{-d-}
{-k}
{û-UL/iu}
{î}
{-p}
0
{-t-}
8
10
{-b-}
20
Abb. 20: Anteil der hochdeutschen Varianten in den Texten des Weseler Stadtschreibers Reid (1586) (Angaben in %)
Die Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor sowie westgermanisch iu (28 %) und î (31 %) und die Lautverschiebung von
78
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
westgermanisch. p im Auslaut (31 %) sowie westgermanisch k im Auslaut (25 %) sind, ähnlich wie in der Stichprobe aus dem Jahre 1558, am stärksten hochdeutsch realisiert, während für westgermanisch p im Anlaut und im Inlaut erneut keine hochdeutschen Formen auftreten. Im Vergleich zur ersten Stichprobe dieses Schreibers sind hier zusätzlich für westgermanisch û und westgermanisch t im Anlaut keine hochdeutschen Varianten belegt. Insgesamt kann für den Schreiber Reid festgestellt werden, dass sich sein Schreibusus im Laufe seiner mehrere Jahrzehnte andauernden Amtszeit nicht wesentlich verändert. Im Vergleich der verschiedenen Variablen gibt es sowohl am Anfang als auch am Ende seiner Schreibertätigkeit relativ deutliche Unterschiede zwischen häufig und selten bis gar nicht hochdeutsch realisierten Formen. Die Diphthongierungslautpositionen – mit Ausnahme von westgermanisch û – werden von Reid am stärksten hochdeutsch realisiert, während bestimmte Lautverschiebungsvariablen – insbesondere westgermanisch. p – gar nicht in der hochdeutschen Form auftreten. Diese deutlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Variablen müssten ebenso erklärt werden wie die Tatsache, dass über so einen langen Zeitraum hinweg keine weitere Annäherung seines Schreibusus an das Hochdeutsche stattfindet. Nach dem Schreiberwechsel ergibt sich folgendes Bild: 100 90 80 70 57 47 35
31
31 30
30
26 18
20
16
15
9
10
8
0
0
0 {-p-}
40
{p-}
50
{û}
60
{t-}
{d-}
{-t-}
{-p}
{-k-}
{-b-}
{-t}
{-b}
{-d-}
{-k}
{û-UL/iu}
{î}
0
Abb. 21: Anteil der hochdeutschen Varianten in den Texten des Weseler Stadtschreibers Raesfeld (1587) (Angaben in %)
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
79
Das für Wilhelm van Reid ermittelte Merkmalsprofil lässt sich tendenziell in ähnlicher Form auch bei seinem Nachfolger Johan van Raesfeld feststellen: Die Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor sowie westgermanisch iu (47 %) und î (57 %) wird am häufigsten durchgeführt, wohingegen westgermanisch p im Anlaut und im Inlaut sowie westgermanisch û gar nicht in der hochdeutschen Variante vorkommen. Es zeigen sich ähnliche lautpositionsspezifische Verteilungen wie bei Reid, so dass eine schreiberspezifische Ursache ausgeschlossen werden kann. Die Hintergründe hierfür müssen folglich in anderen Gegebenheiten gesucht werden. Es müsste erklärt werden, warum keine weitere Annäherung dieser Übergangsvarietäten an das Hochdeutsche stattfindet und über einen so langen Zeitraum weder die alte, rheinmaasländische Schreibvarietät noch das Hochdeutsche verwendet wird. Bei allen Weseler Stichproben fällt auf, dass bestimmte Lautpositionen, insbesondere die Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor, westgermanisch iu und î sowie die Lautverschiebung von westgermanisch k im Auslaut sowie westgermanisch p im Auslaut, tendenziell bereits früher bzw. stärker hochdeutsch realisiert werden als andere Lautpositionen, insbesondere westgermanisch û und westgermanisch p im Anlaut und im Inlaut. Die Gründe dieses schreibsprachlichen Usus der Weseler Stadtsekretäre müssen im Folgenden geklärt werden, indem die verschiedenen Deutungshypothesen überprüft werden: Könnte die variablenspezifische Verteilung der hochdeutschen Formen ein Indiz für ein stärker ausgeprägtes Prestige bestimmter hochdeutscher Varianten sein, die für die damaligen Oberschichten von größerer Attraktivität gewesen sein könnten als die anderen, weniger häufig verwendeten Formen? Oder lässt sich die variablenspezifische Verteilung vielleicht auf einen Einfluss der gesprochenen Sprache der städtischen Oberschichten zurückführen, so dass bestimmte, in der Sprechvarietät häufig hochdeutsch realisierte Formen, auch in der Schreibsprache öfter auf Hochdeutsch erschienen, als andere, rheinmaasländisch gesprochene Lautpositionen? Zur Beantwortung der Frage, warum die Schreiber Reid und Raesfeld zwischen 1558 und 1591 an der Übergangsvarietät festhalten, ohne ihre Schreibsprache wesentlich dem Hochdeutschen anzunähern, müssen zunächst die gängigen, in der bisherigen Forschung häufig vertretenen Thesen auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden. Es handelt sich hierbei um die so genannte Lernerhypothese und die „Schreibschmuck“-Hypothese. Beide Erklärungsansätze haben gemein, dass sie sich ausschließlich auf die schreibsprachliche Ebene beziehen. Sollten sich diese Thesen als stichhaltig erweisen, so ergäben sich dadurch Anhaltspunkte, die die Argumentation einer rein schreibsprachlichen Überschichtung plausibel erscheinen ließen. Hierdurch würde gleichzeitig tendenziell auch die Hypothese von
80
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
der besonderen Bedeutung des Buchdrucks für die sprachliche Modernisierung gestützt werden. Im umgekehrten Fall einer Falsifizierung der beiden schreibsprachlichen Thesen ergäben sich möglicherweise Hinweise darauf, dass auch gesprochene Varietäten einen Anteil an den sprachlichen Neuerungen gehabt haben könnten. Ließe sich dies nachweisen, so wäre das gleichzeitig ein Argument gegen die These von der großen Bedeutung des Buchdrucks für den Sprachausgleich. Zur Beantwortung dieses Fragenkomplexes ist zunächst Gabrielssons (1983, S. 128f.) Deutung von „Missingsch“-Varietäten zu prüfen, die die hochdeutschen Varianten als Indikatoren für einen individuellen Lernprozess der Schreiber im Sinne eines sukzessiven Erwerbs neuer schreibsprachlicher Kompetenzen auffasst. Darüber hinaus ist auch die Annahme in Betracht zu ziehen, dass hochdeutsche Varianten als ornative Elemente („Schreibschmuck“) in den Text eingestreut worden sein könnten (Otten 1977, S. 77, Gabrielsson 1983, S. 127). Um Anhaltspunkte für die Wahrscheinlichkeit dieser Thesen zu gewinnen, wurde ein Vergleich der hochdeutschen Anteile für die verschiedenen Variablen durchgeführt. Im Falle eines Lernprozesses wäre ein kontinuierlicher Anstieg der hochdeutschen Varianten zu erwarten, nach der „Schreibschmuck“-Hypothese müssten sich die hochdeutschen Varianten relativ gleichmäßig über das Spektrum der verschiedenen Variablen verteilen. Die folgenden Abbildungen veranschaulichen die diachronischen Veränderungen der einzelnen Variablen:
{-b-}
{-b} 91 90
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
98
80 31 26
Broiel
3 1
Reid
10
Raesfeld
Abb. 22: Anteil von hochdeutsch für {-b-}, {-b} in Wesel (Angaben in %)
1623
1619
1615
1611
1607
1603
1599
1595
1591
0
1587
1583
1579
1575
1571
1567
0 0
1563
1559
1555
1551
7 0 1 0
81
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
Vor dem Wendepunkt zum Hochdeutschen wird westgermanisch b (z.B. ab, selbe vs. aff, selue) nur zu einem relativ geringen Prozentsatz durch hochdeutsche Varianten realisiert, während der Amtszeit des Schreibers Reid sogar nur zu maximal 7 %. Im Vergleich hierzu zeigt sich bei der neuhochdeutschen Diphthongierung ein ganz anderes Ergebnis: {î}
{û}
{û-UL/iu} 100 100 80
100 90
80
94 75
80
67
61
70 60
57
50
50
Broiel
28
1623
1619
1615
1611
1607
1603
1599
1595
1591
1587
1583
1579
1571
Reid
33
0 0 0
0 1567
1551
0
3
31 47
43
1563
10
0 0 0
1559
20
1555
28
30
1575
40
Raesfeld
Abb. 23: Anteil von hochdeutsch für {î-}, für {û}, für {üÎ/iu} in Wesel (Angaben in %)
Es sind für {î} (z.B. mein, sein vs. min, sin) und {üÎ/iu} (z.B. zeugen, leuten vs. tuigen, luiden) deutlich stärkere hochdeutsche Anteile als bei den zuvor untersuchten Variablen zu verzeichnen.
82
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die weiteren Merkmale liegen etwa auf einem mittleren Niveau: {p-}
{-p-}
{-p} 100
100
100
90
90
83
80 70
75 67
60 50
40
Broiel
Reid
25
Raesfeld
Abb. 24: Anteil von hochdeutsch für {p} in Wesel (Angaben in %)
1623
1619
1615
1611
1607
1603
1599
1595
1587
21
17 1591
16
0 0 0 1583
0
0
1579
0
1575
1551
0
0 0 1571
10
0
1559
20
1555
0 0
31
0
1567
30
1563
40
83
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
{t-}
{-t-}
100
{-t}
93 93 85
90 89
80
71
70 68
60
26 20
30
Raesfeld
Abb. 25: Anteil von hochdeutsch für {t} in Wesel (Angaben in %)
1623
1619
1587
1583
1579
1575
1567
1563
1559
1555
1551
1571
Reid
0
0
0
Broiel
10
8
1615
00
1611
8
0
15
15
1607
0
10
8
11
1603
0
20
1599
18
30
1595
40
1591
50
84
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve {-k-}
100
100
100 60 47
35 25
25 18
17
5
Reid
1623
1619
1615
1611
1607
1603
1591
1587
1583
1579
1575
1571
1567
1563
1559
1555
Broiel
1599
0
0
1595
25
0 8
1551
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
{-k}
Raesfeld
Abb. 26: Anteil von hochdeutsch für {k} in Wesel (Angaben in %)15
_____________ 15
Bei der Auszählung blieben die Lexeme bzw. Morpheme '-lich', 'ich', 'sich', 'welch', 'solch', 'auch' sowie 'gleich' unberücksichtigt, da hierfür auch im Rheinmaasländischen häufig die Graphie auftritt. Es handelt sich hierbei um frühe lexemspezifische Entlehnungen aus dem Ripuarischen.
85
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
{d-}
{-d-}
100
85
90
73
80 66
70 60 50
39
34
40
49
31 24
30 15
Reid
1623
1619
1615
1611
1607
1603
1599
1595
1591
1571
1567
1563
1555
1551
Broiel
1559
0
0
10 7 9
0
1587
4
1583
10
1579
0
1575
20
Raesfeld
Abb. 27: Anteil von hochdeutsch für {d} in Wesel (Angaben in %)
Die Graphiken veranschaulichen, dass die Präferenz hochdeutscher Varianten bei den untersuchten Variablen starke Unterschiede aufweist. So liegt der Anteil der Lautverschiebungsgraphien in Wesel z.B. bei der Lautposition {-k} (z.B. dach 'Dach', sach 'Sache' vs. daeck, saeck) mit 17-47 % im Zeitraum 1558-1591 (vor dem Wendepunkt) kontinuierlich höher als etwa bei {p-} (z.B. pfennig, pfund vs. penning, punt) und {-p-} (z.B. offen, scheffen vs. open, schepen), für die bis 1587 gar keine hochdeutschen Formen belegt sind. Während {üÎ/iu} schon Ende der 50er Jahre zu 61 % durch die hochdeutsche Graphie realisiert wird, ist die Diphthongierungsgraphie für {û} (z.B. haus, mauer vs. hues, muyre) auch 33 Jahre später nicht belegt. Eine kontinuierliche Zunahme der hochdeutschen Merkmale lässt sich in Wesel in diesem Zeitraum für keine der Variablen nachweisen, vielmehr ist die Entwicklung teilweise rückläufig (z.B. von 47 % auf 17 % bei westgermanisch k im Auslaut), teils periodischen Schwankungen unterworfen (etwa bei der Lautposition {î}). Auch in Emmerich ergibt sich ein ähnlicher Befund. Der hochdeutsche Anteil der Diphthongierungsgraphien bei der Lautposition {üÎ/iu} erreicht teilweise einen Wert von
86
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
100 %, der von bei der Lautposition {î} 78 %, wohingegen der hochdeutsche Anteil von {û} (Graphie ) regelmäßig deutlich unterhalb der beiden erstgenannten Werte liegt und in einem Fall maximal 30 % erreicht. Diese Befunde lassen die Hypothese, dass die Existenz der Übergangsvarietät auf einen allmählichen Lernprozess hindeute, als unwahrscheinlich erscheinen. Da die leitenden Stadtsekretäre der damals zu den bedeutendsten niederrheinischen Städten gehörigen Kanzleien mit Sicherheit umfassende Schreibkompetenzen im Lateinischen wie auch in verschiedenen volkssprachlichen Varietäten besaßen, wäre ihnen die Aneignung der hochdeutschen Schreibsprache sicherlich innerhalb kurzer Zeit gelungen. Die diachronische Entwicklung der Weseler Schreibsprache, die eine langjährige Stagnation mit teilweisem Rückgang des hochdeutschen Anteils erkennen lässt, ist somit nur schwer mit der „Lernerhypothese“ zu vereinbaren. Auch die deutlichen Unterschiede in der Entwicklung der einzelnen Variablen, die nicht auf Zufall beruhen können, da sich bei verschiedenen Schreibern unabhängig voneinander ähnliche Verteilungen feststellen lassen, sprechen gegen diese Hypothese, weil sich nicht erklären lässt, warum etwa die hochdeutsche Realisierung von für {û} den Schreibern nachhaltig schwerer gefallen sein sollte als die Verwendung von für {î}. Doch auch die Hypothese eines ornativen Gebrauchs prestigebesetzter hochdeutscher Schreibmerkmale wirft im Zusammenhang mit den Weseler Befunden Schwierigkeiten auf. Wenn die hochdeutschen Formen zur stilistischen Überformung der Basisvarietät eingesetzt worden wären, um diese aufzuwerten und für die gehobene Kommunikation geeigneter zu machen, wäre zu erwarten gewesen, dass sich die hochdeutschen Varianten relativ gleichmäßig und eher zufällig über das Spektrum der verschiedenen Variablen verteilten. Aus welchem Grund die neuhochdeutsche Diphthongierung im palatalen Bereich zu einem wesentlich höheren Anteil durchgeführt ist als im velaren Bereich, lässt sich durch die „Schreibschmuck“-Hypothese ebenso wenig erklären wie die unterschiedliche hochdeutsche Frequenz bei der zweiten Lautverschiebung im Auslaut. Anhand dieser Fakten wird deutlich, dass die bislang gängigen, auf der Annahme einer rein schreibsprachlichen Übernahme der Neuerungen beruhenden Hypothesen die vorliegenden Befunde nicht befriedigend erklären können. So ist schließlich eine weitere Interpretationsmöglichkeit in Betracht zu ziehen, nach der die schreibsprachlichen Veränderungen als Reflex der gesprochenen Sprache der städtischen Führungsschichten zu deuten wären. Wie bereits Mattheier (1981/82, S. 45) aufgrund der Untersuchungen von Balan (1969) festgestellt hat, gibt es schreibsprachliche Indizien dafür, dass in Köln bereits um 1580 eine Patriziersprache mit
Die Übergangsvarietät der Weseler Schreiber Reid und Raesfeld
87
oberdeutschen Sprachmerkmalen gesprochen worden ist, und auch für das klevische Duisburg des späten 16. Jahrhunderts wurde die Existenz einer derartigen gesprochenen Übergangsvarietät der städtischen Oberschicht nahe gelegt (Mihm 1999, S. 77). Mit einer solchen These wäre nicht nur das geringe quantitative Niveau der hochdeutschen Varianten insgesamt, sondern auch die unterschiedliche Frequenz der einzelnen Variablen zu vereinbaren. Es könnte in der Phase der Übergangsvarietäten eine Ausrichtung der einheimischen Eliten auf den Lebensstil der hochdeutschen Kultur stattgefunden haben, der sich in der – zumindest teilweisen – Übernahme der hochdeutschen Sprache manifestierte. Die autochthone rheinmaasländische Sprache könnte von der Weseler Oberschicht als rückständig bzw. nicht mehr standesgemäß empfunden worden sein, so dass eine rheinmaasländische Entlehnungssprache mit hochdeutschen Elementen gesprochen wurde, die sich ab 1558 auch in der geschriebenen Sprache manifestierte. Der Grundcharakter dieser Varietät war weiterhin rheinmaasländisch; ihre Verständlichkeit blieb auch bei niederen Schichten gewährleistet. Gleichzeitig unterschied man sich hierdurch jedoch deutlich von der autochthonen Sprache, indem man prestigeträchtige hochdeutsche Elemente, wie etwa die Diphthongierung von {î}, verwendete. Die unterschiedliche Frequenz der einzelnen Variablen ließe sich demnach aus der Qualität der oberschichtlichen Sprechvarietät herleiten. Die in Wesel von Stadtsekretär Reid häufig verwendete Diphthongierung von {î} und {üÎ/iu} (28-64% hochdeutscher Morphemanteil) deutet auf eine Variation von diphthongischer und monophthongischer Aussprache hin, wohingegen für {û} (0-3% hochdeutscher Morphemanteil) von einer konsequent monophthongischen Realisierung auszugehen ist. Dieser Interpretationsansatz ist geeignet, um plausibel zu machen, dass auch die mündlichen Varietäten einen gewissen Anteil an den sprachlichen Neuerungen gehabt haben könnten. Hierdurch wird jedoch gleichzeitig die bislang oft behauptete ausschließlich schreibsprachliche Überschichtung in Frage gestellt, was wiederum bedeutet, dass die These von der überragenden Bedeutung des Buchdrucks für den Sprachausgleich abzuschwächen wäre. Zur Untermauerung dieser Thesen kann auch der Befund der hochdeutschen Welle in Emmerich beitragen, auf den im folgenden Kapitel noch einmal genauer eingegangen werden soll.
88
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
3.7. Verlauf und Profil der „hochdeutschen Welle“ in Emmerich In Emmerich sind in der Zeit zwischen 1587 und 1654 hochdeutsche Varianten zu verzeichnen (vgl. Abbildung 11 in Kapitel 3.3.). Im Unterschied zu Wesel kommt es hier jedoch nicht zu einem language shift zu Gunsten des Hochdeutschen, sondern es findet stattdessen in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine vollständige Revision der hochdeutschen Überformung statt, so dass diese Erscheinung als hochdeutsche Welle bezeichnet werden kann, die im Sinne einer Entlehnungssprache als rheinmaasländisch-hochdeutsche Übergangsvarietät zu charakterisieren ist. Ihren Höhepunkt erreicht die hochdeutsche Welle 1627, wie die folgende Abbildung zeigt:
100 90 80
78 67
70 60 50
40
40
39
36
34
33
30
30
30
29 25
24
{t-}
{-p-}
{-k}
{-b-}
{d-}
{û}
{-t-}
{-p}
{-d-}
{-t}
{-b}
{û-UL/iu}
{î}
0
1
0
0
{-k-}
10
{p-}
20
Abb. 28: Anteil hochdeutscher Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1627
89
Verlauf und Profil der „hochdeutschen Welle“ in Emmerich
Wie deutlich wird, nehmen auch auf dem Höhepunkt der hochdeutschen Welle nicht alle Lautpositionen an dieser Entwicklung teil – für {p-} und {-k-} sind keine hochdeutschen Belege zu verzeichnen. Am stärksten hochdeutsch realisiert werden erneut die Lautpositionen {î} sowie {üÎ/iu}. Die hochdeutsche Welle ebbt bereits 1632 wieder ab. In der Folgezeit sind lediglich maximal 13 % hochdeutsche Varianten zu verzeichnen. Die Stichprobe 1654a ist die letzte, die hochdeutsche Belege aufweist: Während hier lediglich noch ein maximaler hochdeutscher Morphemanteil von 20 % (für die Diphthongierung von {üÎ/iu}) zu verzeichnen ist, werden insgesamt sieben Lautpositionen überhaupt nicht mehr durch hochdeutsche Varianten realisiert:
100 90 80 70 60 50
4
3
0
0
0
0
0
0
0
{û}
7
{-b-}
12 10
{-d-}
10
{-t-}
14
{t-}
17
{-p}
20
{p-}
20
{d-}
30
{-t}
40
{-k-}
{-b}
{î}
{-k-}
{-p-}
{û-UL/iu}
0
Abb. 29: Anteil hochdeutscher Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1654a
Auch in Emmerich kann bei keiner Lautposition von einer kontinuierlichen Annäherung an das Hochdeutsche die Rede sein, vielmehr findet eine sprunghafte Entwicklung mit starken Schwankungen und schließlich einem Rückgang der hochdeutschen Varianten statt. Die Tatsache, dass über ein halbes Jahrhundert eine Übergangsvarietät geschrieben wird, ohne dass eine weitere Annäherung an das Hochdeutsche stattfindet, ist ein erneuter Beleg dafür, dass – ähnlich wie in Wesel – kein unvollkommener Versuch der Schreiber vorgelegen hat, das Hochdeutsche zu erlernen, sondern dass diese Entlehnungssprache eine akzep-
90
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
table Sprachform gewesen ist. Um zu überprüfen, ob sich die hochdeutschen Formen eventuell im Sinne der „Schreibschmuck“-Hypothese zufällig auf die verschiedenen Lautpositionen verteilen, werden im Folgenden die hochdeutschen Realisierungen der einzelnen Lautpositionen untersucht. Hierbei ergibt sich folgendes Bild. Während beispielsweise {b} und {û} insgesamt nur zu einem relativ geringen Anteil durch hochdeutsche Formen realisiert wird, wird die neuhochdeutsche Diphthongierung von {î} bzw. {üÎ/iu} überdurchschnittlich häufig durchgeführt:
Abb. 30: Diachrone Entwicklung von für {b} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
91
Verlauf und Profil der „hochdeutschen Welle“ in Emmerich
{î}
{û}
{û-UL/iu}
100
100
100
90 75 75 75
80 70 60
60
50
39
Î
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1510-15
0
31
20 14 26 14 13 12 0 0 0 0 0 0 0 7 0 4 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
26 17 0 0 0 15 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1578
10
33
30
31
1636
30
1633
33
1632
40 20
78 75
70
Abb. 31: Diachrone Entwicklung von für {î}, für {û} und für { ü/iu} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
92
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die anderen Lautpositionen bewegen sich in etwa auf einem mittleren Niveau:
Abb. 32: Diachrone Entwicklung von für {p} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
93
Verlauf und Profil der „hochdeutschen Welle“ in Emmerich
{t-}
{-t-}
{-t}
100 90 80 70 60 50
43 39 33
29 33 13
Abb. 33: Diachrone Entwicklung von für {t} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
1715
1697
1690
1682
1676
1670
0 0 0 0 00 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1664
1654
1653
1646
1636
1632
1627
20 4 3 4 0 0 0 0 0 7 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1625
1617
1612
1603
14 13 0 6 0 0 1 1 0 0 1593
1588
1587
0
1578
10
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1510-15
20
10
1620
30
1633
40
94
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Abb. 34: Diachrone Entwicklung von für {k} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
Abb. 35: Diachrone Entwicklung von für {d} in Emmerich (Anteil hochdeutscher Varianten in %)
Der plötzliche Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel
95
Die Tatsache, dass deutliche lautpositionsspezifische Verteilungen der hochdeutschen Anteile zu verzeichnen sind, verdeutlicht für Emmerich, genauso wie zuvor für Wesel, dass die hochdeutschen Formen keineswegs als „Schreibschmuck“ zufällig in die Texte eingestreut worden sein können, denn in diesem Fall hätten sich die hochdeutschen Varianten zufällig auf die verschiedenen Lautpositionen verteilen müssen. Es lässt sich somit mit dieser Hypothese nicht erklären, warum z.B. die neuhochdeutsche Diphthongierung von {î} und {üÎ/iu} so stark durchgeführt wurde, von {û} jedoch überhaupt nicht. Dieser Befund spricht für die Annahme, dass auch in Emmerich den Oberschichten ein weitreichender Gestaltungsspielraum bei der Sprachwahl zugestanden haben könnte und auch die Mündlichkeit einen Einfluss auf die sprachlichen Neuerungen gehabt haben könnte. Daher sind diese Ergebnisse, ebenso wie die Weseler Befunde, geeignet, die Existenz einer rein schreibsprachlichen Überschichtung in Frage zu stellen. Gleichzeitig müsste damit die These von der besonderen Bedeutung des Buchdrucks für die Sprachentwicklung eingeschränkt werden. Die Tatsache, dass es sich in Emmerich um eine Entlehnungssprache handelt, die als hochdeutsche Welle charakterisiert werden kann, wobei sich die hochdeutschen Varianten nicht wie in Wesel im Sinne eines language shifts durchsetzen, sondern nach einigen Jahrzehnten wieder verschwinden, macht deutlich, dass stadtspezifisch völlig unterschiedliche sprachliche Entwicklungen vorliegen. Daher kann in diesem Fall die These von der Einheitlichkeit der Sprache innerhalb eines Territoriums nicht belegt werden.
3.8. Der plötzliche Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel Etwa fünf Jahre später als die zuvor untersuchte Stichprobe zu Beginn der Amtszeit des Schreibers Raesfeld, im Jahre 1591, findet in Wesel ein abrupter Wechsel zu einer weitgehend hochdeutschen Varietät statt, der sich von einem Ratstermin zum anderen vollzieht, ohne dass dies mit einem Schreiberwechsel einhergehen würde. Die folgenden Textauszüge veranschaulichen dies: [3.9.1591 (vor dem Wechsel)] Dem h(errn) Burgermeister Rutgern Brecht ist befohlen die Cedulen der Iungst vpgenamener fahnen to forderen, daruth der Gefriten in der wacht sich to erkundigen, vnd dauon Senatui relation todoen, vmb na befindungh, sulch freigeldt, to behuif des Brandtes antowenden vnnd den Trommenschlag dagegenn tobetalenn. It(em) alß die Pechtere der Armen Megde haeff vber Rhein gelegen ankommen, Vnnd linderongh der pachten begert, So ist mit denen gehandlet, dat
96
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Volbruick 6. m(a)l(de)r Roggen, vnnd 6 m(a)l(de)r haueren vnd i m(a)l(de)r garsten, Gert fort 7. m(a)l(de)r Roggen 7. m(a)l(de)r haueren 3. m(a)l(de)r garsten vnd 3. m(a)l(de)r buickweits. [Neuhochdeutsche Übertragung 3.9.1591] Dem Herrn Bürgermeister Rutger Brecht wurde befohlen, die Bescheinigungen der jüngst empfangenen Fahnen anzufordern, sich darüber bei den wachhabenden Gefreiten zu erkundigen und davon dem Rat Bericht zu geben, um nach dem Befund die überschüssige Summe zum Nutzen des Brandschutzes anzuwenden und den Trommelschlag dagegen zu bezahlen. Ebenso, als die Pächter des ArmeMägde-Hofes, oberhalb des Rheins gelegen, gekommen sind und eine Verminderung der Pachtzahlungen begehrt haben, ist mit ihnen ausgehandelt worden, dass Volbruick 6 Malter Roggen und 6 Malter Hafer und 1 Malter Gerste, Gert des Weiteren 7 Malter Roggen, 7 Malter Hafer, 3 Malter Gerste und 3 Malter Buchweizen [bekommen soll]. [26.11.1591 (nach dem Wechsel)] Obwoll Johannen hollandt vor diesem eine verschreibongh von 500 h(el)le(r) heuptsummen vnder Senatus siegel gegeben dweil dannoch van 300 d(a)l(e)r die er an Vagten vbergewiesen vnd darin gerichtet worden nichts zu bekommen gewesen So ist sulche verschreibong auf 200 h(el)le(r) geringert dauon Ihme vnnd seiner hausfrawen Jarlichs von Jedem 100 8 h(el)le(r) zur leibzucht versprochenn wordenn. Gestrigen abscheidt nach seindt Werner Pleß vnnd Gerdrut van holtt widerumb vorgefordert Vnd hatt Gerdruit eine auocation vnnd procurationschrifft vbergeben darin sie der ehe gestanden Vnd angezeigt das Pleß sich nith der gepur verhalten sich in schulden vertiefft vnd des Irigen schon 200 h(el)le(r) herdurchbracht sie geschmehet geschendet vnd vndtdeutlich hauß gehalten vnnd noch also d(as) sie lieber den todt sterben dan langer in sulcher beiwohnungh stehen pleiben wolt. [Neuhochdeutsche Übertragung 26.11.1591] Obwohl Johann Hollandt eine Schuldverschreibung über eine Summe von 500 Heller mit dem Siegel des Rates abgegeben hat, und weil dennoch von 300 Talern, die er an Vagten überwiesen und an ihn gerichtet hat, nichts zu bekommen gewesen ist, ist diese Verschreibung auf 200 Heller reduziert worden. Davon ist ihm und seiner Ehefrau jährlich von jedem 100 8 Heller als Leibrente versprochen worden. Gemäß dem gestrigen Beschluss sind Werner Pleß und Gerdrut van Holtt wiederum vorgeladen. Gerdrut hat eine Verteidigungsschrift und Vollmacht übergeben, worin sie sich zu der Ehe bekannt und angezeigt hat, dass Pleß sich ungebührlich verhalten, sich verschuldet und schon 200 Heller ihres Geldes durchgebracht hat, sie geschmäht, geschändet und schlecht Haus gehalten hat und des Weiteren, dass sie lieber sterben als sich länger in dieser Situation befinden wolle.
97
Der plötzliche Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel
Während der Textausschnitt vom September 1591 in rheinmaasländischer Sprache mit geringen hochdeutschen Interferenzen abgefasst ist, weist die November-Stichprobe eine fast vollständig hochdeutsche Varietät auf. Betrachtet man die Realisierungen der einzelnen Lautpositionen, so ergibt sich vor dem Sprachwechsel folgendes Variantenprofil:
100 90 80
75
70 60 50
39
17
17
15
10
10
10
10 0
0
0
0
{-b}
21
20
{û}
25
{-k-}
33
30
{t-}
40
{-b-}
{d-}
{-t-}
{-t}
{-k}
{-p-}
{-p}
{p-}
{î}
{-d-}
{û-UL/iu}
0
Abb. 36: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld vor dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591) (Angaben in %)
Auch hier zeigt sich ein ähnliches Verhältnis der verschiedenen Variablen wie schon in den vorherigen Weseler Stichproben: Die Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor sowie von westgermanisch iu (75 %) und î (33 %) wird am stärksten durchgeführt. Erstmals treten auch für westgermanisch p im Anlaut (25 %) und im Inlaut (17 %) hochdeutsche Formen auf. Für vier Variablen sind jedoch weiterhin gar keine hochdeutschen Anteile zu verzeichnen: westgermanisch t im Anlaut, westgermanisch k im Inlaut, westgermanisch û und westgermanisch b im Auslaut. Der Schreibusus Raesfelds hat sich also in den ersten etwa fünf Jahren seiner Amtszeit nur unwesentlich verändert, im Herbst 1591 findet jedoch
98
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
ein plötzlicher Wechsel zu einer fast vollständig hochdeutschen Varietät statt. Es ergibt sich folgendes Variantenprofil:
100
100 100 100 100 100 94
93
93
91 90
90
90
89
85 75
80 70
66
60 50 40 30 20
{d-}
{-p}
{-d-}
{t-}
{p-}
{-b}
{-b-}
{-t}
{-t-}
{û}
{-p-}
{-k}
{-k-}
{û-UL/iu}
0
{î}
10
Abb. 37: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591) (Angaben in %)
Nach dem abrupten Wechsel zum Hochdeutschen werden die Diphthongierung von westgermanisch û vor Umlautfaktor sowie von westgermanisch iu und î sowie die Lautverschiebung von westgermanisch k im Inlaut und im Auslaut sowie von westgermanisch p im Inlaut vollständig durchgeführt. Für die meisten anderen Variablen liegt der hochdeutsche Anteil bei etwa 90 %. Die Merkmale westgermanisch d im Inlaut (85 %), westgermanisch p im Auslaut (75 %) sowie westgermanisch d im Anlaut (66 %) weisen die geringsten hochdeutschen Anteile auf.
99
Der plötzliche Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel
Es handelt sich bei den verbliebenen rheinmaasländischen Formen um folgende Belege: {û}
{-t-}
{-t}
{-b-}
{-b}
huis/huise (3) uth (1)
laten (2) genieten (1)
dat (3)/int (1) gesat (2) uth (1)
selue (1) halue (2) gelauet (1)
gelafft (2)/gelofft (1) selff (1)
{p-}
{t-}
{-d-}
{-p}
{d-}
porte (2)
to (2)/t (1)/tom (3) tuchtig (1) tepper (1)
vnder (6) halden (1) virde (1) bestedigt (3) vader (1) werden 'Wert' (2)
-dorp (1)
verdragh (1)/verdragen (5)/dregen (1) daht 'Tat' (1)/Dathligkeit (1)/dether (1) d(a)l(e)r (13) verdaen (1) dodtlich (1) drencken (1)
Abb. 38: Übersicht über die rheinmaasländischen Reliktformen in der Stichprobe des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen (1591)
Diese restlichen rheinmaasländischen Belege können als „Relikte“ gewertet werden. Es handelt sich hierbei zu einem Großteil um Eigennamen (Sustern huis, S(ankt) Johans Gasthuis, Viheportenn, Closterporten, in der vndern Raht Cammer) und formelhafte Wendungen (verdragen 'beschlossen'), die möglicherweise aufgrund dieser spezifischen Eigenarten nicht ins Hochdeutsche übertragen wurden. Darüber hinaus treten in bestimmten Passagen, in denen der Stadtschreiber sich auf Aussagen bestimmter Bürger bezieht, gehäuft rheinmaasländische Varianten auf. Die folgenden beiden Textbeispiele belegen dies: Kruck referirt dat Tonnis Smit vrkundt seiner vnd Schoels als Scheffenn seinen swiger Vader Clais Biestein tom burgen vor die kellerhuir gesatt hebbe der angelafft vt moris dweil die Information vber die obgesatzte gewaltdaht genommen vnnd daruth henrich Elsebets vnschuldt befundenn ist der Richter beschickt vnnd beschloßen den selben vf gewontliche vrphedt dar hafftungh zu erledigen dweil Johan van Leiden selbst bekent dat er der burg(er) freiheit genieten vnd gleichwol gein burger seie
Es könnte vermutet werden, dass es sich bei den in diesen Passagen verbliebenen rheinmaasländischen Relikten jeweils um Indikatoren für die gesprochene Sprache handelt. Der Stadtsekretär hätte demnach die Aussagen, die die verschiedenen Personen vor dem Rat gemacht haben, in indirekter Rede aufgezeichnet und sich beim Protokollieren am tatsächlichen Dialekt der verschiedenen Bürger orientiert.
100
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Es stellt sich die Frage, wie sich der Wechsel zu einer weitgehend hochdeutschen Schreibvarietät im Verlauf weniger Wochen erklären lässt. Wie kommt es zu solch einer abrupten, nicht mit einem Schreiberwechsel verbundenen Veränderung in der innerstädtischen Schreibsprache und wodurch wurde sie ausgelöst? Der 1591 in Wesel eintretende plötzliche Wechsel von der Übergangsvarietät mit etwa 20% hochdeutschen Merkmalen zu einer weitgehend hochdeutsch geprägten Schreibsprache lässt sich als klarer Beweis dafür deuten, dass der Stadtsekretär zu dieser Zeit bereits beide Varietäten nebeneinander beherrschte. Der Schreiber Raesfeld hätte aufgrund seiner Fähigkeiten aber sicherlich auch zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt die Schreibsprache wechseln können, so dass sich die Frage stellt, warum er den Wechsel ausgerechnet im Jahre 1591 vollzieht. Denkbare Auslöser wären sowohl außenpolitische als auch stadtinterne Ereignisse, z.B. eine politische Neuorientierung Wesels an Oberdeutschland oder Veränderungen in der Zusammensetzung des Rates. Die Weseler Stadtgeschichte (Prieur 1991) gibt jedoch ebenso wenig Hinweise auf derartige Vorkommnisse in dem betreffenden Zeitraum wie die neuere Untersuchung zur Rats-Konfessionalisierung in Wesel (Kipp 2004), vielmehr stehen die lokalen Reformationsereignisse (Stempel 1991, S. 139f.) geradezu in einem Widerspruch zu diesem Sprachwechsel, da man bei der Übernahme der lutherischen Lehre und der Ausrichtung auf Wittenberg am Rheinmaasländischen festhielt und erst nach dem Übergang zum „niederländischen“ Kalvinismus zum Hochdeutschen wechselte. Daher lassen die bisher zugänglichen Quellen gegenwärtig noch keine Hypothesen über politische Zusammenhänge zu. Die Möglichkeit schließlich, dass der Stadtsekretär aus eigenem Antrieb zum Hochdeutschen wechselte, setzte voraus, dass es im Ermessen eines jeden Schreibers gelegen hätte, seine Schreibvarietät selbst zu bestimmen. Diese These müsste anhand der Befunde anderer Schreiborte überprüft werden, sie kann aber als eher unwahrscheinlich gelten, da der Rat eine Protokollführung in einer für ihn nicht akzeptablen Sprache sicherlich nicht toleriert hätte. Somit ist wohl davon auszugehen, dass es sich bei dem Schreibsprachwechsel um das Ergebnis einer bewussten Entscheidung der Weseler Führungsschichten handelt. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang, dass es in einer zweiten Phase der Heterozentrierung zu einer Loslösung der Oberschichten aus der Loyalität gegenüber der Sprechermehrheit gekommen ist. Die Bindung an tiefere Schichten verlor demnach im Laufe der Zeit an Bedeutung, das Sprachverhalten erhielt einen höheren Stellenwert, so dass die Oberschichten eine vornehmere Sprache verwendeten, die von den Unterschichten nicht mehr verstanden werden konnte. Es ist durchaus plausibel, dass diese Sprach-
Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld
101
form dann ab 1591 auch in der städtischen Protokollsprache Verwendung fand. Dieses Faktum des abrupten Wechsels zum Hochdeutschen, das in dieser Form in der Emmericher Entwicklung keine Entsprechung hat, muss als das bislang deutlichste Indiz für die Unabhängigkeit der Oberschichten bei der Sprachenwahl gelten. In Emmerich wird viel länger an der rheinmaasländisch geprägten Übergangsvarietät festgehalten als in Wesel. Wäre eine übergeordnete Norm vorhanden gewesen, z.B. eine gemeinsame Orientierung der klevischen Städte an bestimmten allochthonen Varietäten, so hätte auch Emmerich gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu einer weitgehend hochdeutschen Varietät wechseln müssen. Stattdessen wird in Emmerich weiterhin – offenbar als Resultat einer bewussten Entscheidung der Stadtoberen – in einer rheinmaasländischen Varietät mit geringen hochdeutschen Elementen protokolliert, obwohl auch die Emmericher Schreiber nachweislich dazu fähig waren ein fast vollständiges Hochdeutsch zu schreiben. Daher stellt dieser Befund die These von der Einheitlichkeit der Territorialsprachen grundsätzlich in Frage, da sich die beiden untersuchten Städte deutlich voneinander unterscheiden. Darüber hinaus ist auch dieser Interpretationsansatz dazu geeignet, die bislang weit verbreitete These von einer rein schreibsprachlichen Überschichtung in Frage zu stellen, so dass auch die Hypothese von der besonderen Bedeutung des Buchdrucks für die sprachliche Modernisierung neu bewertet werden muss.
3.9. Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld: Erneuter Rückgang des hochdeutschen Anteils Nach dem plötzlichen Wechsel zum Hochdeutschen in Wesel ist in der Folgezeit zwischen 1591 und 1623 ein erneuter Rückgang des hochdeutschen Einflusses zu verzeichnen, so dass zu fragen ist, aus welchem Grund sich die Schreibsprache nicht weiter an das Hochdeutsche annähert, sondern vielmehr eine deutliche Distanz zum Hochdeutschen beibehält.
102
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
In Wesel ergibt sich in der Endphase des Schreibers Raesfeld folgendes Variantenprofil:
100
100 100
98
90
85
83
80
80
80
80
73
71
70
68
67
67
60
60 49
50 40 30 20
{d-}
{-k-}
{p-}
{û-UL/iu}
{-t-}
{-t}
{-d-}
{-b}
{û}
{-p-}
{t-}
{-b-}
{-p}
{-k-}
0
{î}
10
Abb. 39: Anteil der hochdeutschen Varianten in der letzten Stichprobe des Schreibers Raesfeld aus dem Jahr 1622 (Angaben in %)
Die Verteilung zeigt, dass lediglich für westgermanisch k im Auslaut sowie für westgermanisch p im Auslaut ausschließlich hochdeutsche Varianten auftreten. Den geringsten hochdeutschen Anteil weist westgermanisch d im Anlaut auf (49 %). Es stellt sich die Frage, aus welchen Gründen es zu diesem überraschenden erneuten Rückgang des hochdeutschen Anteils gekommen ist. Bezüglich der Frage, warum in Wesel nach 1591 keine weitere Annäherung an das Hochdeutsche stattfindet, sondern vielmehr eine tendenziell rückläufige Entwicklung zu verzeichnen ist, lässt sich zumindest festhalten, dass das Ziel, „reines“ Hochdeutsch zu schreiben, wozu der Stadtsekretär nachweislich in der Lage war, offensichtlich nicht mehr im Zentrum des
Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld
103
damaligen Interesses stand. Hier wäre in Betracht zu ziehen, dass sich Raesfeld, als dessen primäre Schreibvarietäten Lateinisch und Rheinmaasländisch anzusehen sind, gegen Ende seiner Amtszeit gelegentlich wieder unkontrolliert oder auch im Bewusstsein seines Status als langjähriger, verdienter Stadtsekretär seinen alten Schreibgewohnheiten angenähert hat. Möglicherweise aber wurde auch ein vollständiges Frühneuhochdeutsch, wie es aus oberdeutschen und ostmitteldeutschen Drucken bekannt war, für zu vornehm gehalten, da es damals sicherlich noch in einem deutlichen Abstand zu den in gebildeten Patrizierkreisen gesprochenen Übergangsvarietäten stand. Das Hochdeutsch mit rheinmaasländischen Elementen findet sich im 17. Jahrhundert auch bei den anderen Stadtsekretären. Johann Kunen (1622-1636) und Dr. Johannes van Raesfeld (1637-1652), Enkel des früheren Schreibers gleichen Namens, schreiben ebenfalls kein „reines“ Hochdeutsch. Noch in den Protokollen der Jahre 1649/50 treten Formen wie geludt, tinsen und rekenung auf. Bemerkenswerterweise konnte Neuß (1973, S. 18) eine derartige Restdistanz des am Niederrhein geschriebenen Hochdeutsch zur überregional gültigen Norm sogar noch in den Synodalprotokollen des 18. Jahrhunderts feststellen. Auch Cornelissen (1986, S. 254ff.) führt Abrechnungen von niederrheinischen Amtsträgern mit ihrer Gemeinde aus dem 18. Jahrhundert an, die in einer hochdeutschrheinmaasländischen Übergangsvarität überliefert sind. Diese Befunde besitzen nicht nur für die Spätphase des Untersuchungszeitraums Gültigkeit. Auch im Jahre 1591 existiert in Wesel parallel zu der bereits weitgehend hochdeutschen Protokollführung der Reinschriften nach wie vor eine rheinmaasländisch-hochdeutsche Übergangsvarietät, die der Schreiber Raesfeld in seinen Konzeptfassungen verwendet. Hierbei liegt der hochdeutsche Anteil für alle untersuchten Variablen deutlich niedriger als in den Ausfertigungen. Dies zeigt die folgende Graphik:
104
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
100 90 80 70
63
60 50
50
42
40
36
35
35
34
33
32
30
29
27
27
25
23
20
10
{d-}
{-b-}
{t-}
{û}
{-t}
{p-}
{-k}
{-t-}
{-k-}
{-b}
{-p-}
{-p}
{-d-}
{û-UL/iu}
0
{î}
10
Abb. 40: Anteil der hochdeutschen Varianten in den Konzeptfassungen des Schreibers Raesfeld nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen im Jahre 159116
Dieses Phänomen ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Stadtsekretäre offenbar mühelos zwischen verschiedenen Varietäten hin und her wechseln konnten und darüber hinaus auch in der Lage waren sprachliche Überarbeitungen ihrer Konzepte hin zum Hochdeutschen zu erstellen. Ein möglicher Erklärungsansatz für das nicht vollständige Hochdeutsch könnten unterschiedliche Schreiblagen sein. Von einigen Rechnungsbüchern sind im Weseler Stadtarchiv zwei Fassungen vorhanden. Es scheint sich hierbei jeweils um Konzeptfassungen und Ausfertigungen zu handeln. Hierbei fällt auf, dass die Ausfertigungen stärker hochdeutsch geprägt sind als die Konzeptfassungen. Von den meisten Rechnungsbüchern ist jedoch nur ein Exemplar überliefert, so dass kein Vergleich zwischen vorgeschriebener Fassung und Reinschrift angestellt werden kann. Das äußere Erschei_____________ 16
Bei den in dieser Graphik enthaltenen Werten handelt es sich um eine Zusammenfassung der fünf Einzelstichproben 12.11.1591, 19.11.1591, 25.11.1591, 26.11.1591 und 3.12.1591. Es wurden jeweils die Prozentzahlen der Einzelstichproben gemittelt.
Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld
105
nungsbild der Rechnungsbücher, d.h. durchgestrichene Wörter bzw. Passagen, Einträge zwischen den Zeilen, Nachträge an den Seitenrändern, das Fehlen von verschnörkelten Überschriften am Anfang eines Geschäftsjahres usw., lässt jedoch Vermutungen zu, dass es sich hierbei vielfach um Konzepte handelt, die möglicherweise während der Ratssitzung entstanden sind. In dieser Schreibsituation wählte der Stadtsekretär vermutlich eine tiefere Schreiblage als bei einer späteren Reinschrift. Als Beispiel hierfür sei eine in zwei Fassungen überlieferte Passage angeführt: [1. Konzeptfassung 25.11.1591] den 25 (Nouem)bris A(nn)o (15)91 B(urgermeister) Brombken, Kruck, Boltz, Broel, Beier, Kels, Vinck, Slutter, degener, Smitten, Paquo, Prickel, Bert, beide Rentmeistere. der man in der Carthowen mit seiner hausfrawen, der wedwen Westerholts, sein vorgestelt vnd Ihnen vorgehalden, wie dat Senat(us) in erfahrung keme, dat sie beide ein vast, wuist, wildt, schendtlick vnd argerlich leben fuhreten, deswegen Senat(us) verursackt sie vortobescheiden, sie Zur tucht vnnd erbarkeit, auch zu einigungh vnnd vergleichung zu ermahnen, oick sie Ietzo to fragen off sie gemeint sich als Ehelude to dragen. [2. Reinschrift 25.11.1591] den 25 Nouembris A(nn)o 91 B. Bremgen, Kruck, Bortz, Broel, Beier, Kels, Vinck, Sluter degener Smitten fontein Prickel Bertt, beide Rehntmeistere. Werner Pleß mit seiner hausfrawen ist vorgestelt vnd Ihnen vorgehalten, wie das Senatus In erfahrungh keme, das sie beide ein wildt, wuist, schendtlich vnnd argerlich leben fuhreten, deswegen Senatus verursacht sie zur zucht vnnd erbarkeit, auch zur einigkeit vnd frieden zu ermahnen vnnd Ietzo zu fragen ob sie gemeint sich als Eheleuth gegen ein ander zu tragen [neuhochdeutsche Übertragung des Auszugs WES 25.11.1591] Den 25. November des Jahres 1591 Bürgermeister Brombken, Kruck, Boltz, Broel, Beier, Kels, Vinck, Slutter, Degener, Smitten, Paquo (bzw. Fontein), Prickel, Bert, beide Rentmeister. Der Mann am schweren Geschütz, Werner Pleß, mit seiner Ehefrau, der Witwe Westerholts, hat sich vorgestellt und es ist ihm vorgeworfen worden, dass, wie es der Rat erfahren hatte, sie beide ein unanständiges Leben führten, weswegen der Rat sie zur Zucht und Ehrbarkeit, außerdem zur Einigkeit und friedlichem Vergleich ermahnt und fragt, ob sie bereit sind, sich als Eheleute zu vertragen.
106
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Beim Vergleich der beiden Fassungen fällt auf, dass die Reinschrift eindeutig stärker hochdeutsch geprägt ist als das Konzept. Die Auswertung von zwei längeren Passagen dieser Protokolle bestätigt dies:
100
100
90 81
80
75
70
65
60 50
50
47
44
43
42
40
38
30
25
20
15
10
Abb. 41: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Konzeptfassung des Schreibers Raesfeld vom 25.11.1591
{d-}
{û-UL/iu}
{-t-}
{-b}
{t-}
{-t}
{-d-}
{û}
{-k-}
{-p}
{-b-}
{-p-}
0
{î}
0
107
Die Endphase des Schreibers Johann van Raesfeld
100
100 100
100
100 100
100
100 100
100 100
100 100
100
90
80
80 70 60 50 40 30 20
{-d-}
{-b}
{-b-}
{û-UL/iu}
{û}
{d-}
{-k}
{-k-}
{-t}
{-t-}
{t-}
{-p}
{-p-}
0
{î}
10
Abb. 42: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Ausfertigung des Schreibers Raesfeld vom 25.11.1591
Während bei der Konzeptfassung im Durchschnitt lediglich etwa die Hälfte der Morpheme in der hochdeutschen Variante auftreten, weist die Ausfertigung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein fast vollständiges Hochdeutsch auf. Diese Befunde scheinen repräsentativ für die Diskrepanz von Konzeptfassungen und Ausfertigungen zu sein, denn auch weitere Stichproben ergeben ähnliche Verhältnisse. Die folgende Abbildung verdeutlicht das Verhältnis von Konzeptfassungen und Ausfertigungen unmittelbar nach dem Wendepunkt zum Hochdeutschen im Jahre 1591. Es wurden die ersten fünf aufeinander folgenden Stichproben untersucht, die in beiden Fassungen überliefert sind.17
_____________ 17
Angegeben ist jeweils der prozentuale Anteil der hochdeutschen Morpheme. Es wurden alle hochdeutschen Morphemtypen addiert und durch die Gesamtanzahl der Morphemtypen geteilt.
108
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
98
95
85
85 60
Konzept Ausfertigung
49
27
3. Dez.
25. Nov.
19. Nov.
29
26. Nov.
48 28
12.Nov.
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Abb. 43: Vergleich von fünf doppelt überlieferten aufeinander folgenden Stichproben des Schreibers Raesfeld aus dem Jahr 1591 (hochdeutsche Morphemanteile in %)
Die Abbildung zeigt, dass der hochdeutsche Morphemanteil bei allen untersuchten Stichproben für die Ausfertigung deutlich höher liegt als bei der jeweiligen Konzeptfassung. Der Stadtsekretär hatte demnach ein schreiblagenspezifisches Repertoire an Varietäten zur Verfügung. Die Konzepte wurden – möglicherweise als direkte Mitschrift während der Ratssitzungen – in einer rheinmaasländisch-hochdeutschen Übergangsvarietät verfasst, wohingegen die Ausfertigungen – vermutlich als später angefertigte Abschrift – wesentlich stärker hochdeutsch geprägt waren. Hierdurch könnte auch erklärt werden, aus welchem Grunde Raesfeld in der Spätzeit seiner Amtsperiode wieder eine stärker rheinmaasländisch geprägte hochdeutsche Varietät verwendet. Es wird sich hierbei um Konzeptfassungen handeln. Das äußere Erscheinungsbild des Rechnungsbuches stützt diese These.18 Entweder hat der Stadtsekretär die entsprechenden Reinschriften gegen Ende seiner Amtszeit im Bewusstsein seines
_____________ 18
Es sind häufig Wörter bzw. ganze Passagen durchgestrichen. Es existieren Einträge zwischen den Zeilen und Nachträge an den Seitenrändern. Insgesamt entsteht ein – im Vergleich zu den Reinschriften – sehr unordentlicher Gesamteindruck.
Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich
109
Status als langjähriger, verdienter Stadtsekretär niemals angefertigt oder sie sind nicht erhalten geblieben.19 Insgesamt kann das Phänomen des erneuten Rückgangs des hochdeutschen Anteils in der Weseler Protokollführung als weiteres deutliches Indiz für die Freiheit der Oberschichten bei der Sprachwahl angesehen werden. Es lag damals offenbar im Ermessen der Stadtoberen sich für eine Sprachvarietät zu entscheiden, die dem Hochdeutschen zwar nahe kommt, jedoch nicht mit ihm identisch ist. Wäre diese Varietät für den Rat eine inakzeptable Sprache gewesen, so hätte er diese Form der Protokollführung sicherlich nicht toleriert. Wäre eine Orientierung an einer territorialen Norm vorhanden gewesen, so hätten die Stadtoberen den Schreiber angewiesen, sich dieser Zielvarietät zu bedienen. Da jedoch zu Beginn der 20er Jahre des 17. Jahrhunderts in Wesel eine gänzlich andere Protokollsprache Verwendung fand als in Emmerich (Wesel 1622: hochdeutsche Impositionssprache mit rheinmaasländischen Relikten, 77 % hochdeutscher Morphemanteil, Emmerich 1620: rheinmaasländische Entlehnungssprache mit hochdeutschen Elementen, 20 % hochdeutscher Morphemanteil), so kann davon ausgegangen werden, dass die Wahl der Sprache im Ermessen der jeweiligen Stadtoberen gelegen hat. Daher sind diese Ergebnisse geeignet, die These von der sprachlichen Einheitlichkeit der Territorien in Frage zu stellen, da sich eine jeweils stadtspezifische Entwicklung nachweisen lässt.
3.10. Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich Eine Besonderheit der Emmericher Schreibsprache, die in Wesel in dieser Form keine Entsprechung hat, ist das Vorhandensein einer parallelen Überlieferung von fast vollständig hochdeutschen Texten, die 1617 einsetzt und bis 1715 andauert. Rheinmaasländische bzw. in späterer Zeit neuniederländische Passagen (vgl. Kapitel 3.11.) und hochdeutsche Abschnitte eines Schreibers treten nebeneinander auf. Während es sich bei der ersten Quellengruppe um eine rheinmaasländische Entlehnungssprache handelt, die den autochthonen Grundcharakter beibehält und lediglich durch gewisse entlehnte Elemente überformt wird, ist die zweite Textgruppe hingegen als hochdeutsche Impositionssprache mit rheinmaasländischen Relikten zu charakterisieren. _____________ 19
Die untersuchten Stichproben 1-7 der Jahre 1558 bis 1591 können allesamt als Ausfertigungen charakterisiert werden, so dass diese Daten nicht durch die Differenz von Konzepten und Reinschriften beeinflusst sein können.
110
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
99
100
100
100
1716
100
97
1697
100
98
1682
Die Entwicklung der hochdeutschen Texte verdeutlicht die folgende Graphik:
88
90
79
80 74
70 60 50 40 30 20
1715
1690
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1636
1633
1632
1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1578
0
1510-15
10
Abb. 44: Diachrone Entwicklung aller Variablen der hochdeutschen Überlieferung in Emmerich
Es fällt auf, dass sich der hochdeutsche Anteil im Laufe des Zeitraums auf nahezu 100 % steigert. Während 1617 lediglich 79 % hochdeutsche Morphemtypen vorhanden sind – in der Stichprobe 1627 sind es 74 % – liegt der hochdeutsche Anteil ab 1636 (hier erstmals 100 %) in keiner der untersuchten Stichproben mehr unter 97 %.20 _____________ 20
Bei den Gegenbelegen handelt es sich im Einzelnen um folgende Fälle: 1617: tuglich(en) (1), drie (1), verpliebt (1), crutzer (1) 1627: paltzgraffen (1), schepen (1), toe (1), tyt (1), dagh (2), darauers (1), neffens (1), schrieuens (1) 1632: vnder (2), driyfaltigkeitt (1) 1633: to (8), twintigh (1), -tigh (3), schluiten (2), daler (1), gedaen (1), huißluide (1), geven (1) 1646: doen (1) 1654: dochtter (1)
Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich
111
Den Unterschied zwischen den rheinmaasländischen Passagen (mit hochdeutschen Elementen) und den hochdeutschen Texten verdeutlichen die folgenden Textauszüge: [EMM GP 1617a: (hochdeutsche Passage)] Coram Riswich vnd Bungardt: andries verbraecke(n) gerichtlich(en) bekendt vnd recognoscirt Nachde(m) er aen de(n) ernhaffte(n) vnd furnemen anthoni(us) vnd Jacob Garb von tuispurg gebruderen von verkofften vnd ihme In danck geliberte(n) waere(n) tuglich(er) liquider berechneter schuldt die somma van Siebenhondert driezehen franckfurte(r) gulde(n) vnd 32 Crutzer schuldig warauff er itzoe zult In minderungh aengezogene somme(n) zweihondert zweivnddriessigh derselbig(en) gult(en) 32 Creutzer alsoe das er noch In reste schuldig verpliebt vierhondert Einvndachtzigh franckfurt(er) gulde(n). [neuhochdeutsche Übertragung des Auszuges EMM GP 1617a] In Gegenwart von Riswich und Bungardt: Andries Verbraecken erinnert sich wieder und bekennt vor Gericht: Nachdem er an die ehrenwerten und vornehmen Brüder Anthonius und Jacob Garb aus Duisburg für gerkaufte und ihm dankenswerter Weise gelieferte Waren, in bezeugter, flüssig berechneter Schuld, die Summe von 713 Frankfurter Gulden und 32 Kreuzer schuldig ist, soll die Summe jetzt um 232 derselben Gulden, 32 Kreuzer vermindert werden, so dass er noch als Rest 481 Frankfurter Gulden schuldig bleibt. [EMM GP 1617b: (rheinmaasländische Passage)] Coram Vurden vnd Schalck: kora, naeuerlaetene weduwe van Jan van Goch, bekendt schuldig tsien hilleke(n) Steloffs, weduwe Goltbergs, die somma van Tweevnddartich dall(er) herkommende van werpacht des Jares 1616 vp Martini verschenen, mit noch ein Jaer Pundtschattinge soe sie gelaefft binne(n) ein Maendt toebetaele(n). Vnder verbintenisse vnd hypteeck(en) oerer behuesinge(n) aen der Stegen geleg(en) vort oere gerede vnd vngerede guede(ren) act(um) de(n) 9 february 1617 [neuhochdeutsche Übertragung des Auszuges EMM GP 1617b] In Gegenwart von Vurden und Schalck: Kora, hinterbliebene Witwe von Jan van Goch, bekennt Hilleken Stoffels, Goltbergs Witwe, die Summe von 32 Talern, herrührend aus einer Wiederverpachtung an vergangenem Martini des Jahres 1616, schuldig zu sein, mit noch einem Jahr Besteuerung, die sie gelobt innerhalb eines Monats zu bezahlen, bei Verpflichtung zur Hypotheek ihres an der Stege gelegenen Hauses, des Weiteren ihrer beweglichen und unbeweglichen Güter.
112
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Betrachtet man beide Texte desselben Protokollbuches, so fällt auf Anhieb auf, dass Protokoll a wesentlich stärker hochdeutsch geprägt ist als Protokoll b. Die variablenspezifische Auswertung verdeutlicht dies:
100
100
100
100
100
100
100
100
100
90 75
80 70 60
50
50 40
33
30 20
{î}
{û-UL/iu}
{t-}
{-b}
{-b-}
{-d-}
{-k}
{-k-}
{-t}
{-t-}
0
{-p}
10
Abb. 45: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1617 a (Angaben in %)21
Während die stärker rheinmaasländisch geprägte Passage (EMM GP 1617b) ein ähnliches Variantenprofil wie die bereits in Kapitel 3.4. dargestellte Stichprobe aus dem Jahre 1593 aufweist, fällt beim stärker hochdeutschen Abschnitt (EMM GP 1617a) auf, dass gerade die Lautpositionen, die ansonsten überdurchschnittlich hohe hochdeutsche Anteile aufweisenden – {üÎ/iu} und{î} – hier nur zu 50 % bzw. 33 % hoch_____________ 21
Die Lautpositionen {p-}, {-p-}, {d-} und {û} sind nicht belegt.
113
Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich
deutsch realisiert werden, während für insgesamt acht andere Lautpositionen ein einhundertprozentiger hochdeutscher Morphemanteil zu verzeichnen ist. Für die nächste Stichprobe ergibt ein tendenziell ähnliches Bild:
100
100
100
100
100
100
100
90 78
80
75
70
63
60 50
50
40
40 30 20
0
10
{p-}
{-b-}
{-p-}
{t-}
{d-}
{î}
{û-UL/iu}
{-b}
{-d-}
{-t}
{-t-}
{-p}
0
Abb. 46: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1627a22
In dieser Passage werden insgesamt sechs Lautpositionen ausschließlich in der hochdeutschen Form realisiert, wohingegen für fünf weitere Lautpositionen rheinmaasländische und hochdeutsche Varianten variieren. Lediglich für {p-} ist keine hochdeutsche Form belegt. Im Jahre 1654, als in den rheinmaasländischen Texten die hochdeutsche Welle zu Ende geht, haben die hochdeutschen Passagen einen fast vollständig hochdeutschen Charakter. Lediglich {d-} weist noch mit dem Beleg dochter (1) ein einziges rheinmaasländisches Relikt auf:
_____________ 22
Nicht belegt sind die Lautpositionen {-k-}, {-k} und {û}.
114
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
100
100
100
100
100 100
100
100 100
100 100
100
100 100
86
90 80 70 60 50 40 30 20
{d-}
{û-UL/iu}
{û}
{î}
{-b}
{-b-}
{-d-}
{-k}
{-k-}
{-t}
{-t-}
{-p}
{-p-}
0
{t-}
10
Abb. 47: Anteil der hochdeutschen Varianten in der Stichprobe Emmerich GP 1654
Ab 1682 (bis zum Überlieferungsende der Gerichtsprotokolle 1697) ist in Emmerich eine parallele Verwendung von fast hochdeutschen und neuniederländischen Texten zu verzeichnen. Die beiden folgenden Textbeispiele veranschaulichen dies: [EMM 1682a] Erscheenen heesken Schniepers, laest weduwe Van Weßell ten Broeck, cum mumburno Wynandt godden en(de) Anna Cocks, Echteluyden, ende gerhardt Looman als Erffgenaem Van Weßel ten Broeck en(de) hebben te saemen tot meerder Versekerong der in te ruckstaende Obligatie, tot Sheerenberg op den 14 Iuny 1682 gerichtelick passeert: synde specificirden 500 R(icks) D(ale)r en(de) interessen Verbonden en(de) tot speciale Vaste hypothecquen gestelt, sulcks doende by desen te weeten Eerstelick haere behuysong aen den geestmarckt op t hoeck Van t korte straetien naest Evert Wycksken kennelick in Voor en(de) palungen gelegen.
Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich
115
[neuhochdeutsche Übertragung von EMM 1682a] Erschienen Heesken Schniepers, jüngste Witwe von Weßell ten Broeck, mit Vormund Wynandt Godden und Anna Cocks, Eheleute, und Gerhardt Looman als Erbnehmer von Weßel ten Broeck und haben zusammen zur weiteren Versicherung der zurückliegenden Schuldurkunde, in S' Heerenberg am 14. Juni 1682 gerichtlich feststellen lassen: Es sind im einzelnen 500 Reichstaler mit Interessen verbunden und zu speziellen, festen Hypotheken gestellt, nämlich erstens ihr Wohnhaus am Geistmarkt auf dem Hügel von der kurzen Straße neben Evert Wycksken, bekanntermaßen im Befestigungswerk gelegen. [EMM 1682b] Erschienen H(err) Burgerm(eiste)r Doct(or) Christian Rademacher undt als respe(ctive) Vollm(eiste)r undt coniuncta persona der Iofferen Elisabetha Helena undt Francisca Margaretha Vercken respe(ctive) Schwesteren undt Nichten auch instituirte Erbg(enahmen) Weylandt Catharina Vercken Wittiben Rittersbach. Vor dennenselben sambt undt sonders de rato carirendt possessionem vel quasi apprehendirt undt genommen Von sicherer renth ad 20 R(eichs) D(ale)r, so die haußfr(auwen) H(err) Doct(or) Prondt alhier iahrlichs in Maio ahn besagte Wittibe Rittersbach sal(ig) hatt zahlen mußen undt auß den Ravensteinschen Muhlen Verschrieben seyndt. imgleichen hatt possessionem vel quasi genohmen der iahrlichen funfftzig R(eichs) D(ale)r so auß dieser Stadt Mehl oder Korn wagh.
Die verschiedenen Gerichtsprozesse werden scheinbar willkürlich mal in hochdeutsch, mal in einer stark neuniederländisch geprägten Varietät protokolliert. Es stellt sich die Frage, wie ein solches Code-switchingPhönomen zu erklären ist. Da sich aufgrund dieser Besonderheit nicht einfach entscheiden lässt, welche Varietät in jener Phase primär in der Emmericher Kanzlei verwendet wurde, wird ein Vergleich mit einer weiteren Textsorte, den Rechnungen, angestellt: Die Emmericher Kämmereirechnungen sind bis zum Jahre 1715 in einer stark neuniederländisch geprägten Varietät abgefasst, ab 1716 ist ein Wechsel zum Hochdeutschen zu verzeichnen. Dieser ist auf einen königlichen Erlass zurückzuführen: „und da die bisherigen Rechnungen in niederdeutscher Sprache geschrieben worden, wollen Se. Königl. Majestät, dass man sich künftighin der hochdeutschen Sprache bediene, auch eine gute und leserliche Hand zur Abschrift genommen [...]“ (Dederich 1971, S. 529f.).23
_____________ 23
Bei der Durchsicht der Ratsprotokolle des 18. Jahrhunderts wurden keine weiteren nicht hochdeutschen Passagen mehr gefunden.
116
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Die beiden folgenden Textbeispiele verdeutlichen diesen Sprachwechsel: [EMM 1715] In den iaere Onses Heeren Jesu Christi 1715 Synde Borgermeester der Stadt Embrick geweest: d´heer Engelbert Kelderman ende Rentmeester Gemeensman Johan van Daelen, de welcke Syne Reckeninge gedaen heeft met Dall(er) ad 30 st(uuer) Cleefs. Stadts Accysen: heeft Syne Coninckelycke Majesteyt in Prußen in anno 1714 ingetrocken ende nae Sick genoomen [neuhochdeutsche Übertragung von EMM 1715] Im Jahre unseres Herrn Jesu Christi 1715 sind Bürgermeister der Stadt Emmerich gewesen: Der Herr Engelbert Kelderman und Rentmeister Gemeindevorsteher Johan van Daelen, welcher seine Rechnung auf der Basis von Talern zu 30 klevischen Stüvern angefertigt hat. Städtische Steuern: Hat seine königliche Majestät in Preußen im Jahre 1714 eingezogen und an sich genommen. [EMM 1716] außgabe: ins gemein d(en) 18 t(en) febr(uary) ahn Margareth haellen fur reinigung des rath hauses more Solito 1. dito fur das darzu notiges gereyde 11. d(en) 6 t(en) Marty ahn he(rr)n Scheffen Rentfort fur gethane Consumption mit denen herren Commissarien bey visitirung der Quartieren zu behuiff der Milice l(…) Q(…) N(…) 10.
Es stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass sich in den vorangehenden Jahrzehnten keine der Varietäten gegenüber der anderen endgültig durchsetzen kann. Die in Emmerich zwischen 1617 und 1697 zu verzeichnende parallele Überlieferung von hochdeutschen und nicht hochdeutschen Texten ist ein klarer Beweis für die Mehrsprachigkeit der Emmericher Stadtsekretäre jener Zeit. Sowohl 1617, 1632, 1646 und 1654 in den Gerichtsprotokollen als auch 1627, 1633 und 1636 in den Ratsprotokollen konnte ein Wechsel zwischen einer rheinmaasländischen Übergangsvarietät und einer dem Hochdeutschen sehr nahe stehenden Sprachform beobachtet werden. Die Gerichtsprotokolle von 1682 bis 1697 hingegen wechseln ständig zwischen hochdeutsch und neuniederländisch. Eine Auszählung aller Gerichtsprotokolle der Jahre 1690, 1691, 1693, 1695 und 1697 ergab folgendes Ergebnis: (absolute Anzahl der datierten Einträge)
Die hochdeutsche Überlieferung aus Emmerich
1690 1691 1693 1695 1697
neuniederländisch 11 20 29 26 23
117
hochdeutsch 49 33 24 40 32
Diese Auszählung lässt die Verteilung der Varietäten auf die verschiedenen Protokolle relativ willkürlich erscheinen. Es scheint bezüglich der Präferenz einer bestimmten Varietät keine eindeutige Entwicklung zu geben. Während 1690 mehr als die vierfache Anzahl an hochdeutschen Protokollen zu verzeichnen ist, wird dieses Verhältnis im folgenden Jahr deutlich abgeschwächt, wobei das Hochdeutsche jedoch insgesamt dominant bleibt. Im Jahr 1693 ist erstmals ein leichtes Übergewicht zu Gunsten der nicht hochdeutschen Protokolle zu verzeichnen, das sich jedoch 1695 bereits wieder umkehrt. Auch 1697 überwiegen die hochdeutschen Texte. Die Emmericher Stadtsekretäre sind also zweifelsohne in der Lage zwischen mindestens zwei verschiedenen Varietäten zu wechseln. Die Frage, aus welchen Motiven sie dies tun bzw. in welchen Situationen die unterschiedlichen Varietäten bevorzugt werden, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau erklärt werden. Bei dem Wechsel zwischen Neuniederländisch und Hochdeutsch im späten 17. Jahrhundert handelt es sich um das gleiche Phänomen wie bei dem parallelen Vorhandensein von rheinmaasländischer Übergangsvarietät mit hochdeutschen Interferenzen und dem rein hochdeutschen Überlieferungsstrang in früherer Zeit. Möglicherweise ist für die Aufzeichnung eines Testaments 1632 das Hochdeutsche eher als adäquat angesehen worden als die rheinmaasländische Übergangsvarietät. Das Erscheinen potentiell hochgestellter Personen vor Gericht könnte ein Grund für die Verwendung des prestigeträchtigen Hochdeutschen gewesen sein. Eine weitere Erklärungshypothese könnte möglicherweise in der Tatsache liegen, dass Emmerich seit 1609 zu Brandenburg-Preußen gehörte. Dies würde die Einführung einer weitgehend hochdeutschen Schriftlichkeit ab 1617 erklären. Die parallel belegte rheinmaasländisch-neuniederländische Übergangsvarietät korrespondierte demnach etwa mit der oranischen Besatzung der Stadt 1614 bis 1672, so dass vermutet werden könnte, dass den Stadtoberen eine zweisprachige Schriftlichkeit adäquat erschien, die einerseits der hochdeutsch-preußischen Landesherrschaft, andererseits der oranisch-niederländischen Besatzung Rechnung trug. Diese Hypothese vermag jedoch nicht zu erklären, warum nach dem Abzug der oranischen Besatzungstruppen 1672 noch über fünfzig Jahre – bis 1715 – neuniederländisch geschrieben wurde.
118
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Diese Befunde belegen jedenfalls die Tragfähigkeit der Hypothese von der Unabhängigkeit der städtischen Führungsschichten bei der Wahl ihrer Sprache. Würde eine gemeinschaftliche Orientierung der Kanzleien eines Territoriums an einer übergeordneten Norm vorliegen, so wäre mit einer einheitlichen Ausrichtung auf eine bestimmte, regional fest einzuordnende Varietät zu rechnen. Da in Emmerich jedoch – im Unterschied zu Wesel – ein Wechsel zwischen zwei entgegen gesetzten Varietäten (westliches Neuniederländisch und östliches Hochdeutsch) vorliegt, kann dieser als Indiz für eine Unabhängigkeit Emmerichs bei der Sprachwahl gedeutet werden. Wäre diese Art der Protokollführung nicht toleriert worden, sei es nun durch die Stadtoberen oder durch eine landesherrliche Institution, so hätte der Stadtsekretär sie nicht über etliche Jahre hinweg unverändert fortsetzen können. Daher darf mit einiger Berechtigung von der Annahme ausgegangen werden, dass das Code-switching durchaus als angemessen angesehen wurde und dass diese Art der Protokollführung im Sinne der Emmericher Stadtoberen war. Die Tatsache, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als in Emmerich permanent zwischen hochdeutschen und neuniederländischen Varietäten gewechselt wird, in den Weseler Ratsprotokollen konsequent hochdeutsch geschrieben wird, belegt, dass es den Stadtoberen frei stand über die Sprache der Protokollführung zu entscheiden.
3.11. Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung Zur Überprüfung der Territorialthese bzw. der Hypothese von der Unabhängigkeit der städtischen Oberschichten bei der Sprachwahl wird im Folgenden untersucht, inwiefern sich die beiden Städte in Bezug auf eine mögliche neuniederländische Überschichtung ähneln bzw. von einander unterscheiden. Aufgrund der historischen Ereignisse in der Stadt Wesel, wie des starken Zustroms niederländischer Protestanten und des damit verbundenen Übergangs zum Kalvinismus im 16. Jahrhundert sowie wegen der jahrzehntelangen niederländischen Besatzung während des 17. Jahrhunderts, wäre gemäß klassischer Erklärungsansätze in Wesel ein niederländischer Spracheinfluss zu erwarten. Wären diese historischen Vorgänge tatsächlich ausschlaggebend für die sprachliche Entwicklung, müsste spätestens im 17. Jahrhundert ein Wechsel zu einer niederländischen Varietät stattgefunden haben. Es wurde daher anhand des Weseler Quellenmaterials geprüft, ob es tatsächlich einen solchen Einfluss gab. Zu diesem Zweck wurde das Untersuchungsmaterial auf das Vorhandensein neuniederländischer Vari-
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
119
anten durchgesehen.24 Die vorhandenen Quellen wurden für den Zeitraum von 1550-1750 stichprobenartig im Abstand von 5 Jahren überprüft. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass sich über den gesamten Untersuchungszeitraum keinerlei niederländische Varianten finden ließen.25 Daher ist dieses Ergebnis dazu geeignet, die These eines unmittelbaren Einflusses der historischen auf die sprachliche Entwicklung – zumindest für Wesel – in Zweifel zu ziehen. Weder die religiöse Entwicklung der Stadt Wesel hin zum niederländischen Kalvinismus noch der starke niederländische Bevölkerungszustrom noch eine lang andauernde niederländische Besatzung hinterließen Spuren im offiziellen Schrifttum der Stadt. Demnach scheint es keine einfache Kausalbeziehung zwischen politischer und sprachlicher Entwicklung zu geben. Gleichzeitig stützen diese Befunde tendenziell die Hypothese von der Unabhängigkeit der städtischen Oberschichten, da diese sich offenbar die Freiheit nahmen, trotz niederländischer Herrschaft nicht zur niederländischen Schreibsprache zu wechseln. Diese Annahme müsste nur dann eingeschränkt werden, wenn sich nachweisen ließe, dass alle Kanzleien des Herzogtums Kleve übereinstimmend auf eine Verwendung niederländischer Sprachmerkmale verzichten. In diesem Fall wäre möglicherweise von einem territorialen Einfluss auf die Sprachentwicklung auszugehen. Es dürfte dann im ebenfalls klevischen Emmerich auch kein niederländischer Einfluss zu verzeichnen sein. Zur Klärung dieses Fragekomplexes wurde auch das Emmericher Quellenmaterial nach niederländischen Merkmalen durchsucht. Es stellte sich heraus, dass in Emmerich deutliche Anzeichen für eine Niederlandisierung zu verzeichnen sind. Die Realisierungen der meisten Variablen weisen Veränderungen auf, die auf einen westlichen Einfluss hindeuten. Daher kann dieses Faktum als weiteres deutliches Indiz für die Unabhängigkeit der Stadtoberen bei der Wahl ihrer Sprache angesehen werden. Da man in Wesel gänzlich auf eine Orientierung an westlichen Vorbildern verzichtet und sich dadurch deutlich von Emmerich unterscheidet, kann die These einer sprachlich einheitlichen Entwicklung der Kanzleien innerhalb des Herzogtums Kleve in diesen Punkt als falsifiziert gelten. Es ist im Folgenden zu untersuchen, in welcher Art und Weise sich diese Sprachveränderungen in Emmerich vollzogen haben. Handelt es sich um einen language shift, der durch ein sprunghaftes Ansteigen der allochthonen Varianten gekennzeichnet ist, oder um eine allmähliche An_____________ 24 25
Die einseitigen Stichproben wurden regelmäßig nach den Merkmalen 1-9 des neuniederländischen Variablenkataloges durchsucht, die als sichere Indikatoren einer westlichen Überschichtung gelten können. Diese Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf die der Untersuchung zugrunde gelegte Textsorte „Ratsprotokolle“. Ein niederländischer Einfluss auf andere Weseler Quellen ist daher nicht auszuschließen. Es existiert beispielsweise eine Kranordnung aus dem Jahre 1705, die in niederländischer Sprache verfasst ist (Wolsing, Hg. 1998: Weseler Edikte, S. 795 ff.).
120
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
reicherung mit neuniederländischen Merkmalen? Auf welcher Ebene haben sich die Ausgleichsprozesse vollzogen? Ist von einer rein schreibsprachlichen Beeinflussung auszugehen oder könnte auch die gesprochene Sprache eine Rolle gespielt haben, so dass sich Hinweise auf die Tragfähigkeit der These von der großen Bedeutung des Buchdrucks ergeben? In welcher Reihenfolge treten die westlichen Varianten auf? Zur Beantwortung dieser Fragen wird die diachrone Entwicklung der einzelnen Variablen in Emmerich untersucht. Die Orientierung an westlichen Vorbildern kann sich einerseits durch die Übernahme bislang völlig fremder Varianten (positive Akkommodation), andererseits durch den Abbau autochthoner Formen (negative Akkommodation) manifestieren. So lässt sich ein neuniederländischer Einfluss beispielsweise durch die Übernahme der bislang im Rheinmaasraum gänzlich ungebräuchlichen Graphie bei der Realisierung von {au} nachweisen. Darüber hinaus spricht aber z.B. ein Abbau der autochthonen a-Graphien, die im Rheinmaasländischen seit alters her parallel zu o-Graphien für {o-} belegt sind, in westlichen Schreibsprachen jedoch nicht zu verzeichnen sind, ebenfalls für eine neuniederländische Überschichtung (vgl. Kapitel 2.2.3.). 3.11.1. Die Übernahme allochthoner Varianten (positive Akkommodation) Bei den Variablen, bei denen ein westlicher Einfluss an der Übernahme allochthoner Varianten aufgezeigt werden kann, handelt es sich um folgende Merkmale (vgl. Kapitel 2.2.3.): 1. für {au} (z.B. neuniederländisch groot vs. rheinmaasländisch groet 'groß') 2. für {ord, ort} (z.B. neuniederländisch poorte vs. rheinmaasländisch porte 'Pforte') 3. für 'so' (z.B. neuniederländisch soo vs. rheinmaasländisch so) 4. e-Graphien für '-ieren'/'-iert' (z.B. neuniederländisch -eeren vs. rheinmaasländisch -ieren) 5. für {ai-} (vor r, h, w) (z.B. neuniederländisch heeren vs. rheinmaasländisch heren 'Herren') 6. h-anlautende Pronomina (z.B. neuniederländisch hun vs. rheinmaasländisch oen 'ihn') 7. 'und' (neuniederländisch ende vs. rheinmaasländisch ind) 8. für {ald, alt} und {old, olt} (z.B. neuniederländisch oude, gout vs. rheinmaasländisch alde, golt 'alte', 'Gold') 9. 'neu' (neuniederländisch nieuwe/nyeuwe vs. rheinmaasländisch nie/nuwe)
121
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
1. Als eines der auffälligsten Merkmale westlicher Schreibtraditionen kann die Verwendung der Graphie für {au} gelten, die im Rheinmaasländischen gänzlich ungebräuchlich ist (z.B. boom, koop, ook statt rheinmaasländisch boem, koip, oyk). Hier treten stattdessen die Graphien , und auf. Die folgende Abbildung verdeutlicht das Auftreten von für {au} gegenüber anderen o-Digraphien in Emmerich.26 100 100 100 100
100
100
100 90 80
83
70
75
60
50
50 40 30 20
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1636
0 1633
1632
1625
1620
1617
1627
00
0 0 0 1612
1603
1593
1588
0 0 0 0 0 1587
1510-15
0
13 0 1578
10
27
25
Abb. 48: Diachrone Entwicklung von für {au} in Emmerich (Anteil von in %)
Während die ersten neun Stichproben keinerlei Belege für aufweisen und somit noch kein allochthoner Einfluss nachweisbar ist, tritt diese westliche Prestigegraphie 1625 erstmals auf (100 % Morphemanteil). In den nächsten beiden Stichproben ist wiederum gar nicht belegt. In der Folgezeit findet eine Varianz mit anderen o-Digraphien statt, bis sich ab 1664 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – durchsetzt27. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass es sich nicht um einen language shift, sondern eher um eine allmähliche Anreicherung mit westlichen Varianten _____________ 26 27
Monographisches wurde grundsätzlich als „neutral“ angesehen, da es sowohl im Rheinmaasländischen als auch im Neuniederländischen für {au} auftritt, und daher bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Außerdem tritt monographisches über den gesamten Untersuchungszeitraum – auch in der Spätzeit – auf.
122
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
handelt. Der Entwicklungsverlauf in Emmerich weist eine mehrere Jahrzehnte andauernde Variation von mit konkurrierenden o-Graphien auf. Hierdurch ergibt sich für die These eines rein schreibsprachlichen Einflusses ein Beweisproblem. Für den Fall, dass die Emmericher Stadtsekretäre durch die Übernahme einer westlichen Prestigegraphie eine Aufwertung ihrer eigenen Schreibsprache erreichen wollten, ist nicht schlüssig zu erklären, aus welchem Grunde sie dann nach wie vor parallel rheinmaasländische Graphien schrieben. Dass es sich ebenso wenig wie bei der hochdeutschen Überschichtung um einen Lernprozess handeln kann, liegt aufgrund des langen Variationszeitraums klar auf der Hand. Es ist stattdessen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich bei der graphischen Realisierung dieser Lautposition auch um die Wiedergabe verschiedener phonischer Realisierungsmöglichkeiten gehandelt haben könnte. So könnte z.B. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts eine akzentuierte Aussprache bestanden haben, die durch die Graphie ausgedrückt werden sollte, ehe ab 1625 eine Ausspracheveränderung hin zu einem Langvokal eingetreten sein könnte, die durch die Graphie wiedergegeben wurde. Der Variationszeitraum könnte als Phase einer auch im Bereich der gesprochenen Sprache bestandenen Variation zwischen zwei verschiedenen Lauten gedeutet werden, ehe sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Langvokal durchsetzte, was zur Folge hatte, dass überwiegend geschrieben wurde. Diese Interpretation spräche tendenziell gegen die These von der großen Bedeutung des Buchdrucks für die sprachliche Modernisierung, da die Sprachveränderungen auch auf der mündlichen Ebene abgelaufen wären. Außerdem erscheint eine Orientierung an auswärtigen Drucken aufgrund der unvollständigen Übernahme der allochthonen Varianten als unwahrscheinlich. 2. Zur Realisierung von {ord, ort}, also westgermanisch o vor r + Dental, werden in der rheinmaasländischen Schreibtradition die Graphien , und verwendet. Für das Neuniederländische ist hingegen die Graphie kennzeichnend (z.B. poorte, soorte vs. rheinmaasländisch poerte, sorte)28. Während vor dem Jahr 1627 ausschließlich rheinmaasländische Graphien auftreten, ist die westliche Graphie in diesem Jahr das erste Mal belegt, also etwa zur gleichen Zeit wie bei der Variable {au}. In dieser Stichprobe findet – genau wie in der Folgezeit bis 1682 – eine Variation von mit anderen o-Graphien statt. Erst die letzte Stichprobe von 1715 weist einen einhundertprozentigen neuniederländischen Morphemanteil auf. Hierbei ist jedoch die geringe Beleganzahl zu berücksichtigen: _____________ 28
Nicht berücksichtigt wurden bei der Auswertung folgende Lexeme, die im Neuniederländischen auch kein aufweisen: 'fordern', 'geworden' (PP), 'verordnet'/'Ordnung', 'ordentlich', 'ordinarisch', 'Order', 'sortieren', 'transportiert', 'Akkord'.
123
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
100
100 90 80
70
70 60
50 50
50
50 40 27
30 25
20
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1636
0
0
0 1633
1627
1625
1620
1632
0
0 0 1617
1612
1603
1593
1588
1587
0 0 0 0 0 0 0 1578
0
10
1510-15
10
Abb. 49: Diachrone Entwicklung von für {ord, ort} in Emmerich
Analog zu der oben behandelten Variable findet auch hier keine rasche und konsequente Übernahme der westlichen Graphie statt. Daher könnte auch für diese Lautposition ein Einfluss der gesprochenen Sprache vermutet werden. Möglicherweise hat ein Wandel von einer akzentuierten bzw. diphthongischen Aussprache, repräsentiert durch bzw. hin zu einem Langvokal Zn9\, der durch realisiert worden wäre, stattgefunden. 3. Die Realisierung von 'so' kann tendenziell als weiteres Indiz für eine Orientierung an westlichen Vorbildern in der Spätphase des Untersuchungszeitraumes gewertet werden:
124
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
100 90 80
73
70 60 50 40 30 20
1715
1690
1682
1676
1697
0
0 0 1670
1664
0 0 1654
1653
1646
0 0 0 1636
1633
1632
1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1510-15
0
10 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1578
10
Abb. 50: Diachrone Entwicklung von soo für 'so' in Emmerich
In der rheinmaasländischen Schreibsprache wird das Lexem 'so' in der Regel durch monographisches , seltener auch durch realisiert, wohingegen in der Brüsseler Schreibtradition für dieses Lexem in der Zeit zwischen 1572 und 1610 ein Wandel von ( und treten nur vereinzelt als Nebengraphien auf) zu (keine Nebengraphien belegt) stattfindet. Auch in Amsterdam ist die Graphie in der frühen Phase des Vergleichskorpus (im Jahr 1567) belegt, jedoch nur als Nebengraphie zu . In späterer Zeit dominiert hier , die Graphie tritt als Nebenform auf. Während in Emmerich vor 1670 ausschließlich rheinmaasländische Graphien belegt sind, tritt anschließend parallel hierzu auch in zwei Stichproben neuniederländisches auf, das sich jedoch nicht durchsetzt. Es handelt sich hierbei lediglich um einen bzw. drei westliche Belege. Aufgrund des Graphienwechsels in der Brüsseler Schreibsprache könnte die Veränderung in Emmerich möglicherweise auf eine Orientierung an brabantischen Vorbildern zurückzuführen sein, zumal die rheinmaasländische Graphie wie auch niederländisches in 'so' gleichermaßen zur Wiedergabe des Lautes Zn9\ verwendet werden konnten und sich daher aus der Änderung der Schreibung keine Ausspracheveränderung ergeben musste. Andererseits wäre auch denkbar, dass die Variation von und bzw. und , wie z.B. in der letzten untersuchten Stichprobe von 1715, auf ein Nebeneinander von akzentuierter und gedehnter monophthongischer Aussprache hindeuten
125
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
könnte. Auffällig ist, dass sich im Vergleich zu den beiden zuvor untersuchten Variablen die allochthone Graphie auch in der Spätphase des Untersuchungszeitraums nicht vollständig durchsetzt, sondern nach wie vor rheinmaasländische Formen auftreten, und dass für 'so' im Vergleich zu {au} und {ord, ort} erst über fünfzig Jahre später erstmals belegt ist. 4. Die Endung '-ieren/-iert' wird im Rheinmaasländischen durch i-Graphien realisiert, während im Neuniederländschen e-Graphien vorherrschen (z.B. pareeren vs. rheinmaasländisch parieren). Die Entwicklung dieser Variable in Emmerich wird in der folgenden Abbildung veranschaulicht:
100
100
100 100
90 80
70
70
60
60 50
50
40
40 27
20
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1654
1653
1664
0
0 0 0 0 1646
1632
1627
1620
0 0
1636
0 1617
0 0 1612
1593
1588
1587
1578
0 1510-15
0
1603
10
1633
20
1625
30
Abb. 51: Diachrone Entwicklung von e-Graphien für '-ieren/-iert' in Emmerich
Es fällt auf, dass bereits in der Stichprobe des Jahres 1587, also gut vierzig Jahre eher als bei den oben beschriebenen Variablen, eine westliche Variante belegt ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bei den drei Stichproben bis einschließlich 1654, die bereits westliche Anteile aufweisen, jeweils nur ein Beleg zu verzeichnen ist. Ab 1664 treten e-Graphien regelmäßig – in Variation mit i-Graphien – auf; ab 1697 setzen sich die e-Graphien durch. Auch für diese Variable besteht die Möglichkeit, die parallel belegten Formen mit und als Wiedergabe verschiedener Aussprache-
126
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
möglichkeiten zu deuten, wobei sich die westliche Variante möglicherweise auch in der oberschichtlichen Sprechvarietät gegenüber der rheinmaasländischen Variante durchgesetzt haben könnte. 5. Die Lautposition {ai} (vor r, h, w) in offener Silbe wird im Rheinmaasländischen durch monographisches realisiert29. Im Neuniederländischen tritt hingegen regelmäßig auf (z.B. heeren, keeren vs. rheinmaasländisch heren, keren). Für Emmerich ergibt sich folgender Entwicklungsverlauf30: 100
100 100 100 100 100
100
100 90 80 67
70 60
50
50 40 30 30
1715
1697
1690
1676
0 1670
1654
1653
1646
1636
1633
1632
1627
1664
0
0 1625
1620
1617
0 0 0 0 1603
1593
1588
1587
1578
0 0 0 0 1510-15
0
1612
10
1682
20
Abb. 52: Diachrone Entwicklung von für {ai-} (vor r, h, w) in Emmerich
Die neuniederländische Variante tritt im Jahre 1625 erstmals in Variation mit rheinmaasländschem auf. Dieses erstmalige Vorhandensein der allochthonen Variante korrespondiert zeitlich somit in etwa mit der Übernahme von bei den Variablen {au} und {ord, ort}. In der Folgezeit liegt eine ungleichmäßige Entwicklung vor. Ab 1676 ist ausschließlich belegt. Zu berücksichtigen ist jedoch die geringe Beleg_____________ 29
30
Es finden an dieser Stelle nur Lexeme in offener Silbe Berücksichtigung, da die Graphie für {ai} (vor r, h, w) in geschlossener Silbe auch im Rheinmaasländischen gängig ist und somit kein signifikanter Unterschied zur neuniederländischen Schreibtradition zu verzeichnen ist. Die hochdeutsche Form ehe wurde nicht berücksichtigt.
127
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
dichte. Für diese Variable erscheint ein schreibsprachlicher Einfluss wahrscheinlich, da sowohl als auch in dieser Lautposition zur Wiedergabe eines Langvokals geeignet waren und die schreibsprachliche Veränderung in diesem Fall nicht auf eine Änderung der Vokalqualität hindeutet. 6. Die Pronomina 'es', 'ihr', 'ihm', 'ihn' werden in der rheinmaasländischen Schreibsprache von Emmerich in der Regel als et/it, oem/oen, oer realisiert, wohingegen in den westlichen Schreibtraditionen die h-anlautenden Formen het, hem/hum/hen/hen/hun und haer/hoer überwiegen. Bezüglich der Realisierung der Pronomina ist in Emmerich folgende Entwicklung zu verzeichnen:
100 100 100 100 100100100100
100 90 78
80
81
70
68
63
60 50
50 40 30
33
25
20 10 1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1636
1633
1632
1627
1625
1646
0
0 1620
1617
1603
1612
0 0 0
0 1593
1588
0 1587
1578
0 0 1510-15
0
Abb. 53: Diachrone Entwicklung der h-anlautenden Pronomina in Emmerich
Während in der frühen Phase des Untersuchungszeitraums bis 1620 fast ausschließlich rheinmaasländische (und gelegentlich hochdeutsche) Pronomina auftreten, findet ab 1625 eine Variation von westlichen und rheinmaasländischen Varianten statt, ehe sich ab 1653 die westlichen Formen – von einer Ausnahme abgesehen – vollständig durchsetzen. Es könnte angenommen werden, dass die verschiedenen Varianten mit und
128
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
ohne als Wiedergabe unterschiedlicher Aussprachemöglichkeiten zu erklären sind, wobei sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts die phonischen Realisierungen mit gegenüber den rheinmaasländischen Formen durchsetzten. Eine schreibsprachliche Orientierung an westlichen Vorbildern kann jedoch auch nicht ausgeschlossen werden. 7. Das Lexem 'und' wird zur Zeit der vorliegenden Untersuchung im Rheinmaasländischen als ind bzw. zur Zeit der hochdeutschen Welle auch als vnd realisiert. Die diachronische Entwicklung von 'und' in Emmerich wird in der folgenden Graphik verdeutlicht:
100 100 100100100100 100
40 30
30 10 10 1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1653
1646
1636
1633
1632
1654
0
0 1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
0 0 0 0 0 0 0 0 1587
0 1578
0 1510-15
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Abb. 54: Diachrone Entwicklung von en/ende für 'und' in Emmerich
Während rheinmaasländisches ind, das zu Beginn des Untersuchungszeitraumes ausschließlich Verwendung fand, gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch hochdeutsch vnd abgelöst wird, ist 1627 erstmals im geringen Umfang brabantisches ende (neben vnd) belegt. Diese Variationsphase dauert bis 1654, ehe ab 1664 nur noch die westliche Variante auftritt. 8. Auch anhand der Realisierung von {ald, alt} bzw. {old, olt} ist tendenziell ein neuniederländischer Einfluss erkennbar. Im Rheinmaasländischen dominieren Varianten mit (alde, salt, holt, golt), während in der
129
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
brabantischen Schreibtradition vokalisierte Formen wie oude, sout und hout, gout üblich sind. In Emmerich ergibt sich folgende Entwicklung31:
für {ald}
für {old}
100
100
90 80
67
70 60
50
50 50
50 40 25
30
25
20
0
1715
1697
1690
0 1682
1676
0 0 1670
1664
0 0
0 1654
0 1646
0
0
1653
0
1636
1633
0
1632
1627
1625
1620
0
0 0 0 0 0 0 0 1617
0 0 0 0 0
1612
1587
0
0
1603
0 1593
0 0 0 0 1588
0
1578
1510-15
10 0
0
0 0
Abb. 55: Diachrone Entwicklung von für {ald, alt} sowie {old, olt} in Emmerich
Während bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ausschließlich rheinmaasländische Graphien (in der Regel bzw. ) belegt sind, tritt in der Folgezeit daneben auch neuniederländisches auf. Eine vollständige Durchsetzung der westlichen Variante findet jedoch nicht statt. Diese Befunde sprechen dafür, dass keine rein schreibsprachliche Beeinflussung der Emmericher Verwaltungssprache stattgefunden hat. Sonst wäre es zu einer konsequenteren Übernahme der westlichen Varianten gekommen, denn gerade bei der Vokalisierung des handelt es sich um eine auffällige Kennform für westliche Schreibsprachen. Offenbar hat sich die lVokalisierung aber auch nicht in der oberschichtlichen Sprechsprache _____________ 31
Nicht berücksichtigt wurden die Lexeme gestalt 'Gestalt', verwaltungh (1593); gescholden 'gescholten' (1603), gewalt (1627), Soldaten (1633), die auch im heutigen Neuniederländischen kein aufweisen.
130
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
durchgesetzt. Daher kann angenommen werden, dass die vollständige Übernahme einer neuniederländischen Vorbildsprache in Emmerich nicht intendiert war und eine gewisse Loyalität gegenüber der regionalen Sprache fortbestanden hat. Ähnlich wie zuvor bei der Anreicherung der Stadtsprachen mit hochdeutschen Elementen scheint eine Aufwertung der autochthonen Sprache durch allochthone Varianten angestrebt worden zu sein, ohne jedoch die alte Sprache völlig aufzugeben. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich in Emmerich eine regionale Variante der neuniederländischen Hochsprache ausgebildet hat, in ähnlicher Weise wie sich in Wesel ein regional geprägtes Neuhochdeutsch etabliert hatte. 9. Lediglich bei der Realisierung des Lexems 'neu' kann keine Orientierung an neuniederländischen Vorbildern konstatiert werden, denn die westlichen Formen nieuwe bzw. nyeuwe, die in den Vergleichskorpora aus Brüssel und Amsterdam durchgängig auftreten, sind in Emmerich gar nicht belegt. Es sind hier ausschließlich die rheinmaasländischen Varianten nie, nye und nuwe zu verzeichnen. Anhand von acht der neun untersuchten Variablen konnte gezeigt werden, dass sich die Emmericher Schreiber tendenziell an westlichen Schreibtraditionen orientiert haben. Bei den meisten Merkmalen liegt in der Spätphase des Untersuchungszeitraums eine ausschließliche Verwendung der allochthonen Formen vor. Es werden jedoch nicht alle westlichen Varianten vollständig übernommen, was wiederum für eine gewisse Unabhängigkeit der Schreiber bei der Sprachwahl und für das Vorliegen einer regionalen Variante des Neuniederländischen spricht. Ein Einfluss der Mündlichkeit auf die schreibsprachlichen Veränderungen kann nicht ausgeschlossen werden, so dass sich keine Hinweise ergeben, die die These von der großen Bedeutung des Buchdrucks für die sprachliche Modernisierung stützen könnten. 3.11.2. Die Reduktion autochthoner Varianten (negative Akkommodation) Außer an der Übernahme von neuen Schreibvarianten aus dem westniederländischen Raum, die im vorhergehenden Kapitel untersucht wurde, kann eine Orientierung an neuniederländischen Vorbildern auch an der vermehrten Verwendung bereits bestehender Graphien und dem Abbau konkurrierender Graphien festgemacht werden. Hierbei werden tendenziell diejenigen Graphien bewahrt, die auch in der neuniederländischen Schreibsprache üblich sind, während die dort ungebräuchlichen Graphien zunehmend vermieden werden. So wird z.B. die Lautposition {ô} in der rheinmaasländischen Tradition durch die Graphien , , und
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
131
gelegentlich durch u-Graphien realisiert, wohingegen das Neuniederländische durch die fast ausschließliche Verwendung der Graphie für {ô} gekennzeichnet ist. Eine Anlehnung an das Neuniederländische könnte folglich durch die verstärkte Verwendung der bereits seit alters her üblichen Graphie und eine gleichzeitige Reduktion der konkurrierenden Graphien aufgezeigt werden. Zu dieser Variablengruppe gehören die folgenden Merkmale: 1. für {ô} (z.B. neuniederländisch boek vs. rheinmaasländisch bok 'Buch') 2. für {o-, ö-} (z.B. neuniederländisch over vs. rheinmaasländisch aver 'über') 3. für {â*, a-*} (z.B. neuniederländisch gedaen vs. rheinmaasländisch gedan 'getan') 4. für {ai} (nicht vor r, h, w) (z.B. neuniederländisch eed, beyde vs. rheinmaasländisch eid 'Eid', beide 'beide') 5. für {û-, üÎ-} (nicht vor r) (z.B. neuniederländisch huyser vs. rheinmaasländisch huser 'Häuser') 6. für {î-} (z.B. neuniederländisch syne vs. rheinmaasländisch sine 'seine') 1. Für die Lautposition {ô}, die in den westlichen Schreibtraditionen durch realisiert wird (z.B. boek, moeder vs. rheinmaasländisch boek, bok, boik, moder) und somit in einer graphematischen Opposition zu der durch wiedergegebenen Lautposition {au} steht, ergibt sich in Emmerich folgende Verteilung32:
_____________ 32
Nicht berücksichtigt wurden das Lexem aenstondt, das auch in Brüssel durch realisiert und somit als lexemspezifischer Sonderfall gewertet wird sowie die Fremdwörter 'Person', 'Schule', 'Kloster'.
132
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Abb. 56: Diachrone Entwicklung von für {ô} in Emmerich
Die Lautposition {ô} wird in den frühen Emmericher Stichproben durch andere o-Graphien als wiedergegeben. Eine Anlehnung an westniederländische Schreibtraditionen ist zunächst ab dem Ende des 16. Jahrhunderts zu erkennen, ehe im Anschluss eine rückläufige Entwicklung stattfindet. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überwiegt erneut , das sich in den letzten vier Stichproben als alleingültige Graphie durchsetzt. Die in der Verwaltungssprache von Brüssel und Amsterdam zu verzeichnende graphematische Trennung von {au} (realisiert durch ) und {ô} (realisiert durch ) ist in Emmerich tendenziell ab 1670 vorhanden und wird ab 1690 vollständig durchgeführt. 2. Die Lautposition {o-, ö-} wird in der rheinmaasländischen Schreibtradition sowohl durch o-Graphien als auch durch a-Graphien realisiert (z.B. aver, hoelen). Letztere können als besonders charakteristisch für das Rheinmaasländische gelten. Im westniederländischen Schreibsprachen dominiert hingegen eindeutig monographisches (over, holen). Eine Niederlandisierung ließe sich folglich an der alleinigen Durchsetzung des monographischen und der Zurückdrängung sowohl der a-Graphien als auch der o-Digraphien nachweisen. Die diachronische Entwicklung bezüglich der Verwendung der Graphie in Emmerich verdeutlicht die folgende Abbildung:
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
133
Abb. 57: Diachrone Entwicklung von für {o-, ö-} in Emmerich
In der frühen Phase des Untersuchungszeitraumes treten in Emmerich a-Graphien und verschiedene o-Graphien auf. Im Jahre 1625 wird erstmals konsequent monographisches verwendet. Diese – vermutlich schreiberbedingte – Entwicklung wird in der Folgezeit wieder rückgängig gemacht. Ab 1664 kann eine Dominanz der Graphie konstatiert werden, die sich ab 1682 als alleinige Schreibung (neben 33) durchsetzt. Dies deutet auf eine Orientierung an westniederländischen Schreibtraditionen hin.
_____________ 33
Die Schreibung , die in der Spätphase des Untersuchungszeitraums in Emmerich für {o-, ö-} auftritt, stimmt nicht mit der westniederländischen Schreibtradition für diese Lautposition überein. Daher blieben die Lexeme mit bei der Auszählung unberücksichtigt. Da es sich bei der Graphie aber in jedem Fall um eine für das Neuniederländische typische und gleichzeitig dem Rheinmaasländischen fremde Schreibung handelt, muss hierbei ebenfalls von einem westlichen Einfluss ausgegangen werden. Möglicherweise handelt es sich um einen Fall von Hyperkorrektion. Im Emmericher Korpus treten für diese Lautpostion folgende Belege mit auf: 1670: boode (1), 1676: gesprooken (1), 1682: vooren 'zuvor' (1), 1697: gesproocken (1), 1715: booven (1), genoomen (4).
134
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Eine Orientierung an externen Vorbildern kann darüber hinaus an der Zurückdrängung der für das Rheinmaasländische typischen a-Graphien aufgezeigt werden. Die folgende Abbildung beschreibt die diachrone Entwicklung bezüglich der Verwendung von a-Graphien (gegenüber den verschiedenen o-Graphien) für {o-, ö-}:
100
100
100 94
93
90
83
80
79
75
70
67
63 56
60
54
50
47
50 50
40 30
33
20 20 0 1715
1697
0 1690
1682
1676
0 0 0 1670
1654
1653
1646
1636
1633
0 1632
1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1578
0 1510-15
0
1664
10
Abb. 58: Diachrone Entwicklung von a-Graphien für {o-, ö-} in Emmerich
Die charakteristischen a-Graphien sind bis zum Jahr 1654 über den gesamten Untersuchungszeitraum zu verzeichnen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ab der Stichprobe 1664, werden diese autochthonen Schreibungen jedoch konsequent vermieden. Dies ist ein weiteres Indiz für die Abkehr von der autochthonen rheinmaasländischen Schreibsprache und für eine Orientierung an überregionalen Vorbildern. 3. Für die Lautposition {â*, a-*} werden im Rheinmmasländischen unterschiedliche a-Graphien verwendet (z.B. gedaen, an, stain). In den westniederländischen Schreibtraditionen dominiert hingegen eindeutig die Graphie (z.B. gedaen, aen, staen), monographisches oder ist
135
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
nur in Ausnahmefällen belegt. In Emmerich zeigt sich folgender Entwicklungsverlauf34:
78
80
79 80
84
75
65
70
63
58
60 50
56
59 54
51
49
40
20
97
88
90
30
100
99 97
100
18
22
54 48
30
23
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1653
1646
1636
1633
1632
1627
1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1578
0
1510-15
10
Abb. 59: Diachrone Entwicklung von für {â*, a-*} in Emmerich
Während die im Neuniederländischen gebräuchliche Graphie in Emmerich in der frühen Phase des Untersuchungszeitraums nur zu einem geringen Prozentsatz Verwendung findet (stattdessen treten , bzw. auf), ist in der Folgezeit ein Anstieg des -Anteils zu verzeichnen, der ab 1664 fast 100 % erreicht. Die parallele Verwendung von verschiedenen Graphien in Emmerich deutet auf die graphische Realisierung unterschiedlicher Aussprachemöglichkeiten hin. 4. Bezüglich der Realisierung von {ai} (nicht vor r, h, w) ist im Westniederländischen eine lexemspezifische Differenzierung zu verzeichnen. Eine Auszählung des Brüsseler Vergleichskorpus ergab, dass bestimmte Wörter durch realisiert werden, wohingegen andere Lexeme mit _____________ 34
Die Graphie , die im heutigen Neuniederländischen für diese Lautposition vorherrscht, im Rheinmaasländischen jedoch nicht heimisch ist, ist im Vergleichskorpus aus Brüssel gar nicht und in Amsterdam erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts belegt. Es findet in der holländischen Schreibtradition also ein Wandel von zu statt. Die in den Emmericher Stichproben 1632 (straat (1) 'Straße') bzw. 1690 (waag (1) 'Waage') auftretenden Belege mit der Graphie deuten daher vermutlich ebenfalls auf einen westlichen Einfluss hin. Bei der quantitativen Auszählung wurden sie jedoch nicht berücksichtigt.
136
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
geschrieben werden. Dieses Phänomen wird in den mittelniederländischen Grammatiken häufig mit dem Vorhandensein eines Umlautfaktors in Verbindung gebracht, wobei gleichzeitig eingeräumt wird, dass diese lautposionsspezifische Differenzierung nicht konsequent durchgehalten wird (Franck 1919, § 26, van Loey 1980, § 59). Dieser Befund wird durch die Ergebnisse der Auszählung des Brüsseler Korpus gestützt, so dass im Folgenden für die Lautposition {ai} (nicht vor r, h, w) zwischen zwei Lexemgruppen unterschieden wird. Bei der ersten Lexemgruppe, in der westniederländischen Tradition realisiert durch , handelt es sich um folgende Wörter: 'allein', 'breit', 'Kleid', 'Teil', 'Eid', 'ein', 'irgendein' (eenich), 'Heister', 'Geist', 'ganz' (geheel), 'Gerät', 'kein', 'geißeln', 'meist', 'Meister', 'Stein', 'Zeichen', 'zwei', 'er weiß'. Im Rheinmaasländischen variieren für diese Lexeme die Graphien , und . Für Emmerich ergibt sich folgende diachrone Entwicklung35:
Abb. 60: Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 1 in Emmerich
_____________ 35
Bei der Auszählung für das Lexem 'Teil' wurden Belege in unbetonter Silbe, z.B. viedel 'Viertel', ordel 'Urteil', nicht berücksicht.
137
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
Die Verwendung der westlichen Graphie , die auch zu Beginn des Untersuchungszeitraums schon auf niedrigem Niveau vorhanden war, erreicht in Emmerich im Jahre 1632 mit 80 % einen ersten Höhepunkt. In der Folgezeit bewegt sich der -Anteil weiterhin zumeist auf hohem Niveau, ohne sich jedoch vollständig durchzusetzen. Dies korrespondiert jedoch tendenziell mit der westniederländischen Verteilung, denn auch im Brüsseler Vergleichskorpus liegt der -Anteil bei 95 %, es sind also auch dort nach wie vor geringe Anteile an Nebengraphien zu verzeichnen. Bei einer zweiten Gruppe von Lexemen wird {ai} in der westniederländischen Schreibtradition vorwiegend durch realisiert. Hierzu zählen u.a. die Lexeme 'Arbeit', 'eigen', 'gemein', 'gereicht', 'Heide', 'heilig', 'heischen', '-heit', 'klein', 'leiten', 'meinen', 'Reise', 'verschieden', 'Weide' und 'weigern'36. In der rheinmaasländischen Tradition variieren hierfür die Graphien , , und . In Emmerich ergibt sich folgende Verteilung:
100 100 88
90 80
75
70
71
60
67
60 50 50
42 38
40
35
40
30
25
20 8
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
0 1653
1646
1636
1633
1627
0 0 0 0 0 1625
1620
1617
1612
1603
1593
1588
1587
1578
1510-15
0
0 0 0 0 0
1632
10
Abb. 61: Diachrone Entwicklung von für {ai} bei Lexemen der Gruppe 2 in Emmerich
_____________ 36
Unter den Lexemen der Gruppe 2 werden darüber hinaus sämtliche Wörter der Lautposition {ai} subsummiert, die sich nicht den Lexemen der Gruppe 1 zuordnen lassen.
138
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
In der frühen Phase des Untersuchungszeitraumes variiert mit , ehe seit Ende des 16. Jahrhunderts – von wenigen Ausnahmen abgesehen, hierbei ist wieder der Schreiber von 1625 zu nennen – fast vollständig verschwindet. Das erneute Auftreten von könnte dann als eine Orientierung an westlichen Vorbildern gedeutet werden. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es sich bei der Stichprobe 1715 lediglich um einen Beleg handelt. Betrachtet man die tendenzielle graphematische Differenzierung von {ai} (bei den Lexemen, die durch realisiert werden) und {ai} (bei den Lexemen, die durch realisiert werden) in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, so könnte vermutet werden, dass es sich hierbei um die Kennzeichnung unterschiedlicher Aussprachen innerhalb der oberschichtlichen Mündlichkeit handelt. Gegen eine rein schreibsprachliche Übernahme aus westlichen Kanzleien spricht, dass sich auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts die im Westniederländischen übliche Schreibung nicht vollständig durchsetzt, sondern nach wie vor als Nebengraphie auftritt. Die Graphie war anscheinend ebenso gut wie geeignet, um eine andere Aussprache als anzuzeigen (ZDH\ bzw. Z`H\ vs. Zd9\(, auch wenn sie nicht mit der im Westniederländischen üblichen Graphie korrespondierte, was vielleicht gar nicht im Zentrum des Interesses gelegen haben könnte. 5. Bei der Realisierung von {û-, üÎ-} (nicht vor r) variieren in der rheinmaasländischen Schreibsprache verschiedene u-Graphien (z.B. huser, dueren, muire). In der westniederländischen Tradition wird in diesem Kontext stattdessen ausschließlich die Graphie verwendet (z.B. huyser, duyren, muyre). In Emmerich ist bereits in der ersten Stichprobe 1510-15 ein einhundertprozentiger westlicher Anteil erreicht, der jedoch in der Folgezeit wieder bis auf 0 % zurückgeht:
139
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
100
100
100 100100 100
100
90 80
75
70
67
60
50
50
50
67
50 43
40 30 20
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1654
1664
0
0 1653
1646
1636
1633
1632
0 0 0 0 0 1627
1620
1612
1603
1625
0
0 0 1593
1588
1587
1578
5 1510-15
0
1617
10
Î
Abb. 62: Diachrone Entwicklung von für {û-, ü-} (nicht vor r) in Emmerich
Da in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein erneuter Anstieg der brabantischen Varianten von 0 % auf 100 % stattfindet, stützt diese Entwicklung tendenziell die These einer westlichen Beeinflussung in jenem Zeitraum. Die über einen längeren Zeitraum belegten unterschiedlichen Graphien, wie z.B. , , , deuten auch hier auf eine graphische Wiedergabe unterschiedlicher Aussprachemöglichkeiten hin, ehe sich in der Spätphase des Untersuchungszeitraums eine Vereinheitlichungstendenz beobachten lässt, die jedoch in der letzten Stichprobe von 1715 nicht konsequent durchgehalten wird. 6. Die graphematische Differenzierung von {i*} und {î-} kann ebenfalls als Indiz für eine Orientierung an westlichen Vorbildern gedeutet werden. In der westniederländischen Schreibtradition des 16./17. Jahrhunderts wird die Graphie zur Realisierung von {î-} verwendet (z.B. syne, ysen, blyven), wohingegen {i*} durch wiedergegeben wird (z.B. disch, binnen, dit). Im Rheinmaasländischen ist diese graphematische Trennung jedoch nicht zu verzeichnen. Den Entwicklungsverlauf in Emmerich veranschaulicht die folgende Graphik37: _____________ 37
Nicht berücksichtigt wurden Fremdwörter (z.B. 'quittieren') sowie e-Graphien für {i*} (kerck 'Kirche', verst 'Frist', meß 'Messe', hen 'hin', bestembder 'bestimmter') und für {i*} (-nusse '-nis', wurcklich 'wirklich', sucht 'Sicht'). Ebenfalls unberücksichtigt blieb {î-} im Wortauslaut, z.B. bi 'bei', fry 'frei'.
140
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
für {î-}
für {i*} 100
100 88
90
77
67 56
60
67
67 63
40
38
33 25 0 0
8 0 0 0 0 0 0 0
0 1 1
0
1715
1697
1690
1682
1676
1670
1664
1654
1646
1636
0 1632
1593
1588
1587
1578
1510-15
0
0 0 0
12
5
1625
4
1620
10
0 0 0 1617
7
1627
15
20
33
18
1653
25
30
1612
40
73 67
67
1603
50
75
67
70
1633
80
83
82
Abb. 63: Diachrone Entwicklung von für {î-} bzw. {i*} in Emmerich
Die graphematische Differenzierung von {î-} und {i*} ist in den ersten Emmericher Stichproben nicht signifikant ausgeprägt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist stattdessen sogar eine Kollision zu verzeichnen (z.B. bliuen, spicken 'Speicher' und dit, binnen). In Emmerich wird zur Realisierung von {î-} häufig die Graphie verwendet (z.B. schrieuen, siene). Es ist erneut die Stichprobe aus dem Jahre 1625, die zuerst eine Verteilung aufweist, die dem Westniederländischen nahe kommt. Ab 1676 findet eine kontinuierliche Annäherung an die westliche Verteilung statt, die im Jahre 1715 vollständig ereicht ist. Die Entwicklungsverläufe der o.g. Variablen sind insgesamt dazu geeignet, für die Emmericher Sprachgeschichte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen neuniederländischen Einfluss nachzuweisen. Es findet jedoch kein language shift statt, sondern eine allmähliche Anreicherung mit westlichen Varianten. Hierbei ist jedoch nicht immer eine vollständige
Der Verlauf der neuniederländischen Überschichtung
141
Übernahme der niederländischen Varietät zu verzeichnen, da bei einigen Lautpositionen bis ins 18. Jahrhundert hinein weiterhin rheinmaasländische Formen belegt sind (z.B. bei der Realisierung von {â*, a-*}, {ai} (nicht vor r, h, w) und {û-, üÎ-}). Trotz der großen Unterschiede in der Sprachentwicklung der beiden untersuchten Städte gibt es somit doch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit. Ähnlich wie in Wesel eine regionale Prägung der Sprache beibehalten wird, indem man ein mit rheinmaasländischen Elementen angereichertes Hochdeutsch verwendet, so ist in Emmerich ein regional geprägtes Neuniederländisch in Gebrauch. Diese Tatsache stützt die These von der Unabhängigkeit der städtischen Oberschichten bei der Wahl ihrer Sprache, die sich offenbar die Freiheit nahmen die autochthone Sprache nicht vollständig zu adaptieren. Für die meisten Merkmale konnte zudem die Möglichkeit plausibel gemacht werden, dass die Sprachveränderungsvorgänge nicht ausschließlich im Bereich der Schreibsprache abgelaufen sind, sondern dass stattdessen ein Einfluss der gesprochenen Sprache als denkbar erscheint. Hierdurch ergeben sich wiederum keine Anhaltspunkte, die zur Stützung der These von der besonderen Bedeutung des Buchdrucks für die Standardisierung beitragen könnten. Da sich Emmerich durch das Vorhandensein einer Orientierung an westlichen Vorbildern deutlich von der Entwicklung im ebenfalls klevischen Wesel unterscheidet, lässt sich somit die These einer territorial einheitlichen Entwicklung nicht untermauern. Die stadtspezifisch unterschiedliche Entwicklung spricht stattdessen für die These der Unabhängigkeit der städtischen Führungsschichten bei der Wahl ihrer Sprache. Durch die parallele Überlieferung von hochdeutschen und niederländischen Texten ist zudem bewiesen, dass in Emmerich eine Orientierung an verschiedenen, regional entgegengesetzten Strahlungszentren stattgefunden hat. 3.11.3. Die Reihenfolge der Veränderungen in Emmerich Im Folgenden soll noch einmal im Zusammenhang die Reihenfolge der Übernahme westlicher Varianten in die Stadtsprache von Emmerich beschrieben werden. Hierbei wird erneut zwischen der Übernahme neuniederländischer Varianten und der Durchsetzung38 autochthoner, mit der neuniederländischen Schreibtradition übereinstimmender Varianten unterschieden. Bei der Übernahme neuniederländischer Varianten (positive Akkommodation) ergibt sich für Emmerich folgende Reihenfolge: _____________ 38
Im Folgenden wird die „Durchsetzung“ einer westlichen Variante durch das Vorhandensein eines kontinuierlichen neuniederländischen Morphemanteils von mindestens 70 % definiert.
142
Vergleich der sprachlichen Entwicklung im Herzogtum Kleve
Prozentanteil der neuniederländischen Varianten: Kennform
het ende boom heeren -eeren
Stichprobe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Nr. 1603 1612 1617 1620 1625 1627 1632 1633 1636 1646 Jahr >70% 30-69%