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German Pages 228 [227] Year 2019
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 104
Staatenimmunität im Konflikt mit dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK
Von
Anne Gabius
Duncker & Humblot · Berlin
ANNE GABIUS
Staatenimmunität im Konflikt mit dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von M a r t i n Ne t t e s h e i m in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Jochen von Bernstorff Jörg Eisele, Martin Gebauer, Kristian Kühl Hans von Mangoldt, Wernhard Möschel Thomas Oppermann, Stefan Thomas Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen
Band 104
Staatenimmunität im Konflikt mit dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK
Von
Anne Gabius
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.
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D 21 Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Da-Tex Gerd Blumenstein, Leipzig Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 978-3-428-15678-8 (Print) ISBN 978-3-428-55678-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85678-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinem Sohn Frederik gewidmet
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2017 von der juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Rechtsentwicklung, Judikatur und Literatur wurden bis Juli 2018 berücksichtigt. Ich danke meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Martin Nettesheim, ganz herzlich für die Anregung, den Konflikt zwischen dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK und dem völkerrechtlichen Immunitätsprinzip aufzunehmen und mir bei der weiteren Bearbeitung dieses Themas größtenteils freie Hand zu lassen. Ohne seine Unterstützung und wertvolle Rückmeldung wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Die Anstellung als wissenschaftliche Assistentin an seinem Lehrstuhl hat mir zudem die Freiheit gegeben, mich umfassend der wissenschaftlichen Aufbereitung der vorliegenden Thematik zu widmen. Herzlicher Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Dr. Jochen von Bernstorff für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Ich möchte allen danken, die mich während der Promotionsphase unterstützt, mir immer mit einem offenen Ohr zur Seite gestanden und den Rücken frei gehalten haben, insbesondere meinem Mann Arne, meiner Mutter Birgit Haase und meiner Oma Gudrun Haase. In der Entstehungsphase der Dissertation wurde mein Sohn Frederik geboren. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Stuttgart, im Januar 2019
Anne Gabius
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A.
Das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Garantie des Zugangs zu Gericht aus Art. 6 I EMRK – Der Fall Golder . . . 1. Argumentation des EGMR im Fall Golder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik an der Entscheidung des EGMR im Fall Golder . . . . . . . . . . . . II. Eröffnung des Zugangs – Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK . . . . . . . . 1. Vorliegen „zivilrechtlicher“ Ansprüche (civil rights and obligations) im Sinne des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die zivilrechtliche Natur des geltend gemachten Anspruchs . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung zur strafrechtlichen Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Vorliegen einer Streitigkeit (contestation) . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Immunität als (inhärente) Schranke des Rechts auf Zugang zu Gericht . . . . . . 1. Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausführliche Prüfung des legitimen Ziels in Prince Hans-Adam II of Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Wesensgehalt – the very essence of the right of access to court . . . . . . a) Abgrenzung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigenständige Bedeutung des Wesensgehalts? . . . . . . . . . . . . . . . c) Die strukturelle Dimension des Wesensgehaltskriteriums . . . . . . . . . 3. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten . . . . a) Die Pellegrin-Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Vilho Eskelinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Fälle Cudak und Sabeh El Leil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Fall Fogarty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik an dem Urteil Fogarty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Fall Cudak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Fall Sabeh El Leil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Fall Wallishauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Immunitätsausnahme bei Personenschäden aufgrund deliktischen Handelns 1. Der Fall McElhinney . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verzicht auf das Recht auf Zugang zu Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
VII. Verhältnis des Rechts auf Zugang zu Gericht zu Art. 13 EMRK und zu Art. 5 IV EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B.
C.
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Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . I. Grundlagen der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der Immunität von der Zuständigkeit (Jurisdiktion) . . . . . . . . 3. Formelle Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Immunität als Ausdruck der Würde und Höflichkeit . . . . . . . . . . b) Staatenimmunität als Ausdruck der souveränen Gleichheit aller Staaten . . 4. Funktionale Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsquellen der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbindlichkeit der Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . 2. Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung der Staatenimmunität von einer absoluten zu einer relativen Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis . . . . . a) Unterscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kategorie der delicta imperii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die territoriale Deliktsausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entscheidung des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of the State . . . . a) Der Fall Ferrini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Distomo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidung des IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grenzen der Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Voraussetzungen eines Verzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Verwirkung“ der Immunität bei schwersten Menschenrechtsverletzungen . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Konflikt zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht . . . . . . I. Der Konflikt im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfliktbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konfliktbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klassische Definition des Konfliktbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hier vertretener Konfliktbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das komplizierte Dreiecksverhältnis des vorliegenden Konflikts . . . . . . . . 2. Der vorliegende Konflikt als Inter-Regime-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff des internationalen (speziellen) Regimes in Abgrenzung zum Subsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zum self-contained-Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) EMRK und ihre Durchsetzungsmechanismen als self-contained Regime im Hinblick auf Immunitätsfälle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der vorliegende Konflikt als Auslegungskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III. D.
4. Einordnung des vorliegenden Konflikts in die Fragmentierungs- und Proliferationsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Arbeit der ILC und die ausführliche Folgediskussion . . . . . . . . b) Institutioneller und materieller Rechtspluralismus als normative Realität c) Ursachen und Wirkung der Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht in Literatur und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zwischengerichtliche Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgestaltung der Kooperation mittels Gerichtshierarchisierung . . . . . . 2. Kooperation mittels Vorlageverfahren bzw. Vorabenscheidungsverfahren . . 3. Die Einholung von Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Rückgriff auf Urteile anderer Gerichte bei der Entscheidungsfindung . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertragliche Konfliktlösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völkervertragliche Konfliktlösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung der vertraglichen Lösungsmöglichkeiten für den vorliegenden Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. No-conflict approaches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein Konflikt wegen fehlender Schnittmengen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auflösung von Konflikten durch funktionelle Derogation . . . . . . . a) Die lex posterior-Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die lex specialis-Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung des EGMR zur Theorie der Normenhierarchie . . . . . a) Der Fall Al-Adsani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Jones vs. Saudi Arabia vor dem House of Lords . . . . . . . . c) Die Entscheidung des EGMR im Fall Jones u. a. . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidung der Kleinen Kammer im Fall Nait-Liman . . . . . . . e) Die Entscheidung der Großen Kammer im Fall Nait-Liman . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Normative Hierarchien und peremptory norms als Ausdruck eines internationalen Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die besondere Natur der EMRK und ihr konstitutionelles Gewicht . . . b) Erga omnes-Normen als peremtory norms . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lösung von Normkonflikten durch Auslegung und Interpretation? . . . . . 2. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK und die systemische Integration . . . . . . . . . a) Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff des „Einschlägigen Völkerrechtssatzes“ i. S. d. Art. 31 III lit. c WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bestimmung der Normadressaten des Art. 31 III lit. c WVK . . . . cc) Das intertemporale Moment bei der Auslegung von Art. 31 III lit. c WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 31 III lit. c WVK als Diener zweier Herren? . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Auslegung der EMRK über Art. 31 III lit. c WVK . . . . . . . . . . . . a) Darstellung der Rechtspraxis des EGMR zu Art. 31 III lit. c WVK . . . . b) Anwendung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK durch den EGMR im Kontext der Fragmentierungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die presumption against conflict . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Konflikt zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK in der Literatur 1. Die Ansicht von Pahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ansicht von Heß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ansicht von Richter Ress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Ansicht von Yang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lösung über die Prüfung der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ansicht von Tzevelekos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf Zugang zu Gericht als Stellschraube – Die Ansicht von Whytock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E.
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Vorschlag einer Lösung des Konflikts zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation / status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungsmöglichkeit des Konflikts – modus procedendi . . . . . . . . . . . . . II. Charakterisierung des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Konfliktbewältigung . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Kontext des vorliegenden Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlendes Mandat der nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Prüfung von alternative remedies auf Ebene der Wesensgehaltsprüfung . . . . 1. Alternativer Rechtsschutz einer Internationalen Organisation als Vorbedingung der Immunitätsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die equivalent protection-Formel der Kommission . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidungen Lenzing AG der Kommission . . . . . . . . . . . . . . c) Die Fälle Waite and Kennedy und Beer and Regan vor dem EGMR . . . . . d) Anforderungen an den äquivalenten Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . e) Der Fall Klausecker gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der Fall Perez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kriterium der Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit für den Kläger . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abgrenzung zu Art. 35 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahren vor einem dritten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Übertragbarkeit der Rechtsprechung zu den alternative remedies auf die Staatenimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen und Entwicklung der Immunität Internationaler Organisationen b) Unterschiede zwischen der Staatenimmunität und der Immunität Internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übertragbarkeit der Entwicklungen im Bereich der Immunität Internationaler Organisationen auf die Staatenimmunität . . . . . . . . . . 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – konkrete Abwägung . . . . . . . . . . . 1. Anforderungen an den alternativen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kriterium der Gleichwertigkeit zum nationalen Rechtsschutz . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
b) Das Kriterium der Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Recht . . . . . . . . . . VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes über die Auslegungsmethodik des EGMR 1. Das Konsensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Autonome Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die evolutive Auslegungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die evolutiv-dynamische Auslegung als verbindliche general rule (IGH) 3. Evolutive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswirkungen der Auslegungsmethodik auf die Abwägung . . . . . . . . . a) Konsens über die Bedeutung des Rechts auf Zugang zu Gericht und autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die evolutiv-dynamische Auslegung von Art. 6 I EMRK . . . . . . . . 5. Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lösung . . . . . . . . . . . a) Gefahr der fictional intentions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Margin of Appreciation als Gegengewicht . . . . . . . . . . . . . . c) Bedenken gegen die Lockerung staatlicher Immunität . . . . . . . . . . VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F.
Einleitung „International law is what international lawyers make of it.“1
Die Völkerrechtsrealität findet sich in einem ständigen Wandlungsprozess. Mit ihr durchlebt auch die Völkerrechtswissenschaft Anpassungsvorgänge. Während vor einigen Jahren noch die Konstitutionalisierungsthese2 vorherrschend war, wird diese – angestoßen durch den Koskenniemi-Report der ILC3 – von der Fragmentierungsthese überlagert4 . Teilrechtsordnungen und -regime werden als solche nicht mehr per se, da wider einer monistischen internationalen Gesamtrechtsordnung, abgelehnt, sondern in ihrer Existenz hingenommen. Der Pluralismus von „Akteuren, Sachverhalten und Rechtswirkungen“5 ist im Völkerrecht angekommen und die klassisch hierarchisch bestimmte Normenpyramide wird in ihren Grundfesten erschüttert. Dies führt zu einem neuen Betätigungsfeld der Völkerrechtswissenschaft6 : Die Teilrechtsregime stehen in Konkurrenz zueinander, ihre Koexistenz führt zu Konflikten, die mit den herkömmlichen Lösungsmechanismen nicht mehr sachgerecht zu handhaben sind7 . Die Entwicklung von (nahezu) selbstständigen Rechtsordnungen mit eigenen Rechtsprechungs- und Rechtsdurchsetzungsinstrumenten im Zusammenspiel von internationalem, staatlichem und privatem Recht wird auch unter dem Stichwort der „Hybridisierung 1 Ende des Vorworts für die zweite Auflage von Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument. Hierzu: These 3 des Vortrags von Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 38: „Der Pluralismus der (. . .) Rechtsordnungen geht mit einer Pluralisierung von Rechtsquellen und Auslegungsmöglichkeiten einher. (. . .) Hier liegt die Aufgabe für die Rechtswissenschaft, aber auch die Rechtsprechung, Ausmaß und Grenzen des Einflusses der verschiedenen Rechtsordnungen klarzustellen.“ 2 Die Konstitutionialisierungsthese umfasst die Ansicht, dass sich international ein „Kernbestand“ an Normen entwickelt hat, gegen die kein Staat oder Individuum verstoßen darf, auch wenn diesem Kernbestand zuvor nicht zugestimmt wurde. Gleichzeitig entwickeln sich in zunehmender Weise Mechanismen, die Verstöße gegen diese Normen sowohl zentral als auch denzentral ahnden, Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft, S. 699 ff.; zum Verständnis von Konstituionalisierung auch: Koskenniemi, International Law: Between Fragmentation and Constitutionalism, Rn. 17 f. 3 Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006. 4 Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 9, bescheinigt dem Konstitutionalismusdiskurs eine veritable Krise, die u. a. darin zu erkennen sei, dass Teilsystemen eine Teilkonstitutionalisierung (Verfassungsfragmente) zugesprochen werden. Gleichzeitig war die Konstitutionalisierungsthese freilich auch eine Antwort auf die bereits zu diesem Zeitpunkt zunehmende Fragmentierung (legal pluralism), so auch: Koskenniemi, Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, S. 15. 5 Paulus, a. a. O., S. 9. 6 Paulus, a. a. O., spricht in diesem Zusammenhang von einem neuen „internationalen Verwaltungsrecht“. 7 Dieser Zustand veranlasst einige Autoren, das Kollisionsrecht in Gänze zu hinterfragen: Berman, Is Conflict-Of-Laws Becoming Passe?, S. 43 ff.
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von Rechtsordnungen“8 erfasst und beschreibt ein neues pluralistisches Phänomen der zwischen- und überstaatlichen Rechtsrealität. Eine Situation, in der dieses Nebeneinander an (Teil-)Rechtsregimen besonders virulent wird, ist die des Konflikts zwischen dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität. Beruft sich ein Staat in einem Gerichtsverfahren auf Immunität, so wird, gibt das Gericht der Immunität des Antraggegners statt, dem Antragssteller sein Recht auf Zugang zu diesem Gericht aus Art. 6 I EMRK verwehrt. So versuchte beispielsweise der Beschwerdeführer Al-Adsani9 in London gegen Kuwait zu klagen, wo er gefoltert und schwer verletzt worden war. Kuwait berief sich vor dem britischen High Court auf Immunität, es fand kein Verfahren statt; die Umstände dieses Falles wurden weder aufgeklärt, noch wurden die Verantwortlichen bestraft. Al-Adsani wurde im Ergebnis der Rechtsschutz vollständig versagt, was verdeutlicht, wie gravierend die Auswirkungen des soeben beschriebenen Konkurrenz- oder Konfliktverhältnisses verschiedener (Teil-)Rechtsregime auf die Rechtsposition des Einzelnen ausfallen können. Dennoch ist der Einfluss von Immunitäten auf das Recht auf Zugang zu einem Gericht in der rechtswissenschaftlichen Literatur bisher wenig durchdrungen10 . Völkerrechtliche Immunitäten stellen wohl die empfindlichsten und schwerwiegendsten Eingriffe in das Recht auf Zugang zu Gericht dar11 . Hierbei können verschiedene Szenarien unterschieden werden12 : Entweder erhält der Betroffene keinen Zugang im Forumstaat, was bedeutet, dass die Klage gegen einen Staat, welche in einem anderen Staat erhoben wurde, abgewiesen wird. Oder ihm wird der Zugang zu allen Gerichten verwehrt, außer zu denen des beklagten Staates – und zuletzt hierzu korrespondierend: Der beklagte Staat selbst sieht kein Recht auf Zugang zu Gericht vor (etwa aufgrund nationaler Regelungen, die die Immunität des eigenen Staates vorsehen) bzw. gestaltet dieses Recht nur unzureichend aus. Die Kombination dieser Szenarien kann jederzeit dazu führen, dass ein Kläger nirgendwo Zugang zu Gericht erhält. Diese Konsequenz ist nicht rein theoretischer Natur, sondern empirisch belegt13 . Das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 I EMRK, dem ein Recht auf Zugang zu einem Gericht inhärent ist14 , hat sich durch die sog. evolutiv-dynamische Auslegung des EGMR stetig weiterentwickelt und die Rechtsposition des Einzelnen auf dem internationalen Parkett des Völkerrechts signifikant aufgewertet. Dies liegt neben dem materiellen Kerngehalt des Art. 6 I EMRK, der maßgeblich durch die Rechtsprechung des EGMR geprägt wurde, vor allem auch an der Justiziabilität dieses Rechts über die bereits seit langem bestehende Möglichkeit der Individualbeschwerde vor dem EGMR nach Art. 34 EMRK. Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht erlebt in der Völkerrechtswis8 Hierzu die 33. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht, Band 46, Internationales, nationales und privates Recht: Hybridisierung der Rechtsordnungen? Immunität, 2014 sowie Teubner, Verfassungsfragmente, S. 232. 9 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, zu diesem Fall ausführlich in Kap. D. IV. 2. a). 10 So auch Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2059. 11 Francioni, The Rights of Access to Justice under Customary International Law, S. 47. 12 Nach Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2060. 13 Whytock, a. a. O., S. 2063 ff. 14 EGMR Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 36; hierzu ausführlich im folgenden Kap. A.
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senschaft zur Zeit nicht nur, aber besonders im Kontext der Menschenrechte eine signifikante Aufwertung (Paradigmenwechsel15 ). Einher geht diese Entwicklung mit einem neuen, veränderten Verständnis für staatliche Souveränität und Gleichheit16 . Die Entwicklung der völkerrechtlichen Immunitäten spiegelt im Ergebnis die dynamische Entwicklung des Völkerrechts selbst wider17 , es geht um die (Einschränkung) staatliche(r) Souveränität. Diese Entwicklungen rechtfertigen eine neue, ausbalancierten Betrachtung des Konflikts zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK des einzelnen Individuums, der vorliegend auch einer individuell auf diesen Konflikt zugeschnittenen Lösung zugeführt werden soll. Die vorliegende Untersuchung möchte hierbei gerade kein dem Internationalen Privatrecht nachempfundenes „globales Kollisionsrecht“18 entwickeln. Es ist eben nicht intendiert, die hier vertretenen Lösungsansätze auf andere Kollisionen verschiedener völkerrechtlicher Teilrechtsordnungen oder Regime zu übertragen. Normkonflikte im Völkerrecht lassen sich nur lösen, wenn sie individuell charakterisiert und hieraufhin differenzierten, einzelfallgerechten Lösungen zugeführt werden.
1. Untersuchungsgegenstand Es gibt bereits zahlreiche Abhandlungen und Veröffentlichungen zu der Interaktion von völkerrechtlichen Immunitäten und menschenrechtlichen Verpflichtungen19 . Im Besonderen das (mögliche) Zurücktreten der Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverstöße ist in der Rechtswissenschaft ausführlich diskutiert worden20 . Der 15 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, spricht von einem neuen menschenrechtsbasierten Paradigma; Peters, Jenseits der Menschenrechte, S. 469, spricht dem Individuum neben den Menschenrechten weitere „subjektive internationale Rechte“ zu. Peters, a. a. O., S. 39, vertritt in ihrem neuesten Werk die These, dass diese Entwicklungen einer „Banalisierung der Menschenrechte entgegenwirken und sich gleichzeitig eine neue Hierarchie zwischen Menschenrechten und anderen „subjektiven internationalen Rechten“ (a. a. O., S. 387) andeute, die zu einer Neuinterpretation des Menschenrechts auf Rechtsfähigkeit (Peters, a. a. O., s. S. 480) führe. 16 Die frühen Anfänge der Lockerung des Souveränitätsdogmas durch die Hinwendung des Völkerrechts zum Schutz der Menschenrechte und den hiergegen vorgebrachten Widerstand beschreibt Simma, Der Einfluss der Menschenrechte auf das Völkerrecht, S. 731 f. Der internationale Schutz der Menschenrechte wurde als bloße „Modeerscheinung“ abgetan, als „westliche Propagandawaffe im Kalten Krieg“, bzw. als „trojanisches Pferd“ vor den Toren des von Souveränität und Reziprozität gesteuerten Völkerrechts. 17 Pieper, Staatenimmunität – eine Bestandsaufnahme, S. 858. 18 Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft, S. 714; hierzu weiterhin: Lescano/Teubner, Regime-Collisions: The Vain Search for Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, S. 1021 f. 19 Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen; Bosch, Immunität und Internationale Verbrechen; Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights; Karl, Völkerrechtliche Immunität im Bereich der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen, u. v. m. 20 Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen; Bosch, Immunität und Internationale Verbrechen; Caplan, State Immunity, Human Rights and Jus Cogens: A Critique of the Normative Hierarchy Theory; Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit; Karl, Völkerrechtliche Immunität im Bereich der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen; Klein, Menschenrechte und Ius Cogens; Kokott, Missbrauch und Verwirkung von Souverä-
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IGH hat hierzu 2012 im prominenten Fall Jurisdictional Immunities of States21 entschieden und einer weiteren Entwicklung hin zu einer Einschränkung der Staatenimmunität in dieser Konstellation vorläufig eine Absage erteilt. In all den Publikationen und Veröffentlichungen fällt auf, dass oftmals nicht genügend zwischen den einzelnen völkerrechtlichen Immunitätsformen unterschieden wird, obwohl diese in Herkunft, Begründung, Entwicklung und Legitimation unterschiedliche Merkmale aufweisen, die im Rahmen einer Konfliktbewältigung nach der hier vertretenen Ansicht unbedingt zu berücksichtigen sind. Während beispielsweise die Staatenimmunität oder die diplomatische Immunität auf eine jahrhundertelange völkergewohnheitsrechtliche Tradition zurückgreifen kann, existiert die Immunität Internationaler Organisationen erst seit einigen Jahrzehnten und findet ihren Ursprung regelmäßig im organisationsspezifischen Gründungsvertrag. Unabdingbare Voraussetzung für die Behandlung des Spannungsverhältnisses zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK ist daher die dezidierte Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Konflikt, insbesondere dessen Akteuren, Eigenschaften und Problemfeldern. Eine „universale“ Konfliktlösung gibt es nicht. Vorliegend kollidieren Völkergewohnheitsrecht (das Prinzip der Staatenimmunität) mit Vertragsrecht (dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK), es geht um das Verhältnis zwischen regionalem Menschenrechtsschutz und allgemeinen Völker(gewohnheits) recht. Die vorliegende Arbeit appelliert an die Funktion des Gerichtshofs, die Einhaltung der Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und den aktuell anerkannten europäischen Menschenrechtsstandard zu etablieren, zu festigen und fortzuentwickeln. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich hierbei auf die Behandlung des Konflikts der Staatenimmunität mit dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK. Auch wird lediglich die Immunität im gerichtlichen Erkenntnisverfahren, nicht auf Ebene der Zwangsvollstreckung erfasst. In der Sache geht es um den Konflikt zwischen verschiedenen Rechtsnormen verschiedener Rechtsregime, sog. Inter-Regime-Kollisionen22 . Um diesen Konflikt grundlegend untersuchen und einer Lösung zuführen zu können, müssen die Grundlagen der Staatenimmunität völkerrechtstheoretisch und in ihrer historischen Entwicklungslinie dargestellt und erfasst werden. Ebenso interessiert das Recht auf Zugang zu Gericht als dem Art. 6 I EMRK inhärenten Recht, das über die Individualbeschwerde des Art. 34 EMRK ein justiziables Menschenrecht darstellt. Zu letzterem Aspekt folgt eine umfangreiche Darstellung der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR, da das Recht auf Zugang zu Gericht dem Art. 6 I EMRK zwar inhärent, jedoch nicht direkt im Wortlaut dieser Regelung enthalten ist. Des Weiteren soll der vorliegende Konflikt in den aktuellen Fragmentierungsdiskurs eingebettet werden und im Kontext der völkerrechtlichen Regimetheorien betrachtet werden, bevor ein auf den vorliegenden Konflikt speziell entwickelter Lösungsvorschlag gemacht wird. Hieraus ergibt sich folgender Gang der Untersuchung:
nitätsrechten bei gravierenden Völkerrechtsverstößen; Orakhelashvili, State Immunity and Hierarchy of Norms: Why the House of Lords Got It Wrong; Ress, The Changing Relationship between State Immunity and Human rights. 21 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece intervening), Judgment I.C.J. Reports 2012, p. 38, § 93. 22 Hierzu: Teubner, Verfassungsfragmente, S. 231 ff.
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2. Gang der Untersuchung Der Hauptgegenstand der Untersuchung unterteilt sich in fünf Kapitel. Das Kapitel A. beinhaltet eine umfassende Darstellung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK. Hierbei interessiert neben der Herleitung dieses Rechts, welches im Wortlaut des Art. 6 I EMRK direkt nicht verankert ist, v. a. die Eröffnung des Zugangs und die Rechtfertigung eines Eingriffs in Fällen, in denen Staaten Immunität gewährt wurde. In Kapitel B. werden Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität dargestellt und analysiert. Kapitel C. beschäftigt sich grundlegend mit dem Konflikt zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht. Hierbei wird der dieser Untersuchung zugrunde liegende völkerrechtliche Konfliktbegriff definiert und der vorliegende Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität näher spezifiziert. Der Konflikt wird hierbei zum einen als Auslegungskonflikt und zum anderen als Inter-Regime-Konflikt verstanden, was Auswirkungen auf die spätere Konfliktlösung hat. Der vorliegende Konflikt wird zudem in die völkerrechtlichen Regimetheorien eingeordnet. Weiterhin wird der hier vorliegende Konflikt in die Fragmentierungsdebatte, die die ILC durch den Koskenniemi-Report23 angstoßen hat, eingebettet. Hierbei spielt auch die institutionelle Dimension der Fragmentierung in Form der Proliferation internationaler Spruchkörper eine Rolle, welche der Koskenniemi-Report in seiner Studie ausgeklammert hat. In Kapitel D. werden die zahlreichen Lösungsansätze für diese Art Konflikt in Literatur und Praxis aufgezeigt und auf den vorliegenden Konflikt angewandt. Hierbei von besonderer Bedeutung sind die sog. No-conflict approaches, die einen Konflikt wegen vermeintlich fehlender Schnittmengen oder der Anwendung funktioneller Derogation verneinen. Weiterhin von Belang ist die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht, die im Besonderen dann vorgebracht wird, wenn sich ein Staat auf Immunität beruft, dem schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. In diesem Zusammenhang wird zudem die Rechtsprechung des EGMR in diesem Spannungsfeld dargestellt, der versucht, den Konflikt durch harmonische Interpretation über Art. 31 III lit. c WVK zu lösen. Im Ergebnis eröffnet der EGMR durch das Abstellen auf Art. 31 III lit. c WVK eine Prüfungskompetenz zur Überprüfung des aktuell geltenden Völkerrechts. In Kapitel E. wird schließlich ein Lösungsvorschlag für den Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität konkret aufgezeigt, der die besondere Auslegungs- und Rechtsprechungssystematik des EGMR aufgreift und die Rolle der nationalen Gerichte bei der Konfliktlösung darstellt und berücksichtigt. Vorgeschlagen wird ein mehrstufiges Verfahren, welches die Eigenschaften des vorliegenden Konfliktes berücksichtigt und für die Lösung des Konflikts auf die Rechtsprechung des EGMR zu dem Spannungsfeld zwischen der Immunität Internationaler Organisationen und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zurückgreift. 23
Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006.
A. Das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I 1 EMRK Die Auslegung der EMRK wird ganz grundlegend durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geprägt. Sie unterliegt insofern einem stetigen Entwicklungsprozess, der sich an den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert. Bei Art. 6 EMRK handelt es sich nicht nur um das Menschenrecht mit der „größten praktischen Bedeutung“1 . Mit der Auslegung des Art. 6 I EMRK hat der EGMR auch den Grundstein für die sog. evolutiv-dyamische Auslegung im Lichte der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung gelegt, die maßgeblich für den „Erfolg“ der EMRK und ihrer Rechtsdurchsetzungsmechanismen in Europa2 verantwortlich ist. Der EGMR hat das Recht auf Zugang zu Gericht in Art. 6 I EMRK hineingelesen und hierbei explizit betont, dass es sich um keine extensive Auslegung der EMRK handele, sondern dieses Recht dem Art. 6 I EMRK inhärent ist. Diese Stringenz war zu damaliger Zeit geradezu revolutionär und führte wenig überraschend zu Kritik und Widerstand seitens der Mitgliedstaaten und der Rechtswissenschaft. Der Vorwurf der richterlichen Rechtsfortbildung wurde laut. Aufgrund der ganz grundsätzlichen Bedeutung des Art. 6 I EMRK für das „Erfolgsmodell“ EMRK und aufgrund der zentralen Position, die das Recht auf Zugang zu Gericht als Konfliktbeteiligte in der vorliegenden Untersuchung einnimmt, wird im Folgenden die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 I EMRK mit Immunitätsbezug vorgestellt. In diesem Zusammenhang von ganz grundlegender Bedeutung ist das Urteil Golder3 .
I. Die Garantie des Zugangs zu Gericht aus Art. 6 I EMRK – Der Fall Golder Art. 6 I EMRK gewährt jedermann „(. . .) ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
Seit der Grundsatzentscheidung Golder vs. United Kingdom4 ist anerkannt, dass der Zugang zu Gericht fester Bestandteil des in Art. 6 I EMRK verbrieften Rechts auf ein 1
Harrendorf/König in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 1. Gemeint ist mindestens das Gebiet der Vertragsstaaten des Europarats, darüber hinaus strahlen die menschenrechtlichen Standards auch in Drittländer aus. 3 EGMR Urteil vom 21. 02. 1975, Golder vs. United Kingdom, Rs. 4451/70. 4 EGMR Urteil vom 21. 02. 1975, Golder vs. United Kingdom, Rs. 4451/70. 2
I. Die Garantie des Zugangs zu Gericht
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faires Verfahren ist5 . Diese Entscheidung wurde notwendig, weil der Wortlaut des Art. 6 I EMRK darüber im Unklaren lässt, ob die durch ihn gewährten Rechte einen bereits anhängigen Prozess voraussetzen oder darüber hinaus auch Zugang zu einem solchen Prozess – als Grundvoraussetzung für den Genuss der Verfahrensrechte des Art. 6 EMRK – garantiert. Golder war Strafgefangener und wurde von einem Aufseher der Beteiligung an gefängnisinternen Unruhen bezichtigt. Gerichtlich wurde dieser Vorwurf nicht weiter verfolgt; auch erreichte Golder die Streichung entsprechender Vorwürfe in seiner Personalakte. Die Möglichkeit, einen Anwalt zu konsultieren und ihn mit einer Zivilklage gegen den Aufseher wegen übler Nachrede zu beauftragen, wurde ihm für die Zeit der Haft jedoch vom britischen Innenministerium verwehrt, sodass er nach seiner Entlassung vor der EKMR und dem EGMR eine Verletzung von Art. 6 I EMRK geltend machte. Der Gerichtshof hatte somit erstmals und grundsätzlich zu entscheiden, ob ein Recht auf Zugang zu einem Gericht durch Art. 6 EMRK gewährt wird und welchen impliziten Einschränkungen es im Falle seines Bestehens ausgesetzt sein kann6 . Die Entscheidung des EGMR fiel mit 9:3 Stimmen recht eindeutig für ein Recht auf Zugang zu Gericht aus7 . Seitdem heißt es geradezu formelhaft: „Article 6 para 1 secures to everyone the right to have any claim relating to his civil rights and obligations brought before a court or tribunal.“8
Das Recht auf Zugang zu Gericht ist nach Ansicht des EGMR bereits in Art. 6 I EMRK angelegt bzw. in ihm verbrieft9 , sodass eine extensive Auslegung und ein Zurückgreifen auf ergänzende Auslegungsmittel i. S. v. Art. 32 WVK nach Ansicht des EGMR nicht notwendig waren. Der EGMR erachtete es gar als „unvorstellbar“ („inconceivable“), eine gegenteilige Ansicht anzunehmen, da die Staaten sonst ihre Gerichte abschaffen oder jedenfalls in bestimmten Verfahren für unzuständig erklären lassen könnten, um sie regierungsabhängigen Organen zuzuweisen10 . Das Recht auf Zugang zu einem Gericht hat nach Ansicht des EGMR (und ständiger Rechtsprechung seitdem) eine besondere Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft und muss nicht nur illusorisch und theoretisch, sondern praktisch und effektiv gewährleistet sein11 . Der EGMR formuliert somit gleichzeitig das subjektive Recht des Einzelnen auf Zugang zu einem Gericht und die positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten des Europarats, dem Einzelnen Zugang zu einem Gericht zu gewähren. 5
EGMR, Urteil vom 21. 02. 1975, Golder vs. United Kingdom, Rs. 4451/70, Rn. 36. EGMR, a. a. O., Rn. 26. 7 Bei dieser Feststellung ist freilich zu berücksichtigen, dass von den neun zustimmenden Richtern immerhin drei Richter sog. separate opinons formulierten, welche sich größtenteils mit der Frage auseinander setzten, ob der EGMR das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 EMRK herauslesen durfte. Diese Ausführungen nahmen genauso viel Platz in Anspruch wie das gesamte Urteil selbst, sodass lediglich das Ergebnis recht eindeutig ausfiel, nicht jedoch der Weg dorthin. 8 EGMR, Urteil vom 21. 02. 1975, Golder vs. United Kingdom, Rs. 4451/70, Rn. 36. 9 Sog. implied rights, Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, p. 76 ff. 10 EGMR, a. a. O., Rn. 35. 11 „The Convention is intended to guarantee not rights, that are theoretical or illusory but rights that are practically and effective (. . .) – Ständige Rechtsprechung, so z. B. EGMR, Urteil vom 9. 10. 1979, Airey vs. Ireland, Rs. 6289/73, Rn. 24. 6
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
1. Argumentation des EGMR im Fall Golder Der EGMR erkennt, dass Art. 6 EMRK ein Recht auf Zugang zu Gericht dem Wortlaut nach nicht garantiert12 . Gleichzeitig gewährleiste Art. 6 I EMRK jedoch ein „einziges“ (einheitliches) Recht, welches in dieser Vorschrift nicht genauer definiert werde und nach Ansicht des EGMR auch Bestandteile haben könne, die in Art. 6 I EMRK nicht explizit genannt seien. Der Gerichtshof erreicht mit dieser Auslegung, dass der Vorwurf einer Interpretation gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Norm nicht aufkommt. Im Gegenteil besteht nach Ansicht des EGMR gar eine Vermutung, dass das Recht auf Zugang zu Gericht Bestandteil des (einheitlichen) Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 I EMRK ist, was sich besonders aus der französischen Fassung des Art. 6 I EMRK ergebe13 . Der EGMR legt die Präambel der Konvention aus und erkennt diese nicht lediglich als „geistige Mahnung“, sondern als „erste Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter (. . .) Rechte“14 mit besonderer Verpflichtung gegenüber der Rechtsstaatlichkeit. Grundvoraussetzung für Rechtsstaatlichkeit ist nach Ansicht des EGMR ein Zugang zu Gericht15 . Das Recht auf Zugang zu Gericht gehöre zu den „allgemein anerkannten fundamentalen Rechtsgrundsätzen“ und stehe im engen Zusammenhang mit dem Grundsatz des Verbots der Rechtsverweigerung (denial of justice). Über Art. 31 III lit. c WCV sei allgemeines Völkerrecht bei der Auslegung der Konvention jedenfalls zu berücksichtigen, sodass sich hieraus bereits die Garantie des Rechts auf Zugang zu Gericht ergebe16 . Hiermit ist das Recht auf Zugang zu Gericht inhärenter, fester Bestandteil des Art. 6 I EMRK17 . Andernfalls wäre es den Mitgliedstaaten möglich – ohne hiermit gegen Art. 6 I EMRK zu verstoßen – Gerichte abzuschaffen oder ihnen ihre Zuständigkeit für bestimmte Rechtssachen (zivilrechtlicher Natur) entziehen oder regierungsabhängigen Einheiten zuweisen. Der EGMR weist hierbei sogar ausdrücklich darauf hin, dass dieses Ergebnis keine „extensive Auslegung“ der Konvention darstelle, die den Vertragsstaaten neue Verpflichtungen auferlegt. Diese Auslegung ist keinesfalls zwingend, worauf auch der Vortrag der britischen Regierung hinweist, dass Umschreibungen wie „fair“ und „öffentlich“ eindeutig ein bereits vor einem Gericht laufendes Verfahren voraussetzen18 . Der Rückgriff auf die – damals nur völkergewohnheitsrechtlich geltenden – Regelungen der WVK war unüblich. Der Vorwurf der richterlichen Rechtsfortbildung in diesem Kontext ist nicht vollständig von der Hand zu weisen. Das Urteil Golder ist im Rückblick nicht nur hinsichtlich der Begründung des Rechts auf Zugang zu Gericht innovativ, sondern auch hinsichtlich der Art der Herleitung dieses Rechts. Der EGMR entwickelt hiermit die eigenen, immer noch aktuellen Auslegungsregeln für die Konvention. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, dessen Auslegung sich grundsätzlich an der allgemein gültigen Interpretationsmethodik des Völkerrechts orientiert. Hierbei von Belang ist vor allem die Wiener Vertragsrechtskonvention, genauer Art. 31 und 32 WVK. Die WVK wurde vom EGMR auch 12 13 14 15 16 17 18
EGMR, a. a. O., Rn. 28. EGMR, a. a. O., Rn. 31 f. EGMR, a. a. O., Rn. 34. EGMR, a. a. O., andernfalls wäre diese kaum vorstellbar. EGMR, a. a. O., Rn. 35. EGMR, a. a. O., Rn. 36. EGMR, a. a. O., Rn. 32.
I. Die Garantie des Zugangs zu Gericht
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schon vor ihrer Ratifizierung zur Entscheidungsfindung herangezogen – als geltendes Völkergewohnheitsrecht19 . Der EGMR hat sich allerdings im Laufe seiner umfangreichen Rechtsprechungstradition eine eigene Systematik angeeignet und diese Auslegungsregelungen erheblich modifiziert bzw. sich von ihnen entfernt20 . In dem Urteil Golder ist der Ursprung der evolutiven, dynamischen Auslegung der EMRK als „living instrument“21 unter Berücksichtigung der aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten zu sehen22 , die sich von den klassischen Auslegungsregeln der WVK unterscheidet. Diese Vorgehensweise widerspricht der traditionellen Auslegungsmethodik, die auf den Wortlaut des Gesetzes und den Willen der Gesetzesinitiatoren abstellen23 . Die voluntaristische Methodik (auch: subjektive Auslegungsmethode24 bzw. originalism) stellt auf den Willen der Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ab. Rechtsmethodisch gesehen handelt es sich um eine genetische Auslegung, welche den historischen Willen des Normgebers zu definieren sucht25 . Der Rechtsprechung, die die voluntaristische Methodik anwendet, ist eine geringe Prüfdichte und ein großer margin of appreciation des jeweils betroffenen Mitgliedstaates immanent26 . Originalismus stellt in historisch-teleologischer bzw. in historisch-grammatikalischer Weise auf die ursprüngliche Zeit des Vertragsschlusses ab und beachtet hierbei vorrangig die Intention (intentionalism) der Vertragsstaaten bzw. deren Wortlautverständnis (textualism) einer Regelung in jener Zeit27 . Der Originalism wird v. a. für das USamerikanische Verfassungsrecht vertreten28 . Der EGMR blieb bei seiner Linie, bei der Auslegung der Konvention nicht die Intentionen der Parteien von 1950 zugrunde zu legen, sondern auch Interpretationen anzunehmen, die die Staaten bei Vertragsschluss entweder nicht bedacht oder sogar explizit aus-
19 Vgl. EGMR, Urteil vom 21. 02. 1975 Golder vs. UK, Rs. 4451/70, § 29; zur Anerkennung der WVK als Völkerrecht durch den IGH vgl. Zemanek, Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, S. 451 (m. w. N.). 20 Nachweise hierfür bei Pitea, Interpreting the ECHR in the Light of „Other“ International Instruments, S. 550 ff. 21 Vgl. hierzu auch EGMR, Urteil vom 28. 04. 1978, Tyrer vs. United Kingdom, Rs. 5856/72. 22 Hierzu in Fortführung dieser Auslegungsansätze u. a. die Urteile Airey vs. Ireland vom 09. 10. 1979, Rs. 6289/73, Engel and Others vs. The Netherlands vom 08. 06. 1978, Rs. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72, Marckx vs. Belgium vom 13. 06. 1979, Rs. 6833/74 und Tyrer, s. o. 23 Letsas verweist in diesem Zusammenhang auf die sog. originalists, welche die Texte im traditionellen Lichte der Entstehungszeit auslegen, quasi „frozen in time“, Letsas, Strasbourg’s Interpretive Ethic: Lessons for the International Lawyer, S. 513 m. w. N. hinsichtlich der originalists und erklärt, warum der EGMR in seiner Urteilsbegründung auf die Hinzuziehung ergänzender Auslegungsmittel i. S. d. Art. 32 WVK verzichtete. 24 Müller/Christensen, Juristische Methodenlehre, Rn. 361c. 25 Müller/Christensen, a. a. O.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5, Rn. 5, sprechen in diesem Kontext von subjektiv-historischer Auslegung. 26 Grewe, Vergleich zwischen den Interpretationsmethoden europäischer Verfassungsgerichte und des EGMR, S. 464 f. 27 Unterscheidung so auch zu finden bei: Letsas, Strasbourg’s Interpretive Ethic: Lessons for the International Lawyer, S. 513 f. 28 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR – Eine kritische Bewertung mit Blick auf das völkerrechtliche Konsens- und das innerstaatliche Demokratieprinzip, S. 324.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
geschlossen hatten29 , was Richter Fitzmaurice zu harscher Kritik in seinen Sondervoten veranlasste, in denen er dem EGMR u. a. „lack [of] realism and reason“ vorwarf30 . Das Urteil Golder wird in der Geschichte der Rechtsprechung des EGMR als eines der wichtigsten und richtungweisendsten Urteile verstanden31 . Ihm folgte das Urteil Airey32 , in welchem der EGMR noch einen Schritt weiter ging und eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu Gericht annahm, weil die Beschwerdeführerin keine finanzielle Möglichkeit hatte, einen Rechtsanwalt zu engagieren und Prozesskostenhilfe in Irland nicht vorgesehen war. Das Recht auf Zugang zu Gericht sei ihr nicht effektiv gewährt worden. Der Gerichtshof ergänzte das Recht auf Zugang zu Gericht somit um das Merkmal der Effektivität. Dies ist konsequent und im Einklang mit der nunmehr ständigen Rechtsprechung des EGMR, dass die Rechte der Konvention nicht nur theoretisch und illusorisch gewährt werden müssen, sondern praktisch und effektiv33 . 2. Kritik an der Entscheidung des EGMR im Fall Golder Die Begründung dieses neuen, nach Ansicht der Konventionsorgane allerdings bereits in Art. 6 I EMRK verbrieften Rechts durch den EGMR stieß auf Widerstand aus den eigenen Reihen. Richter Sir Gerald Fitzmaurice hält sie für einen logischen Trugschluss und geradezu für absurd; das vom Gerichtshof ausgemalte Szenario einer Kontrolle oder Abschaffung der Judikative durch die Mitgliedstaaten beschreibt er als unrealistisch jedenfalls in hohem Maße übertrieben34 . Seiner Ansicht nach hätten die Fragen, ob ein Recht auf Zugang zu Gericht besteht und welche Konsequenzen im Falle seines Nichtbestehens drohen, unabhängig voneinander untersucht werden müssen; jedenfalls bewiesen die Konsequenzen seines Nichtbestehens nicht das Bestehen eines Rechts auf Zugang zu Gericht. Er weist darauf hin, dass mit einer negativen Umschreibung eines Rechts dieses weder definiert noch begründet werden kann35 . Die Argumentation des Richters Fitzmaurice zielt auf das Problem fehlender Rechtssicherheit in multilateralen Vertragswerken durch extensive Vertragsauslegung der hierin enthaltenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ab. Er formuliert die Gefahr, dass sich die Staaten bei der vom EGMR gewählten Auslegungsmethodik nicht mehr sicher sein können, welche vertraglichen Verpflichtungen sie zu erfüllen haben, obwohl sie eigentlich die „Herren der Verträge (und der Völkerrechtsordnung)“36 sind. Richter Sir Fitzmaurice weist zudem darauf hin, dass Sinn und Zweck eines multilateralen Vertragswerkes nicht
29 Letsas, Strasbourg’s Interpretive Ethic: Lessons for the International Lawyer, S. 518 mit Beispielen hierzu aus der Rechtsprechung des EGMR 30 EGMR, Urteil vom 27. 10. 1975, National Union of Belgian Police vs. Belgium, Rs. 4464/70, Seperate Opinion of Judge Fitzmaurice, I. 8. 31 So z. B. Merrills/Robertson, Human Rights in Europe, S. 88. 32 Urteil des EGMR Airey vs. Ireland vom 09. 10. 1979, Rs. 6289/73. 33 Z. B. EGMR Urteil vom 28. 05. 2002, Stafford vs. United Kingdom, Rs. 46295/99, u. v. m. 34 „Completely unrealistic or at the best highly exaggerated“, vgl. Separate Opinion of Judge Sir Gerald Fitzmaurice, EGMR, Golder, a. a. O. 35 Vgl. Separate Opinion of Judge Sir Gerald Fitzmaurice, EGMR, Golder, a. a. O. 36 Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 6.
I. Die Garantie des Zugangs zu Gericht
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in abstracto betrachtet werden dürften, sondern immer in Bezug auf die ursprüngliche Motivation der Staaten, diesen Vertrag abzuschließen37 . Richter Sir Fitzmaurice hat sich in seiner Separate Opinion in der Entscheidung Golder damit für eine originalistische Auslegungsmethode der EMRK ausgesprochen. Er unterstreicht die herausragende Bedeutung, die der Rechtssicherheit in diesem Zusammenhang zukommt. Staaten müssten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wissen, welche hieraus resultierenden Verpflichtungen auf sie zukommen. Richterliche Rechtsfortbildung (judicial legislation) sei in nationalen Rechtsordnungen ggf. noch akzeptabel, im internationalen Rechtsraum jedoch völlig auszuschließen. Der Konsens der Vertragsstaaten beziehe sich allein auf den Moment des Vertragsschlusses, sodass er in diesem Zusammenhang für eine starke Zurückhaltung plädiert: „It is for the States upon whose consent the Convention rests, and from which consent alone it derives its obligatory force, to close the gap or put the defect right by an amendment, – not for a judicial tribunal to substitute itself for the convention-makers, to do their work for them“38 .
Der EGMR ist einen anderen Weg gegangen. Er hat sich weder statisch an dem Wortlaut noch an dem ursprünglichen Willen der Signatarstaaten orientiert, sondern explizit auf den Sinn und Zweck der Konvention abgestellt. Auf ergänzende Auslegungshilfen, wie z. B. die Ausführungen in den sog. traveaux préparatoires, die einen Rückschluss auf die Intention der unterzeichnenden Staaten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zugelassen hätten, stellt der EGMR nicht ab. Richter Zekia weist in seiner dem Urteil Golder beiliegenden separate opinion darauf hin, dass Vorarbeiten zu sämtlichen anderen damals relevanten Menschenrechtspakten und Deklarationen, vor allem der AEMR, an der sich der Text der EMRK stark orientiert (und die in der Präambel der EMRK immer noch Erwähnung findet), hätten Berücksichtigung finden müssten. Der Wortlaut des Art. 10 der AEMR39 selbst gewährt auf den ersten Blick keinen Zugang zu Gericht. Seiner Ansicht nach hätte jedoch die Entstehungsgeschichte dieser Konventionen hinsichtlich der Frage, ob die EMRK ein Recht auf Zugang zu Gericht gewährt, Aufschluss geben können und Berücksichtigung finden müssen. Der EGMR hat sich jedoch bewusst dafür entschieden, die ergänzenden Vertragsauslegungshilfen und damit auch die Intention der Signatarstaaten außer Betracht zu lassen. Es mag für die damals opponierenden Richter zunächst unverständlich gewesen sein, dass der EGMR nicht auf den ursprünglichen Staatenwillen abgestellt hat. Dieses Vorgehen war jedoch Voraussetzung für die Entwicklung der verschiedenen, dem EGMR eigenen Auslegungsmethoden, die mit diesem Urteil bewusst initiiert wurden.
37 Vgl. EGMR, Urteil vom 27. 10. 1975, National Union of Belgian Police vs. Belgium, Beschwerde, Rs. 4464/70, S. 29. 38 EGMR, Golder, a. a. O., § 37(c). 39 Art. 10 AEMR: Everyone is entitled in full equality to a fair and public hearing by an independent and impartial tribunal, in the determination of his rights and obligations and of any criminal charge against him.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
II. Eröffnung des Zugangs – Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK 1. Vorliegen „zivilrechtlicher“ Ansprüche (civil rights and obligations) im Sinne des Art. 6 I EMRK Absatz 1 des Art. 6 EMRK findet auf „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ (civil rights and obligations/contestations sur ses droits et obligations de caractère civil) oder auf eine „gegen sie [meint: jede Person] erhobene strafrechtliche Anklage“ (criminal charge/toute accusation en matière pénale) Anwendung. „Whether a right is at issue in a particular case depends primarily on the legal system of the State concerned. It is true that the concept of a ‚right‘ is itself autonomous to some degree. Thus it is not decisive for the purposes of Article 6 para. 1 that a given privilege or interest which exists in a domestic legal system is not classified or described as a ‚right‘ by that system. However, it is clear that the Convention organs could not create by way of interpretation of Article 6 para. 1 a substantive right which has no legal basis whatsoever in the State concerned“40 .
Aus obigem Zitat folgt, dass die Frage, ob ein ‚Recht‘ in Streit steht, von den Konventionsorganen grundsätzlich autonom beantwortet wird. Erste („primarily“) Orientierung bieten die nationalen Rechtsordnungen, was allerdings in der Auslegungssystematik des EGMR und der EKMR nur bedeutet, dass er die von den Staaten anerkannten ‚Rechte‘ als solche ebenfalls akzeptiert. Umgekehrt behält sich der Gerichtshof die Möglichkeit vor, auch sonstige von den Staaten nicht anerkannte Ansprüche dennoch als ‚Rechte‘ i. S. d. Art. 6 I EMRK anzuerkennen, wobei er die Grenze erst in der Neuschaffung eines materiell-rechtlichen Anspruches zieht, den der betroffene Staat in seiner Rechtsordnung bislang nicht gekannt hat. Die Begriffe der zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen werden von den Konventionsorganen seit jeher autonom ausgelegt, d. h. es kommt primär nicht auf die Auslegung im nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedsstaats an: „. . . qu’en effet, la notion de ‚droits et contestations de caractère civil‘ “, employée à l’article 6, paragraphe 1 (art. 6–1) de la Convention, ne saurait être interprétée comme simple renvoi au droit interne de la Haute Partie Contractante mise en cause, mais qu’il s’agit bien au contraire, d’une notion autonome qu’il faut interpréter indépendamment des droits internes des Hautes Parties Contractantes“41
bzw. „. . .civil rights and obligations cannot be interpreted solely by reference to the domestic law of the respondent State.“42 .
Der EGMR hat es bisher explizit abgelehnt, eine abstrakte Definition der „zivilrechtlichen Ansprüche“ zu formulieren43 , worin die Ursache für die allgemeine Rechtsunsicherheit und das Unbehagen gesehen wird, die mit der Eröffnung des Anwendungsbereichs
40 Comm. Report 8. 10. 1980, para. 150, zitiert nach Unzulässigkeitsentscheidung der EKMR im Fall Rayner vs. United Kingdom, vom 16. 07. 1986, S. 14, Nr. 3. 41 Vgl. EKMR Unzulässigkeitsentscheidung vom 02. 10. 1964, X contre l’Autriche, Rs. 1931/63. 42 EGMR, Urteil vom 28. 06. 1978, König vs. Germany, Rs. 6232/73, Rn. 88f. 43 Vgl. EGMR, Urteil vom 23. 10. 1985, Benthem, Rs. 8848/80, Rn. 35.
II. Eröffnung des Zugangs
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des Art. 6 I EMRK des Öfteren einhergehen44 . Es gibt eine Fülle an Rechtsprechung des EGMR, welche sich mit der Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK beschäftigt. Diese erweist sich als zunehmend einzelfallorientiert und verschließt sich einer verallgemeinerungsfähigen Systematik, sodass auf eine vollständige Wiedergabe dieser Rechtsprechung verzichtet werden muss und lediglich auf die Rechtsprechung im Hinblick auf den hier gegebenen Kontext eingegangen werden kann. Der Gerichtshof hat i. R. d. Frage der Eröffnung des Anwendungsbereichs nur einige (recht vage) allgemeingültige Prinzipien aufgestellt45 : Er beginnt mit der Feststellung, dass civil rights and civil obligations nicht voraussetzen, dass ausschließlich Privatleute an dem Rechtsstreit beteiligt sind46 . Diese Feststellung ist insofern wichtig, als im Falle von Immunitätsgewährungen nahezu immer staatliche Funktionsträger bzw. die Staaten direkt beteiligt sein dürften und diese Fälle andernfalls nicht unter Art. 6 EMRK zu subsumieren wären. Der EGMR fragt weiterhin nicht nach dem nach nationalem Recht zuständigen Gericht47 , sondern allein nach der Natur des geltend gemachten Rechts. Bei der Frage der Natur des geltend gemachten Rechts stützt sich der Gerichtshof auf die nationale Einschätzung der entsprechenden Gerichte, mit der Einschränkung, dass bei der Einordnung des Rechts als zivil- oder strafrechtlich die Effekte/Wirkungen dieses Rechts mit einbezogen werden können, wenn andere Rechtsordnungen Hinweise geben, dass die nationale Einschätzung des beklagten Staates (ausnahmsweise) nicht von allgemeingültigen Grundsätzen getragen wird48 . Dieses autonome Konzept des EGMR stellt sich allerdings nur als vermeintlich vollständig autonom dar. Der EGMR überlässt die Frage der Rechtsnatur der geltend gemachten Rechte oder Verpflichtungen den nationalen Autoritäten und übergeht mit der autonomen Auslegung der Begriffe im Ergebnis lediglich die nationalen Regelungen der gerichtlichen Zuständigkeit49 . Rückausnahme dieser Feststellung ist – wie dargestellt – das besondere Abstellen auf die Wirkungen der Rechte und Verpflichtungen im Kontext von anderen nationalen Rechtsordnungen, die die nationale Einordnung des Rechts ausnahmsweise aushebeln können50 .
44 So z. B. Van Dijk, Access to Court, a. a. O., S. 351; Harrendorf/König in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 21. 45 Vgl. z. B. EGMR, Benthem, a. a. O., Rn. 34 f. 46 Hierzu auch Kley-Struller, Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, S. 27 ff. 47 Schon die Kommission ging so vor: vgl. Entscheidung der EKMR vom 16. 07. 1971, Ringeisen, Rs. 2614/65; in Fällen mit deutscher Beteiligung waren oft auf nationaler Ebene die Verwaltungsgerichte zuständig und der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK wurde dennoch eröffnet, vgl. auch Urteil des EGMR vom 28. 06. 1978, König vs. Germany, Rs. 6232/73 Rn 90; EKMR, Ringeisen, a. a. O. 48 Vgl. EGMR, Urteil vom 28. 06. 1978, König vs. Germany, Rs. 6232/73, Rn. 89. 49 EGMR, Urteil vom 28. 06. 1978, König vs. Germany, Rs. 6232/73, Rn. 89. 50 A. A.: van Dijk, Access to Court, der von der gegenteiligen Ansicht ausgeht, nämlich dass der EGMR nur augenscheinlich die Einschätzung der nationalen Rechtsordnung mit einbezieht und im Ergebnis nahezu vollständig autonom eine eigene Qualifikation der Rechtsnatur vornimmt. Hierbei verweist er auf die besondere Perspektive des Art. 6 I EMRK, die die Abhängigkeit von der nationalen Einschätzung weiter reduziere.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
Konsequent in Hinsicht auf die zuvor vorgestellte Vorgehensweise und den dynamischen Auslegungsansatz von Art. 6 I EMRK zieht der EGMR auch bei der Auslegung dieser Begriffe die Vorarbeiten zu der Konvention (travaux préparatoires) nicht hinzu51 . 2. Die zivilrechtliche Natur des geltend gemachten Anspruchs Im Zusammenhang mit Immunitätsfällen vor dem EGMR hat die Frage, ob die geltend gemachten Ansprüche zivilrechtlicher Natur sind, weniger Probleme bereitet. Im Fall Al-Adsani52 , der u. a. den Vorwurf auf Folter durch Staatsorgane bzw. den Staat zum Gegenstand hatte, ging der EGMR wie selbstverständlich davon aus, dass jedenfalls die Schadensersatzleistungen, die der Beschwerdeführer forderte, nach englischem Rechtsverständnis zivilrechtlicher Natur waren, was die extensive Auslegung des Art. 6 I EMRK hinsichtlich seines Anwendungsbereichs eindrücklich belegt. Das Vorgehen des EGMR hat hinsichtlich der Unterscheidung zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Immunität zu unterschiedlicher Kritik geführt. So wurde – nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Staatenimmunität auf strafrechtlicher Ebene im Völkerrecht – festgestellt, dass diese Unterscheidung weder im Völkergewohnheitsrecht noch in der aktuellen internationalen Staatenpraxis existiert53 . Hieran schließt sich die Frage an, ob die Differenzierung im Rahmen von Art. 6 EMRK in Bezug auf Staatenimmunitätsfälle überhaupt sinnvoll ist54 , was Yang beispielsweise klar verneint. Richter Rozakis widerspricht dieser Ansicht55 und erkennt in der Unterscheidung eine Notwendigkeit, die sich aus dem Wortlaut des Art. 6 I EMRK direkt ergibt; gleichzeitig räumt er allerdings ein, dass das aktuelle Völkergewohnheitsrecht diese Differenzierung weder für erforderlich hält noch überhaupt kennt. Bei der Auseinandersetzung der verschiedenen Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur fällt auf, dass die Unterscheidung zwischen zivilrechtlichen und sonstigen Rechten ein Problem von eher theorethischer Natur ist. Dennoch ist es gleichsam Ausdruck der widerstreitenden Interessen und des Konflikts zwischen regionalem Menschenrechtsschutz und des hierein wirkenden Völkerrechts. Eine Implementierung des aktuellen Völkerrechtsstandards in die Anwendungspraxis der EMRK ist aufgrund deren unterschiedlicher Konstruktion nicht immer in vollkommen kongruenter Weise möglich. Daher ist dem EGMR in seiner Vorgehensweise zuzustimmen, dass er dieses Konfliktfeld völkerrechtskonform dahingehend löst (oder umgeht), dass er mit kurzer Begründung lediglich den zivilrechtlichen Charakter des geltend gemachten Rechts feststellt, ohne zu tief in die Prüfung strafrechtlich relevanter Punkte der jeweils vorliegenden Beschwerde einzusteigen. 51 Bedauert u. a. von van Dijk, Access to Court, a. a. O., der in diesem Zusammenhang die Entstehungsgeschichte der civil rights and obligations unter Rückgriff auf weitere Menschenrechtspakte skizziert. 52 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 53 Yang, State Immunity in the European Court of Human Rights: reaffirmations and misconceptions, S. 347 ff. m. w. N. 54 Yang, a. a. O. spricht in diesem Zusammenhang von einer eindeutigen Fehlkonstruktion (misconception). 55 Rozakis, The ECHR and the Law of State Immunity, S. 392 f., 395.
II. Eröffnung des Zugangs
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3. Abgrenzung zur strafrechtlichen Anklage Auch der Begriff der strafrechtlichen Anklage wird autonom ausgelegt56 , da die nationalen Rechtsordnungen zu stark variieren und andernfalls kein konsistenter Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK gewährleistet wäre. Der EGMR verfolgt auch hier ein extensives Auslegungskonzept hinsichtlich des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK, wobei wiederum eine mehr substantielle als formale (rein technische) Auslegung favorisiert wird57 . Der Gerichtshof schaut sich die „Realitäten“ der Anklage/des Vorwurfs an58 , sodass selbst vor offizieller Anklage noch von einem strafrechtlichen Sachverhalt ausgegangen werden kann. Gleichzeitig wird noch weniger auf die nationale Rechtsordnung abgestellt als bei der Bestimmung der civil rights and obligations, sodass auch disziplinarrechtliche Streitigkeiten und z. B. Ordnungswidrigkeiten nach deutschem Recht in den Anwendungsbereich des Art. 6 I EMRK fallen59 . Eine Differenzierung zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Immunität kennt das Völkerrecht nicht60 . Gleichzeitig sieht Art. 6 I EMRK diese Differenzierung explizit vor. Seit dem Grundsatzurteil im Fall Golder steht fest, dass das Recht auf Zugang zu Gericht nur auf zivilrechtliche Streitigkeiten Anwendung findet61 . In der Rechtsprechungspraxis des EGMR stellt dieser die zivilrechtliche Natur des jeweiligen Verfahrens dementsprechend auch regelmäßig positiv fest62 . Das Tatbestandsmerkmal der strafrechtlichen Anklage des Art. 6 I EMRK hat im Rahmen von Immunitätsfällen vor dem EGMR keine eigenständige Prüfungsrelevanz erfahren; auch ist der Begründungsaufwand, den der EGMR betreibt um die zivilrechtliche Natur des Anspruchs zu belegen, eher gering. Es wird lediglich zwischen der zivilrechtlichen Natur der gegenüber Staaten geltend gemachten Ansprüche und der strafrechtlichen Verantwortung Einzelner und deren ggf. bestehender Immunität abgegrenzt. Anders formuliert erkennt der EGMR die einzige Relevanz dieses Merkmals in Fällen von Immunität Einzelner, welche (v. a.) dem Foltervorwurf ausgesetzt sind:
56 EGMR, Urteil vom 27. 6. 1968, Neumeister vs. Austria, Rs. 1936/63, bestätigt in EGMR, Urteil vom 26. 3. 1982, Adolf vs. Austria, Rs. 8269/78. 57 EGMR, Urteil vom 9. 10. 1979, Airey vs. Ireland, Rs. 6289/73 und EGMR, Urteil vom 27. 2. 1980, Deweer vs. Belgium, Rs. 6903/75; die Definition im Urteil des EGMR vom 15. 7. 1982, Eckle vs. Germany, Rs. 8130/78: „the official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence“ (Rn. 73) wurde bereits im Urteil des EGMR vom 10. 12. 1982, Foti vs. Italy, Rs. 7604/76, wieder aufgegeben, bzw. nicht weiter verfolgt. Die Anklage war dann nicht mehr abhängig von einem offiziellen Akt. 58 EGMR, Urteil vom 27. 2. 1980, Deweer vs. Belgium, Rs. 6903/75, Rn. 33: „The Court is compelled to look behind the appearances and investigate the realities of the procedure at question.“ 59 So z. B. EGMR, Urteil vom 16. 7. 2009, B. vs. Germany, Rs. 8453/04. 60 Yang, State Immunity in the European Court of Human Rights: Reaffirmations and misconceptions, S. 347 ff. m. w. N. 61 EGMR Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 36: „Article 6 para. 1 secures to everyone the right to have any claim relating to his civil rights and obligations brought before a court.“ 62 So z. B. im Fall Al-Adsani, in dem der EGMR trotz des Foltervorwurfs gegen Kuwait und der einhergehenden Verletzung der positiven Verpflichtung Großbritanniens, britische Staatsbürger hiervor zu bewahren, lediglich auf den zivilrechtlichen Charakter der Schadensersatzforderung des Beschwerdeführer abstellte und somit das Konfliktfeld „strafrechtliche“ Anklage umging, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
„[the Court] observes that the present case concerns not, as in Furundzija and Pinochet, the criminal liability of an individual for alleged acts of torture, but the immunity of a State in a civil suit for damages in respect of acts of torture within the territory of that State“63 .
und grenzt hierzu ab. 4. Das Vorliegen einer Streitigkeit (contestation) Gemäß Art. 6 I EMRK müssen ein Anspruch oder eine Verpflichtung in Streit stehen (contestation/Streitigkeiten). Der Gerichtshof, welcher diesbezüglich wiederum nur recht vage allgemeine Voraussetzungen formuliert hat, verlangt, dass der Begriff nicht all zu technisch verstanden wird. Er will damit nicht von einem rein formalen Verständnis des Begriffs der Streitigkeiten ausgehen, sondern ihn mit Substanz unterfüttern64 . Im Urteil Ringeisen konkretisiert er: „the . . .expression (. . .) disputes over civil rights and obligations covers all proceedings the result of which is decisive for [such] rights and obligations“65 .
Das Ergebnis ist eine recht extensive Auslegung des Begriffs contestation.
III. Immunität als (inhärente) Schranke des Rechts auf Zugang zu Gericht Durch die Bejahung eines Zugangs zu Gericht erweiterte sich der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK um den der Fälle mit Bezug zu völkerrechtlichen Immunitäten. Schon während der Begründung des Rechts auf Zugang zu Gericht wurden mögliche Immunitätskonstellationen und hiermit einhergehende inhärente Schranken des Rechts auf Zugang zu Gericht diskutiert66 . Der EGMR betont seit jeher, dass ein Recht auf Zugang zu Gericht nicht schrankenlos gewährt werden könne und im Rahmen der vom Gerichtshof selbst definierten Schranken auch die Immunitäten Berücksichtigung finden müssen67 . Art. 6 EMRK zählt nach seinem Wortlaut und nach Systematik der EMRK grundsätzlich zu den nicht beschränkbaren Rechten. Allerdings macht der EGMR für das Recht auf Zugang zu Gericht hiervon eine Ausnahme, indem er sog. implizite Beschränkungen zulässt: Mit der Begründung des Rechts auf Zugang zu Gericht hat der EGMR in dem Urteil Golder bereits klar gestellt, dass dieses Recht nicht absolut gewährt werden könne68 . Bei der Bestimmung der inhärenten Schranken des Rechts auf Zugang zu Gericht begegnet dem EGMR dieselbe Schwierigkeit wie bei der Begründung dieses Rechts. Weder der Wortlaut der Konvention noch die Entstehungsgeschichte können direkt herangezogen
63
Al-Adsani, a. a. O., Rn. 61. EGMR, Urteil vom 23. 10. 1985, Benthem vs. Netherlands, Rs. 8848/80, Rn. 32, m. w. N. aus der Rechtsprechung. 65 EGMR, Urteil vom 16. 7. 1971, Ringeisen vs. Austria, Rs. 2614/65, Rn. 94. 66 Ein Hinweis hierauf findet sich in EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, dissenting opinion des Richters Sir Fitzmaurice, S. 41, Fußnote 17. 67 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 38. 68 Golder, a. a. O., Rn. 37 spricht von „legitimate limitations permitted by implication“. 64
III. Immunität als (inhärente) Schranke
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werden. Vielmehr müssen die Schranken eines in Art. 6 I EMRK „verbrieften“ Rechts aus diesem heraus selbst entwickelt werden69 . Bei der Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht genießen die Staaten einen großen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation), welcher vom EGMR nur eingeschränkt überprüft wird: Die Konventionsorgane haben einen Prüfungs-Dreiklang entwickelt, nach dem es den Staaten vorbehalten ist, in das Recht auf Zugang zu Gericht einzugreifen, wenn sie bei der Einschränkung des Rechts ein legitimes Ziel verfolgen, sich der Eingriff als verhältnismäßig darstellt und der Wesensgehalt (the very essence) des Rechts auf Zugang zu Gericht nicht angegriffen wird. Im Urteil Ashingdane70 heißt es hierzu (mit Bezug auf die vorangegangenen Urteile Golder71 und Belgischer Sprachenfall72 ): The right of access to the courts is not absolute but may be subject to limitations; (. . .) [T]he limitations applied or reduce the access left to the individual in such a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired (. . .). Furthermore, a limitation will not be compatible with Article 6 para. 1 (. . .) if it does not pursue a legitimate aim and if there is not a reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be achieved.73 .
Diese Dogmatik ist der Straßburger Rechtsprechung nicht fremd. So verlangen die Freiheits-Menschenrechte nach Art. 8–11 EMRK, sowie Art. 1 ZP 1 (Recht auf Eigentum) ähnliche Rechtfertigungselemente wie die des legitimen Ziels und der Verhältnismäßigkeit im Falle ihrer Einschränkung. Auch die Wesensgehaltsgarantie ist fester Bestandteil der EGMR-Rechtsprechung in anderen Bereichen, so etwa i. R. d. Art. 12 EMRK74 . In Bezug auf die Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht durch die Gewährung von Immunitäten als Eingriff in „inherent rights“ des Art. 6 I EMRK haben diese Rechtfertigungselemente allerdings eine neue Bedeutung erlangt. 1. Legitimes Ziel a) Grundsatz Die völkerrechtliche Verpflichtung der Staaten zur Beachtung von Immunitäten wird vom EGMR grundsätzlich als legitimes Ziel zum Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht angesehen75 . Hierbei unterscheidet der EGMR zwischen den verschiedenen Immunitätsträgern: Das Ziel der Gewährung von Staatenimmunität ist die „Beachtung des
69 Zur Frage der „implied/inherent limitations“ vgl. auch Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, p. 80. 70 Urteil des EGMR vom 28. 05. 1985, Ashingdane vs. United Kingdom, Rs. 8225/78. 71 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70. 72 EGMR, Urteil vom 9. 2. 1967, Case relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium vs. Belgium, Rs. 1474/62 und andere. 73 Urteil des EGMR vom 28. 05. 1985, Ashingdane vs. United Kingdom, Rs. 8225/78, Rn. 57. 74 Urteil des EGMR vom 24. 10. 1979, Winterwerp vs. Niederlande, Rs. 6301/73, Rn. 60. 75 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 54; Urteil des EGMR vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, Rn. 35; EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 34.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
Völkerrechts zum Zwecke der Förderung der guten Beziehungen und des höflichen Umgangs zwischen den Staaten durch Achtung der Souveränität anderer Staaten“76 . In den Immunitätsfällen hat der EGMR selten ein Problem in der Bejahung eines legitimen Ziels gesehen. Dies allerdings nicht allein aus dem Grund, dass im Rahmen dieses Merkmals wenig Probleme begründet liegen, sondern vielmehr, weil der EGMR die Prüfung im Schwerpunkt in die Verhältnismäßigkeit verlagert hat. So hat er in dem Fall Wos vs. Polen77 z. B. das Vorliegen eines legitimen Ziels gar vermutet. Grund ist neben der Tatsache, dass sich der EGMR mittels der Prüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wohl sachgerechtere Ergebnisse verspricht, die Tatsache, dass der EGMR es seit jeher als selbstverständlich ansieht, dass die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen der Staaten bei der Auslegung und Interpretation der EMRK beachtet und respektiert werden müssen78 . Dies gilt erst recht für die völkerrechtliche Verpflichtung der Gewährung von Immunität, welche als Grundlage der Souveränität der Staaten völkergewohnheitsrechtlich auf eine lange Tradition zurückgreifen kann79 . b) Ausführliche Prüfung des legitimen Ziels in Prince Hans-Adam II of Liechtenstein Es gibt, wenn auch vereinzelt, Fälle, in denen das Vorliegen eines legitimen Ziels ausführlich und dezidiert geprüft wird. Ein Beispiel ist der Fall Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany80 , in dem Prince Hans-Adam II of Liechtenstein die Eigentumsverhältnisse an einem Gemälde (Szene an einem römischen Kalkofen von Pieter van Laer) klären lassen wollte, welches im zweiten Weltkrieg auf (damaligem) Gebiet der Tschechoslowakei enteignet/konfisziert wurde und ursprünglich seinem Vater gehörte. Die deutschen Gerichte81 beriefen sich (u. a.) auf den Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 23. 10. 1954, der die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit in solchen Fragen ausschloss. Die Klage wurde (höchstinstanzlich bestätigt) als unzulässig abgewiesen. Hierauf wandte sich der Beschwerdeführer unter Art. 6 I EMRK an den EGMR. Der EGMR stellte unproblematisch einen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK fest und prüfte sodann im Rahmen der Rechtfertigung das Vorliegen eines legitimen Ziels. Deutschland berief sich nicht auf völkergewohnheitsrechtliche 76 Z. B. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 34. Das Ziel der Immunität von Internationalen Organisation besteht demgegenüber im „Schutz gegen Eingriffe einzelner Regierungen“, so z. B. EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999, Waite/Kennedy, Rs. 36083/94, NJW 1999, 1173 ff., sodass die Internationalen Organisationen unbehelligt und ohne politische Intervention der Regierungen ihrem Organisationszweck nachgehen kann. 77 EGMR Urteil vom 08. 06. 2006, Rs. 22860/02, Rn. 101 ff. 78 So in EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 35, das bereits Art. 31 III lit. c WVK heranzieht. Hier führt der EGMR aus, dass neben den Kontext der EMRK auch „alle einschlägigen Regeln des Völkerrechts, die in den Beziehungen zwischen den Parteien anwendbar sind, zu beachten sind“. 79 Hierzu im Einzelnen Kap. B. 80 Urteil des EGMR vom 12. 07. 2001, Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98. 81 Diese waren (zunächst) zuständig, da sich das Gemälde zwecks eine Ausstellung in Köln befand, als der Beschwerdeführer Eigentum geltend machte.
III. Immunität als (inhärente) Schranke
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Staatenimmunität, sondern auf den aus dem Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen resultierenden Ausschluss der Zuständigkeit deutscher Gerichte in solchen Fragen. Der EGMR untersuchte ausführlich die Beweggründe Deutschlands für den Abschluss dieses Vertrages und kam zu dem (interessanten) Ergebnis, dass sich Deutschland zu dieser Zeit mangels staatlicher Souveränität nicht in der Position befand, inhaltlichen Einfluss auf die in diesem Vertrag niedergelegten Regelungen zu üben82 . Diese Aussage traf nach Ansicht des EGMR auch auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Zwei-Plus-Vier-Vertrages zu, bei dem (u. a.) die Geltung des Vertrags zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen teilweise außer Kraft gesetzt wurde, der einschlägige Ausschluss deutscher Gerichtsbarkeit in solchen Fällen aber Bestand hatte. Ziel (des nunmehr wiedervereinigten) Deutschlands war es, die staatliche Souveränität in vollem Umfang wiederzuerlangen, was der EGMR nach ausführlicher Diskussion der historischen Gegebenheiten und einschlägigen völkerrechtlichen Abkommen als legitimes Ziel erachtete. Der streitgegenständliche Ausschluss deutscher Gerichtsbarkeit war ein besonderer83 . Er basiert nicht originär auf völkergewohnheitsrechtlich anerkannter Immunität, sondern auf Vertrag. Die Diskussion des EGMR im Rahmen des legitimen Ziels zeigt jedoch, dass eine ausführliche Befassung dann stattfindet, wenn die Umstände der Immunitätsgewährung sich nicht aus sich selbst heraus (res ipsa) ergeben84 . Die Bejahung eines legitimen Ziels stellt demnach regelmäßig kein Problem dar. 2. Der Wesensgehalt – the very essence of the right of access to court Der EGMR verlangt seit jeher, dass bei einem Eingriff in ein durch die EMRK schrankenlos geschütztes Recht in den Wesensgehalt dieses Rechts bzw. in the very essence of the right nicht eingegriffen wird. Im Urteil Winterwerp heißt es hierzu: [Mental illness] may entail restricting or modifying the manner of exercise of such a right [gemeint ist das Recht auf Zugang zu Gericht] (. . .) but it cannot justify impairing the very essence of the right85 .
In anderen Urteilen verwendet der EGMR den Begriff substance of the right86 . Der Wesensgehalt betrifft also die Substanz oder den Kern eines Rechts. Bei der Bestimmung der Wesentlichkeitsgrenze bestehen Wertungs- und Interpretationsspielräume, die der EGMR in unterschiedlicher Weise ausfüllt. Die Terminologie des Wesensgehalts eines Rechts ist aus der deutschen Rechtswissenschaft, insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, be-
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EGMR, a. a. O., Rn. 56. Urteil des EGMR vom 12. 07. 2001, Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98, Concurring Opinion of Judge Costa: It has to be admitted that this type of immunity is infrequent. 84 Zustimmend: Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States, S. 94. 85 Urteil des EGMR vom 24. 10. 1979, Winterwerp vs. Niederlande, Rs. 6301/73, Rn. 60. 86 Letsas, Strasbourg’s Interpretive Ethic: Lessons for the International Lawyer, S. 519. 83
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
kannt87 . Sie ist jedoch streng von der der „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des EuGH88 und der Dogmatik des EGMR im Hinblick auf the very essence of a right zu unterscheiden. Auf der Ebene des regionalen, europäischen Menschenrechtsschutzes durch den EGMR hat sie eine eigenständige Bedeutung gewonnen89 und sich im Laufe der Rechtsprechung zu einem von der nationalen/internationalen Rechtsordnung unabhängigen Institut entwickelt. Anwendung findet die Wesensgehaltslehre des EGMR vor allem auf schrankenlos gewährte Menschenrechten90 . Dies liegt darin begründet, dass die Staaten bei schrankenlos, oft implizit gewährten Rechten die Schranken im Hinblick auf den (nicht einschränkbaren) Bestand der jeweiligen Rechtsregel nicht vorab definieren konnten, während Grundrechte mit vorab definierten Schranken im Hinblick auf Rechtsanwendung und ihre nicht einschränkbaren Regelungssubstanz durch die zuvor definierten Schranken bereits abgesichert sind. Werden also unzulässig Schranken kreiert, so liegt immer eine Wesensgehaltsverletzung vor. Wird eine Schranke nur unverhältnismäßig angewandt, so muss keine Wesensgehaltsbeeinträchtigung vorliegen, außer das Recht wird in seinem abstrakten Regelungsgehalt angegriffen bzw. „denaturiert“91 . a) Abgrenzung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung Bis heute besteht in der Abgrenzung der Prüfung des Wesensgehalts zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit große Unsicherheit. Die Prüfung wird oft wenig differenziert durchgeführt und die graduellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Prüfungsschritten sind kaum erkennbar bzw. verschwimmen. Der Begriff des Wesensgehalts eines Rechts wird vom EGMR weder definiert noch inhaltlich ausgefüllt, sodass einige Autoren es gar als „rhetorisches Rankenwerk in der Argumentation“ ohne eigene Bedeutung qualifizieren92 .
87 Zur Übersicht: Remmert in Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 66. Ergänzungslieferung, Art. 19 Abs. 2 GG, Rn. 36 ff. 88 In sich bereits wenig konsistent, vgl. Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 290 AEUV, Rn. 36–42. 89 An der sich der EuGH auf Grund der engen Verknüpfung mit den Gemeinschaftsgrundrechten zwar orientierte, sie aber nicht kopierte, vgl. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 298. 90 Klein, Der Schutz der Grund- und Menschenrechte durch den EGMR, Rn. 26. 91 Klein, a. a. O.: Der Wesensgehalt will die abstrakte Rechtsregel als solche bewahren, während sich die Schranken auf die Rechtsanwendung beziehen. Hieraus folgt, dass eine „[u]nverhältnismäßige Schrankenkreation (. . .) somit stets [eine] Wesensgehaltsverletzung [darstellt], [eine] unverhältnismäßige Schrankenanwendung (. . .) bloße Zweck-Mittel-Verfehlung sein [kann], aber auch den Wesensgehalt des Rechts verletzen, wenn dem Recht, wie es in einer demokratischen Gesellschaft zu denken ist, dadurch jede Praktikabilität genommen wird, es zu einer illusorischen Garantie denaturiert“. 92 So: Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten, S. 385; vgl. zur Unschärfe des Begriffs ausführlich und mit Beispielen aus der Rechtsprechung des EGMR: Arai-Takahashi, The Margin of Appreciation Doctrine and the principle of Proportionality in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights, S. 38; Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten, S. 394.
III. Immunität als (inhärente) Schranke
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Hinzu kommt, dass der EGMR unscharf formuliert, wenn er bspw. die Beeinträchtigung des Wesensgehalts mit der Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs begründet93 . Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Maßnahme derart unverhältnismäßig ist, dass der Wesensgehalt, also die Substanz des Rechts auf Zugang zu Gericht angegriffen wird. Dies wäre allerdings auch in dieser Genauigkeit zu formulieren. b) Eigenständige Bedeutung des Wesensgehalts? Beruft sich ein Immunitätsträger auf seine Immunität, so wird die Möglichkeit eines Beschwerdeführers auf Zugang zu einem Gericht nicht nur in seinem „Wesensgehalt“, sondern auf den ersten Blick sogar vollständig ausgeschlossen, für den Beschwerdeführer mithin wertlos, „illusorisch und theoretisch“94 . Richter Loucaides hat in allen drei (Grundsatz-)Entscheidungen des EGMR, die das Verhältnis zwischen Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität zum Inhalt hatten, abweichende Sondervoten verfasst95 . Zusammengefasst stellt er fest, dass der Wesensgehalt des Art. 6 I EMRK immer dann verletzt ist, wenn die Berufung auf Immunität durch die verschiedenen Akteure eine Befassung mit der Rechtssache vor nationalen Gerichten vollständig verhindert werde. Dieser Ansicht stimmt Kloth zu und verlangt, dass das Kriterium des Wesensgehalts von Art. 6 I EMRK in Immunitätsfällen nicht zur Anwendung kommen dürfe96 . Als Bestätigung seiner These stellt er fest, dass der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht nur in drei Urteilen des EGMR überhaupt diskutiert wurde, in denen die Beschwerdeführer eine andere Stelle zuvor hätten anrufen können, um ihren Fall zu verhandeln, während die restlichen Entscheidungen in Immunitätsfällen hierzu keine Prüfung enthielten. Den Grund hierfür macht er in der „all or nothing“-Situation aus, die dem EGMR keine Wahl ließe. Im Ergebnis sei demnach das Kriterium des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht nur dann nicht betroffen, wenn der Beschwerdeführer eine andere Instanz hätte anrufen können, bevor er seine Beschwerde beim EGMR einreicht97 . Maunz hielt die Wesensgehaltsgarantie im Bereich von immanenten Schranken seit jeher für gegenstandslos, da er einen Widerspruch zwischen der Annahme von immanenten Schranken und der gleichzeitig bestehenden Gefahr der vollkommnen Aushöhlung eines Grundrechts ausmachte98 .
93 Urteil des EGMR vom 12. 07. 2001, Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98. 94 So Richter Costa im Urteil des EGMR vom 12. 7. 2001, Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98, Rn. 69, und ähnlich: Richter Loucaides im Urteil des EGMR vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, diss. op. Judge Loucaides. 95 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, diss. op. Judge Loucaides; EGMR Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, diss. op. Judge Loucaides; EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, diss. op. Judge Loucaides. 96 Kloth, Immunities and the Right to Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 18 f. 97 Kloth, a. a. O., S. 18 f. m. w. N. zu den entsprechenden Urteilen. 98 Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 2 GG Rn. 27, Auflage von 1977, zit. nach Eckart Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten, S. 392, in der aktuellen Auflage des Maunz/Dürig, Art. 19 I GG, Rn. 29 ff. wird kein Unterschied mehr zwischen einschränkbaren und vorbehaltlos gewährten Grundrechten gemacht.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
Erwähnenswert ist weiterhin der Ansatz von Klein, welcher nach Analyse der einschlägigen Rechtsprechung die These aufstellt, dass der Wesensgehalt vom EGMR als Instrument benutzt werde, um „die Berufung der Staaten auf (. . .) implizite Schranken unter Kontrolle zu halten“99 , was eine funktionelle Dimension der Wesensgehaltslehre bedeutete. In der hierzu einschlägigen deutschsprachigen Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass der EGMR bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit erhebliche Anleihen an der in Deutschland gängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung genommen hat und dass ihm jedoch gleichzeitig im Hinblick auf die Wesensgehaltsprüfung eine klar erkennbare Konzeption fehle100 . Nach nationalem (deutschen) Verständnis wird bei dem Wesensgehalt eines Grundrechts zwischen einem absoluten Schutzbegriff (Schranken-Schranke) vor staatlichen Eingriffen und einem relativen Schutzbegriff, welcher erst im Rahmen einer einzelfallgerechten Abwägung der widerstreitenden Interessen Bedeutung erlangt, unterschieden. Das Bundesverfassungsgericht vertritt beide Sichtweisen101 . c) Die strukturelle Dimension des Wesensgehaltskriteriums Das Recht auf Zugang zu Gericht ist ein in Art. 6 I EMRK verbrieftes, jedoch nicht explizit genanntes Recht, sodass auch die Schranken dieses Rechts dem Konventionstext nicht unmittelbar entnommen werden können. Damit stellt sich das Problem, den „Wesensgehalt“ eines Rechts zu bestimmen und dessen Grenzen zu ziehen, ohne hierfür einen verbindlichen Text zur Auslegung zur Verfügung zu haben. Gleichzeitig drängt sich der Verdacht auf, dass, sollten sich bei einem Aufeinandertreffen des Rechts auf Zugang zu Gericht mit völkerrechtlichen Immunitäten letztere durchsetzen, das Recht auf Zugang zu Gericht nicht nur im Wesensgehalt, sondern vollständig verwehrt wird. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu den Immunitätsfällen lässt sich feststellen, dass der EGMR, wenn überhaupt, einem relativen Verständnis dieses Wesensgehaltskriteriums folgt. Die Wesensgehaltsprüfung des EGMR stellt keine SchrankenSchranke i. S. d. Art. 19 II GG dar. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die EMRK im Gegensatz zu der deutschen Verfassung keine Reaktion/Verarbeitung auf die schweren Menschenrechtsverletzungen während der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, sondern ein (regional bedeutsames) völkerrechtliches Instrument des Menschenrechtsschutzes darstellt. Die Verarbeitung von Menschenrechtsaushöhlungen, so wie sie im Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben, war nicht (primäres) Kodifikationsziel der EMRK102 , sodass kein Schutzschild gegen den Staat aufgebaut werden sollte, das einen substantiellen Restgehalt eines jeden Menschenrechts im Falle seiner Einschränkung (explizit) verlangt.
99 Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 393. 100 So: Remmert in Mauz/Dürig, Art. 19 Abs. 2 GG, Rn. 14 a. E.; Grabenwarter/Marauhn in Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar, Kap. 7, Rn. 43. 101 Remmert in Maunz/Dürig, a. a. O. 102 Grabenwarter/Marauhn in Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar, Kap. 7, Rn. 56.
III. Immunität als (inhärente) Schranke
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Andererseits spielt die Wesensgehaltsgarantie im Rahmen der Rechtsprechung des EGMR zu Gerichtszugang und Immunitäten durchaus eine Rolle und ist nicht „gegenstandslos“103 . Belege hierfür finden sich zuvörderst in der Tatsache, dass der EGMR in jedem hier relevanten Fall an prominenter Stelle wiederholt, dass die Wesensgehaltsgarantie im Rahmen der Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht wegen der Berufung auf Immunität Beachtung finden müsse. Hierbei nennt er dieses Kriterium zuerst, bevor er in einem Nachsatz die Bedingungen eines legitimen Ziels und der Verhältnismäßigkeit aufstellt, was auf dessen besondere Bedeutung hinweist104 . Diese Aussage muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass tatsächlich die Verhältnismäßigkeits- und die Wesensgehaltsprüfung oft miteinander einhergehen und die Prüfdichte des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht insgesamt sehr gering ist. Dass die Prüfung des Wesensgehaltskriteriums sich nicht in der formelhaften Wiederholung der entsprechenden Formulierungen des EGMR erschöpft, zeigt zunächst die Concurring Opinion des Richters Ress im Fall Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany105 . Ress gibt hier einen ersten Hinweis, wann der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht betroffen ist, wenn er ausführt, dass durch den Ausschluss der deutschen Gerichtsbarkeit eine strukturelle Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht des Beschwerdeführers bestehe106 . Ist demnach der Eingriff/die Maßnahme, die das Recht auf Zugang zu Gericht beeinträchtigt, struktureller Natur, so ist der Wesensgehalt dieses Rechts betroffen. Aufschluss, wann die strukturelle Dimension des Wesensgehalts des Rechts auf Gerichtszugang konkret betroffen ist, geben die beiden (nicht im Zusammenhang mit der Staatenimmunität ergangenen) Urteile Berger vs. Frankreich107 sowie Levages Prestations Services vs. Frankreich108 , in dem der Wesensgehalt des Gerichtszugangs ausführlich geprüft und konkretisiert wird. Der Gerichtshof stellt darauf ab, ob die Möglichkeit der Inanspruchnahme (weiterer) nationaler Instanzen im konkreten Fall nicht nur möglich, sondern für den Beschwerdeführer auch erkennbar und vorhersehbar war (foreseeable). Gab es diese Möglichkeit nur theoretisch bzw. war diese für den Beschwerdeführer nicht erkennbar, so ist nach Systematik des EGMR bereits der Wesensgehalt des Rechts auf Gerichtszugang verletzt und somit der Eingriff nicht verhältnismäßig109 . „In order to satisfy itself that the very essence of the applicant’s ‚right to a court‘ was not impaired (. . .), the Court will firstly examine whether the procedure to be followed for an appeal to the Court 103 So aber: Kloth, Immunities and the Right to Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 18 f. 104 Beispiel: „However, these limitations must not restrict or reduce a person’s access in such a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired; lastly, such limitations will not be compatible with Article 6 § 1 if they do not pursue a legitimate aim or if there is not a reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be achieved“, Urteil des EGMR vom 21. 05. 2003, Berger vs. France, Az. 48221/99, S. 6, Rn. 30. 105 Urteil des EGMR vom 12. 07. 2001, Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98, concurring opinion des Richters Ress. 106 „(. . .) this exclusion of German jurisdiction impaired the very essence of the applicant’s right of access to a court and could not be measured according to the principle of proportionality. It is a structural limitation on the right of access to a court under Article 6 § 1.“ 107 EGMR, Urteil vom 3. 12. 2002, Berger vs. France, Rs. 48221/99. 108 EGMR, Urteil vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Rs. 21920/93. 109 EGMR Urteil vom 21. 05. 2003, Berger vs. France, Az. 48221/99, Urteil EGMR vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Az. 21920/93.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
of Cassation could be regarded as foreseeable from the point of view of a litigant and whether, accordingly, the penalty for failing to follow that procedure did not infringe the proportionality principle“110 .
Umgekehrt gilt, dass der EGMR, wenn er feststellt, dass sich ein Eingriff als (noch) verhältnismäßig darstellt, auch der Wesensgehalt des Rechts nicht verletzt wurde111 . Somit lässt sich hinsichtlich der Konnexität von Verhältnismäßigkeit und Wesensgehaltsgarantie des Rechts auf Zugang zu Gericht feststellen, dass die Verletzung des Wesensgehalts, gleich einer hinreichenden Bedingung, eine Verletzung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs impliziert, so dass sich deren Prüfung aus Sicht des EGMR in solchen Fällen erübrigt. Weiterhin folgt aus der Feststellung des Nichtvorliegens einer Verletzung der Verhältnismäßigkeit notwendig auch die Verneinung einer Verletzung des Wesensgehaltskriteriums. Es sind jedoch Fälle denkbar, in denen der Eingriff sich als nicht mehr verhältnismäßig darstellt, die Wesensgehaltsgarantie jedoch trotzdem nicht verletzt (und damit auch nicht explizit geprüft) wurde112 , da dem Beschwerdeführer keinerlei ihm erkennbare nationale Instanzen (mehr) zur Verfügungen standen. Hierunter fallen nahezu alle Immunitätsfälle: Wurde der Gerichtszugang wegen eingewandter Immunitäten versagt, so verletzt dies nicht per se den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht. Dieser wäre nach der zuvor dargestellten Rechtsprechung des EGMR nur verletzt, wenn es eine Möglichkeit der Inanspruchnahme nationalen Rechtsschutzes (ggf. auch gegen die Immunitätsgewährung) gegeben hätte und der Beschwerdeführer dies nicht hat erkennen können. Folgerichtig setzt der EGMR in der Prüfung der Immunitätsfälle seinen Schwerpunkt auf die Verhältnismäßigkeit, da ihm hier die Überprüfung des Immunitätseinwandes nach völkerrechtlichem Standard nahezu uneingeschränkt gestattet ist. Allein in den Fällen, in denen entgegen des Vortrags der Beschwerdeführer eine nationale Instanz zur Verfügung gestanden hätte, so in den Fällen Waite and Kennedy113 , Prince Hans-Adam II von Liechtenstein114 und Beer and Regan115 , musste (nach der Prüfungssystematik des EGMR wohl zwingend) auch die Wesensgehaltsgarantie untersucht werden, um festzustellen, dass den Beschwerdeführer diese Rechtsschutzmöglichkeiten als solche auch erkennbar zur Verfügung standen, nicht nur theoretisch und illusorisch. 3. Verhältnismäßigkeit Der EGMR prüft neben dem Wesensgehalt und dem Vorliegen eines legitimen Ziels in ständiger Rechtsprechung, ob die angewandten Mittel der Beschränkung des durch 110
EGMR, Urteil vom 3. 12. 2002, Berger vs. France, Rs. 48221/99, Rn. 32. Kloth sieht nur diese eine Richtung, vgl. Immunities and Access to Court, S. 18, was der Prüfungssystematik des EGMR nicht vollständig entspricht. 112 Für diese Unterscheidung spricht z. B. die Formulierung im Urteil des EGMR vom 29. 06. 2011, Sabeh El Leil, Rs. 34869/05, Rn. 67 a. E.: „. . .the French courts failed to preserve a reasonable relationship of proportionality. They thus impaired the very essence of the applicant’s right of access to a court.“; „thus“ in diesem Zusammenhang übersetzt mit „in der Folge“ und weniger mit „folglich“; der EGMR sah sich hier veranlasst, neben der Bejahung der Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs auch die Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht zu bejahen. 113 EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Waite and Kennedy vs. Germany, Rs. 26083/943. 114 EGMR, Urteil vom 12. 7. 2001, Prince Adam II od Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98. 115 EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Beer and Regan, Rs. 28934/95. 111
III. Immunität als (inhärente) Schranke
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die Konvention gewährten Rechts in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen116 . Unter der Überschrift Verhältnismäßigkeit nimmt der EGMR in den Immunitätsfällen allerdings keine gewohnte Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher widerstreitender Interessen der Betroffenen vor, sondern geht vielmehr auf dessen Verpflichtung ein, die EMRK im Lichte und in Übereinstimmung des restlichen Völkerrechts auszulegen: „The Convention should so far as possible be interpreted in harmony with other rules of international law of which it forms part, including those relating to grant State Immunity“ . . . „It follows that measures taken by a High Contracting Party which reflect generally recognised rules of public international law on State immunity cannot in principle be regarded as imposing a disproportionate restriction on the right of access to a court as embodied in Article 6 § 1“117 .
Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt der EGMR fest, dass es die Konvention (i. V. m. Art. 31 III lit. c WVK118 ) verlange, in Übereinstimmung mit anderen Regeln des Völkerrechts ausgelegt zu werden, dessen integralen Bestandteil sie bildet. Anders formuliert kann nach Ansicht des EGMR eine Maßnahme einer Vertragspartei, die Ausdruck der allgemein anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien der Staatenimmunität ist, nicht als unverhältnismäßige Beschränkung des Zugangs zu Gericht aus Art. 6 I EMRK qualifiziert werden119 . Hieraus folgt, dass der EGMR, sieht er die Voraussetzungen der jeweiligen Immunität nach Prüfung des einschlägigen Völkerrechts als gegeben an, automatisch („in principle“) davon ausgeht, dass diese eine verhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht darstellen. Eine Abwägung findet faktisch nicht statt. Hinsichtlich der Frage, ob durch die Gewährung von Immunität geltendem Völkerrecht entsprochen wurde, hatte der EGMR zwei Möglichkeiten: Er hätte zunächst auf die Prüfung sämtlichen Völkerrechts verzichten und den Staaten hinsichtlich der Beurteilung, ob die Gewährung von Immunität völkerrechtlich gerechtfertigt war, einen weiten Ermessensspielraum einräumen können. Hiergegen positioniert sich im Fall Al-Adsani vor allem die dissenting opinion des Richters Loucaides120 , der den Staaten hinsichtlich der geltenden Rechtslage keinen Ermessensspielraum einräumen will – getreu dem Grundsatz iura novit curia121 . Im Ergebnis würde damit eine reine Vertretbarkeitskontrolle durchgeführt ohne gerichtliche Überprüfung der rechtlichen Einschätzung der Staaten. Die weitere Möglichkeit ist die genaue Untersuchung der Staatenpraxis/des status quo im Völkerrecht, wozu der EGMR in seiner Rechtsprechung zurückgreift. Für die Beantwortung der Frage, ob die Maßnahme des Vertragsstaates völkerrechtskonform war, zieht der Gerichtshof verschiedene „Materialien/Unterlagen“ zu Rate, so-
116
Urteil des EGMR vom 21. 9. 1990, Fayed vs. UK, Rn. 65. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 100. 118 Hierzu ausführlich in Kap. D. V. 3. 119 Bspw. Urteil des EGMR Fogarty, Rn. 36–39. 120 Vgl. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Diss. Op., Judge Loucaides. 121 Das Gericht kennt das Recht, hierzu: Shelton, Jura Novit Curia in International Human Rights Tribunals, S. 189 ff. 117
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
wie einschlägige nationale Gesetzestexte122 . Diese Materialien werden in den oben zitierten Fällen vom EGMR jedoch nicht eigenständig und fallbezogen gewürdigt123 . Der EGMR fragt in diesem Zusammenhang vielmehr, ob – trotz gewisser „Tendenzen“ im Völkerrecht („trends“), die zumeist für die Position des Beschwerdeführer sprechen – die Rechtsauffassung der jeweiligen Vertragsstaaten den Einschätzungsspielraum nicht überschreitet, der den Staaten im Rahmen der Beschränkung des Rechts des Einzelnen auf Zugang zu Gericht zusteht und (noch) mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität vereinbar ist. Unabhängig vom Beschwerdegegenstand der einzelnen Beschwerden ist die Methodik des EGMR bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung des Zugangs zu Gericht identisch, oftmals auch wortgleich124 . Gewisse „Tendenzen“ im Völkerrecht, die ggf. für eine Gewährung des Rechts auf Zugang zu Gericht des Beschwerdeführers sprechen würden, überprüft der EGMR hierbei auf eine gefestigte Übung innerhalb der Mitgliedstaaten. Hierbei wird die von den Staaten geltend gemachte Einschätzungsprärogative besonders berücksichtigt (margin of appreciation oder auch margin of tolerance125 ). Die Vorgehensweise des EGMR ist im Ergebnis konsequent. Erachtet er die EMRK als integralen Bestandteil des Völkerrechts, so ist letzteres bei der Auslegung der EMRK auch zwingend zu beachten. Hiermit steht der EGMR jedoch vor dem Problem, das zum Zeitpunkt der Entscheidung aktuell gültige Völkerrecht zu bestimmen, wobei er nur bedingt auf die Rechtsprechung des IGH zurückgreifen kann, die ebenfalls einzelfallabhängig ergeht. In der Folge gerät die Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dieser Rechtsfrage daher zu weit. Weiterhin zieht sich der EGMR mit der Annahme, dass die Staatenimmunität „in principle“ den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK verhältnismäßig einschränke, aus einer originären, einzelfallabhänigen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen völlig zurück. Hierbei stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen noch dem aktuell geltenden und vom EGMR maßgeblich geprägten Menschenrechtsstandard des Europarats entspricht126 .
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten Arbeitsrechtliche Streitigkeiten nehmen in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK mit Immunitätsbezug eine wichtige Rolle ein.
122 Im Fall Fogarty das Gesetz über sexuelle Diskriminierung von 1975 und United Kingdom State Immunity Act von 1978, sowie die European Convention on State Immunity von 1972 und die Vorarbeiten der ILC für die heutige UNCJISP. 123 Auch wenn der Gerichtshof betont, dass es seine Aufgabe sei, letztverbindlich über die Beachtung der Anforderungen der Konvention zu entscheiden, vgl. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 33. 124 Vgl. bspw. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 36 und EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, Rn. 37. 125 Zitiert nach Richter Loucaides, dissenting opinion im Fall Fogarty, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97. 126 Kritische Würdigung dieses Vorgehens in Kap. E. I. 1.
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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1. Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten Das Kriterium der zivilrechtlichen Streitigkeiten wird in arbeitsrechtlichen Sachverhalten mit Immunitätsbezug relevant, wenn sich auf Arbeitgeberseite ein Staat befindet. Dies betrifft v. a. die Arbeitsverhältnisse an diplomatischen Vertretungen und Botschaften sowie Beamten-/Angestelltenverhältnisse von Soldaten oder Polizisten. Aus der Entscheidung Glasenapp127 geht (als general rule) hervor, dass Beamte und öffentlichen Bedienstete sich grundsätzlich auf die Konvention berufen dürfen und nicht per se dem Staat zuzuordnen sind. Beriefen sich Staatsbeamte (oder Angestellte des öffentlichen Diensts) auf Art. 6 I EMRK, so prüften die Konventionsorgane zunächst, ob die Beendigung/Auflösung des Dienstverhältnisses, der dienstliche Werdegang oder das Einstellungsverfahren betroffen waren. In diesen Fällen war Art. 6 I EMRK nicht anwendbar. Die Beschwerde musste vielmehr „essentially economic“ bzw. „purely economic“ sein128 , damit Art. 6 I EMRK anwendbar war129 . Das Kriterium der Einordnung der Beschwerde als essentially economic bzw. purely economic weichte in der Folgezeit zusehends auf. So reichte es im Fall Couez130 bereits aus, dass der Beschwerdeführer, obwohl offensichtlich seine Karriere bzw. seine weitere Laufbahn als Beamter betroffen war, durch die nationale Entscheidung in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht war, sodass die wirtschaftlichen Folgen hier für die Annahme der Anwendbarkeit des Art. 6 I EMRK herangezogen wurden. Im Fall Le Calvez131 deutete sich schließlich an, dass jede wirtschaftlich negative Konsequenz einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit ausreicht, um Art. 6 I EMRK für anwendbar zu erklären; es drohte eine extensive, uferlose Anwendung des Art. 6 I EMRK. Hieraufhin entschied sich der nach dem 11. ZP neu organisierte Gerichtshof in der Entscheidung Pellegrin, diese Rechtsprechung132 vollständig zu revidieren und neue ob127
EGMR Urteil vom 28. 08. 1986, Glasenapp vs.Germany, Rs. 9228/80. Z. B. EGMR Urteil vom 09. 06. 1998, Maillard vs. France, Rs. 26586/95. 129 In der Entscheidung Neigel, Urteil vom 17. 03. 1997, Neigel vs. France, Rs. 18725/91, hier dissenting opinion der Richterin Palm, Rn. 1 ff., hat die abweichende Richterin Palm bereits darauf hingewiesen, dass das rein wirtschaftliche Abgrenzungskriterium nicht konsistent genug sei und allein nicht ausschlaggebend sein dürfe (Sweeping, thin reasoning). Sie schlug vor, einen neuen Weg einzuschlagen und eine autonome, einheitliche Interpretation hinsichtlich der civil servants zu statuieren, bei der die korrespondierende, ebenfalls funktionale Rechtsprechung des EuGH zum gleichen Sachgebiet aufgenommen werden sollte. Es sollte allein geprüft werden, ob den Beschwerdeführer eine „direct or indirect participation in the exercise of state functions“ nachgewiesen werden konnte. Im Fall Spurio, Urteil des EGMR vom 02. 09. 1997, Spurio vs. Italy, Rs. 23217/94, pflichtete ihr der ebenfalls dissentierende Richter Pekkanen bei, doch erreichten sie im Gerichtshof keine Mehrheit. 130 Urteil des EGMR vom 24. 08. 1998, Couez vs. France, Rs. 24271/94. 131 Urteil des EGMR vom 29. 07. 1998, Le Calvez vs. France, Rs. 25554/94. 132 U. a.: Urteil des EGMR vom 26. 11. 1992, Francesco Lombardo vs. Italy, Serie A Nr. 249-B; Urteil des EGMR vom 17. 03. 1997, Neigel vs. France, Reports 1997-II; Urteile des EGMR vom 02. 09. 1997, De Santa vs. Italy, Lapalorcia vs. Italy, Abenavoli vs. Italy, Nicodemo vs. Italy Reports 1997-V, S. 1663–1703; Urteil des EGMR vom 21. 10. 1997, Pierre-Bloch vs. France, Reports 1997-VI, S. 2223; Urteil des EGMR vom 09. 06. 1998, Cazenave de la Roche vs. France, Reports 1998-III, S. 1327; Urteil des EGMR vom 29. 07. 1998, Le Calvez vs. France, Reports 1998-V, 128
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
jektive Kriterien für die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 I EMRK in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zu formulieren. a) Die Pellegrin-Kriterien Der Gerichtshof stellte im Fall Pellegrin133 grundlegende, objektive Kriterien auf, nach denen sich die Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK im Hinblick auf öffentlich Bedienstete und Staatsbeamte richten sollte. Hierfür war entscheidend, ob die durch den Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeiten der Ausübung von Hoheitsgewalt zuzurechnen waren (exercise of powers); in diesen Fällen sollte Art. 6 I EMRK nicht anwendbar sein. Der EGMR nahm explizit Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg134 und die bereits in der Kommission vertretenen Vorschläge der Richter Palm135 und Pekkanen136 . Neben diesem (rein funktionalen) Element wurde auf das weitere Kriterium eines besonderen Treue- und Loyalitätsverhältnisses137 zum anstellenden Staat abgestellt138 . Der EGMR wählte hiermit einen funktionalen Ansatz und stellte auf den tatsächlich ausgeführten Tätigkeitsbereich ab, sodass es auf die national unterschiedliche arbeitsrechtliche/beamtenrechtliche Grundlage des Dienstverhältnisses nicht ankommen sollte139 .
S. 1990 f., sowie zuletzt Urteil des EGMR vom 24. 08. 1998, Benkessiour vs. France, Reports 1998-V, S. 2287. 133 EGMR Urteil vom 08. 12. 1999, Pellegrin vs. France Rs. 28541/95; hier klagte ein technischer Berater, der für das französische Entwicklungs- und Kooperationsministerium Ministère français de la Coopération et du Développement in den französischen Überseedepartements arbeitete, gegen seine Kündigung. Er war mit der Erstellung eines Haushaltsplans für die Verwendung öffentlicher Gelder in Zusammenarbeit mit dort ansässigen Behörden und internationalen Organisationen sowie der Erstellung eines Haushaltsbudgets für das Jahr 1990 betraut. 134 Urteil des EuGH vom 02. 07. 1996, C-473/93, ECR I-3248, § 27: „(. . .) in order to determine whether posts fall within the scope of Article 48(4) of the Treaty, it is necessary to consider whether or not the posts in question typify the specific activities of the public services in so far as it exercises powers conferred by public law and has responsibility for safeguarding the general interests of the State or other public bodies. For that reason, the criterion for determining whether Article 48(4) of the Treaty is applicable must be functional and must take into account of the nature of the tasks and responsibilities inherent in the post (. . .).“ 135 Urteil vom 17. 03. 1997, Neigel vs. France, Rs. 18725/91, hier dissenting opinion der Richterin Palm, Rn. 1 ff. 136 Urteil des EGMR vom 02. 09. 1997, Spurio vs. Italy, Rs. 23217/94, dissenting opinion des Richters Pekkanen. 137 Hier weist Richter Loucaides später darauf hin, dass es ein solches Treue- und Loyalitätsband zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber jedenfalls auch im rein privatrechtlichen Bereich gebe und es demnach als Abgrenzungskriterium nicht geeignet sei, vgl. Urteil des EGMR vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. United Kingdom, Rs. 37112/97, Dissenting Opinion, S. 19. 138 Dieses Kriterium diente der Berücksichtigung von Fällen, in denen der Staatsbeamte/öffentlich Bedienstete sich bereits im Ruhestand befand, hierzu ebenfalls: Urteil Pellegrin, a. a. O., Rn. 66. Konsequenz der Pellegrin-Rechtsprechung war, dass Streitigkeiten über Pensionsansprüche von Staatsbeamten und öffentlich Bediensteten mangels Vertrauens- und Loyalitätsbandes in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK aufgenommen wurden, wohingegen ihre u. U. geltend gemachten Besoldungsansprüche nicht verhandelt wurden. 139 Urteil Pellegrin, a. a. O., Rn. 64.
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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b) Der Fall Vilho Eskelinen Im Laufe der weiteren Rechtsprechungsentwicklung wurde schnell offensichtlich, dass die Natur der geleisteten Tätigkeit nicht immer eindeutig zu bestimmen war. Viele Beschwerdeführer erledigten sowohl hoheitliche als auch nicht hoheitliche Tätigkeiten. Der EGMR erkannte die Gefahr (weiterer) anomalous results, welchen er im Fall Vilho Eskelinen140 effektiv begegnen wollte. Im Fall Vilho Eskelinen klagten Polizeibeamte sowie angestellte Verwaltungsbeamte einer finnischen Polizeistation gegen eine ihrer Ansicht nach nicht ausreichend finanziell kompensierte Versetzung. Obwohl der Sachverhalt für alle Beteiligten identisch lag, hätte der Fall unter Berücksichtigung der Pellegrin-Kriterien für die Verwaltungsangestellten anders gelöst werden müssen als für die Polizeibeamten. Allerdings waren in einer Polizeistation angestellte Bedienstete in der Pellegrin-Entscheidung noch als Beispiel einer Berufsgruppe angeführt worden, welche eindeutig hoheitliche Tätigkeiten ausübten (positive Vermutung), sodass ihnen der Schutz aus Art. 6 EMRK insgesamt verwehrt worden wäre. In der Vilho-Eskelinen-Entscheidung stellte der Gerichtshof nun allgemein fest, dass die Berufsgruppe, der ein Beschwerdeführer angehört, oft wenig Aufschluss über die Natur der ausgeübten Tätigkeit gebe und sich der beklagte Staat nicht darauf beschränken dürfe, auf die Zugehörigkeit dieser Berufsgruppe abzustellen141 . Der EGMR wählte hiermit eine extensivere Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK142 und hob die positive Vermutung der Nichtanwendbarkeit des Art. 6 EMRK für Polizisten, Diplomaten und ähnliche Berufsgruppen im Ergebnis auf. Dem beklagten Staat wurde nunmehr die Beweislast für den Ausschluss der Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten seiner Bediensteten aufgetragen. Er musste zwei Voraussetzungen darlegen und beweisen, um vor dem EGMR die Eigenschaft des öffentlichen Bediensteten/Beamten geltend zu machen und damit die Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK auszuschließen. Zunächst musste er darlegen, dass nach nationalem Recht der Zugang zu Gericht im konkreten Fall ausgeschlossen war. Zudem musste dieser Ausschluss objektiv gerechtfertigt sein, was nur der Fall war, wenn der öffentlich Bedienstete bzw. der Beamte tatsächlich Staatsgewalt ausübte und ein special bond of trust and loyality hinzukam143 . Auch in Immunitätsverfahren ist daher den beklagten Staaten auferlegt, darzulegen und zu rechtfertigen, warum der Beschwerdeführer vor den nationalen Gerichten keinen Zugang hatte. Im Ergebnis wurde der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK in Fällen 140
Urteil des EGMR vom 19. 04. 2007, Vilho Eskelinen and Others vs. Finland, Rs. 63235/00. Diese Richtung wurde bereits kurz nach dem Pellegrin-Urteil in dem Fall Frydlender eingeschlagen, in dem ein Angehöriger des Wirtschaftsministerium, welcher hautpsächlich im Ausland eingesetzt wurde, jedoch offensichtlich zu der Berufsgruppe der Diplomaten/Ministeriumsangehörigen zu zählen war, dennoch keine hoheitlichen Tätigkeiten im Interesse des Staates ausübte. Bereits hier deutete der EGMR an, dass eine bloße Kategorisierung einer bestimmten Berufsgruppe noch nicht zum Ausschluss/zur Anwendung von Art. 6 I EMRK führen könne, vgl. EGMR Urteil vom 27. 06. 2000, Frydlender vs. France, Rs. 30979/96, Rn. 40. 142 wider approach, EGMR Urteil Vilho Eskelinen, a. a. O., Rn. 60. 143 EGMR Vilho Eskelinen, a. a. O., Rn. 51 ff. In Bezug auf das zweite Kriterium müssen nach ductus des EGMR „objektive Gründe im Interesse des Staates“ vorliegen, welche den Ausschluss rechtfertigen, Vilho Eskelinen, a. a. O., Rn. 62. 141
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
arbeitsrechtlicher Streitigkeiten, in denen es um Gehaltsansprüche, Arbeitsbedingungen u. Ä. ging, signifikant erweitert144 . c) Die Fälle Cudak und Sabeh El Leil Mit der Pellegrin- und der Vilho Eskelinen-Entscheidung war die Rechtsprechungsentwicklung nur zu einem vorläufigen Endpunkt gelangt. Dies zeigte sich bereits einige Jahre später in der Entscheidung Cudak vs. Litauen145 , in der die modifizierten PellegrinKriterien auf Botschaftsangehörige übertragen wurden. Die litauische Beschwerdeführerin arbeitete in der polnischen Botschaft in Vilnius. Hier hatte sie einfache Bürotätigkeiten, wie Telefon- und Faxbedienung, Fotokopieren und das Organisieren kleinerer Empfänge als Aufgaben. Nach einer erfolgreichen Klage gegen einen ihrer männlichen Kollegen wegen sexueller Belästigung wurde ihr der Zutritt und die Weiterbeschäftigung in der Botschaft verwehrt. Ihr Anstellungsverhältnis wurde gekündigt mit der Begründung, dass sie an den Tagen, an denen ihr der Zutritt zur Botschaft verweigert wurde, nicht zur Arbeit erschienen war, wogegen sie vorging. Polen berief sich auf Immunität, sodass sie sich an den EGMR wandte. Die beklagte Regierung zitierte die Vilho Eskelinen-Entscheidung und verwies darauf, dass der Beschwerdeführer zwar keinen Zugang zu nationalen Gerichtsverfahren gewährt worden war, sie mit ihrer Tätigkeit jedoch Staatsgewalt in der Botschaft in einem besonderen Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis ausgeübt hatte, sodass der fehlende nationale Zugang gerechtfertigt sei. Die Regierung machte damit eine Unzulässigkeit der Beschwerde ratione materiae geltend. Ein wichtiger Unterschied zu den zuvor entschiedenen Fällen ist, dass die Beschwerdeführerin vorliegend zwar gegen ihren eigenen Staat vorging, jedoch nicht von Litauen, sondern vom polnischen Staat angestellt wurde, sodass sie jedenfalls nicht als litauische öffentlich Bedienstete angesehen werden konnte. Die Vilho Eskelinen-Entscheidung konnte nicht unmittelbar herangezogen werden. Auch handelte es sich nicht um einen klassischen Staatsbeamten, sondern um Botschaftspersonal, welches, jedenfalls auf Stufe der Diplomaten und Attachés von eigenen völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Regimen beherrscht wird146 . Der EGMR unterstellte relativ unproblematisch die Anwendung der Eskelinen-Kriterien mutatis mutandis auf Botschaftsangehörige (fremder Staaten); seine Bejahung des Anwendungsbereichs von Art. 6 I EMRK fiel (bemerkenswert) knapp aus. Die Tätigkeiten der Beschwerdeführer seien (geradezu offensichtlich, hardly) nicht geeignet, ein staatliches Interesse an dem Ausschluss eines Rechts aus Art. 6 I EMRK zu gewähren, sodass eine Anwendung des Art. 6 EMRK hieran nicht scheitere147 . Aus den Formulierungen der Entscheidung geht hervor, dass sich der EGMR des unterschiedlich gelagerten Sachver144 Der Gerichtshof nahm eine positive Vermutung dahingehend an, dass Art. 6 EMRK grundsätzlich zur Anwendung komme und nur in begründeten Ausnahmen der Schutz des Art. 6 EMRK verwehrt werden dürfe, EGMR, Vilho Eskelinen, a. a. O., Rn. 62. 145 EGMR, Urteil vom 23. 3. 2010, Cudak vs. Lithuania, Rs. 15869/92. 146 Bereits im 16. und 17. Jahrhundert haben sich zum Zwecke der ungestörten Aufgabenwahrnehmung von Diplomaten Vorrechte und Immunitäten der diplomatischen Missionen herausgebildet, vgl. vertiefend hierzu u. a. Kau in Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 51 ff. 147 EGMR Cudak, a. a. O., Rn. 44.
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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halts durchaus bewusst war; er zog die Eskelinen-Kriterien mutatis mutandis heran, ließ ihre generelle Anwendbarkeit in derart gelagerten Fällen allerdings offen148 . Nur konsequent reiht sich die Entscheidung im Fall Sabeh El Leil gegen Frankreich149 in diese Rechtsprechunglinie ein. Im Fall Sabeh El Leil klagte ein Botschaftsangestellter aus Kuwait gegen Frankreich. Hier hat sich die französische Regierung zur Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK gar nicht mehr eingelassen, sondern die Entscheidung vollständig dem Ermessen des Gerichts überantwortet150 , was darauf schließen lässt, dass eine Berufung auf Unzulässigkeit ratione materiae der Regierung von vornherein als wenig erfolgversprechend erschien. Der EGMR wandte sodann (in nahezu wortgleicher Formulierung wie im Fall Cudak) die Eskelinen-Kriterien an und bejahte die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 I EMRK. 2. Legitimes Ziel Der EGMR nimmt auch in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten mit Immunitätsbezug ein legitimes Ziel unproblematisch an. Dies ist im Fall Cudak auf Kritik gestoßen151 . Im Fall Cudak152 kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass Polen zu Unrecht Immunität gewährt worden war, da diese nicht im Einklang mit dem (nach Ansicht des EGMR völkergewohnheitsrechtlich anerkannten) UN-Übereinkommen über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit153 stand. Damit hatte Polen die margin of appreciation, die der EGMR bei der Beurteilung der Völkerrechtskonformität von Immunitätsgewährungen zugesteht, nach Ansicht des Gerichtshofs überschritten, sodass er das Recht der Beschwerdeführerin auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK (sogar) in dessen Wesensgehalt als verletzt ansah154 . Dies stellte der EGMR auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit fest, nachdem er zuvor ein legitimes Ziel, nämlich die Beachtung des Völkerrechts zum Zwecke der Förderung der guten Beziehungen und des höflichen Umgangs zwischen Staaten durch Achtung der Souveränität anderer Staaten, angenommen hatte. Anhand dieses Beispieles wird deutlich, dass ein legitimes Ziel regelmäßig unproblematisch selbst dann angenommen wird, wenn Immunität nach Ansicht des EGMR offensichtlich zu Unrecht gewährt wurde. Die Prüfungsdichte und -relevanz dieses Prüfungspunktes erschließt sich bereits in der formelhaften Wiederholung der einst als legitim erachteten Beweggründe, die verschiedenen Immunitätsformen ganz grundsätzlich zu gewähren. Hierdurch wird deutlich, dass die Prüfung eines legitimen Ziels (auf erster Stufe) und des Verhältnisses zwischen dem zu erreichenden Ziel und den hierfür eingesetzten Mitteln 148 „It should nevertheless be pointed out that the above-mentioned judgment [Eskelinenjudgment] concerned the relationship between a State and its own civil servants, whereas that is not the situation in the present case: (. . .) However, even supposing that the Vilho Eskelinen case-law ist applicable, mutatis mutandis, to the present case, it could not be argued that the second condition has been fulfilled in the applicant’s case.“ Cudak, a. a. O., Rn. 43 f. 149 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 29. 06. 2011, Sabeh El Leil vs. France, Rs. 34869/05. 150 Sabeh El Leil, a. a. O., Rn. 36, „As regards the applicability of Article 6 § 1, the Government left the matter to the Court’s discretion“. 151 Bspw. Pavoni, Human Rights and the Immunity of Foreign States, S. 92. 152 EGMR, Urteil vom 23. 3. 2013, Cudak vs. Lithuania, Rs. 15869/02. 153 Convention des Nations Unies sur les immunités juridictionnelles des États et de leurs biens, New York, 2 décembre 2004, abrufbar unter https://treaties.un.org, GA Res. 59/38 vom 2. 12. 2004. 154 EGMR, a. a. O., Rn. 74.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
(auf zweiter Stufe) in der Praxis oftmals zu einer einstufigen Verhältnismäßigkeitsprüfung verschmelzen, der die formelhafte Bejahung eines legitimen Ziels vorgeschaltet ist, ohne dass auf dieser ersten Ebene eine einzelfallrelevante Diskussion stattfindet155 . Der EGMR nimmt in Fällen arbeitsrechtlicher Streitigkeiten eine höchst restriktive Geltung der Staatenimmunität an. Die Prüfung des legitimen Ziels in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten unterscheidet sich jedoch nicht von der Prüfung des legitimen Ziels in anderen Fallkonstellationen mit Bezug zur Staatenimmunität. 3. Verhältnismäßigkeit Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stellt der EGMR darauf ab, ob die Staaten Art. 11 des Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von 2004156 bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität an einen anderen Staat berücksichtigt haben. Art. 11 des Übereinkommens sieht vor, dass sich ein Staat vor einem sonst zuständigen Gericht eines anderen Staates nicht auf Immunität berufen darf, wenn das Verfahren einen zwischen dem Staat und einer natürlichen Person geschlossenen Arbeitsvertrag zum Streitgegenstand hat, demzufolge die Arbeit ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet diese anderen Staates geleistet wird bzw. zu leisten ist:
Article 11 – Contrats de travail 1. À moins que les États concernés n’en conviennent autrement, un État ne peut invoquer l’immunité de juridiction devant un tribunal d’un autre État, compétent en l’espèce, dans une procédure se rapportant à un contrat de travail entre l’État et une personne physique pour un travail accompli ou devant être accompli, en totalité ou en partie, sur le territoire de cet autre État.
Haben die nationalen Gerichte das Übereinkommen über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität nicht berücksichtigt, so prüft der Gerichtshof selbst, ob das Übereinkommen Anwendung zwischen den beteiligten Staaten findet und weiterhin ob die Ausnahmetatbestände des Art. 11 II des UN-Übereinkommens erfüllt sind157 . 155
Kritisch: Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States, S. 92. Convention des Nations Unies sur les immunités juridictionnelles des États et de leurs biens, New York, 2 décembre 2004, abrufbar unter https://treaties.un.org, GA Res. 59/38 vom 2. 12. 2004. 157 Nach Art. 11 II findet Art. 11 I keine Anwendung, wenn der Arbeitnehmer eingestellt worden ist, um bestimmte Aufgaben in Ausübung von Hoheitsgewalt zu erfüllen (lit. a), der Arbeitnehmer ein Diplomat im Sinne des Wiener Übereinkommens von 1961 über diplomatische Beziehungen ist (lit. b (i)), ein Konsularbeamter im Sinne des Wiener Übereinkommes von 1963 über konsularische Beziehungen ist (lit. b (ii)), ein Mitglied des diplomatischen Personals einer Ständigen Mission bei einer Internationalen Organisation oder einer Sondermission ist oder eingestellt wurde, um einen Staat bei einer internationaler Konferenz zu vertreten (lit. b (iii)) oder eine andere Person ist, die diplomatische Immunität genießt (lit. b (iv)); Des Weiteren ist die Anwendung des Art. 11 I ausgeschlossen, wenn die Einstellung, Verlängerung oder Wiedereinstellung einer natürlichen Person Gegenstand des Verfahrens ist (lit. c), die Entlassung oder Beendigung des Arbeitsverhältnisses einer natürlichen Person Gegenstand des Verfahrens ist und das Verfahren nach Feststellung des Staats- oder Regierungschafs oder des Außenministers des Staates, der ihr Arbeitgeber ist, den Sicherheitsinteressen dieses Staates zuwiderliefe (lit. d), der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens Angehöriger des Staates ist, der sein Arbeitgeber ist, sofern er nicht seinen ständigen Aufenthalt im Gerichtsstaat hat (lit. e) oder der Staat, der Arbeitgegeber ist, und der Arbeitgeber schriftlich etwas 156
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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Der EGMR nimmt regelmäßig eine gewohnheitsrechtliche Geltung des Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von 2004 an und hat in jüngster Zeit in den Fällen Cudak und Sabeh El Leil den Beschwerden in Bezug auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten und Staatenimmunität stattgegeben, die gegen zwei Länder erhoben wurden, die das Übereinkommen zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht ratifiziert hatten. Haben die Staaten bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität in arbeitsrechtlichen Staaten das UN-Übereinkommen über die Immunität von Staaten und ihrem Vermögen nicht berücksichtigt, so nimmt der EGMR regelmäßig bereits einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 6 I EMRK an158 . Der erste Fall, in dem der EGMR über die Geltung der Staatenimmunität in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten unter Heranziehung des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von 2004 entschied, war der Fall Fogarty159 . a) Der Fall Fogarty Die Beschwerdeführerin Fogarty arbeitete in der amerikanischen Botschaft in London. Als ihre Stelle aufgekündigt wurde, wehrte sie sich erfolgreich gegen die Kündigung, indem sie vor dem North London Industrial Tribunal unter Berufung auf den Sex Discrimination Act 1975 geltend machte, dass ihre Kündigung Folge einer vorangegangenen sexuellen Belästigung ihres Vorgesetzen war. Die US-Regierung verteidigte sich in diesem Verfahren und berief sich nicht auf Immunität. Die Beschwerdeführerin erreichte eine Entschädigungszahlung in Höhe von 12.000 GBP. Noch während des Verfahrens hatte die Beschwerdeführerin als Verwaltungsassistentin in der amerikanischen Botschaft in London gearbeitet. Als dieser Vertrag auslief, bewarb sie sich erneut auf verschiedene, ihrer ehemaligen Arbeit vergleichbare Stellen bei der Botschaft und wurde abgelehnt. Sie klagte wieder vor dem North London Industrial Tribunal gegen die USA wegen Diskriminierung, da sie davon ausging, dass ihre vorherige erfolgreiche Klage gegen die Kündigung nunmehr ursächlich für den Misserfolg ihrer Bewerbungen war. In diesem Prozess beriefen sich die USA auf Immunität nach dem nationalen (britischen) State Immunity Act von 1978, die ihnen durch das Gericht auch gewährt wurde. Frau Fogarty beschwerte sich unter Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) vor dem EGMR. Der EGMR unterstellte die Anwendbarkeit des Art. 6 I EMRK unproblematisch160 . Der EGMR prüfte zweistufig. Zunächst stellte er fest, dass Großbritannien mit der Gewährung von Immunität an die USA nicht gegen „allgemeinhin akzeptierte internationale Standards“161 verstoßen hat: anderes vereinbart haben, sodern den Gerichten des Gerichtsstaats nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung (ordre public) wegen des Verfahrensgegenstandes die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wird (lit. f). 158 EGMR, Urteil vom 23. 3. 2013, Cudak vs. Lithuania, Rs. 15869/02; EGMR, Große Kammer, Urteil vom 29. 06. 2011, Sabeh El Leil vs. France, Rs. 34869/05. 159 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97. 160 „(. . .) However, for the reasons set out in the following paragraphs, the Court does not find it necessary to determine this issue, and will proceed on the assumption that Article 6 is applicable“, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 28. 161 EGMR, a. a. O., Rn. 37.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
„Certainly, it cannot be said that the United Kingdom is alone in holding that immunity attaches to suits by employees at diplomatic missions or that, in affording such immunity, the United Kingdom falls outside any currently accepted international standards“162 .
Hiermit überprüfte er, ob die nationalen Regelungen Großbritanniens dem international anerkannten Stand des Völkergewohnheitsrecht der Staatenimmunität entsprachen. Als zweite Stufe stellte der EGMR auf die Art der arbeitsrechtlichen Streitigkeit ab. Vorliegend ging es nicht um Streitigkeiten aus einem bereits bestehenden Arbeitsverhältnis, sondern um den Prozess des recruitments. Der EGMR hielt die Immunität der USA im Ergebnis aufrecht, da, obwohl ein internationaler Trend festgestellt werden könne, die Staatenimmunität in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten einzuschränken, wenn das Arbeitsverhältnis Botschaften und diplomatische Missionen erfasst, es vorliegend nicht um Streitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis ging, sondern um das recruitment-Verfahren selbst: „(. . .) the proceedings which the applicant wished to bring did not concern the contractual rights of a current embassy employee, but instead related to alleged discrimination in the recruitment process. Questions relating to the recruitment of staff to missions and embassies may by their very nature involve sensitive and confidential issues, related, inter alia, to the diplomatic and organisational policy of a foreign State. The Court is not aware of any trend in international law towards a relaxation of the rule of State immunity as regards issues of recruitment to foreign missions“163 .
Der EGMR stellt auf die Situation des recruitments ab und unterscheidet diese von Streitigkeit im Rahmen von bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen an Botschaften und diplomatischen Missionen. Allein die UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihr Vermögen erfasst die Situation des recruitments mit Art. 11 II lit. c des Übereinkommens, der vorsieht, dass Art. 11 I keine Anwendung findet, wenn „Si l’action a pour objet l’engagement, le renouvellement de l’engagement ou la réintégration d’un candidat“.
Der EGMR führt allerdings weiter aus, dass die Beschwerdeführerin ihren Fall vor einem englischen Gericht unter Berufung auf den Sex Discrimintation Act, der eine solche Klagemöglichkeit explizit vorsieht, hätte verhandeln können164 und verweist sie hiermit auf eine alternative Rechtsschutzmöglichkeit. Dies ist insofern irrig, als Art. 11 II lit. c des Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihrem Vermögen sämtliche Einstellungsprozesse erfasst, die der Staat durchführt, nicht nur solche zu diplomatischen Missionen und Konsulaten165 . Hiermit wäre der Beschwerdeführerin auch eine Klage vor englischen Gerichten auf Grundlage des Sex Discrimination Act 1975 nicht möglich gewesen. Die UN-Konvention grenzt insofern nicht ein auf Einstellungsverfahren und hieraus resultierende Streitigkeiten an Botschaften, diplomatischen Missionen o. ä., sondern nimmt sämtliche Einstellungen, Verlängerungen der Arbeitsverhältnisse oder Wiedereinstellungen natürlichen Personen aus dem Anwendungsbereich des Art. 11 I der UN-Konvention, mit der Folge, dass sich Staaten in sämtlichen Fällen, die das recruitment betreffen, auf 162
EGMR, a. a. O., Rn. 37. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Rn. 38. 164 EGMR, a. a. O., Rn. 26: „Sec. 6 of the Sex Discrimination Act 1975 (. . .) creates a statutory right which arises, inter alia, when an employer refuses to employ a woman on grounds of sex discrimination or by reason of the fact that she has already taken proceedings under the 1975. Thus, the proceedings which the applicant intended to pursue were for damages for a cause of action well known to the English law.“ 165 Genau dies nimmt der EGMR allerdings an, wie eine andere Passage der Entscheidung zeigt: „(. . .) that the International Law Commission did not intend to exclude the application of State immunity where the subject of proceedings was recruitment, including recruitment to a diplomatic mission“, EGMR, a. a. O., Rn. 38. 163
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Staatenimmunität berufen können166 . Dieses Ergebnis korrespondiert mit den traveaux préparatoires der Konvention, in denen die ILC zu Art. 11 II ausführt, dass ein Staat ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Auswahl und Einstellung von Mitarbeitern durch einen Staat in dessen ureigenem, hoheitlichen Aufgabenfeld verbleibt und daher von der Staatenimmunität umfasst wird: „(3) With the involvement of two sovereign States, two legal systems compete for application of their respective laws. The employer State has an interest in the application of its laws in regard to the selection, recruitment and appointment of an employee by the State or one of its organs, agencies or instrumentatlities acting in the exercise of governmental authority“167 .
b) Kritik an dem Urteil Fogarty Richter Loucaides weicht als einziger Richter von der überwiegenden Meinung der Mehrheit (von 16:1) ab168 . Im Kontext der vom EGMR am gleichen Tag entschiedenen drei Fälle zur Staatenimmunität169 hat Richter Loucaides eine generelle Meinung zum Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht entwickelt, die im Kern davon ausgeht, dass alle Fälle, in denen blanket immunity gewährt wird, einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK darstellen170 . Weiterhin verlangt er in solchen Fällen alternative Rechtsschutzmöglichkeiten und geht andernfalls von einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 6 I EMRK aus. Darüberhinaus hat Loucaides auch einige Anmerkungen spezifisch für den vorliegenden Fall der Beschwerdeführerin Fogarty formuliert. Er weist darauf hin, dass sich die USA in dem ersten Verfahren nicht auf Immunität berufen, sondern sich auf das Verfahren eingelassen und sich verteidigt haben, was darauf schließen lasse, dass kein Eingriff in die staatliche Souveränität Amerikas vorgelegen habe171 . Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das erste Verfahren den Vorwurf der sexuellen Belästigung durch den Vorgesetzten von Fogarty zum Inhalt hatte, und es erst im zweiten Verfahren um das recruitment ging. Weiterhin hat die Beschwerdeführerin keinen Versuch unternommen, in den USA unmittelbar zu klagen172 , sodass nicht letztverbindlich feststeht, ob der Beschwerdeführerin tatsächlich kein alternativer Rechtsschutz zur Verfügung stand. Der EGMR hat diesen Punkt nur unzureichend berücksichtigt, da er lediglich auf die Möglichkeit abstellte, dass die Beschwerdeführerin vor britischen Gerichten unter Berufung auf den Sex Discrimintation Act hätte klagen können, was aus o. g. Gründen nicht möglich war. Eine Klage vor den 166
Yang, State Immunity in International Law, S. 156 untersucht hierzu weitere Staatenpraxis. ILC Commentary to Art. 11, para. 3, zitiert nach Fox, The Law of State Immunity, S. 444. 168 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Diss. Op. Richter Loucaides. 169 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, diss. op. Judge Loucaides; EGMR Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, diss. op. Judge Loucaides; EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, diss. op. Judge Loucaides. 170 „Is it proportionate to the aim pursued? The answer should be, in my opinion, negative, taking into account (a) The blanket nature of immunity (. . .)“, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Diss. Op. Richter Loucaides. 171 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97, Diss. Op. Richter Loucaides. 172 Kloth, Immunities and the Right to Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 48 weist darauf hin, dass die Berufung auf Immunität durch die USA nicht ausschließe, dass die Beschwerdeführerin daran gehindert gewesen sei, in den USA unmittelbar zu klagen. Die hiermit verbundenen Unannehmlichkeite müsste die Beschwerdeführerin hinnehmen als notwendige Begleiterscheidung ihrer Bewerbung auf ein Anstellungsverhältnis bei einem anderen Staat. 167
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
US-Gerichten hat der EGMR nicht in Erwägung gezogen, sodass Richter Loucaides bereits insofern Recht zu geben ist, dass die Entscheidung an dieser Stelle nicht vollständig die Möglichkeiten der Beschwerdeführerin, einen Zugang zu alternativem Rechtsschutz ggf. zu erlangen, erörtert und geprüft hat. Dem Urteil des EGMR ist im Ergebnis jedoch beizupflichten. Die aktuelle Übung im Bereich der arbeitsrechtlichen Streitigkeiten mit Bezug zu diplomatischen Missionen und Konsulaten setzt ein bereits existentes Arbeitsverhältnis voraus173 , das reine Einstellungsverfahren unterliegt keiner „international anerkannten“ Übung174 . Dem Aspekt der möglichen alternativen Rechtsschutzmöglichkeiten hätte demgegenüber konkreter geprüft werden müssen175 . c) Der Fall Cudak Die litauische Beschwerdeführerin Cudak, die bei der polnischen Botschaft als Telefonistin und Sekretärin angestellt war, verklagte Polen vor litauischen Gerichte wegen ihrer nach ihrer Ansicht ungerechtfertigten Kündigung, woraufhin der polnische Außenminister die Einrede der Immunität Polens vor der litauischen Gerichtsbarkeit erhob. Der Regional Court in Vilnius stellte hieraufhin das Verfahren ein. Der oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidung der Unterinstanzen. Er stellte fest, dass weder bilaterale Abkommen zwischen Litauen und Polen noch die litauischen Gesetze und die nationale Rechtsprechung Vorgaben für die Gewährung von Staatenimmunität machen würden, sodass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, im Besonderen diejenigen des Europäischen Übereinkommens über Staatenimmunität von 1972 einschlägig seien. Der EGMR stellt fest, dass Art. 6 EMRK nicht absolut gelte, sondern eingeschränkt werden dürfe und die Mitgliedstaaten hierbei einen Ermessensspielraum haben. Der Eingriff in Art. 6 I EMRK muss ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein. Der EGMR betont weiterhin, dass bei der Auslegung der Konvention auf ihren speziellen Charakter als Menschenrechtsschutzvertrag Rücksicht genommen werden müsse. Weiterhin sei sie nicht in einem „Vakuum“ auszulegen, sondern im Kontext ihres normativen Umfeldes, demnach aller einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts, Art. 31 III lit. c WVK. Maßnahmen eines Vertragsstaates, die den Vorgaben allgemeinen Völkerrechts entsprechen, können nach Ansicht des EGMR keine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK darstellen. Die Staatenimmunität verfolgt nach Ansicht des EGMR das legitime Ziel der Beachtung des Völkerrechts zum Zwecke der Förderung der guten Beziehungen und des höflichen Umgangs zwischen Staaten durch Achtung der Souveränität anderer Staaten176 . 173 Dies zeigt eine überschlägige Analyse der einschlägigen Immunitätsregelungen, wie beispielsweise Art. 5 der Europäischen Konvention über Staatenimmunität; Art. 11 Abs. 2 lit. c der UNKonvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens; UK State Immunity Act von 1978, die alle einen bereits bestehenden Arbeitsvertrag voraussetzen und damit implizit die Situation des recruitment ausnehmen; weiterhin m. w. N.: Yang, State Immunity in International Law, S. 154 ff., Kloth, Immunities and the Right to Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 45 f. 174 EGMR Fogarty, a. a. O., Rn. 38. 175 Siehe hierzu Kap. E. IV. 176 S. o., Kap. A. III. 1. a.
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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Der EGMR stellte für die Prüfung, ob Litauen mit der Entscheidung, Polen Immunität zu gewähren, allgemeinen Völkerrecht entsprochen hatte, wiederum auf das UNÜbereinkommen über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit aus 2004 ab. Litauen hatte das Übereinkommen nicht ratifiziert, doch nahm der EGMR eine gewohnheitsrechtliche Geltung gegenüber Litauen an, da Litauen keine Einwendungen/Vorbehalte gegen das Abkommen hiergegen erhoben hatte und auch die nationalen Gesetze Litauens und die nationale Rechtsprechung die Anwendung der Regeln der Immunität von Staaten auf privatrechtliche Streitigkeiten ausschließen. Der EGMR prüfte sodann Art. 11 II des Übereinkommens, das Ausnahmen der grundsätzlichen Nichtanwendung der Staatenimmunität auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten enthält, und kam zu dem Ergebnis, dass diese nicht erfüllt waren. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag der Entwurf der ILC einer Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens bereits vor. Der EGMR stellt fest, dass die Gerichte Litauens Art. 11 des Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit von 2004 nicht berücksichtigt hatten und Litauen durch die Gewährung der Staatenimmunität an Polen den den Staaten zustehenden Ermessensspielraum überschritten und in das Recht der Beschwerdeführerin auf Zugang zu Gericht in unverhältnismäßiger Weise eingegriffen hatte, sodass Art. 6 I EMRK verletzt war. Es reichte für diese Feststellung bereits aus, dass die nationalen Gerichte die UNKonvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens bei ihrer Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt hatten.
d) Der Fall Sabeh El Leil Der Beschwerdeführer Sabeh El Leil klagte gegen Kuwait wegen seiner Kündigung als Buchhalter in der Botschaft in Paris. Kuwait erhob vor dem Arbeitsgericht in Paris (Conseil de Prud’hommes) die Einrede der Immunität, die das Gericht zunächst zurückwies, dem Kläger Sabeh El Leil wurde Schadensersatz zugesprochen. Das Berufungsgericht (Cour d’Appel) hob dieses Urteil auf und wies die Klage wegen Immunität Kuwaits von der französischen Gerichtsbarkeit als unzulässig ab. Hieraufhin wandte sich der Beschwerdeführer an den EGMR und machte geltend, durch die französischen Gerichte in seinem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK verletzt worden zu sein, da diese Kuwait Immunität gewährt hatten. Die Große Kammer stellte mit Urteil vom 29. 06. 2011 einstimmig einen Verstoß gegen Art. 6 I EMRK fest. Dem Beschwerdeführer wurden 60.000 C als Ersatz für materielle und Nichtvermögensschäden zugesprochen, sowie Ersatz für Kosten und Auslagen. Der EGMR stellte wiederum auf Art. 11 des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens ab. Frankreich hatte die Konvention zum Zeitpunkt des Urteils nicht ratifiziert, ihr allerdings auch nicht widersprochen, sondern im Gegenteil bereits Maßnahmen ergriffen, als Vertragsstaat dem Übereinkommen beizutreten. Die Konvention war bereits unterzeichnet und die Ratifikation stand im französischen Parlament auf der Tagesordnung, sodass der EGMR eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung gegenüber Frankreich annahm.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
Der EGMR prüfte sodann die Ausnahmetatbestände des Art. 11 II der Konvention, die im vorliegenden Fall nicht einschlägig waren. Der EGMR kam daher zu dem Ergebnis, dass die französischen Gerichte das Recht des Beschwerdeführers auf Zugang zu Gericht in seinem Wesensgehalt verletzt hatten, da sie Art. 11 des UN-Übereinkommens von 2004 und die in Art. 11 II genannten Ausnahmen nicht in Betracht gezogen und geprüft hatten, und daher der Einrede der Immunität Kuwaits zu Unrecht stattgegeben und der Klage des Beschwerdeführers ohne stichhaltige und ausreichende Begründung abgewiesen hatten. e) Der Fall Wallishauser Der Fall Wallishauser177 stellt die neueste Entscheidung, in der der EGMR auf Art. 11 der UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von 2004 abstellt. In diesem Fall ging es um die österreichische Fotografin Wallishauser, die auf Grundlage eines unbefristeten Vertrages von 1978 bis 1985 für die Botschaft der USA in Wien gearbeitet hatte. Sie erlitt einen schweren Unfall und wurde berufsunfähig, woraufhin die amerikanische Botschaft fünf Jahre nach dem Unfall ihren Dienstvertrag kündigte. Die Kündigung wurde vom Arbeits- und Sozialgericht in Wien wegen einer fehlenden Zustimmung des Invalidenausschusses für unwirksam erklärt. Die USA erhoben die Einrede der Staatenimmunität und erachteten das Arbeits- und Sozialgericht für unzuständig; das Gericht verwarf die Einrede. Die Immunität beziehe sich allein auf die hoheitlichen Funktionen eines Staates, nicht auf die privatrechtlichen, worunter auch der Abschluss eines Arbeitsvertrages falle. Die Beschwerdeführerin klagte sodann in mehreren Verfahren auf Zahlung ihres Gehalts. Die USA beriefen sich wiederum erfolglos auf Immunität und zahlten hieraufhin den in einem Verfahren eingeklagten Betrag von etwa 269.000 C. Die Zustellung einer weiteren Klage der Beschwerdeführerin gerichtet auf Zahlung von Schadensersatz und weiteren Gehalts scheiterte trotz Einschaltung des amerikanischen Außenministeriums. Ihr Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils wurde abgelehnt. Das Oberlandesgericht in Wien vertrat die Ansicht, dass die Weigerung des US-Außenministeriums, die Ladung weiterzuleiten, keine Verweigerung der Annahme nach dem nationalen Zustellgesetz darstellte, sondern hierin die Weigerung, einem staatlichen Rechtshilfeersuchen nachzukommen, zu sehen sei, was Ausdruck der staatlichen Souveränität Amerikas sei. Eine Lösung könne daher nur auf diplomatischem Wege erreicht werden. Das Gericht bestätigte die Entscheidung des Arbeits- und Sozialgerichts Wien, ein Versäumnisurteil zu erlassen178 . Die Beschwerdeführerin wandte sich hieraufhin unter Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) an den EGMR. Dieser erkannte zwar Unterschiede des vorliegenden Falles zu den Fällen Cudak und Sabeh El Leil, sah jedoch auch in der Akzeptanz der Weigerung der USA, die Ladung zuzustellen, die Erfüllung des legitimen Ziels der Aufrechterhaltung und Förderung der guten Beziehungen zwischen den Staaten durch die Respektierung ihrer Souveränität.
177 178
EGMR, Urteil vom 17. 06. 2012, Wallishause vs. Austria, Rs. 156/04. EGMR, a. a. O.
IV. Staatenimmunität und arbeitsrechtliche Streitigkeiten
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Der EGMR stellte sodann auf Art. 22 (Bestimmung über die Zustellung prozesseinleitender Schriftsätze179 ) und Art. 11 der UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens ab, die zur Zeit der Kündigung 1985 der Beschwerdeführerin nach Ansicht des EGMR sowohl gegenüber Österreich als auch gegenüber den USA gewohnheitsrechtlich galt. Hierfür sprach nach Ansicht des Gerichts, dass die entsprechenden Regelungen bereits im Entwurf180 vorlagen und Österreich sie später auch unterzeichnet und ratifiziert und ihnen jedenfalls nicht widersprochen hat. Die österreichischen Gerichte hatten bei der Entscheidung zwar auf die UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens rekurriert, jedoch nicht dessen gewohnheitsrechtliche Geltung zum Zeitpunkt der Kündigung der Beschwerdeführerin in Betracht gezogen. Somit stellte sich die Anerkennung als Hoheitsakt der Weigerung der USA, die Ladung im Fall der Beschwerdeführerin zuzustellen, und das Verfahren fortzuführen als unverhältnismäßig dar. Der Gerichtshof erkannte, dass Art. 6 I EMRK in seinem Wesensgehalt verletzt war und sprach der Beschwerdeführerin 12.000 C immateriellen Schaden sowie 15.000 C für Kosten und Auslagen zu. f) Zusammenfassung Arbeitsrechtliche Streitigkeiten, die im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen an Botschaften, Konsulaten und anderen diplomatischen Missionen entstehen, stellen ein besonderes Feld dar, das der EGMR vornehmlich unter Berücksichtigung des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von 2004 löst, dessen völkergewohnheitsrechtliche Geltung er regelmäßig annimmt. In Fällen, in denen der Grundsatz der Immunität von Staaten die Ausübung des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK einschränkt, obliegt es dem Gerichtshof zu überprüfen, ob die Umstände des Einzelfalles diese Einschränkung rechtfertigen, mithin ein berechtigtes Ziel verfolgen und das angestrebte Ziel in einem angemessenen Verhältnis zur Einschränkung steht. Der EGMR anerkennt, dass die Staatenimmunität das berechtigte Ziel der Courtoisie, der guten Beziehungen zwischen Staaten zu fördern und der Achtung der Souveränität von Staaten verfolgt. Weiterhin anerkennt er, dass das Prinzip der Staatenimmunität seit einigen Jahren aufgeweicht wird, wobei er insbesondere die Verabschiedung des Übereinkommens der Vereinten Nationen von 2004 nennt, das in Art. 11 eine wichtige Ausnahme von der Immunität von der Gerichtsbarkeit bei Arbeitsverträgen vorsieht. Hiermit findet das Prinzip der Staatenimmunität keine Anwendung auf Arbeitsverträge, die zwischen einem Staat und Beschäftigten seiner diplomatischen Vertretungen im Ausland geschlossen wurden. Rückausnahmen sind in Art. 11 II des Übereinkommens genannt.
179 Für die Zustellung reicht es nach dieser Regelung, wenn die Klage, sofern kein internationales Abkommen einschlägig ist, auf diplomatischen Wege an das Außenministerium des betroffenen Staates übermittelt wird, was im vorliegenden Fall geschehen war, Art. 22 des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens. 180 Als Draft Articles on Jurisdictional Immunities of States and their Property, adopted by the ILC in 1991, Yearbook of the International Law Commission, 1991, vol. II, Part Two; hierzu und zu den im Konventionsentwurf geregelten Immunitätsausnahmen: Heß, The International Law Commissions’s Draft on the Jurisdictional Immunities of States and Their Property.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
In den zuletzt entschiedenen Fällen ist ein Trend dahingehend festzustellen, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 6 I EMRK bereits dann feststellt, wenn die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität die internationale Praxis nicht ausreichend berücksichtigten. Der EGMR anerkennt die UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens sowohl in ihrer heutigen Form als auch als Entwurf der ILC als umfassend geltendes Gewohnheitsrecht; er nimmt eine Verletzung des Art. 6 I EMRK in diesem Zusammenhang an, sobald ein nationales Gericht dessen gewohnheitsrechtliche Geltung nicht berücksichtigt bzw. die Regelungen überhaupt nicht in Betracht gezogen hat. Der EGMR qualifiziert das UN-Übereinkommen über die Immunität von Staaten hiermit als allgemeingültiges Völkergewohnheitsrecht und nimmt eine Bindung aller Staaten – unabhängig davon, ob sie das Übereinkommen ratifiziert haben, oder nicht – unproblematisch an, solange dieser Staat seiner Geltung nicht explizit widersprochen hat.
V. Die Immunitätsausnahme bei Personenschäden aufgrund deliktischen Handelns Es gibt zahlreiche nationale Regelungen, die eine Immunitätsausnahme für den Fall von Personenschäden in Folge deliktischer Handlungen im Forumstaat vorsehen181 . Auch im internationalen Raum gibt es Regelungen, die eine solche Ausnahme vorsehen, etwa Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihrem Vermögen aus 2004 oder Art. 11 der Europäischen Konvention zur Staatenimmunität von 1972. Der EGMR hatte in den Fällen McElhinney182 und Al-Adsani183 über die Frage der Immunität im Fall von Personenschäden aufgund deliktischer Handlungen im Forumstaat (McElhinney) und außerhalb des Forumstaates (Al-Adsani) zu entscheiden. 1. Der Fall McElhinney Im Fall McElhinney184 ging es um den irischen Staatsangehörigen McElhinney, der unter dubiosen Umständen mit seinem Fahrzeug die Grenze von Nordirland in Richtung der Republik Irland durchbrach, hierbei einen Soldaten der britischen Armee, die den dortigen Grenzposten bewachte, erfasste und mitschleifte, welcher hieraufhin mehrmals auf den Beschwerdeführer schoss. Die Schüsse wurden hierbei teilweise von nordirischem Territorium, teilweise bereits aus der Republik Irland abgegeben. McElhinney wurde von den Schüssen nicht getroffen; er verklagte den britischen Verteidigungsminister und den betreffenden Soldaten vor dem irischen High Court auf Schadensersatz wegen der durch den Vorfall angeblich erlittenen posttraumatischen Belastungsstörungen. Hierbei ging es vornehmlich um zwei Schüsse von irischem Terrain, die nur deswegen nicht McElhinney getroffen hatten, weil die Waffe Ladehemmungen hatte 181 Beispielhaft genannt seien vorliegend: der amerikanische U.S. Foreign Sovereign Immunity Act, FSIA: 28 U.S. Code § 1605 – L. 114–38; Sec. 5 des UK Immunity Act von 1978; Sec. 13 of Australian Immunity Act; Sec. 6 of Canadian State Immunity Act. 182 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Irland, Rs. 31253/96. 183 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 184 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Irland, Rs. 31253/96.
V. Die Immunitätsausnahme bei Personenschäden
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und nicht schießbereit war. McElhinney argumentierte, dass die Staatenimmunität Großbritanniens im Falle von unerlaubten Handlungen, die auf irischem Territorium stattgefunden haben, nicht zur Anwendung kommen könne, da sich das Recht der Staatenimmunität in diesem Bereich fortentwickelt habe und die internationale Übung umfassend von einer Immunitätsausnahme im Fall von Personenschäden aufgrund deliktischer Handlungen im Forumstaat ausgehe185 . Die irischen Gerichte wiesen die Klage jedoch ab und gewährten Großbritannien Immunität. Der britische Soldat hatte nach Ansicht der irischen Gerichte hoheitliche Tätigkeiten ausgeübt (acta iure imperii), auch wenn sie auf nordirischem Gebiet stattgefunden hatten186 . McElhinney klagte hieraufhin unter Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) gegen Großbritannien vor dem EGMR. Der EGMR bestätigte die Gewährung von Staatenimmunität an Großbritannien unter besonderer Berücksichtigung von zwei Aspekten. Zum einen bestätigte der EGMR die irischen Gerichte, wenn diese davon ausgegangen waren, dass der Soldat hoheitliche Aufgaben (acta iure imperii) wahrnahm und zum anderen stellte der EGMR darauf ab, dass es sich um „versicherbare“ Personenschäden gehandelt habe, die nach den dem Gerichtshof vorliegenden Materialien nicht von der Immunität erfasst würden, da die Versicherungsunternehmen sich nicht unter dem „Mantel der Staatenimmunität“ verstecken und ihrer Leistungsverpflichtung entgehen dürften187 . Der EGMR stellte hierfür u. a. auf den Entwurf von Art. 12 des Entwurfs des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens ab, der vorsieht, dass „ein Staat sich vor einem sonst zuständigen Gericht eines anderen Staates nicht auf Immunität von der Gerichtsbarkeit in einem Verfahren berufen kann, wenn diese auf die Entschädigung in Geld für den Tod einer Person, für einen Personenschaden oder für einen Schaden an materiellen Vermögenswerten und deren Verlust bezieht, wenn der Tod, Schaden oder Verlust durch eine dem Staat vorgeblich zuzurechnende Handlung oder Unterlassung verusacht wurde, die Handlung oder Unterlassung ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet dieses anderen Staates stattfand und die Person, welche die Handlung oder Unterlassung begangen hat, sich zum Zeitpunkt der Begehung im Hoheitsgebiet des anderen Staates aufhielt“.
Der EGMR erkannte einen Trend zur Einschränkung der Immunität im Falle von Personenschäden, machte allerdings die Rückausnahme für versicherbare Körperschäden: „In its commentary on that passage, the ILC noted that the „physical injury (. . .) appears to be confined to insurable risks. The areas of damage envisaged in Article 12 are mainly concerned with accidental death or physical injuries to persons (. . .) involved in traffic accidents (. . .). Essentially, the rule of non-immunity will preclude the possibility of the insurance company hiding behind the cloak of State immunity and evading its liability to the injured individuals.“188 .
Diese Einschränkung von Art. 12 des UN-Übereinkommens auf nicht versicherbare Körperschäden entspricht jedoch gerade nicht der internationalen Übung, worauf die abweichenden Richter Caflisch, Cabral und Vajic auch richtigerweise hinweisen189 . Sie ist zurückzuführen auf die in diesem Punkt höchst widersprüchliche Kommentierung der ILC zu Art. 12 des UN-Übereinkommens. So heißt es an anderer Stelle der Kommentierung: 185 186 187 188 189
EGMR, a. a. O., Rn. 11. EGMR, a. a. O., Rn. 15. EGMR, a. a. O., Rn. 19, 38. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Irland, Rs. 31253/96, Rn. 19. EGMR, a. a. O., Diss. Op. der Richter Caflisch, Cabral, Vajic.
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
„The exception is wide enough to cover also intentional physical harm such as assault and battery, malicious damage to propertiy, arson or even homicide, including political assassination“.
Die Kommentierung der ILC kann keine internationale Übung darstellen, da sie bereits in sich widersprüchlich ist. Andere Belege für die vom EGMR vorgenommene Differenzierung ist der internationalen Praxis nicht zu entnehmen, wie Yang nach umfassender Darstellung der internationalen Praxis ebenfalls feststellt190 . Yang weist zudem darauf hin, dass die Immunitätsausnahme für Personenschäden nur dann gelten könne, wenn tatsächlich ein physischer Personenschaden eingetreten sei. Vorliegend habe der britische Soldat wegen der Ladehemmung seiner Waffe jedoch gar nicht auf McElhinney schießen können, was der EGMR fälschlicherweise nicht berücksichtigt habe191 . McElhinney machte Schadenseratz wegen der erlittenen posttraumatischen Belastungsstörung geltend, die nach Ansicht von Yang nicht unter die Immunitätsausnahme falle192 . Hiergegen spricht jedoch, dass sich gerade Schockschäden und posttraumatische Belastungsstörungen auch physisch manifestieren und mitunter größere, jedenfalls langwierige Schäden darstellen können als rein körperliche Verletzungen und Beeinträchtigungen. Dies macht auch eine Abgrenzung zwischen physischen und psychischen Schäden, die oft miteinander einhergehen und gegenseitig bewirken, schwierig. Weiterhin hängt es dann – wie der vorliegende Fall aufzeigt – vom Zufall ab, ob Immunität gewährt wird oder nicht193 . Die Unterscheidung von psychischen und physischen Schäden, die z. B. der amerikanische Immunitätsakt in Sec. 1605(a)(5)(B)194 vorsieht, betrifft vornehmlich Klagen wegen Verleumdung, Verfahrensmissbrauch (abuse of process), übler Nachrede u. ä. Anhand dieser Beispiele wird bereits deutlich, welche Art von (nicht physischen) Schäden von der Immunitätsausnahme nicht umfasst sein sollen. Sie stehen graduell grundsätzlich unterhalb von Körperschäden und betreffen das Ansehen und den Leumund einer Person. Auch die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis überzeugt nicht. Die entsprechenden nationalen Regelungen sehen alle ähnliche Immunitätsausnahmen im Fall der personal injury vor, ohne dass es nach diesen Regelungen noch auf eine Unterscheidung zwischen acta iure gestionis und acta iure imperii ankommt195 . Sind die kodifizierten Immunitätsausnahmen im Falle von Personenschäden aufgrund deliktischer Handlungen erfüllt, so kommt es demnach auf die Unterscheidung zwischen acta iure
190 Yang, State Immunity in International Law, S. 202; so sieht beispielsweise der britische State Immunity Act (1978) vor, dass „A State is not immune as respect proceedings in respect of: (a) death or personal injury; or (b) damage to or loss of tangible property, caused by an act or omission in the United Kingdom.“ 191 Yang, a. a. O., S. 213. 192 Yang, a. a. O., mit umfassender Darstellung der Staatenpraxis hierzu. 193 Hätte McElhinney beispielsweise ein Streifschuss getroffen und er hiervon einen kleinen Kratzer davongetragen, wäre das Erfordernis der physischen Verletzung, das Yang verlangt, erfüllt. 194 28 U.S. Code § 1605 – General exeptions to the jurisdicitonal of a foreign state: „(. . .) except this paragraph shall not apply to (B) any claim arising out of malicious prosecution, abuse of process, libel, slander, misrepresentation, deceit, or interference with contract rights (. . .)“., L. 114–38. 195 Ebenfalls: Schreuer, Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen ausländische Staaten, S. 44; Kloth, Immunities and the Right to Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 55.
V. Die Immunitätsausnahme bei Personenschäden
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imperii und acta iure gestionis nicht mehr an. Der EGMR begründete dennoch u. a. mit dieser Differenierung die Aufrechterhaltung der Immunität Großbritanniens. Weitere Voraussetzung aller Regelungen, die eine Immunitätsausnahme für Personenschäden in Folge deliktischen Handelns vorsehen, ist, dass die deliktische Handlung im Forumstaat verübt wurde196 . Damit fiel jedenfalls der Waffengebrauch auf irischem Boden, also die zwei Schüsse, die sich nur durch die Ladehemmung nicht gelöst hatten, unter die Immunitätsausnahme von Art. 12 des UN-Übereinkommens. Auf diese Handlungen hatte der Beschwerdeführer seine Klage auch größtenteils gestützt. Die Schüsse aus nordirischem Gebiet konnten demgegenüber nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, sodass sie in diesem Fall nicht entscheidend waren. Der territoriale Anknüpfungspunkt (Nexus) wirkt stark einschränkend auf die Immunitätsausnahmen197 . Im Ausland begangene unerlaubte Handlungen fallen nicht unter die Immunitätsausnahme. Dieser Aspekt wurde virulent in der Entscheidung Al-Adsani198 , in der der Beschwerdeführer vor britischen Gerichten eine Verletzung von Art. 6 I EMRK geltend machte, obwohl die Deliktshandlung in Kuwait stattgefunden hatte. Die grundsätzlich zu gewährende Immunität Kuwaits stand außer Frage, allerdings wurden in diesem Zusammenhang Erwägungen angestellt, die Immunität ggf. aus normenhierarchischen Gründen zurücktreten zu lassen199 . 2. Zusammenfassung Nahezu sämtliche nationalen und regionalen/internationalen Immunitätsregelungen sehen Immunitätsausnahmen für den Fall von Personenschäden in Folge deliktischen Handelns im Forumstaat vor. Der EGMR legt diese Regelungen, insbesondere Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Immunität von Staaten und ihrem Vermögen, der Prüfung zugrunde und prüft, ob die Immunitätsgewährung durch das nationale Gericht diesem internationalen Standard entspricht. Im Fall McElhinney hat er hierbei jedoch unrichtigerweise auf die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis abgestellt, die sich erübrigt, wenn die Regelungen über die Immunitätsausnahme einschlägig und erfüllt sind. Gleichzeitig ging der EGMR zu Unrecht davon aus, dass es eine internationale Übung gebe, die eine Differenzierung zwischen versicherbaren und nicht versicherbaren Schäden verlangt. Der Kommentar der ILC hierzu, auf den der EGMR rekurrierte, war in sich selbst widersprüchlich. Weitere Belege für eine solche Übung gibt es nicht. Insgesamt hätte der EGMR in diesem Fall eine Ausnahme der Immunität Großbritanniens annehmen müssen.
196 Schreuer, Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen ausländische Staaten, S. 44; Yang, State Immunity in International Law, S. 215. 197 Schreuer, Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen ausländische Staaten, S. 48. 198 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 199 Hierzu Kap. D. IV. 2. a).
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
VI. Verzicht auf das Recht auf Zugang zu Gericht Mit der Frage des Verzichts auf das Recht auf Zugang zu Gericht hatte sich der EGMR im Fall Deweer vs. Belgien200 zu beschäftigen. In diesem Fall ging es u. a. um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen in einem Strafverfahren auf das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 EMRK verzichtet werden kann. Herr Deweer hatte ein „friendly settlement“ der Staatsanwaltschaft unterschrieben, nachdem ihm angedroht worden war, andernfalls sein Geschäft zu schließen, ihn mit einer hohen Strafzahlung zu belegen und strafrechtlich weiter zu verfolgen. Mit diesem friendly settlement verzichtete der Beschwerdeführer Deweer auf weitere Möglichkeiten, seine Sache vor Gericht verhandeln zu lassen und verpflichtete sich zur Zahlung einer bestimmten Summe. In diesem Zusammenhang stellte der EGMR fest, dass Deweer angesichts der ihm sonst drohenden Alternativen regelrecht gezwungen war, diese Verzichtserklärung zu unterschreiben, und kein freier Willensentschluss vorgelegen habe, was im Ergebnis eine Verletzung von Art. 6 I EMRK bedeutete201 . Weitere, ausdifferenzierte Voraussetzungen für die Erklärung, auf das Recht auf Zugang zu Gericht (auch unabhängig von Art. 6 I EMRK) zu verzichten, gibt es nicht. Auch handelt es sich bei einschlägigen Fällen nahezu ausschließlich um strafrechtliche Anklagen, nicht um die hier interessierenden zivilrechtlichen Streitigkeiten i. S. d. Art. 6 I EMRK.
VII. Verhältnis des Rechts auf Zugang zu Gericht zu Art. 13 EMRK und zu Art. 5 IV EMRK Bröhmer hat sich bereits 1997 ausführlich mit der Frage beschäftigt, mit welchen Konventionsrechten jedenfalls die Staatenimmunität im konkreten Einzelfall kollidieren könnte und schlägt zunächst die Heranziehung von Art. 13 EMRK vor202 . Dieser Vorschlag setzt voraus, dass Art. 13 EMRK einen eigenen materiellen Gehalt besitzt, obwohl der Wortlaut der Regelung eine Verletzung von Konventionsrechten bereits voraussetzt203 . Dieser Ansatz ist angesichts der vorliegenden Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK abzulehnen. Der Gerichtshof hat bereits in seinem Grundsatzurteil Golder vs. United Kingdom204 festgestellt, dass ein aus Art. 6 I EMRK gelesenes Recht auf Zugang zu Gericht nicht mit Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) und mit Art. 5 IV EMRK (Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung) konkurriere. Eine „wirksame Beschwerde“ i. S. d. Art. 13 EMRK spreche jede „innerstaatliche Instanz“ an, auch solche, die nicht ein Gericht i. S. d. 200
EGMR, Urteil vom 27. 2. 1980, Deweer vs. Belgien, Rs. 6903/75. EGMR, a. a. O. 202 Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 171 ff., 163: Can this provision be construed so as to prohibit the granting of immunity when rights protected under the Convention have been violated? 203 Bröhmer, a. a. O., S. 172, mit Nachweisen aus der Praxis der Konventionsorgane zu dieser Frage. 204 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 33. 201
VIII. Ergebnis
59
Art. 5 IV oder Art. 6 I EMRK darstellten. Insofern geht Art. 6 EMRK weiter als Art. 13 EMRK. Weiterhin knüpfe Art. 6 EMRK nicht nur an die „in dieser Konvention anerkannten Rechte oder Freiheiten“ an, sondern an sämtliche „civil rights and obligations“. Im Ergebnis deckt Art. 6 EMRK einen weiten Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK mit ab und Art. 13 EMRK findet nur noch Anwendung, wenn nach Rechtsprechung des EGMR keine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen betroffen sind. Art. 6 EMRK ist somit nach dieser Rechtsprechung und der allgemeinen Gesetzessystematik lex specialis und wird auch in der Praxis zuvörderst geprüft. Nach Ansicht des EGMR betrifft Art. 5 IV EMRK demgegenüber die Rechtmäßigkeit einer Festnahme oder Haft und überschneidet sich schon deswegen nicht mit dem Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK, der allein auf „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ Anwendung findet. Auch wenn Überschneidungen in den Anwendungsbereichen denkbar, jedenfalls nicht vollständig auszuschließen seien, formuliere Art. 5 EMRK engere Voraussetzungen (besonders hinsichtlich der Frist) als Art. 6 EMRK. Die britische Regierung hatte zuvor vorgetragen, dass die Herleitung des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu einer Verwechslung mit Art. 5 IV EMRK bzw. Art. 13 EMRK führe und diese Konventionsrechte dann gegenstandslos würden205 .
VIII. Ergebnis Seit der Entscheidung im Fall Golder206 steht fest, dass Art. 6 I EMRK ein Recht auf Zugang zu Gericht inhärent ist, ein faires Verfahren demnach ein Zugang zu einem solchen Verfahren voraussetzt, auf das der individuelle Beschwerdeführer einen subjektiven Anspruch gegenüber den aus der Konvention verpflichteten Mitgliedstaaten hat. Das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK ist Ergebnis einer extensiven Auslegung des Art. 6 I EMRK. Die Straßburger Organe haben sich bereits mit der GolderRechtsprechung207 gegen die originalism-Methode entschieden, die auf die ursprüngliche Intention der Staaten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bei der Auslegung abstellt208 und die Konvention spätestens seit der Entscheidung Tyrer209 als living instrument verstanden, das im Lichte der present-day conditions ausgelegt werden muss210 . Die Gewährung von völkerrechtlichen Immunitäten stellt einen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK dar. Der Gerichtshof untersucht in Immunitätsfällen in einem Prüfungsdreiklang, ob die Gewährung der Immunität ein legitimes Ziel verfolgt, den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht nicht verletzt und verhältnismäßig war. Die Prüfdichte des Wesensgehalts ist gering.
205
EGMR, Urteil vom 21. 02. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 33. EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70. 207 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70. 208 Eine detaillierte Analyse der Rechtsprechung der Kommission im Fall Golder bietet: Loucaides, The Case-Law of the Commission as regards Rules of Interpretation. 209 EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer vs. UK, Rs. 5856/72. 210 EGMR, a. a. O., § 31. 206
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A. Das Recht auf Zugang zu Gericht
Nach Ansicht des EGMR verfolgt die Gewährung von Staatenimmunität als völkerrechtliches Konzept des par in parem non habet imperium211 ein legitimes Ziel, nämlich das Ziel der Beachtung des Völkerrechts zum Zwecke der Förderung der guten Beziehungen zwischen den Staaten durch die Beachtung ihrer Souveränität, welches grundsätzlich eine Einschränkung des Art. 6 I EMRK zu rechtfertigen vermag212 . Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit setzt der EGMR die Konvention zu ihrem normativen (völkervertraglichen und völkergewohnheitsrechtlichen) Umfeld unter Berücksichtigung von Art. 31 III lit. c WVK in Bezug und überprüft, ob die Gewährung von Staatenimmunität durch die nationalen Gerichte dem internationalen Standard entspricht. Ist dies nach Ansicht des EGMR der Fall, so findet keine, einer konventionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit normalerweise entsprechenden Ausbalancierung der betroffenen Interessen statt, sondern der EGMR geht automatisch („in principle“213 ) davon aus, dass die Gewährung der Immunität verhältnismäßig war. Die Staatenimmunität erfährt eine restriktive Anwendung im Bereich der arbeitsrechtlichen Streitigkeiten und im Bereich der Personenschäden aufgrund deliktischer Handlungen im Forumstaat. Hier respektiert der EGMR seiner Auslegungsmethodik nach Art. 31 III lit. c WVK entsprechend die Vorgaben der internationalen Übung, welche sich in den jeweiligen Kodifikationen, wie beispielsweise der UN-Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens manifestiert hat. Die Ergebnisse, zu denen der EGMR in den hier besprochenen Fällen kommt, überzeugen nur teilweise. Während der Gerichtshof im Fall Fogarty richtigerweise auf die Situation des recruitment abstellte und die Immunitätsausnahme entsprechend der hierzu korrespondierenden Übung verneinte, überzeugten die Entscheidungsgründe im Fall McElhinney nicht. Hier waren gleich mehrere Begründungsansätze kritikwürdig.
211 212 213
Hierzu sogleich in Kap. B. Z. B. Prince Hans-Adam II von Liechtenstein, Rn. 44. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 100.
B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität Die weitere Konfliktbeteiligte, die vorliegend auf das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK trifft, ist die Staatenimmunität. Durch die extensive Auslegung des Art. 6 I EMRK1 durch den EGMR hat dieser überhaupt erst die Voraussetzung geschaffen, dass Sachverhalte mit Immunitätsbezug in den Anwendungsbereich des Art. 6 I EMRK fallen. Diese „Emanzipation“ des (Menschen-)Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK führte zu einem bis dahin unbekannten Spannungsfeld zwischen dem Rechtsschutz des Einzelnen aus Art. 6 EMRK und der althergebrachten, völkergewohnheitsrechtlich tief verwurzelten Staatenimmunität. Die Auflösung dieses Konflikts ist Ziel der vorliegenden Untersuchung, wobei zunächst sämtliche Konfliktbeteiligte charakterisiert und die unterschiedlichen Rechtspositionen herausgestellt werden sollen. Im Folgenden werden daher Herkunft, Grundlagen und Entwicklung der Staatenimmunität dargestellt.
I. Grundlagen der Staatenimmunität Der Begriff der völkerrechtlichen Immunität wird in der Literatur nicht einheitlich beschrieben. Dies ist zunächst auf die dem Völkerrecht innewohnende Dynamik einer sich ständig ändernden Übung und Praxis zurückzuführen, was dazu führt, dass sich im Besonderen das Verständnis von Immunität fortdauernd verändert und weiterentwickelt. Der Immunitätsbegriff kann daher nicht statisch definiert werden, sondern verlangt nach ständiger Anpassung an die entsprechenden Entwicklungen im Völkerrecht. Es existieren zudem verschiedene regionale, nationale und internationale Bestrebungen2 , die die Thematik der völkerrechtlichen Immunitäten einem verbindlichen Regelwerk zuführen wollen. Dieses Nebeneinander an – zum Teil nicht ratifizierten und nicht immer kongruenten – Vertragstexten trägt zur allgemeinen Diversifikation des Immunitätsverständnisses bei. Die Staatenimmunität kann auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurückgreifen und folgt weiterhin auch einer funktionalen Rechtfertigung.
1
Siehe Kap. A. So bspw. der US Foreign State Immunity Act von 1976 (national), die European Convention on State Immunity von 1972 (regional) und die UN Convention on Jurisdictional Immunities of States and Their Property der ILC von 2004. 2
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
1. Begriff der Staatenimmunität Bereits im Fall Schooner Exchange vs. M’Fadden vor dem US-Supreme Court3 , das allgemeinhin als das wegweisende4 Urteil zur Staatenimmunität gilt und von 1812 datiert, heißt es „this perfect equality and absolute independence of sovereigns, and this common interest impelling them to mutual intercourse, and an interchange of good offices with each other, has given rise to a class of cases in which every sovereign is understood to waive the exercise of a part of that complete exclusive territorial jurisdiction, which has been stated to be the attribute of every nation“5 .
Das Prinzip der Staatenimmunität verlangt, dass ein Staat (Drittstaat, foreign state6 ) nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates, des Forumstaates, unterworfen wird7 ; es stellt mithin einen prozessualen Schutz des Staates vor fremdstaatlicher Gerichtsbarkeit dar, ohne Aussagen über die internationale Verantwortlichkeit des Staates für sein Handeln zu treffen8 . Andere9 definieren die Staatenimmunität wesentlich weiter als „die Freiheit fremder Staaten von inländischer Hoheitsgewalt“, schränken den Untersuchungsgegenstand sodann jedoch ebenfalls auf die gerichtliche Immunität von Staaten ein, was, legt man dieses Verständnis zugrunde, auch für die vorliegende Untersuchung gelten soll. 2. Abgrenzung der Immunität von der Zuständigkeit (Jurisdiktion) Jurisdiktion kann ganz grundsätzlich im formellen und materiellen Sinn definiert werden. Im formellen Sinne bedeutet Jurisdiktion die Kompetenz eines Gerichts, eine Rechtssache oder einen Rechtstreit zu entscheiden. Im materiellen Sinne umfasst die Jurisdiktion die Rechtsprechung insgesamt, also auch den materiell-rechtlichen Gehalt der gerichtlichen Entscheidung10 . Die Frage der Jurisdiktion, also der Zuständigkeit nationaler Gerichte, ist nach Rechtsprechung des IGH grundsätzlich von dem (als Verfahrenshindernis prozessual wirkenden) Institut der völkerrechtlichen Immunität zu unterscheiden: „It should further be noted that the rules governing the jurisdiction of national courts must be carefully distinguished from those governing jurisdictional immunities: jurisdiction does not imply absence of immunity, while absence of immunity does not imply jurisdiction.“11 . 3
The Schooner Exchange vs. M’Fadden, 11 U.S. (7 Cranch) (1812). Nach Badr, State Immunity: An analytical and prognostic View, S. 9 ff. stellt es auch das erste Urteil zur Staatenimmunität dar. 5 11 U.S. (7 Cranch) (1812), Rn. 116. 6 Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 21. 7 Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 29. 8 Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 3. 9 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 1. 10 Klatt, Die praktische Konkordanz von Kompetenzen, S. 34 und S. 58; Appelbaum, a. a. O., S. 30, definiert iurisdictionem – bzw. Jurisdiktion als die Befugnis eines Staates, über natürliche und juristische Personen sowie über Eigentum auf der Grundlage seines nationalen Rechts Hoheitsgewalt auszuüben und zwar in Form der klassischen drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative. 11 Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Judgment, I.C.J. Reports 2002, p. 3, § 59. 4
I. Grundlagen der Staatenimmunität
63
Hieraus folgt, dass ein Gericht zunächst zuständig sein muss, um die Frage der Immunität zu prüfen. Kommt es zu dem Ergebnis, dass Immunität gewährt werden muss, so kann es die Zuständigkeit nicht mehr ausüben. Insofern ist die Bejahung der jurisdiction notwendige Bedingung für die Erörterung einer (möglicherweise bestehenden) Immunität. Die völkerrechtliche Immunität ist zugleich Zuständigkeitsausübungsregel12 , was bedeutet „A plea of State Immunity is therefore a signal to the forum court that jurisdiction belongs to another court or method of adjudication“13 .
Das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität ist einem steten Wandel unterworfen, welcher die ständigen Interaktionen von verschiedenen Staaten in politischer, soziokultureller und nicht zuletzt wirtschaftlicher Hinsicht abbildet. Konzeptionell fußt die Staatenimmunität auf entwicklungshistorisch bedingt verschiedenen, rechtstheoretischen Ansätzen, die in den jeweiligen historischen Kontext einzuordnen sind. Hierbei wird zwischen einer formellen und einer funktionalen Herleitung unterschieden14 . 3. Formelle Herleitung a) Die Immunität als Ausdruck der Würde und Höflichkeit Die Staatenimmunität galt lange als Ausdruck der „Würde und Höflichkeit“ (grace and comity)15 von Staaten. Die heutige Staatenimmunität entwickelte sich aus der personengebundenen Immunität der früheren Herrscher, Regierenden, Könige, usf. und blickt auf eine jahrhundertealte Tradition zurück16 . Besonders im Absolutismus war die Immunität des Staates von der des absoluten Souveräns nicht zu trennen17 . Es war zu damaliger Zeit unzulässig, weil „entwürdigend“18 , dass sich ein Souverän vor fremdstaatlicher Gerichtsbarkeit (bzw. Hoheitsgewalt) verantworten sollte. Die Würde des Souveräns war somit elementarer Bestandteil der Herleitung und Rechtfertigung der völkerrechtlichen Immunität.
12 Die Immunität als „Zuständigkeitsausübungsregel bei verteilten Kompetenzen im dezentralen Rechtssystem“, Krieger, Immunität: Entwicklung und Aktualität als Rechtsinstitut, S. 249, Frau Prof. Krieger ordnet das obige Zitat allerdings dem falschen IGH-Urteil zu. 13 Fox, The Law of State Immunity, 3. Aufl., S. 586. 14 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2044 m. w. N. 15 Ress, The Changing Relationship between State Immunity and Human Rights, S. 178 m. w. N.; Steinberger, EPIL 10 (1987), S. 433. 16 Badr, State Immunity: An analytical and prognostic View, S. 9, zitiert Grotius, Byndershoek, Vattel, u. a. und datiert die Ursprünge ins 16. Jahrhundert. Karl, Völkerrechtliche Immunität im Bereich der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen, S. 23, spricht von der Staatenimmunität als Ausdruck eines „staatlichen Selbstverständnises“, welches bereits im Mittelalter anerkannt war. 17 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 4, weist in diesem Zusammenhang auf den englischen Begriff für Staatenimmunität, sovereign immunity, hin, der diesen historischen Gegebenheiten Rechnung trägt. 18 Als Beispiel aus der Rechtsprechung hierzu wird oft der Fall Saudi Arabia vs. Arabian American Oil Company (Arameco), ILR 27 (1963), S. 117 ff. zitiert: „. . . jurisdictional immunity of foreign States, recognized by international law in a spirit of respect for the essential dignity of sovereign power . . .“.
64
B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
Erst mit Auftreten des modernen Nationalstaates im 19. Jahrhundert entwickelte sich diese Immunität weiter zum heutigen Verständnis von Staatenimmunität. Die (alleinige) Herleitung der Staatenimmunität über die Würde eines Staates ist inzwischen überholt. b) Staatenimmunität als Ausdruck der souveränen Gleichheit aller Staaten Die souveräne Gleichheit aller Staaten ist in Art. 2 Nr. 1 UN-Charta niedergelegt und bedeutet zunächst Rechtsgleichheit im Sinne einer formell gleichen Rechtsposition19 . Angewandt auf die Immunität von Staaten bedeutet der souveräne Gleichheitssatz, dass Gleiche über Gleiche keine Macht haben, was durch die lateinische Maxime par in parem non habet imperium bereits bei den römischen Juristen Ulpian und Iulius erste Erwähnung fand und sich in den Digesten des Kaisers Justinian I. wiederfindet. Der Jurist Bartolus de Saxoferrato (1313–1357)20 erweiterte diesen Rechtssatz dahingehend, dass ein Staat über einen anderen Staat auch kein Gesetz erlassen und zu Gericht sitzen darf, wenn oben genannter Grundsatz konsequent angewandt werde (par in parem non habet imperium ni iuristictionem). Die souveräne Gleichheit der Staaten ist allgemeinhin als Grundlage der Staatenimmunität anerkannt. Sie hat verschiedene konzeptuelle Veränderungen und Entwicklungen durchlaufen, die für die Beurteilung der Reichweite von staatlicher Immunität von Bedeutung sind. Das Völkerrecht entwickelte sich von einem formalen Recht der Koexistenz der Staaten (im Sinne einer Abgrenzung staatlichen Hoheitsgebiets) zu einem universalen Koordinierungsrecht zwischen Staaten, welches in Bereichen von gemeinschaftlichem Interesse, wie etwa im internationalen Wirtschaftsrecht wichtige Kooperationsfunktionen übernahm. Hinzu kam eine „horizontale“ Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen wie etwa der kollektiven Sicherheitspolitik21 . Das moderne Verständnis von Völkerrecht stellt somit nicht mehr allein auf dessen Koordinierungsfunktion ab, sondern nimmt die Internationale (Werte-)Gemeinschaft mit in den Fokus22 , welche den Staaten trotz ihrer ureigenen Völkerrechtssubjektivität und souveränen Gleichheit Pflichten auferlegt, etwa die Einhaltung von Menschenrechten oder weltweit einzuhaltene Standards im Umweltrecht. Hiermit ist eine Entwicklung des klassischen Völkerrechts zwischen Staaten23 , das den Einzelnen mediatisierte, hin zu einer stärkeren Einbindung der Zivilgesellschaft zu konstatieren24 . Die staatliche Souveränität ist als „traditionelles Leitbild“ trotz dieser Entwicklungsprozesse in seinen Grundfesten jedoch (noch) nicht aufgelöst25 . Die veränderte Struktur ist jedoch auch im Hinblick auf die (Weiter-)Entwicklung des Grundsatzes der Staatenimmunität zu berücksichtigen. Ändert sich das Verständnis von staatlicher Souveränität, so hat diese Veränderung Auswirkun19
Kau in Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 87 f. Bartolus de Saxoferrato, Tractus repressalium. Quaestio prima ad tertium, § 10. 21 Vgl. Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 14 ff. 22 Art. 33 Abs. 1 UN Staatenverantwortlichkeit. 23 Ursprünglich: de Vattel, The Law of Nations or the Principles of Natural Law, im vorliegenden Kontext u. a. aufgegriffen von Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 12 24 U. a. durch die Gründung der UN, so auch: Paulus, a. a. O., S. 12. 25 Graf Vitzthum/Proelß, a. a. O., Rn. 14 ff., 45 ff. 20
I. Grundlagen der Staatenimmunität
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gen auf Inhalt und Reichweite der aus der souveränen Gleichheit von Staaten abgeleiteten Staatenimmunität. Gleichwohl werden die soeben skizzierten Entwicklungen im Recht der Staatenimmunität nicht – oder nur verzögert – abgebildet26 . In diesem Umstand liegt eine vielversprechende Argumentationsgrundlage, im Rahmen einer entsprechenden Anpassung die Geltung und Reichweite der Staatenimmunität restriktiver zu gestalten. 4. Funktionale Herleitung Die funktionale Herleitung spielt besonders bei der Begründung der Immunität von Internationalen Organisationen eine Rolle. Daneben beansprucht sie jedoch auch im Recht der Staatenimmunität eine gewisse Relevanz. Dem funktionalen Ansatz zufolge stellt die Staatenimmunität ein im Völkerrecht notwendiges Rechtsprinzip dar, welches das unabhängige Funktionieren staatlicher Regierungsmechanismen gewährleistet27 . Würden Staaten über andere Staaten zu Gericht sitzen, würden sie sich zwangsläufig in die politischen Geschicke des betreffenden Landes einmischen und Entscheidungen treffen, die die dem betroffenen Staat originär zustehenden staatsfundamentalen Entscheidungen konterkarierten könnten. Insofern bestehen Schnittmengen zum Interventionsverbot. Das Interventionsverbot, bzw. das Prinzip der Nichteinmischung28 schützt Staaten im Hinblick auf deren interne Angelegenheiten (sog. domaine reservé29 ) vor politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Einwirkungsmaßnahmen durch andere Staaten und weist freilich ebenso enge Bezüge zum Prinzip der souveränen Gleichheit auf. Aufgrund der Schnittmengen mit dem Prinzip der Nichteinmischung wird deutlich, dass eine funktionale Herleitung der Staatenimmunität das Problem lediglich auf eine andere Ebene verschiebt. Die Frage, wie weit der Anspruch auf Nichteinmischung reicht, ist ebenso komplex, wie die Aufgabe, Geltungsgrund und Umfang der Staatenimmunität zu bestimmen. Neben dem Versuch, die Staatenimmunität als Ausdruck der Notwendigkeit eines funktionierenden Staatsapparates herzuleiten, ist ein weiteres funktionales Element von Bedeutung: Für Staaten war und ist es – besonders im Zeitalter der Globalisierung30 – unter diplomatischen, wirtschaftlichen und praktischen Erwägungen wichtig, zu interagieren, sich auszutauschen und gute Beziehungen zueinander zu begründen, aufrecht zu erhalten und zu pflegen. Diese Interaktion steht seit jeher unter der gegenseitigen Gewährung (oder ggf. dem Verzicht) von Staatenimmunität und wird auch vom EGMR regelmäßig als legitimes Ziel eines Eingriffs in Art. 6 EMRK anerkannt31 . 26 So auch Krajewski/Singer, Should Judges be Front-Runners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, S. 8. 27 Steinberger, EPIL 10 (1987), S. 432. 28 Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 21 m. w. N. 29 Zum Interventionsverbot und der domaine réservé Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 76. 30 Krieger, Immunität: Entwicklung und Aktualität als Rechtsinstitut, S. 246 unter Hinweis auf die Pluralisierung der Akteure und der Ausdehnung der inter- und transnationalen Aufgabenwahrnehmung, die den Kreis der Immunitätsbegünstigten signifikant erweitert. 31 Bspw.: EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Rs. 31253/96, McElhinney vs. Irland, Rn. 35.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
II. Rechtsquellen der Staatenimmunität Das Recht der Staatenimmunität ist Gegenstand zahlreicher Kodifikationsbemühungen gewesen32 . Bis heute ist keine zufriedenstellende Lösung erreicht worden, da der genaue Umfang der Staatenimmunität seit jeher (zu) stark umstritten ist. Die Unterschiede, die sich in der Staatenpraxis und in der völkerrechtswissenschaftlichen Lehre hierzu innerhalb verschiedener Zeitabschnitte ausmachen lassen, belegen einen steten Wandel, der eine statische Kodifikation bereits im Ansatz verhindert und aufgrund mangelnder Flexibilität in der Anpassung an aktuelle Entwicklungstendenzen auch nicht sachgerecht erscheinen lässt. Hinzu kommen die unterschiedlichen Konzepte von Staatenimmunität durch die nationalen Rechtsordnungen. Die verschiedenen Kodifikationsversuche spiegeln eben diese Diversifität des Immunitätsverständnisses verschiedener Akteure zu verschiedenen Zeiten wider. Am 11. Juni 1976 wurde, initiiert durch den Europarat, das Europäische Übereinkommen über Staatenimmunität in Basel geschlossen (daher auch häufig: Basler Übereinkommen)33 . Bereits 1977 erhielt zudem die International Law Comission von der UNGeneralversammlung den Auftrag, sich mit der Thematik der Immunität von Staaten und ihres Vermögens zu befassen34 . Erst 2004 verabschiedete die Generalversammlung der UN schließlich das UN-Übereinkommen über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit35 und legte es zwei Jahre zur Unterzeichnung aus. Bis heute ist die Konvention mangels des Erreichens von 30 notwendigen Beitritten, Ratifikationen, Annahmen und Genehmigungen36 noch nicht in Kraft getreten, zur Zeit hat sie 28 Unterschriften (signatories) und 16 Beitritte (parties) zu verzeichnen37 . Der EGMR greift in seiner Entscheidungsfindung regelmäßig auf die UN-Konvention über die gerichtliche Immunität der Staaten und ihres Vermögens zurück und anerkennt wichtige Regelungen hieraus als Abbildung geltenden Völkergewohnheitsrechts38 . Der EGMR wendet hierbei Inhalte der UN-Konvention auch gegenüber Mitgliedstaaten an, die die Konvention nicht ratifiziert haben39 . 32 So z. B. ILA, Report of the 45th Conference 1952, S. 6 ff.; Institut du Droit International, Annuaire 45 II (1954), S. 293 ff. und 64 II (1992), S. 388 ff. 33 Europäisches Übereinkommen über Staatenimmunität, abgeschlossen in Basel am 16. 3. 1972, in Deutschland ratifiziert, BGBl. II 1990, 1400 ff. Das Basler Übereinkommen wurde zunächst nur von drei Mitgliedsstaaten ratifiziert (Deutschland, Österreich, Schweiz), bis heute hat es lediglich acht Ratifikationen erreicht (Belgien, Luxemburg, Vereinigtes Königreich, Zypern), sodass es zwar in Kraft ist, allerdings keine Aussagen über aktuell geltendes Völkergewohnheitsrecht zulässt. 34 A/Res/32/151; zur (sehr) ausführlichen Darstellung der einzelnen Erarbeitungsschritte, Lesungen und Beschlüsse siehe: Lengelsen, Aktuelle Probleme der Staatenimmunität im Verfahren vor den Zivil- und Verwaltungsgerichten, S. 23 ff. 35 United Nations Convention on Jurisdictional Immunities and their Property, GA Res. 59/38 vom 2. 12. 2004. 36 Art. 30 der Konvention. 37 https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=III-13&chapter=3& lang=en&clang=_en, zuletzt abgerufen am 18. 06. 2018. 38 GA Res. 59/38 vom 2. 12. 2004, die der EGMR bspw. in und Bsp. aus der Rspr. des EGMR. 39 Bspw. im Fall Cudak, EGMR, Urteil vom 23. 3. 2010, Cudak vs. Lithuania, Rs. 15869/92, im Hinblick auf Art. 11 der UN-Konvention. Der EGMR geht davon aus, dass es ein „well-established principle of international law that, even if a State has not ratified a treaty, it may be bound by one of its provisions in so far as that provision reflects customary international law, either ‚codifying‘
II. Rechtsquellen der Staatenimmunität
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1. Verbindlichkeit der Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht Die Staatenimmunität stellt einen völkerrechtlich verbindlichen Rechtssatz dar, den die Staaten bei der Bewältigung von Konfliktsituationen mit menschenrechtlichem Bezug zu berücksichtigen haben. Dies ist auf den Rechtscharakter der Staatenimmunität zurückzuführen. Herrschend ist die Ansicht, dass Staatenimmunität Völkergewohnheitsrecht darstellt40 . Einzeln vertreten wird jedoch auch die Annahme, Staatenimmunität stelle kein Völkerrecht, sondern vielmehr comity by nations dar, mit der Konsequenz, dass keine rechtliche Verpflichtung zur Einhaltung dieser comity besteht41 . In der Entscheidung Jurisdictional Immunities of States42 hat der IGH in Anwendung des Art. 38 I IGH-Statut eine empirisch determinierte Staatenpraxis bestätigt und die Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. Auch der EGMR43 geht von einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit und somit von obligatorischem Völkergewohnheitsrecht aus. Im Fall Al-Adsani anerkennt er: „Sovereign immunity is a concept of international law, developed out of the principle par in parem non habet imperium, by virtue of which one State shall not be subject to the jurisdiction of another State. The Court considers that the grant of sovereign immunity to a State in civil proceedings pursues the legitimate aim of complying with international law to promote comity and good relations between States through the respect of another State’s sovereignty“44 .
Der EGMR geht davon aus, dass die Staatenimmunität Bestandteil allgemein anerkannten Völkerrechts ist und stellt in der Herleitung der zuvor von ihm als Völkergewohnheitsrecht charakterisierten Staatenimmunität auf das funktionale Element der Begründung und Vertiefung der zwischenstaatlichen Beziehungen ab. Der Rechtsprechungssystematik des EGMR eigen ist die nahezu formelhafte, wortgleiche Wiederholung derartiger Passagen in späteren Urteilen45 .
it or forming new customary rule“ ist. Hiergegen wenden sich Richter Barreto und Popovic in ihrer Concurring opinion, die eine Ratifikation der entsprechenden Regelungen für eine völkerrechtliche Bindung verlangen. Sie stimmen allerdings zu, dass Völkergewohnheitsrecht diese Bindung (direkt) herbeiführen kann. 40 Vgl. Fox, The Law of State Immunity, S. 13 ff. 41 Zu dieser Unterscheidung siehe: Fox, a. a. O., S. 13 ff. und Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 34 ff., der auf die Praxis der USA hinweist, die ein „uneinheitliches Verständnis“ der Rechtsnatur zeige. Weiterhin: Lauterpacht, The Problem of Jurisdictional Immunities of Foreign States, S. 220, 228; zuletzt: Finke, Sovereign Immunity: Rule, Comity or Something Else?, S. 879 ff. 42 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, §§ 54 ff., 56. 43 Dem EGMR wird bisweilen im Rahmen der Charakterisierung völkerrechtlicher Immunitäten sprachliche Ungenauigkeit und fehlende terminologische Trennschärfe vorgeworfen, so z. B. Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen, S. 41. 44 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 45 Bspw. Urteil des EGMR vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. UK, Rs. 31253/96.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
2. Abgrenzungen Von der Staatenimmunität ist die Act-of-State-Doktrin zu unterscheiden, die kein Völkergewohnheitsrecht darstellt46 . Die Act-of-State-Doktrin entstammt der angloamerikanischen Rechtstradition und verbietet es, dass Akte eines Staates, die Personen, Rechte oder Sachen auf dessen Hoheitsgebiet betreffen, durch Organe anderer Staaten auf Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit überprüft werden, auch wenn sie in diesem Staat Rechtswirkungen entfalten47 . Die Act-of-State-Doktrin hat somit ihre Grundlagen im nationalen Recht. Vertreter, die die Staatenimmunität hier einordnen, folgen weniger dem staatenzentrierten, auf die Souveränität abstellenden Ansatz, sondern vielmehr dem funktionalen Ansatz. Da die Staaten im eigenen Interesse handelten, wenn sie Immunität gewährten, kann nicht von einer Verpflichtung zur Gewährung von Staatenimmunität ausgegangen werden48 . Diese Ansicht ist spätestens seit dem Urteil des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of the State49 überholt. 3. Zusammenfassung Das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität fußt nicht nur auf dem Prinzip der völkerrechtlichen Gleichheit, Würde und Souveränität von Staaten, sondern auch auf funktionalen Erwägungen. Völkerrechtliche Immunitäten können immer auch Gegenstand von Verhandlungen und Verzicht sein und werden flexibel gehandhabt50 . Die Urteilsbegründung zum Fall Schooner Exchange vs. M’Fadden anerkannte nicht nur die Immunität von Staaten, sondern formulierte darüberhinaus auch mögliche Grenzen dieser Immunität, nämlich den expliziten oder impliziten Verzicht hierauf51 . Es war geradezu üblich, dass Staaten jedenfalls Einschränkungen ihrer Immunität hinnahmen und bspw. das Recht auf freie Durchfahrt durch ihre Gewässer (free passage) gewährten. Dies taten sie nicht aus freien Stücken, sondern in Erwartung des Aufbaus und der Aufrechterhaltung internationaler Beziehungen52 .
46
Kau in Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 89, m. w. N. Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen, S. 34, mit Nachweisen aus der hierzu korrespondierenden amerikanischen Rechtsprechung. 48 Pieper, Staatenimmunität – eine Bestandsaufnahme, S. 844. 49 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece intervening), Judgment I.C.J. Reports 2012, p. 38. 50 A. A. Karl, der durch Infragestellen von völkerrechtlichen Immunitäten das „Fundament der zwischenstaatlichen Beziehungen“ bedroht sieht, Karl, Völkerrechtliche Immunität im Bereich der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen, S. 27. 51 „A state’s exclusive and absolute territorial jurisdiction is susceptible of no limitation not imposed by itself “, „All exceptions, therefore, to the full and complete power of a nation within its own territories must be traced up to the consent of the nation itself “, The Schooner Exchange vs. M’Fadden, 11 U.S. (7 Cranch) (1812), Rn. 137–140. 52 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2040. 47
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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Staatenimmunität gehört dem Völkergewohnheitsrecht an, sodass sich Änderungen dieses Rechts, v. a. Einschränkungen oder die Abschaffung an den Regeln der Begründung und Änderung neuen Völkergewohnheitsrechts messen lassen müssen53 . Dieser Befund ist insofern relevant als der IGH in seiner letzten Entscheidung zur Staatenimmunität54 explizit festgestellt hat, dass es zur Zeit keine derartige Übung gibt, die die Staatenimmunität in bestimmten Situationen, wie z. B. in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen, einzuschränken vermögen. Dennoch unterlag das Prinzip der Staatenimmunität in den vergangenen einhundert Jahren gravierenden Einschränkungen, die völkerrechtlich inzwischen anerkannt sind und bis hin zur aktuellen Rechtsprechung des IGH im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen.
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität 1. Die Entwicklung der Staatenimmunität von einer absoluten zu einer relativen Geltung Die Staatenimmunität als der bis heute zu den ältesten und wichtigsten zählende Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts wurde bis zum Ende des zweiten Weltkrieges nahezu absolut verstanden55 . Staatenimmunität bedeutete Immunitätsgewährung für sämtliches staatliches Handeln (sog. absolute Immunitätslehre) mit der Konsequenz, dass ein Staat – unabhängig von seiner immer noch bestehenden Staatenverantwortlichkeit56 – vor den Gerichten anderer Staaten nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte57 . Mit dem Wandel vom klassischen zum modernen Völkerrecht hat auch die Staatenimmunität Veränderungen erfahren. Infolge zunehmender wirtschaftlicher Betätigung der Staaten und der zunehmenden Anzahl von dem Staat zuzurechnenden Akteuren im internationalen Tagesgeschäft erfuhr das absolute Immunitätsverständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einschränkungen (sog. restriktive Immunitätslehre)58 . Die Rolle des Staates im 20. Jahrhundert war stark interventionistisch. Er drängte in die Privatwirtschaft und schwang sich zu einem aktiven Mitspieler im Marktgeschehen auf. In Konsequenz 53 Völkergewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung wird von Art. 38 I lit. b IGH-Statut erfasst und verlangt neben dem objektiven Element der wiederholten, regelmäßigen, einheitlichen Übung durch Völkerrechtssubjekte darüber hinaus das Bestehen eines subjektiven Elements in Form einer Überzeugung, zu einem bestimmten Verhalten völkerrechtlich verpflichtet zu sein, vgl. Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 131 m. w. N. und tiefergehender Untersuchung der einzelnen, konstitutiven Elemente von Völkergewohnheitsrecht. 54 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece intervening), Judgment I.C.J. Reports 2012, p. 38. 55 Beispiel aus der Rechtsprechung hierzu: Parlement Belge-Fall vor dem English Court of Appeal (1880), 5 P.D. 197 ff.; The Schooner Exchange vs. M’Fadden, 11 U.S. (7 Cranch) (1812). 56 Es bleibt die Möglichkeit, die Staaten im Rahmen ihrer vertraglich anerkannten internationalen Gerichtsbarkeit zu verklagen. 57 Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 29 f. 58 Vgl. zu den Anfängen dieser Entwicklung unter Analyse der Rechtsprechungspraxis damaliger Zeit: Fitzmaurice, State Immunity From Proceedings in Foreign Courts, S. 101 ff. In Deutschland u. a. bestätigt durch die beiden Entscheidungen des BVerfG vom 30. 10. 1962 und 30. 04. 1963, BVerfGE 15,25 und BVerfGE 16, 27.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
sollte er sich im Rahmen dieser privatwirtschaftlichen Tätigkeiten nicht mehr auf Immunität berufen dürfen. Dies ist v. a. dem Umstand geschuldet, dass das privatwirtschaftliche Betätigen von Staaten nach individuellem Rechtsschutz der hiervon Betroffenen oder hieran Beteiligten verlangt. Betätigt sich ein Staat nicht hoheitlich, so ist nicht ersichtlich, warum seine (privatwirtschaftlichen bzw. kommerziellen) Akte der fremden Gerichtsbarkeit entzogen sein sollten. Besonders die belgische und italienische Rechtsprechung haben diese Unterscheidung in Bezug auf die Staatenimmunität forciert und die völkergewohnheitsrechtliche Entwicklung vorangetrieben59 . Hierbei haben sie sich explizit gegen die ständige Übung einer absoluten Gewährung von Staatenimmunität ausgesprochen und entsprechend geurteilt. Somit fußte die Entwicklung der Staatenimmunität von einer absoluten zu einer relativen Geltung auf einer geänderten Übung/Praxis einzelner nationaler Gerichte, die in diesem Zusammenhang auf die dynamische Natur der Staatenimmunität hinwiesen. Ihr Ansatz fand schnell Zustimmung und Akzeptanz in anderen Staaten. In den USA kann der Tate letter als Wendepunkt von einer absoluten zu einer restriktiven Geltung der Staatenimmunität ausgemacht werden60 , in Deutschland anerkannte das BVerfG die restriktive Immunitätslehre recht spät, erstmals im Iranischen Botschaftsfall von 196361 . Veränderte Gegebenheiten im gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Umfeld der Staaten beeinflussen die Reichweite, den Geltungsumfang und allgemein die Entwicklungstendenz der Staatenimmunität62 . Unterschieden wurde sodann zwischen hoheitlichen Staatshandlungen (acta iure imperii) und nichthoheitlichen, etwa „privat-“wirtschaftlichen Handlungen, durch einen Staat (acta iure gestionis), wobei nur das Handeln iure imperii noch dem umfassenden Immunitätsschutz unterfällt. Die Entwicklung von einer absoluten zu einer relativen Geltung der Staatenimmunität hatte keine Auswirkungen auf andere Immunitätsformen, wie etwa die auch heute noch absolut verstandene Immunität von Internationalen Organisationen oder die diplomatische Immunität. 2. Die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis Die restriktive Staatenimmunitätslehre ist inzwischen nahezu universal anerkannt63 . 59 Zu der italienischen Rechtsprechung im Besonderen: Atteritano, Immunity of States and their organs: The contribution of Italian Jurisprudence over the past ten years, S. 34 ff.; Sciso, Italian Judges’ point of View on Foreign States’ Immunity; Nachweise dieser Rechtsprechung u. a. bei Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen, S. 47 f. 60 Letter of State Department’s Acting Legal Adviser Jack B. Tate to the Department of Justice, 19. Mai 1952, 26 Department of State Bulletin 984 (1952), zitiert nach Ress, The Changing Relationship between State Immunity and Human Rights, S. 179, Fn. 34 und Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 18. 61 BVerfGE 16, 27. 62 So auch Fox, The Law of State Immunity, 2. Aufl., S. 2, wenn sie ausführt: „The last hundred years have seen enormous changes in the doctrine and practice [in the law of State Immunity], and indeed in the last decade the changes have accelerated in response to the changing priorities of society“. 63 Nur China und einige Länder in Lateinamerika folgen noch der absoluten Doktrin, vgl. hierzu Cassese, International Law, S. 100.
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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Die Grundlagen dieser Entwicklung wurden bereits im 16. Jahrhundert gelegt, wenn zwischen den privaten und hoheitlichen Akten des jeweils Herrschenden unterschieden wurde (gleiches galt für das private und öffentliche Eigentum)64 . Die restriktive Immunitätslehre findet sowohl im Erkenntnisverfahren als auch im Vollstreckungsverfahren Anwendung, wobei im Vollstreckungsverfahren entsprechend darauf abzustellen ist, ob der Gegenstand, in den vollstreckt werden soll, überwiegend hoheitlichen oder wirtschaftlichen Zwecken dient65 . Die Qualifikation von staatlichen Akten als acta iure imperii und acta iure gestionis stellt im Rahmen der Staatenimmunität ein zentrales Problem dar66 . Die Einordnung staatlicher Handlungen in hoheitliche oder privat-wirtschaftliche Akte ist entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob dem Staat Immunität gewährt werden wird, oder nicht. Nur acta iure imperii rechtfertigen nach der herrschenden restriktiven Ansicht die Gewährung von Immunität. Darüberhinaus werden in diesem Kontext weitere Ansätze für die Einschränkung staatlicher Immunität diskutiert, wie etwa die sog. Deliktsausnahme67 , welche sich jedoch noch nicht durchsetzen konnte. a) Unterscheidungskriterien Das Völkerrecht selbst stellt keine Differenzierungskriterien für die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis bereit, sodass in diesem Zusammenhang die erkennenden nationalen Gerichte über die Qualifikation staatlicher Handlungen entscheiden (lex fori)68 . Als Kriterien zur Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis werden u. a. der Zweck und die Natur der Handlung69 herangezogen. Gleichzeitig muss es für den Staat kalkulierbar und vorhersehbar sein, dass er sich mit diesem (privatwirtschaftlichen) Akt einem Haftungs- bzw. Prozessrisiko aussetzt, da er sich im Falle eines Rechtsstreits nicht auf Immunität berufen darf70 . Während sich das BVerfG zudem explizit mit der Frage auseinandersetzt, ob es sich bei hoheitlichen Akten, die Völkerrecht verletzen und schwere Menschenrechtsverstöße darstellen, dennoch um acta iure imperii handelt71 , gibt es von Seiten des EGMR hierzu keine vergleichbare Rechtsprechung. Im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung prüft er (u. a.) inzident, ob mit der Gewährung von Staatenimmunität geltendem Völkerrecht 64
Badr, State Immunity, An analytical and prognostic View, S. 9 m. w. N. Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland: Prozessführung vor ausländischen Gerichten und Schiedsgerichten, S. 32 f., Rn. 64 ff. 66 Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, S. 137. 67 Torts Exception to Immunity, hierzu mit historischem Hintergrund: Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 19 f. 68 So auch Kau in Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 90. 69 So die Ansicht des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 16, 27. 70 Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 198, leitet diese beiden Kriterien aus dem Souveränitätsprinzip ab und unterstreicht, dass die Staaten in jedem Fall eine Wahl haben müssen, ob sie mit Wissen um die möglichen Konsequenzen sich aus ihrem durch die Immunität normalerweise gewährten Schutz in die freie Wirtschaft begeben. 71 BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006, 2 BvR 1476/03, „Distomo“: „Da die am Geschehen in Distomo beteiligte SS-Einheit den Streitkräften des Deutschen Reiches eingegliedert war, sind die Übergriffe, unabhängig von der Frage ihrer Völkerrechtswidrigkeit, als Hoheitsakte einzuordnen.“ 65
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
entsprochen wurde, ohne hierbei auf die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis überhaupt einzugehen72 . b) Die Kategorie der delicta imperii Die Aberkennung einer Qualifikation als acta iure imperii in Fällen völkerrechtswidrigren Handelns wurde bereits 1958 von Dahm gefordert73 . Dahm argumentiert, dass die Zuordnung eines Hoheitsaktes zu einem Staat eine entsprechende Rechtsnorm voraussetze, die dem Völkerrecht nicht grob widersprechen dürfe. Richter am IGH Cancado Trindade hat diese Kategorie in seiner Dissenting Opinion delicta imperii genannt74 mit dem Hinweis, dass Kriegsverbrechen nicht als acta iure imperii qualifizieren werden dürften. Hierfür führt er unter moralischer und ethischer Begründung eine neuen Position des Individuums im Völkerrecht (als einem ius gentium) an75 . Die bisherige Unterscheidung erachtete er in diesem Zusammenhang für zu kurzsichtig und staatenzentriert76 . c) Die territoriale Deliktsausnahme Die sog. territoriale (gebietsbezogene) Deliktsausnahme ist in zahlreichen Konventionstexten zur Staatenimmunität bereits enthalten77 und wurde jüngst auch im Staatenimmunitätsverfahren vor dem IGH durch Italien vorgebracht78 . Sie sieht vor, dass sich ein Staat gegenüber einem anderen (Forum)staat dann nicht auf Immunität berufen darf, wenn er auf dem Hoheitsgebiet des Forumstaates deliktische Handlungen begangen hat79 . Sie entstammt dem Recht der diplomatischen Immunität80 . 72 Beispiel zur Staatenimmunität: EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97; in EGMR, Urteil vom 17. 7. 2012, Wallishauser vs. Austria, Rs. 156/04 setzt der EGMR sich sogar zunächst mit der Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung auseinander, geht in der eigenen Urteilsfindung später jedoch nicht mehr auf diese Differenzierungen ein. 73 Vgl. Dahm, Völkerrechtliche Grenzen der inländischen Gerichtsbarkeit gegenüber ausländischen Staaten, S. 170. 74 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, Rn. 155, Diss. Op. Judge Trindade. 75 Leider geht er in diesem Zusammenhang nicht auf das geänderte Verständnis staatlicher Souveränität und Gleichheit ein, das seinen Standpunkt unterstützt hätte, so auch: Krajewski/Singer, Should Judges be Front-Runners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, S. 18. 76 I.C.J., a. a. O., Rn. 161. 77 Vgl. Art. 11 des Europäischen Übereinkommens über Staatenimmunität von 1972 und Art. 12 des UN Übereinkommens über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit, 2004. 78 Italien berief sich im Fall Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, auf die Territorial Tort Exemption und argumentierte, dass es inzwischen eine Ausnahme von Staatenimmunität völkergewohnheitsrechtlich anerkannt gebe, die in Ausnahme der acta iure imperii-Regel für im Forumstaat begangene Handlungen eines anderes Staates, die zu Tod oder Körperverletzung von Personen führten, hierfür keine Staatenimmunität gewähre. 79 Hierzu: Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 19 f. 80 Vgl. hierzu bspw. Art. 11 des Europäischen Übereinkommens über Staatenimmunität von 1972 bzw. Art. 12 des UN Übereinkommens über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit, 2004.
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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Der territorialen Deliktsausnahme liegt die Annahme zugrunde, dass ein Forumstaat dann nicht zur Gewährung völkerrechtlicher Immunität verpflichtet ist, wenn es auf seinem Territorium zu deliktischen Handlungen (auch im Rahmen von hoheitlichen Akten) seitens eines fremden Staates kommt. Die Tatsache, dass sich ein fremder Hoheitsträger auf dem Terrain des Formustaates befindet, verpflichtet den Hoheitsträger nach dieser Ansicht, sich den dort geltenden Gesetzen und Regeln des Forumstaates zu unterwerfen. Es ist umstritten, ob die Deliktsausnahme geltendes Völkergewohnheitsrecht darstellt. Auch hat die territoriale Deliktsausnahme einen anderen Hintergrund. Vornehmlich wurde sie im Recht der Immunität von Diplomaten für Verkehrsunfälle u. ä. gewährt81 , sodass sich fragt, ob sie beispielsweise auf bewaffnete Konflikte (military actions82 ) überhaupt Anwendung findet. Der IGH hat, da die Konventionen, in denen die territoriale Deliktsausnahme bereits enthalten ist, wegen fehlender Ratifikationen nicht in Kraft getreten sind und eine entsprechende völkerrechtliche Übung fehlt, keine völkergewohnheitsrechtliche Geltung angenommen83 . Dieses Ergebnis entspricht der aktuell herrschenden Ansicht84 . d) Zusammenfassung In der Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis ist nicht nur das zentrale Problem, sondern im Ergebnis auch die große Schwäche der herrschenden Immunitätslehre zu erkennen. In Zeiten wachsender Bedeutsamkeit des regionalen und internationalen Menschenrechtsschutzes ist diese Charakterisierung nicht mehr zeitgemäß. Sie wurde aus anderer Motivation heraus geschaffen, nämlich der Einschränkung einer absolut geltenden Immunität im Sinne eines effektiveren Schutzes von Individualrechten und -interessen, behindert nunmehr jedoch weitere Einschränkungstendenzen im Hinblick auf die Staatenimmunität und die Verletzung regionaler Menschenrechtsstandards. Es ist für die erkennenden Gerichte – gerade im Hinblick auf grobe Menschenrechtsverletzungen – quasi unmöglich, von einer privatwirtschaftlichen Handlung des Staates auszugehen, mit dem verstörenden Ergebnis, dass für derart schwerwiegende Vorwürfe Immunität gewährt werden muss85 . Die Menschenrechte der EMRK verpflichten in erster Linie die Mitgliedsstaaten. Der Versuch, menschenrechtswidriges Verhalten als Handlungen iure gestionis bzw. als delicta imperii zu qualifizieren86 , macht nur noch mehr die Schwächen der bestehenden Differenzierung deutlich.
81 Schaarschmidt, Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, Deutschland v. Italien vor dem IGH, S. 16. 82 Hierzu Art. 31 des Europäischen Übereinkommens über Staatenimmunität von 1972, der vorsieht, dass militärische Handlungen weiterhin der Immunität unterliegen. 83 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, § 62. 84 Ebenso der EGMR: EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Ireland, Rs. 31253/96, Rn. 38; andere Ansichten der v. a. griechischen Gerichte dargestellt in Schaarschmidt, Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, Deutschland v. Italien vor dem IGH, S. 17 (mit Nachweisen). 85 Zu diesem Ergebnis kommt auch Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 88. 86 So z. B. Orakhelashvili, GYIL 46 (2002), S. 227, 237.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
Gleichzeitig hat sich die Rolle des Staates in der modernen Völkerrechtsgemeinschaft gewandelt. Immer neue Grauzonen entwickeln sich, die eine Unterscheidung nahezu unmöglich machen87 . Der IGH hat jüngst die Geltung der restriktiven Staatenimmunität bestätigt und einer weiteren Entwicklung hin zu einer differenzierten Immunitätsgewährung vorerst den Riegel vorgeschoben. Zuvor hatten (v. a.) italienische, belgische und griechische Gerichte versucht, eben diese Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis aufzuheben88 . 3. Die Entscheidung des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of the State Im Dezember 2008 verklagte die Bundesrepublik Deutschland Italien nach Art. 40 I IGH-Statut vor dem Internationalen Gerichtshof mit dem Vorwurf, italienische Gerichte hätten die Staatenimmunität Deutschlands in zahlreichen Verfahren gegen Deutschland wegen Schadensersatz in Bezug auf deutsche Kriegsverbrechen in den Jahren 1943–1945 missachtet89 . Vorausgegangen waren die Entscheidung des höchsten italienischen Gerichtshofes im Fall Ferrini, in der der Corte Suprema di Cassazione eine Ausnahme vom Grundsatz der Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen anerkannte und die Entscheidung im Fall Distomo, in der der italienische Corte Suprema di Cassazione trotz geltend gemachter Immunität griechische Urteile, die ebenfalls im Zusammenhang mit deutschen Kriegsverbrechen ergangen waren, in Italien für vollstreckbar erklärte90 . In der Folge erreichte Deutschland eine wahre Flut an Schadensersatzklagen von Opfern von Kriegsverbrechen oder deren Angehörigen91 , die sich während des zweiten Weltkrieges ereignet hatte. Es wurde in Abstimmung mit Italien92 entschieden, die Frage, ob sich Deutschland auch in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen auf Staatenimmunität berufen dürfe, einer abschließenden Klärung durch den IGH zuzuführen. Die Entscheidung des IGH vom 03. Februar 2012 zählt zu den aktuell wichtigsten Entscheidungen des IGH auf dem Gebiet der Staatenimmunität. Sie stellt den vorläufigen 87 Etwa Staatsanleihen (sog. sovereign bonds), die zunächst eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen, allerdings auch einen öffentlichen Zweck verfolgen, nämlich den Staatshaushalt zu finanzieren und die enorme Staatsapparatur am Laufen zu halten. Würden sich Staaten in derartigen Fällen auch auf Immunität berufen dürfen, so wären die Investoren schnell abgesprungen. Beispiel aus: Oeter, Conclusions, in: Immunities in the Age of Global Constitutionalism, 2015, S. 360. Die Grauzonen werden größer und unübersichtlicher, wie A. van Aaken in demselben Werk unter der Überschrift Blurring Boundaries between Sovereign Acts and Commercial Activities, Chapter 9, sehr deutlich veranschaulicht. 88 Atteritano, Immunity of States and their organs: The contribution of Italian Jurisprudence over the past ten years; Sciso, Italian Judges’ Point of View on Foreign States’ Immunity, jeweils mit Nachweisen. 89 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, p. 99. 90 Corte Suprema di Cassazione, Urteil Nr. 14199, abgedruckt in deutscher Sprache u. a. in NVwZ 2008, 1100. 91 Größtenteils klagten italienische Zwangsarbeiter, bzw. italienische Militärinternierte. 92 Joint Declaration, Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Application of the FRG 2008, 13.
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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Schlusspunkt einer Diskussion dar, die vor allem griechische, belgische und italienische Gerichte angefacht und bis zur höchsten völkerrechtlichen Instanz durchgefochten haben. Es überrascht nicht, dass diese Gerichte eine Weiterentwicklung des Immunitätskonzeptes forcierten, hatten sie doch bereits die maßgebliche Rechtsprechung zum restriktiven Immunitätsbegriff entwickelt und geprägt. Hintergrund hierfür ist die Tatsache, dass die Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht den Veränderungen eines internationalen Konsenses ausgesetzt ist, sodass die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Übung Völkergewohnheitsrecht grundsätzlich (weiter) entwickeln können und dies expressis verbis auch beabsichtigten. Durch das frühe Einschalten des IGH durch Deutschland wurde diese Entwicklung (vorerst) beendet. Der Entscheidung des IGH aus 2012 gingen somit mehrere Verfahren voraus, die v. a. wegen ihrer unverkennbar rechtspolitischen Dimension für internationales Aufsehen gesorgt haben93 . Gemeint sind die Urteile Ferrini und Distomo, die im Folgenden besprochen werden. a) Der Fall Ferrini Der italienische Staatsangehörige Luigi Ferrini war 1944 von Arezzo nach Deutschland deportiert worden und wurde bis Kriegsende in einer Munitionsfabrik zur Zwangsarbeit gezwungen94 ; er verklagte 1998 die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz. Im November 2000 wies das Gericht von Arezzo (Tribunale di Arezzo) in erster Instanz die Klage Ferrinis wegen der völkerrechtlichen Staatenimmunität Deutschlands ab. Das Berufungsgericht in Florenz (Corte di Appello di Firenze) bestätigte im November 2001 dieses Urteil, bevor der Kassationsgerichtshof (Corte Suprema di Cassazione) entschied95 , dass sich Deutschland in diesem Fall nicht auf die Staatenimmunität berufen könne, da schwerste Menschenrechtsverletzungen im Raum stünden. Der Corte Suprema di Cassazione anerkannte den Grundsatz der Staatenimmunität als geltendes Völkergewohnheitsrecht, kam aber zu dem Schluss, dass aufgrund der (bewiesenen) Verletzung von ius cogens die Staatenimmunität normenhierarchisch zurücktreten müsse und sich Deutschland im vorliegenden Fall nicht auf Immunität berufen könne. Hiermit wandte der Corte ganz
93 Auf die unbefriedigende Situation, dass zahlreiche Opfer deutscher Kriegsverbrechen nicht angemessen entschädigt wurden, weist der IGH am Ende seines Urteils sogar selbst hin, wenn er ausführt: „The Court considers that it is a matter of surprise – and regret – that Germany decided to deny compensation to a group of victims on the ground that they had been entitled to a status which, at the relevant time, Germany had refused to recognize, particularly since those victims had thereby been denied the legal protection to which that status entitled them.“ Hierbei handelt es sich um für das Urteil im rechtstechnischen Sinn unnötige Ausführungen, was darauf schließen lässt, dass der IGH den Sachverhalt aus rechtlicher Perspektive zwar zugungsten Deutschlands entschied, dies jedoch nicht für die moralische Seite gilt. Zahlreiche Kriegsopfer sind nicht genügend entschädigt worden. Durch die gerichtlichen Schadensersatzklagen wurde versucht, jahrzehntealte politische Versäumnisse juristisch zu kompensieren. Ebenso: Bröhmer, Some Remarks on the Decision of the International Court of Justice in the Case of Germany v. Italy, S. 63 f. 94 Diese Darstellung beruht im Wesentlichen auf der Sachverhaltsdarstellung des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, p. 113 ff. 95 Corte Suprema di Cassazione, Rs. 14201, Urteil vom 29. 05. 2008, teilweise übersetzt bei Wiedemann, BeckRS 2008, 36841.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
bewusst geltendes Völkergewohnheitsrecht nicht an, das Staatenimmunität für acta iure imperii gewährt. Das Gericht von Arezzo hatte erneut zu entscheiden und wies nunmehr die Klage aus dem Grund ab, dass die Ansprüche – auch wenn generell die Gerichtsbarkeit bejaht werden könne – verjährt seien. Auch dieses Urteil hatte keinen Bestand. Am 17. November 2011 entschied der Corte di Appello di Firenze, dass Deutschland Schadensersatz und Prozesskosten an Ferrini zu zahlen habe, und übernahm die vorab schon durch den Corte Suprema di Cassazione gelierferte Begründung, dass Immunität in diesem Fall schwerster Verstöße gegen die Menschlichkeit nicht mehr gewährt werden dürfe. Hieraufhin folgen weitere Klagen italienischer Opfer des NS-Regimes, denen ebenfalls stattgegeben wurde. b) Der Fall Distomo Am 25. Mai 2008 entschied der Corte Suprema di Cassazione in Rom96 zudem, dass die Vollstreckung in Vermögen der Bundesrepublik Deutschland auf Grund eines Titels, der in Griechenland erwirkt worden war, nicht ausgeschlossen sei, obwohl sich Deutschland explizit auf Staatenimmunität berufen hatte. Hintergrund des Titels waren Schadensersatzforderungen für das Massaker in Distomo (Griechenland), welches am 10. Juni 1944 von einer in die damalige Wehrmacht eingegliederten Einheit der SS als Vergeltungsschlag für einen Partisanenangriff verübt wurde. Seit 1995 machten über 200 Angehörige der Opfer in Griechenland, welche von der Präfektur Boötien vertreten wurden, Schadensersatz in Höhe von (damals) ca. 60 Millionen DM geltend. Etwa 2000 weitere Klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen ähnlicher Verbrechen wurden daraufhin initiiert. Entgegen den Erwartungen der deutschen Regierung, die weder auf die Klageschrift repliziert hatte, noch bei der Verhandlung in Griechenland vertreten war, wurde die Bundesrepublik mittels Versäumnisurteil 1997 zu einer Zahlung von 55 Millionen DM verurteilt97 . Diesem aus völkerrechtlicher Sicht überraschenden Urteil98 folgte ein noch weit überraschenderes Urteil des griechischen Areopag in Athen, der die (von Deutschland nun doch aktiv verfolgte) Revision letztinstanzlich zurückwies99 . Der Areopag begründete die Versagung der völkerrechtlichen Immunität mit einer territorialen Deliktsausnahme100 , welche jedoch, wie bereits dargestellt101 , kein Völkergewohnheitsrecht darstellt102 . Der Bundesrepublik wurde im Ergebnis für das gesamte griechische Erkenntnisverfahren die staatliche Immunität versagt. Erst ein (diplomatisches) Einschreiten des griechischen Justizministeriums, welches nach griechischem Recht in 96 Corte Suprema di Cassazione, Urteil Nr. 14199, abgedruckt in deutscher Sprache u. A. in NVwZ 2008, S. 1100. 97 Gericht erster Instanz von Livadia vom 30. 10. 1997, Urteil Nr. 137/1997. 98 Diesem Urteil folgten etwa 10.000 weitere Klagen, Kempen, FS Steinberger. 99 Urteil des Areopag vom 20. 01. 2000. 100 Areopag, ILR 129 (2007), S. 525, 528 f. 101 Siehe oben unter A. III. 3. d). 102 So auch Areopag, Diss. Opinion, ILR 129 (2007), S. 513, 521 f.
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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die Vollstreckung in Vermögen fremder Staaten einwilligen muss, verhinderte, dass dieses Urteil (sofort) vollstreckt wurde. Die Kläger wandten sich hieraufhin an den EGMR und brachten vor, dass Deutschland und Griechenland gegen Art. 6 EMRK verstoßen haben, indem sie dem Urteil aus Livadia nicht nachkamen bzw. es nicht im Vollstreckungsverfahren zuließen103 . Der EGMR wies unter Bezug auf den (aktuellen) Immunitätsgrundsatz die Beschwerde als unzulässig ab. Auch der Bundesgerichtshof, den die Titelgläubiger mit dem Ziel der Vollstreckung des Urteils in Deutschland anriefen, befand, dass das Urteil unter Verletzung des völkerrechtlichen Immunitätsprinzips gefällt wurde und in Deutschland der Anerkennung als Voraussetzung der Vollstreckbarkeit nicht zugänglich sei104 . Hiernach stellten die Titelgläubiger einen Antrag auf Exequatur im italienischen Florenz, zunächst begrenzt auf die Höhe der entstandenen Prozesskosten von 2934,70 Euro. Das Corte di Appello di Firenze gab dem Anliegen entsprechend der zuvor dargestellten neuen Rechtspraxis im Fall Ferrini und den hieraufhin folgenden italienischen Prozessen statt, sodass die Bundesrepublik das Kassationsgericht in Rom anrief. Nach deutscher Sichtweise war kein vollstreckbarer Titel gegeben mit dem Ergebnis, dass kein anerkennungsfähiger Titel i. S. d. EuGVVO105 vorlag. Auch war eine Vollstreckung wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Staatenimmunität und gegen den ordre publicVorbehalt nach Ansicht der Bundesrepublik insgesamt rechtswidrig. Dem letztgenannten Einwand106 erteilte der Kassationshof Roms eine Absage. Unter dem Hinweis des absoluten Vorrangs der Grundwerte der Freiheit und Menschenwürde wurde der Bundesrepublik Deutschland die Immunität versagt. Die Kläger beantragten die Vollstreckung in die der Bundesrepublik gehöhrenden Villa Vigoni mittels einer Zwangshypothek. Deutschland initiierte hieraufhin das Verfahren gemäß Art. Art. 40 I IGH-Statut gegen Italien vor dem IGH wegen Verletzungen der Staatenimmunität. c) Die Entscheidung des IGH Der IGH entschied, dass Italien sowohl im Rahmen der in Italien durchgeführten Erkenntnisverfahren als auch in Fragen der Zwangsvollstreckung in die Villa Vigoni die Staatenimmunität Deutschlands verletzt und damit gegen geltendes Völkerrecht verstoßen hatte. Die Entscheidungen ergingen nahezu einstimmig107 zugunsten Deutschlands. Als Entscheidungsmaßstab nahm der IGH Völkergewohnheitsrecht an, da Italien weder die Basler
103 EGMR, Urteil vom 12. 12. 2002, Kalogeropoulou u. a. vs. Griechenland und Deutschland, Rs. 59021/00. 104 BGH, Urteil vom 26. 06. 2003, NJW 2003, S. 3488 ff. 105 Brüssel I-Verordnung (VO (EG) Nr. 805/2004), seit dem 10. 01. 2015 gilt die VO (EU) Nr. 1215/2012 (Brüssel Ia-VO), die die EuGVVO ersetzt hat. 106 Der andere Einwand betrifft Fragen der Anwendbarkeit der EuGVVO (EG-VO Nr. 44/2001) und des nationalen (italienischen) IPR, vgl. hierzu m. w. N. Frenzel/Wiedemann, NVwZ 2008, 1088. 107 12:3, 14:1 und 14:1, Richter Trindade stimmte immer gegen die Mehrheit.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
Konvention108 noch das UN-Übereinkommen über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit109 ratifiziert hatte. Weiterhin war nach Ansicht des IGH die restriktive Immunitätslehre grundsätzlich anwendbar, obwohl sich die Verbrechen zu einer Zeit zutrugen, als die Staatenimmunität noch absolut galt, da die Verfahren vor den italienischen Gerichten erst zwischen 2004 und 2011 stattfanden110 . Hiermit folgte der IGH der italienischen Argumentation. Deutschland hatte sich auf den Grundsatz der intertemporalen Geltung des Völkerrechts berufen, der vorsieht, dass Handlungen immer dem Völkerrecht unterworfen werden, welches zum Zeitpunkt der Handlung gilt und Staaten vor einer rückwirkenden Inanspruchnahme aus Staatenverantwortlichkeit schützen will111 . In diesem Zusammenhang unterschied der IGH zwischen procedural und substantial law. Während die Staatenimmunität prozessualer Natur sei, seien die Hoheitsakte der Deutschen Wehrmacht und ihrer Untergruppierungen dem materiellen (substantial) Recht zugehörig. Da sich Deutschland in den Verfahren vor italienischen Gerichten auf Staatenimmunität berufen habe und diese sich in ihrer Rechtsnatur strikt von den diesen Verfahren zugrundeliegenden Kriegsverbrechen in damaliger Zeit unterscheide, sei das Recht von 2004–2011 anzuwenden112 . Der IGH qualifiziert die Massaker an der italienischen Bevölkerung und die Deportation italienischer Staatsangehöriger nach Deutschland gemäß der restriktiven Immunitätslehre als hoheitliche acta iure imperii, die weiterhin absolute Immunität genießen. Die Frage, die sich dem IGH sodann allein stellte, war, ob ggf. eine andere Ausnahmeregelung das Berufen Deutschlands auf die Staatenimmunität verhindern könnte, wie etwa deliktisches Handeln eines Staates im Gebiet des Forumstaates113 (hier Italien). Der IGH beschreibt die Staatenimmunität unter Berücksichtung der Ausführungen der ILC als „general rule of law“, die auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit von Staaten basiert und eines der fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts darstellt114 . Er erkennt derzeit keine völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Ausnahmen von der Staatenimmunität für militärisches Handeln eines Staates im Hoheitsgebiet des Forumstaates bzw. im Rahmen von bewaffneten Auseinandersetzungen115 . Der IGH hat das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität nicht explizit geprüft. Es spielte im Vorfeld des Urteils allerdings durchaus eine Rolle116 . Sowohl Deutschland als auch Italien verstehen das Recht auf Zugang zu Gericht ausweislich der verschiedenen Schriftsätze als ein Menschenrecht, wel108
Europäisches Übereinkommen über Staatenimmunität, abgeschlossen in Basel am 16. 3. 1972. GA Res. 59/38. 110 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, § 58. 111 Elias, The Doctrine of Intertemporal Law. 112 I.C.J., a. a. O., § 58. 113 Sog. territoriale Deliktsausnahme, vgl. hierzu bereits Ziff. III. 2. lit. c in diesem Kapitel. 114 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, § 57. 115 IGH, a. a. O. Der IGH hat hierbei allerdings nicht grundsätzlich entschieden, ob die territoriale Deliktsausnahme völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, sondern gezielt geprüft, ob die Ausnahme für militärisches Handeln des Staates im Forumstaat im Rahmen einer bewaffneten Auseinandersetzung existiert. 116 Hierauf weist auch Richter Trindade in einem eigenen Kapitel seiner Dissenting Opinion hin. 109
III. Aktuelle Entwicklung der Staatenimmunität
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ches u. a. ein faires Verfahren (und den Zugang hierzu) garantiert117 . Im Hinblick auf den Anwendungsbereich dieses Rechts divergierten die Ansichten der beiden Staaten jedoch. Die italienische Regierung vertrat die Ansicht, dass ein Individuum Staaten vor nationalen Gerichten auf Schadensersatz verklagen dürfe, wenn dieser Weg seine einzige Möglichkeit darstellt, effektiven Rechtsschutz zu erreichen. Mit anderen Worten sollte die Staatenimmunität dann nicht gewährt werden, wenn ansonsten ein denial of justice118 im Raum stünde119 . Deutschland demgegenüber vertrat die Auffassung, dass Gerichtszugang zunächst gewährt worden sei, die Verfahren wegen des prozessualen Hindernisses der Staatenimmunität jedoch im Ergebnis keine materiell-rechtlichen Erfolge für die Kläger habe erbringen können120 . Zudem gebe es keine individuelle Rechtsposition, nach der Reparationszahlungen nach Kriegsverbrechen u. ä. eingeklagt werden könnten und im Übrigen auch kein individuelles Recht auf Schadensersatz in solchen Fällen121 . Im Ergebnis legt Deutschland den Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zu Gericht zunächst sehr restriktiv aus und verneint im Anschluss (vorsorglich) mögliche (materiellen) Ansprüche der Kriegsopfer, da jedenfalls das prozessuale Hindernis der Immunität greife. Gleichzeitig verweist Deutschland auf die Gefahr des forum shoppings, sollten Kläger, die vor nationalen Gerichten unterlegen sind, ausländische Gerichte in derselben Sache beanspruchen dürfen122 . Richter Trindade setzt sich in seiner Dissenting opinion intensiv mit dieser Thematik auseinander und kommt zu dem Schluss, dass ein Staat sich nicht hinter den Regelungen der Staatenimmunität verstecken dürfe, wenn er wegen schwersten Menschenrechtsverletzungen vor Zivilgerichten fremder Staaten verklagt werde123 . Mit dieser Entscheidung verhindert der IGH eine (weitere) Lockerung der restriktiven Staatenimmunitätslehre. Das Verfahren bot jedoch auch keine Gelegenheit, in diesem Zusammenhang weitere Entwicklungen zuzulassen. Ein Verfahren, das im Kern politische Versäumnisse im Rahmen von Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs versucht, juristisch aufzuarbeiten, kann keinen Beitrag zu einer aktuellen Entwicklung des Völkerrechts leisten. Hier spielt auch die Intertemporalität des Völkerrechts eine Rolle. Die europäischen Staaten, die hier eine Staatenpraxis (Übung) neu initiieren wollten, konnten zudem noch nicht auf genügend Ausdruck dieser Übung in der Staatengemeinschaft zurückgreifen. Das Urteil stellt sicherlich einen vorläufigen Schlusspunkt dar innerhalb der Diskussion, ob die Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen zurücktreten müsse. Der in den Entscheidungsgründen angesprochene normenhierarchische Konfliktlösungsansatz sowie die Unterscheidung zwischen prozes-
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CR 2011/17, S. 43, § 24; Counter-Memorial Italien, § 4.88. Italien greift das Argument des denial of justice später noch einmal auf, wenn es ausführt, dass der verwehrte Zugang zu Gericht ein „refusal to grant someone that which he is owed“, also ein denial of justice darstellt, CR 2011/18, S. 62, § 27. 119 Counter-Memorial of Italy, 22. 12. 2009, S. 80, § 4.103. 120 Reply Germany, 5. 10. 2010, Sections 35 ff. 121 Reply Germany, S. 12, § 12. 122 CR 2011/17, S. 45 f., §§ 29 f. 123 Diss. Op. Richter Trindade, S. 134, § 132. 118
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
sualen und materiell-rechtlichen (substantive) Normen werden an geeigneter Stelle wieder aufgegriffen124 . Mit dem Urteil des IGH ist die hierzu korrespondierende Diskussion nicht abgerissen, im Gegenteil. Die Völkerrechtswissenschaft und die Rechtsprechung (v. a. des IGH) divergieren weiterhin und plädieren unbeeindruckt für ihren jeweiligen Standpunkt125 .
IV. Grenzen der Staatenimmunität Völkerrechtliche Immunitäten werden nicht grenzenlos gewährt. Seit jeher werden Einschränkungstatbestände diskutiert; hierunter sind die Verwirkung und der Verzicht die prominentesten Beispiele, welche im Folgenden näher untersucht werden. Während der Verzicht eine rechtsgeschäftliche Basis aufweist, wird die Verwirkung in Fällen diskutiert, in denen Staaten beispielsweise schwere Menschenrechtsverstöße (Verstöße gegen ius cogens) vorgeworfen werden oder die Immunität rechtsmissbräuchlich in Anspruch genommen wird (v. a. in Fällen diplomatischer Immunität). Im Hinblick auf Staaten soll aus einer Aberkennung ihrer Souveränitätsrechte heraus auch die Aberkennung der Staatenimmunität gerechtfertigt sein. Der Verwirkung im Hinblick auf die möglichen Anwendungsfälle und den Diskussionsstand in der Völkerrechtswissenschaft sehr ähnlich ist die Diskussion um einen impliziten Verzicht (implied waiver). 1. Begriff und Voraussetzungen eines Verzichts Ein Staat kann auf seine Immunität vor ausländischen Gerichten verzichten. Überzeugender ist es, nicht pauschal von einem Verzicht zu sprechen, sondern diesen mit Bezug auf Art. 7 und Art. 20 UNCJISP von der ausdrücklichen Zustimmung eines Staates zur Ausübung der Gerichtsbarkeit eines fremden Staates und von der Zustimmung zur Zwangsvollstreckung abzugrenzen126 . Immunitätsverzicht und Zustimmung zur Ausübung der Gerichtsbarkeit eines fremden Staates sind (beide) als Teil des Völkergewohnheitsrechts anerkannt127 und somit klar zu differenzieren. So waren auch zunächst zwei Regelungen zu Zustimmung und Verzicht in der UN-Konvention vorgesehen, welche jedoch im Laufe der Erarbeitung der Konvention zum heutigen Art. 7 UNCJISP verschmolzen128 . Verzicht bedeutet, dass ein Staat wissentlich und willentlich eine ihm zustehende 124 Siehe unten unter Kap. D. IV. (Normenhierarchie) und Kap. D. III. 2. (Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions). 125 Tomuschat hat Deutschland in dem Verfahren gegen Italien (und Griechenland) beraten und sich nunmehr in die „post-conflict-Diskussion“ eingeschaltet. Er beschreibt die Entwicklung von Völkerrecht als langsam fortschreitenden Konvoi, der nicht in der Lage ist, scharfe Kurven zu fahren. Den italienischen und griechischen Gerichten wirft er vor, das Praxiselement bei der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht völlig außer Acht gelassen zu haben. Eine Normenhierarchie zwischen ius cogens und der „schwächeren“ Staatenimmunität könne schon deswegen nicht angenommen werden, da es sich hierbei um Normen auf Primärrechts- und Sekundärrechtsebene handele, die nicht miteinander in Konflikt treten könnten. 126 Vgl. auch den State Immunity Act von 1978, Fox, The Law of State Immunity, S. 261 f. 127 ILC Report 1981, Y.B.I.L.C. 1981 II, S. 156. 128 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Lengelsen, Aktuelle Probleme der Staatenimmunität im Verfahren vor den Zivil- und Verwaltungsgerichten, S. 50 f., m. w. N., welcher jedoch im Verlauf seiner Ausarbeitungen mangels entsprechender (eigener) Definitionen dieser zwei Begriffe nicht mehr kon-
IV. Grenzen der Staatenimmunität
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Rechtsposition aufgibt129 . (Staatliche) Zustimmung zur Ausübung der Gerichtsbarkeit eines fremden Staates bedeutet demgegenüber, dass es auf die Frage, ob Immunität überhaupt gewährt werden müsste, nicht ankommt. Vielmehr wird einem anderen Staat eine Rechtsposition eingeräumt130 , nämlich die, über einen fremden Staat zu Gericht zu sitzen. Angedeutet findet sich diese Unterscheidung bereits bei Damian131 , der nach der Überwindung der absoluten Doktrin die praktische Bedeutung des Immunitätsverzichts auf die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis reduziert sieht mit der Folge, dass „ein Gericht (. . .) dem Problem der Qualifikation von Akten oder des Verwendungszweckes von Objekten eines fremden Staates in der Regel ausweichen wird, wenn eine eindeutige Verzichtserklärung vorliegt“132 .
Voraussetzung einer Zustimmung ist nach Art. 7 der UNCJISP und nach geltendem Völkergewohnheitsrecht, dass sie vom zustimmenden Staat selbst ausgeht und in einer internationalen schriftlichen Vereinbarung oder einem Vertrag, durch Erklärung vor dem entsprechenden Gericht oder durch schriftliche Erklärung in einem sonstigen Verfahren der zuständigen Person/Stelle gegenüber erklärt wird. Wie dargelegt, beruhen die Möglichkeit der Zustimmung und die des Verzichts auf verschiedenen völkerrechtlichen Grundlagen. Von einem Verzicht zu sprechen ist angebracht, wenn die Reichweite der (tatsächlich bestehenden) Staatenimmunität individuell vereinbart wird133 . Ein weiterer Ansatz ist es, Staaten in bestimmten Situationen implizit einen Verzicht zu unterstellen (sog. implied waiver), wobei hier seit jeher hohe Anforderungen an die Annahme eines notwendigen Verzichtswillens zu stellen sind134 . So kann ein Verzichtswille angenommen werden, wenn ein Staat sich bereits auf ein gerichtliches Verfahren eingelassen bzw. dieses selbst veranlasst hat135 und sich hierbei nicht gleichzeitig auf seine Immunität berufen hat136 . Die Annahme eines expliziten oder impliziten Verzichts in bestimmten Situationen (etwa, ob ein Verstoß gegen ius cogens implizit einen Verzicht
sequent zwischen Zustimmung und Verzicht unterscheidet; auch Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 73 ff., macht diesbezüglich keinen Unterschied. 129 Appelbaum, a. a. O., S. 73; Steinberger, EPIL 10, 428 ff., 439 f.; Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 39, spricht von der „Preisgabe der Rechte“ eines Staates; „renunciation or abandonment of a right or claim“, vgl. Feichtner, MEPIL 2006. 130 „[G]enerating legal obligation“, vgl. Brunnée, MEPIL 2010. 131 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 34. 132 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 34. 133 Lengelsen, a. a. O., S. 53; Fox, S. 261 ff. 134 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 39; Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 190; Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, S. 143, weist im gleichen Kontext darauf hin, dass gerade Staaten, die schwere Menschenrechtsverstöße begangen haben, eben keinen Verzichtswillen haben, sodass ihnen diesbzgl. auch kein Verzichtswille unterstellt werden könne. 135 Vgl. hierzu auch Art. 8 UNCJISP. 136 Vgl. hierzu auch Art. 3 European Convention on State Immunity, in Deutschland ratifiziert und nach Art. 59 GG im Rang eines Bundesgesetzes, BGBl. 1990 II, 35.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
des betreffenden Staates auf seine Immunität darstellt137 ), konnte sich in der Praxis bisher nicht durchsetzen. 2. Die „Verwirkung“ der Immunität bei schwersten Menschenrechtsverletzungen Der Idee einer „Verwirkung“ der Immunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen liegt die Überlegung zugrunde, dass ein Staat, der seine Rechtspflichten gröblich missachtet, seiner Souveränitätsrechte und hiermit auch seiner Immunitätsrechte verlustig wird138 . Dieser Frage ist unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung der staatlichen Immunität im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen (auch außerhalb des Forumstaates) Kokott nachgegangen, welche den Begriff der Verwirkung von staatlicher Immunität als einen weiteren139 unmittelbar dem Völkerrecht entstammenden allgemeinen Rechtsgrundsatz definierte und zu dem Schluss kommt, dass wegen der erga omnes-Wirkung von ius cogens-Normen ein Staat, welcher ius cogens-Menschenrechte verletzt, sich aktuell vor keinem ausländischem Gericht auf seine staatliche Immunität berufen dürfe140 , da bei Verletzung fundamentaler Normen des zwingenden Völkerrechts (an sich völkerrechtswidrige) Repressalien und somit erst Recht das mildere Mittel der Versagung von Staatenimmunität seitens des verletzten Staates möglich seien. Ihr Ansatz hat in der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur durchaus Zuspruch erfahren141 . Die Definition des Begriffes der (völkerrechtlichen) Verwirkung begegnet im Zusammenhang mit der Staatenimmunität großen Schwierigkeiten142 . Die Verwirkung als eigenständiges Rechtsinstitut zu betrachten (und nicht nur im Rahmen der Darstellung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu erwähnen143 ) hat sich in der Völkerrechtsliteratur nicht durchsetzen können. In ihrer Begründung greift Kokott auf die Vertreter der These zurück, Staaten würden mit der Verletzung von ius cogens implizit auf ihren Immunitätsschutz verzichten (s. u.), welche ähnlich argumentieren, allerdings den Begriff der Verwirkung vermeiden. Hiergegen wird eingewandt144 , dass allgemeine Rechtsgrundsätze nach Art. 38 I lit. c IGH-Statut nur zum Zuge kommen könnten, wenn es keine völker(gewohnheits-)recht137 Hierzu: Bosch, Immunität und Internationale Verbrechen, S. 92, 94, m. w. N. Die Frage, ob ein Staat durch die Verletzung von ius cogens implizit auf dessen Staatenimmunität verzichtet, ist von der These zu unterscheiden, ob die Regeln der Staatenimmunität durch ius cogens verdrängt werden (normative theory, hierzu Caplan, AJIL 2003, S. 741–781). 138 Tomuschat, Gewalt und Gewaltverbot als Bestimmungsfaktoren der Weltordnung, EuropaArchiv 36, S. 332: „ein seine Rechtspflichten gröblich missachtender Staat (. . .) den Schutz des Gewaltverbots verwirkt“. 139 Neben den anerkannten Rechtsinstituten des Rechtsmissbrauchs und des Estoppel-Prinzips. 140 Kokott, Missbrauch und Verwirkung von Souveränitätsrechten bei gravierenden Völkerrechtsverstößen, 1995, S. 148 f.; für diese Ausnahme stimmt auch Bosch, Immunität und Internationale Verbrechen, S. 109 ff. 141 Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, S. 155 m. w. N. 142 Hierzu kritisch: Lengelsen, Aktuelle Probleme der Staatenimmunität im Verfahren vor den Zivil- und Verwaltungsgerichten, S. 161 und S. 178, Fn. 831, der die von Kokott gefundene Definition als unzureichend ansieht. 143 Vgl. hierzu Doehring, ZaöRV 2007, S. 385. 144 Lengelsen a. a. O.
V. Ergebnis
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lichen Regelungen gebe, die im Falle der Staatenimmunität doch gerade feststellbar seien145 . Hiergegen lässt sich anführen, dass die Frage, ob Staatenimmunität zu gewähren ist, wenn schwerste Menschenrechtsverletzungen im Raum stehen, aus (damaliger) völkergewohnheitsrechtlicher Sicht ungeklärt war und erst durch die Entscheidung des IGH im Februar 2012 einer abschließenden Antwort zugeführt wurde. Es ist der (intertemporalen) Eigenart des Völkergewohnheitsrechts und dessen stetiger Weiterentwicklung und Veränderung geschuldet, den Rechtsbestand regelmäßig auf seine Aktualität hin zu überprüfen und anzupassen, sodass die These, dass auf Grund des bestehenden Völkergewohnheitsrechtes zu dieser Thematik die Existenz von allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen pauschal abgelehnt werden müsse, so nicht zu halten ist. Der Ansatz, staatliche Immunität könne verwirkt werden, ist auf Grund der am 3. Februar 2012 ergangenen Entscheidung des IGH wohl aktuell überholt. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR und nach Analyse des aktuellen Völkergewohnheitsrechts in Bezug auf die aufgeworfenen Fragen zur Staatenimmunität ist der IGH zu dem Ergebnis gekommen, dass es auch für Hoheitsakte, die Kriegsverbrechen bzw. Verletzungen von ius cogens-Menschenrechten darstellen, mangels staatlicher Übung zurzeit keine Immunitätsverwirkung gebe146 . Weiterhin kommt die Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze nur in Betracht, um verbleibende Lücken nach Rückgriff auf das Völkergewohnheitsrecht und das Völkervertragsrecht zu schließen147 . Dies erkennt auch Kokott148 und statuiert eine Anwendung der Verwirkung auch auf „Wertungslücken“. Bestätigt wird das Ergebnis des IGH durch die Vorbereitungsarbeiten der ILC zur UN Konvention über die Immunität von Staaten und ihres Vermögens. Im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Textes der UN Konvention diskutierte die ILC auch die Frage, ob die Immunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen zurücktreten sollte. Es konnte hierzu kein allgemeiner Konsens gefunden werden149 . Dies entspricht der Rechtsprechung des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of States150 , in der der IGH unter Bezugnahme auf die Vorbereitungsarbeiten der ILC zur UN-Konvention ebenfalls feststellte, dass es noch keine hierzu gefestigte Übung gibt.
V. Ergebnis Die Staatenimmunität verlangt, dass ein Staat nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen wird. Sie stellt somit prozessualen Schutz des Staates vor fremdstaat145 So auch Schaarschmidt, Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, Deutschland v. Italien vor dem IGH, S. 30. 146 IGH Urteil vom 3. 2. 2012, §§ 95 f. 147 Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, S. 155. 148 Kokott, a. a. O., S. 144. 149 Accountability and Immunity: The United Nations Convention on Jurisdictional Immunity of States and their Propoerty and the Accountability of States, S. 242: „[t]he ILC discussed the issue, but was unable to recognize a generally accepted position in this regard. (. . .) it became clear during the negociations that the inclusion of such a restriction on immunity in the Convention would have precluded any possibility of achieving a broadly acceptable text“. 150 Jurisdicitonal Immunities of States, (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99.
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B. Herkunft, Begründung und Entwicklung der Staatenimmunität
licher Gerichtsbarkeit her und verhindert, dass der dem Verfahren eigentlich zugrundeliegende Vorwurf in der Sache behandelt wird. Die Staatenimmunität galt lange als Ausdruck der Würde und des Respekts gegenüber dem Herrschenden, die Immunität von Staaten war von der des absoluten Souveräns nicht zu trennen. Das moderne Verständnis von Staatenimmunität stellt auf die Souveränität und Gleichheit aller Staaten ab, was bedeutet, dass Gleiche über Gleiche keine Macht haben. Ihre funktionale Herleitung stellt zum einen auf das respektvolle Miteinander zwischen den Staaten ab – auch im Sinne eines Interventionsverbots. Würden Drittstaaten über einen Forumstaat richten, so mischen sie sich auch in die politischen und sonstigen Geschicke dieses Staates ein und beeinträchtigen hierbei ggf. staatsfundamentale Entscheidungen. Zum anderen sind Staaten an diplomatischen, wirtschaftlichen Beziehungen zueinander interessiert, die durch die gegenseitige Immunitätsgewährung – oder den Verzicht hierauf – gestärkt werden können. Die Staatenimmunität unterlag in den letzten Jahrzehnten signifikanten Veränderungen und Einschränkungen. Sie gilt nur noch restriktiv für sog. acta iure imperii. Diese Entwicklungen wurden von nationalen Gerichten eingeläutet und zeigen, dass die Staatenimmunität sich dynamisch und evolutiv den jeweiligen gesellschaftspolitischen Entscheidungen entsprechend weiterentwickelt und sich ständig im Fluss befindet. Neben diesen restriktiven Entwicklungstendenzen wird die Staatenimmunität auch durch die Möglichkeiten des (freiwilligen) Verzichts eingeschränkt. Die „Verwirkung“ der Immunität im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen konnte sich als eigenständige Grenze nicht durchsetzen. Für die vorliegende Untersuchung festzuhalten bleibt, dass es sich bei der gewohnheitsrechtlich anerkannten Staatenimmunität um eine Konfliktbeteiligte handelt, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückgreifen kann und unmittelbar auf der souveränen Gleichheit der Staaten fußt. Die souveräne Gleichheit der Staaten ist Dogma des Völkerrechts und zählt gleichsam zu den Grundrechten und Grundpflichten von Staaten151 . Die souveräne Gleichheit von Staaten ist jedoch gleichzeitig einem Wandel unterworfen, der vor allem auf die wirtschaftliche und politische Globalisierung in Form grenzüberschreitender internationaler Zusammenarbeit auf Gebieten, die früher den inneren Angelegenheiten des Staates zugerechnet wurden, zurückzuführen ist152 . Der Wandel, dem die souveräne Gleichheit von Staaten unterliegt, wirkt sich unmittelbar auf das Verständnis und den aktuellen Gehalt der Staatenimmunität aus, auch, wenn er teilweise verzögert abgebildet wird. Die Erkenntnis, dass sowohl die souveräne Gleichheit von Staaten als auch die Staatenimmunität einem stetigen Wandel unterworfen sind, der auf die transnationale Zusammenarbeit von Staaten und ihre gemeinsame Verständigung auf bestimmte (Mindest-)Standards zurückzuzuführen ist, ist wertvoll und weiterführend für das eigentliche Ziel dieser Arbeit, eine interessengerechte und ausbalancierte Lösung des Konflikts zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu finden. Sie bedeutet nämlich, dass auch ein völkergewohnheitsrechtlich derart etabliertes Institut wie die Staatenimmunität im Ergebnis permanent Einschränkungstendenzen ausgesetzt ist, die eine Gegenüberstellung der beiden Konfliktbeteiligten im vorliegen151 152
Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, ZaöRV 2004, S. 518. Kokott, a. a. O., S. 521.
V. Ergebnis
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den Fall überhaupt erst ermöglichen. Sie ermöglichen eine Argumentation, die nicht von vornherein auf die unveränderte Aufrechterhaltung der souveränen Gleichheit der Staaten gerichtet ist, sondern die beteiligten Interessen und Rechtsposition gegenüberstellt und ausbalanciert.
C. Der Konflikt zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht Der Konflikt im Völkerrecht zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass nicht nur verschiedene Normen in Konflikt treten, sondern diese Normen verschiedenen Teilrechtsordnungen des Völkerrechts, sog. Rechtsregimen entstammen. Dieser Konflikt ist kein Phänomen der neueren Völkerrechtswissenschaft. Bereits 1923 entschied der StIGH in der Sache S.S. Wimbledon in der Situation des Aufeinandertreffens von Völkergewohnheitsrecht und Konventions- bzw. Völkervertragsrecht. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand Deutschland vor einem Dilemma: Nach Art. 380 des Versailler Friedensvertrages war Deutschland vertraglich verpflichtet, die Zu- und Durchfahrt durch den Kiel-Kanal (jetzt Nord-Ostsee-Kanal) für Handels- und Kriegsschiffe aller mit Deutschland in Frieden stehenden Nationen gleichberechtigt zu ermöglichen1 . Gleichzeitig unterlag Deutschland seit dem Sommer 1920 der völkerrechtlichen Neutralitätspflicht. Als das englische Schiff S.S. WIMBLEDON, welches von einer französischen Firma gechartert worden war, Kriegsmaterial nach Gdansk (Danzig) transportieren sollte, verweigerte Deutschland unter Berufung auf die völkerrechtliche Neutralitätsverpflichtung die Durchfahrt, die als vorrangig vor den vertraglichen Verpflichtungen erachtet wurde. Polen befand sich mit der Sowjetunion im Krieg. Diplomatische Bemühungen, die Situation aufzulösen, verliefen ergebnislos, sodass das Schiff schließlich umkehrte, erst 13 Tage später sein Ziel erreichte und hohe Schadensersatzforderungen im Raum standen. Die Regierungen von Frankreich, Italien, Großbritannien und Japan initiierten hieraufhin ein Verfahren vor dem ständigen IGH gegen Deutschland2 . Der Gerichtshof entschied gegen Deutschland. Deutschland hätte aufgrund der vertraglichen Verpflichtung die Durchfahrt der S.S. Wimbledon ermöglichen müssen. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Möglichkeit eines Staates, vertragliche Verpflichtungen einzugehen, die eine Einschränkung seiner Hoheitsrechte und damit seiner dem Staat ureigenen Souveränität bedeuteten, selbst Ausdruck der staatlichen Souveränität sei. Wurde die Konsequenz (der Souveränitätseinschränkung) bei Vertragsschluss berücksichtigt und entsprach diese der Intention der Vertragsparteien, so könne sich eine Partei später nicht auf allgemeine völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtungen berufen und diese als dem Vertrag vorranig betrachten3 . Die die Durchfahrt regelnden Passagen des Versailler Vertrages stellten nach Ansicht des ständigen IGH vielmehr ein self-contained Regime dar. Nach Ansicht des Ge1 „The Kiel Canal and its approaches shall be maintained free and open to the vessels of commerce and of war of all nations at peace with Germany on terms of entire equality“, zitiert nach: Weinberger, The Wimbledon Paradox and the World Court: Confronting Inevitable Conflicts between Conventional and Customary International Law, S. 397. 2 S.S. Wimbledon (U.K. v. Germ), 1923 Permanent Court of International Justice (P.C.I.J.), (ser. A) No. 1, Urteil vom 29. 06. 1923. 3 S.S. Wimbledon (U.K. v. Germ), 1923 Permanent Court of International Justice (P.C.I.J.), (ser. A) No. 1, Urteil vom 29. 06. 1923, §§ 23–25.
C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
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richtshofs hätte Deutschland die Neutralitätsverpflichtung auch im Falle einer Überfahrt nicht verletzt4 . Zu diesem Urteil verfassten die Richter Anzilotti und Huber zwei abweichende Meinungen5 . Sie interpretierten ebenfalls den Vertrag von Versailles und kamen genau zum umgekehrten Schluss wie der StIGH, nämlich dass die Verpflichtungen aus Völkergewohnheitsrecht (Neutralität) den vertraglichen Verpflichtungen aus dem Vertrag von Versailles übergeordnet waren und Deutschland in der Entscheidung, die Durchfahrt zu verwehren, richtig gelegen hatte. Diesem Ergebnis stimmte auch der Richter ad hoc Schücking zu, der in seiner dissenting opinion eine restriktive, enge Auslegung des Vertrages von Versailles forderte, die nicht zum Ergebnis haben dürfe, dass Deutschland völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtungen in Erfüllung des Vertrages brechen würde6 . Dieses Fallbeispiel illustriert eindrücklich die komplizierte Ausgangslage des Konflikts zwischen Völkergewohnheits- und vertragsrecht. Am Beispiel dieses Falles wird deutlich, dass die dargestellten, diametral zueinander stehenden Lösungen dieses Falles sowohl vom StIGH als auch von den abweichenden Richtern im Wege einer ausführlichen und umfassenden Interpretation der im Konflikt stehenden Regelungen begründet wurde, die je nachdem, ob sie besonders weit oder eng interpretiert wurden, zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. Stehen sich menschenrechtliche Verpflichtungen aus der EMRK und solche des Völkergewohnheitsrechts gegenüber, so handelt es sich um einen ganz grundlegenden Konflikt zwischen dem materiellen Menschenrechtsstandard einer internationalen Gemeinschaft und allgemeinverbindlichen und völkergewohnheitsrechtlich anerkannten staatlichen Souveränitätsinteressen. Eine konzeptuell überzeugende und von individuellen Einzelfällen losgelöste Strategie zur Auflösung dieses speziellen Konflikts fehlt bisher7 . Der hier zu untersuchende Konflikt ist Ausdruck einer fragmentierten Völkerrechtslandschaft, in der verschiedene (in diesem Fall) funktionale8 und regionale9 Regime (Teilrechtsordnungen) nebeneinander stehen, was eine erhöhte Konfliktgeneigtheit – auch auf den verschiedenen, horizontalen Regelungsebenen – mit sich bringt10 . Im Folgenden soll zunächst der dieser Arbeit zugrunde liegende Konfliktbegriff definiert werden, bevor es um den Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und um dessen Besonderheiten gehen wird. Wie zu 4 P.C.I.J., a. a. O., § 30; Weinberger, The Wimbledon Paradox, S. 431 interpretiert dies dahingehend, dass der StIGH die Konfliktsituation als solche nicht anerkannte. 5 Dissenting Opinion der Richter Anzilotti und Huber, P.C.I.J., a. a. O., §§ 35–32, sowie Diss. Opinion des Richters ad hoc Schücking, P.C.I.J., a. a. O., §§ 43–47. 6 Diss. Op. der Richter Anzilotti, Huber, Schücking, P.C.I.J., a. a. O., §§ 42, 47. 7 Weinberger beschreibt die vorliegende Situation als „Gordischer Knoten des Völkerrechts“, Weinberger, The Wimbledon Paradox and the World Court: Confronting Inevitable Conflicts between Conventional and Customary International Law, S. 436, was bereits nahelegt, dass es höchstwahrscheinlich die „eine“ Lösung nicht geben wird. 8 Gemeint ist in diesem Kontext die EMRK mit ihrer speziellen Zielrichtung als besonderer Vertrag zum Schutze der Menschenrechte. 9 Gemeint ist hier der geographische Geltungsrahmen der EMRK. 10 Diese Kategorisierung stammt (allgemeiner formuliert) von Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 2.
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
zeigen sein wird, kann der vorliegende Konflikt nur im Kontext des institutionellen und materiellen Rechtspluralismus verständlich und überzeugend erfasst werden.
I. Der Konflikt im Völkerrecht Das Völkerrecht stellt ein horizontales System von Rechtsnormen dar, das dadurch geprägt ist, dass es an einem effektiven System der gerichtlichen Rechtsdurchsetzung und konsistenten Auslegung fehlt. Konflikte zwischen Normen (aus völkerrechtlichen Verträgen oder aus Völkergewohnheitsrecht) können daher oft nur unzureichend/nicht aufgelöst werden11 . Es hat sich in der rechtswissenschaftlichen Diskussion eine der Thematik eigene Terminologie entwickelt, bei der die Definition des Konflikts und die Bestimmung der Konfliktbeteiligten von zentraler Bedeutung sind. 1. Konfliktbeteiligte Bisher wurde die Staatenimmunität als Prinzip bzw. als Regel dargestellt, die völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Es fragt sich, ob sich die Staatenimmunität als Rechtsnorm charakterisieren lässt, die taugliche Konfliktbeteiligte in den zu untersuchenden Normkonfliktszenarien sein kann. Die ILC hat sich mit der Thematik der materiell-rechtlichen Fragmentierung des Völkerrechts, insbesondere mit Konflikten von Normen oder Teilrechtsregimen des Völkerrechts zu anderen Normen oder dem allgemeinen Völkerrecht intensiv beschäftigt. Die Ergebnisse wurden im sog. Koskenniemi-Report zusammengefasst12 . Der Koskenniemi-Report liefert jedoch keine Definition einer Rechtsnorm13 , welche bei den im Report untersuchten Konstellationen mit anderen Rechtsnormen interagiert oder in Konflikt steht. Er spricht lediglich von „(primary and secondary) rules and principles“, wobei wohl Prinzipien einen höheren Grad an Abstraktheit besitzen14 . Die Definition des Rechtsnormbegriffs ist eine Voraussetzung für ein umfassendes Verständnis der materiell-rechtlichen Konfliktsituationen des Völkerrechts, fragt sich jedenfalls in materiell-rechtlichen Normkonflikten vornehmlich, welches staatliche Verhalten angesichts sich überschneidender völkerrechtlicher Teilrechtsordnungen geboten ist15 . Sog. Verhaltensnormen (als vollständige, da imperative Normen) haben grundsätzlich die Funktionen, ein bestimmtes Verhalten zu gebieten (hierzu zu verpflichten), zu ver-
11 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 81; zu den rechtswissenschaftlichen Diskussionen hinsichtlich einer Entwicklung zum vertikalen System:Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 13 ff. 12 Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, §§ 27 ff. 13 Kritisiert von Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained“ discipline, S. 96. 14 Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, §§ 27 ff. 15 Vranes, a. a. O., S. 96, Rechtsnormdefinition als „systematisch-teleologisches Argument“.
I. Der Konflikt im Völkerrecht
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bieten oder zu erlauben16 . Die Rechtsnorm als Ausdruck des subjektiven Willens des Normsetzers bzw. der Vertragspartei ist Teil des subjektiven Rechts, das aus einer Mehrzahl von Geboten bzw. Verboten und Unterlassungspflichten besteht und sich an einen unbegrenzten Andressatenkreis richtet17 . Auch wenn es unterschiedliche Kodifikationsbemühungen gab, stellt die Staatenimmuität mangels entsprechender Anzahl an Ratifikationen internationaler Vertragswerke jedenfalls herrschendes Völkergewohnheitsrecht dar. Grundlage ist (war) die Würde des Staates, welche ehemals von der Würde des Herrschenden abgeleitet wurde. Aktuell stehen die Gleichheit und die Souveränität der Staaten, welche dem freundlichen Miteinander und den guten internationalen Beziehungen zwischen den Staaten dienen, im Fokus und werden richtigerweise als Grundlage der Staatenimmunität herangezogen. Die souveräne Gleichheit von Staaten hat Veränderungen durchlaufen, die in den Entwicklungen der Staatenimmunität nur unzureichend, jedenfalls mit erheblicher zeitlicher Verzögerung abgebildet werden, was den vorliegenden Konflikt bereits teilweise erklärt. Das Recht auf Zugang zu Gericht ist – unabhängig von einer möglichen völkergewohnheitsrechtlichen Geltung18 – fester Bestandteil des Art. 6 I EMRK und somit dem Völkervertragsrecht zugehörig. Der Konflikt zwischen der Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht mit dem Recht auf Zugang zu Gericht folgt anderen Konflikteigenschaften, als der Konflikt zwischen Normen aus zwei rechtsetzenden Verträgen (etwa zwischen Art. 6 I EMRK und dem Gründungsvertrag einer Internationalen Organisation). Sowohl die Staatenimmunität, die geltendes und verbindliches Völkergewohnheitsrecht darstellt als auch das Recht auf Zugang zu Gericht, das Art. 6 I EMRK inhärent ist, stellen in diesem Sinne vollständige und imperative Rechtsnormen dar und sind somit taugliche Konfliktbeteiligte. 2. Konfliktbegriff a) Klassische Definition des Konfliktbegriff Nach klassischem Verständnis wird zwischen Konflikten im engen und weiten Sinne unterschieden: Ein Konflikt im engen Sinne liegt immer dann vor, wenn die Durchsetzung eines völkerrechtlichen Anspruchs unvermeidbar zur Verletzung einer anderen völkerrechtlichen 16 Unvollständigen Normen fehlt der imperative Charakter, sie stellen Fragmente vollständiger Normen dar, etwa in Form von Legaldefinitionen, Verweisungen, u. a., Vranes, a. a. O., S. 94 f., unter Berücksichtigung der analytischen Jurisprudenz von J. Bentham und A. Thons. Zu dem Völkerrechtsbegriff Benthams (jus gentium) und der Entwicklung hin zu einem jus intra gentes bzw. jus inter gentes auch: Berman, Is Conflict-Of-Laws Becoming Passe?, S. 43: „Despite violent political and religious conflicts, the world is held together partly by a common law and rules of (. . .) environmental protection, human rights and other branches of law. This is a new jus gentium, (. . .)“; Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 6, verlangt, dass die Rechtsnorm „legally binding“ ist, um sie im Rahmen von Normkonflikten zu berücksichtigen. 17 Beispielsweise wird das Rechtsinstitut des Eigentums durch einen Normenkomplex geprägt, der u. a. Unterlassungspflichten formuliert, die sich an sämtliche Adressaten (außer den Normberechtigten) richten, Vranes, a. a. O., S. 95. 18 Hierzu Francioni, The Right to Access to Court under Customary International Law.
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
Verpflichtung oder eines Rechts führt. Jenks geht davon aus, dass nur ein Konflikt im engen Sinne einen tatsächlichen Konflikt darstelle und selbst, wenn der betroffene Vertrag nahezu vollständig seine praktische Bedeutung verliere, wenn die Vertragspartei der anderen Verpflichtung nachkomme, kein Konflikt angenommen werden könne19 . Teilweise wird der Konfliktbegriff noch enger gefasst und es wird nur dann ein echter Konflikt angenommen, wenn nicht nur eine Konfliktsituation wie oben beschrieben gegeben ist, sondern zudem auch nach dem Einsatz verschiedenen Konfliktlösungsbemühungen dieser Konflikt fortbesteht20 . Primärer Anknüpfungspunkt der engen Konfliktsituation ist das (Kelsen’sche) Verletzungskriterium. Kelsen unterscheidet zwischen „notwendigen“ und „möglichen“, „einseitigen“21 (unilateralen) und „zweiseitigen“22 (bilateralen), „totalen“23 (vollständigen) und „partiellen“24 , sowie potentiellen und notwendigen Normkonflikten. Der totale Normkonflikt wird auch als konträrer25 Normkonflikt bzw. als inhärent normativen Konflikt26 bezeichnet, er mündet (notwendig) in einem völkerrechtlichen Delikt27 . Von einem Konflikt im weiten Sinne wird demgegenüber ausgegangen, wenn zwei Normen auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und für denselben Adressaten unvereinbare Rechtsfolgen bestimmen28 . Die Befolgung einer völkerrechtlichen Verpflichtung muss hierbei nicht unbedingt zur Verletzung einer anderen völkerrechtlichen Norm führen, jedoch eine Beschränkung oder Beeinträchtigung eines Rechtsverhältnisses bzw. eines Anspruchs oder gar aller in Betracht kommenden Rechte bewirken29 . Die Befolgung eines völkerrechtlichen Gebots/Verbots führt aus Sicht des betroffenen Staates zu einer Beein19 Jenks, The Conflict of law-making treaties, S. 425 f.; Jenks unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Divergenzen und Konflikten (divergence and conflict). Die enge Definition wurde von der WTO-Rechtsprechung übernommen. Vgl. zu diesem Beispiel und weiteren Nachweisen in der internationalen Rechtsprechungspraxis: Vranes, The Definition of „Norm Conflict“ in International Law and Legal Theory, EJIL 2006, S. 395 ff. 20 So ist Kelsen zu verstehen, wenn er ausführt: „Ein Konflikt zwischen zwei Normen liegt vor, wenn das, was die eine Norm als gesollt setzt, mit dem, was die andere als gesollt setzt, unvereinbar ist und der Grundsatz lex posterior derogat priori nicht anwendbar ist“, Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 86. 21 Ein einseitiger Konflikt liegt vor, wenn nur die Befolgung oder Anwendung einer der beiden Normen eine Verletzung der anderen involviert. Kelsen, a. a. O., S. 99. 22 Ein zweiseitiger Konflikt liegt vor, wenn die Befolgung oder Anwendung jeder der beiden Normen eine Verletzung der anderen notwendiger- oder möglicherweise involviert. Kelsen, a. a. O., S. 99. 23 Ein totaler Normkonflikt liegt vor, wenn die eine Norm ein bestimmtes Verhalten gebietet, die andere eben dieses Verhalten verbietet (bzw. das Unterlassen des Verhaltens gebietet), Kelsen, a. a. O., S. 99. 24 Ein partieller Normkonflikt liegt vor, wenn der Inhalt einer Norm sich nur teilweise von dem Inhalt der anderen Norm unterscheidet. Kelsen, a. a. O., S. 99. 25 Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 100. 26 Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of InterConnected Islands, S. 907. 27 Faßbender, Welthandelsrecht und Menschenrechte – ein Gegensatz?, S. 1102. 28 Thiele, Fragmentierung des Weltrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 4. 29 de Wet, a. a. O., S. 82, Vranes, The Definition of „Norm Conflict“ in International Law and Legal Theory, S. 407 ff., seine Definition (S. 418): „There is a conflict between norms, one of which may be permissive, if in obeying or applying one norm, the other norm is necessarily or potentially violated“.
I. Der Konflikt im Völkerrecht
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trächtigung einer anderen völkerrechtlichen Rechtsposition bzw. zur Nichtwahrnehmung einer Erlaubnis. Dieser Konflikt wird auch als kontradiktorischer Konflikt bezeichnet30 . Dem ILC-Report unterliegt ein sehr (zu) weites Konfliktverständnis31 . Er verzichtet auf sämtliche terminologische Schärfe32 und definiert einen Konflikt als „a situation where two rules or principles suggest different ways of dealing with a problem“33 . b) Hier vertretener Konfliktbegriff Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung wird ein weites Verständnis der Konfliktsituation vertreten. Nur dieses weite Verständnis ermöglicht es, sämtliche Sachverhaltskonstellationen adäquat und konkret (im Einzelfall) zu erfassen, differenzierten Lösungen zuzuführen und in die aktuelle Diskussion der Fragmentierung des Völkerrechts einzubetten. Im Rahmen einer Definition bereits zu fordern, dass sämtliche Konfliktlösungsmechanismen, die in Frage kommen, versagt haben, kann keine überzeugenden Lösungen liefern34 . Wäre die tatsächliche Verletzung einer Rechtsnorm Voraussetzung, um von einem Normkonflikt auszugehen, bedeutete dies, Konfliktkonstellationen außer Betracht zu lassen, in denen dem Normadressaten eine Beeinträchtigung seiner aus der Rechtsnorm erwachsenen Rechte oder Ansprüche (graduell unterhalb einer Verletzung) abverlangt wird, die ebenfalls Ausdruck materiell-rechtlicher Spannungsverhältnisse ist; der Konfliktbegriff verliefe terminologisch zu eng35 . Ein Konflikt liegt nach hier vertretenem Verständnis dann vor, wenn sich zwei Verhaltensnormen gegenüberstehen, von denen eine eine Erlaubnisnorm sein kann und die Befolgung oder Anwendung der einen Norm die andere notwendiger- oder möglicherweise verletzt oder in anderer Weise Rechte oder einen Anspruch des Normadressaten beeinträchtigt oder unterminiert. Hierbei ist die Konfliktsituation nicht auf Rechtsnormen beschränkt, sondern erstreckt sich ebenfalls auf Spannungsverhältnisse zwischen Rechtsregimen und Teilrechtsordnungen des Völkerrechts36 .
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Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 100. Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, §§ 21 ff. 32 Dies macht sich bereits zuvor bemerkbar, wenn er den engen Konfliktbegriff beschreibt: „a conflict exists if it is possible for a party to two treaties to comply with one rule only by thereby failing to comply with another rule“. Normkonflikte können auch innerhalb eines Vertrages oder zwischen unterschiedlichen (nicht vertraglich determinierten) Teilrechtssystemen des Völkerrechts bestehen. Hierauf weist auch Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 101, hin. 33 Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, § 25. 34 de Wet, a. a. O., S. 82 m. w. N. geht in diesem Fall von einem Scheinkonflikt, also keinem richtigen Konflikt aus. 35 So auch Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, 2005, S. 12. 36 Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 154 in Fn. 389 spricht in diesem Zusammenhang von „Reibungen“, die aufgrund unterschiedlicher Wertungen und Zielsetzungen zwischen Teilordnungen und „Regimen“ des Völkerrechts entstehen können. 31
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
Ein Konflikt wird im Wege „primärer Interpretation“ ermittelt37 . Aus Sicht eines Gerichts ist es für die Lösung eines Konfliktes unabdingbar, den Inhalt der völkergewohnheitsrechtlichen und der völkervertraglichen Regelungen oder zweier völkervertraglichen Bestimmungen darzustellen und den Konflikt hierdurch in intelectual honesty38 anzuerkennen und einer vertretbaren Lösung zuzuführen39 . Es kann kein Konflikt angenommen werden, wenn Inhalt und/oder die betroffenen Parteien der sich gegenüberstehenden Regelungen unterschiedlich sind und keine gemeinsamen Schnittmengen aufweisen (Voraussetzungen ratione materiae und ratione personae). Weiterhin müssen die beiden Normen zur selben Zeit, ratione temporis, interagieren/kollidieren und die verpflichteten Staaten müssen an die Regelungen gebunden sein (bound by both rules40 ). Ein Staat, der Mitglied des Europarats ist und die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, kann einem Betroffenen nicht Gerichtszugang unter Art. 6 I EMRK gewährleisten und gleichzeitig dem (absoluten/relativen) Anspruch auf Immunität eines anderen Beteiligten (Staat, Internationale Organisation) nachkommen (Voraussetzungen ratione personae und ratione materiae). Das Kriterium ratione temporis ist erfüllt, wenn die widerstreitenden Verpflichtungen auf Gewährung von Immunität und die Geltung des Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) jedenfalls in dieselbe Zeit fallen. Die dargestellte, kontinuierlich verfeinerte Rechtsprechung des EGMR führt zu einem immer engmaschigeren Schutz des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK. Mit der Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 I EMRK auf sämtliche Immunitätsfälle hat sich der EGMR unter Berufung auf Art. 31 III lit. c WVK die Möglichkeit geschaffen, in seinen Entscheidungen völkergewohnheitsrechtliche Fragestellungen mit einzubeziehen. Hierbei hat der Gerichtshof das Konfliktpotential zwischen dem – in den nationalen Rechtsordnungen auch vielfach verfassungsrechtlich garantierten – Recht auf Zugang zu Gericht mit den verschiedenen völkerrechtlichen Immunitäten jedenfalls dem Grunde nach erkannt41 . Über die verschiedenen Auslegungsmethoden, die der EGMR praktiziert, schuf er sich eine – von den Mitgliedstaaten anerkannte – Kompetenz, völkerrechtliche Überlegungen, wie insbesondere das Vorliegen und die Reichweite von Immu-
37 Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, S. 401. 38 Weinberger, a. a. O., S. 434 spricht in Hinblick auf die aktuelle Herangehensweise von „intelectual dishonesty“ in Bezug auf die Wimbledon-Entscheidung des ständigen IGH. 39 Auch Faßbender, Welthandelsrecht und Menschenrechte – ein Gegensatz?, S. 1102 (m. w. N.), weist darauf hin, dass Konflikte oft bereits angenommen werden, wenn im entsprechenden Kontext ein Menschenrecht thematisch einschlägig und durch das (in seinem Fall) Welthandelsrecht faktisch in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen wird. In solchen Situationen sei jedoch vielmehr von „Programm- oder Systemkonflikten“ oder „Wertungswidersprüchen“ auszugehen, die ob ihrer ungenauen Konfliktbeschreibung keinen überzeugenden Lösungen zugeführt werden können. 40 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 165. 41 Der EGMR spricht insofern von „implications“, so z. B. in EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, § 53: „The right of access to court is not, however, absolute, but may be subject to limitations; these are permitted by implication since the right of access by its very nature calls for regulation“; sowie in Bezug auf den Konflikt zwischen der Immunität Internationaler Organisationen und dem Recht auf Zugang zu Gericht: EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 11. 06. 2013, Stichting Mothers of Srebrenica vs. Niederlande, Rs. 65542/12, S. 36.
II. Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht
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nitäten, in die Beurteilung eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK mit einzubeziehen42 . Überlappen sich Kompetenzen, so kommt es zu komplexen (oft normenhierarchischen oder rechtsquellentheoretischen) Folgeproblemen43 . Auch den Richtern des IGH blieb dieser neu geschaffene und in letzter Zeit immer präsentere Konflikt nicht verborgen44 .
II. Die Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK In einer Völkerrechtsrealität, die zunehmend von multilateralen Vertragswerken bestimmt und verändert wird, ist ein Neben- und Übereinander vertraglicher und/oder völkergewohnheitsrechtlicher Verpflichtungen nicht auszuschließen. Das Zusammenspiel bzw. die Interaktion zwischen Völkervertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht wirft grundsätzliche Fragen der Rechtsquellenlehre des Völkerrechts auf45 . Die vorliegende Art von Konflikten ist besonders46 und gleichzeitig Ausruck einer fragmentierten Völkerrechtslandschaft. Der Konflikt völkerrechtlicher Immunitäten mit dem Recht auf Zugang zu Gericht, das der EGMR als in Art. 6 I EMRK inhärent befand, war für die Staaten (vermutlich) nicht vorhersehbar und damit wohl auch nicht vermeidbar. Der vorab beschriebene Konflikt entsteht nicht nur bei einem Zusammentreffen menschenrechtlicher Verpflichtungen und der Verpflichtung eines Staates, andere, dem allgemeinen Völkerrecht zugehörige Verpflichtungen (wie etwa die Immunitätsgewährung) zu erfüllen. Besonders im Welthandelsrecht wurde die Konfliktgeneigtheit des Zusammentreffens verschiedener (völkervertraglicher und völkergewohnheitsrechtlicher) Verpflichtungen im oben beschriebenen Dreiecksverhältnis bereits eingehend untersucht47 . Im Folgenden soll der vorliegende Konflikt näher charakterisiert werden. 42 Der EGMR verfügt hierdurch noch nicht über die Kompetenz, (regionales) Völkergewohnheitsrecht selbst zu statuieren oder in Umfang und Reichtweite zu determinieren, so auch: Ziemele, Customary Interntational Law in the Case Law of the European Court of Human Rights – The Method, S. 248. Eine strikte Trennung ist im Rahmen der Auslegung des Art. 6 I EMRK allerdings nicht möglich. 43 In Bezug auf das Europarecht: Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006 (Heft 6), S. 738. 44 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece intervening), Judgment I.C.J. Reports 2012. In seiner abweichenden Meinung widmet Richter Cancado Trindade dieser Spannungslage ein eigenes Kapitel, Judgment I.C.J., a. a. O., diss. op. Judge Cancado Trindade. 45 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law. S. 131 ff. 46 „[E]xceptional“, so Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 136; bzw. „rather esoteric“, so Sands, Treaty, Custom and the Cross-fertilization of International Law, S. 85. 47 Hierzu u. a. Marceau, WTO Dispute Settlement and Human Rights (mit zahlreichen weiteren Nachweisen auf S. 754, Fn. 1). Als Beispiel: Verpflichtet sich ein Staat A Staat B gegenüber, keine Handelshemmnisse zu errichten und schließt A gleichzeitig mit Staat C ein Umweltabkommen, das vorsieht, dass conflict diamonds vom Handel (auch mit Drittstaaten wie B) ausgeschlossen sind, so fragt sich, ob A den Verpflichtungen gegenüber B oder C nachkommen muss. Das Beispiel stammt aus Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of InterConnected Islands, S. 909.
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
1. Das komplizierte Dreiecksverhältnis des vorliegenden Konflikts Der hier zu untersuchende Konflikt weist Besonderheiten auf. Die Konfliktbeteiligten stehen sich in einem komplizierten Dreiecksverhältnis gegenüber. Ein Staat A ist gegenüber Staat B zur Gewährung von Immunität verpflichtet. Gleichzeitig ist der Staat A gegenüber dem sich auf die EMRK berufenen (späteren Individualbeschwerdeführer) C verpflichtet, ihm Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu gewähren. Im Verhältnis A zu B handelt es sich um einen Souveränitätskonflikt, in dem sich konkurrierende Souveränitäts- und Zuständigkeitsinteressen der Staaten gegenüber stehen48 . Beide Staaten berufen sich auf Souveränität. Staat A bezweckt mit der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens, staatliche Kontrolle auszuüben, die Durchsetzung privater Rechte zu ermöglichen und damit individuelle Freiheitsrechte zu gewährleisten (effektiver Rechtsschutz), und verfolgt hierneben ggf. auch wirtschaftliche Ziele49 . B und C sind ebenfalls verbunden, C möchte gegen B bestimmte Ansprüche geltendmachen, etwa Schadensersatz, und klagt hierfür in Staat A gegen B. Der private Kläger verfolgt hierbei primär das Interesse, seine Rechte in einem Gerichtsverfahren geltend zu machen. Alternativen, wie etwa Schadensersatzverhandlungen mit dem beklagten Staat (entweder direkt oder über die diplomatischen Vertretungen seines Heimatlandes) oder Gerichtsverfahren vor den Gerichten des beklagten Staates sind hier nur wenig erfolgsversprechend50 . Aus Perspektive des Staates A soll dieser gegenüber B und C kollidierende (im Konflikt stehende) Verpflichtungen erfüllen51 . Hierin liegt nach obiger Definition sogar ein enger Normkonflikt vor. Gewährt Staat A Staat B keine Immunität, so ist dies ein Verstoß gegen das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität. Gewährt A dem Beschwerdeführer C gegenüber keinen Zugang zu Gericht, so bedeutet dies einen Eingriff in Art. 6 I EMRK zu Lasten des C52 . Das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK entstammt einem hochspezialisierten Rechtssystem (Regime) des regionalen Menschenrechtsschutzes. Die Verpflichtungen aus der EMRK sind hierbei von besonderer Natur: Die EMRK ist ein rechtsetzender Vertrag (sog. traité loi) mit spezieller Schutzrichtung und einer hohen institutionnellen Regelungsdichte. Es handelt sich bei der Verpflichtung aus der EMRK auf Zugang zu Gericht um ein sich durch die Rechtsprechung des EGMR ständig im Fluss befindliches Menschenrecht. Das Prinzip der Staatenimmunität entstammt einem anderen (durch Völkergewohnheitsrecht determinierten) Regime, welches ebenfalls einer eigenen Entwicklungsdynamik und ständigen Anpassungsvorgängen unterliegt. Diese Eigenschaften führen zu 48
Heß, Staatenimmunität bei Distanzdelikten, S. 308. Heß, a. a. O., S. 301, erkennt in der Gewährung des effektiven Rechtsschutzes eine „Grundfunktion des Staates“. Wirtschaftliche Zwecke werden schon deswegen verfolgt, weil Gerichtsverfahren gegen ausländische Staaten häufig hohe Streitwerte aufweisen, hierzu ebenfalls Heß, a. a. O., S. 302. 50 Heß, a. a. O., S. 303. 51 Pauwelyn erkennt diesen Konflikttyp (AC/AB-type) ebenfalls als especially problematic, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, S. 909. 52 Die Frage der Rechtfertigung dieses Eingriffs stellt sich nicht auf der Ebene der Konfliktbeschreibung. 49
II. Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht
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einer erhöhten Konfliktgeneigtheit, was die Gefahr einer Verfestigung der Inkohärenz im völkerrechtlichen Regelungssystem mit sich bringt53 . Die Konfliktsituation, obwohl durch den Inhalt von Völkergewohnheitsrecht bzw. Völkervertragsrecht determiniert, wirkt sich sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene aus. Kollidieren menschenrechtliche Verpflichtungen aus der EMRK mit einschlägigen Völkerrechtssätzen, so liegt kein inhärent normativer Konflikt vor, der zur Rechtswidrigkeit einer Norm bei Anwendung der anderen führt, sondern ein direkter Konflikt zwischen zwei Normen bzw. Teilrechtsordnungen des Völkerrechts54 . Ein und derselbe Sachverhalt führt zur Anwendung zweier konfligierender Normen, die beide rechtsverbindlich und rechtmäßig sind. 2. Der vorliegende Konflikt als Inter-Regime-Konflikt Völkerrecht kann als eine Vielzahl von nebeneinander bestehenden Rechtsbereichen (als Subsysteme, Teilrechtsordnungen, Rechtsregime des Völkerrechts) definiert werden, wenn allein auf die Internationalität des Rechts (außerhalb der staatlichen Jurisdiktion) abgestellt wird55 . Stellt man auf das normative Umfeld bzw. die Teilrechtsordnung der am Konflikt beteiligten Akteure ab, so kann vorliegend ein sog. Inter-Regime-Konflikt angenommen werden. Die Qualifizierung des vorliegenden Konflikts als Regime-Konflikt hat Auswirkungen auf spätere Lösungsansätze, im Zusammenhang mit der Lösung von Normkonflikten können Regimetheorien einen profunden Beitrag leisten. Dies sei vorab an einigen Beispielen illustriert: Staaten und andere Subjekte mit (jedenfalls partieller) Völkerrechtssubjektivität können mittels vertraglicher Konstruktionen internationale (special) Regime begründen, hierbei die Anwendbarkeit allgemeinen Völkerrechts ausschließen bzw. regulieren (Ausnahme: ius cogens) und darüberhinaus die Vorrangstellung eines Regimes gegenüber einem anderen begründen. Eine weitere Möglichkeit ist es, das Regime über allgemeine Konfliktlösungsmechanismen (Derogation) als lex specialis zu qualifizieren, was ebenfalls eine prioritäre Anwendung auslösen würde. Versteht man die Auslegung der EMRK56 gar als self-contained-Regime57 (in einem engen Sinn), so wäre wohl ein Rückgriff auf andere (externe) Völkerrechtsquellen ausgeschlossen, jedenfalls nicht
53 Den Zusammenhang zwischen dynamischen, rechtsetzenden Regelungswerken und der hierdurch bedingten Erhöhung des Konfliktpotentials unterstreicht auch Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge auf S. 30 ff. 54 Pauwelyn, a. a. O. S. 908: conflict of the applicable law; Jenks, The Conflict of law-making treaties, S. 426, charakterisiert die vorliegende Situation ähnlich: „A conflict in the strict sense of direct incompatibility arises (. . .) where a party to the two treaties cannot simultaneously comply with its obligation under both treaties.“ 55 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 27. 56 Gemeint ist das Verständnis der EMRK als „instrument of European public order (ordre public) for the protection of individual human beings, so z. B. in EGMR, Urteil vom 23. 3. 1995, Loizidou vs. Turkey, Rs. 15318/89, Rn. 93. 57 Das dieser Diskussion zugehörige Phänomen der self contained-Regime bestimmt die Fragmentierungsdebatte zu einem großen Teil mit. Auch in den Koskenniemi-Report hat es ausführlich Eingang gefunden; Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 108, hält diesen Abschnitt (als einzigen) für außerordentlich gelungen.
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
notwendig58 . Weiterhin ermöglicht es der Regime-Begriff die Besonderheiten eines regionalen Menschenrechtsschutzvertrages im Speziellen zu erfassen und zu berücksichtigen. Der Vorteil eines Denkens in Rechtsregimen ist u. a. die gesicherte Akzeptanz der Mitgliedstaaten im Rahmen internationaler Zusammenarbeit und Kooperation59 . Regimekonformes Verhalten ist besonders durch gemeinsame ideologische und ethisch-soziologische Überzeugungen bedingt. Auf der anderen Seite entwickeln Regime ein Eigenleben60 , tragen aktiv zur Rechtsfortbildung und Rechtsetzung bei, was zu einer zunehmenden Fragmentierung des Völkerrechts führt. Anders formuliert besteht ein „rapides Wachstum von nicht-staatlichen (. . . ) Rechtsregimes“61 , ein „global law without a state“62 ; das Recht ist nicht mehr auf einen demokratisch legitimierten Normsetzer zurückzuführen, sondern auf gesellschaftspolitische63 und regimespezifische Entscheidungen der Regimeorgane und -mitglieder. a) Begriff des internationalen (speziellen) Regimes in Abgrenzung zum Subsystem Die Begriffe des Subsystems64 und des internationalen (special) Regimes werden oft synonym verwendet. Vorliegend geht es neben der begrifflichen Erfassung des Völkerrechts um die Frage des Neben-, ggf. Miteinanders verschiedener unterschiedlich autonomer Rechtsregime und Teilrechtsordnungen und um die Koordinierung oder Kooperation verschiedener Teilrechtsysteme des Völkerrechts bzw. internationaler Regime. Von Rechtsregimen zwingend zu unterscheiden sind sog. Statusverträge im Völkerrecht, die den Status eines geographisch abgrenzbaren Gebiets (Territoriums) definieren65 . Internationale Rechtsregime sind terminologisch nicht eindeutig definiert. Klein definiert internationale Regime beispielsweise als „all sets of norms of behaviour and of rules and policies which cover any international issue, and faciliate substantive or procedural arrangements among the States they address“66 .
Es werden je nach Thema der Publikation verschiedene Anforderungen an die Annahme eines Regimes gestellt. Nach Ansicht der ILC stellt das Völkerrecht ein einheitliches 58 Koskenniemi, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, § 128: „In this wider sense, self-containedness fuses with international law’s contractual bias: where a matter is regulated by a treaty, there is normally no reason to have recourse to other sources.“ 59 Als Beispiel-Forum sei hier der Europarat genannt. 60 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 84. 61 Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, S. 14. 62 Fischer-Lescano/Teubner, a. a. O., S. 14, die auf die Relation einer Gesellschaftsfragmentierung zur Fragmentierung des Weltrechts durch non-state Akteure (und transnationaler Entitäten) hinweisen und die anerkannten Rechtsquellen insofern um die Kategorie des transnationalen Rechts ausweiten wollen. 63 Die Weltgesellschaft als „fragmentierte Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum“, FischerLescano/Teubner, a. a. O., S. 22, mit interessanten Parallelen zur (ursprünglich der Soziologie entstammenden) Netzwerktheorie, Fischer-Lescano/Teubner, a. a. O., S. 23 f. 64 Tiefergehende Unterscheidungen hierzu: Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 90. 65 Hierzu: Klein, International Régimes, EPIL, Band V, S. 202 mit konkreten Nachweisen. 66 Klein, International Régimes, EPIL, Band V, S. 202.
II. Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht
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System dar67 , welchem sog. Subsysteme untergeordnet sind. Subsysteme betreffen v. a. den thematischen Komplex der Staatenverantwortlichkeit68 und sind als Komplex von Primär- und Sekundärnormen definiert69 , die sich gegenseitig beeinflussen, wobei die Sekundärnormen bei Verletzung der Primärnormen vorrangig Anwendung finden70 . Sekundärnormen sind in diesem Zusammenhang allein als solche Normen definiert, die nach einer Primärnormverletzung eintreten71 . Von den Subsystemen zu unterscheiden ist das internationale oder special Regime72 , dessen Terminologie auch im Koskenniemi-Report aufgenommen wurde73 . Ein special Regime besteht aus einem Zusammenschluss von (ausschließlich) Primärnormen, die sich gegenseitig beeinflussen. Im Unterschied zu Subsystemen greifen im Falle einer Verletzung von Regimenormen keine speziellen Sekundärnormen, es wird vielmehr auf die Grundsätze der allgemeinen Staatenverantwortlichkeit rekurriert74 . Der Ursprung internationaler Regime liegt in einer völkerrechtlichen Rechtsquelle und ist damit selbst als rechtliche Entität zu qualifizieren (legal regime)75 . Nach obiger Definition handelt es sich bei dem Recht der Staatenimmunität als „Sonderbereichsrecht“ um ein „einfaches“ Regime, welches in der Lage ist, ein eigenständiges Rechtsgebiet zu konstituieren, das allerdings nicht über Rechtsbildungsmechanismen oder organisationsinterne Zentren verfügt76 ; es unterliegt dem Rechtsschaffungsprozess des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts. Auch das Menschenrechtsschutzsystem EMRK und dessen institutionelle Ausgestaltung stellen ein Regime nach oben genannten Verständnis dar. 67 Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, §§ 14, 134 (in Hinblick auf die WTO als „specific subsystem“). 68 Die Verknüpfung der Theorie der Subsysteme im Völkerrecht mit der Problematik der Staatenverantwortlichkeit geht auf special Rapporteur Riphagen zurück, der zwischen 1980 und 1986 sieben Berichte für die ILC erarbeitete, in denen er die Theorie aufstellte, dass ein neues, sekundäres Rechtsverhältnis nach Eintritt der Verantwortlichkeit entstehe, diese Sekundärnomen jedoch hinter einem speziellen Verantwortlichkeitsregime, einem Subsystem, zurücktreten sollten, was die ILC in den Entwurfsartikeln für eine Verantwortlichkeit von Staaten übernahm. Detaillierte Einordnung in die Völkerrechtstheorie (Staatenverantwortlichkeit) mit Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Subsystemen in: Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 147 ff. Eine Studie über die Auswirkungen der Fragmentierung auf die Staatenverantwortlichkeit liefert: Aust, Through the Prism of Diversity – The Articles on State Responsibility in the Light of the ILC Fragmentation Report, S. 165 ff. 69 Zur genaueren, historisch belegten Begriffsbestimmung: Aust, a. a. O., S. 175 ff. 70 Marschik, a. a. O., S. 81. 71 Zur Festellung der Verantwortlichkeit, der Verantwortlichkeitsfolgen und der Durchsetzung von letzteren, Marschik, a. a. O., S. 80. 72 Buffard, Une relecture de le théorie des sous-systèmes en droit international, S. 19. 73 Koskenniemi, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, § 483 „specialized rules and rule-systems“. 74 Marschik, a. a. O., S. 80, 148 ff. 75 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 87, und im Exkurs zu den rechtshistorischen und -theoretischen Entwicklungen S. 82 ff., z. B. zu der (historischen) Definition des Regimes als Forum internationaler Kooperation von entweder mehreren schwachen Staaten in Verfolgung ihrer Einzelinteressen als Koalition oder als Durchsetzungsforum der Interessen eines Hegemons, der andere Staaten zur Teilnahme zwingt bzw. Anreize durch Zurverfügungstellung von Regimemitteln an teilnehmende Staaten setzt. 76 Lescano/Liste, Konstitutioneller Pluralismus der Weltgesellschaft, S. 573.
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
b) Abgrenzung zum self-contained-Regime Das self-contained Regime wurde erstmals 1923 im Fall S.S. Wimbledon77 vom stIGH erwähnt, in dem es um einen Konflikt zwischen dem völkergewohnheitsrechtlichen Neutralitätsgebot und völkervertraglichen Regelungen des Versailler Vertrages ging. Der stIGH kam zu dem Schluss, dass die speziellen Regelungen des Versailler Vertrages, die die Durchfahrt durch den Kiel-Kanal (heute Nord-Ostsee-Kanal) regelten, derart von anderen Durchfahrtsregelungen abwichen, dass sie ein self-contained Regime darstellten78 . Der IGH hat sich in der Tehran Hostage-Entscheidung79 mit self-contained Regimes auseinandergesetzt, was eine umfangreiche rechtswissenschaftliche Folgediskussion auslöste80 . Er überprüfte das Vorliegen eines self-contained Regimes erstmals auf Sekundärnormebene und kam zu dem Schluss, dass das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD) in der Weise self-contained sei81 , dass im Anwendungsbereich des WÜD (bei Verletzungen des Diplomatenrechts) keine andere als im WÜD vorgesehene Rechtsfolgen82 ergriffen werden düften und im Fall von Rechtsverletzungen außerhalb des Diplomatenrechts die Repressalien eines Staaten ebenfalls die Sekundärnormen der Diplomatenrechte weder verletzen noch beeinträchtigen dürften83 . Der Begriff des self-contained-Regimes meint keine absolute Unabhängigkeit eines Rechtssystems von sämtlichen äußeren Einflüssen84 . Weder soziale noch rechtliche Systeme können in völliger Unabhängigkeit von ihrem sie umgebenen Umfeld existieren85 . Damit sind auch in sich geschlossenen Teilrechtsordnungen im internationalen Rechtsraum nie völlig unabhängig, jedenfalls auf Interpretationsebene interagiert das Teilrechtssystem mit dem allgemeinen Völkerrecht. Anders formuliert, können Staaten durch entsprechende völkervertragliche Bestimmungen allgemeines Völkerrecht (außer ius cogens) für unanwendbar erklären, sie können sich hiermit jedoch nicht aus der allgemeinen Völ77 S.S. Wimbledon (U.K. v. Germ), 1923 Permanent Court of International Justice (P.C.I.J.), (ser. A) No. 1, Urteil vom 29. 06. 1923, §§ 23 f. 78 „[T]he provisions relating to the Kiel Canal in the Treaty of Versailles are therefore selfcontained: If they had to be supplemented and interpreted by the aid of those referring to the inland navigable waterways of Germany [. . .], they would lose their ‚raison d’être‘ “, P.C.I.J., a. a. O., S. 24. 79 United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran, Judgment, I.C.J. Reports 1980, p. 3, hierzu im Detail: Simma, Self-Contained Regimes, S. 111 ff. 80 Teilweise wird vertreten, dass der S.S. Wimbledon-Fall kein originärer Fall der self-contained Regime ist. 81 „The rules of diplomatic law, in short, constitute a self-contained régime (. . .).“, I.C.J. Reports 1980, § 86; Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 103, nennt diese Systeme geschlossene Subsysteme. 82 „[D]iplomatic law itself provides the necessary means of defence against and sanction for illicit activities by the members of diplomatic or consular missions“, I.C.J., a. a. O, § 86. Der IGH schlug folgende nach Diplomatenrecht zulässige Reaktionen Teherans (nicht abschließend) vor: Erklärung eines Diplomaten zur persona non grata, Abbruch diplomatischer Beziehungen bei besonders gravierenden Verletzungen, Arrest eines Diplomaten, der straffällig wurde oder ein Verbrechen vorbereitete, vgl. I.C.J. Reports 1980, §§ 86 f. 83 Zur Kritik an der Geschlossenheit des Subsystems: Marschik, a. a. O., S. 103 f. m. w. N. 84 Simma/Pulkolwski, Of Planets and the Universe, S 492, sprechen insoweit von einer irrigen Meinung (misconception). 85 Hierzu unter Rückgriff auf Luhmanns Systemtheorie (1997), nach der alle Systeme zu einem gewissen Grad strukturell verbunden sind: Simma/Pulkolwski, a. a. O., S. 492. Weiterhin: Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 74.
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kerrechtsordnung hinausmanövrieren86 . Beispiele aus der Rechtsprechung sind neben der Rechtsprechung des EGMR, der die EMRK nicht in einem „Vakuum“ auslegt87 , die hierzu korrespondierende Rechtsprechung des WTO Appellate Body, der regelmäßig ausführt: GATT „is not to be read in clinical isolation from public international law“88 . Definierte man self-contained-Regimes derart eng, dass Teilrechtssysteme im Vakuum bzw. in klinischer Isolation absolute Unabhängigkeit von generellen Völkerrechtseinflüssen beanspruchen könnten89 , so gäbe es keine praktischen Anwendungsbereiche und das Phänomen würde auf ein theoretisches Gedankenspiel der Rechtswissenschaft reduziert90 . Self-contained Regimes sind geschlossene Subsysteme, die abschließend anzuwendende Sekundärnormen zur Verfügung stellen, sodass auch im Falle völkerrechtlich relevanter wrongful acts nicht mit regimefremden Repressalien und Gegenmaßnahmen reagiert werden darf, die Durchsetzung der subsystemischen Regelungen allein durch systeminterne Maßnahmen gewährleistet wird und von außen (etwa durch „regimefremde Normen“91 ) nicht in das System eingegriffen werden darf92 . Self-contained Regimes stellen keine leges speciales des Primärrechts dar93 . Die ILC hat (abhängig vom jeweiligen special rapporteur) ganz verschiedene Definitionen eines self-contained Regime angeboten94 . Koskenniemi95 vertritt demgegenüber ein sehr weites Verständnis, wenn er Regime und self-contained Regime wie folgt definiert: „. . .union of rules laying down particular rights, duties and powers and rules having to do with the administration of such rules, including in particular rules for reacting to breaches. When such a regime seeks precedence in regard to the general law, we have a ‚self-contained regime‘, a special case of lex specialis“.
86 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 37, ist der Meinung, bei dieser Aussage handele es sich (unter Rückgriff auf das Prinzip pacta sunt servanda) selbst um ius cogens. 87 Beispielsweise: EGMR, Urteil vom 23. 3. 1995, Loizidou vs. Turkey, Rs. 15318/89, Rn. 43. 88 US – Standards for Refomulated and Voncentional Gasoline, Report of the Appelate Body, 29. 4. 1996, § 17. Zu der Frage, ob das WTO-System ein „closed legal circuit“ darstellt, weiterhin: Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 35 ff. 89 Folglich wären sie nicht mehr Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts. 90 Ein solches System würde einen „legal Frankenstein“ darstellen, vgl. Abi-Saab, Fragmentation or Unification: Some Concluding remarks, S. 926, zitiert nach Simma/Pulkolwski, a. a. O., S. 492. 91 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 74. 92 „Hence, we reserve the term ‚self-contained regimes‘ to designate a particular category of subsystems, namely those that embrace a full, exhaustive and definitive set of secondary rules. Thus, the principal characteristic of a self-contained regime is its intention to totally exclude the application of the general legal consequences of wrongful acts as codified by the ILC in particular the application of countermeasures by an injured state.“ Simma/Pulkolwski, Of Planets and the Universe, S. 493. 93 Simma/Pulkowski, Of Planets and Universe, S. 492. 94 Zu den verschiedenen Definitionen der verschiedenen special rapporteur Riphagen, ArangioRuiz: Simma/Pulkowski, a. a. O., S. 493 und noch ausführlicher: Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 37 ff. 95 Koskenniemi, The function and scope of the lex specialis rule and the question of „selfcontained regimes“: An outline, Arbeitspapier der study group, abrufbar unter http://legal.un.org/ ilc/sessions/55/fragmentation_outline.pdf, zuletzt abgerufen am 18. 06. 2018.
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c) EMRK und ihre Durchsetzungsmechanismen als self-contained Regime im Hinblick auf Immunitätsfälle? Es fragt sich, wie das Menschenrechtsschutzinstrument EMRK samt Durchsetzungsmechanismen der Institutionen des Europarats in die oben dargestellte Regimedogmatik einzuordnen sind96 . Der Menschenrechtsschutz durch EMRK und EGMR könnte ein spezielles Regime darstellen97 . Andere erkennen in der EMRK und dem hieraus (durch die Straßburger Organe) gewährleisteten Schutz ein offenes Subsystem des Völkerrechts98 . Thiele99 deutet an, dass Rechtsprechungsorgane als self-contained Regime (bzw. Systeme) zu qualifizieren sein könnten. Die Frage, ob die EMRK ein self-contained Regime darstellt, beantwortet der EGMR selbst, wenn er urteilt, dass die Konvention nicht in einem Vakuum, sondern im Kontext des geltenden Völkerrecht auszulegen sei100 . Der EGMR bezieht sich bei der Entscheidungsfindung explizit auf die Regelungen/Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts, wie etwa dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Immunitätsprinzip101 . Unter Verweis auf die Immunitäten-Rechtsprechung kommt der Koskenniemi-Report zu demselben Schluss: Da der EGMR bei der Entscheidungsfindug auf die principles of international law eingeht und die Konvention explizit nicht „in einem Vakuum“ interpretieren möchte, sondern im Einklang mit den anderen Pinzipien des Völkerrechts, dessen integralen Bestandteil sie selbst bildet, stelle das Menschenrechtsschutzsystem der EMRK kein self-contained Regime dahingehend dar, dass ein Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht ausgeschlossen sei102 . Hierin ist eine graduelle Abstufung bei der Bewertung des Menschenrechtsregimes der EMRK durch die ILC zu erkennen. Keine Vertrags-Regime, die die ILC untersucht hat, stellen self-contained-Regime in der Hinsicht dar, dass sie dem allgemeinen Völkerrecht vorgehen und dieses bei der Anwendung und v. a. bei der Interpretation der Vertragswerke ausschließen103 . Vorliegend ist daher nicht anzunehmen, dass die EMRK und ihre Durchsetzungsmechanismen ein self-contained-Regime darstellen, welches sich der restlichen Völkerrechtsordnung weitestgehend verschließt. Im Gegenteil versteht sie das System der EMRK und ihrer Durchsetzungsmechanismen als integralen Bestandteil der Völkerrechtsordnung und ist bestrebt, eine konsistente und einheitliche, dem restlichen Völkerrecht nicht widersprechende Rechtsprechung zu erreichen. 96 Zur Anwendung der allgemeinen Regeln der Staatenverantwortung: Simma, Self-Contained Regimes, S. 130 ff. 97 So z. B.Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 13 f. mit Zitat von Kelsen, General Theory of Law and State, 1961, S. 156: „The higher norm . . . determines . . . the creation and the contents of the lower norm . . . The lower norm belongs, together with the higher norm, to the same legal order only insofar as the former corresponds to the latter.“ 98 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. Zemanek, Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, S. 462. 99 Thiele, Fragmentierung des Weltrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 30. 100 EGMR, Urteil vom 23. 3. 1995, Loizidou vs. Turkey, Rs. 15318/89, Rn. 43. 101 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 102 Koskenniemi-Report §§ 160 ff. 103 Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, § 172.
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3. Der vorliegende Konflikt als Auslegungskonflikt Der vorliegende Konflikt kann zudem als Auslegungskonflikt qualifiziert werden. Dieser Ansatz baut auf dem zuvor gefundenen Ergebnis auf, dass vorliegend ein „Inter-Regime-Konflikt“ anzunehmen ist. Auslegungskonflikte setzen im hier gegebenen Kontext Entscheidungen verschiedener internationaler Rechtsprechungsorgane innerhalb eines Teilrechtssystems oder unterschiedlicher Regime in Hinblick auf dieselbe Rechtsfrage voraus. Auslegungskonflikte entstehen in Rechtssachen mit identischen und nichtidentischen Parteien in Fällen, die sukzessive oder zeitgleich entschieden werden104 . Ein Auslegungskonflikt zeitgleicher Entscheidungen ist in der vorliegenden Konstellation höchst unwahrscheinlich. Der EGMR müsste zeitgleich einen vor einem anderen Gericht ebenfalls anhängigen Fall lösen. Dies wird bereits durch die Zulässigkeitsvoraussetzung des Art. 35 II lit. b EMRK verhindert, der die Befassung des Gerichtshofs mit einer Beschwerde ausschließt, die „im Wesentlichen einer (. . .) anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält“105 . Diese Vorschrift ist eine Kodifikation des lis pendens-Prinzips und hat die Vermeidung von Konflikten verschiedener Jurisdiktionen zum Ziel106 . In Betracht kommt demnach lediglich ein Auslegungskonflikt sukzessiver Entscheidungen mit (teilweise) identischen oder unterschiedlichen Parteien107 . Sowohl der IGH als auch der EGMR haben über die Reichweite und Grenzen der Immunität von Staaten geurteilt und hierbei gegenseitig aufeinander Bezug genommen, sodass ein vertikaler Auslegungskonflikt vorliegt. Ein horizontaler Konflikt kommt demgegenüber nicht in Betracht. Der EGMR ist der Gerichtshof des Rechtsregimes EMRK innerhalb des Europarats. Mit dem 11. Zusatzprotokoll wurde ein ständiger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte errichtet, der an die Stelle der ehemaligen Kommission trat und ausschließlich für die Beschwerden unter der Konvention Jurisdiktion beansprucht. Zuvor war die Kommission für Zulässigkeitsentscheidungen und Staatenbeschwerden zuständig, sodass sich eine Konfliktsituation hätte ergeben können (obwohl ihre Entscheidungen lediglich „Empfehlungen“ darstellten).
104 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 14–23 mit zahlreichen Beispielen aus der internationalen Rechtsprechungspraxis zu den genannten Konstellationen. 105 Art. 35 II lit. b EMRK. 106 Zur litispendence-doctrine und deren (fehlender) gewohnheitsrechtlicher Anerkennung im internationalen Rechtsraum: Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts and Tribunals and Conflicting Jurisdiction, S. 77. 107 Allein der Fall Kalogeropoulou, EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 12. 12. 2002, Kalogeropoulou vs. Griechenland und Deutschland, Rs. 59021/00, war mit teilweise identischen Parteien sowohl Gegenstand einer Individualbeschwerde vor dem EGMR als auch Teil des Verfahrens vor dem IGH im Fall Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99. Er betraf allerdings die Zwangsvollstreckung gegen ausländische Staaten, die sich auf Immunität berufen, was nicht Thema der vorliegenden Untersuchung ist. Weiterhin war lediglich eine teilweise Identität der Parteien gegeben.
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4. Einordnung des vorliegenden Konflikts in die Fragmentierungs- und Proliferationsdebatte Das Völkerrecht stellt zur Zeit kein homogenes, sondern ein unorganisiertes System mit inter- und intra-systemischen Spannungen, Widersprüchen und Reibungen dar108 . In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl von (quasi)-Tribunalen und Rechtsprechungsinstitutionen signifikant angestiegen109 . Gleichzeitig steigt die Anzahl der Fälle vor diesen Institutionen, was zeigt, dass ein Bedarf an überregionalen Rechtsprechungsforen besteht. Weiterer Effekt dieser Entwicklung ist die steigende Wahrscheinlichkeit, dass bei der Anwendung des dem Teilrechtsregime eigenen, speziellen Rechts Schnittmengen mit anderen Rechtsgebieten auftreten, mithin ein (regionales, zunächst für Spezialrechtsgebiete zuständiges) Tribunal über Rechtsfragen anderer Regime (mit-)entscheiden muss. Die stetig wachsende Zahl an dezentral wirkenden Rechtssprechungsorganen, die weder einem übergeordneten Rechtssystem angehören noch einer untereinander geltenden Hierarchie unterliegen, wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion unter dem Stichwort der „Proliferation internationaler Spruchkörper“ als ein (institutionelles) Phänomen der „Fragmentierung des Völkerrechts“ erfasst110 . Die stetig wachsende Fragmentierung des Völkerrechts (auf beiden Ebenen) ist v. a. bedingt durch die andauernde Expansion der Anwendungsbereiche internationalen Rechts111 . Im Besonderen dem EGMR wird regelmäßig vorgeworfen, einen nicht unerheblichen Beitrag zu einer international inkonsistenten Rechtsprechung zu leisten, der die „Einheit des Völkerrechts“ bedrohe und der Fragmentierung des Weltrechts Vorschub leiste112 .
108 A. A. Ridruejo, Droit International et droit international des droits de l’homme – Unité ou fragmentation?, S. 549, der zwar Spezialisierungs- und Diversifikationsprozesse im Völkerrecht erkennt, diese jedoch nicht als Manifestation einer Fragmentierung oder Zerschlagung des Rechts einordnet, sondern als traits, die dem Staatenwillen entsprechen und somit auf einem einheitlichen völkerrechtlichen Fundament fußen. Koskenniemi, Global Legal Pluralism: Multiple Regimes and Multiple Modes of Thought, S. 4, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei der Betrachtung der Einheit bzw. Fragmentierung des Völkerrechts auf die Perspektive ankomme und das Völkerrecht von einigen Autoren auch als „finely nuanced and sophisticated reflection of a deeper unity“ charakterisiert wird. 109 Genannt seien auf regionaler Ebene des Menschenrechtsschutzes der EGMR, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker (AGMR) und auf universeller Ebene der UN-Menschenrechtsausschuss. 110 Die Fragmentierung wird allgemeinhin auf zwei Ebenen untersucht, auf der materiellrechtlichen und der institutionellen Ebene, vgl. nur Dupuy, A Doctrinal Debate in the Globalisation Era, S. 2. Der Koskenniemi-Report, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006, hat demgegeüber die institutionelle Dimension ausgeblendet und sich auf die materiell-rechtliche Ebene beschränkt. Siehe auch Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 14. 111 Dupuy, A Doctrinal Debate in the Globalisation Era, S. 2. 112 Guillaume, The proliferation of international judicial bodies: The outlook for the international legal order, Rede anlässlich des 6ten Committee der Generalversammlung vom 27. 10. 2000, abrufbar unterhttp://www.icj-cij.org/court/index.php?pr=85&pt=3&p1=1&p2=3&p3=1, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016.
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Die Lehre ist sich hierbei (immer) noch nicht einig, ob diese Entwicklung zu begrüßen oder zu kritisieren (und im Ergebnis umzukehren) ist113 . Die ILC hat ihr eine eigene Studie gewidmet, aus der der viel diskutierte und bereits zitierte Koskenniemi-Report hervorging114 . a) Die Arbeit der ILC und die ausführliche Folgediskussion Die Völkerrechtskommission hat sich seit dem Jahr 2000 mit der Thematik der Fragmentierung des Völkerrechts intensiv auseinander gesetzt. Die rechtswissenschaftliche Diskussion hierzu ist uferlos und wird als „leading academic debate in the era of globalisation“115 beschrieben. 2002 wurde eine study group unter dem Vorsitz von Bruno Simma gegründet, ein Jahr später übernahm Martti Koskenniemi die Leitung. Nach der Erstellung mehrerer Studien zu diesem Themenkomplex116 wurden diese 2006 vom Vorsitzenden zu einem Endbericht konsolidiert117 , mit der study group diskutiert118 und an die UN-Generalversammlung weitergeleitet, die sie zur Kenntnis nahm. Der Koskenniemi-Report beschreibt zunächst das Phänomen der Fragmentierung als solches (Teile A und B), sodann die Konflikte zwischen allgemeinem und speziellen Recht mit Berücksichtigung von successive norms (Teile C und D), weiterhin die „wichtigen“ Relationen zwischen Art. 103 UN-Charta, ius cogens und erga omnes-Verpflichtungen (Teil E) und das Potential der systemischen Integration um Art. 31 III lit. c WVK als AntiFragmentierungswerkzeug (tool, Teil F), bevor der Bericht mit den General Conclusions (Teil G) abgeschlossen wird. Die ILC hat sich bei der Bearbeitung der Thematik auf die materiell-rechtliche Fragmentierung des Völkerrechts beschränkt, also auf Konflikte von Normen oder Teilrechtsregimen des Völkerrechts zu anderen Normen oder dem allgemeinen Völkerrecht. Die institutionelle Dimension, also die Problematik von Auslegungskonflikten verschiedener internationaler Gerichte oder Quasi-Gerichte innerhalb desselben Teilrechtssystems bzw. unterschiedlicher Teilrechtssysteme wurde expressis verbis ausgenommen119 . 113 Simma, Fragmentation in a positive light; a. A.: Sands, Treaty, Custom and Cross-fertilization of International Law, S. 105, möchte beispielsweise „some greater degree of fragmentation“ vermeiden. 114 Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006. 115 Dupuy, A Doctrinal Debate in the Globalisation Era, S. 1. 116 Eine Auflistung sämtlicher Einzelstudien findet sich in Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 89. 117 Koskenniemi, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006. 118 Hieraus hervor gingen die Schlussfolgerungen, Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, 2006. 119 Koskenniemi-Report, a. a. O., § 14. Dies ist nicht selbstverständlich, bzw. „bedauerlich“, Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 90, da die diesem Phänomen zugrundeliegende Proliferation internationaler Tribunale und Spruchkörper als weiteres (von der materiellrechtlichen Dimension untrennbares) Kennzeichen der Fragmentierung des Völkerrechts gesehen wird, so auch Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 14, mithin die Fragmentierungsdebatte wegen der engen Verknüpfung der materiell-rechtlichen
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C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
b) Institutioneller und materieller Rechtspluralismus als normative Realität Fragmentierung wird immer wieder als Phänomen erkannt, das für ein chaotisches Nebeneinanderher internationaler Spruchkörper, Vertragswerke und normativer Rechtssätze und -systeme mit einhergehender Rechtsunsicherheit verantwortlich zeichnet. Daher müsse mit (den zur Verfügung stehenden oder neu zu schaffenden) Mitteln des Völkerrechts einer „Erosion“ des Völkerrechts jedenfalls entgegen gewirkt werden; nicht weniger als ein „chaos in public international law“120 drohe bzw. stehe bereits kurz bevor. Besonders der IGH treibt die Sorge um eine (weitere) Proliferation und Fragmentierung des Weltrechts voran. Andere Stimmen erkennen demgegenüber in der Debatte um eine fragmentierte, proliferierte Völkerrechtslandschaft ein „Pseudo-Dilemma“121 , da diese lediglich (positiver) Ausdruck einer fortschreitenden Spezialisierung im Bereich internationaler Rechtssetzung und Spruchpraxis darstelle122 , bzw. als nicht wegzudiskutierende Realität schon immer bestanden habe123 bzw. schlicht zu akzeptieren sei124 . Aktuell bestimmen die negativen Auswirkungen der Fragmentierung nicht länger die Diskussion, immer häufiger wird der Begriff der Diversifikation dem der Fragmentierung vorgezogen125 . und der institutionellen Dimension erst durch Behandlung beider Dimensionen erfasst und durchdrungen werden kann, so Vranes, a. a. O. 120 Guillaume, The proliferation of international judicial bodies: The outlook for the international legal order, Rede anlässlich des 6ten Committee der Generalversammlung vom 27. 10. 2000, abrufbar unterhttp://www.icj-cij.org/court/index.php?pr=85&pt=3&p1=1&p2=3&p3=1, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016. 121 Simma, Fragmentation in a positive Light. 122 Craven, Unity, Diversity and the Fragmentation of International Law, S. 15; Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, S. 904 („. . .fragmentation is not necessarily a bad thing. . .“); Koskenniemi, International Law: Between Fragmentation and Constitutionalism, Rn. 20 (gleichzeitig Kritik des Constitutionalism). 123 Koskenniemi/Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties: „International law has always lacked a clear normative and institutional hierarchy“. 124 Bereits 1953 hat Jenks im Zusammenhang mit Normkonflikten (zwischen rechtsetzenden Verträgen) beispielsweise ausgeführt: „the conflict of law-making treaties, while obviously an anomaly which every possible precaution should be taken to avoid, must be accepted as being in certain circumstances an inevitable incident of growth (. . .) [of international law]“, Jenks, The Conflict of law-making Treaties, S. 405; Lindroos/Mehling, Dispelling the Chimera of „Self-Contained Regimes“ International Law and the WTO, S. 857 ff., erkennen (in einer Studie zum WTO-Recht) in der Fragmentierung des Völkerrechts eine seit langem existierende Realität, warnen allerdings vor der Gefahr der institutionellen Fragmentierung in Form der Proliferation internationaler Spruchkörper, welche durch ihre Rechtsprechung zu viel Einfluss auf Entwicklungen und Inhalt des allgemeinen Völkerrechts ausüben könnten. Die Uneinigkeit über das Für und Wider der Fragmentierung des Weltrechts zeigt sich in der Tatsache, dass die study group der Völkerrechtskommission im Zuge der Beschäftigung mit der Thematik den Titel ihres Projekts von „Risk ensuing from the fragmentation of international law“ zu „Fragmentation of international law: difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law“ korrigierte; hierzu: Camios, The Growth of Specialized International Tribunals and the Fears of Fragmentation of International Law, S. 62 f. Der eher mit negativen Assoziationen behaftete Begriff der Fragmentierung blieb jedoch bestehen, eine positivere Umschreibung (etwa: Diversifikation und Ausweitung (expansion) des Völkerrechts) wurde nicht umgesetzt. 125 Einen Überblick über die wechselnde Stimmung hin zu einer positiveren Bewertung der Diversifikation bzw. Fragmentierung bietet: Caminos, The Growth of Specialized International Tribunals and the Fears of Fragmentation of International Law, S. 55 ff.
II. Staatenimmunität im Konflikt zum Recht auf Zugang zu Gericht
105
c) Ursachen und Wirkung der Fragmentierung Im Völkerrecht fehlen zentralisierte Rechtsprechungs- und Rechtsdurchsetzungsmechanismen, die Homogenität und den Ausgleich verschiedener evtl. widersprüchlicher Rechtsnormen im Völkerrecht herstellen können126 . In diesem Umstand liegt eine der Hauptursachen der Fragmentierung begründet. Gleichzeitig wächst der Bestand spezieller materiell-rechtlicher Verpflichtungen im Völkerrecht, sowie die Anzahl der hiermit verbundenen Akteure, wobei die effiziente Um- und Durchsetzung dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen von spezialisierten Mechanismen gewährleistet werden sollen („followup machineries“127 ). Bedingt ist diese Entwicklung auch durch die gleichzeitig verlaufende politische Fragmentierung, die v. a. durch den Prozess der Erhöhung regionaler oder globaler Unabhängigkeit wichtiger Themen wie beispielsweise Umwelt, Energie, Wirtschaft, Ressourcen, Gesundheit und Menschenrechte gekennzeichnet ist. Hinzu kommt die Emanzipation des Individuums im Völkerrecht, die sich v. a. auf der Ebene des (regionalen) Menschenrechtsschutzes auswirkt und zu Akzentverschiebungen auch traditioneller Prinzipien des Völkerrechts führt. Dupuy128 fasst diese Entwicklung unter dem Schlagwort der Expansion des Völkerrechts zusammen. Im Ergebnis wird hiermit (aus rechtstechnischer Perspektive betrachtet) eine Entwicklung des internationalen Rechtssystems mit integrierten, effizienten Gerichtssystemen realisiert129 . Die „inhärenten Gefahren“130 einer solchen Proliferation internationaler Quasi-Gerichte erschließen sich schnell: Die speziellen materiell-rechtlichen Verpflichtungen und das hierzu jeweils zugehörige Gerichts- und Rechtsdurchsetzungssystem bilden völkerrechtliche Teilrechtsordnungen (Regime oder Subsysteme), die oftmals agieren, als wären sie von der internationalen Rechtsordnung des Völkerrechts zu unterscheidende autonome Rechtsordnungen131 . Systemübergreifend entstehen Reibungen und Widersprüche; die Staaten können Verpflichtungen aus verschiedenen Systemen treffen, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder die Wahrnehmung von Rechtspositionen aus einem anderen System beeinträchtigen, was gleichzeitig Ausdruck einer Regionalisierung des Völkerrechts ist. Hierin wird eine Bedrohung der Zuverlässigkeit, Autorität und Glaubwürdigkeit des Völkerrechts erkannt132 . Zuletzt determiniert das spezielle Regime auch die Perspektive (Maßstab), aus der eine Sachlage oder Problematik bewertet wird133 , was sich u. a. darin niederschlägt, dass der EGMR beispielsweise ein eigenes (von der klassischen Auslegung im Völkerrecht zu unterscheidendes) Auslegungsregime entwickelt hat, um die menschenrechtli126
Hafner, Risks ensuing from Fragmentation of International Law, S. 145. Dupuy, The Danger of Fragmentation or Unification of the International Legal System and the International Court of Justice, S. 794 f. („general substantial rules“). 128 Dupuy, a. a. O. 129 Dupuy, a. a. O., S. 795 f. 130 Dupuy, a. a. O., S. 796. 131 Hier insbesondere das Europarecht als „autonome Gemeinschaftsrechtsordnung“; die Autonomie wurde vom EuGH gerade in den ersten Jahrzehnten besonders betont, vgl. EUGH, Urteil vom 5. 2. 1963, Van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26–62, wo vertreten wurde, dass „die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ darstelle. 132 Hafner, Risks ensuing from Fragmentation of International Law, S. 147 f. differenziert hinsichtlich der Auswirkungen der Fragmentierung zwischen Primärrecht (materiell-rechtliche Normen) und Sekundärrecht (Durchsetzungsmechanismen). 133 Koskenniemi, International Law: Between Fragmentation and Constitutionalism, Rn. 10 mit folgendem Zitat eines Freundes: „a man with a hammer sees every problem as a nail“. 127
106
C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
che Perspektive der sich ihm darstellenden Sachverhalte effektiv und praktisch umzusetzen. Dieser „managerialism“134 stellt insofern ein Problem dar, als es keine „internationale Zivilgesellschaft“ gibt, die diese Regime überwacht. Hinzu kommt die Gefahr des Forum-Shoppings, was meint, dass Staaten die Auswahl an mehreren Rechtsprechungsund Durchsetzungsmechanismen haben und sich die für ihre Situation vorteilhafteste heraussuchen. Den Ansichten, die in der Fragmentierung eine Gefahr für die Einheit des Völkerrechts sehen, stehen andere Meinungen gegenüber, die entweder die Fragmentierung als normative Realität des Völkerrechts akzeptieren und ihr nicht mehr entgegentreten wollen135 bzw. ihr sogar positive Effekte zuschreiben, die in einer Gesamtschau überwiegen136 . Die positive Bewertung der aktuellen Fragmentierungstendenzen liegt in einem besonderen Umstand begründet: Die zuvor dargestellten „Gefahren“ und „Risiken“ haben sich nicht realisiert, im Gegenteil. Gerade regionale und internationale Gerichte und Spruchkörper haben besondere Vorsicht walten lassen bei der Bearbeitung von Fällen mit Bezug zum allgemeinen Völkerrecht137 . Die Bildung neuer Quasi-Tribunale und spezialisierte Spruchkörper birgt zudem den Vorteil der effizienten Implementierung der diversen Verpflichtungen im Völkerrecht, welche durch eine präzise und regimekonforme Interpretation der völkerrechtlichen Grundlagen dieser Verpflichtungen verstärkt wird. Gleichzeitig ist in einem spezialisierten, regionalen materiell-rechtlichen Umfeld eher zu erwarten, dass sich die Mitgliedstaaten eines solchen Regimes an das in diesem Kontext geltende punktuelle Völkerrecht halten und ihre Verpflichtungen ernst nehmen werden, da hier den individuellen Bedürfnissen der verschiedenen Beteiligten eher Rechnung getragen wird und die entsprechenden Systemorgane sachnäher und kompetenter entscheiden138 . Muss kein „globaler“, sondern beispielsweise nur ein „regionaler“ Konsens hergestellt werden, ist das System weniger träge, was zu einer progressiven Entwicklung des Völkerrechts beitragen und Vorreiter eines globalen Regimes werden kann. Der Fragmentierungsdiskurs und die Konstitutionalisierungsdebatte schließen sich nicht gegeseitig aus139 , letztere legt aber andere Schwerpunkte. Aus Perspektive eines konstitutionalisierten Völkerrechts ist eine Entwicklung von einer horizontalen, minimalistischen Ausrichtung (Verhältnis zwischen souveränen Staaten in bi- oder multilateralen Übereinkommen) zu einer „erwachsenen“, vertikalen Ausrichtung, in Form einer institutionalisierten, gemeinschaftsorientierten, wertegebundenen, bestimmten, hierarchischen oder (teilweise ggf.) quasi föderalistischen Struktur festgestellt worden. In diesem Kontext ist der vorliegende Konflikt zwischen dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität zu setzen und einer individuellen Lösung zuzuführen.
134
Koskenniemi, a. a. O., Rn. 13. McInerney-Lankford, Fragmentation of International Law Redux: The Case of Strasbourg. 136 Simma, Fragmentation in a positive Light, S. 845 ff., beschreibt die positiven Effekte, findet beide Ansätze richtig, lehnt allerdings die Konstitutionalisierungsthese als irreführend ab. 137 Simma, Fragmentation in a positive Light, S. 846. 138 Hafner, Pros and Cons ensuing from Fragmentation of International Law, S. 859 f. („The Positive Effect: Tailored Laws Are Worth Following“). 139 Tahvanainen, Commentary to Professor Hafner, S. 866. 135
III. Ergebnis
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III. Ergebnis Ein Konflikt liegt nach hier vertretenem Verständnis dann vor, wenn sich zwei Verhaltensnormen gegenüberstehen, von denen eine eine Erlaubnisnorm sein kann und die Befolgung oder Anwendung der einen Norm die andere notwendiger- oder möglicherweise verletzt oder in anderer Weise in die Reche des Anspruchs- oder Normadressaten eingreifen oder diese beeinträchtigen. Dieses Konfliktverständnis beschränkt sich nicht auf Rechtsnormen, sondern erfasst ebenfalls Rechtsregime und Teilrechtsordnungen. Regime sind, funktional betrachtet, spezialisierte Teilrechtsordnungen, deren Existenz v. a. durch ihre Expertise bedingt auf einem besonderen Gebiet des Völkerrechts legitimiert ist140 . Wird der engen Definition des self-contained Regime gefolgt, also der Annahme von Subsystemen oder Teilrechtssystemen, die völlig autonom vom allgemeinen Völkerrecht kreiiert wurden, so widerspricht dies der (herrschenden) Theorie der Einheit des Völkerrechts. Gleichzeitig wäre für diese Definition kein praktisches Anwendungsgebiet auszumachen. Die Existenz von völlig unabhängigen Systemen führte zu einer Art „safe haven“ oder „cocoon“141 , die es Staaten (oder anderen Vertragspartnern) ermöglichte, sich von anderweitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen durch Rückzug in dieses Teilrechtssystem freizusagen und somit u. a. (quasi völkerrechtlich legitimiert) gegen den Grundsatz pacta sunt servanda zu verstoßen. Es bleibt die völkervertragliche Möglichkeit bestehen, nicht verbindliches Völkerrecht von der Anwendung auszuschließen und darüberhinaus Vorrangregeln aufzustellen, die die prioritäre Anwendung eines Regimes gegenüber einem anderen bestimmen. Der vorliegende Regime-Konflikt beinhaltet keine self-contained-Regimes (unterstellt man grundsätzlich ihre Existenz). Das Recht der Staatenimmunität stellt ein „einfaches“ Regime dar, welches dem Rechtsschaffungsprozess des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts unterliegt und grundsätzlich in der Lage ist, mit dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK im Konflikt zu stehen. Es ist vorliegend daher ausgeschlossen, den vorliegenden Konflikt über die Konstruktion des self-contained Regime zu lösen, die einen Rückgriff auf das Völkerrecht anderer Teilrechtsordnungen ausgeschlossen hätte. Vorliegend kollidieren aus rechtsquellentheoretischer Perspektive regional verbindliches Völkervertrags- und allgemein verbindliches Völkergewohnheitsrecht, mithin zwei (Teil-)Rechtsordnungen bzw. Regime, die verschiedene Schnittmengen aufweisen, sodass der Konflikt auch als sog. „Inter-Regime-Konflikt“ qualifiziert werden kann. InterRegime-Konflikte und Regime-Interaktion sind die normative Herausforderungen der Gegenwart. Wird der vorliegende Konflikt als Konflikt verschiedener „Rechtsregime“ aufgefasst, so stellt sich die Frage des Nebeneinanders und/oder der „Koordinierung“142 dieser Regime (internationalen Rechtsinstrumente). Inter-Regime-Konflikte sind zugleich Ausdruck der Fragmentierung des Völkerrechts, in dessen Kontext sie zu setzen und zu bewerten sind. Zudem liegt ein sog. Auslegungskonflikt vor, der Ausdruck der international proliferierten Rechtsprechungslandschaft im Völkerrecht ist und eine Konfliktlösung auf Interpreta140 Koskenniemi, The Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, S. 1, stellt ebenfalls auf die funktionale Dimension von Rechtsregimen ab. 141 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 38. 142 Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge.
108
C. Konflikt Völkergewohnheitsrecht – Völkervertragsrecht
tionsebene nahelegt. Diese Ergebnisse sind Ausgangspunkt für die Vorstellung eines spezifischen Lösungsansatzes des vorliegenden Konflikts. Vor einem konkreten Lösungsvorschlag für den hier vorliegenden Konflikt wird im folgenden Kapitel zunächst dargestellt, wie die Literatur und die Entscheidungspraxis mit dem Konflikt zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht im Allgemeinen und mit dem Konflikt zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK im Speziellen umgegangen sind.
D. Der Konflikt zwischen Völkervertragsund Gewohnheitsrecht in Literatur und Praxis Das Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlichen Immunitäten und dem Recht auf Zugang zu Gericht ist Ausdruck einer normativen Verselbstständigung verschiedener Rechtsregime, die immer größere Autonomie beanspruchen und einen bedeutenden Teil zur materiell-rechtlichen Fragmentierung des Völkerrechts beitragen. Auch der vorliegende Inter-Regime- bzw. Auslegungskonflikt ist Ausdruck von bestehenden Schnittmengen sowie sich überschneidenden Kompetenzen und Jurisdiktionen hochspezialisierter Gerichte und Streitbeilegungsorgane, die zu einem großen Teil das jeweilige Regime prägen, überwachen und dynamisch weiterentwickeln. Um zu erreichen, dass die verschiedenen Teilrechtsordnungen dennoch nebeneinander koexistieren können in einer „in sich stimmigen Rechtsordnung“1 , haben sich sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene verschiedene Konfliktlösungsstrategien herausgebildet. Einen (pragmatischen) Lösungsansatz für derartige Konflikte stellt die zwischengerichtliche Kooperation der betroffenen Gerichte und Streitbeilegungsmechanismen dar (hierzu unter I.). Hierneben gibt es verschiedene Ansätze, die den Konflikt vertraglich versuchen zu regeln (bzw. zu vermeiden) (hierzu unter II.); andere Ansätze leugnen schlichtweg einen Konflikt oder versuchen ihn durch sog. Derogationsmaxime bereits am Entstehen zu hindern (hierzu unter III.). Im Kontext mit den völkerrechtlichen Immunitäten spielt des Weiteren die Theorie der Normenhierarchie eine bedeutende Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion sowie in der Rechtspraxis (hierzu unter IV.). Zuletzt gibt es zahlreiche Ansätze, einen Normenkonflikt über die Interpretation der im Konflikt stehenden Regelungen zu lösen; hierbei von Bedeutung ist die sog. systemische Integration, eine Auslegung über Art. 31 III lit. c WVK, die völkerrechtliche Verpflichtungen im Kontext ihres erweiterten normativen Umfeldes interpretiert und auf das Ziel ausgerichtet ist, ein harmonisches Nebeneinander der verschiedenen Rechtsregime herzustellen (hierzu unter V.). Der EGMR kann als einer von wenigen internationalen Gerichtshöfe auf eine bereits seit langen Jahren gefestigte Rechtspraxis in Bezug auf die Anwendung des Art. 31 III lit. c WVK zurückgreifen. Die soeben genannten Ansätze werden im Folgenden dargestellt und auf ihre Tauglichkeit zur Lösung des vorliegenden Konflikts untersucht. Weiterhin wird die Rechtspraxis des EGMR hierzu aufgezeigt und den verschiedenen Lösungsansätzen zugeordnet. Zudem wird die Literatur, die sich konkret mit dem Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität auseinandersetzt, dargestellt und zu den zuvor aufgezeigten Lösungsansätzen in Bezug gesetzt (hierzu unter VI.) Im hiernach 1
Matz, Wege der Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 3.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
folgenden Kapitel soll eine eigene Lösung des vorliegenden Konflikts, aufbauend auf den bis dahin erreichten Ergebnissen entwickelt und vorgestellt werden.
I. Zwischengerichtliche Kooperation Die zwischengerichtliche Kooperation als Kooperation zwischen internationalen Gerichten der gleichen Teilrechtsordnung (horizontal) bzw. zwischen speziellen Gerichten und dem IGH (vertikal)2 wird in der Literatur als Konfliktlösungs- oder -vermeidungsstrategie angeführt3 . Die Kooperation soll entweder auf vertraglicher Grundlage begründet sein oder in Analogie der Art. 1 Nr. 3, Art. 55 f. UN-Charta normierten Gebots der zwischenstaatlichen Kooperation Verbindlichkeit (i. F. e. internationalen Verpflichtung zur Kooperation) beanspruchen, wobei diese Verbindlichkeit umstritten ist4 . Die spezialisierten Institutionen sollen weiterhin auf ihrem Gebiet arbeiten und das (spezielle) Recht fortentwickeln, zugleich jedoch das allgemeine Völkerrecht und das Recht anderer spezialisierter Institutionen nicht aus dem Blick verlieren, sondern (wohl i. S. d. Art. 31 III lit. c WVK) berücksichtigen, um eine „Brückenbildung“ der konfligierenden Realitäten zu erreichen5 . Auch in dem vorliegenden Normkonflikt ergibt sich ein (jedenfalls in Teilmengen) gemeinsamer Jurisdiktionsbereich mehrerer Tribunale und Gerichte, wenn etwa der EGMR und der IGH jeweils über die Reichweite von Staatenimmunität befinden. Es fragt sich, wie eine solche zwischengerichtliche Kooperation ausgestaltet werden müsste und ob diese vorliegend Anwendung finden und zur Lösung des Regime-Konflikts beitragen kann. 1. Ausgestaltung der Kooperation mittels Gerichtshierarchisierung In Betracht kommt zunächst eine „Gerichtshierarchisierung“ durch universale Revisionsinstanzen und gemeinsame Kammern, mithin die Einrichtung einer Revisionsinstanz mit universaler Zuständigkeit. Hierfür bietet sich auf den ersten Blick der IGH an6 . Der IGH sollte nach dieser Vorstellung „a central role (. . .) in the new structure of international law“7 spielen, wobei es starke Zweifel an der fachlichen Kompetenz, der faktischen Rechtsprechungskapazität, der finanziellen Lastenverteilung, der zu erwartenden Verfah2 Beispielsweise das Kooperationsabkommen zwischen dem ISGH und der UNO vom 18. 12. 1997, UNTS, Vol. 2000, S. 468. 3 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 29 f. m. w. N. 4 Thiele, a. a. O., S. 30 geht von einer Verbindlichkeit aus. Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts and Tribunals and Conflicting Jurisdiction, S. 87, positioniert sich dagegen (ohne sich mit dieser Frage jedoch tiefergehend auseinanderzusetzen). 5 Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, S. 916. 6 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 31, mit dem Hinweis, dass der IGH bereits heute Entscheidungen internationaler administrative tribunals durch Rechtsgutachten überprüft (beschränkt auf Kompetenzfragen, die Auslegung der UN-Charta und schwerwiegende Verfahrensfragen). 7 Dupuy, The Danger of Fragmentation or Unification of the International Legal System and the International Court of Justice, S. 798, m. w. N.
I. Zwischengerichtliche Kooperation
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rensdauer (mit einhergehender Rechtsunsicherheit) und nicht zuletzt der praktischen Umsetzbarkeit dieses Vorstoßes (Änderung des IGH-Statuts und umfangreiche Kompetenzerweiterung des IGH) gibt, Entscheidungen sämtlicher, größtenteils hochspezialisierter, internationaler Gerichte und Quasi-Gerichte zu überprüfen8 . Hinzu kommt, dass Staaten hochspezialisierte (Regime-)Gerichte aus dem Grund errichten, dass sie über bestimmte Teilrechtsregime abschließend und mit der nötigen Kompetenz und Konsistenz richten und wachen. Hieraufhin als weitere Revisionsinstanz den IGH einzuschalten, würde diese Zielrichtung konterkarieren. Eine Rechtsgrundlage für die Errichtung neuer, spezialisierter internationaler Gerichte und quasi-Gerichte findet sich in Art. 95 UN-Charta9 , was bereits darauf hindeutet, dass der IGH und zuvor der ständige IGH nicht als zentrales, allzuständiges Rechtsprechungsforum errichtet worden waren10 . Auch die Einrichtung einer „Gemeinsamen Kammer“ nach Vorbild des Gemeinsamen Senats der Gerichtshöfe des Bundes11 führt vorliegend nicht zu sachgerechten Lösungen. Dies setzte voraus, dass sämtliche Teilrechtsordnungen über ein eigenes oder von ihnen mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattetes Rechtsprechungsorgan verfügen, was ebenfalls nicht der Fall ist12 . Eine Gerichtshierarchisierung ist demnach für den vorliegenden Konflikt (auch allgemein) nicht zielführend. 2. Kooperation mittels Vorlageverfahren bzw. Vorabenscheidungsverfahren Der frühere IGH-Präsident Guillaume hat 1999 als Reaktion auf die zu dieser Zeit ansteigende Zahl regionaler und internationaler Gerichtshöfe und Streitbeilegungsinstrumente vorgeschlagen, ein dem (heutigen) Art. 267 AEUV vergleichbares Vorabentscheidungsverfahren vor dem IGH einzuführen. Er wies zu diesem Zeitpunkt bereits auf die
8 Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts and Tribunals and Conflicting Jurisdiction, S. 99 ff.; Dupuy, a. a. O., S. 800. 9 „Nothing in the present Charter shall prevent Members of the United Nations from entrusting the solution of their differences to other tribunals by virtue of agreements already in existence or which may be concluded in the future.“, Art. 95 UN-Charta. 10 So auch Kelsen, The Law of the United Nations, S. 477: „Hence the Members (. . .) may establish a special court with compulsory jurisdiction excluding the jurisdiction of any other tribunal, even the jurisdiction of the International Court of Justice established by the Charta.“ 11 Nach Art. 95 III GG i. V. m. dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes setzt sich der Gemeinsame Senat aus den Präsidenten des BGH, des BVerwG, des BAG, des BSG und des BFH zusammen (nach Einzelfall erweiterbar) und entscheidet, wenn ein oberstes Bundesgericht von der Rechtsprechungslinie eines anderen Gerichts gleicher Ordnung oder von der des Gemeinsamen Senats selbst abweichen möchte. Die Idee einer Übertragung auf die internationale Gerichtsbarkeit im Sinne einer „Gemeinsamen Menschenrechtskammer“ von EGMR und EuGH findet sich in Dippel, Die Kompetenzabgrenzung in der Rechtsprechung von EGMR und EuGH, S. 212. 12 Thiele, a. a. O., S. 34, nennt das Weltraumrecht und das Umweltrecht in diesem Zusammenhang.
112
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
zunehmende institutionelle Fragmentierung des Völkerrechts hin, der mittels des Vorlageverfahrens (u. a.) begegnet werden sollte13 . Hinsichtlich eines möglichen Vorlageverfahrens vor dem IGH bestehen zahlreiche rechtliche14 und praktische Schwierigkeiten. Die Umsetzung scheiterte bisher wohl zusätzlich am fehlenden rechtspolitischen Willen der Staaten, derart weitreichende, rechtliche Umwälzungen durchzuführen. Weiterhin ergeben sich dieselben Einwände, die bereits gegen eine Gerichtshierarchisierung aufgezeigt wurden. Der IGH besitzt weder die fachlichen noch die personellen Ressourcen, dieser Aufgabe auf Dauer Herr zu werden. 3. Die Einholung von Gutachten Eine ausschließliche Kompetenz zur Auslegung der eigenen Teilrechtsordnung gibt es nicht. In Rechtsstreitigkeiten dürfen auch andere als die vertraglich vorgesehenden Rechtsprechungsorgane die betreffenden vetraglichen Bestimmungen auslegen15 . Dies zeigt bereits Art. 31 III lit. c WVK, der eine Einbeziehung auch teilrechtsfremder „einschlägiger Rechtssätze“ explizit verlangt. Legt nunmehr beispielsweise der EGMR mittels Anwendung des Art. 31 III lit. c WVK den Gründungsvertrag einer Internationalen Organisation oder allgemeines Völkergewohnheitsrecht aus, so soll er nach diesem Ansatz das Gericht der anderen Teilrechtsordnung um gutachterliche (rechtlich nicht bindende) Auskunft im Hinblick auf diesen Interpretationsprozess bitten dürfen. Hierbei bestünde demnach keine ausschließliche Zuständigkeit des IGH. Vielmehr gäbe es im Rahmen der Einholung von Gutachten als präventive Konfliktvermeidungsstrategie sowohl die Möglichkeit horizontaler (zwischen Gerichten derselben Teilrechtsordnung) als auch vertikaler (Einholung von Gutachten des IGH) Kooperationen16 . Graduell handelt es sich bei der Einholung von Gutachten im Gegensatz zu der Aussetzung eines Verfahrens zwecks Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens um eine geringere zwischengerichtliche Kooperationsdichte, die jedoch im Gegenzug weniger praktischen und rechtlichen Umsetzungsschwierigkeiten – jedenfalls in horizontalem Verhältnis der Teilrechtssysteme – begegnet. Im Falle eines vertikalen Auslegungskonflikts käme wiederum der IGH für die Erstellgung von Gutachten („advisory opinions“) in Betracht. Dieser Vorschlag wurde von prominenter Seite aus gemacht: Der ehemalige IGH-Präsident Schwebel regte in einer UNGeneralversammlung an, die rechtlichen Grundlagen entsprechend zu modifizieren: 13 The proliferation of international judicial bodies: The outlook for the international legal order, Rede anlässlich des 6ten Committee der Generalversammlung vom 27. 10. 2000, abrufbar unter http://www.icj-cij.org/court/index.php?pr=85&pt=3&p1=1&p2=3&p3=1, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016. 14 Es fragt sich, ob ein solches Verfahren zulässig wäre. Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 34 f., weist darauf hin, dass es hierfür mehrerer Änderungen der UN-Charta bedürfte, u. a. von Art. 96 und Art. 108 f. der UN-Charta, sowie Änderungen sämtlicher Verfahrensordnungen der speziellen Streitschlichtungsorgane der entsprechenden Teilrechtsordnungen. 15 Dies trifft sowohl auf horizontale als auch auf vertikale Auslegungskonflikte zu. Grenze der Auslegung ist das Störungsverbot (soft law), was bedeutet, dass die organfremde Auslegung keine Störung der Teilrechtsordnung auslösen darf. Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 37 f., m. w. N. 16 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 37.
I. Zwischengerichtliche Kooperation
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„(. . .) in order to minimize such possibility as may occur of significant conflicting interpretations of international law, there might be virtue in enabling other international tribunals to request advisory opinions of the International Court of Justice on issues of international law that arise in cases before those tribunals that are of importance to the unity of international law.“17 .
Hierbei ergeben sich jedoch nahezu dieselben Probleme wie bei der Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem IGH. Auch in diesem Fall müssten die rechtlichen Grundlagen der UN sowie der betreffenden statuierenden Verträge der fremden Teilrechtsordnung modifiziert werden, da Art. 96 UN-Charta den IGH nur indirekt über die Generalversammlung bzw. den Sicherheitsrat zur Erstellung von Gutachten legitimiert. Hinsichtlich der advisory opinions zeigen die Staaten jedoch weniger rechtspolitische Zurückhaltung als bei den zuvor genannten zwischengerichtlichen Kooperationen. Erste Ansätze einer zwischengerichtlichen Kooperation in Form von advisory opinions sind im Falle des EGMR seit Ende 2013 in dem 16. Zusatzprotokoll18 explizit in der EMRK vorgesehen19 : Das 16. Zusatzprotokoll20 hält die Möglichkeit für nationale, „höchste“ (nicht unbedingt letztinstanzliche) Gerichte bereit, in einem anhängigen Fall eine sog. advisory opinion hinsichtlich der Auslegung oder Anwendung von Konventionsrechten einzuholen, Art. 1 ZP 16. Diese Möglichkeit ist Ausdruck erhöhter Kooperationsbemühungen des EGMR mit den nationalen Gerichten unter besonderer Beachtung des Souveränitätsprinzips bei gleichzeitiger Entlastung des Gerichtshofs durch im Ergebnis weniger anhängige Verfahren. Das advisory opinion-Verfahren stärkt die weiterhin konstitutionelle Ausrichtung der EMRK. Bei der Abfassung der Regelungen im 16. ZP der EMRK hat man sich an dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH orientiert21 . Die recht neuen Regelungen des 16. ZP sind Hinweis auf ein gesteigertes Kooperationsinteresse seitens des EGMR. Sie könnten zudem Pate stehen für entsprechende Kooperationsabkommen im internationalen Rechtsraum, sind in ihrer derzeitigen sprachlichen Fassung jedoch noch nicht auf den vorliegenden Konflikt anwendbar, da sie ein bereits anhängiges Verfahren voraussetzen. Verweigern nationale Gerichte dem Beschwerdeführer den Zugang zu Gericht in Immunitätsfällen, so kommt es zu keiner materiell-rechtlichen Prüfung von Konventionsrechten, bei deren Auslegung eine advisory opinion des EGMR notwendig würde.
17 Adress to the Plenary session of the General Assembly of the United Nations by Judge Stephen M. Schwebel, 26. 10. 1999, abrufbar unter http://www.icj-cij.org/court/index.php?pr=87&pt=3&p1= 1&p2=3&p3=1&PHPSESSID=5c407, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016. 18 Am 1. 8. 2018 in Kraft getreten. 19 Hiervon ist die Möglichkeit des Ministerkomitees zu unterscheiden, den EGMR mit der Erstellung von Gutachten über Rechtsfragen, die die Auslegung der Konvention betreffen, zu beauftragen, vgl. Art. 46 f. EMRK. 20 16. Zusatzprotokoll vom 2. 10. 2013, Artikel 1 ff. 21 Hoffmann/Kollmar, Ein Vorabbefassungsverfahren beim EGMR, S. 1272.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
4. Der Rückgriff auf Urteile anderer Gerichte bei der Entscheidungsfindung Die Entscheidungen internationaler Rechtsprechungsorgane entfalten grundsätzlich eine Wirkung inter partes, eine Allgemeinverbindlichkeit, die einen generellen Rückgriff auf entsprechende Urteile ermöglichen würden, besteht nicht22 . In praxi geschieht dieser Rückgriff jedoch regelmäßig, auch im hier interessierenden Kontext. Der IGH hat in seiner Entscheidung Jurisdictional Immunities23 beispielsweise zahlreiche Passagen aus der hierzu korrespondierenden Rechtsprechung des EGMR zitiert (allerdings mehr als Hinweis auf eine bestehende und nicht geänderte Staatenpraxis der Mitgliedstaaten des Europarats). Jüngst hat auch der EGMR unter Berufung auf das Urteil des IGH24 auf die ausführliche Untersuchung der Staatenpraxis zu der Frage, ob sich Staaten ausnahmsweise im Falle eines Verstoßes gegen ius cogens nicht auf Staatenimmunität berufen dürfen, verzichtet: „(. . .) it is not necessary for the Court to examine all of these developments in detail since the recent judgment of the International Court of Justice in Germany v. Italy (. . .) – which must be considered by this Court as authoritative as regards the content of customary international law – clearly establishes that, by February 2012, no ius cogens exception to State immunity had yet crystallised“25 .
Die Formulierungen (der hier in normaler Kammerbesetzung) entscheidenden Richter des EGMR sind insofern interessant, als das Urteil des IGH als imperativ erachtet wird. Eine Abweichung von den (immerhin zwei Jahre zurückliegenden) Entscheidungen war nach Ansicht des EGMR ausgeschlossen, die Aussagen hinsichtlich des „aktuellen“ Inhalts des Völkergewohnheitsrechts wurden ohne vertiefte Prüfung – auch einer evtl. geänderten Staatenpraxis – übernommen. Die Beachtung von Entscheidungen anderer internationaler Spruchkörper seitens des EGMR erfährt demnach aktuell einen Aufschwung, graduell ist auf dieser Ebene eine verstärkte zwischengerichtliche Interaktion konstatierbar. Es bleibt fraglich, ob diese Entwicklung zu begrüßen ist. Gerichte entscheiden im Einzelfall. Übernimmt ein Gericht (nahezu) unreflektiert Passagen aus der Entscheidung eines anderen Gerichts, wie es der EGMR im Fall Jones26 getan hat, so wird dem Umstand zu wenig Rechnung getragen, dass den Entscheidungen völlig unterschiedliche Sachverhalte zugrunde liegen. Der IGH hat in der Entscheidung Jurisdictional Immunities of the State über die völkergewohnheitsrechtlich determinierte Reichweite und mögliche Einschränkungen der Staatenimmunität entschieden und die Reichweite der Entscheidungsgründe auch explizit auf die Fälle der Staatenimmunität beschränkt: „The Court concludes that, under customary international law (. . .) a State is not deprived of immunity by reason of the fact that it is accused of serious violations of international human rights law or the international law of armed conflict. (. . .) the Court must emphasize that it is 22 So z. B. explizit: Art. 59 IGH-Statut. Weiterhin: Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 16, mit Hinweis auf das dem common law entstammende Prinzip der stare decisis, einer Bindungswirkung an frühere Entscheidungen, die im Völkerrecht allgemein nicht anerkannt ist. 23 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99. 24 IGH, Jurisdictional Immunities, a. a. O. 25 EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones and others vs. UK, Rs. 40528/06, § 197. 26 EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones, Mitchell and others vs. UK, Rs. 34356/06 und 40528/06.
I. Zwischengerichtliche Kooperation
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adressing only the immunity of the State itself from the jurisdiction of the courts of other States; the question of whether (. . .) immunity might apply in criminal proceedings against an official of the State is not in issue in the present case“27 .
Der IGH stellt hiermit klar, dass er seinen Aussagen grundsätzliche Bedeutung beimisst und sich ihrer Ausstrahlungswirkung bewusst ist, beschränkt sie jedoch gleichzeitig auf die Immunität von Staaten. Hiermit differenziert er zwischen den verschiedenen Immunitätsformen und berücksichtigt beispielsweise deren unterschiedliche Rechtsquellen und Adressaten. Der EGMR prüft auf den ersten Blick im Fall Jones28 die Staatenimmunität und die Immunität (ratione materiae) von Staatsoffiziellen ebenfalls getrennt29 . Diese Trennung ist jedoch nur formaler Natur. Der EGMR geht nämlich davon aus, dass: „(. . .) the immunity which is applied in a case against State officials remains ‚State‘ immunity: it is invoked by the State and can be waived by the State. Where, as in the present case, the grant of immunity ratione materiae to officials was intended to comply with international law on State immunity, then as in the case where immunity is granted to the State itself, the aim of the limitation on access to court is legitimate.“30
Während der EGMR die Aussagen des IGH hinsichtlich der aktuellen völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Staatenimmunität nahezu unreflektiert übernimmt, stellt er auf der anderen Seite Gleichläufe rechtlicher Bewertungsmaßstäbe zwischen den verschiedenen Immunitätsformen her, die der IGH explizit nicht intendierte. Die Gegenüberstellung der Fälle Jones des EGMR und Jurisdictional Immunities of States verdeutlicht die verschiedenen Probleme, die im Rahmen des Rückgriffs auf Entscheidungen anderer Gerichte entstehen können: Im Besonderen befindet sich das Völkergewohnheitsrecht in einem ständigen Fluss. Der IGH bekommt jedoch nur unregelmäßig und in zeitlich großen Abständen Gelegenheit, zur (zum Zeitpunkt der Entscheidung) aktuellen völkergewohnheitsrechtlichen Geltung von beispielsweise der Staatenimmunität Stellung zu beziehen. Der EGMR anerkennt im Urteil Jones zwar das intertemporale Moment der IGH-Entscheidung31 , zieht hieraus jedoch nicht die Konsequenz der Überprüfung, ob die damaligen Aussagen des IGH zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung durch den EGMR noch Geltung beanspruchen. Weiterhin kann die Inbezugnahme der IGH-Entscheidung dann nicht zu einer gesteigerten gerichtlichen Kooperation führen, wenn ein Urteil zunächst als imperativ verstanden und im selben Moment die in diesem Urteil beinhalteten „Vorgaben“ missachtet werden. Mangels entsprechender Bindungswirkung und Durchsetzungsbefugnisse bleibt der Rückgriff auf Entscheidungen anderer Gerichte und Streitbeilegungsorgane somit auf den ersten Blick ein rein „diplomatisches“ Mittel im Rahmen der Proliferation der verschiedenen Spruchkörper, gerichtet auf ein (relativ) friedliches Nebeneinander ohne direkte Konfrontation von ggf. bestehenden gegenteiligen Ansichten. In dieser Funktion sollte er jedoch nicht unterschätzt werden. Im Rahmen der systemischen Integration [hierzu unter V. in diesem Kapitel] kann ein Rück27 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, § 91. 28 EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones, Mitchell u. a. vs. UK, Rs. 34356/06 und 40528/06, § 196. 29 EGMR, a. a. O., §§ 196–198 und §§ 199–215. 30 EGMR, Jones and other vs. UK, a. a. O., § 200. 31 EGMR, Jones and others vs. UK, a. a. O., § 197: „(. . .) the International Court of Justice (. . .) clearly establishes that, by February 2012, no ius cogens exception to State immunity had yet crystallised“ [Hervorhebung durch die Autorin.]
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
griff auf Urteile anderer (internationaler) Gerichte durchaus sinnvoll sein. Wird der dieser Arbeit zugrundeliegenden Betrachtung von Konflikten zwischen Teilrechtsordnungen und Regimen gefolgt, so können diese Konflikte nicht ohne die Beachtung der Entscheidungen von Gerichten anderer Regime gelöst werden. 5. Zwischenergebnis Das Mittel der zwischenstaatlichen bzw. zwischengerichtlichen Kooperation impliziert v. a. Probleme bei der vertikalen Kooperation zwischen verschiedenen Teilrechtsordnungen. Die Kooperation mittels der Einholung von Vorabentscheidungen oder Gutachten sowie die Möglichkeit der Gerichtshierarchisierung beinhalten die Problematik, hierfür personell entsprechend ausgestattete und fachlich geeignete Gerichte zu benennen. Gleichzeitig ist zwar im internationalen Raum eine anwachsende Kooperationsdichte zu bemerken32 , was sich z. B. in Art. 1 ZP 16 EMRK niederschlägt. Auch in der Gerichtspraxis sind institutionelle Bemühungen zu konstatieren, die jedenfalls einen engeren fachlichen Austausch anstreben. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die zwischengerichtliche Kooperation derzeit (noch) keinen praktikablen Weg der Handhabung von Konflikten zwischen (hier:) Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht vorzeichnet. Anders ist die Möglichkeit des Rückgriffs auf Urteile und Entscheidungen regimefremder Institutionen und Gerichte zu beurteilen. Mangels einer Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtswirkung inter partes besitzen diese Entscheidungen keine Bindungswirkung für (hier:) den EGMR. Allerdings birgt die Beachtung und Berücksichtung dieser Entscheidungen das Potential, an einer harmonischen, im Einklang mit den restlichen Teilrechtsregimenen in Ausgleich stehenden Auslegung, die nicht von vornherein außer Betracht gelassen werden sollte und auch regelmäßig praktiziert wird.
II. Vertragliche Konfliktlösungsansätze Die Völkerrechtskommission empfiehlt im Koskenniemi-Report33 , mögliche Konflikte mit anderen Verträgen mittels sog. Konfliktklauseln vertraglich zu regeln. Beispiele hierfür sind Art. 103 UN-Charta34 oder Art. 351 AEUV. Eine weitere Möglichkeit stellen sog. Inter-se-Abkommen dar35 , die eine Vereinbarung über das Verhältnis zweier Verträge beinhalten bzw. Modifikationen eines Vertrages im Hinblick auf das Verhältnis bestimmter Vertragsbestimmungen zueinander vorsehen, denen dann Drittstaaten beitreten können,
32 Im Hinblick auf den Informationsaustausch auch: Sørensen, Autonomous Legal Orders: Some Considerations relating to a Systems Analysis of International Organisations in the World Legal Order, S. 576. 33 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006. § 251. 34 Die Natur des Art. 103 UN-Charta ist allerdings umstritten. Teilweise wird diese Vorschrift als Konfliktlösungsregel verstanden, teilweise als Ausdruck einer in den Völkerrechtsquellen bzw. (materiell-rechtlichen) Werten der UN verankerten Hierarchie, hierzu: de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 89. 35 Koskenniemi, a. a. O.
II. Vertragliche Konfliktlösungsansätze
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Art. 41 I WVK. Folge der relativen Geltung des Inter-se-Abkommens ist die Schaffung eines speziellen Rechtssystems, ohne das generelle in Frage zu stellen36 . 1. Völkervertragliche Konfliktlösungsansätze Weder die EMRK noch das allgemeine Völkergewohnheitsrecht halten für den Konflikt zwischen Völkergewohnheits- und Völkervertragsrecht Konfliktlösungsmechanismen bereit, sodass auf die allgemeinen Konfliktlösungsansätze abzustellen ist. Hierbei können die (sowieso nicht kongruenten) Grundsätze zur Auflösung/Koordinierung von Normkonflikten zwischen zwei verschiedenen Verträgen nicht übernommen werden, da es sich bei dem regionalen Menschenrechtsschutzvertrag und dem allgemeinen Völkergewohnheitsrecht um unterschiedliche Rechtsregime mit folglich unterschiedlichem Rechtscharakter, Bedeutungsinhalt und Anspruchsinhaber handelt. Der Text der EMRK enthält keine Hinweise/Verweise auf/in andere Rechtsgebiete des Völkerrechts37 . Neuere völkerrechtliche Vertragswerke enthalten Koordinierungsregelungen im Hinblick auf verwandte Rechtsgebiete38 , was dafür spricht, dass die internationale Gemeinschaft die Interaktion verschiedener Rechtsregime in ihren Kodifikationsbemühungen jedenfalls anerkennt und effektiv zu berücksichtigen versucht. Die hierbei verfolgten Ziele sind die Vermeidung bzw. Auflösung von vorher avisierten Konflikten/Interaktionen. Dieses Bewusstsein war 1950 noch nicht (hinreichend) ausgeprägt. Auch der sog. Test der primacy of the most favourable provision hilft im vorliegenden Fall nicht weiter. Im Feld der Menschenrechte gilt die sog. primacy of the most favourable provision, wenn sich ein Recht in zwei verschiedenen Rechtsinstrumenten findet. Dies umfasst Situationen, in denen sich ein und dasselbe Menschenrecht in unterschiedlicher Schutzdichte beispielsweise in einem Menschenrechtsschutzvertrag auf globaler und in einem weiteren Vertrag auf regionaler Ebene befindet. Hier wird aus Sicht des Adressaten des Menschenrechts das Recht angewandt, welches den meisten Schutz vermittelt. In Bezug auf die EMRK ist dies u. a. den Formulierungen des Art. 53 EMRK zu entnehmen. Art. 53 EMRK regelt allerdings nicht die durch nicht kongruente vertragliche Regelungen begründete Konfliktsituation, sondern statuiert im Ergebnis allein einen „Mindeststandard“, den die Mitgliedstaaten der EMRK bei Abschluss weiterer völkerrechtlicher Verträge jedenfalls wahren müssen39 . Erfasst werden von der primacy of the most favourable provision lediglich konkurrierende menschenrechtliche Vertragsregelungen, nicht jedoch die vorliegenden Situationen. Die EMRK hält demnach keine vertraglichen Konfliktlösungs- oder vermeidungsansätze bereit. 36 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 12, mit einem Beispiel solcher Regelung im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. 7. 1968. 37 Sands, Treaty, Custom and Cross-fertilization of International Law, S. 89, empfindet dies geradezu als „striking“. Er beschreibt dieses Phänomen als eines der 50er und 60er Jahre. 38 So z. B. im Internationalen Umweltrecht, wo in neueren Vertragswerken z. B. Verbindungen zur Entwicklungshilfe (unter Einbezug der Weltbank) zu finden sind, hierzu: Sands, a. a. O., S. 89 f. m. w. N. 39 Renger in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 53, Rn. 1.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
2. Bewertung der vertraglichen Lösungsmöglichkeiten für den vorliegenden Konflikt Die völkervertragsrechtlich determinierten Rechtschöpfungsprozesse im Hinblick auf Art. 6 I EMRK und das völkergewohnheitsrechtlich geltende Prinzip der Staatenimmunität sind in ihrer praktischen Durchführung träge und von einem umfassenden Konsens (bzw. staatlicher Übung) der Mitgliedstaaten abhängig. Die EMRK wird durch den Abschluss von Zusatzprotokollen zwar regelmäßig geändert, die sowohl materiell-rechtlich weitere Menschenrechte normieren40 als auch die Anpassung prozessualer Organisationsund Verfahrensabläufe vor Gericht in Reaktion auf die immer noch aktuelle Überlastung des EGMR41 zum Inhalt haben. Beispiel der wenig flexiblen Änderungspraxis der EMRK ist das 14. Zusatzprotokoll, welches aufgrund der Weigerung Russlands zur Ratifikation zunächst als Behelfsprotokoll 14 bis am 1. 7. 2009 galt, bevor es am 10. 6. 2010 endgültig in Kraft trat. Darüber hinaus unterliegen die EMRK über ihre Auslegung durch den EGMR und die Staatenimmunität über die Änderung der völkerrechtlich relevanten Übung dynamischen Anpassungsprozessen, die vertraglich nur mit Verzögerung und nicht exakt abgebildet werden können.
III. No-conflict approaches Zu der Kategorie der No-conflict approaches zählen ganz unterschiedliche formale und materiell-rechtliche Ansätze, denen gemein ist, dass sie den Konflikt zwischen völkerrechtlichen Immunitäten und dem Zugang zu Gericht schlichtweg leugnen. So verneint ein Ansatz bereits eine gemeinsame Schnittmenge zwischen der völkerrechtlichen Immunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht. Das (erfolgreiche) Berufen auf Immunität führe zum Wegfall der Jurisdiktion, sodass ein Recht auf Zugang zu Gericht nicht mehr in Frage komme42 (hierzu unter 1.). Einen anderen Ansatz stellt die Unterscheidung zwischen materiell-rechtlich geprägten Normen und solchen des Prozessrechts als „formale Methode der Konfliktvermeidung“43 dar, welche auch in der IGH- und EGMR-Rechtsprechung zu finden ist und im Rahmen von Fällen mit ius cogens-Beteiligung diskutiert wird. Das Berufen auf Immunität wird als rein prozessuales Recht anerkannt, welches nicht mit dem materiell-rechtlichen Regelungsgehalt des ius cogens kollidieren könne (hierzu unter 2.). Da dieser Ansatz bereits dem Grunde nach einen Konflikt verneint, stellt er ebenfalls einen no-conflict approach dar. 40 Das 1., 4., 7., 12., 13. ZP erweiterten den Menschenrechtsschutz in materiell-rechtlicher Weise, etwa durch den Schutz des Eigentums in Art. 1 ZP 1. 41 Beispielsweise wurde das Individualbeschwerdeverfahren mehrfach „entschlackt“, etwa durch die Einführung eines Einzelrichters, der in offensichtlichen unbegründeten Fällen alleine über die Zulässigkeit oder Streichung einer Beschwerde entscheiden darf, Art. 26 des 14. Zusatzprotokolls. 42 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, 1985, S. 17; ähnlich Klein, Menschenrechte und Ius Cogens, S. 159; Voyiakis, Acces to Court v State Immunity, S. 308. 43 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 95.
III. No-conflict approaches
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Zuletzt wird im Rahmen der no-conflict approaches auf die Auflösung von Konflikten durch funktionelle Derogation einzugehen sein (hierzu unter 3.). Die Derogation als die normative Anweisung einer Norm, im Falle eines Widerspruchs mit einer anderen Norm den Vorrang zu beanspruchen, hat auch normenhierarchische Ansätze. Folgt man allerdings der Ansicht Kelsens, dass die derogierende Norm die derogierte Norm aufhebt44 , so wird auch nach diesem Ansatz der Konflikt bereits in seiner Entstehung gehindert, sodass er vorliegend im Rahmen der no-conflict approaches besprochen werden wird. 1. Kein Konflikt wegen fehlender Schnittmengen Damian45 vertritt die Ansicht, dass schon keine Schnittmengen zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht gegeben seien. (Staaten-)Immunität führe automatisch zu dem Wegfall der nationalen Jurisdiktion und das Recht auf Zugang zu Gericht setze eben diese Gerichtsbarkeit voraus46 . Die Argumentation der fehlenden Schnittmenge mangels Jurisdiktion ist mit der der EKMR im Fall Spaans47 identisch. Die Kommission prüfte unter Art. 1 EMRK, ob die geltend gemachte Verletzung von Art. 6 I EMRK innerhalb der Hoheitsgewalt der Niederlande („within their jurisdiction“) stattgefunden hatte. Da die Niederlande der Internationalen Organisation (hier: dem Iran-United States Claims Tribunal in Den Hague) vertraglich Immunität und Privilegien eingeräumt hatte, stellte die Kommission knapp fest, dass aufgrund der gewährten Immunität die Entscheidungen des Tribunals nicht unter der Hoheitsgewalt der Niederlande stehen, sodass die Verantwortung unter Art. 1 EMRK nicht angenommen werden könne. Die Kommission verneinte hiermit bereits die Konfliktsituation zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der der Internationalen Organisation gewährten Immunität und hielt Art. 6 I EMRK für schlicht nicht anwendbar. Dieser Ansicht folgt in akuteller Zeit Voyiakis, der die „externe“ Grenze des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK im allgemeinen Völkerrecht sieht. Sehe das allgemeine Völkergewohnheitsrecht (hier: Recht der Staatenimmunität) vor, dass die Jurisdiktion über einen anderen Staat ausgeschlossen sei, so sei bereits das Tatbestandsmerkmal der Hoheitsgewalt nach Art. 1 EMRK nicht gegeben, sodass das allgemeine Völkerrecht in dieser Hinsicht die jurisdiction des Staates extern derart beschränke, dass die Konvention insgesamt und somit auch Art. 6 I EMRK keine Anwendung finde48 . Auch Bothe erkennt zwar, dass dem Rechtsschutz des Individuums in zunehmender Weise Bedeutung zukomme, sieht aber keine Veranlassung, „unter Hinweis auf allgemeine Entwicklungstendenzen (. . .) von etablierten Sätzen des Gewohnheitsrechts“49 abzuweichen. Weiterhin sei jedenfalls die Staatenimmunität präexistent und daher normenhierarisch dem Recht auf Zugang zu Gericht überlegen (hierzu unter V.). 44
Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 178 f. Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, 1985, S. 17. 46 Ganz ähnlich argumentiert Klein, Menschenrechte und Ius Cogens, S. 159, in Bezug auf ius cogens, wenn er dafür plädiert, dass im Sinne der Einheit des Völkerrechts jede Regel (zwingenden Rechts) bloß in dem tatbestandlichen Umfang existiert, wie sie den Bestand anderer zwingender Rechtsregeln nicht beeinträchtigt. 47 EKMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 12. 12. 1988, Spaans vs. Niederlande, Rs. 12516/86. 48 Voyiakis, Acces to Court v State Immunity, S. 308. 49 Bothe, Die strafrechtliche Immunität fremder Staatsorgane, ZAöRV 1971, S. 256. 45
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Gegen diese Ansichten spricht die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Zuständigkeit der nationalen Gerichte (jurisdiction) und der Immunität als Zuständigkeitsausübungsregel. Die nationalen Gerichte müssen grundsätzlich über Jurisdiktion verfügen, um die Frage der Immunitätsgewährung an Staaten beantworten zu können. Kommen sie hierbei zu einem positiven Ergebnis, so verlieren sie ihre Zuständigkeit nicht, sondern können sie lediglich nicht mehr ausüben. Daher bestehen durchaus Schnittmengen zwischen den beiden Rechtsregimen. 2. Die Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions Die Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions ist zurückzuführen auf Lady Fox, die in der ersten Auflage ihres Handbuchs The Law of State Immunity die Ansicht vertrat, dass die Staatenimmunität als procedural rule die Zuständigkeit (jurisdiction) der nationalen Gerichtsbarkeit regelt und mit substantive prohibitions, die durch das ius cogens formuliert werden, nicht kollidieren könne50 . Auch der IGH hat in seiner Entscheidung Jurisdictional Immunities of the State von 2012 diese Argumentation aufgegriffen, wenn er ausführt: „This [Italy’s] argument (. . .) depends upon the existence of a conflict between a rule, or rules, of jus cogens, and the rule of customary law which requires one state to accord immunity to another. In the opinion of the Court, however, no such conflict exists. (. . . ), there is no conflict between those rules [of jus cogens] and the rules on State immunity. The two sets of rules address different matters. The rules on State Immunity are procedural in character and are confined to determining whether or not the courts of one State may exercise jurisdiction in respect of another State“.51
Es wird ersichtlich, dass der IGH das Vorhandensein eines Konflikts zunächst unterstellt, im Ergebnis jedoch verneint, da die gegenüberstehenden Normen verschiedene (prozessuale bzw. materiell-rechtliche) Rechtscharakter aufwiesen und nicht miteinander in Konflikt stehen könnten. Hieran wird deutlich, wo das eigentliche Problem dieser Ansicht begründet liegt, nämlich in der unzureichenden Konfliktcharakterisierung. Bereits die Herausarbeitung des Konflikts hat einen wesentlichen Anteil an der möglichen Konfliktlösung. Auch der EGMR hat diese Unterscheidung im Urteil Al-Adsani52 aufgenommen, wenn er ausführt: „Whether a person has an actionable domestic claim may depend not only on the substantive content, (. . .), of the relevant civil right as defined under national law but also on the existence of procedural bars preventing or limiting the possibilities of bringing potential claims to court. (. . .) The grant of immunity is to be seen not as qualifying a substantive right but as a procedural bar on the national courts’ power to determine the right“53 .
Die Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions überzeugt nicht. Das Recht auf Zugang zu Gericht ist prozessualer Natur, sodass ein Konflikt
50
Fox, The Law of State Immunity, 1st edition, 2002, S. 151. Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece intervening), Judgment I.C.J. Reports 2012, p. 38, § 93. 52 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 47 f. 53 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 47, 48. 51
III. No-conflict approaches
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mit dem ebenfalls prozessualen Recht der Immunitäten auch nach dieser Ansicht nicht ausgeschlossen ist. Art. 6 I EMRK setzt ein (materielles) Recht nach der Rechtsordnung des Forumstaates lediglich voraus, der Konflikt entsteht jedoch zwischen der Staatenimmunität und der als prozessual einzuordnenden Verpflichtung der Staaten, nach Art. 6 I EMRK Zugang zu einem Gericht zu gewähren, nicht mit dem geltend gemachten materiellen Recht. Die Vertreter dieser Theorie und auch der EGMR stellen jedoch in diesem Zusammenhang nicht auf das Recht auf Zugang zu Gericht ab, sondern darauf, welches Recht der Beschwerdeführer eigentlich geltend macht, so im Fall Al-Adsani beispielsweise einen Verstoß gegen das als substantive eingestufte Verbot der Folter, das gleichzeitig ius cogens darstellt. Hierin liegt eine unrichtige Konflikterfassung. Der Konflikt besteht – auch im Fall Al-Adsani nicht zwischen dem (unstreitig) dem ius cogens zuzuordnenden Folterverbot und dem völkergewohnheitsrechtlichen Prinzip der Staatenimmunität, sondern vielmehr zwischen der Staatenimmunität und den vertraglichen Pflichten, welche den Opfern von Folter Zugang zu den Gerichten gewähren54 . Whytock versteht die Differenzierung des IGH anders55 . Er ist der Ansicht, dass die Unterscheidung zwischen procedural und substantive law dann überholt sei, wenn das Recht auf Zugang zu Gericht als verbindliches Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist. Er nennt die Argumentation des IGH eine formalistische Logik, die dann nicht mehr greifen würde, wenn das Recht auf Zugang zu Gericht und die Staatenimmunität beide als prozessual zu charakterisieren wären. Dann wäre nach Ansicht Whytocks ein Konflikt denkbar. Der IGH hat jedoch nicht auf die fehlende Eigenschafts des Zugangs zu Gericht als Recht abgestellt, sondern, wie gezeigt, bereits bei der Beschreibung des Konflikts unrichtige Anknüpfungspunkte gewählt. An der Konfliktbetrachtung des IGH würde sich daher, unabhängig davon, ob es sich bei dem Recht auf Zugang zu Gericht nicht bereits schon um bindendes Völkergewohnheitsrecht handelt, nichts ändern. 3. Die Auflösung von Konflikten durch funktionelle Derogation Voraussetzung der Derogation ist die normative „Anweisung“ einer Norm, im Falle eines Widerspruchs mit einer anderen Norm die Vorrangstellung zu beanspruchen, womit die andere Norm gleichzeitig ihre Geltung verliert und normativ verdrängt wird. Ursprung der Derogation ist hierbei der Normsetzter, der die Konfliktsituation funktionell durch gesetzgeberische, normative Entscheidung auflöst bzw. gar nicht erst zulässt. Im Ergebnis werden die an zwei sich widerstreitende bzw. kollidierende Normen gebundenen Akteure aus der Konfliktsituation entlassen, ohne dass in diesem Zusammenhang von tatsächlicher Konfliktlösung gesprochen werden könnte. Auch Kelsen56 zieht für die Behandlung von Normkonflikten die Derogation von Normen heran. Hierbei geht er davon aus, dass die derogierende Norm die derogierte Norm
54 Genauso: de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 93. 55 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2092. 56 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 101.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
aufhebt mit der Folge, dass überhaupt kein Normkonflikt besteht57 ; somit ist dieser Ansatz dem no-conflict approach jedenfalls im weiten Sinne zuzurechnen. Bekannteste Mechanismen der Derogation58 sind die lex posterior- (Art. 30 WVK) und lex specialis-Grundsätze: lex posterior derogat legi priori als Ausdruck funktionaler Relationen, dass dem später entscheidenden Hoheitsträger die Kompetenz zukommt, Normen zu setzen, die die früher geltende Norm unanwendbar macht59 und lex specialis derogat legi generali, die besagt, dass bei mehreren Normen, die den gleichen Regelungsgehalt haben, die speziellere Norm vorrangig anzuwenden ist. Es ist allgemeinhin nicht geklärt, welche Rechtsnatur diese Maximen besitzen60 . In der internationalen Gerichtspraxis spielt die Anwendung dieser Regeln zur Konfliktlösung keine signifikante Rolle61 . Die überwiegende Lehre geht davon aus, dass sie in der Anwendung kompliziert und für die Lösung von Konflikten nur bedingt geeignet sind, jedenfalls keine absolute Gültigkeit beanspruchen können62 . Im vorliegenden Normenkonflikt ist jedenfalls fraglich, ob die genannten Konfliktlösungsmechanismen für die Konfliktlösung geeignet sind, da sich nicht nur verschiedene Normen gegenüberstehen, sondern gleich verschiedene Rechtsregime des Völkerrechts. Der Fragmentierungsreport der ILC sieht aus diesem Grunde für die Staatenimmunität im Konflikt mit den Menschenrechten einen Anwendungsbereich allein für die lex specialis-Maxime als eröffnet an, was allerdings voraussetzt, dass unter lex nicht einzelne Normen zu fassen sind, sondern verschiedene Völkerrechtsregime funktionaler Spezialisierung63 . a) Die lex posterior-Maxime Die lex posterior derogat legi priori-Maxime regelt die vorranige Anwendung für den Fall, dass alle Vertragsparteien eines Vertrages auch Parteien eines früheren Vertrages mit gleichem Regelungsinhalt sind. Der frühere Vertrag ist dann weder suspendiert noch 57 Kelsen, a. a. O., S. 178 f.: „die Norm, die durch die derogierende Norm ihre Geltung verloren hat, ist nicht mehr vorhanden. Den zwei miteinander in Widerspruch stehenden Aussagen stehen nicht zwei in Konflikt stehende Normen gegenüber, sondern nur eine, die derogatorische Norm, denn die andere ist nicht mehr vorhanden“. 58 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, S. 156 ff. unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen horizontaler und vertikaler Derogation auf zeitlicher bzw. institutioneller Ebene der Rechtsnorm. 59 Nettesheim, EuR 2006, S. 738. 60 Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, S. 391 ff., unterscheidet zwischen rechtslogischen Prinzipien, allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Interpretationsregeln, Vermutungsregeln, (bedingt anwendbaren) Rechtsregeln, Gewohnheitsrecht, bloßer Rechtssprichwörter (bzw. Reflexionsbremsen) mit zahlreichen Nachweisen für sämtliche Ansätze. 61 Zum Bedauern von Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States and International Organizations, S. 72. 62 Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, S. 394, m. w. N. 63 So auch: de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 91, Fn. 38, hierzu weiterhin: Ziegler/Boie, The Relationship between International Trade Law and International Human Rights Law, S. 272 ff., die zwischen inter regime-Konflikten und intra regime-Konflikten differenzieren. Die lex specialis-Maxime kann richtigerweise nur auf intra regime-Konflikte Anwendung finden.
III. No-conflict approaches
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beendet, sondern beansprucht noch in dem Umfang Geltung, soweit er mit den Inhalten des späteren Vertrages kompatibel ist und diesen nicht widerspricht. Grundsätzlich geht späteres Recht damit früherem Recht vor. Primärer Anknüpfungspunkt des lex posteriorGrundsatzes ist die Zeit. Die Anwendung dieses Grundsatzes begegnet im Zusammenhang mit dem vorliegenden Konflikt verschiedenen Schwierigkeiten, hierauf macht auch der Koskenniemi-Report aufmerksam64 . Der lex posterior-Grundsatz ist auf den Konflikt zweier Normen desselben Regimes ausgerichtet65 . Es handelt sich vorliegend jedoch nicht um einen klassischen Konflikt zwischen zwei nicht kongruenten Vertragsklauseln, an die sich ein Vertragsmitglied nicht gleichzeitig halten kann, sondern um den Konflikt verschiedener Rechtsregime. Pauwelyn66 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der lex posterior-Grundsatz im nationalen Recht auf der Annahme basiert, dass der jüngste Ausdruck legislativer Intention Vorrang beansprucht. Dies ist aus mehreren Überlegungen heraus auf das Völkerrecht nicht übertragbar: Zunächst ist es im Völkervertragsrecht problematisch, einen exakten Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu bestimmen, da der Vertragsschluss selbst durch mehrere Handlungen und Zwischenakte der Vertragsstaaten determiniert ist, zu späteren Zeitpunkten andere Staaten dem Vertrag noch beitreten können und sich der Vertragsinhalt durch den Abschluss vom Zusatzprotokollen zudem verändern oder erweitern kann. Zudem legt gerade das regionale Menschenrechtsschutzregime der EMRK keine statischen Rechtsverhältnisse zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zugrunde, sondern wird in evolutivdynamischer Auslegung durch den EGMR den aktuellen sozio-normativen Entwicklungen angepasst – was den ursprünglichen Staatenwillen in gewissem Maße ersetzt. Der lex posterior-Grundsatz stellt demgegenüber hauptsächlich auf die Intention der Vertragsstaaten ab, ohne hierbei flexibel auf neuere Entwicklungen reagieren zu können. Auf der einen Seite des Konflikts steht das als völkergewohnheitsrechtlich zu qualifizierende Prinzip der Staatenimmunität. Obwohl der lex posterior-Grundsatz nicht auf vertragliche Regelungen beschränkt ist67 , ist es im Falle des Geltungsbeginns von Völkergewohnheitsrecht quasi unmöglich, einen exakten Zeitpunkt festzumachen. Auch die völkerrechtlichen Grundsätze der Immunität unterliegen weiterhin evolutiv-dynamischen Entwicklungen, sodass, wenn überhaupt, nur zeitlich eine Zäsur bei Erreichen eines relevanten Entwicklungsschrittes gezogen werden kann. Der lex posterior-Grundsatz geht demgegenüber von statischen Rechtsverhältnissen aus, sodass unter diesem Gesichtspunkt schon keine Anwendung naheliegt. Zudem hat die spätere Norm oft andere (verpflichtete) Normadressaten als die frühere, eine vollständige Kongruenz der Vertragspartner wird nicht erreicht werden. Art. 30 IV lit. b WVK bestimmt in diesem Zusammenhang, dass nur der Vertrag gilt, dem beide Vertragsparteien angehören. Die lex posterior-Maxime ist demnach für die Auflösung des 64 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, Conclusions No. 25–27 of the Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, 2006. 65 Koskenniemi, a. a. O. 66 Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, S. 908. 67 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 363.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
vorliegenden Konflikts zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK nicht geeignet. b) Die lex specialis-Maxime Die lex specialis-Maxime statuiert demgegenüber einen Ansatz der harmonisierenden Auslegung. Widersprechen sich verschiedene (v. a.68 vertragliche) Regelungen, so wird im Wege der Auslegung (Interpretation) der Verträge die speziellere herangezogen. Hierbei gilt eine Norm gegenüber einer anderen beispielsweise als spezieller, wenn ihre Anwendbarkeit von mindestens einem Tatbestandsmerkmal mehr abhängt69 . Der Koskenniemi-Report hat verschiedene Anwendungsfälle der lex specialis-Maxime herausgearbeitet: So findet sie Anwendung auf Konflikte zwischen Rechtsnormen innerhalb eines Vertrages, zwischen völkervertraglichen Normen verschiedener Verträge und zwischen einer vertraglichen und einer nicht vertraglichen Norm sowie zwischen nicht vertraglichen Normen70 . Die Thematik wird unter der Überschriften „conflicts between special law and general law“ behandelt, was impliziert, dass der Report auch Konflikte (bzw. die Fragmentierung) durch die Existenz verschiedener Teilrechtssysteme unter die lex specialis-Maxime subsumiert und nicht nur Rechtsnormen im klassischen Sinne. Nimmt man die Situation der Überschneidung verschiedener Rechtsregime vom Anwendungsbereich des lex specialis-Grundsatzes aus71 , so interpretiert diese Ansicht den lex specialis-Grundsatz zu eng72 . Auch im Völkerrecht hat sich die Meinung durchgesetzt, dass das speziellere Recht (in Form eines speziellen Vertragsrechts oder speziellen Völkergewohnheitsrechts) gegenüber dem allgemeineren Vorrang genießt73 . Die Anwendung der lex specialis-Maxime auf völkerrechtliche Konflikte ergibt sich weiterhin aus dem Artikelentwurf für die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln der ILC74 , der beispielsweise in Art. 55 unter der Überschrift lex specialis die Anwendung der Artikel über Staatenverantwortlichkeit ausschließt, wenn die internationale Staa68 Thiele, Fragmentierung des Weltrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, S. 5, geht ebenfalls davon aus, dass die ausschließliche Anwendung dieser Kollisionsregel auf vertragliche Normen nicht zwingend sei. 69 Sie genießt Vorrang, da sie sonst gegenüber der generellen Norm keinen Anwendungsbereich behielte. Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 104. 70 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, Conclusions No. 5 of the Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, 2006. 71 Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 106, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass weder der Konflikt überzeugend definiert wurde (sondern vielmehr mit dem Phänomen der Fragmentierung des Völkerrechts vermischt/gleichgesetzt wurde), noch erkannt wurde, dass die Überschneidung von Anwendungsbereichen verschiedener Rechtsregime keinen Anwendungsfall der lex specialis-Maxime darstellt. 72 Zustimmend: Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 666, der die Anwendbarkeit des lex specialis-Grundsatzes davon abhängig macht, dass die gegenüberstehenden Normen von „equivalent standing“ sind, somit z. B. beide erga omnesVerpflichtungen statuieren. 73 Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 391 m. w. N.; vgl. zudem die im Koskenniemi-Report zitierte Rechtsprechung (§§ 46ff), die diesen Befund bestätigt. 74 ILC, 2001, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Annex zur Res. 56/83 (General Assembly) vom 12. 12. 2001 (mit Korrekturen in A/56/49(Vol. I)/Corr. 4).
III. No-conflict approaches
125
tenverantwortlichkeit durch „special rules of international law“ bereits geregelt wird75 . Auch die Wiener Vertragsrechtskonvention nimmt mehrmals Bezug auf den lex specialisGrundsatz76 . Vorliegend kollidieren die Staatenimmunität als Norm des (allgemeinen) Völkergewohnheitsrecht mit dem Recht auf Zugang zu Gericht, einer besonderen vertraglichen Rechtsnorm aus der Teilrechtsordnung EMRK (Regime), sodass sich nach Kategorisierung des Koskenniemi-Reports eine vertragliche und eine nicht vertragliche (in diesem Fall völkergewohnheitsrechtliche) Norm gegenüberstehen. Für diese Konstellation verweist der Report auf Art. 38 I IGH-Statut, der eine (informelle) Hierarchie der Rechtsquellen des Völkerrechts vorgebe77 . Nach dieser Argumentation müsste sich die speziellere Vertragsnorm durchsetzen. Weinberger geht davon aus, dass Völkergewohnheitsrecht die logisch höherrangigere Rechtsquelle darstellt, da sie das aktuellere, korrektere Abbild des momentanen Völkerrechts wiedergibt, als die insoweit statischen Völkerrechtsverträge78 . Die EMRK unterliegt durch die Auslegung des EGMR einer evolutiv-dynamischen Entwicklung; es handelt sich insofern nicht um ein statisches Vertragswerk, sodass die Argumentation Weinbergers im vorliegenden Zusammenhang nicht greift. Auch die Annahme einer unterschiedlichen normativen Bedeutung der Rechtsquellen im Hinblick auf die Reihenfolge ihrer Nennung in Art. 38 IGH-Statut ist keine gesicherte Erkenntnis. Die Bedeutung der verschiedenen Rechtsquellen hat sich mit der zunehmenden Kodifizierung des Rechts, der Intensivierung internationaler Beziehungen sowie der Schaffung institutioneller Strukturen und der Gründung internationaler Organisationen verändert. War einst das Völkergewohnheitsrecht ausschlaggebend, kommt es heutzutage mehr auf die sachliche Fixierung von relevanten Inhalten in völkerrechtlichen Verträgen an79 . Ein Hinweis auf eine hierarchische Ordnung der in Abs. 1 lit. a–d (nicht enumerativ abschließend) aufgelisteten Rechtsquellen des Völkerrechts wurde noch während der Entwurfsphase wieder verworfen80 . Art. 38 I IGH-Statut stellt demnach keine Basis einer „Rechtsquellenlehre“81 dar. Auch ein empirischer Blick auf die Rechtsprechung des IGH zeigt, dass vertrags- und völkergewohnheitsrechtliche Regelungen gleichzeitig gelten82 oder einander gegenseitig
75 Art. 55 (lex specialis), These articles do not apply where and to the extent that the conditions for the existence of an internationally wrongful act or the content or implementation of the international responsibility of a State are governed by special rules of international law. 76 Nachweise bei Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 392. 77 Koskenniemi, a. a. O., § 463. 78 Weinberger, The Wimbledon Paradox and the World Court: Confronting Inevitable Conflicts between Conventional and Customary International Law, S. 427 f.; sie weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass diese Ansicht die Gefahr berge, dass das Gericht und die Parteien des Rechtsstreits sich im Falle eines Konflikts wegen der dehnbaren, flexiblen Natur des Völkergewohnheitsrechts („malleable nature of customary law“) ergebnisgeleitet aussuchen können, auf welche Rechtsquelle sie abstellen, Weinberger, a. a. O., S. 428. 79 Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 113 ff. 80 U. a.: Weinberger, The Wimbledon Paradox, S. 436. 81 Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 148, „Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut ist insofern nicht als numerus clausus der Völkerrechtsquellen zu verstehen. Weitere Rechtsquellen sind möglich. Und sie gibt es in der Tat.“. 82 Ein Konflikt bestünde dann lediglich in dem Maße, als die Rechtswirkung einer Norm durch die Anwendung der anderen beeinträchtigt, jedoch nicht völlig aufgehoben würde.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
verdrängen können83 . Art. 38 IGH-Statut geht demnach von einer Gleichberechtigung der Rechtsquellen im Völkerrecht aus, unterscheidet höchstens zwischen „speziellen“ und „allgemeinen“ Rechtsquellen84 , ohne dass hieraus Rückschlüsse auf eine unterschiedliche Wertigkeit oder Rangfolge der einzelnen Rechtsquellen gestattet wären. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit bei der Anwendung des lex specialis-Grundsatzes auf den vorliegenden Konflikt. Er schließt („standardisiert“) von einer äußeren Tatsache, nämlich der relativen Spezialität, nachgewiesen durch die vorherige Bestimmung und Gegenüberstellung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, auf den inneren (mutmaßlichen) Willen des Normsetzers, sodass die Maxime die Identität des Normsetzers voraussetzt85 . Somit eignet sich die lex specialis-Maxime, obwohl sie grundsätzlich auch im Völkerrecht, hier im Besonderen bei Konflikten zwischen Rechtsregimen, Anwendung finden kann, für den vorliegenden Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK nicht als überzeugender Konfliktlösungsmechanismus. Der Schutz der Menschenrechte stellt eine Spezialdisziplin dar, bei der im Konflikt mit allgemeinen (nicht kodifizierten) Grundsätzen des Völkerrechts die klassischen Konfliktlösungsmechanismen versagen.
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht 1. Grundlagen der Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht Die Theorie, dass es eine hierarchische Ordnung im Völkerrecht gebe, in der bestimmte Normen einen höheren Rang besetzen als andere („einfachvölkerrechtliche“86 ) Normen und sich im Falle eines Konflikts durchsetzen, hat im völkerrechtlichen Schrifttum großen Widerhall gefunden und ist zugleich Ausdruck einer immer noch präsenten Konstitutionalisierungsdebatte im Völkerrecht87 . Sie spielt im Bereich der völkerrechtlichen Immunitäten eine besondere Rolle, in diesem Zusammenhang wurde das Argument des zwingenden und damit höherrangigen Charakters von Menschenrechten am häufigsten gebraucht88 .
83 So auch der IGH: Nicaragua-Fall, der den Vorrang der vertraglichen Norm bestätigt (Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, (Nicaragua vs. USA), I.C.J. Reports, 1986, S. 137, § 274), in diesem Fall hat sich die völkervertragliche Norm durchgesetzt. 84 Thiele, Fragmentierung als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 7. 85 V. a. problematisch bei völkerrechtlichen Verträgen, da hier oft unterschiedliche Anwendungsbereiche ratione personae gegeben sind. Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 105. 86 Bosch, Immunität und Internationale Verbrechen, S. 107. 87 Tahvanainen, Commentary to Professor Hafner, S. 867; zu den Ursprüngen der Theorie der Normenhierarchie im amerikanischen Recht: Caplan, State Immunity, Human Rights and jus cogens, S. 765. 88 Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 388 f.
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
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Die Auflösung von Konflikten über die Annahme von Normenhierarchien zielt auf die Nichtanwendung einer der beiden widersprüchlichen Normen bzw. Rechtsregime ab. Es geht nicht um den Ausgleich der Regelungen unter Berücksichtigung der betroffenen Interessen, sondern um hierarchische Vorrangbestimmungen und als Konsequenz um die Verdrängung der niederen Norm (Quasi-Derogation)89 . Im Ergebnis handelt es sich wohl eher um einen Konfliktvermeidungsmechanismus90 als um einen Konfliktlösungsmechanismus. Dogmatisch fußt diese Theorie auf dem Konzept der zwingenden Normen im Völkerrecht (ius cogens). Art. 53 WVK definiert zwingende Normen als solche, die „von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt“ sind, von denen „nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden“ können. Die Klassifizierung einer Norm als ius cogens geschieht aus materiell-rechtlichen (nicht rechtsquellentheoretischen) Überlegungen heraus91 . So sind vornehmlich menschenrechtliche Verpflichtungen als ius cogens allgemeinhin anerkannt92 . Gerade im Bereich der Staatenimmunität erlangt das ius cogens als Ausdruck einer hierarchischen Überordnung zunehmende Bedeutung93 . Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es nach dieser Theorie dann nicht mehr auf die jeweilige Staatenpraxis ankommt, sondern nur noch auf die Frage, ob eine Norm dem ius cogens zuzuordnen ist, oder nicht94 . Dies spiegelt sich auch auf nationaler Rechtsprechungsebene wider: In einem Fall vor dem französischen Court de Cassation hat das französische Verfassungsgericht 2005 entschieden, dass das Recht auf Zugang zu Gericht dem internationalen ordre public angehöre, was dazu führte, dass der African Development Bank in einem Kündigungsrechtsstreit (mangels alternativen Rechtsschutzes) die Immunität verwehrt wurde95 . Außer diesem methodischen Vorteil verhilft die Theorie der Normenhierarchie oft zu einer Korrektur von sonst als „ungerecht“ empfundenen Ergebnissen, da in den Fällen, in denen eine Verletzung von (unstreitig als solche zu qualifizierenden) ius cogens-Normen im Raum steht (beispielsweise Folter), sich das Urteil auch nach dem Ergebnis orien-
89 Anders: Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States and International Organizations, S. 72, der das ius cogens als „chief element of an interpretative balance to be persued in the area of immunities and human rights“ ansieht. 90 Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 239. 91 de Wet, Paradigmen in der Internationalen Praxis, S. 87. 92 Folterverbot, Verbot der Sklaverei, Verbot des Völkermordes, usf., allerdings auch das der staatlichen Souveränität entstammende Selbstbestimmungsrecht der Völker. Eine Liste mit (wohl) gesichert als ius cogens qualifizierten Ver- und Geboten findet sich in Art. 40 der ILC Draft Articles on State Responsibility with commentaries, 2001, insb. Kommentar 5 zu Art. 40. 93 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 87; Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 388. 94 Die Frage der Zugehörigkeit zum ius cogens ist allerdings nur mit Hilfe der Staatenpraxis zu klären, Meierhöfer, EuGRZ 2002, 395; Kleinlein setzt demgegenüber neben der Anerkennung durch die Staaten auch auf die „Wertigkeit“ einer Norm im gesamten Völkerrechtsgefüge unter Zugrundelegung eines Gemeinschaftsinteresses, einer Konstitutionalisierung und einer allgemeinen Dogmatik im Völkerrecht, S. 350, 396. 95 Cour de Cassation, France, Banque Africaine de Dévelopement vs. M. A. Degboe, Urteil vom 25. 1. 2005, R.C.D.I.P., vol. 3 (2005), S. 447 f.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
tieren dürfte96 . Hiervon ausgehend wird – unabhängig vom Vorliegen eines Konflikts – angenommen, dass im Falle eines Verstoßes gegen zwingendes Völkerrecht durch einen Staat dessen Verantwortung ausgelöst wird97 . Kritiker der Theorie98 werfen ihr vor, dass sie von einem falschen Konzept der Staatenimmunität im Völkerrecht ausgehe und die Gefahr berge, die internationalen Beziehungen zwischen Staaten zu vergiften. Staatenimmunität sei entgegen herrschender Meinung kein (reines) Prinzip des Völkerrechts, sondern beruhe größtenteils auf nationalen Normen99 . Weiterhin sei der Forumstaat für die Festlegung von Inhalt und Reichweite seiner Immunität selbst zuständig, nicht das Völkerrecht. Auch sei ius cogens-Normen eine so weitreichende Wirkung nicht zuzuschreiben, was bereits Art. 53 WVK belege100 . Untermauert würden diese Aussagen durch die Arbeit der ILC, welche nach ausführlicher Befassung mit derselben Frage zu dem Ergebnis kam, dass weder eine Staatenpraxis noch eine dahingehende zeitnahe Einigung aller Staaten feststellbar sei, Staatenimmunität in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen zu verweigern. Konsequent und folgerichtig fand sich eine solche Ausnahme auch nicht in der aus der Arbeit der ILC resultierenden UN-Konvention über die gerichtliche Immunität der Staaten und ihres Vermögens wieder101 . Eine Analyse der Vertreter dieser Ansicht sowie der Bericht der ILC102 zeigen, dass vom Ergebnis her argumentiert wird. Es wird eine bestimmte Situation als mit dem Völkerrecht für unvereinbar empfunden, sodass im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen einem Staat die Immunität versagt werden soll. Die Qualität der Herleitung dieses Ergebnisses variiert. 2. Die Rechtsprechung des EGMR zur Theorie der Normenhierarchie a) Der Fall Al-Adsani Im Fall Al-Adsani103 klagte der Beschwerdeführer Al-Adsani, der sowohl die Staatsangehörigkeit Großbritanniens als auch die des Emirats Kuwait innehat, gegen Kuwait. Er 96 Caplan, State Immunity, Human Rights and Jus Cogens: A Critique of the Normative Hierarchy Theory, S. 741 „normative hierarchy theory aimed at challenging seemingly unjust outcomes such as these“; Kleinlein spricht im Zusammenhang mit schwerwiegenden Menschenrechtsverbrechen sogar von einem „Kristallisationspunkt der Konstitutionalisierungsdiskussion“, vgl. Konstitutionalisierung und allgemeine Dogmatik im Völkerrecht, S. 389. 97 Art. 40 der ILC Draft Articles on State Responsibility, zu den Konzepten der höherrangigen Normen im Völkerrecht weiterhin: Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 29 ff. 98 So z. B. Caplan, a. a. O.; Zimmermann, MJIL 1995, 437 f. 99 Caplan, a. a. O., S. 764 m. w. N. 100 Caplan, a. a. O., S. 764. 101 Resolution 59/38, die Konvention ist mit 28 Unterschriften und 11 Ratifikationen noch nicht in Kraft getreten, vgl.: http://treaties.un.org/. 102 Vgl. report of the Study Group of the International Law Commission: Fragmentation of International Law: Difficulties Arising from the Diversification and expansion of International Law, UN-Dok. A/CN.4/L.682 (2006). 103 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97.
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
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lebte in London und war zur Zeit des Golfkrieges (1991) Pilot der kuwaitischen Luftwaffe. Zu dieser Zeit gelangte er an eine Videoaufzeichnung, die einen Verwandten des Emirs bei sexuellen Handlungen zeigte. Durch nicht geklärte Umstände gelangte das Video an die Öffentlichkeit, wofür der Verwandte des Emirs Al-Adsani verantwortlich machte. In Kuwait wurde der Beschwerdeführer hieraufhin von Gefolgsleuten des Scheichs gefoltert und erlitt schwere Verletzungen. U. a. erlitt er Verbrennungen von über einem Viertel seiner Hautoberfläche. Nachdem Al-Adsani nach Großbritannien zurückgekehrt war, klagte er dort gegen Kuwait104 auf Schadensersatz wegen der erlittenen Folter. Der High Court stellte das Verfahren ein, nachdem sich Kuwait auf Immunität berufen und die Einstellung verlangt hatte, wogegen der Beschwerdeführer vor dem Court of Appeal vorging. Die Rechtsmittel vor dem Court of Appeal waren erfolglos; das Gericht anerkannte die Staatenimmunität Kuwaits, da die Folterhandlung nicht auf britischem Territorium stattgefunden hatte105 . Hieraufhin wandte sich der Beschwerdeführer an den EGMR. Der Beschwerdeführer argumentierte unter Berufung auf Berichte der ILC, dass eine neuere Tendenz dahin gehe, die Immunität im Falle des Todes oder bei Körperschäden zurücktreten zu lassen106 . Die britische Regierung trug hiergegen vor, dass der Beschwerdeführer wegen des prozessualen Hindernisses der Staatenimmunität keinen materiellen Anspruch nach innerstaatlichem Recht geltend machen könne und Art. 6 I EMRK deswegen schon nicht anwendbar sei. Sie berief sich demnach auf die bereits unter 2. in diesem Kapitel besprochene Unterscheidung zwischen procedural obligations und substantive prohibitions107 . Dieser Argumentation der Regierung folgte der EGMR nicht, erkannte jedoch einen Konflikt zwischen dem ius cogens (Folterverbot) und der Staatenimmunität. Der EGMR prüfte sodann, ob es eine bereits gefestigte Übung gibt, die einem Staat im Falle eines Foltervorwurfes die Berufung auf Imumnität verweigert108 . Hierbei griff er auf das Urteil Furundzija des IStGH für das ehemalige Jugoslawien109 und das Urteil Pinochet No. 3 des House of Lords110 zurück und grenzte den ihm vorliegenden Sachverhalt von diesen Urteilen ab, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Einzelnen für behauptete Folterhandlungen betrafen. Im Fall Al-Adsani ging es jedoch nach Ansicht des EGMR um die Frage, ob die Immunität eines Staates in einem Zivilverfahren gerichtet auf Schadensersatz wegen Folterhandlungen auf seinem Territorium zurücktreten müsse. Der EGMR stellte fest, dass die nationalen Vorschriften des UK State Immunity Act mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Prinzip der Staatenimmunität im Einklag standen und dass die Annahme, Staatenimmunität müsse in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen zurückstehen, noch keine Anerkennung im Völkerrecht finde:
104 Al-Adsani klagte auch gegen den Scheich, hier erging, als dieser nicht vor Gericht erschien, ein Versäumnisurteil. 105 Die Entscheidung wurde mit Section 5 des United Kingdom State Immunity Act 1978 begründet, der eine Immunitätsausnahme nur vorsieht für im Forumstaat (UK) begangene Handlungen, Al-Adsani vs. Government of Kuwait, 107 ILR 536 (1996). 106 EGMR Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 62. 107 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 44, 48. 108 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 56 ff., Rn. 61. 109 Prosecutor vs. Furundzija, 10 December 1998, case no. IT-95-17/I-T, 1999, 38 Legal Materials 317. 110 Regina vs. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte (No. 3), Judgment of 24 March 1999 [2000] Appeal Cases 147.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
„The Court, while noting the growing recognition of the overriding importance of the prohibition of torture, does not accordingly find it established that there is yet acceptance in international law of the proposition that States are not entitled to immunity in respect of civil claims for damages for alleged torture committed outside the forum State. The 1978 [State Immunity] Act, which grants immunity to States in respect of personal injury unless the damage was caused within the United Kingdom, is not inconsistent with those limitations generally accepted by the community of nations as part of the doctrine of State immunity“111 .
Die für dieses Ergebnis votierende Mehrheit der Richter war reichlich knapp. Die Entscheidung erging mit 9:8 Stimmen, die acht Richter legten hieraufhin ihre andere Ansicht in drei abweichenden Meinungen vor. Die von dieser Ansicht abweichenden Richter kritisierten, dass nach der Annahme eines Verstoßes gegen zwingendes Völkerrecht diesem unter Versagung der Staatenimmunität durch Großbritannien nicht zur Durchsetzung verholfen wurde112 . Sie stimmten dem Gerichtshof nur insofern zu, als auch sie das Folterverbot als ius cogens qualifizierten. „Due to the interplay of the ius cogens rule on prohibition of torture and the rules on State immunity, the procedural bar of State immunity is automatically lifted, because those rules, as they conflict with a hierarchically higher rule, do not produce any legal effect. (. . .) It follows that every State has a duty to contribute to the punishment of torture and cannot hide behind formalist arguments to avoid having to give judgment“113 . „The acceptance therefore of the jus cogens nature of the prohibition of torture entails that a state allegedly violating it cannot invoke hierarchically lower rules (in this case, those on state immunity) to avoid the consequences of the illegality of its actions“114 .
Diese Argumentation, mag sie auch vom Ergebnis her zu befürworten sein, weist als wesentliche Schwäche ein fehlerhaftes Konfliktverständnis auf115 . Die Minderheit der Richter im Fall Al-Adsani geht davon aus, dass die prozessuale Hürde der Staatenimmunität quasi automatisch überwunden wird, wenn ius cogens an dem Konflikt beteiligt ist. Diese Ansicht setzt allerdings voraus, dass neben dem materiellen Gehalt des Folterverbot ein prozessualer Gehalt dem Folterverbot immanent ist, der den Zugang zu Gericht eröffnet und ebenfalls als ius cogens zu qualifizieren ist. Anders könnte sich dieses Recht nicht gegen die Staatenimmunität als prozessuales Recht durchsetzen. Sowohl die Ansicht der Mehrheit als auch der Minderheit der Richter verkennen jedoch die wahren Konfliktbeteiligten. Die Gewährung des Zugangs zu Gericht ist keine Frage des ius cogens oder kollidiert mit diesem. Die normative Reichweite des Folterverbots 111
EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 66. Mit anderen Worten verlangten sie nach einer fully fledged Normenhierarchie, siehe Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 33, vgl. Abweichendes Sondervotum der Richter Rozakis und Caflisch, dem sich die Richter Costa, Cabral Barreto und Vajic sowie Präsident Wildhaber anschließen, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 113 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Diss. Op. des Richters Ferrari Bravo. 114 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Joint Dissenting Opinion of Judges Rozakis and Caflisch, joined by Judges Wildhaber, Costa, Cabral Barreto and Vajic, § 2. 115 Zu diesem Schluss kommt – etwas anders formuliert – auch Klein, Menschenrechte und Ius Cogens, S. 158, wenn er ausführt, dass der Konfliktfall nicht „im direkten Normwiderspruch gesehen wird (. . .), sondern auf die Konstellation erweitert wird, dass ein Staat sich den Konsequenzen seines rechtswidrigen Handelns unter Hinweis auf rangniedere Regeln (Staatenimmunität) entziehen könnte“. 112
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
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impliziert auch nicht die (über das Folterverbot hinausgehende) Verpflichtung der Staaten, keine staatliche Immunität oder Zugang zu Gericht zu gewähren116 . Ist ius cogens beteiligt, tendieren die Richter des EGMR zu einer sehr weiten Auslegung des Normkonflikts117 . Stellte man beständig auf das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Recht ab, so führte dies zu wenig überzeugenden und konsequenten Lösungen. Die Bejahung eines Rechts auf Zugang zu Gericht ermöglicht erst die Befassung mit dem materiellen (substantive) Gehalt der Beschwerde, ist jedoch gleichzeitig logische Voraussetzung. Es kann in diesem Prüfungsschritt (noch) nicht darauf ankommen, welches Recht der Beschwerdeführer im eigentlich durchzuführenden Verfahren geltend gemacht hätte. Hiervon kann in Konsequenz auch keine Ausnahme zugelassen werden, wenn der Beschwerdeführer Verstöße gegen das ius cogens geltend macht. Unabhängig von der Schwere des materiellrechtlichen Vorwurfs steht zunächst eine Beeinträchtigung des prozessualen Rechts auf Zugang zu Gericht im Raum118 . Nur so wird eine stringente, allein dem effektiven Rechtsschutz auf der einen und den Souveränitätsinteressen der Staaten auf der anderen Seite unterworfene Konfliktlösungsstrategie gewährleistet. Das Erkennen eines Normkonflikts und der sich gegenüberstehenden Normen stellen einen eigenständigen Interpretationsprozess dar, der vom jeweiligen Konfliktverständnis abhängt. Durch die vom EGMR gewählte Vorgehensweise wurden Folgeprobleme induziert. So unterstellte der Gerichtshof „für die Zwecke des Urteils“119 , dass die durch den Beschwerdeführer vorgetragenen Foltervorwürfe durch kuwaitische Gefängniswärter erstens tatsächlich stattgefunden hatten und zweitens auch den Tatbestand der Folter i. S. d. Art. 3 EMRK erfüllt haben. Der Gerichtshof verweist selbst darauf, dass die durch den Beschwerdeführer erhobenen (materiell-rechtlichen) Vorwürfe wegen der durch die nationalen Gerichte gewährten Immunität zu keinem Zeitpunkt einer Beweisaufnahme unterlagen und ihr Wahrheitsgehalt somit nicht abschließend gerichtlich beurteilt werden konnte. Besser wäre es gewesen, der EGMR und auch die nationalen Gerichte hätten auf das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK abgestellt, einen Konflikt mit der Staatenimmunität angenommen und sich sodann zum tatsächlichen Verhältnis zwischen Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht geäußert. Hiermit wäre insbesondere der EGMR der urteilstechnisch unsauberen Unterstellung entgangen, das Vorbringen des Beschwerdeführers, welches wegen der Immunitätsgewährung dem Beweise vor Gericht bisher nicht zugänglich gewesen war, sei wahr. In der Abwägung, also der Frage, welche der betroffenen Interessen im Einzelfall überwiegen müssen, wäre der schwerwiegende Vorwurf des Verstoßes gegen ius cogens freilich hinzuzuziehen gewesen, ohne ihn jedoch als bewiesen unterstellen zu müssen. In diese Richtung tendiert auch Richter Loucaides in seinem Sondervotum, wenn er verlangt, dass „das Gericht zuvor das Interesse des Staates an Immunität mit dem Interesse des Klägers an einer gerichtlichen Entscheidung“120 ab-
116 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 93. 117 Ebenso: Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 33. 118 Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States and International Organizations, S. 75. 119 EGMR Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 58. 120 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Sondervotum Richter Loucaides.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
zuwiegen habe. Auch Vidmar121 erkennt, dass kein direkter Normkonflikt mit dem ius cogens vorliegt, sondern vielmehr die den Staat treffenden Verpflichtungen bei dem Verstoß gegen eine höherrangige Norm im Streit stehen. So sieht es auch Lady Fox, wenn sie zur Staatenimmunität ausführt, dass „[State immunity did not] contradict a prohibition contained in a jus cogens norm but merely divert any breach of it to a different method of settlement“122 . Voraussetzung für die Annahme eine Konfliktes von ius cogens und der Staatenimmunität ist, dass das betreffende ius cogens (hier das Folterverbot) neben seinem materiellen (substantive) Gehalt auch einen prozessualen Inhalt gerichtet auf die effektive Durchsetzung dieses Rechts/Verbots aufweist, welcher ebenfalls dem ius cogens zugerechnet werden müsste, damit sich auch der prozessuale Teil des geltend gemachten Rechts gegen das dem „einfachen“ Völkervertragsrecht des Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) normenhierarchisch durchsetzt. Dieses zusätzliche prozessuale, absolute Recht ist derzeit weder in Rechtsprechung noch in Literatur anerkannt. b) Der Fall Jones vs. Saudi Arabia vor dem House of Lords Das House of Lords hat die Rechtsprechung Al-Adsani im Fall Jones vs. Saudi Arabia123 aufgenommen. Der britische Beschwerdeführer Jones wurde 2001 bei einem Bombenangriff in Riyadh leicht verletzt und hieraufhin stationär behandelt. Aus dem Krankenhaus wurde er sodann durch saudi-arabische Staatsoffizielle entführt und für 67 Tage unrechtmäßig festgehalten und gefoltert. Der Beschwerdeführer kehrte nach diesen Ereignissen nach Großbritannien zurück und initiierte ein Verfahren vor dem High Court gegen das Innenministerium von Saudi-Arabien und gegen Lieutenant Colonel Abdul Aziz, der den Beschwerdeführer gefoltert hatte; er verlangte (u. a.) die Zustellung einer zivilrechtlichen Schadensersatzklage an die von ihm benannten Personen in Saudi-Arabien, was ihm verwehrt wurde. Auch die weiteren vier Beschwerdeführer trugen zunächst vor dem High Court in London vor, dass sie während ihrer Haft in Saudi-Arabien gefoltert worden waren und wollten zivilrechtliche Schadensersatzprozesse gegen die von ihnen benannten Peiniger anstrengen, wozu sie ebenfalls die Zustellung der Klage in Saudi-Arabien vor dem High Court beantragten. Lord Hoffmann geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass ein Normenkonflikt zwischen der Staatenimmunität und ius cogens voraussetzt, dass das ius cogens eine ancillary procedual rule beinhaltet, also einen prozessualen Gehalt, der einen Zugang zu Gericht und damit ein gerichtliches Verfahren überhaupt erst ermöglicht. „To produce a conflict with state immunity, it is therefore necessary to show that the prohibition on torture has generated an ancillary procedural rule which, by way of exception to state immunity entitles or perhaps requires states to assume civil jurisdiction over other states in cases in which toture is alleged“124 .
121
Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 29. Fox, The Law of State Immunity, S. 525. 123 Jones vs. Ministry of Interior Al-Mamlaka Al-Arabyia (the Kingdom of Saudi Arabia), UKHL 2006, 2 WLR 1426. 124 House of Lords, a. a. O., § 45. 122
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
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Lord Hoffmann nahm eine ancillary procedual rule im Falle des Folterverbots nicht an und verneinte hiermit bereits eine Konfliktsituation. Im Ergebnis wurde die Klage aus dieser Begrüdnung heraus abgewiesen. c) Die Entscheidung des EGMR im Fall Jones u. a. Nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges reichten die Beschwerdeführer Individualbeschwerde beim EGMR ein und trugen u. a. vor, dass der Ansatz des Gerichtshofs im Fall Al-Adsani falsch gewesen sei, der EGMR unter Hinweis auf die Entscheidungen in den Fällen Waite und Kennedy vielmehr darauf hätte eingehen müssen, ob Al-Adsani ein alternativer Rechtsweg offengestanden hätte. Auch sei Jones de jure und de facto nicht in der Lage gewesen, seine Ansprüche vor einem anderen Gericht geltend zu machen. Weiterhin habe keine Abwägung aller betroffenen Interessen stattgefunden, sodass die Gewährung von „Blankoimmunität“ in seinem Fall eine unverhältnismäßige Einschränkung seines Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK darstelle125 . Somit bot sich einige Jahre nach dem Urteil Al-Adsani für den EGMR die weitere Gelegenheit, den Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht zu adressieren. Der EGMR nutzt vor der Beurteilung des konkreten Falles die Gelegenheit, in einer Gesamtschau auf die von ihm im immunitätsrechtlichen Kontext entschiedenen Fälle zurückzublicken und zusammenzufassen126 . Gleichzeitig stellt er klar, dass im Sinne einer sichergestellten Vorhersehbarkeit, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Recht gute Gründe vorliegen müssen, um von einer vorherigen Rechtsprechungslinie abzuweichen127 . Eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung hätte zudem eine Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer erfordert, die die entscheidenen Richter der vierten Sektion des EGMR nicht für notwendig erachteten und dies sehr ausführlich begründeten128 . Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des IGH im Fall Jurisdictional Immunities of States129 erachtete der EGMR die Einschränkungen des Rechts auf Zugang zu Gericht der Beschwerdeführer durch die Gewährung von Staatenimmunität an SaudiArabien als gerechtfertigt und erkannte keine Verletzung des Art. 6 I EMRK130 . Dies überzeugt im Ergebnis nicht. Wenn die Frage, ob von der bisherigen Rechtsprechungslinie des EGMR abgewichen werden sollte oder nicht, in einem Fall vor dem EGMR derartige Wichtigkeit erlangt, dass sich die Richter dazu verpflichtet fühlen, ihr in den Urteilsgründen einen eigenen Abschnitt zu widmen131 , sollte die Rechtssache an die Große Kammer abgegeben werden. Nach Art. 30 EMRK führt die Möglichkeit der Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs dazu, dass die Kammer die Sache jederzeit an die Große Kammer abgeben kann, soweit keine Partei diesem Vorgehen 125
EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones, Mitchell u. a. vs. UK, a. a. O., § 166 f. EGMR, Urteil vom 14. 01. 2014, Jones, Mitchell u. a. vs. UK, a. a. O., § 190. 127 EGMR, a. a. O., § 194. 128 EGMR, a. a. O., § 195. 129 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99. 130 EGMR, a. a. O., § 197. 131 hier: EGMR, a. a. O., §§ 193–195. 126
134
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
widerspricht. Die Große Kammer sorgt für die Fortbildung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung des EGMR; Leitentscheidungen mit grundsätzlicher Bedeutung oder möglicher Divergenz mit früheren Urteilen fällt sie132 . Das Urteil Al-Adsani ist zum Zeitpunkt der Entscheidung im Fall Jones bereits dreizehn Jahre alt; inzwischen hatte der IGH hierzu entschieden und es gab signifikante Entwicklungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur und in der Rechtsprechung, sodass auch Richter Bianku in seiner dem Urteil im Ergebnis zustimmenden Meinung133 darauf ausdrücklich hinweist, dass eine Abgabe an die Große Kammer dringend geboten gewesen wäre134 . Obwohl die Beschwerdeführer hierauf mehrfach hinwiesen und der Gerichtshof diesen Aspekt sogar direkt aufnahm135 fehlen in der Entscheidung weiterhin Ausführungen zum möglichen Erfordernis alternativer Rechtsschutzforen. Die Kammer beschränkt sich auf die formelhafte Wiederholung der Voraussetzungen eines Eingriffs und der Rechtfertigung in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK unter Beachtung der dem Völkerrecht entstammenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, ohne im Einzelfall zu eruieren, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer tatsächlich gerechtfertigt war. Auch eine Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht mangels alternativer, oder für die Beschwerdeführer ggf. nicht ersichtlicher alternativer Rechtsschutzforen hat der EGMR nicht thematisiert. Da der EGMR zudem verkennt136 , dass die Frage der Gewährung von Immunität ratione materiae an niederrangige Staatsbedienstete vor Zivilgerichten ihm erstmals vorlag und, ohne dies hier im Detail ausführen zu können, in diesem Zusammenhang zu keiner differenzierten, sachgerechten Lösung gelangt, bleibt der Eindruck, dass eine weitere Chance der Weiterentwicklung des Rechts auf Zugang zu Gericht im Konflikt mit der Staatenimmunität vertan wurde. d) Die Entscheidung der Kleinen Kammer im Fall Nait-Liman Der tunesische Beschwerdeführer Nait-Liman lebte in Italien, als er dort festgenommen, nach Tunesien gebracht und nach eigenen Angaben schwer misshandelt und gefoltert wurde. Er flüchtete in die Schweiz, wo ihm Asyl gewährt wurde. Mit seiner in der Schweiz anhängig gemachten zivilrechtlichen Klage gegen den damals zuständigen Innenminister Tunesiens und gegen den Staat Tunesien suchte er Entschädigung für die erlittenen physischen und psychischen Verletzungen. Die Schweizer Gerichte ließen diese Klage nicht zu, da die Folterhandlungen im Ausland stattgefunden hatten und die Beteiligten und die Handlungen keine ausreichende Verbindung zur Schweiz (Nexus) aufwiesen.
132
Albrecht in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 30, Rn. 1 ff. EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones and others vs. UK, Rs. 34356/06 und 40528/06, concurring opinion of Judge Bianku, S. 61. 134 Die Abgabe an die Große Kammer hätte sich aus einem weiteren Grund empfohlen, da erstmals darüber entschieden wurde, ob Staatsbedienstete einen Anspruch auf Immunität im Falle von Foltervorwürfen vor Zivilgerichten haben; Hierauf weist (in anderem Kontext) auch der abweichende Richter Kalaydjieva hin, vgl. EGMR, a. a. O., S. 62 f. 135 EGMR, a. a. O., § 193. 136 Es könnte der Eindruck entstehen, dass er die neue Dimension der Fragestellung erkennt, wenn er ausführt, dass sich das Recht „in a state of flux“ befindet. Diese Formulierung enstammt allerdings wortwörtlich den Entscheidungsgründen des House of Lords zu demselben Sachverhalt, sodass nicht feststeht, ob der EGMR sich der Tragweite dieser Formulierung bewusst war. 133
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
135
2016 urteilte die Kammer des EGMR über den Fall137 und kam zu dem Ergebnis, dass Art. 6 I EMRK durch die Schweiz nicht verletzt worden sei und die Schweiz auch nicht verpflichtet gewesen sei, mangels Alternativen dem Beschwerdeführer ein Forum zu eröffnen, in dem er seine zivilrechtlichen Ansprüche gegen einen Drittstaat hätte geltend machen können. Die Entscheidung fiel recht knapp mit 4:3 Stimmen aus. Die abweichenden Richter warfen der (knappen) Mehrheit des Gerichts vor, dass sie das Folterverbot als ius cogens mit dieser Entscheidung nicht zu seiner Durchsetzung verhelfen würden und der Beschwerdeführer nun überhaupt keine Möglichkeit habe, seine Ansprüche geltend zu machen (denial of justice), da ihm in Tunesien weiterhin Verfolgung und Folter drohe, sodass er dort den Rechtsweg nicht ohne Gefahr für seine Gesundheit und Freiheit verfolgen könnte138 . Die abweichenden Richter verwiesen somit wiederum auf die besondere Stellung des Folterverbots als ius cogens, welchem im Rahmen der Interessenabwägung eine überragende Stellung hätte eingeräumt werden müssen und unterstrichen die Folgen der ablehnenden Entscheidung der Mehrheit. e) Die Entscheidung der Großen Kammer im Fall Nait-Liman Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde der Fall nach Art. 43 EMRK an die Große Kammer abgegeben. Mit Urteil vom 18. März 2018139 entschied die Große Kammer überraschend deutlich mit 15:2 Stimmen, dass die Schweiz das Recht auf Zugang zu Gericht des Beschwerdeführers nicht verletzt habe. Die Schweiz sei nicht verpflichtet gewesen, dem Beschwerdeführer als ausländisches Opfer von Folterhandlungen in einem Drittstaat ein Forum zu eröffnen, welches ihm vor Schweizer Gerichten die Geltendmachung seiner zivilrechtlichen Ansprüche ermöglicht hätte. Die Begründung dieser Entscheidung fällt sehr umfangreich aus. Der EGMR betont an verschiedenen Stellen, dass er sich der besonderen Stellung des Folterverbots als ius cogens bewusst sei und Folteropfer grundsätzlich einen Anspruch auf ein Gerichtsverfahren haben müssen, um mögliche Entschädigungsansprüche durchzusetzen140 . Doch sei hierneben das Interesse des beklagten Staates zu berücksichtigen, die Effizienz seines Justizsystems und die Effektivität seiner gerichtlichen Entscheidungen zu gewährleisten (legitime Interessen) und forum shopping zu vermeiden, da ein solches Verfahren, einmal eröffnet, sicherlich weitere ähnliche Schadensersatzklagen anziehen würde141 . Im Ergebnis spricht der EGMR der Schweiz einen sehr großen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu. Art. 6 I EMRK sei somit aufgrund des legitimes Ziels und der berechtigten Interessen in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt und nicht verletzt worden. Der EGMR kommt zu diesem Ergebnis, nachdem er umfangreich zunächst die UNFolterkonvention und die Praxis der Staaten des Europarats analysiert hat. Er fragt hierbei (erstmals), ob es etwas wie eine „universale Gerichtsbarkeit“ in Zivilsachen (universal civil jurisdiction) geben könnte142 und stellt dieses Konzept dem „forum of necessity“137 138 139 140 141 142
EGMR, Urteil vom 21. 06. 2016, Kleine Kammer, Nait-Liman vs. Switzerland, Rs. 51357/07. Abweichende Ansicht der Richter Lemmens, Karakas, Vucinic und Kuris, EGMR, a. a. O. EGMR, Urteil vom 18. 03. 2018, Nait-Liman vs. Switzerland, Rs. 51357/07. EGMR, a. a. O., Rz. 96 ff.; 218. EGMR, a. a. O., Rz. 125. EGMR, a. a. O., Rz. 68 ff.
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Grundsatz (forum necessitatis) gegenüber143 . Der EGMR prüft sodann, ob angesichts der Schwere des Vorwurfs – Verstoß gegen das Folterverbot – Staaten grundsätzlich verpflichtet sein könnten, auch ohne Verbindung (Nexus) zum Forumstaat Gerichtsbarkeit für zivilrechtliche Schadensersatzklagen zu bejahen, um den Folteropfern überhaupt einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre Ansprüche geltend machen können. Nach Auswertung der Staatenpraxis und des einschlägigen geschriebenen Völkerrechts kommt er zu dem Zwischenergebnis, dass das derzeit geltende Völkerrecht einen Staat hierzu nicht verpflichtet. Von den 39 Mitgliedstaaten des Europarats, deren Rechtssysteme der EGMR untersuchte, sah nur das der Niederlande eine universale Gerichtsbarkeit in Zivilsachen vor. Immerhin 11 Europäische Staaten anerkennen ein forum necessitatis (auch, wenn es nicht immer so genannt wird), entweder in Form von geschriebenen Recht oder als Gewohnheitsrecht. All diese Staaten verlangten allerdings, dass zwei Bedingungen erfüllt sind, nämlich die de facto- oder de iure-Unmöglichkeit, das Verfahren vor einem Gericht eines anderen Staates zu führen und die Nähe (Nexus) zwischen dem Streit und dem Staat, in dem das Verfahren geführt wird (so auch die Schweiz). Auch Art. 14 der UN-Folterkonvention sei zwar (auch geographisch) weit auszulegen, führe aber nicht zu einer entsprechenden Verpflichtung der Schweiz, die nationale Gerichtsbarkeit für Klagen wie die des Beschwerdeführers zu öffnen. Eine „Notzuständigkei“ Schweizer Gerichte sei daher mangels völkerrechtlicher Verträge oder entsprechender Übung nicht gegeben. Mangels dieser völkerrechtlichen Verpflichtung habe die Schweiz einen weiten Beurteilungsspielraum und das Recht auf Zugang zu Gericht des Beschwerdeführers sei rechtmäßig eingeschränkt worden. Interessant ist, dass der EGMR in Form von „Vorbemerkungen“144 nicht nur betont, um was für eine besondere Verpflichtung es sich beim Folterverbot handelt, sondern weiterhin Ausführungen zum vom EGMR vertretenen Konfliktverständnis macht. So handelt es sich nach Ansicht des EGMR gar nicht um einen klassischen Immunitätsfall, da die Frage der Staatenimmunität erst relevant wird, wenn Gerichtsbarkeit einmal begründet wurde. Interessant ist weiterhin, dass der EGMR unter Berücksichtigung der „dynamic nature of this area“145 Raum für weitere Entwicklungen aufzeigt und die Mitgliedstaaten einlädt bzw. sogar auffordert, völkerrechtliche Entwicklungen in diesem Gebiet zu berücksichtigen und in ihr nationales Rechtssystem zu implementieren, um zukünftig zu verhindern, dass derartige Ansprüche mangels eines gerichtlichen Forums weder geltend gemacht noch durchgesetzt werden können146 . Das entsprechende Handwerkszeug, also die aufkeimenden völkerrechtlichen Entwicklungen hatte der EGMR zuvor mit seinen Ausführungen zur universalen Gerichtsbarkeit in Zivilsachen und zum forum necessitatis den Staaten (in Form der opinio iuris) bereits an die Hand gegeben. Das Verfahren bekam viel Aufmerksamkeit, zahlreiche Menschenrechtsorganisationen machten hierzu Eingaben. Es erging nicht einstimmig. Richter Wojtycek war der Ansicht,
143
EGMR, a. a. O., Rz. 84 ff. EGMR, a. a. O., Rz. 96. 145 EGMR, a. a. O., Rz. 220. 146 Der EGMR lud die Mitgliedstaaten ein, „to take account in their legal orders of any developments facilitating effective implementation of the right to compesation for acts of torture“, EGMR, a. a. O., Rz. 220. 144
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
137
dass die Beschwerde bereits unzulässig war. Richter Dedov und Serghides147 widersprachen der Entscheidungsbegründung. Die Entscheidung steht etwas abseits zu den zuvor vorgestellten Entscheidungen in den Fällen Al-Adsani und Jones, da der EGMR vorliegend explizit betont, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Immunitätsfall handelt. Ein Konflikt mit dem ius cogens und der Staatenimmunität wird nicht mehr angenommen. Vielmehr wird die Staatenimmunität explizit ausgeklammert, da die Eröffnung eines Gerichtszugangs bereits aus anderen Gründen nicht gegeben war. Dies ist die Besonderheit des vorliegenden Falles. Das Schweizer Recht verlangte einen ausreichenden Nexus um den Fall vor den nationalen Gerichten zu verhandeln, sodass sich Tunesien gar nicht auf Staatenimmunität berufen musste. Es ist auch insofern bemerkenswert, als der EGMR erstmals nicht nur die Konsequenzen der aktuellen Völkerrechtslage darstellt und verurteilt, sondern darüberhinaus auch noch die völkerrechtlichen Mittel aufzeigt, die die Staaten durch Übung und Praxis ausbauen könnten, um diese Situation aufzulösen. Während der EGMR darlegt, dass ihm quasi die Hände gebunden sind, den Fall mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sachgerecht zu entscheiden, ruft er gleichzeitig die Mitgliedstaaten auf, hier Abhilfe zu schaffen inklusive einer „Anregung“, wie diese Abhilfe aussehen könnte. Es ist jedoch nicht unbedingt zielführend, die Verantwortung allein den Staaten aufzuerlegen. Diese werden durch die Entscheidung des EGMR in ihrer Haltung bestätigt, dass sie derzeit nicht verpflichtet sind, dem Beschwerdeführer und anderen Klägern ein Forum zur Durchsetzung ihrer Ansprüche zu eröffnen, Handlungsbedarf also nicht besteht. Es bleibt abzuwarten, welche Wellen diese Entscheidung in der internationalen Übung und Praxis der Mitgliedstaaten schlägt. f) Zwischenergebnis Das ius cogens hilft, selbst wenn eine (quasi-)hierarchische Struktur des Völkerrechts angenommen wird, bei der Auflösung des vorliegenden Normkonflikts nicht weiter. Bei (möglichen) Verstößen gegen das ius cogens wird zwar auf Ebene der nationalen Jurisdiktionen zunehmend hinterfragt148 , ob sich der Staat noch zu Recht auf Immunität berufen darf oder diese bei derart schweren Menschenrechtsverstößen zurücktreten müsse (human rights or ius cogens exception). Diese Übung hat sich allerdings noch nicht zu allgemein verbindlichem Völkergewohnheitsrecht verdichten können. Wichtige Beispiele der Anwendung der normenhierarchischen Konfliktlösungs- bzw. Vermeidungsmethode durch den EGMR sind die Fälle Al-Adsani149 und Jones150 . Die Theorie der Normenhierarchie setzt einen Normenkonflikt voraus, den Vertreter dieser Theorie nicht prüfen und spezifizieren. Einen direkten Normenkonflikt zwischen der völkergewohnheitsrechtlichen Staatenimmunität und dem Folterverbot als ius cogens gibt es nicht. Die Gewährung von Immunität an einen Staat durch einen anderen Staat stellt keine Folterhandlung dar und legitimiert sie auch nicht, sondern verhindert allein 147
Abweichende Ansichten der Richter Dedov und Serghides, EGMR, a. a. O. Siderman de Blake, Smith and Sampson (USA), Bouzari and Hashemi (Canada), Ferrini (Italy), Bucheron and Grosz (France), Al-Adsani (UK). 149 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 150 EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones, Mitchell and others vs. UK, Rs. 34356/06 und 40528/06. 148
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
die gerichtliche Durchsetzung von aus der Folter entstandenen Folgeansprüchen auf prozessualer Ebene. Die Konfliktlösung über die Annahme einer Normenhierarchie im Völkerrecht griffe in diesem Kontext nur durch, wenn dem ius cogens nicht nur ein materiellrechtlicher Gehalt zuzusprechen wäre, sondern hierüber hinaus einen „ancillary procedural“151 Gehalt aufweisen würde, demnach eine neben dem materiellen Gehalt bestehende prozessuale Verpflichtung der Staaten, im Fall von Foltervorwürfen gegenüber Staaten diesen ihre Staatenimmunität ausnahmsweise nicht zu gewähren, damit der betreffende Beschwerdeführer auf zivilrechtlichem Klageweg Schadensersatzansprüche u. ä. einfordern kann oder die betreffende Handlung strafrechtlich geahndet wird. Die Theorie der Normenhierarchie unterstellt, dass eine ius cogens-Norm neben der Eigenschaft als Verbotsnorm das Gebot beinhaltet, Verstöße gegen ius cogens anzuklagen, entweder vor Ziviloder vor (internationalen) Strafgerichten. Die Theorie setzt weiter voraus, dass auch dieser „ancillary procedural“ Gehalt der ius cogens-Norm zum zwingenden Völkerrecht zu rechnen ist, da er sich nur so gegen „einfaches“ Völkerrecht durchsetzen könnte. Dieser recht konstruierte und wohl durch menschenrechtliche Erwägungen motivierte Ausnahme von der völkerrechtlichen Immunität ist rechtsquellentheoretisch auf eine gefestigte Staatenpraxis angewiesen, die auch nach Rechtsprechung des IGH zurzeit nicht existiert152 . 3. Normative Hierarchien und peremptory norms als Ausdruck eines internationalen Wertesystems Aus der im (kodifizierten) Völkerrecht angelegten Normenhierarchie wird auf die Existenz eines internationalen Wertesystems geschlossen153 . Fraglich ist, ob diese Hierarchie auf ius cogens-Normen limitiert ist, oder auch andere Normen unter diesen Ansatz zu subsumieren sind. Es gibt Bestrebungen, auch außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 53 WVK (oder in extensiver Auslegung dieser Regelung) Normen die Eigenschaft zuzusprechen, sich im Falle eines Konflikts mit einer anderen („ordinary“) Norm durchzusetzen154 , ohne dass diese besondere Norm dem ius cogens zuzuordnen wäre155 bzw. Menschenrechte mit ius cogens-Charakter auszustatten156 . Dieser Ansatz ist insofern interessant, als er nicht auf die Rechtsnatur der Norm, gegen die durch einen Staat möglicherweise verstoßen wurde (Folterverbot), abstellt, sondern auf die Rechtsregel, die im direkten Konflikt mit der völkerrechtlichen Immunität auftritt, hier also dem Recht auf Zugang zu Gericht. Allerdings lassen die Autoren dieses Ansatzes im Hinblick auf Herleitung und normenhierarchische Konsequenzen des Rechtscharakters als ius cogens-Menschenrecht bzw. als peremptory157 Menschenrecht einige Fragen offen und sind selbst noch nicht 151 Jones vs. Ministry of Interior Al-Mamlaka Al-Arabyia (the Kingdom of Saudi Arabia), UKHL 2006, 2 WLR 1426, Opinion of Lord Hoffmann, § 45. 152 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy), Appl. of 23. 12. 2008, s. o. 153 Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 14. 154 Vidmar, a. a. O., S. 13. 155 Beispiel einer höherrangigen Norm ohne ius cogens-Charakter ist wohl Art. 103 UN-Charta. 156 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 91. 157 Oftmals wird eine ius cogens-Norm begrifflich mit einer peremptory norm gleichgesetzt, vgl. nur: Orakhelashvili, State Immunity and Hierarchy of Norms: Why the House of Lords Got It Wrong, S. 963. In der vorliegenden Arbeit wird in diesem Zusammenhang zwischen ius cogens-Normen (,die freilich auch peremptory sind,) und sonstigen vorrangigen, über dem einfachen Völkerrecht stehenden Normen unterschieden.
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
139
von ihrer Geltung überzeugt158 . Es entspricht sicherlich nicht allgemeiner Übung, Menschenrechten im Konfliktfall (die Wirkung von) ius cogens-Eigenschaften zuzuschreiben. Dem Recht auf Zugang zu Gericht werden Eigenschaften attestiert, die innerhalb einer normenhierachischen Betrachtung des Konfliktsfalls von Bedeutung (als „superior norm of international law“159 ) sein sollen. Das Recht auf Zugang zu Gericht sei hierbei, obwohl zunächst als prozessuale Garantie kreiert, auf dem Weg zum völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrecht. Seine Entwicklung und sein Hintergrund160 gehen diesem Ansatz nach weit über den rein konventionsrechtlichen Hintergrund hinaus. Die Tatsache, dass eine menschenrechtliche Norm den Status des Völkergewohnheitsrechts erlangt hat, soll für ihre effektive Durchsetzung bereits ausreichen. Es käme dann nicht mehr darauf an, ob die Norm als zwingende Norm des Völkerrechts (ius cogens) anerkannt ist161 , um sich als im jeweils einzeln zu betrachtenden Konfliktfall als peremptory norm durchzusetzen. Anders formuliert, geht dieser Ansatz davon aus, dass sich der Bedeutungsgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht derart erhöht haben könnte, dass aufgrund einer „Hierarchie materieller Natur“162 sich dieses Recht zukünftig gegen die völkergewohnheitsrechtlichen Immunitätsgrundsätze in bestimmten Fallkonstellationen durchsetzen wird. Der EGMR hat den Anwendungsbereich von Art. 6 I EMRK derart weit gefasst, dass es überhaupt erst zu einem Konflikt mit den völkerrechtlichen Immunitätsgrundsätzen kommen konnte. Es wäre nur konsequent, wenn der EGMR in ständiger Erweiterung des Schutzniveaus der Konventionsrechte die völkerrechtlichen Immunitäten in bestimmten Situationen zurücktreten lassen würde. Schon lange gibt es Überlegungen, dass bestimmte völkerrechtliche Verträge wegen ihrer Ziel- und Zweckausrichtung anders („distinctive“163 ) behandelt werden müssten und die klassischen Auslegungsregelungen der Wiener Vertragsrechtskonvention inadäquat und wenig passend seien; zu diesen besonderen Verträgen zählen v. a. Verträge zum Schutz der Menschenrechte. Der EGMR betont in diesem Zusammenhang regelmäßig die besondere Natur der EMRK und misst ihr jedenfalls konstitutionelles Gewicht bei.
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Reinisch/Weber, a. a. O.; Vidmar, a. a. O. Robert, The Jurisdictional Immunities of International Organizations, S. 1450, der hierunter u. a. das Recht auf ein faires Verfahren subsumiert. 160 Die Entwicklung des Rechts auf Zugang zu Gericht hängt eng mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Verbot des denial of justice zusammen. Der Anwendungsbereich des Verbots des Denial of Justice ist ein spezieller. Es greift gegenüber Ausländern, die auf (für sie) fremdem Territorium geschädigt wurden und nunmehr selbst Schadensersatzansprüche o. ä. geltend machen. Hierfür muss ihnen Zugang zur nationalen Gerichtsbarkeit gewährt werden. Anspruchsgegner kann nur der Staat sein, auf dessen Territorium die Verletzungshandlung stattgefunden hat. Hierzu auch Francioni, The Right to Access to Court under Customary International Law, S. 9. 161 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 88. 162 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 87. 163 Craven, Legal Differentiation and the Concept of the Human Rights Treaty in International Law, S. 491 m. w. N. und Beispielen aus der internationalen Rechtsprechung. 159
140
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
a) Die besondere Natur der EMRK und ihr konstitutionelles Gewicht Der EGMR betont seit jeher, dass die Konvention als Vertrag zum Schutze der Menschenrechte einen besonderen Charakter habe, der der Beachtung der einschlägigen Völkerrechtssätze gegenüberstehe: „Mindful of the Convention’s special character as a human rights treaty, it must also take into account any relevant rules of international law(. . .).“164
Ohne das allgemeine Völkerrecht gäbe es kein regionales Menschenrechtsschutzinstrument wie das der EMRK. Umgekehrt trägt dieses System zur Entwicklung des allgemeinen Völkerrechts in nicht unerheblicher Weise bei. Das Verhältnis zwischen dem regionalen Menschenrechtsschutz und dem allgemeinen Völkerrecht wird daher auch als symbiotisch, jedenfalls als einander gegenseitig bedingt beschrieben165 . Vorliegend soll kein allzu tiefgehender Einstieg in die Disskusion stattfinden, ob die EMRK und die Interpretationsmethodik des EGMR zur Konstitutionalisierung im Völkerrecht166 beitragen und welche Konsequenzen hieraus erwachsen. Vielmehr sollen die praktische Konsequenzen der Rechtsprechung, die der EMRK konstitutionelles Gewicht zuschreiben knapp bewertet werden. Vorliegend können aus der Eigenschaft als constitutional instrument einige methodische Rückschlüsse auf die Lösung der vorliegenden Konflikte gewonnen werden. Die Grundlage für die Anerkennung des konstitutionellen Gewichts der EMRK haben die Richter des EGMR selbst gelegt: „The ECHR represents a very distinct form of international instrument and – in many respects – its substance and process of application are more akin to those of national constitutions than to those of ‚typical‘ international treaties.“167
Der EGMR hat die EMRK auch an anderer Stelle als constitutional instrument of European public order (ordre public) bezeichnet168 . Andere, u. a. der Generalsekretär des Europarats Jagland kritisieren diese Tendenz als wenig hilfreich und undefiniert169 . Diese pauschale Zurückweisung weist auf eine der Konstitutionalisierungsthese immanente Problematik hin: Die Definition einer „Verfassung“ folgt keiner einheitlichen Linie; beispielsweise ist der Unterschied zwischen einer (europäischen) Menschenrechtsverfassung (als Teilkonstitutionialisierung) und einer Verrechtlichung bzw. Justiziabilisierung eines wesentlichen völkerrechtlichen Teilgebiets ohne Weiteres nicht ersichtlich170 . 164
EGMR, Urteil vom 18. 12. 1996, Loizidou vs. Turkei, Rs. 15318/89, § 43. Wildhaber, The European Convention on Human Rights and International Law, S. 230; McInerney-Lankford, Fragmentation of International Law – Redux: The Case of Strasbourg, S. 630. 166 Hierzu: Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. 167 EGMR, Urteil vom 12. 5. 2005, Öcalan vs. Türkei, Rs. 46221/99, Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Lech Garlicki, § 3. 168 EGMR, Urteil vom 23. 3. 1995, Loizidou vs. Türkei Rs. 15318/89, § 75; EGMR, Urteil vom 7. 7. 2011, Al-Skeini vs UK, Rs. 55721/07, § 141. 169 Contribution of the Secretary General of the Council of Europe to the Preparation of the Interlaken Ministerial Conference, 18 December 2009, SG/Inf(2009)20, § 28; zum Hintergrund der Deklaration von Interlaken und dieser Äußerungen: Mowbray, The Interlaken Declaration – The Beginning of a New Era for the ECHR?, S. 523. 170 Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 13. 165
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
141
Die EMRK weist dennoch Eigenschaften auf, die eher nationalen Verfassungstexten zugeschrieben werden als völkerrechtlichen Verträgen. Sie besitzt ein hohes Maß an Legitimation, auch im Hinblick auf die Rechtsbindung der Mitgliedstaaten171 . Die nationalen Verfassungsgerichte und der EGMR weisen im Hinblick auf ihre Interpretationsmethodik gemeinsame Merkmale auf172 , wie etwa die evolutiven, dynamischen Auslegungsansätze. Bedingt durch die Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe173 , die EMRK und Verfassungstexten ebenfalls gemein sind, erfolgt eine ständige, dynamische Weiterentwicklung und Anpassung an die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Der EGMR anerkennt weiterhin in ständiger Rechtsprechung positive Schutzpflichten der Mitgliedstaaten174 , die der klassischen Abwehrfunktion von Menschenrechten zur Durchsetzung verhilft und von dem Ziel der Konvention geleitet sind, die „Ideale und Werte einer demokratischen Gesellschaft zu fördern“175 . Die Gültigkeit der Konvention ist dem Grunde nach unbeschränkt, die Kündigungsmöglichkeit des Art. 58 EMRK entlässt die Mitgliedstaaten nicht unmittelbar aus ihrer menschenrechtlichen Verantwortung, sondern sieht im Gegenteil eine fünfjährige Übergangszeit vor176 . Auch die neue Gutachtertätigkeit des EGMR führt im Rahmen der Erstellung sog. advisory opinions177 zu einer Stärkung seiner konstitutionellen Ausrichtung. Die EMRK besitzt durch ihre Eigenschaft als Konvention zum Schutze der Menschenrechte konstitutionelles Gewicht. Sie weist hierbei die den Verfassungen typischen Eigenschaften auf, wie etwa das hohe Maß an Legitimation oder die evolutiv-dynamische Auslegung ihres (materiell-rechtlichen) Inhalts. Auch der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung den besonderen Charakter der EMRK. b) Erga omnes-Normen als peremtory norms Das Recht auf Zugang zu Gericht findet sich nicht nur in der EMRK, sondern ebenso in zahlreichen nationalen Verfassungstexten178 . Es ist ein Trend zu einer immer detailreicheren Berücksichtigung des Rechts auf Zugang zu Gericht in den nationalen Verfassungstexten auszumachen, der konkret mit einer Quote von 86% aller weltweit untersuchten 171 Selbst wenn die EMRK beispielsweise in Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes innehat, sind die Mitgliedstaaten (im Speziellen die nationalen Gerichte) zu einer konventionsfreundlichen Auslegung später erlassener Gesetze verpflichtet, vgl. in Deutschland: BVerfGE 74, 358 (370). 172 Grewe, Vergleich zwischen den Interpretationsmethoden europäischer Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 459. 173 Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, Especially of the European Convention on Human Rights, S. 12. 174 Grundlegend: EGMR, Urteil vom 13. 6. 1879, Marckx vs. Belgien, Rs. 6833/74, weitere Beispiele in: Frowein, Die evolutive Auslegung der EMRK, S. 6 ff. 175 EGMR, Urteil vom Mamtkulov vs. Türkei, Rs. § 93. 176 Art. 58 I EMRK gestattet einem Mitgliedstaat die Kündigung frühestens fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der EMRK für diesen Vertragsstaat. Nach Art. 58 II EMRK wird der Mitgliedsstaat für die Zeit des Wirksamwerdens seiner Kündigung von den aus der Konvention erwachsenen Pflichten nicht befreit. 177 Hierzu unter I. 3. in diesem Kapitel. 178 Vgl. zu zahlreichen Beispielen aus nationalen Verfassungen die rechtsvergleichende Studie über sämtliche (damals) 25 Mitgliedstaaten der EU und ihren Umgang mit dem Recht Access to Justice: Storskrubb/Ziller, Access to Justice in European Comparative Law, S. 187.
142
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Verfassungen beziffert werden kann und die elfthäufigste Regelung in einer nationalen Verfassung darstellt179 . Das Recht auf Zugang zu Gericht stellt als wichtiger Bestandteil einer nationalen Verfassung einen aktuellen Trend dar, der verschiedene rechtswissenschaftliche und sozioökonomische Diskussionen sowie praktische und historische Erfahrungen vereint180 . Bei dem Recht auf Zugang zu Gericht könnte es sich daher auch um eine Verpflichtung erga omnes handeln, welche aufgrund dieser Eigenschaft normenhierarchisch Vorrang beanspruchen könnte. Erga omnes-Verpflichtungen wurden das erste Mal im Barcelona Traction-Fall des IGH erwähnt und charakterisiert. Sie stellen keine neue Rechtsquelle dar181 . Ihre Wirkung erklärt sich vielmehr aufgrund ihres Regelungsgehalts gerichtet auf den Erhalt, Schutz oder die Durchsetzung eines internationalen Interesses (materielle Definition) bzw. in struktureller Definition wegen ihrer besonderen Erfüllungsstruktur – was meint, dass sich die Verpflichtung ihrer Erfüllung nicht in bilaterale Beziehungen aufspalten lässt, sondern unabhängig von einem Austauschverhältnis (Synallagma) besteht182 . „[A]n essential distinction should be drawn between the obligation of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes. Such obligations derive, for example, (. . .) from the principles and rules concerning basic rights of the human person, including protection from slavery and racial discrimination. Some of the corresponding rights of protection have entered into the body of general international law (. . .) others are conferred by international instruments of a universal or quasi-universal character“183 .
Tzevelekos schlägt vor, erga omnes-Menschenrechte zu der Kategorie der peremtory norms (im weiten Sinne, außerhalb des Anwendungsbereichs von ius cogens) zu zählen184 , da diese substantielle moralische Werte der Gemeinschaft vermitteln (Normen mit besonderem „moral weight“185 ). Der Ansatz, (bestimmten) erga omnes-Normen eine normative Überlegenheit zuzusprechen, ist nicht mit dem Ansatz einer normenhierarchischen Vorrangstellung von ius cogens vergleichbar. Erga omnes-Normen sind nicht absolut und können derogiert werden. Daher können sie auch nicht dieselben Effekte auslösen wie eine ius cogens-Norm, etwa die Nichtigkeit der gegen die ius cogens-Norm verstoßende Norm. Erga omnes-Normen sind dennoch in der Lage, die Priorität der Umsetzung ihres Normgehalts zu beanspruchen und zwar in der Weise, dass sie im Falle eines Konflikts mit einer nicht erga omnes geltenden Verpflichtung einen Anwendungsvorrang beanspruchen, ohne der konfligierenden Norm ihren materiellen Gehalt zu nehmen186 .
179
Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2053 f. Storskrubb/Ziller, Access to Justice in European Comparative Law, S. 178. 181 Shelton, Normative Hierarchy in International Law, S. 318. 182 Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 353, mit einer vertieften Befassung der Unterschiede dieser beiden Ansätze und einer dritten vermittelnden Ansicht in Kombination dieser beiden Ansätze und w. N. 183 Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Judgment,, I.C.J. Reports 1970, S. 3, Second Phase, 5. 2. 1970, §§ 33 f. 184 Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 642 f. 185 Tzevelekos, a. a. O., S. 635. 186 Tzevelekos, a. a. O., S. 643. 180
IV. Die Theorie der Normenhierarchie im Völkerrecht
143
Die ILC hat im Koskenniemi-Report demgegenüber eine recht zurückhaltende Position eingenommen. Sie erkennt ius cogens als materiell-rechtliche Schranke des Völkerrechts, wohingegen Verpflichtungen erga omnes lediglich den Anwendungsbereich einer Norm und die hieraus erwachsenen prozessualen Konsequenzen bestimmen: „[o]bligations erga omnes are different from Article 103 of the United Nations Charta and jus cogens. Whereas the latter are distinguished by their normative power – their power to override a conflicting norm – obligations erga omnes designate the scope of the relevant law, and the procedural consequences that follow from this (. . .). The erga omnes nature of an obligation (. . .) indicates no clear superiority of that obligation over other obligations. Although in practice norms recognized as having an erga omnes validity set up undoubteldly important obligations, this importance does not translate into a hierarchical superiority similar to that of Article 103 and jus cogens“187 .
Shelton widerspricht dieser Differenzierung: Der besondere Regelungsgehalt von erga omnes-Normen führe erst zu den spezifischen, umfassenden prozessualen Konsequenzen188 . Der Versuch, erga omnes-Verpflichtungen einen normenhierarchisch relevanten Kerngehalt zuzusprechen, scheitert jedoch bereits an der unsicheren Identifikation derart zu qualifizierender Verpflichtungen. Eine universale Identifikationsmethode gibt es nicht, was auch an der materiellen Verknüpfung von materiellem Recht mit Sekundärnormen liegt189 . Unterstellt man die Geltung erga omnes von Menschenrechten190 , so ist zudem immer noch nicht ersichtlich, welche Lösung im Falle eines Konflikts mit anderen erga omnes-Verpflichtungen gewählt werden sollte, die dann in dieser Hinsicht auf gleicher Stufe stehen. Trotz der nahezu universalen Anerkennung des Rechts auf Zugriff zu Gericht in den nationalen Verfassungstexten, kann nicht ohne Weiteres eine erga omnes-Wirkung angenommen werden. Weiterhin existiert aktuell keine allgemeine Hierarchie der Normen im Völkerrecht (außerhalb des Anwendungsbereichs von ius cogens und ggf. Art. 103 UN-Statut)191 , die erga omnes-Normen den Vorrang innerhalb eines Normenkonflikts einräumen würde. Das grundsätzliche Fehlen einer allgemeinen Normenhierarchie führt erst dazu, dass Staaten völkervertraglich bestimmten Vertragsnormen den Vorrang gegenüber allgemeinem Völkerrecht einräumen können (contracting-out)192 . Fehlen normative Anweisungen (des Vorrangs einer Norm vor einer anderen), so muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass auch vertragliche und völkergewohnheitsrechtliche Normen zunächst dieselbe Verbindlichkeit aufweisen und normenhierarchisch auf gleicher Stufe stehen. Zu diesem Ergebnis kam auch das Institute of International Law in einer Resolution von 1995193 unter der Überschrift „Relationship Between Treaty and Custom“: 187
Koskenniemi-Report, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, § 380. Shelton, Normative Hierarchy in International Law, S. 318: „(. . .) obligations erga omnes have specific and broad procedural consequences because of the substantive importance of the norms they enunciate.“ 189 Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 361. 190 So: Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 666, hinsichtlich der Konventionsrechte mit materiellem Gehalt. Der Autor erachtet das Recht auf Zugang zu Gericht darüberhinaus als typische erga omnes-Verpflichtung. 191 Pauwelyn, The role of Public International Law in the WTO, S. 536 f. 192 Pauwelyn, a. a. O., S. 537. 193 Resolution: Problems Arising from a Succession of Codification Conventions on a Particular Subject, Session of Lisbonne, 1995, First Commission, Rapporteur: Sir Ian Sinclair Conclusion 10 and 11. 188
144
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
„Treaty and Custom form distinct, interrelated sources of international law. A norm deriving from one of these two sources may have an impact upon the content and interpretation of norms deriving from the other source. In principle, however, each retains its seperate existence as a norm of treaty law or of customary law respectively (. . .) There is no a priori hierarchy between treaty and custom as sources of international law. (. . .)“194 .
Es besteht keine a priori Hierarchie zwischen verschiedenen völkervertraglichen und völkergewohnheitsrechtlichen Normen, solange diese nicht explizit angeordnet ist195 . 4. Zwischenergebnis Die Annahme von gegenüber „einfachem“ Völkerrecht vorrangigen Normen außerhalb des ius cogens überzeugt demnach nicht als Konfliktlösungsmethode für den vorliegenden Konflikt. Der Nachweis von menschenrechtlichen peremtory norms, die, obwohl sie nicht dem ius cogens zuzurechnen sind, sich im Falle eines Normenkonflikt durchsetzen sollen, ist derzeit nicht zu erbringen. Dieses Ergebnis wird derzeit auch nicht durch die besondere Ziel- und Zweckrichtung der EGMR als konstitutionelles Menschenrechtsschutzinstrument korrigiert. Die Annahme, dass es zurzeit keine Normenhierarchie im Völkerrecht gibt, hat verschiedene Vorteile. Zunächst beginnt die Behandlung des Konflikts (hier) zwischen Völkervertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht ergebnisoffen, weder die eine noch die andere Norm beanspruchen einen in principle-Vorrang196 . Dies liegt daran, dass völkervertragliche und völkergewohnheitsrechtliche Normen derselben Quelle entstammen (Staatenkonsens)197 . Klassische Derogationsregeln werden erst anwendbar, wenn dem Grunde nach Gleichrangigkeit besteht und lediglich in Ausnahme dieser Regel beispielsweise spezielleren Normen der Vorrang eingeräumt werden kann. Des Weiteren obliegt es der Entscheidung der Staaten, beispielsweise durch vertragliche Regelungen die Geltung von Normen des allgemeinen Völkerrechts auszuschließen (contracting-out, s. o.) bzw. allgemein die Vorrangfrage individuell für jeden Anwendungsfall zu regeln. Geschieht dies nicht, so ergeben sich allerdings – wie auch im vorliegenden Fall – Probleme bei der Konfliktbewältigung. Diese sind nicht mit der „Brechstange einer Normenhierarchie“198 zu lösen, die eine Einzelfallbetrachtung faktisch („a priori“) ausschließt und „das Gute wollend das Böse schaffen“199 könnte.
194 Resolution: Problems Arising from a Succession of Codification Conventions on a Particular Subject, Session of Lisbonne, 1995, First Commission, Rapporteur: Sir Ian Sinclair, Conclusion 10 and 11. 195 Pauwelyn, a. a. O., S. 538. 196 Wörtlich so in EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 56. 197 Pauwelyn, a. a. O., S. 536. 198 Klein, Menschenrechte und Ius Cogens, S. 155. 199 Klein, a. a. O., S. 155.
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation
145
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation 1. Lösung von Normkonflikten durch Auslegung und Interpretation? Im Rahmen einer harmonische Auslegung sollen die am Konflikt beteiligten normativen Teilrechtssysteme (Regime) zu ihrem normativen Umfeld in größtmöglicher Harmonie zueinander in Bezug gesetzt werden. Hierbei ist die Anwendung des Art. 31 III lit. c WVK im Rahmen der systemischen Integration zentraler Ausgangspunkt. Das Prinzip der systemischen Integration richtet sich v. a. an die Rechtsanwender, im vorliegenden Fall also an die Richter internationaler und nationaler Gerichtshöfe in ihrer Entscheidungsfindung und -begründung200 . Kelsen sieht in dem Vorgang der Auslegung und Interpretation keine zulässige Lösung eines Normenkonflikts, da die Auslegung von Rechtsnormen auf der Ebene der Rechtserkenntnis stattfinde, welche weder Rechtsnormen erzeugen noch deren Geltung aufheben könne201 . Damit revidiert er explizit seine in der „Reinen Rechtlehre“ (1960) formulierte Auffassung, Normenkonflikte können und müssen im Wege der Interpretation gelöst werden202 . Die Ansicht, Normkonflikte dürften nicht über Interpretation gelöst werden, ist inzwischen überholt. Sands spricht in diesem Zusammenhang von einer quasi-hermetischden Isolation der verschiedenen Rechtsgebiete (Regime) im Völkerrecht, die alle ihren speziellen Regeln und ihrer eigenen (institutionnellen) Organisation folgen203 . Er sieht in Art. 31 III lit. c WVK das einzige Werkzeug („basic tool“) zur Lösung von „crosssectoral conflicts“204 zwischen Gewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht. Auch Villiger spricht von großem Potential dieser Norm (und Art. 32 WVK) für die Zukunft der Rechtsprechung des EGMR205 . Der Koskenniemi-Report erkennt in der systemischen Integration und Art. 31 III lit. c WVK großes Potential zur Lösung von Normkonflikten. Nachdem die systemische Integration über lange Zeit in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft wohl vergessen worden war, reaktivierte sie der Koskenniemi-Report206 . Die ILC hat in ihrem Fragmentierungsreport im Besonderen auf den normativen Konflikt zwischen allgemeinen und speziellen Normen (ggf. aus verschiedenen Rechtsregimen) abgestellt und in diesem Zusammenhang die Regelung des Art. 31 III lit. c WVK als AntiFragmentierungstool neu bzw. wiederentdeckt207 . Art. 31 III lit. c WVK stellt als „Anti200
Pitea, Interpreting the ECHR in the Light of „Other“ International Instruments, S. 546. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 179, er spricht in diesem Zusammenhang von einer „irrigen Annahme“. 202 Kelsen, a. a. O. S. 179 und Fußnote 155. 203 Sands, Treaty, Custom and Cross-fertilization of International Law, S. 88. 204 Sands, a. a. O., S. 88. 205 Villiger, Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 324. 206 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006. 207 Das selbstgesteckte Ziel des Reports war nicht die Lösung der mit der materiell-rechtlichen Fragmentierung einhergehenden Normkonflikte, sondern eine „toolbox“ zur Verfügung zu stellen, mit der diese Konflikte in Zukunft angegangen werden können, Koskenniemi, a. a. O., § 20. Ansatz ist die juristische Methodik, die zur Lösung der Normkonflikte vollständig ausreiche: „legal technique [is] perfectly capable of resolving normative conflicts or overlaps by putting the rules and principles 201
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Fragmentierungs-Werkzeug“ einen Konfliktlösungsmechanismus zur Verfügung. Der Report geht davon aus, dass es sich hierbei um eine eigenständige Auslegungsmethode handele, die gerade im Hinblick auf die stetig zunehmenden Normkonfliktsituationen herangezogen werden solle, um (weiteren) Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken. 2. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK und die systemische Integration Das Prinzip der systemischen Integration verlangt, dass völkerrechtliche Verpflichtungen unter Bezugnahme ihres normativen Umfelds bzw. Systems interpretiert werden. Es stellt einen „Drehpunkt“ der Diskussion um die Fragmentierung des Völkerrechts dar208 . Von besonderem Interesse im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung ist der Umgang des EGMR mit Art. 31 III lit. c WVK. Das vorliegende Spannungsfeld liegt darin begründet, dass der EGMR seine eigenständige Auslegungssystematik anwendet und gleichzeitig versucht, die parallel, aber nicht immer kongruent verlaufenden Entwicklungen im Völkerrecht zu berücksichtigen. Die Methode der systematischen Integration ist nicht statisch, sondern folgt demselben evolutiv-dynamischen Ansatz, den auch der EGMR im Rahmen seiner Auslegung seit Jahrzehnten praktiziert209 . Das Prinzip der systemic intergration ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt, inhaltlich jedoch wenig erschlossen210 . Es basiert auf der Prämisse, dass völkerrechtliche Verträge der internationalen Rechtsordnung entstammen und sie deswegen in diesem Kontext ausgelegt und angewandt werden und immer in Bezug zu ihrer normativen Umgebung (System) gesetzt werden211 . Die Auslegung im normativen Kontext nach Art. 31 III lit. c WVK kann als Ausdruck des Prinzips der systemischen Integration verstanden werden. Sie besagt, dass bei jedweder völkerrechtlichen Vertragsauslegung jede andere relevante (zwischen den Parteien anwendbare) Norm des Völkerrechts hinzuzuziehen ist212 . Schwierigkeiten bereiten die oft unklaren, selbst stark auslegungsbedürftigen Formulierungen des Art. 31 III lit. c WVK, was zu dessen verminderter Anwendung im internationalen Kontext beigetragen haben dürfte. Kollidiert ein einschlägiger Völkerrechtssatz i. S. d. Art. 31 III lit. c WVK mit dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I 1 EMRK, so ist Art. 31 III lit. c WVK seinem Rechtsgedanken nach grundsätzlich einschlägig, um die Einhaltung sämtlicher völkerrechtlicher Verpflichtungen zu gewährleisten213 .
in a determinate relationship with each other“, Koskenniemi, a. a. O., § 410; hierzu auch Tzevelekos, The Use of Art. 31 (3) (c) VCLT in the Case Law of the ECtHR, S. 631, der hierin einen „VademekumCharakter“ des Reports erkennt. 208 Vranes, Völkerrechtsdogmatik als „self-contained discipline“?, S. 112. 209 Tzevelekos, The Use of Art. 31 (3) (c) of the VCLT in the Case Law of the ECtHR, S. 633. 210 Sands, Treaty, Custom and the Cross-fertilization of International Law, S. 95 spricht davon, dass es sich um eine neglected rule handele, die erst in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewinnt. 211 Pitea, Interpreting the ECHR in the Light of „Other“ International Instruments, S. 546. 212 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 92 m. w. N. 213 Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR, S. 760.
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation
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Art. 31 III lit. c WVK ermöglicht es, in weiter Auslegung sämtliche zwischen den Parteien einschlägige Völkerrechtssätze mit einzubeziehen, wobei keine vollständige Kongruenz gegeben sein muss. Eine Konfliktlösungsregel im Hinblick auf die (vorranige) Anwendung einer völkergewohnheitsrechtlichen gegenüber einer völkervertraglichen Norm hält die WVK nicht bereit. Vielmehr verweist sie auf die Mittel der Interpretation nach Art. 31 f. WVK. Der EGMR zieht Art. 31 III lit. c EGMR (als eines von wenigen Tribunalen) gerade im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen völkergewohnheitsrechtlichen Immunitäten und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK häufig heran. Art. 31 III lit. c WVK fordert keine „Harmonisierung“ mit den relevanten Regeln des Völkerrechts (mit dem Ziel der Kompatibilität der beiden Regelungen durch die restriktive (Nicht)Anwendung der einen Norm), sondern alleinig deren Beachtung im Rahmen der Auslegung214 . Art. 31 III lit. c WVK verlangt nicht, dass das Völkergewohnheitsrecht statt der vertraglichen Regelung angewandt wird, sondern der Vertrag weiterhin der Mittelpunkt der Auslegung bleibt215 . a) Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK Art. 31 III lit. c WVK verlangt unter der Überschrift „Allgemeine Auslegungsregel“, dass bei der Auslegung eines Vertrages „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ (applicable and relevant) zu berücksichtigen ist (to take into account)216 . Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind ihrer Natur nach bereits unbestimmt und selbst auslegungsbedürftig217 . aa) Begriff des „Einschlägigen Völkerrechtssatzes“ i. S. d. Art. 31 III lit. c WVK Die Formulierung „Einschlägiger Völkerrechtssatz“ ist derart weit gefasst, dass allgemeinhin davon ausgegangen wird, dass nicht nur allgemeine Rechtsgrundsätze und Völkergewohnheitsrecht i. S. d. Art. 38 IGH-Statut, sondern sämtliches völkerrechtliches Material mit erfasst wird218 , somit v.a auch andere völkerrechtliche Verträge.
214 In diese Richtung geht auch Orakhelashvili, State Immunity and Hierarchy of Norms: Why the House of Lords Got It Wrong, S. 958. 215 Sands, Treaty, Custom and Cross-fertilization of International Law, S. 102. 216 Soll das entscheidende Gericht das Völkergewohnheitsrecht „berücksichtigen“, so liegt dies wohl graduell zwischen to take into consideration und to apply, so: Sands, a. a. O., S. 103; diese Feststellung folgt allerdings keiner einheitlichen Rechtsprechungslinie. 217 So auch Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR; S. 757. 218 Breuer, a. a. O., S. 757; Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, S. 910 im Hinblick auf die Paralleldiskussion der Anwendung von Art. 31 III lit. c WVK durch die WTO-Organe; Thiele, Fragmentierung als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 24 („alle in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut genannten Quellen des Völkerrechts“).
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Dieser weite Anwendungsbereich wurde jüngst von der Völkerrechtskommission bestätigt219 . Als Untermauerung führte die ILC u. a. den Ölplattformen-Fall des IGH an220 . Der IGH ging hier erstmals im Jahre 2003 auf die besondere Bedeutung des Art. 31 III lit. c WVK bei der Konfliktlösung ein: „The application of the relevant rules of international law (. . .) thus forms an integral part of the task of interpretation entrusted to the Court“. An derselben Stelle bestätigte er den umfassenden Anwendungsbereich des Art. 31 III lit. c WVK221 , ohne hierbei jedoch konkrete Anwendungshinweise hinsichtlich der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „einschlägige Völkerrechtssätze“ für die Praxis zu formulieren. Nach Veröffentlichung des ILC-Reports222 dürfte die Frage des Anwendungsbereichs des Art. Art. 31 III lit. c WVK inzwischen im Sinne der (zuvor bereits) herrschenden Ansicht geklärt sein. bb) Bestimmung der Normadressaten des Art. 31 III lit. c WVK Die völkerrechtliche Norm muss relevant und applicable sein, was bedeutet, dass neben einem inhaltlichen Bezug zur Vertragsnorm, die ausgelegt werden soll, die „Anwendbarkeit“ des Völkerrechts, also die Bindung der verschiedenen, (am Verfahren) beteiligten Parteien an dieses Völkerrecht positiv festgestellt werden muss. Über die Formulierung „zwischen den Vertragsparteien“ besteht Uneinigkeit. Es ist unklar, ob unter Art. 31 III lit. c WVK „vollständige Kongruenz“ dahingehend zu verlangen ist, dass der einschlägige Völkerrechtsvertrag Verbindlichkeit für alle Vertragsstaaten des Hauptvertrages beansprucht; andere verlangen, dass nur die am Rechtsstreit Beteiligten an den völkerrechtlichen Rechtssatz gebunden sein müssen und setzen damit „Einschlägigkeit“ mit „Anwendbarkeit“ gleich223 . Als weitere Interpretationsmöglichkeit kommt in Betracht, zwar nicht die Bindung aller Staaten an eine oder beide Verträge zu verlangen, im Falle einer fehlen-
219 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, Conclusion No. 18 of the Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, 2006. 220 Oil Platforms (Islamic Republic of Iran vs. USA), Judgment, I.C.J. Reports 2003, S. 161, § 41 betreffend den bilateralen Freundschaftsvertrag zwischen Iran und den USA; auf diesen Fall verweisen auch der Koskenniemi-Report und Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 434. 221 I.C.J., a. a. O., dieses Ergebnis wurde mehrheitlich geteilt. Richter Buergenthal vertrat demgegenüber in seiner abweichenden Meinung eine wesentlich engere Sichtweise, Art. 31 III lit. c WVK sei nur auf solche Völkerrechtssätze anwendbar, die der jurisdiction des IGH unterliegen (Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht, letzteres allerdings nur insoweit, als es die Parteien explizit der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben). Nach Ansicht Buergenthals hätte der IGH bei der Auslegung des Freundschaftsvertrages zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten nicht auf das Gewaltverbot nach Art. 21 UN-Charta abstellen dürfen, was den Sinn und Zweck des Art. 31 III lit. c WVK konterkarieren würde. Hierzu genauer noch Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 26. 222 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006. 223 Breuer, a. a. O. mit entsprechenden Nachweisen beider Ansichten. Breuer verweist auch auf die dritte Auslegungsalternative, nach der nur Völkerrechtssätze in Betracht kommen, die entweder für alle Vertragsstaaten des „Hauptvertrages“ gelten, oder jedenfalls gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen können. Er weist diese Auslegung selbst als Art. 31 III lit. c WVK zu sehr einschränkend zurück.
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation
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den vertraglichen Bindung allerdings eine völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtung zu verlangen224 . Der EGMR verlangt nach ständiger Rechtsprechung nicht, dass alle Staaten Vertragspartner des betreffenden einschlägigen Völkerrechtssatzes sind225 . Der Koskenniemi-Report schlägt in seiner abschließenden Form eine vermittelnde Lösung vor, wenn er ausführt, dass eine Bezugnahme auf andere einschlägige Völkerrechtssätze jedenfalls dann in Betracht kommen könnte, „where they provide evidence of the common understanding of the parties as to the object and purpose of the treaty under interpretation“226 . Dies bedeutete zwar keine vertragliche Bindung aller Vertragsstaaten des auszulegenden Vertrages an den entsprechenden Völkerrechtssatz, allerdings eine inzidente bzw. stillschweigende227 Akzeptanz aller Staaten. cc) Das intertemporale Moment bei der Auslegung von Art. 31 III lit. c WVK Während Art. 31 III lit. a und lit. b WVK expressis verbis jede spätere Übereinkunft und Übung einbeziehen, fehlt diese Klarstellung in Art. 31 III lit. c WVK, sodass dem Wortlaut nach unklar ist, auf welchen Zeitpunkt bei der Bestimmung „einschlägiger Völkerrechtssätze“ abzustellen ist. Erfasst Art. 31 III lit. c WVK lediglich solche Völkerrechtssätze, die bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses des Hauptvertrages existierten (Wirkung ex tunc) oder auch solche, die jedenfalls zum Zeitpunkt des Rechtsstreites galten (ex nunc)? Die Intertemporalität wurde im Rahmen der Entstehung der WVK höchst kontrovers diskutiert. Den traveaux préparatoires ist zu entnehmen, dass der Vorschlag von Sir H. Waldock, der nur Verträge berücksichtigt wissen wollte, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits existierten, im Ergebnis keine Zustimmung fand228 . Weiterhin bildet Art. 31 III lit. c WVK geltendes Völkergewohnheitsrecht ab, welches ebenfalls einer evolutiven Entwicklung durch eine sich ändernde staatliche Übung unterworfen ist. b) Art. 31 III lit. c WVK als Diener zweier Herren? Während der Koskenniemi-Report vornehmlich auf die Funktion der systemischen Integration abstellt, weisen andere auf eine weitere Besonderheit der Anwendung des Art. 31 III lit. c WVK hin229 : Art. 31 III lit. c WVK stellt nicht nur eine Auslegungsregel dar, die – dem Prinzip der systemischen Integration entsprechend – das normative Umfeld zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit einbezieht, sondern hierüber hinaus Entwicklungen dieses normativen Kontextes berücksichtigt, die zeitlich nach Vertragsschluss entstanden sind (intertemporales Moment des Art. 31 III lit. c WVK). Wird bei der Berücksichtigung einschlägiger Völkerrechtssätze auch auf solche, die erst nach Vertragsschluss 224
Thiele, Fragmentation des Völkerrechts als Herausforderung der Staatengemeinschaft, S. 26. Bspw. EGMR, Urteil vom Rantsev, EGMR, Urteil vom 7. 1. 2010, Rantsev vs. Zypern und Russland, Rs. 25965/04. 226 Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, Rn. 261. 227 Breuer, a. a. O., S. 759. 228 Traveaux Préparatoires zur Vienna Convention on the Law of Treaties, YBILC 1964, Vol. II, S. 52. 229 Tzevelekos, The Use of Art. 31 (3) (c) of the VCLT in the Case Law of the ECtHR, S. 624. 225
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Geltung erlangten, abgestellt, so ist über die Auslegung nach Art. 31 III lit. c WVK eine über den ursprünglichen Parteiwillen hinausgehende Auslegung möglich. Es ist höchst umstritten, ob die Auslegungsmethodik des EGMR in diesem Zusammenhang Ausdruck des in den Art. 31–33 WVK kodifizierten Völkergewohnheitsrechts ist, oder vielmehr von dem Recht der Verträge aus der WVK abweicht und sich immer weiter entfernt – trotz der extensiven Zitierungen des Art. 31 III lit. c WVK, die der EGMR jedenfalls in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck bringt230 . Der ständige Rückgriff auf die allgemeinen Auslegungsregeln der WVK durch den EGMR in Form der formelhaften Wiederholung des Wortlauts der einschlägigen Regelungen der WVK könnte auch dafür sprechen, dass der EGMR diese Prinzipien nicht hinreichend berücksichtigt, sondern in seine eigene Auslegungssystematik integriert und verändert. Im Folgenden wird daher die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 31 III lit. c WVK dargestellt. 3. Die Auslegung der EMRK über Art. 31 III lit. c WVK a) Darstellung der Rechtspraxis des EGMR zu Art. 31 III lit. c WVK Der EGMR urteilt im Kontext internationaler Regime. Er nimmt hierbei eine symbiotische Beziehung zwischen dem allgemeinen Völkerrecht und dem speziellen Regime des Menschenrechtsschutzes der EMRK an. Den Bezug zum allgemeinen Völkerrecht stellt der EGMR über Art. 31 II lit. c WVK her. Die EMRK unterliegt als mulitlateraler, völkerrechtlicher Vertrag den Auslegungsregeln der WVK von 1969. Der EGMR bezieht sich in ständiger231 Rechtsprechung auf die WVK, im Besonderen auf Art. 31 III lit. c WVK. So führte er bereits 1975 im Urteil Golder aus: „The Court is prepared to consider, (. . .), that it should be guided by Articles 31 to 33 of the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of Treaties, (. . .), enunciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion (. . .)“232 .
Die WVK bildet geltendes Gewohnheitsrecht ab233 , die Inhalte der Art. 31–33 WVK waren auch vor Inkrafttreten der WVK als Völkergewohnheitsrecht bereits allgemein anerkannt234 . Inzwischen haben sämtliche Mitglieder des Europarats die WVK ratifiziert und umgesetzt. 230 Pitea, Interpreting the ECHR in the Light of „Other“ International Instruments, S. 547 f., nennt diese Thematik ein „unfinished book on whether the principles of interpretation used by the ECtHR are an expression of or a deviation from customary international law as codified by Articles 31–33 VCLT.“ 231 Villinger, Art. 31 and 32 of the VCLT in the Case-Law of the ECHR, S. 317, geht von einem all zu „spärlichen“ Gebrauch aus; andere betonen demgegenüber das besonders häufige Rekurrieren auf Art. 31 WVK durch den EGMR, so: Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 624. 232 Urteil des EGMR vom 21. 2. 1975, Golder vs. Großbritannien, Rn. 29. 233 Villiger, a. a. O., S. 317 m. w. N. 234 Vgl. EGMR Urteil Golder, a. a. O., Rn. 29 f., etwas unklar bei Letsas, EJIL 2010, S. 512; gem. Art. 4 WVK findet die Vertragsrechtskonvention grundsätzlich nur auf Verträge Anwendung, die nach Inkrafttreten der WVK abgeschlossen wurden, somit nicht auf die EMRK.
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation
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Neben dem bereits oben zitierten Fall Golder235 nahm der EGMR in weiteren prominenten Fällen zur Immunität von Staaten Bezug zu Art. 31 und 32 WVK, so etwa die Fälle Al-Adsani236 , Fogarty237 und McElhiney238 , die alle am 21. 11. 2001 entschieden wurden. Der Gerichtshof führte in allen drei Urteilen (nahezu wortgleich) aus, dass die Konvention nicht in einem „Vakuum“ interpretiert werden dürfe, sondern im Kontext von „any relevant rules of international law“, was bedeutet, dass die Konvention nicht auf ihren regionalen Geltungsraum beschränkt auszulegen ist, sondern als integraler Bestandteil des Völkerrechts unter Beachtung der allgemeinen Regelungen des Völkerrechts239 : „The Convention cannot be interpreted in a vacuum. The Court must be mindful of the Convention’s special character as a human rights treaty, and it must take the relevant rules of international law into account. The Convention should so far as possible be interpreted in harmony with other rules of international law of which it forms a part, including those relating to the grant of State immunity.“240/241 (. . .)
Der EGMR wendet (als einer von wenigen internationalen Gerichtshöfen) seit jeher Art. 31 III lit. c WVK im Rahmen der Auslegung der EMRK an. Hierbei geht er nicht davon aus, dass die Konvention im Verhältnis zum völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität eine Vorrangstellung beansprucht242 . Die Konvention soll so weit wie möglich im Einklang mit dem Völkerrecht interpretiert werden. Der EGMR geht jedenfalls theoretisch davon aus, dass es Situationen geben kann, in denen diese harmonische Interpretation nicht mehr möglich ist. Ob in diesen Fällen auch ein „a priori-Vorrang“ der Staatenimmunität angenommen werden muss, lässt er offen, betont jedoch, dass jedenfalls die Staatenimmunität völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und daher einen hohen Stellenwert einnimmt. b) Anwendung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK durch den EGMR im Kontext der Fragmentierungsdebatte Durch die Anwendung von Art. 31 III lit. c WVK verfolgt der EGMR augenscheinlich das Ziel einer harmonisierenden Auslegung243 im Hinblick auf die Auslegung von 235
EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK., Rs. 35763/97. 237 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97. 238 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. UK, Rs. 31253/96. 239 Als Bekenntnis des EGMR, dass die EMRK (weiterhin) Part des general corpus of international law bildet, so Villiger, Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 330. 240 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. Irland, Rs. 31253/96, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al Adsani vs. Großbritannien, Rs. 35763/97. 241 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. Großbritannien, Rs. 37112/97. 242 Die ILC geht in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter und kritisiert, dass der EGMR einen a priori-Vorrang der Staatenimmunität gegenüber dem Recht auf Zugang zu Gericht annimmt, so Koskenniemi, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, Rn. 162. 243 Caflisch, L’application du droit international général par la Cour Européenne des Droits de l’Homme, S. 638; andere Ansicht: Herdegen, Völkerrecht, § 49. Regionale Verträge zum Menschenrechtsschutz, Rn. 5, ist demgegenüber der Ansicht, dass es sich bei der Berücksichtigung des durch völkerrechtliche Verträge geprägten normativen Umfelds im Sinne aktueller Standards in Europa nicht um eine harmonisierende Auslegung nach Art. 31 III lit. c WVK handele, sondern um die „Einbeziehung dieser Standards als Element der europäischen Rechtswirklichkeit“. 236
152
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Art. 6 I EMRK und die völkerrechtlichen, internationalen Verpflichtungen. Diese Aussage steht im diametralen Gegensatz zum Vorwurf, der EGMR leiste einen nicht unerheblichen Beitrag zur Fragmentierung des Völkerrechts244 . Der EGMR zieht von allen internationalen/regionalen Gerichtshöfen Art. 31 III lit. c WVK am häufigsten heran245 . Seit seinem Urteil Golder246 stellt der EGMR bei der Auslegung der Konvention einen Bezug zum allgemeinen Völkerrecht her und fungiert damit als Vorbote bzw. Wegbereiter247 hinsichtlich der Einordnung des Art. 31 III lit. c WVK als „toolkit“ der systemischen Integration für die Entschärfung von negativen Diversifikationsund Fragmentierungseffekten248 . Der EGMR beurteilt die Reichweite der Konventionsrechte aus einer Betrachtung des (erweiterten) normativen Umfelds der Mitgliedstaaten heraus. Hiermit wird er rechtsvergleichend tätig249 . Unter Einbeziehung umfassender, internationaler Rechtspraxis wird ein europäischer Menschenrechtsstandard determiniert. Diese Methodik ist ergebnisorientiert motiviert und hat keine Rechtsgrundlage, weder im Konventionstext noch in Art. 31 III lit. c WVK, der nur solche völkerrechtlichen Verpflichtungen berücksichtigt, an denen alle Vertragsparteien beteiligt sind250 . Wie bereits gezeigt, findet Art. 31 III lit. c WVK durchaus auf die vorliegenden Konfliktkonstellationen Anwendung. Das Problem liegt woanders: Am Beispiel der Entscheidung Al-Adsani251 lässt sich gut nachweisen, dass der EGMR die Möglichkeiten des Art. 31 III lit. c WVK nicht ausschöpft. Der EGMR nutzt Art. 31 III lit. c WVK um die völkergewohnheitsrechtlich geltende Staatenimmunität in die Entscheidungsfindung zu integrieren. Sodann unterstellt er jedoch implizit, dass die Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht in abstracto, d. h. ohne überhaupt in die weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzusteigen, geeignet ist, den Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu rechtfertigen. Hiermit unterstellt er das Menschenrechtsregime der EMRK, dem er eigentlich einen besonderen Charakter zuschreibt, dem Regime 244 Guillaume, The proliferation of international judicial bodies: The outlook for the international legal order, Rede anlässlich des 6ten Committee der Generalversammlung vom 27. 10. 2000, abrufbar unter http://www.icj-cij.org/court/index.php?pr=85&pt=3&p1=1&p2=3&p3=1, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016. 245 Nach Sands, Treaty, Custom and Cross-fertilization of International Law, S. 95 sogar neben dem U.S.–Iran Claims Tribunal (in einer abweichenden Meinung) als einziger Gerichtshof; a. A. ist Letsas, Strasbourg’s Interpretive Ethic: Lessons for the International Lawyer, S. 513, der keine gehäufte Anwendung der Art. 31 ff. WVK durch den EGMR festzustellen vermag. Diese Aussage ist jedoch empirisch ganz unproblematisch zu widerlegen. Für einen umfassenden Überblick über die einschlägige Rechtsprechung: Forowicz, The Reception of International Law in the Case Law of the European Court of Human Rights – Harmonisation or Fragmentation of the European Legal Order?, S. 47 ff., im Hinblick auf die Staatenimmunität: S. 292 ff. 246 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70. 247 Pitea, Interpreting the ECHR in the Light of „Other“ International Instruments, S. 546. 248 Koskenniemi, Fragementation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, International Law Commission, A/CN.4/L.682 vom 13. 04. 2006. 249 Wofür ihm nach Ansicht von v. Ungern-Sternberg zunächst rein formal die Ermächtigungsgrundlage fehlt, v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 332, mit Verweis auf die südafrikanischer Verfassung, in der eine Ermächtigung explizit vorgesehen ist. 250 v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 333. 251 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97.
V. Konfliktlösung über (harmonische) Interpretation
153
des Völkergewohnheitsrechts, welches sich in dieser Konfliktkonstellation „in principle“ durchsetze252 : „It follows that measures taken by a High Contracting Party which reflect generally recognised rules of public international law on State immunity cannot in principle be regarded as imposing a disproportionate restriction on the right of access to a court as embodied in Article 6 § 1“.
Relativ unreflektiert und unkritisch lässt der EGMR das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK vor der Staatenimmunität zurücktreten. Der EGMR hat vorliegend Art. 31 III lit. c WVK ausschließlich dazu verwendet, die Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht in die Entscheidungsgründe einfließen zu lassen. Hierin liegt eine methodische Unzulänglichkeit, die verdeutlicht, dass der EGMR Art. 31 III lit. c WVK als Substitut für den eigentlich durchzuführenden Verhältnismäßigkeitstest heranzieht253 , was im Ergebnis keiner „harmonisierenden“ Interpretation entspricht. Die ständig praktizierte Auslegung der Konvention durch den EGMR unter Berücksichtigung weiteren Völkerrechts im normativen Umfeld der EMRK stellt jedoch einen Ansatzpunkt dar, der im Rahmen der Entwicklung einer eigenen Lösung des vorliegenden Konflikts wieder aufgegriffen werden wird. c) Zwischenergebnis Das Mittel der systemischen Integration ist in mehrerlei Hinsicht geeignet, einen Ansatzpunkt für die Lösung des vorliegenden Konflikts zwischen Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht bereit zu stellen. Zum einen greift der EGMR in ständiger Rechtsprechung auf Art. 31 III lit. c WVK zurück, so dass eine gewisse Konsistenz mit der bisherigen Rechtsprechung erreicht werden kann. Weiterhin entwickelt der EGMR über die evolutiv-dynamische Auslegung die Menschenrechte der Konvention stetig weiter und passt hierbei das Schutzniveau der EMRK den aktuellen gesellschaflichen Entwicklungen an254 . Das Mittel der Interpretation ist der Fortentwicklung der Menschenrechte und der Aufrechterhaltung eines entsprechenden Schutzniveaus auf europäischer Ebene255 bereits systemimmanent. In der derzeitigen Praxis werden die Möglichkeiten dieses Konfliktlösungsinstruments leider noch nicht ausgeschöpft. Der EGMR, so bewertet dies auch die ILC, geht derzeit bei der Beteiligung von Staatenimmunität von einer prinzipiellen Vorrangstellung der Staatenimmunität aus, ohne in eine differenzierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzusteigen. 4. Die presumption against conflict In der Völkerrechtswissenschaft hat sich die Annahme entwickelt, es gebe eine Vermutung gegen die Annahme eines Konflikts („presumption against conflict“): „In internationale law, there is thus a presumption in favor of continuity or against conflict (. . .)“256 . 252
EGMR, Al-Adsani, a. a. O., Rn. 56. Bzw. „missbraucht“ nach Ansicht von Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 667. 254 Hierzu im Detail im folgenden Kapitel. 255 Gemeint ist der Wirkungsradius des Europarats. 256 Pauwelyn, The Role of Public International Law in the WTO: How far can we go?, S. 542. 253
154
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Bei der presumption against conflict handelt es sich nicht um einen Konfliktlösungsmechanismus im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um eine Auslegungsregel, die im Rahmen der harmonischen Auslegung zu beachten ist. Die Vermutungsregel wirkt sich vornehmlich bei der Interpretation einer materiell-rechtlichen Norm aus und zielt auf eine restriktive Auslegung, die gemeinsame Schnittmengen verschiedener Rechtsregime möglichst vermeidet. Hieraus ergibt sich jedoch nicht die Pflicht, auf Kosten des materiellen Gehalts der auszulegenden Norm den Konflikt durch eine zu restriktive Auslegung zu vermeiden: „. . . the presumption against conflict is not, however, of an overriding character. It is one of the elements to be taken into account in determining the meaning of a treaty provision, but will not avail against clear language or clear evidence or intention“257 . „. . . the presumption against conflict is a presumption in favour of continuity, not a prohibition of change. It ought not to lead to a restrictive interpretation of the new, allegedly conflicting norm“258 .
Die Zitate zeigen, dass im Sinne einer „Kontinuität“ zunächst diejenige Auslegung gewählt werden sollte, die am wenigsten Konfliktpotential birgt, ohne die Auslegung an sich zu stark einzuschränken oder zu gefährden. Hieraus wird bereits ersichtlich, dass die presumption against conflict keine wesentlichen Auswirkungen auf die Auslegung völkerrechtlicher Verträge hat und erst recht kein Konfliktlösungsmechanismus darstellt, der für sich genommen den vorliegenden Konflikt lösen könnte. Vor die Klammer gezogen stellt die Vermutung gegen einen Konflikt jedoch eine wichtige Weichenstellung für die harmonische Auslegung von Völkerrecht insgesamt dar und kann insofern im Rahmen der systemischen Integration einen Beitrag leisten. Sie markiert die Leitplanken der harmonischen Auslegung als Konfliktlösungsmechanismus und entfaltet insofern Relevanz.
VI. Der Konflikt zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK in der Literatur Nachdem die einschlägigen Konfliktlösungsmechanismen, die generell den Konflikt zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht behandelten, vorgestellt sind, interessiert weiterhin der Umgang der rechtswissenschaftlichen Literatur mit dem konkreten Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität und deren Einordnung in die zuvor dargestellten Lösungsansätze. Nur wenige Rechtswissenschaftler haben sich überhaupt mit diesem speziellen Konflikt konkret auseinandergesetzt. Meistens erschöpfen sich die Ausarbeitungen in einer umfassenden Darstellung der einschlägigen Fallpraxis des EGMR und einer Beschreibung des Vorgehens des EGMR bei der Behandlung des Konflikts, ohne diesen zuvor einer genauen Konfliktcharakterisierung zu unterziehen und in den größeren (Regime-)Kontext des Völkerrechts einzubinden.
257 258
Jenks, The Conflict of Law-Making Treaties, S. 429. Pauwelyn, Conflict of Norms in Public International Law, S. 242.
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
155
1. Die Ansicht von Pahr Bereits in den 1960er Jahren kam Pahr259 zu dem Ergebnis, dass die Staatenimmunität aus Gründen der sonst nicht bestehenden Waffengleichheit niemals das Recht auf Zugang zu Gericht einschränken könne: „Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ein fair trial, das dem Grundsatz der Waffengleichheit Rechnung trägt. (. . .) Fair trial und Waffengleichheit gebieten, dass die Parteien eines Rechtsstreits unter gleichen Voraussetzungen die Entscheidung eines Gerichts erlangen können“260 .
Pahr betont hiermit über das Prinzip der Waffengleichheit das Recht jedes Einzelnen, Zugang zu Gericht zu erlangen. Die Konvention mache diesbezüglich keine Unterscheidungen hinsichtlich der Beschwerde- oder Klagegegner, sodass auch die Klage gegen einen Staat von dem Schutz der Konvention erfasst werde261 . Ein Beschwerdeführer sei ggf. gezwungen, seine Klage vor einem ausländischen Gericht zu erheben, während andere in ihrem eigenen Rechtsforum klagen könnten, was gegen das Prinzip der Waffengleichheit verstoße262 . Pahr erkennt hiermit einen Konflikt zwischen dem fair trial-Prinzip und dem Prinzip der Waffengleichheit. Hiermit unterscheidet sich bereits sein Konfliktverständnis grundlegend von dem hier vertretenen Konfliktverständnis. Eine Klage gegen den Staat in einem anderen Staat benachteiligt den Kläger nach Pahrs Ansicht und erfüllt nicht mehr die Anforderungen der Konvention, welche ein Recht auf Zugang zu Gericht im Forumstaat statuiert, nicht ein Recht auf Zugang zu Gericht in einem anderen Staat. 2. Die Ansicht von Heß Heß263 behandelt den Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Sicht des betroffenen Beschwerdeführers unter der Überschrift „Der Rechtsschutzanspruch des privaten Klägers vor dem Hintergrund der universellen Menschenrechte“. Er fragt in diesem Kontext, ob die universellen Menschenrechten dem privaten Kläger einen Anspruch verleihen könnten, Klagen gegen fremde Staaten zuzulassen264 . Dieser Rechtsanspruch müsse nach Heß prozessualer Natur sein, da auch die Staatenimmunität prozessualer Natur ist. Art. 6 I EMRK sieht er in diesem Zusammenhang als jedenfalls grundsätzlich geeignet an, dem privaten Kläger den Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verwirft diesen Ansatz jedoch sofort wieder, da Art. 6 I EMRK seine Wirkung nur innerhalb des „staatlichen Zuständigkeitssystems“ entfalten könne. Hiermit
259
Pahr, Staatenimmunität und Artikel 6 (1) EMRK, S. 222. Pahr, a. a. O., S. 231. 261 Pahr, a. a. O. 262 Pahr, a. a. O. Hintergrund ist der Fall Neumeister, EGMR, Urteil vom 27. 6. 1968, Neumeister vs. Österreich, Rs. 1936/63, Rn. 33, das statuiert: „each party must be afforded a reasonable opportunity to present his cas (. . .) under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-à-vis his opponent“. 263 Heß, Staatenimmunität bei Distanzdelikten, 1992, S. 313. 264 Heß, a. a. O., S. 313. 260
156
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
stimmt er Damian265 zu, der Art. 6 I EMRK ebenfalls zunächst in Betracht zieht, um die Zulässigkeit eines Verfahrens gegen einen fremden Staat zu begründen, dann jedoch aufgrund der anderen Zielrichtung und des Wortlauts des Art. 6 I EMRK von dieser Möglichkeit Abstand nimmt: „Die Rechtsschutzgarantie entfaltet ihre Wirkung de lege lata innerhalb des staatlichen Zuständigkeitsbereichs, also jeseits der überkommenen völkerrechtlichen Grenzen des Immunitätsrechts“266 .
Hiermit verneinen Damian und Heß bereits gemeinsame Schnittmengen zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität (no-conflict approach). Die Rechtsschutzgarantie kann ihrer Meinung nach erst ihre Wirkung entfalten, wenn die Zuständigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit eröffnet ist, was ihrer Ansicht nach die Staatenimmunität verhindert. Heß schlägt aufgrund der wachsendes Bedeutung der Menschenrechte (insbesondere Art. 6 I EMRK) für den Einzelnen hieraufhin einen Kompromiss vor. Er sieht in der Staatenimmunität – im Gegensatz zur parlamentarischen und diplomatischen Immunität – per se keine „generelle“ (absolute) Schranke des Rechtsschutzsanspruches, was zur Folge hat, dass der private Kläger irgendwo, notfalls im beklagten Staat selbst, eine Möglichkeit gehabt haben muss, ein rechtsstaatliches Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen Gericht durchzuführen267 . Art. 6 I EMRK schreibe nicht vor, wo effektiver, den Anforderungen des Art. 6 EMRK erfüllender Rechtsschutz gewährt werden müsse. Hiermit anerkennt er, dass der private Kläger aus den „völkerrechtlichen Menschenrechten“ ableiten kann, dass der Rechtsstreit durch ein unabhängiges, unparteiisches Gericht entschieden wird, was bereits anzunehmen ist, wenn dem Staat zwar im Ausland Immunität gewährt wird, der Geschädigte seinen Anspruch jedoch vor Gerichten des beklagten Staates direkt geltend machen kann. Besteht diese Möglichkeit nicht, so liegt nach Heß nicht bereits eine Verletzung des Art. 6 I EMRK vor; vielmehr resultiert hieraus ein Anspruch des Klägers, das bei der Entscheidung über die Gewährung der Immunität seine „mögliche Rechtlosstellung“ berücksichtigt wird268 . Bröhmer269 argumentiert hiergegen, dass nicht alle beklagten Staaten Mitglied des Europarats seien und demnach auch nicht vom Anwendungsbereich der Konvention erfasst würden. Sie könnten erst Recht nicht aus der Konvention heraus zur Durchführung von Gerichtsverfahren verpflichtet werden. Die Frage des Eingriffs in Art. 6 I EMRK könne weiterhin nicht davon abhängig gemacht werden, ob die alternative Möglichkeit der Durchführung eines (den Ansprüchen des Art. 6 I EMRK) genügenden Verfahrens in einem dritten Staat bestand oder nicht270 . 265 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 17; siehe auch Bothe, Die strafrechtliche Immunität fremder Staatsorgane, S. 256, der verlangt, dass sich die „gewissen Tendenzen“, die für eine Einschränkung der Souveränität aufgrund menschenrechtlicher Entwicklungen herangezogen werden, in allgemein verbindlichem Völkergewohnheitsrecht niedergeschlagen haben müssen, um diese Einschränkungen tatsächlich bewirken zu können. 266 Damian, a. a. O., S. 17. 267 Heß, a. a. O., S. 318 f. 268 Heß, a. a. O., S. 319. 269 Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 165. 270 Zustimmend: Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the European Convention, S. 36.
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
157
Bei näherer Betrachtung erweist sich der Ansatz von Heß jedoch als durchaus vertretbar. Heß verpflichtet nicht Drittstaaten zur Einhaltung der Konvention, sondern verpflichtet allein die Mitgliedstaaten des Europarats bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität zu berücksichtigen, ob der private Kläger alternative Möglichkeiten hatte, ein gerichtliches Verfahren durchzuführen. Hiermit verpflichtet er unmittelbar nur die Vertragsstaaten der Konvention in ihrer Entscheidung über die Gewährung von Staatenimmunität zu berücksichtigen. Mittelbar hat diese Entscheidung freilich Auswirkungen auf den Drittstaat, der sich ggf. erfolglos auf Immunität beruft. Die Entscheidung über die Gewährung von Immunität ergeht jedoch im Wege einer Abwägung, der Staat hat hierbei Ermessen, so dass die Interessen des privaten Klägers jedenfalls dann zu berücksichtigen sind, wenn er andernfalls völlig ohne Rechtsschutz verbliebe und keine (erfolgsversprechende) Möglichkeit hätte, seine Rechte geltend zu machen. Das Recht auf Zugang zu Gericht ist eine Rechtsposition, die der Staat in institutioneller und persönlicher Hinsicht dem Einzelnen gewähren muss, wobei ihn diese Verpflichtung nicht nur aus der EMRK heraus trifft. Insofern besteht eine staatliche Verpflichtung, (v. a.) einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der die Geltendmachung weiterer (substantieller) Menschenrechte erst ermöglicht. Das Argument, dass das Erfordernis alternativen Rechtsschutzes auch Drittstaaten zur Einhaltung der Konvention genötigt würden, die diese gar nicht ratifiziert hätten, wird grundsätzlich dadurch entkräftet, dass das Recht auf Zugang zu Gericht nicht nur Art. 6 I EMRK inhärent ist, sondern sich in 86% aller weltweit untersuchten Verfassungen wiederfindet271 und in zahlreichen regionalen/internationalen Menschenrechtsinstrumenten als solches anerkannt ist272 . In Anbetracht dieser weitreichenden staatlichen Übung ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Recht auf Zugang zu Gericht bereits um Völkergewohnheitsrecht handelt, das nicht nur Konventionsstaaten bindet273 . Weiterhin werden nicht die Drittstaaten verpflichtet, Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu gewähren, sondern der Konventionsstaat allein wird dazu verpflichtet, im Rahmen seiner Abwägung zu berücksichtigen, ob der Kläger die Möglichkeit alternativen Rechtsschutzes hatte.
271 Hier sogar die elfthäufigste Regelung in einer nationalen Verfassung überhaupt darstellt, Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2053 f. 272 Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948; Art. 6 I EMRK; Art. 25 der American Convention on Human Rights (1969); Art. 7 African Charta on Human and Peoples’ Rights; Art. 47 der Grundrechtecharta der Europäischen Union; International Covenant on Civil and Political Rights (1966). 273 Ebenso: Francioni, The Rights of Access to Justice under Customary International Law, S. 42: „Access to Justice is a right recognized under general international law“; Sciso, Italien Judges’ Point of View on Foreign State Immunity, S. 1212: „The Italian position is also correct in implicitly referring to a right of access to justice as a fundamental human right recognized by international customary law as well as by universal and regional agreements on the issue“, sowie: Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 67, mit Nachweisen aus dem Recht der Immunitäten Internationaler Organisationen, die ebenfalls davon ausgehen, dass es sich bei dem Recht auf Zugang zu Gericht um geltendes ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht handelt bzw. um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz. Whytock, Foreign State Immunity and the Richt to Court Access, S. 2048, möchte sich nicht festlegen, verkennt jedoch nicht dessen praktische Bedeutsamkeit im Völkerrecht: „(. . .) the right to court access, whether or not it has become a legally binding rule of international law, is widely accepted and increasingly legalized“.
158
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
3. Die Ansicht von Richter Ress Richter Ress war Mitglied der Kommission, die über die Fälle im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der Immunität Internationaler Organisationen und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK, Waite and Kennedy274 und Beer and Regan275 , beriet. An den Verfahren im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK war er unmittelbar nicht beteiligt, hat jedoch in der Entscheidung Bosphorus276 zu diesen Entscheidungen Stellung genommen: „(. . .) in the case of Al-Adsani v. the United Kingdom (. . .), the Court’s approach to the relationship between different sources of public international law was not the right one. The correct question should have been, whether, and to what extend, the Convention guarantees individual access to tribunals in the sense of Article 6 § 1 and whether the parties could and should have been seen as nevertheless reserving the rule on state immunity. Since the Contracting Parties could have waived their right to invoke State Immunity by agreeing to Article 6 § 1 of the Convention, the starting point should have been the interpretation of Article 6 § 1 alone. Unfortunately this question was never asked“277 .
Hiermit legt Richter Ress nahe, dass die Vertragsstaaten durch Ratifizierung der Konvention implizit auf ihre Staatenimmunität verzichtet haben könnten (sog. implied waiver)278 , was einen notwendigen Verzichtswillen voraussetzt279 . Solch ein Verzichtswille findet sich in den travaux préparatoires nicht wieder und lässt sich auch nicht mit interpretatorischen Mitteln begründen. Zur Zeit der Kodifizierung der EMRK war den Vertragsparteien noch nicht bewusst, dass der EGMR 1975 das Recht auf Zugang zu Gericht als in Art. 6 I EMRK inhärent anerkennen würde. Der Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht wurde wohl erstmals 1968 von Pahr thematisiert280 , sodass ein entsprechender Verzichtswille wohl nicht angenommen werden kann. Zudem würden die Regeln der Staatenimmunität dann uneinheitlich angewandt werden – und zwar davon abhängig, ob ein Staat Vertragsstaat der Konvention ist oder nicht281 . 4. Die Ansicht von Yang Yang282 hat sich ausführlich mit dem Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK beschäftigt. Er erkennt zwei zu diffe274
EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Waite and Kennedy vs. Germany, Rs. 26083/94. EGMR Urteil vom 18. 2. 1999, Beer and Regan vs. Germany, Rs. 28934/95. 276 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi vs. Irland, Rs. 45036/98. 277 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005, Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi vs. Irland, Rs. 45036/98, Concurr. Op. Judge Ress. 278 Siehe zum (impliziten) Verzicht auf Staatenimmunität bereits oben unter A. IV. 1. 279 Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 39; Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, S. 190; Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, S. 143. 280 Zustimmend: Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 37. 281 Kloth, a. a. O., S. 37. 282 Yang, State Immunity in the European Court of Human Rights: Reaffirmations and Misconceptions. 275
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
159
renzierende Aspekte der Staatenimmunität, mithin die Staatenimmunität als Prinzip des Völkerrechts auf der einen und als prozessuale Materie auf der anderen Seite283 . Die Staatenimmunität sei hierbei ein die nationale Jurisdiktion limitierender Faktor, der bereits die Zuständigkeit der nationalen Gerichte für bestimmte Klagen ausschließe. In dem Ausmaß, in dem die Zuständigkeit durch die Staatenimmunität ausgeschlossen werde, sei zwangsläufig und unausweichlich das Recht des Einzelnen auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK beschränkt. Hiermit stellt er auf den prozessualen Charakter der Staatenimmunität ab: „State immunity is a limitation imposed by international law on the jurisdictional powers of national courts, so that, in certain situations, the courts are incompetent to entertain certain claims, if these are directed against a foreign state. To the extend that a court is precluded from exercising an otherwise existing jurisdiction, an individual’s right of access to court is inevitably qualified.“284 .
Yang erkennt weiter, dass die Eigenschaft der Staatenimmunität als allgemein verbindliches Völkergewohnheitsrecht (bzw. „principle of international law“) dazu führt, dass jedwede Entscheidung nationaler Gerichte, die der Staatenimmunität zur Durchsetzung verhilft, im Einklang mit Völkerrecht steht285 . Urteilt der EGMR, dass der Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK verhältnismäßig war, da die Gewährung der Staatenimmunität jedenfalls rechtmäßig erfolgte, ohne dass der EGMR die der Verhältnismäßigkeitsprüfung normalerweise immanenten Gegenüberstellung und Abwägung der betroffenen Interessen durchführt, so geschieht dies im Einklang mit geltendem Völkerrecht, da der Staatenimmunität zu ihrer Durchsetzung verholfen wird. Yangs Ansicht ist den no-conflict approaches zuzuordnen. Er sieht bereits keine Schnittmengen zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität und verneint schon dem Grunde nach einen Konflikt. Hiermit stimmt er im Ergebnis Heß zu, der die vollständige Rechtlosstellung des privaten Klägers als notwendige Folge der Gewährung von Staatenimmunität akzeptiert. Eine Auseinandersetzung mit dem tatsächlich bestehenden Konflikt vermeidet Yang damit. Einen Beitrag zur Auflösung des vorliegenden Konflikts leistet er hiermit nicht. 5. Lösung über die Prüfung der Verhältnismäßigkeit Richter Loucaides hat zu dem Konflikt zwischen den völkerrechtlichen Immunitäten und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu allen drei Urteilen Sondervoten verfasst286 . Er vertritt die Ansicht, dass jede pauschal gewährte Immunität („blanket immunity“) einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht darstellt287 : „Any form of blanket immunity, whether based on international law or national law, which is applied by a court in order to block completely the judicial determination of a civil right without
283
Yang, a. a. O., S. 406. Yang, a. a. O., S. 406. 285 Yang, a. a. O., S. 407. 286 Dissenting Opinions of Judge Loucaides in EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. UK, Rs. 31253/96, Rn. 37; EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97; EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Fogarty vs. UK, Rs. 37112/97. 287 Vgl. hierzu bereits unter Kap. B (Das Recht auf Zugang zu Gericht), III. 2. lit. b. 284
160
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
balancing the competing interests (. . .) is a disproportionate limitation on Article 6 § 1 of the Convention and for that reason it amounts to a violation of that Article “288 .
Auch Bankas289 ist – allerdings in anderem Zusammenhang290 – der Ansicht, dass in Fällen mit Bezug zur Staatenimmunität die betroffenen Interessen ausbalanciert werden müssten: „It is therefore submitted that balancing the rights of the litigating parties in respect of the issue in a given case would produce a better result than arguably resign to a distinction between the public and private acts of the state, (. . .).“291
Zunehmend wird die Durchführung einer die beteiligten Interessen ausbalancierenden Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Literatur verlangt, immer häufiger unter direkter Bezugnahme auf Art. 6 I EMRK. a) Die Ansicht von Tzevelekos Tzevelekos erachtet den EGMR als „influential systemic player“292 . Er erkennt drei Szenarien, in denen der EGMR auf Art. 31 III lit. c WVK zurückgreifen könnte, nämlich wenn die allgemeine Norm des Völkerrechts ergänzend (complementary) zu der Regelung aus der Konvention ist, wenn eine Konventionsnorm mit einer anderen Norm des Völkerrechts in Konflikt steht oder wenn eine Norm des Völkerrechts zwar ratione materiae irrelevant für die Beurteilung des Sachverhalts unter der Konvention ist, diese Feststellung jedoch vorab unter Zurückgreifen auf das allgemeine Völkerrecht vom EGMR getroffen werden muss (preliminary question)293 . Tzevelekos kritisiert den EGMR dafür, dass er nur im Falle des ersten Szenarios, in dem sich die Konventionsnorm und die allgemeine Norm des Völkerrechts ergänzen, die dynamisch-evolutive Dimension des Art. 31 III lit. c WVK überhaupt nutzt. In den restlichen Fällen zieht der EGMR nach Ansicht von Tzevelekos Art. 31 III lit. c WVK heran, um hiermit die teleologische Auslegung zu ersetzen und gleichzeitig den materiellen Anwendungsbereich der Konventionsrechte signifikant zu erweitern294 . Im Hinblick auf Konfliktsituationen unterscheidet Tzevelekos wiederum drei Szenarien, hierunter den Konflikt zwischen der Konvention und allgemeinen Völkerrecht, den Konflikt zwischen der Konvention und anderen Völkerrechtsverträgen, die relative normative Effekte entfalten und den Konflikt zwischen verschiedenen Menschenrechtsschutzverträgen295 . Vorliegend interessiert die erste Konstellation, für die Tzevelekos beispielhaft den Fall Al-Adsani296 heranzieht. Die Entscheidung in der Sache Al-Adsani stellt nach Ansicht von Tzevelekos ein, bzw. das Beispiel für das Zusammenspiel zwischen systemischer In288
EGMR, Al-Adsani, a. a. O., Dissenting Opinion of Judge Loucaides. Bankas, The State Immunity Controversy in International Law, S. 364. 290 Bankas erachtet die die oft schwierige Unterscheidung zwischen hoheitlichen und nicht hoheitlichen Akten für überholt und plädiert in diesem Zusammenhang für die Abschaffung der restriktiven Immunitätslehre, die diese Unterscheidung mit sich gebracht hat, a. a. O., S. 364. 291 Bankas, a. a. O., S. 364. 292 Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 625. 293 Tzevelekos, a. a. O., S. 646. 294 Tzevelekos, a. a. O., S. 661. 295 Tzevelekos, a. a. O., S. 665. 296 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 289
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
161
tegration und evolutiver Auslegung durch den EGMR dar297 . Da das Recht auf Zugang zu Gericht eine erga omnes-Verflichtung darstelle, sei es generell einschränkbar. Der Eingriff müsse allerdings durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und sich als verhältnismäßig darstellen298 . An dieser Stelle setzt Tzevelekos’ Kritik an. Er versteht nicht, warum der EGMR statt der alt-bekannten Verhältnismäßigkeitsprüfung, in der eine faire Balance zwischen den berechtigten Interessen gefunden werden soll, sich auf „obskure“ und nicht nachvollziehbare allgemeine Ausführungen zur Daseinsberechtigung der Staatenimmunität und ihre Bedeutung für die internationale Gemeinschaft im Allgemeinen einlässt299 . Hiermit kritisiert Tzevelekos, obwohl er den Ansatz des EGMR, über Art. 31 III lit. c WVK das normative, völkerrechtliche Umfeld der Konvention hinzuzuziehen und in seine evolutiv-dynamische Auslegung einzubinden, grundsätzlich begrüßt, das Fehlen einer angemessenen, in die Tiefe gehenden Verhältnismäßigkeitsprüfung, die einzelfallbestimmt die miteinander in Konflikt stehenden Interessen abwägt, statt in abstracto das eigene Menschenrechtsregime dem allgemeinen Völkergewohnheitsrecht unterzuordnen und eine Vermutung für den Vorrang des Völkergewohnheitsrechts zu statuieren300 . Hiermit spielt Tzevelekos auf die Formulierung des EGMR im Fall Al-Adsani an301 , in dem er den Vorrang der Staatenimmunität „in principle“ statuiert302 . In diesem Vorgehen erkennt Tzevelekos einen Missbrauch von Art. 31 III lit. c WVK. Der Gerichtshof ziehe diese Vorschrift als Ersatz für die eigentlich geschuldete Verhältnismäßigkeitsprüfung heran, sodass die Entscheidung Al-Adsani auch nicht als positives Beispiel für die Heranziehung von Art. 31 III lit. c WVK durch den EGMR angesehen werden dürfe303 . Ganz grundsätzlich weist Tzevelekos in einer Schärfe, die andere Autoren vermissen lassen, darauf hin, dass unabhängig von Rechtsquelle und allgemeiner Herleitung die Staatenimmunität in der Rechtsprechung des EGMR nahezu reflexartig Priorität gegenüber den konventionsrechtlichen Verpflichtungen genießt (in dubio pro immunitate). Tzevelekos sieht einen wichtigen Ansatz („unparalleled tool“304 ) um den Konflikt zu lösen in der ordnungsgemäßen Prüfung der Verhältnismäßigkeit305 . In diesem Zusammenhang unterstellt er den maßgeblichen Regelungen der EMRK jedenfalls erga omnes-Charakter und verlangt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die den 297
Tzevelekos, a. a. O., S. 661, 665. Tzevelekos, a. a. O., S. 666. 299 Tzevelekos, a. a. O., S. 666, „Yet in the Al-Adsani case the court seemed to limit its proportionality test through an obscure reference to the raison d’être of the state immunity rule and its importance for the international community in general.“ 300 Tzevelekos, S. 666. 301 Im Fall McElhinney benutzte er die gleiche Formel, EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, McElhinney vs. UK, Rs. 31253/96, Rn. 37. 302 EGMR, Al-Adsani, a. a. O., Rn. 56: „It follows that measures taken by a High Contracting Party which reflect generally recognised rules of public international law on State immunity cannot in principle be regarded as imposing a disproportionate restriction on the right of access to a court as embodied in Article 6 § 1“. 303 Tzevelekos, a. a. O., S. 667. 304 Tzevelekos, a. a. O., S. 687. 305 Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 41, schlägt wohl auch vor, den Konflikt über die Ausbalancierung der Interessen zu lösen. Kloth definiert hierbei allerdings weder den Konflikt an sich, noch stellt er einen 298
162
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Telos der Konvention den im Allgemeinwohl stehenden Zielen der Normen des allgemeinen Völkerrechts gegenüberstellt und ausbalanciert. Hierbei ist nach dem Vorschlag Tzevelekos’ das Ziel des Verhältnismäßigkeitstools, dass ad hoc Prioritäten im Hinblick auf verschiedene normative Effekte gesetzt werden, ohne dass die normative Kraft der im Konflikt stehenden Normen beeinträchtigt würde306 . Der Kritik Tzevelekos’ ist vollkommen beizupflichten. Es wird in der Literatur vorausgesetzt, dass der EGMR als regionaler Menschenrechtsgerichtshof, dessen Fokus alleinig auf dem umfassenden Schutz der durch die Konvention garantierten Menschenrechte und Grundfreiheiten liegt, eine grundsätzliche Vorrangstellung menschenrechtlicher Verpflichtungen gegenüber anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen annehmen wird307 . Dieser Ansatz inspirierte Pellet dazu, einige Mitglieder der ILC „droits-de-l’hommistes (militants)“308 zu bezeichnen, die die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als völlig inadequat für die gesamte Disziplin des Menschenrechtsschutzes erachten und „mit aller Kraft“ („à toute force“) Autonomie des Menschenrechtsregimes fordern309 . Dies ist im Falle des Konflikts zwischen Immunitäten und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK nicht der Fall, im Gegenteil. Die Interpretation von Art. 6 I EMRK im Hinblick auf Immunitäten ist geprägt von einer Konfliktbewältigung, die derzeit eine Privilegierung des Rechts auf Staatenimmunität widerspiegelt310 . Eine genuine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet de facto nicht statt. Über Art. 31 III lit. c WVK wird zunächst das Völkergewohnheitsrecht in die Prüfung eingeführt, um sodann davon auszugehen, dass die betreffende Norm (hier: das Prinzip der Staatenimmunität) in principle die Erfordernisse an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs erfüllt. Der EGMR unterstellt das spezielle Menschenrechtsregime unreflektiert dem allgemeinen VölkergeBezug zur aktuellen Fragmentierungsdebatte her. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „(. . .) conflict between Article 6 (1) of the Convention and State Immunity needs to be solved by balancing the competing interests“, ohne genau darzulegen, wie dieser Vorschlag umgesetzt werden könnte. Kritisiert wird die fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung weiterhin von Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 85 f. 306 Tzevelekos, a. a. O., S. 687. 307 So: de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration, S. 84 und 92 „die einzigen Streitbeilegungsorgane, die gewillt sind, die Vorrangstellung internationaler menschenrechtlicher Verpflichtungen zumindest implizit anzuerkennen, ohnehin voreingenommen in einem funktionalen Sinne sind, da sie gerade zu dem Zweck geschaffen wurden, die Menschenrechte zu schützen“, die aus dieser Vermutung schließt, dass das spezielle funktionelle menschenrechtsbasierte Paradigma anhand der Rechtsprechung von Menschenrechtsgerichtshöfen aufgrund dieses Schwerpunkts nicht überzeugend bewiesen werden kann. Genauso: Sauer, Jurisdiktionskonflikte im Mehrebenensystem, S. 84, der in der Gründung Internationaler Organisationen die Gefahr einer „Völkerverrechtlichung“ ausmacht und den Rechtsprechungsorganen dieser Internationalen Organisationen unterstellt, aufgrund der übergeordneten organisationsspezifischen Zielsetzung Neutralität einzubüßen. 308 Pellet, „Droits-de-l’hommisme“ et Droit International, S. 168. 309 Pellet, a. a. O., S. 168. 310 So auch der Koskenniemi-Report, Fragmentation Report der ILC, A/CN4/L.682 vom 13. 4. 2006, § 162: „There was no a priori assumption that the rules of the Convention would override those of general law. On the contrary, the Court assumed the priority of the general law on immunity (. . .). Weiterhin: Orakhelashvili, State Immunity and International Public Order, S. 253: „True, the right of access to court is not absolute and may be regulated by a State to meet certain needs of society, but this must never injure the substance of the right itself or cause its total absence, nor conflict with other Convention Rights“.
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
163
wohnheitsrecht. Es wird, wenn überhaupt, eine reine Vertretbarkeitskontrolle durchgeführt. Dies kann nicht Ziel der sonst im Detail ausdifferenzierten Rechtsprechung des EGMR auf Ebene der Verhältnismäßigkeit sein. Hierauf weist auch Tzevelekos hin, wenn er andere Beispiele311 für die Heranziehung von Art. 31 III lit. c WVK durch den EGMR nennt, in denen der Gerichtshof keine Vermutung darhingehend aufstellt, dass sich die völkerrechtliche Norm in jedem Fall durchsetzt, sondern vorab die betroffenen Interessen gegeneinander abwägt und hierauf die Entscheidung gründet. b) Das Recht auf Zugang zu Gericht als Stellschraube – Die Ansicht von Whytock Whytock kritisiert den EGMR, sowie den IGH und andere regionale und internationale Gerichtshöfe ebenfalls stark für deren Rechtsprechung, mit der sie das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität vielmehr noch verschlimmern als abschwächen, indem sie kategorisch die Staatenimmunität gegenüber dem Zugang zu Gericht priorisieren und es hiermit versäumen, einen Beitrag zu leisten, den Konflikt zu lösen312 . Whytock beschränkt seine Ausführungen ausdrücklich nicht auf den Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität, sondern nimmt das Recht auf Zugang zu Gericht auch außerhalb der Konvention mit auf, obwohl er eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung (noch) nicht akzeptieren will313 . Er identifiziert drei verschiedene Situationen, in denen die Gewährung von Staatenimmunität das Recht auf Zugang zu Gericht beeinträchtigen kann. Sie kann den Zugang zu Gericht im Forumstaat verhindern, weiterhin den Zugang in allen anderen Staaten bis auf den Drittstaat verhindern und sie kann bewirken, dass der Kläger nur im Forumstaat vor den dortigen Gerichten seine Rechte geltend machen kann. Zuletzt kommt in Betracht, dass dem Beschwerdeführer komplett der Zugang zu Gericht versagt wird durch die Gewährung von Staatenimmunität. Auch Whytock plädiert für eine genuine Ausbalancierung der Interessen ohne Prävalenz der Immunitätsgrundsätze314 . 311 Beispielsweise im Fall Slivenko, EGMR, Urteil vom 9. 10. 2003, Slivenko vs. Lettland, Rs. 48321/99, in dem es um die Abschiebung einer Familie aus Lettland nach Russland ging. Die Familie war russisch-stämmig und hatte – bis auf den Ehemann – einen permanenten Aufenthaltstitel für Lettland. Als der Ehemann eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde diese verweigert und der permanente Aufenthaltstitel der restlichen Familie zurückgenommen. Die Entscheidung war gestützt auf ein bilaterales Abkommen zwischen Russland und Lettland. Der EGMR prüfte unter Art. 8 EMRK und stellte sodann eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne an: „The Court’s task consists in ascertaining whether the impugned measures struck a fair balance between the relevant interests, namely the individual’s rights protected by the Convention on the one hand and the community’s interests on the other“, EGMR, a. a. O., Rn. 113. 312 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2036. 313 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2037, 2048. 314 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2033 ff., S. 2082 ff., weiterhin: Francioni, The Rights of Access to Justice under Customary International Law, S. 50 fordert einen „more satisfactory approach to reconciling immunities and access to justice“.
164
D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
Nach Whytock müssten betroffene Interessen tatsächlich ausbalanciert werden, was voraussetzt, diese zunächst genau zu benennen und die Auswirkungen des Versagens der jeweils in Streit stehenden Immunität den Auswirkungen des Versagens eines Zugangs zu Gericht aus Sicht des Beschwerdeführers gegenüberzustellen315 . Ausgangspunkt sei das Recht auf Zugang zu Gericht, welches „promoted“ werden müsse, sodass das Argument des EGMR, das Recht auf Zugang zu Gericht sei nur „procedural“, nicht mehr gelten könne316 . Whytock macht hieraufhin einen eigenen Vorschlag zur Lösung des (allgemeinen) Konflikts zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität, welchen er proportionality approach nennt317 . Nach diesem Ansatz sollte dann keine Staatenimmunität gewährt werden, wenn diese das Recht auf Zugang zu Gericht einer Individualperson verhindert und sich als unverhältnismäßig darstellen würde. Dies ist nach Ansicht Whytock dann der Fall, wenn die Nachteile des Klägers, dessen Zugang zu Gericht verwehrt wurde, gegenüber den Vorteilen der Staatenimmunität in Bezug auf die zwischenstaatliche Beziehungen und die Souveränität der Staaten überwiegen318 . Damit verlangt Whytock eine einzelfallabhängige Gegenüberstellung der betroffenen Interessen, die eine entsprechend recherchierte Faktenlage319 voraussetzt. Weiterhin arbeitet Whytock mit zwei Vermutungen: Erstens besteht die Vermutung, dass das Recht auf Zugang des Klägers nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt wurde, wenn dieser im Drittstaat die Möglichkeit eines fairen und öffentlichen Verfahrens in angemessener Zeit hatte. Im anderen Fall besteht die belastbare Vermutung, dass die Gewährung von Staatenimmunität eine unzulässige, weil unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Klägers bedeutet320 . Hiermit verlangt Whytock zunächst noch keine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne, die die betroffenen Interessen abwägt, sondern verlangt einen alternativen Rechtsschutz für den Kläger vor einem Gericht, das möglichst dieselbe prozessuale und institutionelle Ausgestaltung aufweist, die beispielsweise Art. 6 I EMRK als Anforderung an ein faires Verfahren statuiert321 . Sollte kein alternativer Rechtsschutz im Drittstaat gegeben sein, so sollte grundsätzlich Zugang zu Gericht im Forumstaat ermöglicht werden, außer es gibt gravierende, etwa außenpolitische Gründe die hiergegen sprechen322 . Weiterhin, und dieser Aspekt gehört zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, schlägt Whytock vor, dass auf den Schweregrad des Vorwurfs, den der Kläger vor Gericht erhebt bzw. erheben möchte, abgestellt werden sollte um die jeweils vorliegenden Interessen zu gewichten323 . Er betont, dass der Verhält315
Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2033 ff. Ähnlich: Francioni, a. a. O., der das Recht auf Zugang zu Gericht dem Völkergewohnheitsrecht zuordnet und es aus diesem Grund in keinem offensichtlichen Hierarchieverhältnis (Unterordnungsverhältnis) zu dem Recht auf Immunität mehr stehe. 317 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2082. 318 Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2082. 319 Beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob außerhalb des Forumstaates nationale Gerichte bereit gewesen wären, dem Kläger Zugang zu Gericht zu gewähren, die institutionelle Ausgestaltung dieser Gerichte, usf. 320 Whytock, a. a. O., S. 2082. 321 Whytock hat sich an internationalen Übereinkommen, wie der AEMR, Art. 8 I, und Art. 6 I der EMRK ausdrücklich orientiert, Whytock, a. a. O., S. 2082 f., Fn. 237. 322 Whytock, a. a. O., S. 2084. 323 Whytock, a. a. O., S. 2083, „compelling foreign reasons“. 316
VI. Konflikt zwischen Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK
165
nismäßigkeitsansatz keinesfalls neu für die Praxis des EGMR und des IGH sei, sondern sich gut in die bisherige Rechtsprechungstradition einpasse und daher auch keinen radikalen Vorschlag darstelle324 . Whytock hat sich hiermit als einer von wenigen Autoren mit dem Konflikt und möglichen Lösungsansätzen zwischen dem (allgemeinen) Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunität differenziert auseinandergesetzt, verschiedene Situationen unterschieden und versucht, durch eine faire Ausbalancierung der betroffenen Interessen eine vertretbare und sachgerechte Konfliktlösung zu erreichen. Hierfür hat er zuvor die beteiligten Konfliktregime, Zugang zu Gericht und Staatenimmunität, historisch hergeleitet und dogmatisch und empirisch untersucht. Diese Vorgehensweise zeugt von einer Systematik, die anderen Lösungsansätzen bisweilen fehlt325 . Whytock untersucht weiterhin einige beachtliche Einwände, die gegen den proportionality approach sprechen326 . Wie Whytock richtig erkennt, sind nationale Gerichte (noch) nicht dafür gerüstet und ausgestattet, über die außenpolitischen und diplomatisch heiklen Implikationen ihrer Rechtsprechung, die ggf. einem Staat nach Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung die völkerrechtliche Staatenimmunität versagt, abzusehen327 . Nach Ansicht Whytocks ist es auch vornehmlich nicht ihre Aufgabe, solche Aspekte zu berücksichtigen (Gewaltenteilung)328 . Andererseits – und dies relativiert diesen Einwand – sind Gerichte bereits damit betraut, im völkerrechtlichen bzw. internationalen Kontext zu arbeiten, wie etwa im internationalen Privatrecht329 . Hierbei handelt es sich zwar grundsätzlich um nationales Rechtsanwendungsrecht oder Kollisionsrecht, die Gerichte sind jedoch angehalten, im Kontext der Bestimmung der Anknüpfungspunkte jedenfalls auch internationale Sachverhalte zu beurteilen. Weiterhin ist die Staatenimmunität auch oft durch nationale Gesetze determiniert. Richter Loucaides ist von der Eignung der nationalen Gerichte ebenfalls überzeugt, wenn er im Fall Al-Adsani betont: „The courts should be in a position to weigh the competing interests in favour of upholding an immunity or allowing a judicial determination of a civil right, after looking into the subject matter of proceedings“330 .
Einen weiteren Einwand erkennt Whytock in der grundlegenden Rechtfertigung der Staatenimmunität. Selbst wenn die Gewährung von Staatenimmunität keine negativen Auswirkungen auf funktionaler Ebene haben sollte331 , so kann die durch die Entscheidung eines nationalen Gerichts verwehrte Staatenimmunität immer noch einen unzulässi-
324
Whytock, a. a. O., S. 2084. Als Beispiel sei nur Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, genannt, der den Konflikt zwar benennt und auch einige Lösungsansätze darstellt und diskutiert, sich hinsichtlich eines eigenen Lösungsvorschlags allerdings bedeckt hält, wennn er verlangt: „Therefore, the conflict between Article 6 (a) of the Convention and State immunity needs to be solved by balancing the competing interests.“ , S. 41. 326 Whytock, a. a. O., S. 2085 ff. 327 Whytock, a. a. O., S. 2086. 328 Whytock, a. a. O., S. 2085. 329 Whytocks, a. a. O., S. 2086. 330 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 331 Hierzu unter Kapitel A, I. 4., gemeint ist die funktionale Rechtfertigung der Staatenimmunität als Gewähr für das unabhängige Funktionieren der staatlichen Kernaufgaben ohne Einmischung anderer Staaten und für die Ermöglichung guter zwischenstaatlicher, internationaler Beziehungen. 325
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D. Der Konflikt zwischen Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht
gen Eingriff in die staatliche Souveränität darstellen332 . Dieser Einwand ist jedoch bereits dadurch zu entkräften, dass die Staatenimmunität per se nicht mehr absolut gilt. Die dargestellten Entwicklungen führten zu einer restriktiven, relativen Geltung der Staatenimmunität, die Eingriffe unter bestimmten Voraussetzungen zu rechtfertigen vermag und einen Trend zu einer restriktiveren Auslegung belegt. Das Recht auf Zugang zu Gericht entstammt der modernen Entwicklung im Bereich des individuellen Menschenrechtsschutzes. Die Staatenimmunität hat sich bereits im Rahmen ihrer Entwicklung hin zu einer restriktiven Geltung den aktuellen Gegebenheiten, nämlich der erhöhten Betätigung der Staaten in der privaten Wirtschaft, angepasst. Eine weitere Anpassung im Hinblick auf das gestiegene individuelle Menschenrechtsschutzniveau, das u. a. im Recht auf Zugang zu Gericht (aus Art. 6 I EMRK) Ausdruck gefunden hat, ist mit dem pauschalen Hinweis auf mögliche Implikationen mit der staatlichen Souveränität daher nicht abzulehnen. Bedeutender ist der dritte Einwand, den Whytock gegen seinen eigenen Ansatz erhebt. Er richtet sich gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst333 . In den letzten fünf Jahren hat sich eine kritische Diskussion um die Frage des tatsächlichen Beitrags des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Schutz der Menschenrechte entwickelt334 . Durch die jetzige Praxis der Ausbalancierung betroffener Interessen drohe eine komplette Erosion des Menschenrechtsbegriffes335 . Andere sehen in der Prüfung der Verhältnismäßigkeit „the most sophisticated means to solve the very complex and intricate collision of human rights with competing principles“336 . Whytock erkennt jedoch keine Alternative zur Ausbalancierung der Interessen, die als einzige Möglichkeit gewährleiste, dass sowohl die Souveränitätsinteressen des betreffenden Staates als auch das Recht auf Zugang zu Gericht des Einzelnen Berücksichtigung finden337 . Gleichzeitig erkennt er, dass in nächster Zeit wohl keine Kehrtwende des EGMR (und des IGH) zu erwarten ist, da nach der bisherigen Rechtsprechung erst Anpassungen erfolgen müssten, wenn sich die internationale Staatenpraxis in diesem Zusammenhang ändere, was in gewisser Weise paradox ist, da die Staatenpraxis natürlich zu einem großen Teil auch durch die Rechtsprechung geprägt und determiniert wird338 . Whytock plädiert daher für eine Langzeit-Strategie, die darauf ausgerichtet ist, Völkergewohnheitsrecht durch Staatenpraxis zu ändern und dahingehend weiterzuentwicklen,
332 Whytock, a. a. O., S. 2087, relativiert diesen Eingriff mit dem Hinweis, dass die formale Herleitung von Staatenimmunität selbst angreifbar und zudem Ausdruck einer vergangenen Ära ist, die den Souverän und dessen Würde und Unantastbarkeit schützen wollte. 333 Whytock, a. a. O., S. 2088. 334 Klatt/Meister, Proportionality – a benefit to human rights? Remarks on the IoCon controversy, S. 687 ff.; Khosla, Proportionality: An assault on human rights?: A reply, S. 298 f.; Tsakyrakis, Proportionality: An assault on human rights?, S. 468 ff.; umfassend zu der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Kritik: Barak, Propotionality: Constitutional Rights and their limitations. 335 Tsakyrakis, a. a. O., S. 490. 336 Klatt/Meister, a. a. O., S. 708. 337 Whytock, a. a. O., S. 2089. 338 Gleichzeitig ist die Entwicklung entsprechender Staatenpraxis träge und langsam, worauf Whytock, a. a. O., S. 2090, ebenfalls hinweist („stickiness of customary international law“). Die stickiness wurde nach Ansicht Whytocks, a. a. O., S. 2090, gerade durch die Entscheidung des IGH in der Sache Jurisdicitonal Immunities of States, (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99, noch verstärkt und verschärft.
VII. Ergebnis
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dass das Recht auf Zugang zu Gericht mehr in den Mittelpunkt rücke und sich auch häufiger, bzw. überhaupt in entsprechenden Fällen durchsetze339 .
VII. Ergebnis Die in diesem Kapitel vorgestellten Konfliktlösungsmechanismen zum allgemeinen Konflikt zwischen Völkergewohnheits- und Vertragsrecht eignen sich in unterschiedlichem Maße, oft nur bedingt oder gar nicht für die Lösung des vorliegenden Konflikts zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht. Während die Ansätze, die einen Konflikt schlichtweg verneinen, zur eigentlichen Konfliktlösung keinen Beitrag leisten können, sind andere Ansätze, wie etwa die zwischengerichtliche bzw. zwischenstaatliche Kooperation jedenfalls in der Lage, hilfreich bei der Entwicklung eines auf den vorliegenden Konflikt abgestimmten Lösungsansatz zu sein. Die Theorie der Normenhierarchie, die gerade im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK stark diskutiert wird, geht von einem fehlerhaften Konfliktverständnis aus. Die Konfliktlösungsstrategien, die sich mit dem speziellen Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität auseinandersetzen, unterscheiden sich ebenfalls im Hinblick auf Konfliktverständnis und Detailschärfe. Überzeugend ist es, die Lösung des Konflikts auf Ebene der Prüfung der Verhältnismäßigkeit anzusiedeln und die beteiligten Interessen einzelfallgenau gegenüberzustellen. Insofern ist der allgemeinen Kritik an der Rechtsprechung des EGMR, der keine Verhältnismäßigkeitsprüfung im eigentlichen Sinn durchführt, sondern von einem grundsätzlichen Vorrang der Staatenimmunität ausgeht, sobald die nationalen Gerichte diese völkerrechtskonform angewandt haben, beizupflichten. Ausgangspunkt der Lösung des vorliegenden Konflikts ist die Auslegungstechnik der systemischen Integration über Art. 31 III lit. c WVK, welche von dem EGMR bereits in Ansätzen praktiziert wird. Diesen Ansatz weiterentwickelt – unter Beachtung der presumption against conflict – kann ein dem Menschenrechtsschutzsystem der EMRK entsprechendes Konfliktlösungsinstrument darstellen. Da der EGMR in ständiger Rechtsprechung auf Art. 31 III lit. c WVK zurückgreift, würde eine gewisse Konsistenz mit der bisherigen Rechtsprechung erreicht werden. Weiterhin entwickelt der EGMR über die evolutiv-dynamische Auslegung die Menschenrechte der Konvention stetig weiter und passt hierbei das Schutzniveau der EMRK den aktuellen gesellschaflichen Entwicklungen an340 . Die genaue Ausgestaltung des auf den Konflikt zwischen Art. 6 I EMRK (Recht auf Zugang zu Gericht) und der Staatenimmunität abgestimmten Lösungsmechanismus ist Thema des anschließenden Kapitels.
339 340
Whytock, a. a. O., S. 2091. Hierzu im Detail im folgenden Kapitel.
E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts zwischen der Staatenimmunität und Art. 6 I EMRK I. Vorüberlegungen Im Folgenden soll eine auf den speziellen Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und dem Prinzip der Staatenimmunität zugeschnittene Lösung vorgestellt werden, wobei hierbei teilweise auf die bisher beschriebenen Lösungsansätze zurückgegriffen wird und diese auf die vorliegende Konstellation angepasst werden. Die hier vorgeschlagene Lösung hat nicht das Ziel, eine (hierarchisch geordnete) Einheit des Völkerrechts (wieder-)herzustellen, sondern soll eine normative Vernetzung teilautonomer Rechtsregime mit einer denzentralen Konfliktbewältigung auf Rechtsprechungsebene installieren1 . 1. Ausgangssituation / status quo 2004 hat das Executive Council der International Law Association (ILA) das Menschenrechtskomitee beauftragt, eine Studie über das Verhältnis zwischen allgemeinem Völkerrecht und internationalen Menschenrechten zu erstellen, welche 2008 im Rahmen der ILA-Konferenz in Rio de Janeiro vorgestellt und verabschiedet wurde2 . Das Menschenrechtskomitee stellte anfänglich fest, dass der Konflikt grundsätzlich von zwei Seiten aus behandelt werden könne: Zum einen könnte auf die spezielle Natur der Menschenrechte abgestellt werden, welche insofern leges speciales bzw. ein self-contained Regime darstellten und die Anwendung allgemeinen Völkerrechts ausschließen (Fragmentation Approach)3 . Der andere Ansatz hatte als Prämisse, dass Menschenrechte Teil des allgemeinen Völkerrechts darstellten, allgemeines Völkerrecht und Menschenrechte somit weitestgehend miteinander in Einklang gebracht werden müssten (Reconciliation Approach)4 .
1 Diese Vorgaben „als Methode des Rechts“ decken sich mit den „Leitlinien“ zur Vernetzung von Rechtsregimes, die Fischer-Lescano/Teubner in Fragmentierung des Weltrechts, S. 25, aufstellen. Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 28, warnt, dass die Feststellung pluraler Rechtsordnungen die Probleme vermeide, statt sich ihnen zu stellen. 2 Final Report on the Impact of International Human Rights Law on General International Law, International Law Association, Rio de Janeiro Conference (2008), International Human Rights Law and Practice, abrufbar unter www.ila-hq.org, zuletzt abgerufen am 28. 01. 2015. 3 ILA, a. a. O., S. 2; weiterhin untersucht Vanneste, Relationship between International Human Rights Law and General International Law: Assessing the Specialty Claims of International Human Rights Law, S. 1 ff., ob aus der „Spezialität“ der Menschenrechte Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen allgemeinem Völkerrecht und dem (insofern) speziellen internationalen Regime des Menschenrechtsschutzes möglich sind. 4 ILA, a. a. O.
I. Vorüberlegungen
169
Das Menschenrechtskomitee favorisierte den zweiten Ansatz, da dieser „overwhelmingly“ im Einklang mit der internationalen Rechtspraxis stehe5 . Es wurde bereits gezeigt6 , dass der normenhierarchische Konfliktlösungsansatz für die Lösung des vorliegenden Konflikts nicht geeignet ist, da diesem Ansatz ein unzulängliches Konfliktverständnis zugrunde liegt. Auch stellt die (Auslegung der) EMRK kein self-contained Regime dar, welches losgelöst von sonstigem Völkerrecht betrachtet werde könnte7 . Der Reconciliation-Ansatz wird daher auch diesem Kapitel zugrunde gelegt werden. Die Frage nach dem Ausgleich beider Rechtsregime betrifft im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die konkrete Auslegung der EMRK durch den EGMR. Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten stellt einen integralen Bestandteil des Völkerrechts dar8 . Der EGMR kann ohne Rückgriff auf zwischen den Vertragsparteien anwendbare und einschlägige Völkerrechtssätze (Art. 31 III lit. c WVK) einen Eingriff in Art. 6 I EMRK (Recht auf Zugang zu Gericht) nicht umfassend beurteilen9 . Bei dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK handelt es sich um eine Bestimmung, die durch die evolutiv-dynamische Auslegung des EGMR stetig weiterentwickelt wird. Das Recht auf Zugang zu Gericht ist selbst Produkt einer Auslegung des Art. 6 I EMRK als der Regelung inhärentes Recht. Der EGMR folgt daher keinem objektiv-formalistischen Auslegungsansatz, sondern einer konstitutionell wertenden Auslegung10 . Der EGMR verfolgt mit der Anwendung von Art. 31 III lit. c WVK gleichzeitig eine staatenzentrierte Auslegung11 von Art. 6 I EMRK im Hinblick auf völkerrechtliche, internationale Verpflichtungen. Er überprüft im Rahmen von Immunitätsfällen geltendes Völkerrecht anhand der Staatenpraxis und opinio iuris. Originäre Aufgabe des EGMR ist die „Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben“12 . Der EGMR tendiert in einer großen Mehrzahl der Fälle dazu, das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK gegenüber der Staatenimmunität zurücktreten zu lassen13 . Diese Sachlage könnte man durch ein falsches Verständnis judikativer Loyalitätspflich-
5
ILA, a. a. O. Hierzu ausführlich Kap. D, IV. 7 Hierzu ausführlich Kap. D, II. Nr. 2 lit. c. 8 Eine „partie intégrante du droit international public“, Cohen-Jonathan, Cour européenne des droits de l’homme et droit international général (1998–1999), S. 767. 9 Caflisch, L’application du droit international général par la Cour Européenne des Droits de l’Homme, S. 647. 10 Hierzu bereits Kap. D., IV. 3. a). 11 Caflisch, L’application du droit international général par la Cour Européenne des Droits de l’Homme, S. 638, mit dem Hinweis darauf, dass diese unter dem Gesichtspunkt des effektiven Menschenrechtsschutzes nur unzureichend gelingt. 12 Art. 19 EMRK; Anders sieht dies Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 625, der die Strukturen des EGMR als staaten-zentriert (state-centric) beschreibt. 13 Kap. A. 3. m. w. N. zur Verhältnismäßigkeitsprüfung, die sich darin erschöpft, dass der EGMR, sieht er die Voraussetzungen der jeweiligen Immunität als gegeben an, „in principle“ davon ausgeht, dass diese eine verhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK darstellt. 6
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
ten14 seitens des EGMR begreifen, der sich davor scheut, die Kompetenz der Einbeziehung von Völkerrecht, die er sich (mit Billigung der Mitgliedstaaten des Europarats) im Rahmen von Art. 6 EMRK schuf, mit menschenrechtlichem Gehalt auszufüllen. Das veränderte Verständnis eines modernen Staates, der sich dem Schutz der Menschenrechte verschreibt und hierfür auch Einbußen seiner staatlichen Souveränität akzeptiert, spiegelt sich im völkerrechtlichen status quo der Staatenimmunität nicht wider15 . Dies ist nicht nur bedauerlich, sondern darüber hinaus ein Verstoß gegen die in der Konvention niedergelegten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die Menschenrechte allen Menschen nicht nur theoretisch und illusorisch, sondern praktisch und effektiv zu gewähren16 . 2. Lösungsmöglichkeit des Konflikts – modus procedendi Die Lösung des beschriebenen Konflikts zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und internationalem Völker(gewohnheits)recht kann vom EGMR nicht über die klassischen Konfliktlösungsansätze zufriedenstellend gelöst werden17 . Vorgeschlagen wird ein mehrstufiges Verfahren: Auf einer ersten Stufe soll der jeweils vorliegende Konflikt charakterisiert und die betroffenen Interessen sowie die Konfliktbeteiligten benannt werden. Diese (im weitesten Sinne) Charakterisierung des Konflikts stellt bereits einen eigenständigen Interpretationsvorgang dar18 und ist grundlegender Ausgangspunkt der speziellen Konfliktlösung. In einem zweiten Schritt soll sodann durch Auslegung und Interpretation der EMRK innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Balance zwischen den widerstreitenden Akteuren bzw. Interessen hergestellt werden, wobei der Erhalt des größtmöglichen Anwendungsspielraums beider Regelungen im Vordergrund steht19 . Insofern bestehen Parallelen zu der v. a. aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Leitidee 14 Gemeint sind besondere Kooperations- und Rücksichtsnahmeverpflichtungen des EGMR gegenüber dem IGH. Zu diesem Begriff im Zusammenhang von Jurisdiktionskonflikten im Mehrebenensystem: Sauer, Jurisdiktionskonflikte im Mehrebenensystem, S. 369 ff.; weiterhin: Koskenniemi, Global Legal Pluralism: Multiple Regimes and Multiple Modes of Thought, S. 2, der derartigen gegenseitigen Respekt und Höflichkeiten („mutual respect and comity“) seitens der Gerichte als „thoroughly modest, traditional“ im Falle eines Konflikts ablehnt. 15 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommen Krajewsiki/Singer, Should Judges be FrontRunners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, S. 8. 16 Genauso (u. a.): Orakhelashvili, State Immunity and Hierarchy of Norms: Why the House of Lords Got It Wrong, S. 959; Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, ausführlich bereits dargestellt in Kap. D, VI. 5. a). 17 Gemeint ist die Auflösung von Konflikten beispielsweise durch funktionelle Derogation, hierzu: Kap. E, III. 3. Insoweit übereinstimmend mit der Aussage Vranes’, der davon ausgeht, dass die konkreten rechtlichen Konsequenzen eines Normkonflikts für das jeweils betroffene Rechtsgebiet und den Regelungskontext konkret bestimmt werden müssen, Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, S. 403 f. 18 Vgl. zu dem hier vorliegenden Konflikt bereits ausführlich in Kap. C. II. 19 Ähnlich Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 237, in Bezug auf die Koordinierung völkerrechtlicher Verträge im Umweltvölkerrecht als Teilbereich des Völkerrechts, die allerdings eine Änderung einer oder beider Normen zur Angleichung und Koordinierung fordert. Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 41, spricht ebenfalls von einem Bedürfnis nach einer „Ausbalancierung der widerstreitenden Interessen“, stellt im Folgenden allerdings lediglich fest, dass dies „sehr kompliziert“ sei, was er sodann mit einer empirischen Darstellung der relevanten Rechtsprechung des EGMR belegt. Einen praktikablen Lösungsansatz lässt diese Darstellung vermissen.
I. Vorüberlegungen
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der praktischen Konkordanz20 . Eine „vorschnelle Güterabwägung oder gar Wertabwägung“21 des einen Gutes auf Kosten des anderen findet nicht statt. Vielmehr soll eine „verhältnismäßige Grenzziehung“22 als Relation zweier Größen zu einer den Werten und Ideen der Verfassung entsprechenden Auslegung vorgenommen werden. Eine Ausgangsvermutung zugunsten der Freiheitsgrundrechte darf es hierbei nicht geben23 . Zeitlich setzt dieser Ansatz früher an als die bisherige Rechtsprechungslinie. Hiermit kann die Rolle der nationalen Gerichte auf Ebene der Konfliktlösung aufgewertet werden. Ihre Bereitschaft, Entscheidungen auch im internationalen Kontext zu fällen und hierbei auf gefestigte Rechtsprechung regionaler und internationaler Spruchkörper (u. a. des EGMR) zurückzugreifen, ist bereits in dem Umstand dokumentiert, dass immer mehr nationale Gerichte alternativen Rechtsschutz fordern, sobald Internationalen Organisationen Immunität gewährt werden soll (hierzu und zur Rolle der nationalen Gerichte unter III.). Die nationalen Gerichte nehmen im Rahmen der Konfliktlösung eine wichtige Rolle ein. Damit setzt der vorliegende Ansatz idealerweise vor Manifestierung des Konflikts im zwischenstaatlichen Verhältnis an24 . Zum konkreten Vorgehen: Zunächst sollte der EGMR auf Ebene des Wesensgehalts prüfen, ob dem Kläger alternative Rechtsschutzmechanismen zur Verfügung standen (hierzu unter IV.). Der EGMR hat im Zusammenhang mit der Immunitätsgewährung an Internationale Organisationen und in anderem Zusammenhang (ohne Immunitätsbezug) bereits auf Ebene der Prüfung einer möglichen Verletzung des Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK darauf abgestellt, ob dem Beschwerdeführer ein alternativer Rechtsschutz zur Verfügung stand und dieser für ihn auch erkennbar und vorhersehbar war25 . Sodann sollte der EGMR im Rahmen der konkreten Abwägung die beteiligten Interessen gegenüberstellen und im Einzelfall bewerten. In Anbetracht der vom EGMR praktizierten evolutiv-dynamischen Auslegungssystematik kann auch die Konfliktlösung nur über die vom Gerichtshof praktizierte, anpassungsgeeignete und daher flexible Auslegung der EMRK erfolgen. Die Frage der Interpretation der regionalen Menschenrechtsschutzkonvention und der Auflösung von Regime-Konflikten hängen eng miteinander zusammen. Genauer formuliert wurden die Konflikte überhaupt erst durch die extensive Auslegung des Art. 6 I EMRK durch den EGMR geschaffen. Wie zu zeigen sein wird, sollte der EGMR über die stringente Anwendung der ihm eigenen Auslegungssystematik unter 20 So genannt in Klatt, Die Praktische Konkordanz von Kompetenzen: entwickelt anhand der Jurisdiktionskonflikte im europäischen Grundrechtsschutz, S. 16; es handelt sich um ein Auslegungsprinzip. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 28, Rn. 72, beschreibt die praktische Konkordanz unter der Überschrift Verfassungsinterpretation als das Mittel einer optimierten Problemlösung durch Grenzziehung der sich gegenüberstehenden Güter unter der Prämisse der optimalen Wirksamkeit beider Güter. Im Zusammenhang mit dem Dialog der nationalen Gerichte (und dem EGMR) und der praktischen Konkordanz auch: Polakiewicz, Mobile, Counterpoint or Pyramid – The Interaction Between National and European Courts in Human Rights Protection, S. 1060. 21 Hesse, a. a. O., S. 28, Rn. 72. 22 Hesse, a. a. O. 23 Hesse, a. a. O., kein in dubio pro libertate. 24 In diesem Zusammenhang auch: Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 237. 25 EGMR, Urteil vom 21. 5. 2003, Berger vs. France, Rs. 48221/99, Rn. 32, 34.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
Abwägung der beteiligten Interessen die vorliegenden Konflikte wieder auflösen (hierzu unter V.). Hierbei könnte der EGMR auf seine Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Immunität Internationaler Organisationen zurückgreifen und diese auf den vorliegenden Konflikt (teilweise) übertragen. Da die Immunität von Internationalen Organisationen und die Staatenimmunität verschiedene Rechtsregime darstellen, bedarf die Übertragung von Entwicklungen der einen Immunitätsform auf die andere einer besonderen Begründung (hierzu unter VI.).
II. Charakterisierung des Konflikts Die Charakterisierung des Konflikts ist Ausgangspunkt der Konfliktlösung und Ergebnis eines eigenständigen Interpretationsvorgangs. Aus diesem Umstand ergibt sich bereits, dass es keine Universallösung für Konflikte zwischen völkergewohnheitsrechtlichen und völkervertraglichen Regelungen geben kann, sondern verschiedene Konfliktlösungsstrategien für den jeweiligen Konflikt im Einzelfall. Der vorliegende Konflikt wurde bereits umfassend analysiert26 . Vorliegend kollidieren mit der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht. Hierbei handelt es sich um einen Inter-Regime-Konflikt, da zwei (Teil-)Rechtsordnungen bzw. Regime kollidieren, die jedenfalls keine self-contained Regime darstellen, sondern interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Inter-RegimeKonflikte sind Ausdruck der normativen Realität einer fragmentierten Völkerrechtslandschaft. Gleichzeitig liegt ein Auslegungskonflikt vor, der Ausdruck der international proliferierten Rechtsprechungslandschaft im Völkerrecht ist und die Einbindung und Koordinierung der verschiedenen (nationalen) Gerichte und Spruchkörper verlangt. Hieraus folgt für die Konfliktlösung, dass es wegen der Charakterisierung als Auslegungskonflikt neben der Auslegung von Art. 6 I EMRK durch den EGMR auch auf die Rolle der nationalen Gerichte ankommen wird. Weiterhin steht die Charakterisierung als Inter-Regime-Konflikt innerhalb einer fragmentierten Völkerrechtslandschaft im Einklang mit der Prämisse, vorliegend dem Reconciliation Approach und der harmonischen Interpretation entsprechend das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität und das Menschenrecht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK unter Beibehaltung des jeweils größten Auslegungsspielraums beider Regelungen auszubalancieren. Die konkrete Konfliktlösung erfolgt daher im Rahmen der Auslegung von Art. 6 I EMRK durch den EGMR. Er hat sich hierbei die Kompetenz geschaffen, über Art. 31 III lit. c WVK auch die Staatenimmunität in seine Auslegung mit einzubeziehen27 und dem Prinzip der systemischen Integration ensprechend die (völkergewohnheitsrechtlichen) Entwicklungen der Staatenimmunität zu berücksichtigen.
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Kap. C. II. Hierzu ausführlich unter Kap. D. V. 3., sog. proportionality approach.
III. Rolle der nationalen Gerichte bei der Konfliktbewältigung
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III. Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Konfliktbewältigung 1. Die Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Kontext des vorliegenden Konflikts Der Generalsekretär des Europarats hat im Rahmen der Konferenz von Brighton zutreffend feststellt: „effective human rights protection begins and ends at home“28 .
Die nationalen Gerichte spielen bei der Bewältigung von Konflikten zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und Immunitäten eine wichtige Rolle. Diese Rolle nehmen die betreffenden Gerichte in unterschiedlicher Weise und in Abhängigkeit von der jeweils betroffenen Immunität an. Ist beispielsweise die Immunität Internationaler Organisationen betroffen, legen die Gerichte einen anderen (strengeren) Maßstab an, als bei der Beurteilung von Staatenimmunität. Hierbei ist ein gewisser Gleichlauf zu der Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR, auf die die Gerichte teilweise unmittelbar Bezug nehmen, festzustellen29 . Die nationalen Gerichte legen im Zusammenhang mit der Überprüfung der Immunitätsgewährung an Internationale Organisationen die Gründungs- bzw. Statusverträge der betreffenden Internationalen Organisation aus. Bei dieser Prüfung genügt den Gerichten nicht mehr der pauschale Verweis auf die umfassende Immunität der jeweiligen Internationalen Organisation. Sie urteilen immer häufiger, dass Internationale Organisationen sich in bestimmten Situationen nicht auf ihre Immunität berufen dürfen, um einen denial of justice zu vermeiden30 , wobei ihnen der reasonable alternative means-Test des EGMR Pate steht. Sie überprüfen nicht nur, ob überhaupt ein alternativer Rechtschutz vorliegt, sondern auch, ob dieser den Anforderungen genügt, die der EGMR im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 6 I EMRK definiert hat. Bemerkenswert ist, dass die nationale Gerichtsbarkeit sich bei ihren Entscheidungen nicht nur direkt auf Art. 6 I EMRK (Zugang zu Gericht) beruft, wenn sie den reasonable alternative means-Test anwendet, sondern immer häufiger die zuvor festgestellte Rechtschutzlücke aus Gründen des ordre public international oder aus Völkergewohnheitsrecht justiziabel macht und den Internationalen Organisationen die Berufung auf Immunität verweigert31 . Es geht demnach nicht mehr nur um die Rezeption der EMRK (bzw. der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 I EMRK) in das nationale Recht. Vielmehr wurde vom EGMR eine Prüfsystematik initiiert, die sich (auch ohne Bezug zu Art. 6 EMKR) zu einer internationalen Übung fortsetzt und den individuellen Rechtsschutz (v. a.) der bei einer Internationalen Organisation beschäftigen Personen signifikant erhöht hat. Eine 28 Rede des Generalsekretärs des Europarats, High Level Conference, vom 19. 4. 2012, abrufbar unter http://www.coe.int/t/dgi/brighton-conference/Documents/Speeches/Brighton_SG_ FinalSpeech_EN.pdf, zuletzt aufgerufen am 16. 08. 2016. 29 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 72 m. w. N. 30 Besprechung einiger hier relevanter Fälle der nationalen Gerichtsbarkeit: Reinisch, The Immunity of International Organizations and the Jurisdiction of their Administrative Tribunals, S. 294 ff. 31 Reinisch, The Immunity of International Organizations and the Jurisdiction of their Administrative Tribunals, S. 298, Rn. 29, spricht in diesem Zusammenhang gar von einem radical approach.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
vergleichbare Entwicklung im Bezug auf die Staatenimmunität wurde von den nationalen Gerichten u. a. in Griechenland und Italien versucht zu initiieren, scheiterte jedoch am IGH32 . 2. Fehlendes Mandat der nationalen Gerichte Ein rechtlicher/gerichtlicher Dialog zwischen den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten und dem EGMR hat nur wenige Grundlagen in dem Vertragswerk des Europarats33 . Etwas weiter, wenn auch vielmehr in der Rechtspraxis als im geschriebenen Recht, ist die Europäische Union. Die Rechtsgrundlagen der Europäischen Union nehmen seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages34 wörtlich Bezug auf die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten35 . Der EuGH bezieht sich in seiner Entscheidungspraxis ebenfalls unmittelbar auf die nationalen Gerichte36 . Die nationalen Gerichte werden in der EU-rechtswissenschaftlichen Literatur auch als „funktionale Unionsgerichte“, „europäische Gerichte“ oder als „mitgliedstaatliche Behörden“ bezeichnet37 . Sie haben eine gefestigte Position innerhalb des Rechtssystems der Europäischen Union, auch wenn eine explizite Mandatserteilung und genaue
32 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99; siehe hierzu Kap. A, III. 3. 33 Die Möglichkeit der Einholung sog. advisory opinions durch nationale Gerichte (beim EGMR) ist durch Art. 1 ff. des 16. Zusatzprotokolls zur EMRK vom 02. 10. 2013 eröffnet worden. Der Europarat hat zudem den sog. „Guide to good practice in respect of domestic remedies“, veröffentlich, der die Rolle der nationalen Gerichte (mit) behandelt, adopted on 18. 09. 2013; weiterhin sieht auch der erste Abschnitt der Erklärung von Brighton vom 20. 04. 2012 (Nr. 7), abrufbar unter https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=BrightonDeclaration&Language=lanEnglish&Ver= original&Site=COE&BackColorInternet=C3C3C3&BackColorlogged=F5D383, zuletzt aufgerufen am 04. 01. 2016, als vornehmliches Ziel vor: „All laws and policies should be formulated, and all State officials should discharge their responsabilities, in a way that gives full effect to the Convention. State Parties must also provide means by which remedies may be sought for alleged violations of the Conventions. National Courts should take into account the Convention and the case-law of the Court“. Nr. 12 lit. c der Brighton-Erklärung sieht weiterhin vor: [The Conference concludes therefore]: „Welcomes and encourages open dialogues between the Court and States Parties as a means of developing an enhanced understanding of their respective roles in carrying out their shared responsibility for applying the Convention, including particularly dialogues between the Court and (i) The highest courts of the States Parties; (. . .)“. 34 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. 12. 2007, 2007/C 306/01. 35 Art. 19 I Unterabsatz 1 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Art. 47 GRC gewährt „jeder Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte order Freiheiten verletzt worden sind, (. . .) das Recht, (. . .) bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen“. Nach Art. 247 AEUV entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union über die „Auslegung der Verträge und die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“, wobei ein (nationales) Gericht eines Mitgliedstaates diese Frage, wenn sie ihm selbst gestellt wurde und es sie für entscheidungserheblich hält, dem Gerichtshof die Frage zur Entscheidung vorlegen kann (Vorabentscheidungsverfahren). 36 EuGH, Gutachten 1/09 vom 8. 3. 2011, Slg. I-1137; zudem im Bezug auf die Umsetzung von Richtlinien EuGH, Urteil vom 19. 1. 2010, C-555/07, Kücükdeveci. 37 Berger, Gerichtsbarkeit und Europäische Union, S. 1 m. w. N., S. 5.
III. Rolle der nationalen Gerichte bei der Konfliktbewältigung
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Aufgabenbeschreibung noch fehlen38 . Die Mitgliedstaaten stellen die in ihrer jeweiligen Rechtsordnung verfassungsrechtlich legitimierten Gerichte in den Dienst der Europäischen Union, sodass die nationalen Gerichte mittels dieser „geliehenen Legitimation“ Aufgaben ausüben in ihrer Funktion als „mitgliedstaatliche Behörden“ bzw. „Unionsgerichte“39 . Der EuGH bindet die nationalen Gerichte mangels ausdrücklicher Ermächtigung über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (Art. 4 III UA 3 EUV) in das Rechtsprechungssystem der Europäischen Union ein. Er adressiert die mitgliedstaatlichen Gerichte hierbei unmittelbar40 . Eine ebenso tiefgehende Einbeziehung der nationalen Gerichte in das Menschenrechtsschutzregime der EMRK gibt es derzeit (noch) nicht. Es besteht kein institutioneller Durchgriff der menschenrechtlichen Regelungen der EMRK in das Rechtssystem des einzelnen Mitgliedstaates. Die Implementierung der Menschenrechte in die nationalen Rechtsordnungen ist höchst unterschiedlich41 . Wie bereits dargestellt, birgt das Mittel der zwischenstaatlichen bzw. zwischengerichtlichen Kooperation gerade im Bezug auf den vorliegenden Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK und der Staatenimmunität jedenfalls Potential42 . Im Interesse einer harmonisierenden, im Einklang mit den restlichen Teilrechtsregimen stehenden Auslegung der EMRK ist es von großer Bedeutung, dass diese Auslegung bereits auf nationaler Ebene erfolgt. Mangels einer Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtswirkung inter partes besitzen die Entscheidungen des EGMR zwar keine Bindungswirkung, allerdings ist eine (reziproke) Rücksichtnahme der involvierten Gerichte auf die Entscheidungspraxis anderer Gerichte im Sinne einer harmonischen Auslegung und für den Erhalt der größtmöglichen Anwendungsspielräume beider betroffener Regime hierdurch nicht ausgeschlossen und gerade im Fall von Auslegungskonflikten angebracht43 . Der EGMR hat kein explizites Mandat, mit den nationalen Gerichten in Dialog zu treten. Allerdings folgt die Kompetenz hierzu aus der völkerrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das durch die EMRK und ihre Auslegung durch den EGMR geprägte Menschenrechtschutzsystem im nationalen Recht zu rezipieren, wozu auch die unmittel-
38 Berger, Gerichtsbarkeit und Europäische Integration, S. 3, bezeichnet dieses Zustand als unzureichend und bedauerlich. Sie weist darauf hin, dass es bereits in der Vertragsreformdebatte von Lissabon konstruktive Vorschläge gegeben habe, diese Lücke zu schließen. Diese Diskussion zeigt jedoch gleichsam, dass bereits ein gewisses Problembewusstsein besteht und über die weitere, detailliertere Ausgestaltung des Mandats der nationalen Gerichte jedenfalls diskutiert wird. 39 Berger, Gerichtsbarkeit und Europäische Integration, S. 4. 40 von Bogdandy/Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, 57. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 62. 41 In Österreich hat die EMRK Verfassungsrang, da sie nach Art. 49 II BVG zu einer Verfassungsbestimmung erklärt wurde. In der Schweiz hat die EMRK eine dem Verfassungsrang vergleichbare Position; sie ist unmittelbar anwendbares Recht und kann gleich einer Grundrechtsverletzung eingeklagt werden. In Deutschland hat die EMRK den Rang eines einfachen Bundesgesetzes, durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 II GG wurde sie in das deutsche Recht integriert, vgl. zur Rangfrage in Deutschland auch BGverfGE 111, S. 307, 316 f. Hiervon zu unterscheiden ist die unterschiedliche Rezeption der EMRK und ihrer Urteile in der nationalen Rechtsprechung. Dem Grunde nach sind allerdings alle Mitgliedstaaten des Europarats völkerrechtlich verpflichtet, die EMRK und ihre Auslegung durch den EGMR im innerstaatlichen Rechtssystem zu berücksichtigen. 42 Hierzu Kap. E. I. 1.–5. 43 Vgl. hierzu bereits Kap. D. II. 3.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
bare Beachtung der Rechtsprechung des EGMR auf Ebene der nationalen Rechtsprechung gehört. Diese Kompetenz wird teilweise bereits innerhalb der nationalen Spruchpraxis der Mitgliedstaaten gelebt. Norwegens Gerichte sollen beispielsweise, sobald sie Konventionsrechte auslegen, dieselbe evolutiv-dynamische Auslegungsmethode praktizieren, wie der EGMR44 . Umgekehrt können die nationalen Gerichte über die neu geschaffene Möglichkeit des 16. Zusatzprotokolls zur EMRK vom 02. 10. 201345 sog. advisory opinions46 einholen, wenn Fragen hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der Konvention auftreten. Dieses spezielle Vorlageverfahren kommt allerdings erst zur Anwendung, wenn ein Verfahren vor dem nationalen Gericht bereits anhängig ist. Voraussetzung für die Einbeziehung des EGMR in die Konfliktlösung durch die nationalen Gerichte ist daher zunächst, dass diese ihre Zuständigkeit (jurisdiction) grundsätzlich annehmen und bereit sind, über die Frage der Immunitätsgewährung in Abwägung der betroffenen Interessen entsprechend der Auslegungsmethodik des EGMR zu entscheiden. Weiterhin steht diese Möglichkeit nur „höchsten“ Gerichten offen.
IV. Die Prüfung von alternative remedies auf Ebene der Wesensgehaltsprüfung Zunächst soll der Ansatz47 aufgegriffen und weiterentwickelt werden, im Rahmen der Prüfung von Art. 6 I EMRK (im Konflikt mit einer Immunitätsgewährung) zu berücksichtigen, ob dem Kläger alternativer Rechtsschutz zur Verfügung gestanden hat48 . Mitgliedstaaten der EMRK sollen hiernach bei der Entscheidung über die Gewährung von Immunität berücksichtigen, ob dem Kläger eine alternative Möglichkeit zur Verfügung gestanden hätte, ein gerichtliches Verfahren gegen den beklagten Staat durchzuführen. Der EGMR berücksichtigt diesen Aspekt regelmäßig bei der Beurteilung der Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen. Hier verlangt der EGMR, dass die Internationale Organisation adäquaten alternativen Rechtsschutz zur Verfügung stellt (equivalent protection Formel49 ). Die Mitgliedstaaten der Internationalen Organisationen können sich, so die Argumentation des EGMR, durch ihren Beitritt zu dieser Organisation nicht ihrer Verantwortung aus Art. 6 EMRK entziehen und müssen als Mitglieder der Organisation dem Kläger einen dem Standard der Konvention vergleichbaren Rechtsschutz anbieten. Der Rechtsschutz muss für den Kläger weiterhin vorhersehbar und erkennbar gewesen sein.
44 Hierzu und zu weiteren Beispielen (jeweils mit Nachweisen) Polakiewicz, Mobile, Counterpoint or Pyramid – The Interaction Between National and European Courts in Human Rights Protection, S. 1056. 45 Am 1. 8. 2018 in Kraft getreten. 46 Hierzu vertiefend in Kap. D. I. 3. 47 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 72, m. w. N. 48 Hierzu bereits Kap. E. 2. Weiterhin beschäftigt sich auch Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States and International Organizations, S. 71 ff. mit dem Erfordernis alternativen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Immunität von Staaten. 49 Hierzu unter IV. 1. in diesem Kapitel.
IV. Die Prüfung von alternative remedies
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Diese Rechtsprechung soll vorliegend auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Art. 6 I EMRK durch die Gewährung von Staatenimmunität übertragen werden. Es ist daher notwendig, zunächst die Entscheidungspraxis der EKMR und des EGMR im Zusammenhang mit dem Erfordernis alternativen Rechtsschutzes für die Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen darzustellen (hierzu unter 1.). Sodann wird dargestellt, mit welcher Begründung diese Rechtsprechung auf die Immunität von Staaten übertragen werden darf (hierzu unter 2.). Die Immunität von Staaten und Internationalen Organisationen folgt unterschiedlichen Rechtfertigungen und blickt auf unterschiedliche Entwicklungen zurück. Eine Übertragung von Entwicklungen innerhalb der einen Immunitätsform auf die andere bedarf einer gesonderten Begründung. 1. Alternativer Rechtsschutz einer Internationalen Organisation als Vorbedingung der Immunitätsgewährung Der EGMR verlangt als Voraussetzung für die Gewährung von Immunitäten und Privilegien, dass die Internationale Organisation adäquate alternative Rechtschutzinstrumente organisationsintern zur Verfüfung stellt50 . Geistiger Ursprung dieser Forderung ist das BVerfG, das in seinen Solange-Entscheidungen ebenfalls sichergestellt wissen wollte, dass der nationale Grundrechtsschutz lediglich dann zurück tritt, wenn ein vergleichbarer Schutz durch den EuGH gewährleistet ist51 . Der EGMR hat die equivalent protection-Formel der Kommission als reasonable alternative means-Test übernommen52 . Von grundsätzlicher Bedeutung in diesem Zusammenhang sind die zeitgleich und nahezu wortgleich entschiedenen Fälle Waite and Kennedy und Beer and Regan gegen Deutschland53 . Die Konventionsorgane überprüfen in Individualbeschwerden gegen Mitgliedstaaten einzelner Internationaler Organisationen inzwischen regelmäßig die organisationsintern zur Verfügung gestellten Rechtschutzinstrumente, obwohl kein mitgliedstaatlicher Zwischenakt eine Zurechnung bzw. die Annahme von origniärer Hoheitsgewalt nach Art. 1 EMRK begründet kann. Es reicht, dass die nationale Gerichtsbarkeit eine Überprüfung der Rechtsschutzmöglichkeiten der Internationalen Organisation zuvor abgelehnt hat, um zu überprüfen, ob der Staat mit dieser Entscheidung dem Beschwerdeführer zu Unrecht 50 Viele Gründungsverträge Internationaler Organisationen sehen alternative Rechtsschutzforen explizit vor. So ist z. B. in der UN Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property festgeschrieben, dass „The United Nations shall make provisions for appropriate modes of settlement of (a) Disputes arising out of contracts or other disputes of a private law character to which the United Nations is a party; (. . .)“; zu den Mängeln des UN Administrative Triubunal und der Reform, die u. a. einen zweiten Instanzenzug vorsah: Reinisch/Knahr, From the United Nations Administrative Tribunal to the United Nations Appeals Tribunal – Reform of the Administration of Justice System within the United Nations, MPYUNL 2008, Vol. 12, S. 447–483. 51 Die Solange-Rechtsprechung beschränkt sich nicht auf den EuGH, sondern gilt auch gegenüber anderen internationalen und supranationalen Organisationen, so gegenüber Eurocontrol und der EPO, Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, IOLR 2004, S. 74 f. 52 In der Rechtsprechung des EGMR überprüft dieser reasonable alternative means, was Ähnliches meint und wohl keinen Widerspruch zur Entscheidungspraxis der EKMR statuiert, so auch: Janik, Die Bindung Internationaler Organisationen an Internationale Menschenrechtsstandards, S. 176 f. 53 EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Waite and Kennedy vs. Germany, Rs. 26083/94 und EGMR Urteil vom 18. 2. 1999, Beer and Regan vs. Germany, Rs. 28934/95.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK verweigert hat. Diese Linie steht im Einklang mit der Prämisse, dass sich kein Staat durch die Übertragung von Kompetenzen oder Souveränität auf eine Internationale Organisation den aus der EMRK erwachsenen Verpflichtungen entziehen darf. a) Die equivalent protection-Formel der Kommission Bereits die Kommission anerkannte die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Internationalen Organisation ohne unilaterale Einmischung einzelner Regierungen oder Mitgliedstaaten als legitimes Ziel eines Eingriffs in Art. 6 I EMRK54 . In den Rechtssachen Beer and Regan und Waite and Kennedy55 wurden die beiden britischen Beschwerdeführer Waite und Kennedy als Systemprogrammierer von ihrem Arbeitgeber zu einem Forschungszentrum der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) in Darmstadt entsandt. Nach Erhalt der Kündigung ihres ursprünglichen Arbeitgebers klagten sie vor deutschen Arbeitsgerichten auf Feststellung, dass sie nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz56 Arbeitnehmer der ESA seien und die Kündigung auf das nunmehr bestehende Arbeitsverhältnis keine Wirkung habe. Die nationalen arbeitsgerichtlichen Instanzen wiesen die Klage nach Berufung der ESA auf die ihr aus dem Gründungsvertrag zustehenden Immunität57 ab. Vor der EKMR und später auch vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer ihr Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK geltend da ihr Feststellungsantrag auf Bestehen des Rechtsverhältnisses mit der ESA vor den deutschen Arbeitsgerichten nicht in der Sache verbeschieden wurde. Das legitime Ziel der Gewährung von Immunitäten an Internationale Organisationen erblicken EKMR und EGMR darin, die Funktionsfähigkeit der Organisation sicherzustellen – ohne hierbei einseitige Eingriffe einzelner Regierungen befürchten zu müssen58 . Dem Fall Beer and Regan lag nahezu derselbe Sachverhalt zugrunde59 . Die EKMR stellte fest, dass Staaten zwar Hoheitsrechte auf Internationale Organisationen übertragen dürfen und ihnen zur Gewährleistung eines ungestörten Funktionierens 54 EGMR, Urteile vom 18. 02. 1999, Waite and Kennedy und Beer and Regan, Rs. 26083/94, Rn. 61; EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 11. 06. 2013, Stichting mothers of Srebrenica, Rs. 65542/12, Rn. 94, 139. 55 EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 24. 2. 1997, Beer and Regan vs. Deutschland, Rs. 28934/95 und EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 2. 12. 1997, Waite and Kennedy vs. Deutschland, Rs. 26083/94; es handelt sich um die ersten beiden Zulässigkeitsentscheidungen, die die Kommission im Kontext der Immunität Internationaler Organisationen unter Anwendung der equivalent protection-Formel traf. 56 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 7. 8. 1982 in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Februar 1995 (BGBl. I S. 158), das zuletzt durch Artikel 4 Absatz 46 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154) geändert worden ist. 57 Art. XV Abs. 2 des Gründungsvertrages i. V. m. § 20 II GVG. 58 „The attribution of privileges and immunities to international organisations is an essential means of ensuring the proper functioning of such organisations free from unilateral interference by individual governments“, EGMR, a. a. O., Rn. 63. 59 EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Beer and Regan vs. Germany, Rs. 28934/95. Der Fall betraf die Klagen zweier Systemprogrammierer (des Herrn Beer aus Deutschland und des Herrn Regan aus Großbritannien), welche zunächst von ihrem Arbeitgeber zur ESA nach Darmstadt entsandt und
IV. Die Prüfung von alternative remedies
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auch Immunität vertraglich einräumen dürfen, allerdings für einen äquivalenten Rechtsschutz sorgen müssen: „the legal impediment to bringing litigation before German courts, namely the immunity of the European Space Agency from German jurisdiction, is only permissible under the Convention if there is an equivalent legal protection.“60
Die EKMR untersucht die von der ESA zur Verfügung gestellten Rechtsschutzmöglichkeiten und kam zu dem Ergebnis, dass sie den Anforderungen der equivalent protection-Formel entsprachen. Hierbei stellte es auf das Rechtsschutzinstrument ab, welches unter Annex I des Gründungsvertrags der ESA vorgesehen ist und schon mehrfach Streitigkeiten zwischen der ESA und privaten Dritten geschlichtet habe. Mitarbeiter der ESA haben zudem die Möglichkeit einer Beschwerdeinstanz. Besonders hervorgehoben hat die EKMR, dass Art. IV des Annex I der „ESA-Konvention“ den Rat der ESA sogar verpflichte, auf die Immunität der ESA zu verzichten, falls keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten für den Beschwerdeführer zur Verfügung stehen. b) Die Entscheidungen Lenzing AG der Kommission Auch in den Rechtssachen Lenzing61 prüfte die EKMR, ob der durch die Organisation gewährte Rechtsschutz äquivalent und dem Standard der Konvention entsprechend war62 , allerdings auf Prüfungsebene der Zulässigkeit, was diesen Fall von den Entscheidungen in den Fällen Beer and Regan und Waite and Kennedy unterscheidet, wo diese Prüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stattfand. Die EKMR betrachtete bei der Überprüfung, ob die EPO äquivalenten Rechtsschutz anbietet, verschiedene Aspekte, so den Personenkreis, der diesen Rechtsschutz beanspruchen kann, die Besetzung des boards mit unabhängigen Personen, die zuvor nicht über die (Nicht-)Erteilung des Patents entschieden hatten, die Kompetenz der Richter, von denen mindestens einer eine juristische Ausbildung haben muss, die Verfahrensführung, die es (in diesem Fall) erlaubte, Beweise zu erheben, die mehrfache Möglichkeit, im Verfahren
später gekündigt wurden. Auch sie klagten vor deutschen Arbeitsgerichten auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses mit der ESA nach deutschem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Die ESA berief sich wiederum auf Immunität. 60 EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 24. 2. 1997, Beer and Regan vs. Deutschland, Rs. 28934/95, Rn. 60. 61 EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 9. 9. 1998, Lenzing vs. Deutschland, Rs. 39025/97 und EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 9. 9. 1998, Lenzing AG vs. Großbritannien, Rs. 38817/97. Hier beschwerte sich die Lenzing AG u. a. unter Art. 6 I EMRK. Die Firma Lenzing AG hatte bei dem Europäischen Patentamt die Eintragung eines Patents beantragt. Das Patent wurde in Großbritannien eingetragen und nach der internen Beschwerde zweier Konkurrenten durch die Beschwerdeinstanz des internen Rechtsschutzapparates (2. Instanz) der EPO wieder zurückgenommen. Die Gründe wurden der Lenzing AG mitgeteilt. Hiergegen beschwerte sich die Lenzing AG zunächst vor dem internen Gericht der EPO und sodann vor der britischen und deutschen nationalen Gerichtsbarkeit zwecks Überprüfung der Entscheidung des Beschwerdegerichts der EPO. Sowohl die englischen als auch die deutschen Gerichte verneinten ihre Zuständigkeit (jurisdiction), da die Akte der EPO nicht durch englisches/deutsches Recht determiniert waren. 62 Z. B. EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 9. 9. 1998, Lenzing AG vs. Deutschland, Rs. 38817/97.
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(schriftlich) Stellung zu nehmen und mündlich vorzutragen und die grundsätzliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit des Quasi-Tribunals. Diese Eigenschaften rechtfertigten nach Ansicht der Kommission die Annahme einer equivalent protection. c) Die Fälle Waite and Kennedy und Beer and Regan vor dem EGMR Der Gerichtshof schloss sich der Entscheidungslinie der EKMR an. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit erachtete der EGMR die alternative Rechtsschutzmöglichkeiten der ESA, die den Beschwerdeführern offen gestanden hätten, ohne dass die Immunität der ESA sie hieran gehindert hätte, als reasonable alternative means. Da die Beschwerdeführer diese Möglichkeiten gar nicht erst in Anspruch genommen hatten, sei ihr Recht auf Zugang zu Gericht jedenfalls in dessen Wesensgehalt nicht verletzt worden63 . Der EGMR statuiert in den soeben vorgestellten Grundsatzentscheidungen eine Verpflichtung der Internationalen Organisationen, für einen organisationsinternen, angemessenen, dem Standard der Konvention äquivalenten Rechtsschutz zu sorgen. Ist dieser nicht gegeben, so können sie sich nicht auf ihre Immunität berufen; der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht lässt dann eine Berufung auf absolute Immunität nicht mehr zu. Zwar sei die Verhinderung einseitiger Eingriffe einzelner Regierungen zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Internationalen Organisationen angesichts ihrer umfangreichen Aufgabenfelder ein legitimes Ziel, welches das Recht auf Zugang zu Gericht einschränken kann; Staaten können sich jedoch nicht durch die (vertragliche) Zusammenarbeit mit 63 Die Entscheidungen sind aus verschiedenen Gründen kritisiert worden. Richter Ress führt hierzu in seiner Dissenting Opinion, abrufbar im Report der EKMR vom 2. 12. 1997, S. 16 ff. der EKMRZulässigkeitsentscheidung vom 24. 2. 1997, Waite and Kennedy vs. Germany, Rs. 26083/94, aus, dass der Gerichtshof auf die interne Rechtsschutzmöglichkeit des ESA abgestellt hat, ohne zu überprüfen, ob diese interne Beschwerdeinstanz zuständig, den Beschwerdeführern bekannt und in der Sache kompetent gewesen wäre, die Rechtsstreitigkeiten zu adressieren. Die von der EKMR aufgestellten Kriterien, die der EGMR hiermit bestätigte, seien lediglich abstrakt genannt, es fehle die Auseinandersetzung mit der Frage, ob der alternative Rechtsschutz im konkreten Fall den fehlenden Zugang zu den nationalen Gerichten in einer Weise hätte kompensieren können, die den Eingriff in Art. 6 I EMRK rechtfertigt. So wäre das interne Rechtsschutzsystem der ESA beispielsweise gar nicht zuständig gewesen, über den Feststellungsantrag der Beschwerdeführer zu urteilen. Die Beschwerdeführer wollten die Frage klären, ob sie nach dem (deutschen) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeitnehmer der ESA geworden waren. Nach deutscher Terminologie hatten die Beschwerdeführer eine Kündigungsschutzklage erhoben. Der alternative Rechtsschutz, auf den die Beschwerdeführer verwiesen wurden, hätte ihnen in dieser Hinsicht nicht weitergeholfen. Die EKMR half sich über dieses Argument hinweg, indem sie im Rahmen des Tatbestandsmerkmals des „zivilrechtlichen Anspruchs“ des Art. 6 I EMRK strikt zwischen dem geltend gemachten materiellen Recht und der prozessualen Hürde der Immunität, die die Geltendmachung dieses Rechts vor den deutschen und britischen Gerichten verhindert, abstellen. Auch der Verweis des EGMR auf die Möglichkeit, das Internationale Schiedsgericht anzurufen (Rn. 39 der Entscheidung) geht fehlt, da die Beschwerdeführer keine Mitglieder dieser Organisation waren und da auch hier die Kündigungsklage nach deutschem Recht mangels Jurisdiktion nicht hätte verhandelt werden können. Sämtliche alternativen Rechtsschutzmöglichkeiten, die der EGMR für äquivalent erachtet hat, implizieren eine Änderung des Klagegrundes und ggf. sogar des Klageziels. Die Beschwerdeführer wollten in erster Linie keinen Schadensersatz einklagen, sondern festgestellt wissen, dass ein Arbeitsverhältnis direkt mit der ESA besteht.
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anderen Staaten bzw. durch die Übertragung von Kompetenzen auf Internationalen Organisationen von den Verpflichtungen und der Wahrung der Menschenrechte der EMRK loslösen64 . d) Anforderungen an den äquivalenten Rechtsschutz Der EGMR überprüfte in den Fällen A.L. vs. Italien65 und Boivin vs. Frankreich u. a.66 genauer die einzelnen Elemente des geforderten äquivalenten Rechtsschutzes. In A.L. vs. Italien überprüfte er die Unabhängigkeit des Spruchkörpers (hier: des Beschwerdeausschusses der NATO) und verlangte ein streitiges, kontradiktorisches Verfahren. Den Ausschluss der Öffentlichkeit maß er an Art. 6 I, II EMRK, der Ausnahmen im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft zulässt67 . Im Fall Boivin vs. Frankreich u. a.68 präzisierte er das Merkmal der Äquivalenz im Fall der Übertragung von staatlichen Hoheitsrechten auf Internationale Organisationen: Der EGMR verlangt keinen identischen, sondern einen vergleichbaren Rechtsschutz. Flankierend zog er die Bosphorus-Entscheidung heran, in der er in anderem Kontext bereits festgestellt hatte: „(. . .) State action taken in compliance with (. . .) legal obligations is justified as long as the relevant organisation is considered to protect fundamental rights (. . .) in a manner which can be considered at least equivalent to that for which the Convention provides. (. . .) By ‚equivalent‘ the Court means ‚comparable‘; any requirement that the organisation’s protection be ‚identical‘ could run counter to the interest of international cooperation pursued.“69
e) Der Fall Klausecker gegen Deutschland Im jüngst entschiedenen Fall Klausecker vs. Deutschland70 ging es um die Individualbeschwerde eines körperlich Behinderten, der sich beim Europäischen Patentamt (EPO) um eine Anstellung als Patentprüfer beworben hatte71 . Nach Ablehnung seiner Bewerbung (aus gesundheitlichen, nicht aus fachlichen Gründen) legte der Beschwerdeführer interne Beschwerde ein, welche als unzulässig abgewiesen wurde, da das interne Rechtsschutzinstrument der EPO nur gegenüber (bereits) angestellten Mitarbeitern griff. Gegen 64 Hierzu grundlegend die Entscheidung des EGMR vom selben Datum, 18. 2. 1999, Matthews vs. UK, Rs. 24833/94. Hierzu Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, IOLR 2004, S. 103, die dem EGMR allerdings grundsätzlich vorwerfen, dass er die Kriterien eines äquivalenten Rechtschutzes im Einzelfall nicht genügend definiert und in der Folge nicht kritisch genug hinterfragen kann. 65 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 11. 5. 2000, A.L. vs. Italy, Rs. 41387/98. 66 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 9. 9. 2008, Boivin vs. 34 member states of the Council of Europe, Rs. 73250/01. 67 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 11. 5. 2000, A.L. vs. Italy, Rs. 41387/98, letzte Seite. 68 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 9. 9. 2008, Boivin vs. 34 member states of the Council of Europe, Rs. 73250/01. 69 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ticaret Anonim Sirketi vs. Ireland, Rs. 45036/98, Rn. 155. 70 EGMR, Kammer (5. Sektion) vom 06. 01. 2015, Klausecker vs. Deutschland, Rs. 415/07. 71 Vgl. hierzu auch den Beschluss des BVerfG vom 22. 6. 2006, 2 BvR 2093/05, NVwZ 2006, 1403.
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diese Entscheidung klagte der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht und wurde ebenfalls wegen Unzulässigkeit abgewiesen72 . Der Beschwerdeführer wandte sich gleichzeitig an das nach Art. 13 EPÜ (Europäisches Patentübereinkommen) zuständige interne Dienstgericht der EPO, dem von der EPO mit entsprechender Kompetenz ausgestatteten Administrative Tribunal der ILO. Hier wurde der Beschwerdeführer wiederum mit der Begründung abgewiesen, dass diese Instanz nur bereits eingestelltem Personal73 zur Verfügung stehe, nicht jedoch Bewerbern und Anwärtern auf entsprechende Posten; für diese Personengruppe sei keine Zuständigkeit des Gerichts gegeben, ebensowenig für die „Anweisung“ an die EPO, auf ihre Immunität zu verzichten. Das Gericht erkannte selbst, dass angesichts der bereits ergangenen Entscheidung des BVerfG, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, eine für den Betroffenen nicht hinzunehmende Rechtsschutzlücke bestand und empfahl der Organisation, auf die Immunität zu verzichten, bzw. die Angelegenheit über ein Schiedsverfahren zu lösen: „However regrettable a decision declining jurisdiction may be, in that complaint is liable to feel that he is victim of a denial of justice, the Tribunal has no option but to confirm the wellestablished case law according to which it is a court of limited jurisdiction“ (. . .) „the present judgment creates a legal vacuum and [the Tribunal] considers it highly desirable that the Organisation should seek a solution affording the complainant access to court, either by waiving its immunity or by submitting the dispute to arbitration“74 .
In Reaktion auf diesen Richterspruch bot die EPO dem Beschwerdeführer im August 2007 an, eine eigenständige Schiedsvereinbarung abzuschließen und die Sache vor einem Schiedsgericht zu behandeln und möglichst zu lösen75 , womit sich der Beschwerdeführer grundsätzlich einverstanden erklärte. Zunächst verlangte er jedoch, dass die Organisation auf ihre Immunität verzichtete, was nicht geschah, woraufhin der Beschwerdeführer das Angebot ablehnte. Der Beschwerdeführer wandte sich unter Art. 6 und Art. 13 EMRK im Jahre 2006 an den EGMR76 . Dieser entschied, dass Art. 6 I EMRK Anwendung finde77 und mit der Entscheidung des BVerfG, dass aufgrund der Immunität der Internationalen Organisation seine Zustän72 Das BVerfG gewährt Rechtsschutz (im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde) gegen Akte öffentlicher Gewalt, demnach auch gegen Akte supranationaler Organisationen, so in BVerfG, 2 BvR 2093/05 vom 22. 6. 2006, NVwZ 2006, 1403. Bei der Ablehnung eines Bewerbers an einer Internationalen Organisatioen handelte es sich nach Ausführungen des BVerfG jedoch nicht um einen solchen Akt supranationaler Natur der Organisation, sondern um eine im Binnenbereich der Organisation erlassene Entscheidung ohne rechtliche Wirkungen für den Einzelnen, bzw. ohne dass ein „Durchgriff auf die rechtliche Stellung Einzelner“ stattfände, BVerfG, a. a. O., Rn. 12. 73 „[o]fficials“, Art. II § 5 of the Statute und vorherige Rechtsprechung: Judgment No. 1964. 74 ILO Administrative Tribunal, 103rd Session, Judgment No. 2657. 75 Zunächst direkt vor dem Administrative Tribunal der ILO, als dieses absagte, vor einem zu bestimmenden Schiedsgericht mit drei Schiedsrichtern unter Zugrundelegung der Prozessregeln des Administrative Tribunal der ILO. 76 EGMR, Kammer (5. Sektion) vom 06. 01. 2015, Klausecker vs. Deutschland, Rs. 415/07. 77 Hier machte der EGMR bereits eine Reihe von detaillierten Ausführungen, beispielsweise in Abgrenzung zur Rechtsprechung Vilho Eskelinen, da der Beschwerdeführer weder Staatsbediensteter noch Bediensteter einer Internationalen Organisation war, unterstellte allerdings im Ergebnis die Anwendbarkeit von Art. 6 I EMRK, Kammer (5. Sektion) vom 06. 01. 2015, Klausecker vs. Deutschland, Rs. 415/07, §§ 48–52.
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digkeit zur Beurteilung des Falles in der Sache abgelehnt hatte, ein Eingriff in dieses Recht vorlag. Dieser Eingriff war jedoch nach Ansicht des EGMR gerechtfertigt78 , da der Eingriff ein legitimes Ziel verfolge als „long-standing practice established in the interest of the good working of these organisations“79 . Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stellte der EGMR auf das Angebot der EPO ab, die Angelegenheit vor einem Schiedsgericht zu klären, die der Beschwerdeführer abgelehnt hatte. Obwohl das Schiedsgericht weder zusammengestellt worden war, noch getagt hatte, prüfte der EGMR die prozessualen Modalitäten dieses (hypothetischen) Gerichts80 . Es war geradezu gängig, dass Bewerber oder auch casual employees und volunteers aus dem Anwendungsbereich des jeweiligen internen Rechtsschutzsystems der betreffenden Internationalen (supranationalen) Organisation fallen. Es wurde bisher von den Konventionsorganen noch nicht entschieden, ob ein Beschwerdeführer, der sich auf eine Stelle bei einer Internationalen Organisation ohne Erfolg beworben hat, sich gegen diese ablehnende Entscheidung gerichtlich zur Wehr setzen können muss oder die Immunität der Internationalen Organisation hier greift. In diesem Bereich geschieht jedoch zur Zeit ein Umdenken82 . Der EGMR hat in der Entscheidung als orbiter dictum zu verstehen gegeben, dass der Rechtsschutz, den die EPO vor ihrem Angebot auf Durchführung eines individuell auf den Beschwerdeführer zugeschnittenen Schiedsverfahrens angeboten hat, den Ansprüchen des reasonable alternative means-Tests wohl nicht genügt hätte. Die Entscheidung betraf die seltene, besondere Situation, dass zunächst kein adäquater alternativer Rechtsschutz zur Verfügung stand, sodann (quasi im letzten Moment) angeboten wurde und durch die Ablehnung seitens des Beschwerdeführers rein hypothetisch auf seine Vereinbarkeit mit den vom EGMR entwickelten konventionsrechtlichen Vorgaben untersucht werden musste. Das BVerfG hat entschieden, bevor der relevante Sachverhalt hinsichtlich des internen Rechtsschutzes der EPO abgeschlossen war, was zum einen die Frage des Zeitpunkts der nationalen Entscheidungen aufwirft und zum anderen die Frage, ob das BVerfG unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des EGMR nicht zu einer (im Hinblick auf Begründung und Ergebnis) anderen Entscheidung hätte kommen müssen: Von dem Angebot der EPO, die Sache vor einem Schiedsgericht (im Idealfall) zu klä78
EGMR, a. a. O., § 67 ff. EGMR, a. a. O., § 67. 80 Beispielsweise stellte der EGMR darauf ab, dass das Gericht mit drei Schiedsrichtern besetzt worden wäre, dem Mündlichkeitsgrundsatz entsprochen hätte und nicht-öffentlich getagt hätte und in prozessualer Hinsicht auf weitere Vorschläge des Beschwerdeführers eingegangen wäre, EGMR, a. a. O., § 70. Der Beschwerdeführer hatte beispielsweise geltend gemacht, dass das Gericht nichtöffentlich getagt hätte, was der Gerichtshof unter Bezugnahme mutatis mutandis auf seine Rechtsprechung im Fall Gasparini81 jedoch für unschädlich erachtete, sodass sich der Eingriff als verhältnismäßig darstellte und nach Ansicht des EGMR gerechtfertigt war. 81 EGMR, Urteil vom 12. 5. 2009, Gasparini vs. Belgien und Italien. Im Fall Gasparini entschied der EGMR, dass, wenn ein Staat Souveränität auf einen Internationale Organisation überträgt, ihn die Verpflichtung trifft, zu überwachen (to monitor), ob die Konventionsrechte durch die Organisation gewährleistet werden, mithin ein „äquivalentes Schutzniveau“ erreicht wird und sich dieses nicht als manifestly deficient darstellt. 82 So z. B. i. R. d. United Nations Administrative Tribunal (UNAT), das durch eine umfangreiche Reform den Kreis der beschwerdeberechtigten Personen signifikant erweiterte, hierzu: Reinisch/ Knahr, From the United Nations Administrative Tribunal to the United Nations Appeals Tribunal – Reform of the Administration of Justice System within the United Nations, MPYUNL 2008, S. 447 ff. 79
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ren, konnte es zum Zeitpunkt der Unzulässigkeitsentscheidung 2006 noch keine Kenntnis haben, was bedeutet, dass jedenfalls die Vorgaben des EGMR für einen adäquaten, alternativen Rechtsschutz nicht erfüllt waren und eine Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK im Raum stand. Der Gerichtshof stellte jedoch gleichzeitig klar, dass es in anderen Verfahren das Rechtsschutzsystem der EPO bereits als äquivalenten Rechtsschutz hat ausreichen lassen. Der Fall Klausecker zeigt, dass die EPO die Rechtsprechung des EGMR „mit allen Mitteln“, fast gegen den Willen des Beschwerdeführers versucht hat, umzusetzen, indem sie aktiv an der Auflösung des Konflikts zwischen der EPO und dem Beschwerdeführer arbeitete und mehrere Vorschläge der alternativen Streitbeilegung unterbreitete, selbst als der Beschwerdeführer schon mehrmals abgelehnt hatte. Das „Insistieren“ der EPO erfüllt das wachsende Bedürfnis nach good governance innerhalb der Verhaltensweisen Internationaler Organisationen83 . f) Der Fall Perez Der Fall Perez84 wurde zeitgleich zum Fall Klausecker entschieden und hatte die Beschwerde einer ehemaligen Mitarbeiterin der Vereinten Nationen zum Inhalt, die sich nach 32-jähriger Tätigkeit innerhalb der UN gegen ihre Kündigung wehrte. Die Beschwerdeführerin initiierte verschiedene Verfahren vor den organisationsinternen Rechtsschutzeinrichtungen (UN Joint Appeals Board (JAB), UN Administrative Tribunal (UNAT)), innerhalb derer sie die Kündigung angriff, umfassende Akteneinsicht und Schadensersatz verlangte. Die organisationsinternen Quasi-Gerichte entschieden ausschließlich im schriftlichen Verfahren. Das UNAT kam zu dem Ergebnis, dass das interne Verfahren vor dem JAB mit elf Monaten zu lange gedauert hatte und sprach ihr zusätzlichen Schadensersatz zu. Die beantragte Akteneinsicht bekam sie nicht. Auch wurde sie nicht wieder eingestellt. Da der letzte Einsatzort der Beschwerdeführerin in Bonn war, reichte sie Individualbeschwerde gegen Deutschland beim EGMR ein, ohne sich zuvor an die deutschen Arbeitsgerichte und das BVerfG gewandt zu haben. Der EGMR entschied, dass die Beschwerdeführerin sich zwar mangels Erfolgsaussicht nicht an die nationalen Arbeitsgerichte hätte wenden müssen, jedoch den direkten Weg zum BVerfG hätte gehen müssen. Die vorgetragenen Modalitäten vor den organisationsinternen Tribunalen erkannte der EGMR als grundsätzlich mit Art. 6 I EMRK nicht vereinbar an85 , diese Missstände hätte die Beschwerdeführerin allerdings direkt vor den Rechtsschutzeinrichtungen der UN vortragen müssen. Daher ließ der EGMR die Frage der Verantwortlichkeit Deutschlands ratione personae im Ergebnis sogar offen86 . Deutschland hatte ohne die Einschaltung des Verfassungsgerichts keine Möglichkeit, die Rechtssache zu behandeln und ggf. Abhilfe zu schaffen, was der Subsidiaritätsgrundsatz (konkretisiert in dem Zulässigkeitskriteriums des Ausschöpfens des nationalen Rechtsweges, Art. 35 EMRK) jedoch erfordere, sodass die Beschwerde im Ergebnis als unzulässig wegen feh-
83 84 85 86
Reinisch, Immunity of International Organizations, S. 305. EGMR, Kammer (5. Sektion) vom 6. 1. 2015, Perez vs. Deutschland, Rs. 15521/08. EGMR, a. a. O., § 65. EGMR, a. a. O., § 66.
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lender Erschöpfung des nationalen Rechtsweges (rejection for non-exhaustion of domestic remedies) abgewiesen wurde. Dem Fall Perez lag ein anderer Sachverhalt als dem Fall Klausecker zugrunde. Hier war der Beschwerdeführerin nach jahrzehntelanger Beschäftigung bei der UN gekündigt worden. Sie hatte dargelegt, dass eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG aller Voraussicht nach keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, was der EGMR zu Recht so nicht gelten ließ, da dieses Argument bei entsprechender Statistik sonst das Subsidiaritätskriterium der Individualbeschwerde völlig aushebeln könnte. Der EGMR machte gleichzeitig deutlich, dass der Rechtsschutz der UN, so wie er der Beschwerdeführerin gegenüber gewährt wurde, nicht ausreichend nach Maßgabe des Art. 6 I EMRK war, strukturelle Defizite jedoch unmittelbar vor den jeweiligen (organisationsinternen) Rechtsschutzeinrichtungen dargelegt und geltend gemacht werden müssen, um später innerhalb der Individualbeschwerde vor dem EGMR durchgreifen zu können. In dieser Konsequenz hatte der EGMR dies zuvor noch nicht gefordert. 2. Das Kriterium der Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit für den Kläger In den Urteilen Berger87 und Levages Prestations Services88 , welche keinen Immunitätsbezug hatten, hat der EGMR die Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des Rechtsschutzes für den Kläger im Rahmen von der Prüfung des Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK als notwendige Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Eingriffs statuiert. In den beiden Fällen ging es darum, ob die Beschwerdeführer die prozessualen Voraussetzungen ihres jeweils einschlägigen Rechtsschutzes vorhersehen und somit hätten einhalten können89 . Der EGMR stellte auf die nationalen Verfahrensvorschriften der jeweiligen Rechtsbeschwerden ab und kam zu dem Ergebnis, dass diese den Beschwerdeführern hätten bekannt sein müssen, sodass keine Verletzung von Art. 6 I EMRK vorlag. In beiden Fällen stellte der EGMR darauf ab, ob der Gang des Verfahrens und sein Ausgang für die Beschwerdeführer vorhersehbar war: „In order to satisfy itself that the very essence of the applicant company’s ‚right to a tribunal‘ was not impaired by the declaration that the appeal was inadmissable, the Court will firstly examine whether the procedure to be followed for an appeal on points of law (. . .) could be regarded as foreseeable from the point of view of a litigant and whether, therefore, the penalty for failing to follow that procedure did not infringe the proportionality principle“90 .
Der EGMR verknüpft hiermit die Frage der Beeinträchtigung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK an die Vorhersehbarkeit und Erkennbarkeit des Verfahrensweges aus Sicht des Klägers. Nur, wenn dieser hätte erkennen können, welche Zulässigkeitsvoraussetzungen er erfüllen hätte müssen, ist nach Ansicht des 87
EGMR, Urteil vom 21. 05. 2003, Berger vs. France, Rs. 48221/99. EGMR, Urteil vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Rs. 21920/93. 89 Im Fall Levages Prestations hatten es die Beschwerdeführer versäumt, ein Dokument der Beschwerde beizulegen, sodass diese (nach drei Jahren) letztinstanzlich aufgrund dieses formalen Fehlers als unzulässig abgewiesen wurde. 90 EGMR, Urteil vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Rs. 21920/93, Rn. 42. 88
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EGMR jedenfalls der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht nicht verletzt. Es reicht – auch wenn sich das betreffende Verfahren selbst für spezialisierte Prozessrechtler als kompliziert darstellt – wenn das nationale Recht entsprechende Regelungen hierzu explizit vorsieht, um die Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit zu bejahen. Hiernach bleibt festzuhalten, dass der EGMR im Zusammenhang mit dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK jedenfalls verlangt, dass der gewährte bzw. zu gewährende Rechtsschutz vorhersehbar und erkennbar sein muss, wobei an diese Kriterien nicht all zu hohe Anforderungen gestellt werden. Es reicht aus, wenn das nationale Recht entsprechende Regelungen vorhält, um diese Kriterien zu erfüllen. 3. Zwischenergebnis Unter Art. 6 EMRK prüft der EGMR im Rahmen der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs den von der jeweiligen Organisation vorgesehenen Rechtsschutz auf Gleichwertigkeit im Hinblick auf den durch die Konvention gewährten Rechtsschutz, wobei er keinen hierzu identischen Rechtschutz verlangt. Die Mitgliedsstaaten einer Internationalen Organisation müssen einen dem Standard der Konvention vergleichbaren Rechtschutz anbieten und können sich ihrer Verantwortung aus Art. 6 EMRK durch Beitritt zu einer Internationalen Organisation nicht entziehen. Diese Überlegungen vorangestellt fällt auf, dass der EGMR im Falle der Beurteilung eines Eingriffs in Art. 6 I EMRK durch die Gewährung von Staatenimmunität bisher noch keine vergleichbaren Vorgaben im Hinblick auf das Vorliegen alternativen Rechtsschutzes gemacht hat. Dies überzeugt nicht. Stand dem privaten Kläger kein alternativer, ihm erkennbarer und vorhersehbarer Rechtsschutz zur Verfügung, so liegt die Vermutung nahe, dass das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK komplett versagt und in seinem Wesensgehalt betroffen ist91 . Dies hat der EGMR in den Fällen Berger92 und Levages Prestations Services93 im Rahmen der Prüfung eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zu Gericht (allerdings ohne Bezug zu völkerrechtlichen Immunitäten) sogar explizit so entschieden. Wie bereits gezeigt, ist der Wesensgehalt eines schrankenlos gewährten Menschenrechts immer dann angegriffen, wenn die Regelungssubstanz dieses Rechts, also dessen Rechtsstruktur angegriffen und beschädigt wird, während eine Fehlbalancierung der betroffenen Interessen auf Ebene der Rechtsanwendung nur in Ausnahmefällen zu einer Verletzung des Wesensgehalts führt94 . Übertragen auf die Staatenimmunität bedeutete diese Aussage, dass immer dann der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht verletzt ist, wenn dem Beschwerdeführer keine ihm erkennbaren und vorhersehbaren alternativen
91 Die Autoren sehen hierin einen Denial of Justice, vgl. hierzu Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 72 m. w. N. 92 EGMR, Urteil vom 21. 05. 2003, Berger vs. France, Rs. 48221/99. 93 EGMR, Urteil vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Rs. 21920/93. 94 Vgl. zur strukturellen Dimension des Wesensgehalts Kap. A. III. 2. c).
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Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung standen. In dieser Konsequenz wird das Wesensgehaltskriterium vom EGMR allerdings (noch) nicht praktiziert95 . 4. Abgrenzung zu Art. 35 I EMRK Nach Art. 35 I EMRK ist die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK an das Erfordernis der Erschöpfung des nationalen Rechtsweges geknüpft (ansonsten droht die Unzulässigkeitsentscheidung auf Grund fehlender Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe [„non-exhaustion of domestic remedies“]). Im Fall Cudak beschäftigte sich der EGMR auf die Einrede der Unzulässigkeit der Beschwerde („preliminary objection“) der litauischen Regierung mit der Frage, ob die Beschwerdeführerin sich nicht an polnische Gerichte hätte wenden müssen (die Beschwerdeführerin arbeitete in der polnischen Botschaft in Vilnius). Diesen Einwand verstand der EGMR als Antrag, nach Art. 35 I EMRK die Beschwerde mangels Ausschöpfens des nationalen Rechtsweges für unzulässig zu erklären. Hierbei stellte er fest, dass Art. 35 I EMRK nur Anwendung finde auf Instanzen, die dem Beschwerdeführer in dem beklagten Staat ggf. zur Verfügung stehen. Da die Parteien im Arbeitsvertrag die Anwendung litauischen Rechts vereinbart hatte, das die polnischen Richter nunmehr hätten anwenden müssen, verwarf der EGMR diesen Einwand als „unrealistisch“ wegen „praktischer Unwägbarkeiten“: „such a remedy, even supposing that it was theoretically available, was not a particularly realistic one in the circumstances of the case. If the applicant had been required to use such a remedy she would have encountered serious practical difficulties which would have been incompatible with her right of access to court.“96 .
Der EGMR setzt sich damit im Rahmen der Prüfung nach Art. 35 I EMRK nur sehr oberflächlich mit der Frage auseinander, ob alternative Rechtschutzforen zur Verfügung gestanden hätten. Art. 35 I EMRK soll den beklagten Staaten die Möglichkeit einräumen, den von der Konvention geforderten Menschenrechtsstandard zunächst selbst durch entsprechende Organisation der Staatsgewalten und die entsprechende Gewährleistung institutioneller Garantien zu gewährleisten. Die durch den EGMR garantierten regionalen Menschenrechtsschutzmechanismen sind hierzu subsidiär97 . Demnach erfasst Art. 35 I EMRK auch nur nach dem Recht des jeweiligen Konventionsstaat verfügbare und effektive Rechtsbehelfe. Rechtsbehelfe außerhalb des beklagten Konventionsstaates fallen hiermit bereits aus dem Anwendungsbereich von Art. 35 I EMRK. 5. Verfahren vor einem dritten Staat Von der Möglichkeit, den beklagten Staat vor den eigenen nationalen Gerichten zu verklagen (defendant-state-alternative-forum-Test98 ), ist diejenige Möglichkeit zu unterscheiden, ein gerichtliches Verfahren in einem hiervon unabhängigen dritten Staat zu ini95 Zur Möglichkeit der Übertragung der soeben dargestellten Rechtsprechung zur Immunität Internationaler Organisationen auf den hier vorliegenden Konflikt im Detail sogleich unter VI. in diesem Kapitel. 96 EGMR, Urteil vom 23. 3. 2010, Cudak vs. Lithuania, Rs. 15869/92, § 36. 97 Vgl. Hierzu: Peters in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 35, Rn. 8. 98 Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States and International Organizations, S. 96.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
tiieren. Fraglich ist, ob der Verweis auf eine (mögliche) Ausweichmöglichkeit zu einem nationalen Gericht im Ausland für die Verneinung einer Wesensgehaltsbeeinträchtigung ausreichend ist. Der EGMR hat den Beschwerdeführer in der Entscheidung Prince HansAdam II of Liechtenstein vs. Germany99 beispielsweise darauf verwiesen, dass er die Eigentumsverhältnisse am streitgegenständlichen Gemälde auch im heutigen Tschechien hätte überprüfen können. Hiergegen wendete sich Richter Ress, indem er ausführte: „alternative means in the sense of Waite and Kennedy cannot be alternative means in a third State“100 .
Legt man die Maßstäbe der Entscheidungen Waite and Kennedy bzw. Beer and Regan an, so kann der pauschale Verweis auf ein mögliches alternatives Rechtsschutzforum im Ausland nicht ausreichen, es müssen vielmehr die konkreten Eigenschaften dieses Rechtsschutzes auf Konsistenz mit den Vorgaben der EMRK (spezifiziert durch den EGMR) untersucht werden. Insoweit ist Richter Ress zuzustimmen, dass ein Beschwerdeführer nicht auf irgendwelche möglichen Rechtsschutzgegebenheiten im Ausland verwiesen werden darf. Demgegenüber wird vorliegend jedoch nicht verlangt, die Maßstäbe, die der EGMR in Bezug auf die Immunität Internationaler Organisationen aufgestellt hat, insgesamt auf die Fälle der Staatenimmunität zu übertragen. Es überzeugt im Fall Prince Hans-Adam II of Liechtenstein, auf alternativen Rechtsschutz in Tschechien hinzuweisen und insofern jedenfalls die Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu verneinen101 ; das Ergebnis, dass der Wesensgehalt nicht verletzt ist, bedeutet nicht, dass später auf Prüfungsebene der Verhältnismäßigkeit nicht doch eine Verletzung von Art. 6 I EMRK festgestellt werden könnte. Wie bereits dargelegt102 stellt sich die Konnexität zwischen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der Prüfung des Wesensgehalts des Rechts auf Zugang zu Gericht dergestalt dar, dass die Verletzung des Wesensgehalts gleich einer hinreichenden Bedingung einer Verletzung der Verhältnismäßigkeit ist, es jedoch gleichzeitig Fälle geben kann, in denen der Wesensgehalt nicht verletzt ist, der Eingriff sich jedoch als unverhältnismäßig darstellt. Stellt ein dritter Staat Rechtsschutz zur Verfügung, so kann dies dem Wesensgehaltskriterium bereits genügen, solange dieser Rechtsschutz dem Beschwerdeführer zumutbar und für ihn vorhersehbar war und jedenfalls dem nationalen Rechtsschutz gleichwertig, wenn auch nicht identisch war. 6. Übertragbarkeit der Rechtsprechung zu den alternative remedies auf die Staatenimmunität Es fragt sich, ob die Rechtsprechung zu den alternative remedies, die Internationale Organisationen vorhalten müssen, um dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK zu entsprechen, auf die Konstellation des Konflikts zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK entsprechend herangezogen werden darf. Es bestehen in Herkunft und Entwicklung signifikante Unterschiede zwi99 Urteil des EGMR vom 12. 07. 2001, Prince Hans-Adam II of Liechtenstein vs. Germany, Rs. 42527/98. 100 Concurring Opinion, Prince Adam und hierzu: Diss. Op. Judge Ress, EKMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 24. 2. 1997, Waite and Kennedy vs. Germany, Rs. 26083/94, abrufbar im Report der EKMR vom 2. 12. 1997, S. 16 ff. 101 Eine Prüfung der möglichen Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des Rechtsschutzes hätte freilich noch erfolgen müssen. 102 Kap. B. III. 2. c).
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schen der Immunität von Internationalen Organisationen und der von Staaten. Während die Staatenimmunität völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und ihre Weiterentwicklung auf gefestigte Staatenpraxis angewiesen ist, ergibt sich die Immunität Internationaler Organisationen aus den jeweiligen Gründungsverträgen. Die Staatenimmunität ist auf die Würde und Souveränität der Staaten zurückzuführen und folgt auch funktionalen Erwägungen, während die Immunität der Internationalen Organisationen diese von der politischen Einflussnahme der (Regierungen der) Mitgliedstaaten abschirmt und eine ungestörte Handlungsfähigkeit der Organisation gewährleistet. Um zu beurteilen, ob die Entwicklungen im Rahmen der Immunität Internationaler Organisationen auf den Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK übertragen werden können, werden die Grundlagen der Immunität Internationaler Organisationen zunächst knapp dargestellt. a) Grundlagen und Entwicklung der Immunität Internationaler Organisationen Internationale Organisationen sind zwischenstaatliche Zusammenschlüsse oder Institutionen, welche auf einer völkervertraglichen Grundlage existieren, eine besondere Zielrichtung verfolgen und hierfür sowie für ihre interne Organisation über spezielle Organe verfügen103 . Sie nehmen Aufgaben wahr, die in der Regel die Möglichkeiten eines einzelnen Staates übersteigen104 . Internationale Organisationen sind für die effektive Erfüllung dieser Aufgaben auf die Verleihung von Völkerrechtssubjektivität (international personality) sowie auf Privilegien und Immunitäten angewiesen. Die Gewährung von Immunität sichert die effiziente, zweckgerichtete Ausführung der Aufgaben, sodass Internationale Organisationen schon von Beginn an per Gründungsvertrag mit entsprechenden Privilegien und Immunitäten ausgestattet werden. Mit der Gewährung von Immunität soll zunächst der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Internationale Organisation „gezäumt“105 werden, was sowohl im Interesse des Staates (und der anderen Mitgliedstaaten) liegt als auch in dem der Internationalen Organisation. Ergebnis ist die effektive Unabhängigkeit der Internationalen Organisation von der individuellen Kontrolle einzelner Mitgliedstaaten (über nationales Recht oder die nationale Verwaltung, jedoch unabhängig von dem (gewollten) Einfluss, den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Befugnisse in den internen Entscheidungs- und Kontrollgremien ausüben). Andernfalls wären sie den Unwägbarkeiten nationaler Gerichtsbarkeiten (abhängig vom jeweiligen politischen/verfassungsrechtlichen Regime106 ) oder auch der politischen Einflussnahme (v. a. ihres Sitzstaates) ausgesetzt. Gleichzeitig ist ein Schutz vor Einzelklagen natürlicher oder juristischer Personen, die die Aktivitäten oder die allgemeine Zweckausrichtung der Internationalen Organisation angreifen und ihre Handlungsfähigkeit beeinträchtigen oder aufheben wollen, notwendig107 . Zuletzt soll auch das Risiko dif103 Fox, The Law of State Immunity, 2. Aufl., S. 724; vgl. auch Art. 24 I GG: zwischenstaatliche Einrichtungen. 104 Kunz-Hallstein, FS Hailbronner, S. 597. 105 Jenks, International Immunities, S. 166: „to bridle the sovereignty of States in their treatment of international organisations“. 106 Robert, The Jurisdictional Immunities of International Organizations, S. 1436. 107 Robert, a. a. O., S. 1437.
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ferierender oder widersprüchlicher Entscheidungen nationaler Gerichte über Aktivitäten der Organisation vermieden werden, was andernfalls zu großer Rechtsunsicherheit führen würde108 . Sämtliche Vorrechte werden der Internationalen Organisation durch (Gründungs-)Vertrag verliehen109 und sind – jedenfalls dem Wortlaut nach – funktionell auf die jeweiligen satzungsmäßigen Aufgaben der Organisation beschränkt. Die Rechtssubjektivität sowie die Immunität sind zweckabhängig und funktionsadäquat beschränkt110 . Die Entwicklung von einer absoluten zu einer relativen Geltung der Immunitäten im Falle sog. acta iure imperii, wie sie die Staatenimmunität durchlaufen hat, hat im Recht der Internationalen Organisationen nicht stattgefunden. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die funktionale, satzungsmäßige Beschränkung der Immunität verwiesen, die bereits eine relative, restriktive Geltung herbeiführe, sodass von einer absolut geltenden Immunität gar nicht ausgegangen werden könne. Die Wurzeln der funktionalen Immunität von Internationalen Organisationen seien nicht – wie im Falle der Staatenimmunität – in der Gleichheit und Souveränität der Staaten zu finden, sondern in einer „funktionalen Notwendigkeit“112 . Weiterhin sei eine Internationale Organisation nur in den Grenzen ihrer Aufgaben und Zuständigkeiten mit Völkerrechtspersönlichkeit ausgestattet; eine Handlung, die sich außerhalb dieser Aufgabenbereiche befindet (ultra vires113 ), könne daher auch keine Immunität genießen, da sie selbst schon unrechtmäßig sei114 . Die Immunität Internationaler Organisationen wird in den jeweils einschlägigen Vertragsregelgungen funktional beschrieben115 . 108
Robert, a. a. O., S. 1437. Andere Rechtsquellen gibt es nicht wirklich. Die UN Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property vom 13. 2. 1946, 1 UNTS 15 regelt die Immunität von Internationalen Organisation nicht explizit. Lediglich in Art. 15 und in Art. 21. 1 (a) der Konvention sind Internationale Organisationen erwähnt. Die 1975 von der ILC ausgearbeitete Vienna Convention on the Representation of States in relation to International Organisations, ILM 25 (1986), S. 543, ist bis heute nicht in Kraft getreten. Weitere internationale Vertragstexte über das Recht der Internationalen Organisationen und die grundsätzliche Gewährung von Immunität sind nicht vorhanden. Universale bzw. überregionale Kodifikationsbemühungen gibt es nicht viele. Nennenswert sind in diesem Zusammenhang allein die Articles on the Responsibility of International Organizations (ARIO) der ILC von 2011, die die UN Generalversammlung mit Resolution 66/100 vom 9. 12. 2011 zur Kenntnis genommen hat. 110 Unter Immunität ist auch in diesem Zusammenhang immunity from every form of legal process, demnach ein „Doppelvorrecht“ gegenüber Vollstreckung und Gerichtsbarkeit zu verstehen, weswegen Kunz-Hallstein111 , auch von „Gerichtsbefreiung“ spricht. 111 Kunz-Hallstein, a. a. O., S. 599. 112 Möldner, International Organizations or Institutions, Privileges and Immunities, MPEPIL. 113 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, IOLR 2004, S. 63, m. w. N. und dem prominenten Zitat „any activity of an international organization is either official or ultra vires“. 114 Ein anderer Ansatz geht von der grundsätzlichen Autonomie der Internationalen Organisation gegenüber ihren Mitgliedstaaten aus, was prozessual in entsprechenden Gerichtsverfahren zu einer Unzuständigkeit ratione materiae führte. Dies wird besonders in der deutschen Rechtsprechung vertreten, hierzu: Kunz-Hallstein, FS Hailbronner, S. 604 ff. m. w. N., Kunz-Hallstein, der besagte Autonomie einer Internationalen Organisation als „Analogon zur Souveränität und Unabhängigkeit der Staaten“ erkennt und in diesem Ansatz zudem den praktischen Gesichtspunkt sieht, dass die Frage nach der völkerrechtlichen Grundlage (der Immunität) entfällt. 115 Vgl. Art. VIII Abs. 2 Marakesh Agreement establishing the WTO: „The WTO shall be accorded by each of its Members such privileges and immunities as are necessary for the exercise of its 109
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Internationale Organisationen sind nicht in der bestehenden Völkerrechtstradition verankert, sondern stellen ein relativ neues Phänomen116 im Internationalen Rechtsraum dar117 . b) Unterschiede zwischen der Staatenimmunität und der Immunität Internationaler Organisationen Es ist zwar allgemeinhin „as a matter of general international law“118 anerkannt, dass einer Internationalen Organisation, die Völkerrechtspersönlichkeit beanspruchen kann, auch Immunität vor nationalen Gerichten gewährt werden muss. Die Quelle und v. a. der Umfang und die Reichweite dieser Immunität sind jedoch in den Gründungsverträgen der Organisation definiert, während die Staatenimmunität grundsätzlich auf Völkergewohnheitsrecht basiert. Die Staatenimmunität ist völkergewohnheitsrechtlich universal anerkannt, was im Gegensatz zur Immunität Internationaler Organisationen auch bedeutet, dass sie unter Berufung auf das völkerrechtliche Reziprozitätsprinzip119 die Befolgung des Immunitätsgrundsatzes verlangen können, während Internationalen Organisationen keine derartige Sanktionsmöglichkeit offen steht120 . Im Ergebnis kommt es häufig zu einer nahezu absoluten Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen, wobei sie, wie am Beispiel der Rechtsprechung nationaler Gerichte und des EGMR gezeigt, neuerdings dann Einnschränkungen unterliegt, wenn kein organisationsinterner Rechtsschutz angeboten wird, der den Anforderungen des EGMR entspricht. Sowohl die Staatenimmunität als auch die Immunität Internationaler Organisationen folgen (auch) funktionalen Rechtfertigungen, allerdings in unterschiedlichem Umfang. Die Staatenimmunität, die primär auf der Würde und Souveränität der Staaten fußt, ist an die Veränderung gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Bedingungen gebunden, functions.“; Art. 40 (a) Statute of the Council of Europe: „The Council of Europe, representatives of members and the Secretariat shall enjoy in the territories of its members such privileges and immunities as are reasonably necessary for the fulfilment of their functions. (. . .)“; es ist jedoch oft unklar, wo die von diesen Regelungen vorgesehenen funktionalen Immunitätsgrenzen verlaufen; in der Praxis wird Internationalen Organisationen nahezu grenzenlose, absolute Immunität gewährt, so auch Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, IOLR 2004, S. 60f, obwohl die funktionale Begründung der Immunität von Internationalen Organisationen eigentlich eine restriktive Geltung nahelegt, sodass inzwischen sogar die Organisationen selbst von einer absoluten Immunität ausgehen und sich hierauf explizit berufen: So bspw. die Meldung des UN Office of Legal Affairs: „[t]he immunity accorded international organizations is an absolute immunity and must be distinguished from sovereign immunity which in some contemporary manifestations, at least, is more restrictive.“, UN Office of Legal Affairs, Memorandum to the Legal Adviser, UNRWA, UNJYB (1984), S. 188. 116 Es ist noch nicht lange her, da definierte Heinrich Triepel in strikt dualistischer Weise Recht als innerstaatliches oder internationales Recht, wobei er letzteres (Völkerrecht) als Recht definierte, das nur für die Verkehrsbeziehungen koordinierter Staaten untereinander gelte, Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 23 ff. Von Internationalen Organisationen war noch keine Rede. 117 Fox, The Law of State Immunity, 2. Aufl., S. 724. 118 Fox, The Law of State Immunity, S. 726. 119 Das Reziprozitätsprinzip beinhaltet die völkerrechtliche Kernregel, dass ein Staat, der einen Anspruch aus Völkerrecht begründen und durchsetzen möchte, die entsprechende völkerrechtliche Norm auch selbst als bindend gegenüber sich selbst akzeptiert/zu akzeptieren hat, was die Befolgung und die Effektivität des Völkerrechts sichert, Dolzer in Graf Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 6. Abschnitt, Rn. 26 ff. 120 Fox, The Law of State Immunity, S. 733, m. w. N.
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was dazu führte, dass ihr Schutzbereich dauernd angepasst und im Ergebnis eingeschränkt worden ist. Weiterhin hängt die Staatenimmunität unmittelbar von dem völkerrechtsdogmatischen Verständnis des Staates als Rechtssubjekt – in Abgrenzung zu der Person, die das Staatsoberhaupt bildet121 – ab, was weitere Anpassungen bedingte. Die Immunität Internationaler Organisationen folgt nahezu ausschließlich funktionalen Erwägungen und kann zudem auf keine der Staatenimmunität vergleichbare Entwicklungshistorie zurückgreifen. c) Übertragbarkeit der Entwicklungen im Bereich der Immunität Internationaler Organisationen auf die Staatenimmunität Gleich mehrere Überlegungen sprechen dafür, die Überprüfung alternativen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Gewährung von Staatenimmunität auf der Ebene der Wesensgehaltsprüfung durchzuführen. Zunächst bleibt im Falle einer Immunitätsgewährung, bei der dem Beschwerdeführer kein alternatives Beschwerdeforum zur Verfügung steht, keinerlei Restgehalt seines Rechts auf Zugang zu Gericht, was im Ergebnis zu einem vollständigen Denial of Justice führt und das Recht auf Zugang zu Gericht nicht etwa in dessen Rechtsanwendung beeinträchtigt, sondern in dessen Existenz. Es wird nach ductus des EGMR nicht mehr praktisch und effektiv, sondern nur noch theoretisch und illusorisch122 gewährt, was nicht dem heutigen Menschenrechtsschutzstandard entspricht. Gleichzeitig ist ein Trend in den Entscheidungen (v. a.) nationaler Gerichte zu verzeichnen, die die Bereitstellung alternativer Rechtsschutzes nicht nur als Vorbedingung für die Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen vorausgesetzen, sondern auch in Fällen von Staatenimmunität123 , was für eine beginnende völkergewohnheitsrechtliche Übung spricht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der bekannten Solange II-Entscheidung verlangt, dass ein dem nationalen Recht gleichwertiger Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährt wird124 . Diese Rechtsprechung des BVerfG ist auf andere supranationale und internationale Organisationen übertragbar und auch von anderen Staaten praktiziert125 . Um untragbare Rechtsschutzlücken im Hinblick auf Art. 6 I EMRK zu vermeiden, empfiehlt es sich daher, auch im Recht der Staatenimmunität alternative Rechtsschutzmöglichkeiten als Vorbedingung für die Gewährung von Immunität zu verlangen126 .
121 Vom Absolutismus zum Liberalismus, hierzu im Detail: Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, S. 4 ff. 122 U. a. EGMR, Urteil vom 9. 10. 1979, Airey vs. Ireland, Rs. 6289/73, Rn. 24. 123 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 72 m. w. N. in Fn. 53 und S. 79, 82. Reinisch/Weber beschreiben diese Entwicklungen als „healthy“. 124 Solange II, während es in Solange I sich noch selbst für zuständig erachtet hatte, solange kein äquivalenter Grundrechtsschutz durch den EuGH angeboten wurde. Mit der Entwicklung einer differenzierten Grundrechtssprechung auf Ebene der EuGH-Rechtsprechung kehrte es diese Entscheidung um. 125 Reinisch/Weber, In the Shadow of Waite and Kennedy, S. 75 mit Nachweisen aus der italienischen Jurisprudenz. 126 Dass das Erfordernis alternativen Rechtsschutz vor anderen Immunitätsformen nicht Halt macht, zeigt auch die Entscheidung des Österreichischen Verfassungsgerichts, W. vs. Johannes (Hans) Adam, Fürst von Liechtenstein (Head of State), Oberster Gerichtshof, 14. 2. 2001, No. 7Ob316/00x, Austrian Review of International and European Law (2001), S. 350 ff., in der die
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Weiterhin verlangen auch internationale Tribunale regelmäßig die Einrichtung eines effektiven Rechtsschutzes, um einen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht zu rechtfertigen, entweder durch Installierung organisationseigener Mechanismen oder über das Zurückgreifen bestehender Streitschlichtungsmechanismen (durch Kompetenz begründende vertragliche Regelungen). „The United Nations may be required to bear responsibility for the damage arising from such acts [of agents acting in their official capacity]. However, it is clear from Article VIII, Section 29, of the General Convention, such compensation claims against the United Nations shall not be dealt with by national courts but shall be settled in accordance with the appropriate modes of settlement that the „United Nations shall make provisions for“ pursuant to Section 29“127 .
Die Anwendung des Erfordernisses alternativen Rechtsschutzes auf Fälle der Staatenimmunität wurde auch von dem abweichenden Richter des IGH Yusuf im Fall Jurisdictional Immunities128 unter direkter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR in den Fällen Waite and Kennedy und Beer and Regan gefordert129 . Richter Yusuf weist darauf hin, dass der Gerichtshof es versäumt hat, diesen wichtigen Punkt zu adressieren. Er ist sowohl mit dem Ergebnis des Verfahrens als auch mit der Begründung der Entscheidung nicht einverstanden. Richter Yusuf ist der Ansicht, dass das Prinzip der Staatenimmunität durch die Rechtsprechungspraxis nationaler Gerichte und unterschiedliche Staatenpraxis per se fragmentiert und unbestimmt sei. Beispielsweise sei die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestinis ebenfalls nicht eindeutig und Ausdruck des nicht gefestigten Regelungsgehalts der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Staatenimmunität130 . Er fordert bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen der Staatenimmunität vorliegen, zu berücksichtigen, ob der Beschwerdeführer Zugang zu (einem) Gericht hatte. „The assessment of whether, in the present case, immunity should have been granted or could have been denied under international law by the Italian courts cannot exclude (. . .) the application of the general principles underlying human rights and humanitarian law and embodying basic rights such as the right to an effective remedy (. . .) and the right to protection from denial of justice (. . .).“131
Hiermit argumentiert Richter Yusuf sehr ähnlich wie Richter Loucaides, wenn dieser ausführt, dass der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht immer dann verletzt sei, wenn die Berufung der Immunität die Befassung mit der Rechtssache vor nationalen Gerichten vollständig verhindere132 , auch wenn Richter Yusuf nicht unmittelbar auf den Wesensgehalt von Menschenrechten Bezug nimmt, sondern auf die Bedeutung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz als allgemeins Prinzip des Völkerrechts abstellt und als ganz grundlegend für jeden Beschwerdeführer („basic right“). Gleichzeitig weist Richter Yusuf darauf hin, dass das Prinzip der Staatenimmunität ständigen Anpassungsvorgängen unterworfen ist, die sich v. a. an der (internationalen) gesellschaftlichen Entwicklungen orientiert. Gewährung der Immunität eines Staatsoberhauptes von dem Erfordernis alternativen Rechtsschutzes abhängig gemacht wurde. 127 IGH: Difference Relating to Immunity from Legal Process of a Special Rapporteur of the Commission on Human Rights (Cumaraswany), [1999] I.C.J. Report 62; zu der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR vgl. Kap. 3. 128 Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy, Greece intervening), Judgment, I.C.J. Reports 2012, S. 99. 129 I.C.J., a. a. O., S. 291 ff., Diss. op. Richter Yusuf. 130 Yusuf, a. a. O., S. 297 („fragmentary and unsettled“); zu der Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestinis ferner Kap. A. III. 2. 131 Yusuf, a. a. O., S. 299. 132 Hierzu unter Kap. B. III. 2. b).
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„Immunity is not an immutable value in international law. Its adjustability to the evolution of the international society, and its flexibility, are evidenced by the number of exceptions built gradually into it over the past century, most of which reflect the growing normative weight attached to the protection of the rights of the individual against the State, be that as a private party to commercial transactions with the State or as a victim of tortious acts by State officials“133 .
Diese Argumentation lehnt stark an die Auslegungssystematik des EGMR an, der bereits 1978 im Fall Tyrer die EMRK als living instrument verstanden und interpretiert hat134 . Diese Überlegungen sprechen dafür, die Entwicklung im Bereich der Immunnität Internationaler Organsiationen, alternativen Rechtsschutz zu verlangen, auch auf die Immunität von Staaten zu übertragen. Sowohl die Staatenimmunität als auch die Immunität Internationaler Organisationen befindet sich in einem ständigen Fluss und erfahren Anpassungen aufgrund aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Hierzu gehört, so zeigt ein empirischer Blick in viele nationalen Verfassungstexte und in die internationale Übung, dass das individuelle (Menschen-)Recht auf Zugang zu Gericht nunmehr völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist135 . 7. Zusammenfassung Die Prüfung des Vorliegens alternativer Rechtsschutzmöglichkeiten sollte auf Ebene der Wesensgehaltsprüfung von Art. 6 I EMRK erfolgen – dies aus folgenden Überlegungen heraus: Vorbedingung der Gewährung von Immunität an Internationale Organisationen ist regelmäßig das Vorliegen alternativer Rechtsschutzmöglichkeiten. Nationale Gerichte tendieren dazu, diese Vorbedingung auch auf andere Immunitätsformen zu übertragen. Die hier vorgeschlagene Lösung der Prüfung alternativen Rechtsschutzes auf der Ebene der Wesensgehaltsprüfung wird zudem wenige praktische Auswirkungen haben, als zunächst vermutet werden könnte. Dieser Test führt erst dann zu dem Ergebnis einer Verletzung von Art. 6 I EMRK, wenn es überhaupt keine erkennbaren, vorhersehbaren Rechtsschutzmöglichkeiten aus Sicht des Beschwerdeführers gegeben hat, was nur in seltenen Konstellationen der Fall sein wird. Die Anforderungen sind nicht all zu hoch. Für die Vorhersehbarkeit reicht es beispielsweise aus, dass ein spezialisierter Jurist das Verfahren und dessen Voraussetzungen den nationalen Gesetzen entnehmen und anwenden hätte können. Der Rechtsschutz kann zudem von einem dritten oder dem beklagten Staat selbst gewährt werden. Neu ist, dass dieser Punkt zum einen im Zusammenhang mit der Überprüfung der Gewährung von Staatenimmunität überhaupt geprüft und zum anderen am Wesensgehalt von Art. 6 I EMRK gemessen wird. Der Beschwerdeführer wird fast immer die Möglichkeit haben, den ausländischen Staat vor seinen eigenen nationalen Gerichten zu verklagen. Ist dies nicht der Fall und kommen auch keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten in Betracht (beispielsweise im Fall Al-Adsani136 ), liegt ein originärer Fall 133
Yusuf, a. a. O., S. 301. Hierzu Kap. B. I. 2. 135 Hierzu bereits unter Kap. E. IV. 3. c) und Whytock, Foreign State Immunity and the Right to Court Access, S. 2053 f. 136 EGMR, Urteil vom vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 134
V. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
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des Denial of Justice vor, der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht wäre verletzt. Diese Lösung überzeugt, die sonst resultierenden Ergebnisse unterschreiten den auf europäischer Ebene bereits etablierten Mindeststandard der Menschenrechte. Sollte kein Rechtsschutz gegeben sein, könnten die (grundsätzlich über jurisdiction verfügenden) nationalen Gerichte statt einer einfachen Immunitätsentscheidung darauf hinwirken (quasi als Vorbedingung der Gewährung staatlicher Immunität), dass der beklagte Staat kooperiert und ein alternatives Streitschlichtungsverfahren initiiert, beispielsweise vor einem Schiedsgericht137 . Umgekehrt sei darauf hingewiesen, dass das Ergebnis, dass der Wesensgehalt von Art. 6 I EMRK nicht verletzt ist, nicht automatisch den Schluss zulässt, dass Art. 6 I EMRK insgesamt nicht verletzt ist. Die Prüfung des – aus Sicht des Beschwerdeführers vorhersehbaren – alternativen Rechtsschutzes auf Ebene der Wesensgehaltsprüfung ist lediglich der erste Schritt einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung (i. w. S.), die die beteiligten Interessen gegenüberstellt und gegeneinander abwägt.
V. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – konkrete Abwägung Der jedenfalls in Europa etablierte Menschenrechtsstandard verlangt, dass eine faire Balance zwischen dem geltend gemachten Recht des individuellen Beschwerdeführers und dem öffentlichen (oder staatlichen) Interesse gefunden wird. Dies ist kein abstrakter Vorgang, sondern Ergebnis einer Einzelfallbetrachtung, bei der verschiedene Faktoren, wie etwa die betreffende Rechtsordnung berücksichtigt werden müssen138 . Wurde die Staatenimmunität unrechtmäßig gewährt, so ist der Eingriff in Art. 6 I EMRK jedenfalls nicht verhältnismäßig, mithin unrechtmäßig und nicht gerechtfertigt. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist zunächst auf die konkreten Anforderungen des alternativen Rechtsschutzes abzustellen. Während im Rahmen der Überprüfung, ob in den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht eingegriffen wurde, es lediglich von Bedeutung war, dass dem Beschwerdeführer überhaupt ein ihm vorhersehbarer alternativer Rechtsschutz zur Verfügung stand, kommt es nunmehr im Rahmen der konkreten Abwägung der Interessen auf dessen Ausgestaltung an. Dieser muss dem Beschwerdeführer zumutbar gewesen sein und gleichwertig (zum nationalen Rechtsschutz). Weiterhin ist innerhalb der konkreten Abwägung von Interesse, welches Recht der Beschwerdeführer vorliegend geltend macht. 1. Anforderungen an den alternativen Rechtsschutz a) Kriterium der Gleichwertigkeit zum nationalen Rechtsschutz In der Regel ist anzunehmen, dass (nicht nur im Fall von Staatenimmunität, sondern in allen Fällen der Immunität) alternative Rechtswege oder völkerrechtliche Streitbeile137 Diese Option bringt (in etwas anderem Zusammenhang): Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States, S. 97. 138 So ebenfalls: Polakiewicz, Mobile, Counterpoint or Pyramid – The Interaction Between National and European Courts in Human Rights Protection, S. 1060.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
gungsmechanismen zur Verfügung stehen139 , sodass nicht die Frage, ob überhaupt Rechtsschutz zur Verfügung stand, virulent wird, sondern, in welcher Form. Der (alternative) Rechtsschutz muss jedenfalls einen (menschenrechtlichen) Mindeststandard im Rahmen von Art. 6 I EMRK verwirklichen, um sicherzustellen, dass Art. 6 I EMRK nicht im Wesensgehalt verletzt wird140 . Dies setzt voraus, dass der mögliche alternative Rechtsschutz zunächst einmal konkret benannt wird. Anschließend sollten jedenfalls die gleichen Anforderungen wie bereits in anderem Kontext vom EGMR statuiert, angelegt werden: Der alternative Rechtsschutz muss dem Beschwerdeführer erkennbar und vorhersehbar gewesen sein141 . Weiterhin muss eine gewisse „Gleichwertigkeit“142 zum nationalen Rechtsschutz gewährleistet sein. Das letzte Kriterium ist ein vergleichendes, wertendes Kriterium, welches folgender Konkretisierung bedarf: Ähnlich der Solange-Rechtsprechung des BVerfG143 sollte sich der EGMR zwar das „letzte Wort“ über diese Wertung vorbehalten, allerdings nur dann eine konkrete Überprüfung am Maßstab der EMRK durchführen, wenn die betreffende Rechtsordnung entweder gar kein alternatives Rechtsschutzinstrument zur Verfügung stellt, oder dieses derart ausgestaltet ist, dass es nicht mehr gleichwertig zum nationalen Rechtsschutz ist, wofür die konkreten Eigenschaften des zur Verfügung stehenden (alternativen) Rechtsschutzes konkret überprüft werden müssen. b) Das Kriterium der Zumutbarkeit Die Vorbedingung von alternativen Rechtsschutz bei der Gewährung von Staatenimmunität bedarf zudem einer Präzisierung in Fällen, in denen die Verletzung von ius cogens im Raum steht. Dies sei an Hand der Beschwerde von Al-Adsani144 genauer dargestellt: Der Beschwerdeführer Sulaiman Al-Adsani wird (nach eigenen Angaben) in Kuweit vom offiziellen Gefolge des Sheikh Jaber Al-Sabah gefoltert und verklagt sodann die kuweitische Regierung vor englischen Gerichten, die Kuweit jedoch Immunität für im Ausland begangene Taten nach dem britischen Immunities Act von 1978 und nach geltendem Völkergewohnheitsrecht gewähren145 . Den Beschwerdeführer in diesem Fall auf möglichen Rechtsschutz in Kuweit zu verweisen, bedeutete für Al-Adsani, sich der Rechtsordnung des Landes zu unterwerfen, das ihn (wohl) gefoltert und schwer verletzt hat und ggf. auch in dieses Land zurückkehren zu müssen. Dies kann bereits aus Zumutbarkeitserwägungen nicht verlangt werden. In Fällen, in denen Beschwerdeführer behaupten, durch offizielle Vertreter eines Staates gefoltert worden zu sein, kann ihnen nur schwer zugemutet werden, auf die Effektivität und Rechtmäßigkeit des dortigen Rechtsschutzes zu vertrauen und dort (ggf. vor Ort) gegen die Folterhandlungen gerichtlich vorzugehen und den Staat hierfür zur Verantwor139
So auch: Krieger, Immunität: Entwicklung und Aktualität als Rechtsinstitut, S. 249. Auf diesen Aspekt stellte das slowenische Verfassungsgericht in der Entscheidung vom 8. 3. 2001 in der Rechtssache A.A. vs. Germany, Up-13/99-24 ab, wenn er ausführt, dass Vorbedingung für alternativen Rechtsschutz ist, dass es sich um einen Staat handelt, „where the rule of law and human rights are observed“. 141 Hierzu im Kontext der Internationalen Organisationen die Urteile Waite and Kennedy und Beer and Regan, EGMR Urteil vom 18. 2. 1999, Beer and Regan vs. Germany, Rs. 28934/95. 142 Zur equivalent protection-Formel bereits unter Kap. C. II. 2. 143 BVerfGE 37, 271 (Solange I); BVerfGE 73, 339 (Solange II). 144 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97. 145 Zum ausführlichen Sachverhalt weiterhin unter Kap. IV. 2. a). 140
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
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tung zu ziehen. In diesen Fällen kann daher – selbst wenn theoretisch die Möglichkeit bestanden hätte, vor Ort gerichtlich gegen den betreffenden Staat vorzugehen, ein unverhältnismäßiger Eingriff und somit eine Verletzung von Art. 6 I EMRK, dem Recht auf Zugang zu Gericht. Der EGMR hat die Frage des alternativen Rechtsschutzes nicht einmal adressiert146 . c) Das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Recht Im Rahmen der konkreten Abwägung ist von Interesse, welches Recht der Beschwerdeführer vorliegend geltend macht. Während den Normenhierarchieansätzen, welche einen Konflikt zwischen dem geltend gemachten Recht und der Staatenimmunität annahmen, ein falsches Konfliktverständnis zugrunde lag147 , überzeugt es vielmehr, in der konkreten Abwägung zu berücksichtigen, welches Recht der Beschwerdeführer geltend machen wollte. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne können diese Aspekte wesentlich flexibler berücksichtigt werden. Es stellt demnach beispielsweise keinen Verstoß gegen ius cogens dar, wenn nach umfassender Abwägung der EGMR zu dem Ergebnis kommt, dass dem Staat rechtmäßig Immunität gewährt wurde. Die wenig überzeugende Konstruktion der procedural obligations und substantive prohibitions erübrigt sich ebenfalls. Auch diesem Ansatz lag ein falsches Konfliktverständnis zugrunde148 . Je schwerwiegender der Vorwurf ist, den der Beschwerdeführer gegenüber dem von ihm verklagten Staat geltend macht, desto eher ist dieser Staat verpflichtet, dem Beschwerdeführer ein Forum zu eröffnen, in dem er diesen Vorwurf vortragen und einer objektiven rechtlichen Überprüfung unterziehen kann. Diese staatliche Verpflichtung besteht natürlich nicht uneingeschränkt. Macht der Staat schwerwiegende außenpolitische Implikationen im Falle eines Gerichtsverfahrens und eine unmittelbare Beeinträchtigung seiner staatlichen Souveränität geltend, so sind diese Interessen innerhalb der Abwägung ebenfalls zu berücksichtigen. Die Staatenimmunität stellt, wie bereits dargelegt149 , ein hohes Gut dar, welches sich aus der Würde und Unantastbarkeit des Herrschenden heraus entwickelt und seine Ursprünge nach modernem Verständnis heutzutage in der souveränen Gleichheit von Staaten hat. Das funktionale Element der Staatenimmunität – das Interesse an der Entwicklung und Aufrechterhaltung von guten internationalen Beziehungen unter den Staaten – ist ebenfalls ein Ziel, was über die Interessen des Einzelnen hinaus gehen kann.
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes über die Auslegungsmethodik des EGMR Das Recht auf Zugang zu Gericht hat eine Bedeutung erlangt, die eine Aufwertung im Rahmen einer Abwägung zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht jedenfalls rechtfertigt. Der vorliegende Konflikt kann in beschriebener Weise über die Anwendung der dem Menschenrechtsschutzregime eigenen Auslegungsmetho146 Die Gelegenheit hierzu war „günstig“, worauf Richter Bravo hinweist. EGMR, a. a. O., Diss. Op. Judge Bravo (S. 33): „What a pity!“, „The Court, . . . , had a golden opportunity to issue a clear and forceful condemnation of all acts of torture.“ 147 Vgl. hierzu bereits ausführlich Kap. D. IV. 148 Hierzu bereits in Kap. D. III. 2. 149 Kap. A. I.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
dik gelöst werden150 . Die Auslegungsmethodik des EGMR fußt auf eine jahrzehntealte Rechtsprechungstradition und ist von den Mitgliedstaaten gleichermaßen akzeptiert und respektiert. Da es sich bei dem vorliegenden Konflikt um einen Auslegungskonflikt handelt, der innerhalb des EMRK-Regimes durch den regimezugehörigen Gerichtshof gelöst werden muss, kommt es vorliegend entscheidend auf die Auslegungsmethodik des EGMR an. Diese bietet, wie sogleich in einer knappen Gesamtschau der „Möglichkeiten“ des EGMR gezeigt werden wird, bereits das nötige „Handwerkszeug“, um den vorliegenden Konflikt zu lösen und den vorgeschlagenen Weg über das Wesensgehaltskriterium und die Ausbalancierung der betroffenen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu rechtfertigen. Die EMRK ist zunächst ein typischer, multinationaler Völkerrechtsvertrag und damit gleichsam Produkt des Völkerrechts. Darüberhinaus enthält die Konvention normative und gesellschafts-politische dynamische Inhalte, die sie als regionale „Quasi-Verfassung“151 charakterisieren. Mit dieser Eigenschaft steht die EMRK eher im Dienst der Adressaten der Menschenrechte, als dass sie die Interessen der Vertragsstaaten verfolgt152 . „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between Contracting States. It creates over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a ‚collective enforcement‘ “153 .
Die Interpretation der EMRK wird immer dann virulent, wenn sich eine menschenrechtliche Fragestellung nicht eindeutig anhand der EMRK beantworten lässt. Die Interpretation erfüllt die Aufgabe, ein belastbares, begründetes Auslegungsergebnis über den Einzelfall hinaus zu liefern und hiermit für Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit zu sorgen154 . Die Konvention verfügt über eine Fülle von unbestimmten, auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen. Bernhardt155 spricht in diesem Zusammenhang von broad and general terms; andere Autoren sprechen von Normen mit offenen Verweisen156 bzw. von offenen, 150 Genauso: Pavoni, Human Rights and the Immunities of Foreign States, S. 72: „the relationship between human rights and the immunities of states and IOs may be conceptualized as a tension among competing rules which can be worked out by means of interpretation, thus as an apparent conflict of norms open to the application of conflict avoidance techniques“ und Francioni, The Rights of Access to Justice under Customary International Law, S. 49: „Thus, the solution to the conflict between the traditional norm on immunity and the right of access to justice must be found at the interpretative level“, Hickmann, Between Human Rights and the Rule of Law: Indefinite Detention and the Derogation Model of Constiutionalism, MLR 68 (2005), S. 665, würde an dem Lösungsansatz (über die Verhältnismäßigkeit) grundsätzliche Methodenkritik üben. 151 Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 626. 152 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the European Court of Human Rights, S. 531; a. A.: Simma/Pulkowski, Of Planets and the Universe: Self-contained Regimes in International Law, S. 527, treten dieser Einschätzung entgegen, indem sie zwischen einer formalen Reziprozität und einem do-ut-des-Verhältnis differenzieren. Die Staaten seien, obwohl die Menschenrechte in erster Linie dem Gemeinschaftsinteresse dienten, dennoch formal verpflichtet. 153 EGMR, Urteil vom 18. 1. 1978, Irland vs. UK, Rs. 5310/71, § 239. 154 Vgl. zur Interpretation des Grundgesetzes: Hesse, Grunzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 2, S. 20 ff., Rn. 49 ff. 155 Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, S. 12. 156 Vgl. Frowein, Evolutive Auslegung der EMRK, S. 2.
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
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unbestimmten Regelungen157 , die eine evolutiv-dynamische Auslegung erst möglich (und notwendig) machen. Helmersen unterscheidet differenzierter zwischen value driven und non-value driven terms sowie zwischen evolving und non-evolving terms158 . Die value driven terms stellen solche Bestimmungen dar, die ohne subjektiv-wertende Betrachtung nicht weiter entwickelt werden können und damit notwendigerweise auch als evolving terms zu qualifizieren sind. Non-value driven terms sind keiner sprachlichen Veränderung ihres Bedeutungsgehalts aufgrund subjektiver Wertungen unterworfen, können allerdings, wenn sie gleichzeitig evolving terms darstellen, Bedeutungsänderungen aufgrund objektiver, faktischer oder rechtlicher Tatsachen erfahren. Eine Ausrichtung der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen an die sich wandelnden gesellschaftspolitischen Überzeugungen der Vertragsstaaten wurde bereits kurz nach Vertragsschluss praktiziert, der EGMR behandelt die EMRK seit dem als „living instrument“, deren Auslegung sich an sozio-normativen Entwicklungen orientiert159 . Die sprachliche Konzeption der Menschenrechte und Grundfreiheiten als offene, unbestimmte Regelungen legitimiert erst die besondere richterliche Freiheit bei der Auslegung der Konvention. Die Auslegungsmethodik trifft bis heute auf breite Akzeptanz unter den Mitgliedstaaten160 . Aus dieser Präsumtion heraus ist das „Eigenleben“161 der Auslegung der EMRK durch den EGMR zu verstehen und zu bewerten. Die Lösung des Konflikts liegt in Abkehr der restriktiven Auslegung der EMRK hin zu einer an present-day conditions162 angepassten, einen optimalen Menschenrechtsstandard gewährleistenden Auslegung von Art. 6 I EMRK, die sich u. a. durch die Einordnung der EMRK als Menschenrechtsvertrag und Instrument des Europäischen ordre public rechtfertigt163 . Der EGMR besitzt sämtliche Voraussetzungen, sich von einem zurückhaltenen, regionalen Menschengerichtshof in einen einflussreich(er)en systemic player164 des Völkerrechts zu verwandeln. Hiermit entfernt sich der EGMR vom originalism, der auf auf den Willen der Vertragsstaaten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses abstellt und vorrangig die Intention (intentionalism) der Staaten und das Wortlautlautverständnis der Norm zu jener Zeit (textualism) beachtet. 157 Vgl. Grewe, Vergleich zwischen den Interpretationsmethoden europäischer Verfassungsgerichte und des EGMR, S. 466. 158 Helmersen, Evolutive Treaty Interpretation, S. 139. 159 EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer vs. UK, Rs. 5856/72. 160 Bernhardt betont in verschiedenen Publikationen, dass auch diejenigen Mitgliedstaaten, die nicht Gründungsmitglieder der Konvention waren, durch die Ratifizierung der Zusatzprotokolle Nr. 11 und 14 jedenfalls die Rechtsprechungstradition des EGMR gebilligt hätten, vgl. nur Bernhardt, Entwicklungen der EMRK jenseits des Vertragstextes, S. 88. 161 Zemanek, Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, S. 458 f., spricht von „illustrativer“, „evolutionärer“ Interpretation durch den EGMR, welche sich ganz offensichtlich außerhalb der Interpretationsregeln der WVK bewegt. Er zweifelt deshalb an der Legitimiation der Vorgehensweise des EGMR. 162 EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer vs. UK, Rs. 5856/72, Rn. 31. 163 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the European Court of Human Rights, S. 530; in anderem Zusammenhang formuliert auch Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, Especially of the European Convention on Human Rights, S. 21: „It is not so much the international or inter-State practice than the developments inside the participating States and in their societies that are decisive.“ 164 Tzevelekos, The Use of Article 31 (3) of the VCLT in the Case Law of the EctHR, S. 625.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
1. Das Konsensprinzip Der Konsens stellt den zentralen Anknüpfungspunkt im Völkerrecht165 dar. Das Konsensprinzip nimmt auch im Interpretationsprozess des EGMR eine zentrale Stellung ein. Es bildet die Legitimationsgrundlage der evolutiv-dynamischen Auslegung der EMRK unter Berücksichtigung der (Rechts-)Praxis der Mitgliedstaaten durch den EGMR. Je mehr sich der EGMR von dem ursprünglichen (d. h. zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehenden) Staatenwillen entfernt, desto wichtiger wird die Rückabsicherung über den Konsens der Mitgliedstaaten166 . Der völkerrechtliche Konsens (englisch: consent, etwa Zustimmung) ist als „Legitimationsgrundlage des Völkerrechts“167 vom consensus (Übereinstimmung) zu unterscheiden, der (im Gegensatz zum erstgenannten Staatenkonsens) auf eine „Einigkeit ohne Abstimmung“ abstellt, einen Konsens faktisch unterstellt, sodass die nicht übereinstimmenden Staaten in diesem Fall jedenfalls „überstimmt“ werden168 . Der EGMR berücksichtigt in Anwendung der weiten Definition eines Konsens in Form des consensus (Übereinstimmung) Entwicklungen auf nationaler und internationale Ebene, wenn diesbezüglich ein (sich auch in Entwicklung befindlicher) Konsens festzustellen ist, ohne dass dieser einstimmig vorliegen muss169 . Die Konsensmethode kommt zur Anwendung, wenn der EGMR (im Gegensatz zur Rechtsprechung des EuGH170 ) auf die Praxis der Konventionsstaaten abstellt171 . Von besonderem Interesse ist vorliegend, dass der EGMR – ebenfalls als Ausdruck der Konsensmethodik auf die völker(gewohnheits)rechtlichen Verpflichtungen der Staaten abstellt, selbst wenn diese nicht alle Konventionsstaaten betreffen (, was dem strengen Verständnis des Staatenkonsens widerspricht,) und hieraus Rückschlüsse auf den aktuellen Bestand des Völkergewohnheitsrechts anstellt172 . Besonders im Rahmen der evolutiv-dynamischen Interpretation der EMRK sind der Konsensmethode Grenzen gesetzt. Grundsätzlich darf der EGMR nicht vom eindeutigen Wortlaut einer Norm abweichen oder umwälzende und umfassende Rechtsänderungen 165 Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, S. 402. 166 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 312. 167 v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 320. 168 v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 321. 169 EGMR, Urteil vom 12. 11. 2008, Demir and Baykara vs. Türkei, Rs. 34503/97, § 85: „The Court, in defining the meaning of terms and notions in the text of the Convention, can and must take into account elements of international law other than the Convention, the interpretation of such elements by competent organs, and the practice of European States relecting their common values. The consensus emerging from specialised international instruments and from the practice of Contracting States may constitute a relevant consideration for the Court when it interprets the provisions of the Convention in specific cases“. 170 Der EuGH wendet ebenfalls die evolutive Auslegung an, sichert sein (weites, integrationsfreudiges) Verständnis von z. B. der Verkehrsfreiheit jedoch nicht mittels der mitgliedstaatlichen Praxis ab, die den Ausführungen des EuGH auch regelmäßig entgegensteht (anders nur der Grundrechtekatalog des EuGH, den er ebenfalls unter Berücksichtigung der Tradition der Mitgliedstaaten entwickelte), v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 318. 171 EGMR, Demir and Baykara, a. a. O., § 68: „evolving norms of national and international law“. 172 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 319.
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durch seine Auslegung statuieren. Nur in Fällen von Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen, beispielsweise wenn ihm gewisse Auslegungsspielräume offen stehen, darf der EGMR in evolutiver Auslegung unter Berücksichtigung der Rechtspraxis der (nicht unbedingt aller) Staaten das Recht in Angleichung an sozio-normative Entwicklungen angleichen und fortentwickeln173 . Die Berücksichtigung einer entsprechenden Praxis, die nicht alle, sondern nur die Mehrheit der Vertragsstaaten teilen, ist gerechtfertigt. Der Beitritt zu einem Menschenrechtsregime, das über effektive Rechtsprechungs- und Rechtsdurchsetzungsmechanismen verfügt, impliziert dynamische Entwicklungs- und Anpassungsvorgänge innerhalb dieses Regimes. Würde sich der EGMR lediglich an dem bestehenden Konsens aller Vertragsstaaten orientieren, so wäre die gesamte Konsensmethode obsolet174 . Der EGMR selbst begründet die Einbeziehung aller Staaten zum einen damit, dass die Mehrheit bereits für einen emerging consensus175 spreche und er dieser Entwicklung nicht im Weg stehen möchte, und zum anderen damit, dass die Konventionsstaaten eine normativ determinierte Wertegemeinschaft bilden, die einen gemeinsamen Menschenrechtsstandard beansprucht, der sich am jeweiligen europäischen Grundrechtestandard orientiert, ohne dass jeder Vertragsstaat diesen Standard im gleichen Umfang etabliert haben muss. Diese Argumentation ermöglicht es dem EGMR die dynamischen Anpassungsvorgänge, denen die EMRK unterliegt, durchzuführen. Die Konsensmethode ist Grundlage und Ausdruck eines dynamischen Menschenrechtsstandards176 und der EMRK als „living instrument“177 . 2. Autonome Interpretation Weiterhin unterliegt Art. 6 I EMRK (wie auch die restlichen Menschenrechte der EMRK) der autonomen Auslegung durch den EGMR. Die autonome Interpretation ist nach herrschender Auffassung der sog. „wertenden Rechtsvergleichung“ zugehörig178 . Sie setzt voraus, dass die in der Konvention verwendeten Begriffe solche einer eigenständigen, autonomen Konventionsrechtsordnung sind und nicht von Interpretation und Auslegung durch die nationalen Rechtsordnungen abhängen179 . Die autonome Interpretation der EMRK durch EKMR und EGMR kann auf die Entscheidung der Kommission vom 06. 04. 1968 im Fall Twenty-One Detained Persons180 zu173
v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 325. Ebenso: v. Ungern-Sternberg, a. a. O., S. 335. 175 Ständige Rechtsprechung, vgl. nur Urteil vom 7. 7. 2011, Bayatyan vs. Armenia, Rs. 23459/03, Rn. 102 mit Verweis auf weitere Entscheidungen hierzu. 176 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 336. 177 EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer vs. UK, Rs. 5856/72. 178 Grabenwarter/Pabel, § 5, Rn. 9 ff., 11. 179 So auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5, Rn. 9. 180 Entscheidung der EKMR vom 06. 04. 1968, Twenty-One Detained Persons/Germany, Collection 27, S. 97–116, entsprechend der Gerichtshof, vgl. EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976, Rs. 5100/71 u. a., Engel/NL. Hier entschied die Kommission erstmalig „Whereas the term ‚civil rights and obligations‘ cannot be construed as a mere reference to the domestic law of the High Contracting Party concerned but relates to an autonomous concept which must be interpreted independently, even though the general principles of the domestic law of the High Contracting Parties must necessarily be taken into consideration in any such interpretation“, EKMR, a. a. O., The Law, Ziff. II., § 4. 174
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
rückgeführt werden. Die EKMR behielt sich in gewissen Fällen vor, ein Konventionsrecht autonom vom jeweiligen Verständnis des betroffenen Mitgliedstaates auszulegen – unter gleichzeitiger Versicherung, dass das nationale Recht und dessen Interpretation durch den nationalen Richter berücksichtigt würden. Schnell werden die „Asymmetrie“ und das „Spannungsverhältnis“181 deutlich, die die EKMR mit diesem Konzept beschwor. Eine von dem nationalen Recht unabhängige Definition eines Konventionsbegriffes unter gleichzeitiger Beachtung der Rechtsauffassung (im Idealfall) aller nationalen Rechtsordnungen zu diesem Begriff birgt per se Konfliktpotential. Diesen Konflikt lösen die Organe des Europarats zu ihren Gunsten: Die Rechtsauffassung des betroffenen Mitgliedstaates ist für die Entscheidung relevant, aber nicht entscheidend; die „semantische Unabhängigkeit“ der autonomen Auslegung charakterisiert diese erst als autonom182 . Der Gerichtshof hat sich der autonomen Interpretation angeschlossen und praktiziert sie mit Selbstverständlichkeit183 . Matscher spricht im Zusammenhang mit der autonomen Auslegung von einer „kongenialen“ Methode, welche zu einer „Harmonisierung der Auslegung der Konventionsrechte in allen Mitgliedstaaten“ beitrage184 . Allgemeinhin (und zu Recht) wird jedoch gefordert, dass die entscheidenen Richter bei der Anwendung der autonomen Auslegungsmethode gewisse Grenzen einhalten und sich allzeit ihrer Legitimation (erteilt durch die Mitgliedstaaten) versichern185 . Eine exzessiv praktizierte autonome Auslegung der Konvention birgt die Gefahr der vollständigen Loslösung von der Konvention und wird zwangsläufig den Vorwurf der (unzulässigen) Rechtsschöpfung nach sich ziehen186 . a) Die evolutive Auslegungsmethode Die evolutiv-dynamische Rechtsprechung des Gerichtshofs ist beherrscht von wertenden, subjektiven Entscheidungen. Werden verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen, so stellt die Bewertung dieser Interessen bzw. die Beurteilung der Wertigkeit einzelner Interessen bereits eine subjektive Beurteilung dar, der verschiedene ethische Überzeugungen zugrunde liegen187 . Der EGMR legt die (v. a. unbestimmten Rechtsbegriffe der) EMRK nicht nur autonom aus, sondern auch unter Berücksichtigung der sich wandelnden gesellschaftspolitischen 181
Vgl. Letsas, The Truth in Autonomous Concepts, S. 282. Letsas, a. a. O., S. 282; diese Aussagen rechtfertigen auch, dass die „Autonome Interpretation“ nicht unter den „Voluntaristischen Methoden“ gehandelt wird. 183 Urteil des EGMR vom 08. 06. 1976, Engel u. a. vs. Niederlande, Az. 5100/71, u. a.; zuletzt Urteil des EGMR vom 21. 10. 2013, Del Rio Prada vs. Spanien, Az. 42750/09, Rn. 81. 184 Matscher, Wie sich die 1950 in der EMRK festgeschriebenen Menschenrechte weiterentwickelt haben, S. 439; Matscher, Methods of Interpretation, S. 73. 185 Letsas, a. a. O., S. 292 ff. 186 Matscher, Methods of Interpretation, S. 73 u. a. m. 187 Auf die unterschiedlichen Einstellungen der unterschiedlichen Ansätze zur Ethik weist Uerpmann-Wittzack, Serious Human Rights Violations as Potential Exceptions to Immunity: Conceptual Challenges, S. 236 ff. ebenfalls hin. 182
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Bedingungen. Die Begriffe188 der dynamischen und der evolutiven Auslegung werden in der Rechtswissenschaft nicht eindeutig definiert und gebraucht190 . Einige Autoren setzen die dynamische Auslegung der evolutiven gleich191 . In evolutiver Auslegung wird einer Bestimmung eine Bedeutung beigemessen, die sich im Laufe der Zeit wandelt. Hierbei ist zwischen der Auslegung einer Norm und deren Anwendung zu unterscheiden192 . Mehrere empirische Erhebungen zeigen, dass die evolutive Auslegung in zahlreichen Entscheidungen internationale Gerichtshöfe und Spruchkörper angewandt wird und insofern völkergewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen kann193 . b) Die evolutiv-dynamische Auslegung als verbindliche general rule (IGH) Der IGH ging so weit, als allgemeine Regel des Völkerrechts unter bestimmten Voraussetzungen von einer Verpflichtung des Rechtsinterpreten zur evolutiven Auslegung auszugehen. Er legitimiert die evolutive Auslegung (als verbindliche general rule) mittels einer linguistisch-philosophischen Begründung: „It is founded on the idea that, where the parties have used generic terms in a treaty, the parties necessarily having been aware that the meaning of the terms was likely to evolve over time, and where the treaty has been entered into [force] for a very long period or is „of continuing duration“,
188 Der Begriff der evolutiven Auslegung wird auch in der heutigen Rechtswissenschaft eng mit der Auslegungsmethodik des EGMR in Verbindung gebracht. Die Ursprünge dieser Auslegung gehen allerdings auf die Rechtsprechung des IGH zurück, u. a. in den Fällen Namibia189 , Aegan Sea Continental Shelf Case, Aegan Sea Continental Shelf Case (Greece v. Turkey), Judgment of 19 December 1978, I.C.J. Reports 1978, p. 3, § 77 und zuletzt Dispute Regarding Navigational and Related Rights, Dispute regarding Navigational and Related Rights (Costa Rica v. Nicaragua), Judgment, I.C.J. Reports 2009, p. 213. Der IGH hat sich zu den besonderen evolutiven Auslegungstendenzen im (humanitären) Völkerrecht bereits 1971 geäußert und sie unter bestimmten Bedingungen gar als verbindlich gefordert, vgl. Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1971, p. 16, 31 (Rn. 53); weitere Nachweise evolutiver Auslegung in der Rechtsprechung des IGH: Helmersen, Evolutive Treaty Interpretation: Legality, Semantics and Distinctions, S. 132. 189 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1971, § 53. 190 Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2013, S. 17, versteht unter dynamischer Auslegung z. B. gleich dreierlei: Die Einbeziehung der späteren Praxis, die implied powers-Lehre und die evolutive Auslegung. 191 Helmersen, EJLS 2013, S. 128, Fn. 1 m. w. N.; Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, S. 12, der jedoch evolutive Auslegung als terminus technicus bevorzugt, da er treffender sei, auch wenn inhaltlich keine Unterschiede bestünden. 192 Die Anwendung einer Norm auf eine neue Situation unter Beibehaltung ihrer Bedeutung stellt keinen Fall der evolutiven Auslegung dar, vgl. Helmersen, Evolutive Treaty Interpretation: Legality, Semantics and Distinctions, S. 128. 193 Helmersen, a. a. O., S. 131, mit Verweisen auf die Rechtsprechung des EuGH, des EGMR, des UN Menschenrechtsausschusses u. v. m. in Gegenüberstellung einiger statischen Auslegungen des IGH.
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E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
the parties must be presumed, as a general rule, to have intended those terms to have an evolving meaning“194 .
Nach ductus des IGH besteht demnach als general rule unter zwei Voraussetzungen eine Vermutung dahingehend, dass die Vertragsparteien bereits bei Vertragsschluss die betreffende vertragliche Bestimmung einer evolutiven Auslegung zugänglich machen wollten. Wählen Vertragsstaaten bei Abfassung eines Vertragstextes, der auf eine lange Wirkungszeit ausgelegt ist, sog. „generic terms“195 , so sind sie sich nach Ansicht des IGH bereits zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass diese Bestimmung einem Bedeutungswandel unterliegen und sich auf Grund verschiedener Faktoren weiterentwickeln und einer evolutiv-dynamischen Auslegung unterworfen sein wird. Die general rule wurde in späteren Entscheidungen bestätigt196 . Interessant ist, dass der IGH in seiner general rule weiterhin eine Rückkoppelung an den (ursprünglichen) Willen der Mitgliedstaaten formuliert und auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abstellt, obwohl die Entwicklung offensichtlich dem objektiven Willen der Norm und nicht dem des Normgebers folgt. 3. Evolutive Auslegung Der EGMR hat in der Grundsatzentscheidung Tyrer197 das Fundament seiner evolutiven Auslegung gelegt198 . Dieses Urteil wurde zu damaliger Zeit als klare Grenzüberschreitung der Straßburger Organe bewertet199 und führte zu einer umfangreichen Diskussion. Auf der Isle of Man exitierte die Möglichkeit der Verurteilung zu einer Prügelstrafe mit einem Stock. Dieser Strafe musste sich der junge Anthony M. Tyrer unterziehen und beschwerte sich hieraufhin unter Art. 3 EMRK (Verbot von Folter, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung) vor der Kommission und dem Gerichtshof in Straßburg. Der Gerichtshof gab Tyrer Recht und stellte fest, dass er Opfer einer erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK geworden war. Im Besonderen die abweichende Meinung des Richters Sir Fitzmaurice macht den schmalen Grad der Konventionsrechtsprechung deutlich. Fitzmaurice lehnt die „moderne“ Ansicht („modern opinion“200 ) ab, jede Bestrafung 194 Dispute regarding Navigational and Related Rights (Costa Rica v. Nicaragua), Judgment, I.C.J. Reports 2009, p. 213, §§ 66–67. 195 Hierzu: Palchetti, Interpreting „Generic Terms“: Between Respect for Parties’ Original Intention and the Identification of the Ordinary. 196 „Once it is established that the expression ‚the territorial status of Greece‘ was used in Greece’s instrument of accession [to the General Act of 1928] as a generic term denoting any matters comprised within the concept of territorial status under general international law, the presumtion necessarily arises that its meaning was intended to follow the evolution of the law and to correspond with the meaning attached to the expression by the law in force at any given time.“, Aegean Sea Continental Shelf (Greece v. Turkey), Judgment, I.C.J. Reports 1978, p. 32, § 77. 197 EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer vs. UK, Rs. 5856/72. 198 Genau genommen hat der Beitrag des ehemaligen Präsidenten der Kommission Max Sørensen im Rahmen des 4. Internationalen Kolloquiums zur EMRK vom 5.-8. November 1975 die Charakterisierung der Konvention als living (legal) instrument geprägt, welche sodann formelhaft im einschlägigen Kontext vom EGMR übernommen wurde, vgl. Sørensen, Do the rights set forth in the European Convention on Human Rights in 1950 have the same significance in 1975?, Proceedings of the 4th International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1975, S. 106. 199 V. a. in Großbritannien war es undenkbar, dass inhuman and degrading treatment unter britischer Hoheitsgewalt stattfand, Frowein, Die evolutive Auslegung der EMRK, S. 1 f. 200 EGMR, Diss. Op. a. a. O., § 11.
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
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sei erniedrigend und beschäme die betreffende Person. Er selbst sei ebenfalls in der Schule gezüchtigt worden, was keine derartigen Gefühle ausgelöst habe. Er erachtete diese Erziehungsmethoden zwar nicht für pädagogisch sinnvoll, möchte sie jedoch klar von Art. 3 EMRK abgrenzen: „The fact that a certain practice is felt to be distasteful, undesirable, or morally wrong and such as ought not to be allowed to continue is not a sufficient ground in itself for holding it to be contrary to Article 3.“201
Indirekt weist Fitzmaurice hiermit auch auf die Entstehungsgeschichte des Art. 3 EMRK hin, der keine Prügelstrafe verhindern wollte, sondern in seiner Absolutheit eine Antwort auf die Untaten im Nationalsozialismus darstellte. Jahre später war die evolutive Interpretation des Art. 3 I EMRK durch den EGMR einhellige Meinung; die Mitgliedstaaten haben akzeptiert, dass das Verständnis unbestimmter Rechtsbegriffe nicht statisch zu verstehen ist, sondern sich an ein sich wandelndes Verständnis des Interpreten (regelmäßig wieder) anpasst202 . 4. Auswirkungen der Auslegungsmethodik auf die Abwägung a) Konsens über die Bedeutung des Rechts auf Zugang zu Gericht und autonome Auslegung Die besondere Auslegungsmethodik des EGMR ermöglicht es dem Gerichtshof, das Recht auf Zugang zu Gericht in der Situation des Konflikts mit der Staatenimmunität fortzuentwickeln. Sowohl die Auslegungsmethodik selbst wie auch der Trend der Stärkung eines Rechts auf Zugang zu Gericht spiegelt sich in der Praxis der Mitgliedstaaten wider. Es besteht insofern ein Konsens über die Bedeutung und den Regelungsgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht. Das Recht auf Zugang zu Gericht hat in den letzten Jahrzehnten eine stetige Aufwertung durch die nationalen Gerichte erfahren und wird in zahlreichen Verfassungstexten garantiert. Ohne dieses Recht, so die allgemeine Erkenntnis, können sämtliche anderen Rechte nicht effektiv und tatsächlich gewährleistet und durchgesetzt werden. Insofern besteht ein Konsens, auf dem der EGMR aufsetzen kann. Weiterhin eröffnet ihm die autonome Auslegung, die eine Harmonisierung der Auslegung der EMRK durch den EGMR anstrebt, die autonome Bestimmung des Inhalts und der Durchsetzungsstärke des Rechts auf Zugang zu Gericht in der Situation des Konflikts mit der Staatenimmunität. b) Die evolutiv-dynamische Auslegung von Art. 6 I EMRK Die evolutiv-dynamische Auslegung wird nicht nur vom EGMR praktiziert, sondern gilt völkergewohnheitsrechtlich. Der IGH geht sogar von einer general rule und einer damit einhergehenden Verpflichtung des Rechtsinterpreten aus, jedenfalls bei sog. generic terms den gesellschaftspolitischen Bedeutungswandel zu beachten. Sie führt im Ergebnis zu einer Fortentwicklung des Völkerrechts, indem sie die sich wandelnden gesellschafts201 202
EGMR, Diss. Op. a. a. O., § 14. Frowein, Die evolutive Auslegung der EMRK.
206
E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
politischen Entwicklungen aufnimmt und im Interpretationsprozess berücksichtigt bzw. diesen zugrunde legt203 . Somit ist es dem EGMR grundsätzlich auch in Fällen, in denen es um die Gewährung von Staatenimmunität geht, möglich, eine Abwägung und Balancierung der Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Relevant ist hierbei, welches Recht der Beschwerdeführer gegen den Staat, der sich auf Immunität berufen hat, versucht hat geltend zu machen. Ist dieses Recht beispielsweise dem ius cogens zuzuordnen, so sind die Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs besonders hoch, anders bei (in Relation zu ius cogens Verletzungen) etwaigen Bagatellforderungen. Relevant für die Abwägung ist auch, wo die vermeintliche Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers stattgefunden hat204 und wo der Beschwerdeführer sie geltend macht. Auf der anderen Seite ist das Recht der Staatenimmunität weiterhin ein altehrwürdiges, hohes Gut, welches sich aus der Würde und Unantastbarkeit des Herrschenden heraus entwickelt und seine Ursprünge heutzutage in der souveränen Gleichheit von Staaten hat – auch dieser Aspekt muss in der Gewichtung jedenfalls berücksichtigt werden. Stellt man auf die funktionale Herleitung der Staatenimmunität ab, so ist das in diesem Kontext verfolgte Ziel der Entwicklung und Aufrechterhaltung von guten internationalen Beziehungen unter den Staaten jedenfalls ein Ziel, welches über die Interessen des Einzelnen hinausgehen kann. 5. Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lösung Die Auslegungsmethodik des EGMR entfernt sich im Ergebnis immer weiter von dem ursprünglichen Willen der Vertragsstaaten. Eine Rückabsicherung findet nicht statt; die Ratifizierung der vertraglichen Grundlagen durch die Mitgliedstaaten wird als Billigung und einzige Legitimation der Konventionsorgane akzeptiert, es wird von einer umfassenden (ggf. stillschweigenden) Billigung und einem allgemeinen „Gutheißen“ der Staaten in diesem Zusammenhang ausgegangen205 . Allgemeiner formuliert entfernt sich die Auslegungssystematik des EGMR immer mehr vom Grundsatz der staatlichen Souveränität206 , was im Hinblick auf die Fälle von Staatenimmunität das Spannungsfeld erweitert. Einerseits erkennt der EGMR in der Gewährung von Staatenimmunität als „Beachtung des Völkerrechts zum Zwecke der Förderung der guten Beziehungen und des höflichen Umgangs zwischen den Staaten durch Achtung der Souveränität anderer Staaten“207 ein legi203 Andere Ansicht: Bröhmer, Some Remarks on the Decision of the International Court of Justice in the Case of Germany v. Italy, S. 60 f., der dem IGH abspricht, eine Art von „effet utile“-Auslegung praktizieren zu dürfen, da allein die Mitgliedstaaten Herren des institutionellen Rahmens und der Verträge seien mit der alleinigen Kompetenz, die Verträge zu ändern und zu erweitern. Auch der EGMR geht nicht davon aus, dass seine Rechtsprechung Richterrecht darstellt. Er besteht vielmehr auf der Feststellung, dass (in diesem Fall) das Recht auf Zugang zu Gericht dem Recht auf ein faires Verfahren bereits inhärent gewesen ist; vgl. hierzu bereits Kap. B. I. 204 Francioni, The Rights of Access to Justice under Customary International Law, S. 50 f. 205 Bernhardt, Entwicklungen der Europäischen Menschenrechts-Konvention jenseits des Vertragstextes, S. 88. 206 Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, Especially of the European Convention on Human Rights, S. 14. 207 Siehe Kap. 1.
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
207
times Ziel, das einen Eingriff in Art. 6 I EMRK unproblematisch (geradezu reflexartig208 ) rechtfertigt. Andererseits wird der staatlichen Souveränität im Rahmen der Auslegungsmethodik wenig bis kein Wert beigemessen. Die Disparität ist offensichtlich. An diesem Punkt setzte die Kritik der Richter an, die u. a. im Fall Golder eine separate Opinion verfassten. Sie wiesen darauf hin, dass es nicht Aufgabe des Gerichtshofs sei, den Staaten neue Verpflichtungen aufzuerlegen, sondern dass diese Entscheidung nur die Staaten selbst treffen und die Verpflichtung in den Vertragstext hätten übernehmen können209 . Die Annahme von (bzw. der Ruf nach) völlig statischem Recht, dessen status quo sich allein durch die förmliche Änderung des Legislativakts ändert, ist jedoch realitätsfern. Rechtserzeugung ist zwar grundsätzlich auf Dauer angelegt und in der Regel nicht zeitlich befristet, sodass sich die Legitimation des Rechtsakts zunächst aus dem Umstand ergibt, dass er weder aufgehoben noch geändert wurde210 . Allerdings entspricht eine statische und unflexiblie Auslegung nicht den typischen Herausforderungen des (fragmentierten) Völkerrechts, im Besonderen nicht denen des Menschenrechtsschutzes. Dies wird am Beispiel der EMRK deutlich, welche ursprünglich nur von Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Island, Italien, den Niederlanden, Norwegen und der Türkei unterzeichnet wurde. Inzwischen hat sie 47 Mitgliedstaaten. Nach der originalistischen Methode hätten die später hinzugekommenen Staaten keinen Einfluss auf die Auslegung und das Verständnis der Konvention allein aus dem Grund, da sie keine Gründungsmitglieder sind, obwohl diese räumliche Diskriminierung (wohl) auch von den ursprünglichen Mitgliedstaaten nicht gewollt war. Das Völkerrecht verlangt für eine Vertragsänderung oder entsprechende Anpassungen zudem in der Regel Einstimmigkeit211 , was insbesondere bei großen Mitgliedskreisen zu praktischen Problemen bei der Angleichung des Vertragstextes an aktuelle Gegebenheiten führt. a) Gefahr der fictional intentions Im Besonderen die evolutiv-dynamische Auslegungsmethodik des EGMR ist auf vielfältige Kritik gestoßen. So wurde geltend gemacht, dass sie den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und Konsistenz der Rechtsprechung widerspreche: „(. . .) the parties cannot be expected to implement what would be an important international obligation when it is not defined sufficiently to enable them to know exactly what it involves – indeed is not defined at all because (. . .) it rests on an implication that is never particularized or spelt out.“212 .
Zudem übernimmt der internationale Richter mit der über den subjektiven Willen der Vertragsstaaten hinausgehenden Fortentwicklung von Vertragswerken legislative Aufga208
Hierzu bereits die Kritik von Tzevelekos, dargestellt in Kap. E. VI. 5. a). Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, p. 77, stimmt dieser Vorgehensweise nicht zu. Die „implied“ rights, welche aus bereits existierenden Konventionsrechten „herausgelesen“ wurden, begründeten neue Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten, was seiner Ansicht nach zu weit geht. 210 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 324. 211 Jede Partei hat eine Vetoposition, v. Ungern-Sternberger, Die Konsensmethode des EGMR, S. 325. 212 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/07, Diss. Op. Judge Fitzmaurice. 209
208
E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
ben im (regionalen) Völkerrecht, was in mehrerlei Hinsicht kompetentielle und legitimatorische Fragen aufwirft und den Vorwurf einer Rechtsfortbildung und neuen Rechtsschöpfung auslöst. Diese Argumentation setzt einen (fiktiven) Gesamtwillen voraus, der sich in den Regelungen der EMRK widerspiegeln muss (Kohärenzfiktion213 ). Darüber hinaus wird vom EGMR unterstellt, dass es dem Parteiwillen entspreche, sich stets völkerrechtskonform zu verhalten (Legalitätsfiktion214 ). Der ehemalige Präsident des EGMR Bernhardt215 unterscheidet im Rahmen der evolutiven Auslegung drei Konstellationen, welche er dem Oberbegriff „Rechtsfortbildung“ zuordnet: „Das Abweichen von den Vorstellungen der Schöpfer des Vertrages, das Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung und das Abweichen von bisher vertretenen oder früher vertretenen Ansichten“. Mit dieser Umschreibung wird die innovative, umwälzende Kraft der evolutiven Auslegungsmethode deutlich. Die Konventionsorgane haben in diesem Zusammen ein „Eigenleben (. . .) jenseits der Intentionen ihrer Schöpfer“216 entwickelt, das ihnen mehrfach den Vorwurf der (unzulässigen) Rechtsfortbildung eingehandelt hat217 . Es stellt sich weiterhin die Frage, in welchem Maße der Gerichtshof bzw. dessen Richter legitimiert sind, im Sinne Bernhardts „Rechtsfortbildung“ zu betreiben218 . Nach Art. 55 EMRK a. F.219 hat sich der Gerichtshof selbst eine Organisations- und Verfahrensordnung gegeben. Anders als etwa das IGH-Statut, welches nach Art. 92 UN-Charta Bestandteil der Charta ist und demnach den gleichen Rang wie die Charta beansprucht, gibt es kein verbindliches Statut für den EGMR220 . Der (ständige) Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nach Art. 19 EMRK zur Aufgabe, „die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention dazu übernommen haben“221 .
Zudem heißt es in der Präambel der Konvention ganz grundsätzlich: „In der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Ziels die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist“222 .
213
Paulus, Zusammenspiel der Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Perspektive, S. 18. Paulus, a. a. O. 215 Bernhardt, Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, S. 99. 216 Bernhardt, Entwicklungen der Europäischen Menschenrechts-Konvention jenseits des Vertragstextes, S. 87; Zemanek, Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, S. 458 f., spricht von „illustrativer“ „evolutionärer“ Interpretation durch den EGMR, welche sich ganz offensichtlich außerhalb der Interpretationsregeln der WVK bewegt. Er zweifelt deshalb an der Legitimiation der Vorgehensweise des EGMR. 217 Maierhöfer, Der EGMR als Modernisierer des Völkerrechts? 218 Bernhardt, Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, S. 99. 219 „The Court shall draw up its own rules and shall determine its own procedure.“ 220 Hierauf weist auch Bernhardt, Entwicklungen der Europäischen Menschenrechtskonvention jenseits des Vertragstextes, S. 87 f. hin. 221 Art. 19 EMRK (Auszug). 222 EMRK, Präambel, 3. Absatz. 214
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
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Diese Zitate stellen jedoch keine positivrechtliche Normierung richterlicher Normschöpfung und Rechtsfortbildung dar, sondern allenfalls eine Grundlage für die evolutivdynamische Auslegung der EMRK durch den EGMR223 . Der EGMR selbst betont (wiederholt), dass die Legitimation der „Rechtsfortbildung“ sich aus der (stillschweigenden) Billigung und Akzeptanz der Mitgliedstaaten selbst ergebe, da diese jedenfalls die EMRK und v. a. die Zusatzprotokolle, die weitgehende Kompetenzerweiterungen zugunsten des EGMR und mehrere Reformen des Kontrollsystems mit sich gebracht haben, ratifiziert hätten. Die Zusatzprotokolle der EMRK stellen völkerrechtlich eigenständige (Änderungs-)Verträge der EMRK dar, welche denselben formellen Voraussetzungen unterworfen sind, wie für sich allein stehende völkerrechtliche Verträge. Eine Interpretation der Konventionsrechte ohne Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Entwicklungen, Anschauungen und tatsächlichen Gegebenheiten sei im Hinblick auf den indiviuellen Schutz des Einzelnen gar nicht möglich224 . Zudem verlangen die Formulierungen der Konventionsrechte nach einer richterlichen Konkretisierung ihres Inhalts und eröffnen gleichzeitig die Möglichkeit der Anpassung an aktuelle Gegebenheiten. Die evolutive Auslegung ist innerhalb der internationalen Spruchpraxis anerkannt und stellt in diesem Sinne keine Eigenart der konventionsrechtlichen Auslegungssystematik der Straßburger Organe dar225 . b) Die Margin of Appreciation als Gegengewicht Die Dogmatik226 der Einschätzungsprärogative (originär: marge d’appréciation oder margin of appreciation) von Staaten wurde durch die eigene Rechtsprechung des EGMR begründet und entscheidend mitentwickelt i. R. v. Art. 6 EMRK beginnend mit dem Urteil Golder vs. United Kingdom, in dem der EGMR den Staaten eine gewisse „power of appreciation“227 , zugestand. Die margin of appreciation stellt das methodische Gegenstück der Konsensmethode dar228 . Instruktiv für das Zusammenspiel zwischen Konsensmethode und der margin of appreciation-Doktrin ist der Fall A., B., und C. vs. Irland229 , in dem es um das Abtreibungsverbot in Irland ging. Der EGMR stellte fest, dass die Mitgliedstaaten bei dieser Frage einen weiten margin of appreciation genießen, dieser jedoch durch das Vorliegen eines relevanten europäischen Konsenses (weit verstanden als consensus230 ) eingeschränkt sein könnte. 223 So auch: Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR, S. 733. 224 Bernhardt, Entwicklungen der Europäischen Menschenrechts-Konvention jenseits des Vertragstextes, S. 88. 225 Prebensen, Evolutive Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 1125 f. 226 Nach Cot, Margin of Appreciation, MEPIL, handelt es sich um keine Dogmatik, sondern lediglich um einen methodischen Ansatz bzw. um ein sog. standard of review, vgl. jedoch die andere Ansicht von Arai-Takahashi, The Margin of Appreciation and the Principle of Proportionality in the Jurisprudence of the ECHR, der sich intensiv mit der Materie auseinandergesetzt hat. 227 EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70, Rn. 45. 228 v. Ungern-Sternberg, Die Konsensmethode des EGMR, S. 329. 229 EGMR, Urteil vom 16. 10. 2010, A., B., und C. vs. Irland, Rs. 25579/05. 230 Nach Ansicht des EGMR reicht „a consensus amongst a substantial majority of the Contracting States of the Council of Europe“ aus, EGMR, A., B., und C. vs. Irland, a. a. O., § 235.
210
E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
Der „Durchbruch“ dieser Doktrin wird allgemeinhin im Fall Handyside vs. United Kingdom, 1976 festgemacht231 . Sie ist eng mit dem Subsidiaritätsprinzip verwoben und besagt, dass Staaten (bzw. staatliche Gerichte) auf Grund ihrer besonderen Nähe zur nationalen Rechtsordnung232 bei der Beurteilung, ob eine Maßnahme notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist und ein legitimes Ziel verfolgt sowie verhältnismäßig ist (Verhältnismäßigkeitskontrolle i. S. d. der Art. 8–11 EMRK), einen Ermessenspielraum haben, der sich weitgehend der gerichtlichen Kontrolle durch den EGMR entzieht. Diese Doktrin wurde in der auf Handyside folgenden Rechtsprechung des EGMR bis auf die vier nicht derogierbaren Rechte233 auf sämtliche anderen Konventionsrechte angewandt. Auch wenn die margin of appreciation oftmals dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugeordnet wird, handelt es sich eigentlich um ein Instrument des Gerichtshofs zur Variation seiner Kontrolldichte je nach betroffenem Grundrecht und Lebensbereich, dem der Fall zuzuordnen ist234 . Nimmt der Gerichtshof eine weite margin of appreciation an, so schränkt er zugleich seine Möglichkeiten ein, andere Quellen des Völkerrechts zu berücksichtigen, da der Gerichtshof nunmehr nur noch die durch den Konsens der Mitgliedstaaten abgesicherte Übung einbeziehen kann235 . Im Hinblick auf Fälle mit Bezug zur Staatenimmunität räumt der EGMR den Mitgliedstaaten den weitmöglichsten margin of appreciation ein236 , da er die Gewährung von Staatenimmunität seiner gerichtlichen Überprüfung völlig entzieht und das Recht auf Zugang zu Gericht nahezu reflexartig zurücktreten lässt237 . Den Staaten bei der Anwendung von in nationales Recht inkorporiertem Völkerrecht einen Beurteilungsspielraum zuzugestehen, ist auf Kritik gestoßen238 . Es wird angeführt, dass diese Vorgehensweise gegen den Grundsatz iura novit curia verstoße239 . Problematisch an der Vorgehensweise des EGMR ist im Hinblick auf Immunitätsfälle, dass der EGMR den Staaten nicht nur bei der Anwendung von Völkerrecht ein Beurteilungsspielraum einräumt, sondern auch bei der Beurteilung, welche Rechtssätze zum maßgeblichen Zeitpunkt überhaupt zum Völkerrecht zu zählen sind240 . Maierhöfer kritisiert 231 232
Vgl. Arai-Takahashi, a. a. O. S. 7. So auch: de Schutter, L’Interprétation de la Convention Européenne des Droits de l’Homme,
S. 97. 233 Hierunter sind nach Art. 15 II EMRK Art. 3 EMRK (Folterverbot), Art. 4 I EMRK (Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft) und Art. 7 (Keine Strafe ohne Gesetz) sowie Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), vgl. hier die Rückausnahme in Art. 15 II EMRK zu zählen. 234 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18, Rn. 20 ff. 235 McInerney-Lankford, Fragmentation of International Law Redux: The Case of Strasbourg, S. 613. 236 McInerney-Lankford, Fragmentation of International Law Redux: The Case of Strasbourg, S. 614. 237 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani, Rs. Rs. 35763/97, §§ 53 f. 238 Maierhöfer, Der EGMR als Modernisierer des Völkerrechts?, S. 394, welcher jedoch im Ergebnis zustimmt. 239 „Das Gericht kennt das Recht“, hiervon macht aber selbst das Deutsche Recht bei (gewohnheits-)rechtlichen Fragen mit Auslandsbezug Ausnahmen, vgl. § 293 ZPO, sodass eine Anwendung dieses Grundsatzes auf völkerrechtliche Sachverhalte m. E. nur eingeschränkt passt. Zum Gebrauch dieses Grundsatzes durch den EGMR: Shelton, Jura Novit Curia in International Human Rights Tribunals, S. 194 ff. 240 Bestand des aktuellen Völkerrechts.
VI. Rechtfertigung des Lösungsansatzes
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in diesem Zusammenhang, dass sich Beurteilungsspielräume zumeist auf Prognosen und Interessensabwägungen stützen, niemals jedoch auf die Rechtslage an sich241 . Allerdings begrüßt er dieses Ergebnis, befürchtet er doch andernfalls, dass der EGMR sich zu einem „regionalen IGH“ aufschwingen könnte, der seinen rechtlichen Maßstab (die EMRK) verlässt und die Existenz völkerrechtlicher Normen zu einer Rechtsfrage aufwertet, anstelle sie als rein tatsächliche Frage der Beurteilung der Mitgliedsstaaten zu überlassen242 . Die Frage, welche Regelungen und Normen dem Völkerrecht zuzuordnen sind und welchen Inhalt sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsfindung haben, ist jedoch eine rein rechtliche. Dem ist zuzustimmen. Die Doktrin der Margin of Appreciation sollte im hier vorliegenden Kontext eingesetzt werden, um die Kontrolldichte des EGMR zu regulieren, nicht etwa, um den nationalen Gerichten bei der Frage, welche Rechtssätze Bestandteil des geltenden Völkerrechts sind, freie Hand zu lassen. Die Margin of Appreciation eignet sich zudem, um den Vorwurf zu entkräften, der EGMR würde unzulässige Rechtsfortbildung betreiben und hiermit gegen sein eigentliches Mandat und den Souveränitätsgrundsatz verstoßen. In Fällen, die nicht die grundsätzliche Reichweite von (hier) Staatenimmunität behandeln, ist die Überantwortung bestimmter Rechtsfragen auf die nationalen Gerichte auch nicht bedenklich. Im vorliegenden Konflikt statuiert der EGMR jedoch eine positive Vermutung für die Durchsetzung der Staatenimmunität gegenüber dem Recht auf Zugang zu Gericht und verweist in diesem Zusammenhang auf die Margin of Appreciation der Mitgliedstaaten. Hiermit unterliegt der EGMR der Fehlvorstellung, die nationalen Gerichte dürften über diese Frage letztverbindlich entscheiden. Vielmehr sollte Margin of Appreciation erst dann gewährt werden, wenn der EGMR jedenfalls gewährleistet hat, dass Umfang und Geltung der Staatenimmunität im Rahmen einer einzelfallorientierten Abwägung richtig von den nationalen Gerichten bestimmt wurden. Im Rahmen der besonderen Gewichtung der betroffenen Interessen kann tendenziell mehr Spielraum gewährt werden, als bei der Frage, ob und in welchem Umfang die Staatenimmunität als Völkerrecht Geltung beansprucht. c) Bedenken gegen die Lockerung staatlicher Immunität Im Fall der Staatenimmuität bestehen zudem Bedenken, im Wege der Abwägung den Einfluss des regionalen Menschenrechtsgerichtshofes (und in der Folge auch der nationalen Gerichte, die die Abwägung durchführen) auf die inneren Angelegenheiten der Staaten zu erhöhen. Die bisherige Zurückhaltung des EGMR versucht Rozakis243 in seinem Beitrag in der Festschrift Wildhaber zu erklären. Er bedauert, dass der EGMR die Chance, die sich mit der Entscheidung im Fall Al-Adsani auftat, neue Völkerrechtsstandards im Recht der Immunitäten zu setzen, verstreichen lassen hat244 . Der EGMR habe zwar grundsätzlich Zurückhaltung walten lassen (judicial restrain), gleichsam jedoch wohl formulierte 241 Maierhöfer, a. a. O., S. 394; ebenso Kloth, Immunities and the Right of Access to Court under Article 6 of the Convention on Human Rights, S. 16. 242 Maierhöfer, a. a. O., S. 393. 243 Rozakis, The Contribution of the European Court of Human Rights to the Development of the Law on State Immunity, S. 402. 244 Rozakis, a. a. O., S. 387, Fn. 1: „a positive result which, if it had been achieved, could have contributed to a real breakthrough voth for international law and the case-law of the Court.“
212
E. Vorschlag einer Lösung des Konflikts
Hinweise hinsichtlich dieses sich in Transistion befindlichen Rechtsproblems (Konflikts) in den Entscheidungsgründen hinterlegt, die jedenfalls dazu beitragen könnten, entsprechende völkerrechtliche Entwicklungen anzustoßen245 . Diese Taktik ist, wie sich in späteren Urteilen246 gezeigt hat, jedoch nicht aufgegangen. Gleichwohl verschließt sich auch die Staatenimmunität nicht grundsätzlich der Abwägung. Die Zurückhaltung, die Staatenimmunität einer Abwägung gegenüber zu öffnen, findet sich (oft am Rande) ausgedrückt in verschiedenen völkerrechtswisschenschaftlichen Veröffentlichungen, bspw.: „one should be very cautious in order not too sacrifice to much“247 . Eine Abwägung der betroffenen Interessen öffnet nach dieser Ansicht Tür und Tor für politische Einmischungen (political interferences) in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Auch Tomuschat warnt (im besonderen Kontext der IGH-Entscheidung Jurisdictional Immunities of States): „Individualising the settlement of war damages by permitting individual actions to be brought would generally lead to a total judicial impasse. Thousands and perhaps millions of individual claims would have to be adjudicated. Not only would the numbers bring the judicial machinery to a standstill. An additional factor is the complexity of the facts to be appraised.“248
Diese Bedenken sind jedoch nicht unmittelbar auf die vorliegende favorisierte Lösungsstrategie zu übertragen. Vorliegend geht es nicht um die juristische Aufarbeitung von während des zweiten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen, sondern um den in heutiger Zeit (immer wieder) auftretenden Normkonflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. Art. 6 I EMRK und der Staatenimunität. Massenklagen sind in diesem Zusammenhang nicht zu erwarten.
VII. Ergebnis Die Betrachtung des vorliegenden Konflikts als Inter-Regime-Konflikt zeichnet bereits die Zielrichtung der hier vertretenen Lösung vor. Es geht darum, die betroffenen Interessen miteinander in Einklang zu bringen und hierbei beiden Regimen den jeweils größtmöglichen Anwendungsspielraum zu belassen, was der Leitidee der praktischen Konkordanz entspricht. Die Charakterisierung des Konflikts als Auslegungskonflikt bietet weiterhin die Möglichkeit der unmittelbaren Einbeziehung der nationalen Gerichte in die Konfliktlösung. Sie haben bereits durch ihre Spruchpraxis erkennen lassen, dass sie grundsätzlich bereit sind, entsprechende Tendenzen innerhalb der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen und ihnen auch auf nationaler Ebene Wirkung zu verleihen.
245 246 247 248
Rozakis, a. a. O. Beispielsweise EGMR, Urteil vom 14. 1. 2014, Jones and others vs. UK, Rs. 40528/06, § 197. Vidmar, Norm Conflicts and Hierarchy in International Law, S. 40. Tomuschat, The Case of Germany v. Italy before the ICJ, S. 94 f.
VII. Ergebnis
213
Die besondere Auslegungsmethodik des EGMR eröffnet weiterhin die Möglichkeit, im Hinblick auf die Staatenimmunität im Falle eines Konflikts mit dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK restriktive Entwicklungstendenzen zu initiieren. Die stringente Anwendung des hier vertretenen Lösungsweges führt zu folgender Prüfung: Nach der (interpretatorisch abgesicherten) Darstellung des Konflikts erfolgt auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit zunächst die Überprüfung, ob durch die Gewährung von Staatenimmunität in den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK des Beschwerdeführers eingegriffen wurde. Hierbei kommt es vornehmlich darauf an, ob dem Beschwerdeführer überhaupt alternativer Rechtsschutz zur Verfügung stand, der für ihn auch erkennbar und vorhersehbar war – ohne, dass es darüber hinaus auf die nähere Ausgestaltung des Rechtsschutzes ankommt. Andernfalls wäre bereits der strukturelle Regelungsgehalt des Art. 6 I EMRK verletzt (Situation des Denial of Justice) und unterschritte den etablierten Menschenrechtsstandard. Die konkrete Ausgestaltung des alternativen Rechtsschutzes, also dessen Zumutbarkeit, Gleichwertigkeit und Effektivität, spielt erst im Rahmen der konkreten Abwägung der betroffenen Interessen eine Rolle mit der Folge einer größeren Flexibilität in der Bewertung und Handhabung der sich gegenüberstehenden Interessenskonflikte. Wäre im Falle eines unzureichenden alternativen Rechtsschutzes bereits der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht verletzt, so wäre das Ergebnis (einer Verletzung von Art. 6 I EMRK) bereits vorgegeben und kein Raum mehr für Abwägung. Sodann erfolgt eine differenzierte Ausbalancierung der betroffenen Interessen. Ein vorgefasstes Ergebnis gibt es nicht (mehr), jede Prüfung ist Ergebnis einer der Problematik und dem Einzelfall angepassten individuellen Bewertung. Der hier vorgeschlagene Lösungsweg ist nicht radikal. Im Ergebnis wird es im Hinblick auf den Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK wegen des hohen Stellenwertes der Staatenimmunität in der vergangenen und aktuellen Völkerrechtswirklichkeit nur wenige Abweichungen zu der bisherigen Entscheidungspraxis des EGMR geben. Im Falle der Staatenimmunität besteht zudem eine im Ansatz verständliche Zurückhaltung, diese zu stark einzuschränken, da sie den Staaten eine von der Gewalt fremder Staaten unabhängige Existenz und die ungestörte Durchführung ihrer Staatsgeschäfte zusichert. Dennoch verständigen sich Staaten mehr und mehr auf die Formulierung und Einhaltung eines universalen, gesellschaftlich getragenen Wertekanons, der sich u. a. in den Menschenrechten und Grundfreiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegelt. Gleichzeitig auf der unbedingten Durchsetzung der Staatenimmunität zu bestehen, bedeutete ein in sich widersprüchliches Verhalten. Durch die vorliegend vorgeschlagene Lösung soll vornehmlich der „Automatismus“ aufgelöst werden, im Fall von (nach Ansicht des EGMR) rechtmäßig gewährter Staatenimmunität das Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK „in principle“ zurücktreten zu lassen249 .
249
EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 56.
F. Schluss Das Prinzip der Staatenimmunität stellt einen prozessualen Schutz vor der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates her. Die Jurisdiktion als (in formeller Hinsicht) Kompetenz eines Gerichts, eine Rechtssache zu entscheiden, bzw. (in materieller Hinsicht) die Rechtsprechung inklusive des materiell-rechtlichen Gehalts der Entscheidung ist von der Immunität eines Staates zu unterscheiden. Die Immunität fußte einst auf der „Würde und Höflichkeit“ der Staaten, inzwischen wird regelmäßig die souveräne Gleichheit aller Staaten als Grundlage der Staatenimmunität herangezogen. Hierneben spielt die funktionale Dimension der Staatenimmunität – vor allem in der Rechtsprechung des EGMR eine Rolle, derzufolge die Staatenimmunität (auch) im Interesse des Unterhalts und der Pflege guter bi- oder multilateraler Beziehungen zwischen den Staaten gewährt wird und daher nach Rechtsprechung des EGMR jedenfalls ein legitimes Ziel bei der Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK darstellt. Die Staatenimmunität gilt nur noch eingeschränkt – im Fall von acta iure gestionis agiert der Staat privatwirtschaftlich und darf sich nicht mehr auf Immunität berufen. Weitere Einschränkungstendenzen, etwa im Fall schwerster Menschenrechtsverletzungen durch den Staat, werden diskutiert, konnten sich jedoch bisher nicht durchsetzen1 . Das Recht auf Zugang zu Gericht kann auf eine ebenso dynamische Entwicklung zurückblicken, wie die Immunität der Staaten. Es gilt inzwischen (wohl) gewohnheitsrechtlich und gewährleistet dem Einzelnen die effektive Geltendmachung und Durchsetzung individueller Rechtspositionen, indem der Staat ein hierfür adäquates Forum zur Verfügung stellt. Im ursprünglichen Konventionstext der EMRK war das Recht auf Zugang zu Gericht nicht expressis verbis vorgesehen. Im Jahre 1975 anerkannte der EGMR im prominenten Fall Golder das Recht auf Zugang zu Gericht daher ausdrücklich als in Art. 6 I EMRK „inhärent“2 . Der EGMR hat sich mit der Rechtsprechung Golder3 unter Rückgriff auf Art. 31 III lit. c WVK eine Kompetenz geschafffen, allgemeines Völkerrecht bei der Bestimmung der Grenzen und der Reichweite von dem durch Art. 6 I EMRK „verbrieften“ Recht auf Zugang zu Gericht heranzuziehen und (implizit) ebenfalls auszulegen. Dieses Vorgehen ist Ausdruck der den Konventionsorganen eigenen, regimespezifischen Auslegungsmethodik, welche in dynamisch-evolutiver Ausrichtung unter autonomer Bestimmung der Norminhalte und -bedeutungen der Konventionsrechte aktuelle sozio-normative Entwicklungen berücksichtigt. Hiermit entfernt sich der EGMR mehr und mehr von der ursprünglichen Intention der Staaten. Die Vertragsstaaten haben den EGMR mit der Kompetenz ausgestattet, „seine Auffassung über den Inhalt einer Vertragsnorm den Parteien gegenüber 1 2 3
Hierzu Kap. B., IV. und III. 3. EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70. EGMR, Urteil vom 21. 2. 1975, Golder vs. UK, Rs. 4451/70.
F. Schluss
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mit verbindlicher Wirkung zu statuieren“, wovon der EGMR „in unabhängigem Geist (. . .) Gebrauch“ macht, was dazu führt, dass die „Vertragsstaaten die Geister, die sie mit dem Vertrag und dessen Kontrollorgan riefen, nun nicht mehr loswerden“4 . Das Ergebnis dieser Auslegungspraxis als Ausdruck einer allgemein verstärkt zu beobachtenden Proliferation internationaler Spruchkörper stellt einen relevanten Beitrag zur materiell-rechtlichen Fragmentierung des Völkerrechts in Form einer Vielzahl von Normkonflikten im weitesten Sinne dar. Das Recht der Staatenimmunität tritt mit dem Recht auf Zugang zu Gericht in Konflikt. Der vorliegende Normkonflikt ist besonderer Natur, da ihm ein komplexes Dreiecksverhältnis zugrunde liegt, was die Anwendung klassischer Normkonfliktlösungsmechanismen, wie etwa der lex posterior-Maxime (Art. 30 WVK) ausschließt. Es ist den hochspezialisierten Rechtsregimen eigen, dass sie eine auf ihr spezielles Rechtsgebiet ausgerichtete Perspektive einnehmen. Die Konfliktlösung kann nicht auf globaler Ebene ansetzen, sondern innerhalb dieser spezialisierten Regime. Im Zusammenhang mit Immunitätsfällen ist diesbezüglich eine große Zurückhaltung seitens des EGMR zu beobachten, dem Recht auf Zugang zu Gericht effektiv und praktisch und nicht nur theoretisch und illusorisch zur Durchsetzung zu verhelfen. Besonders im Bereich der Staatenimmunität hat sich ein Automatismus etabliert, der diese Zurückhaltung belegt: Der EGMR führt über Art. 31 III lit. c WVK allgemeines Völkerrecht (hier das Recht der Staatenimmunität) in die Verhältnismäßigkeitsprüfung ein und verzichtet sodann auf sämtliche weitere Abwägung im Einzelfall, da er das Berufen auf Immunität in principle5 bereits genügen lässt, um einen Eingriff in Art. 6 I EMRK zu rechtfertigen, selbst, wenn dem Beschwerdeführer, wie etwa im Fall Al-Adsani im Ergebnis überhaupt kein Rechtsschutz mehr zur Verfügung stand6 . Die Erhebung des Individuums zum Völkerrechtssubjekt und die Verleihung völkerrechtlicher Rechte und Pflichten wird regelmäßig als „Krönung völkerrechtlichen Fortschritts“7 gefeiert. Gleichzeitig sind die Staaten jedoch nicht bereit, ihr Souveränitätsverständnis zu lockern, um den in anderen Bereichen bereits etablierten europäischen Menschenrechtsstandard auf dem Gebiet der Staatenimmunität fortzuentwickeln und anzugleichen8 . Umgekehrt ist die Disziplin des internationalen Menschenrechtsschutzes keine carte blanche9 , die sämtliche Vorstöße (etwa mittels extensiver Auslegung der EMRK), die die staatliche Souveränität einschränken könnten, legitimiert. Von dieser Situation ist die Rechtsprechung des EGMR – besonders auf dem Gebiet der Staatenimmunität – allerdings noch weit entfernt. Daher wurde in der vorliegenden Arbeit nach Darstellung der verschiedenen Lösungsansätze in Literatur und Praxis ein Vorschlag zu einer ausgewogeneren Konfliktlösung unterbreitet, ohne hierbei ein „Paradigma einer menschenrechtsbasierten Hierarchie“10 4
Simma, Der Einfluss der Menschenrechte auf das Völkerrecht, S. 738. EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001, Al-Adsani vs. UK, Rs. 35763/97, Rn. 56. 6 EGMR, a. a. O. 7 Simma, Der Einfluss der Menschenrechte auf das Völkerrecht, S. 733. 8 Nach dem Motto: „Wasch’ mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“, Simma, a. a. O., S. 733. 9 Koskenniemi/Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, S. 570. 10 de Wet, Paradigmen in der internationalen Praxis: Normenhierarchie versus systemische Integration. 5
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zu etablieren, das quasi in Umkehr der bisherigen Situation einen a priori-Vorrang der Menschenrechte statuiert. Die Zielrichtung der hier vorgeschlagenen Konfliktlösung orientiert sich an der dem deutschen Recht entstammenden praktischen Konkordanz. Bei der Ausbalancierung der betroffenen Interessen geht es darum, beiden Regimen den jeweils größtmöglichen Anwendungsspielraum zu belassen. Folgendes mehrstufiges Konfliktlösungsverfahren empfiehlt sich im vorliegenden Konflikt zwischen der Staatenimmunität und dem Recht auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK: In einem ersten Schritt ist der individuelle Konflikt zu charakterisieren, wobei dieser im Hinblick auf die Rechtsquelle der sich gegenüberstehenden Regime, der beteiligten Akteure, usf. eingeordnet werden sollte. Dieser erste Schritt stellt bereits eine von der Konfliktlösung unabhängige Interpretationsleistung dar. In einem zweiten Schritt ist der so bestimmte Konflikt auf der Ebene der Auslegung des Art. 6 I EMRK zu lösen, wobei der EGMR aufgrund der ihm eigenen Auslegungssystematik auf der einen Seite besondere Freiheiten, etwa eine Anpassung an aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten, genießt, auf der anderen Seite jedoch den Mitgliedsstaaten aufgrund ihrer Souveränität und Staatlichkeit Ermessensspielräume einräumen sollte, die ein unkontrollierbares, rechtsfortbildendes „Eigenleben“11 des EGMR verhindern und gleichsam die notwendige Legitimation versichern. Konkret bedeutet dies im Fall der Staatenimmunität, dass der EGMR auf der Ebene der Wesensgehaltsprüfung das Vorhandensein alternativen Rechtsschutzes, welcher für den Beschwerdeführer vorhersehbar und erkennbar war, prüfen sollte. Stand dem Beschwerdeführer – wie im Fall Al-Adsani überhaupt kein Rechtsschutz zur Verfügung, so ist bereits der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK verletzt. Im Recht der Immunität Internationaler Organisationen hat der EGMR jedenfalls einen Mindeststandard gesetzt, indem er die Forderung nach organisationsinternem, alternativen Rechtsschutz als Vorbedingung für die Gewährung entsprechender Immunität formulierte. Obwohl er in (fast) allen Fällen die Immunität der Organisation aufrecht erhielt, hat er hiermit auf nationaler Ebene einen Rechtsprechungstrend angestoßen, der aus Sicht der Organisationen spürbar restriktiver Natur ist. Diese Entwicklungen fanden im Recht der Staatenimmunität speziell für den Konflikt mit dem Recht auf Zugang zu Gericht nicht statt. Sie sind jedoch auf die Staatenimmunität zu übertragen, um einen europäischen Mindeststandard der Menschenrechte auch hier zu gewährleisten. Weiterhin sollte der EGMR innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs die Staatenimmunität in die Abwägung mit einbeziehen und den jeweiligen Interessen des Einzelnen, hier dem Recht auf Zugang zu Gericht des Beschwerdeführers, gegenüberstellen. Besondere Aspekte, wie die Zumutbarkeit des alternativen Rechtsschutzes und dessen genaue Ausgestaltung, sowie die Rechtsverletzung, die der Beschwerdeführer dem Staat, der sich auf Immunität beruft, konkret vorwirft, sind im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne von Bedeutung. So kann der EGMR auch Pate für entsprechende Entwicklungen auf nationaler Rechtsprechungsebene sein. Das Er11 Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, S. 84; Zemanek, Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, S. 458 f., spricht von „illustrativer“, „evolutionärer“ Interpretation durch den EGMR.
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fordernis der Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit hatte der EGMR bereits im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zu Gericht (ohne Immunitätsbezug) statuiert12 , sodass sich der Ansatz, dieses Erfordernis auch in Fällen eines Eingriffs in Art. 6 I EMRK durch die Gewährung von Staatenimmunität gut einfügt und zur bisherigen Rechtsprechung des EGMR konsistent ist. Der Konflikt zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Staatenimmunitäten ist weit entfernt von einer Lösung, die unter bestmöglicher Wahrung sämtlicher betroffenen Interessen diesen „gordischen Knoten“ des Völkerrechts13 entflicht. Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte sollte seinem Auftrag aus Art. 19 EMRK entsprechend seine Verantwortung für eine praktische und effektive Durchsetzung des Rechts auf Zugang zu Gericht aus Art. 6 I EMRK ernst und wahrnehmen und seine bisherige Rechtsprechung – unter grundsätzlicher Wahrung, jedoch keiner Bevorteilung der staatlichen Souveränität und Gleichheit – anpassen.
12 EGMR, Urteil vom 23. 10. 1996, Levages Prestations Services vs. France, Rs. 21920/93 und EGMR, Urteil vom 21. 05. 2003, Berger vs. France, Rs. 48221/99. 13 Weinberger, The Wimbledon Paradox and the World Court: Confronting Inevitable Conflicts between Conventional and Customary International Law, S. 436.
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