Die Vollstreckungslösung des BGH: Ein notwendiger Systemwechsel im Einklang mit der EMRK und dem deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht? [1 ed.] 9783428542963, 9783428142965

Mit der Vollstreckungslösung revolutionierte der $aGroße Strafsenat$z des BGH im Jahr 2008 die Reaktion auf konventions-

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Die Vollstreckungslösung des BGH: Ein notwendiger Systemwechsel im Einklang mit der EMRK und dem deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht? [1 ed.]
 9783428542963, 9783428142965

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Schriften zum Strafrecht Band 260

Die Vollstreckungslösung des BGH Ein notwendiger Systemwechsel im Einklang mit der EMRK und dem deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht?

Von

Stefan Biehl

Duncker & Humblot · Berlin

STEFAN BIEHL

Die Vollstreckungslösung des BGH

Schriften zum Strafrecht Band 260

Die Vollstreckungslösung des BGH Ein notwendiger Systemwechsel im Einklang mit der EMRK und dem deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht?

Von

Stefan Biehl

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Konstanz hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14296-5 (Print) ISBN 978-3-428-54296-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84296-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Benedikt und Elias

Vorwort Als der Große Strafsenat des BGH im Januar 2008 mit der Vollstreckungslösung für einen Paukenschlag sorgte, fühlte ich mich herausgefordert, die Thematik der überlangen Verfahrensdauer und der Reaktion hierauf, insbesondere in strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, intensiv und umfassend zu bearbeiten. Schnell wurde auch die über das nationale Recht hinausgehende Dimension der Problematik durch den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) klar, die mein Interesse an der Findung einer allen rechtlichen Belangen gerecht werdenden und zugleich praxistauglichen Lösung zusätzlich vergrößerte. In mehrjähriger, stetiger Befassung ist die vorliegende Arbeit neben meiner beruflichen Tätigkeit entstanden. Sie wurde im Wintersemester 2013 / 14 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz als Dissertation angenommen. Großen Dank habe ich allen auszusprechen, die mich bei der Erstellung der Arbeit unterstützt haben. Insbesondere möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jörg Eisele, danken für die sofortige Bereitschaft, mich in dieser Thematik zu betreuen, für die Freiheit bei der Bearbeitung, die wertvollen Anregungen insbesondere im Stadium der Fertigstellung sowie die rasche Erstellung des Erstgutachtens. Herzlichen Dank auch an Herrn Prof. Dr. Hans Theile für die zügige Fertigung des Zweitgutachtens. Auch bei meiner Familie möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken: sowohl bei meiner Frau Ulrike und meinen beiden Söhnen Benedikt und Elias für ihre Geduld und das Ertragen meiner Launen insbesondere während der letzten Phase der Erstellung sowie dem Zuspruch zur Verwirk­ lichung dieser Arbeit als auch bei meinen lieben Eltern, Marie-Theres und Dipl.-Ing. Günter Biehl, für ihre langjährige Unterstützung in jeglicher Hinsicht, durch die mein Werdegang erst ermöglicht wurde und die insbesondere mein Interesse an der Juristerei jederzeit gefördert haben. Meinem Vater gilt zudem mein besonderer Dank für seine wertvolle Hilfe beim Korrekturlesen. Bondorf, im November 2013

Stefan Biehl

Inhaltsverzeichnis A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Problemstellung und Ziel der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht und Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) . . . . . . . . . 30 3. Auslegung der EMRK durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4. Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 35 5. Wirkungen der Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Feststellungsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Gerechte Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 c) Anordnung konkreter Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 d) Wirkung inter partes – Praxis der „pilot judgements“ . . . . . . . . 44 II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . 47 1. Rang der EMRK und Wirkungen der Urteile des EGMR in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . 61 1. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Kriterien zur Bestimmung angemessener Verfahrensdauer . . . . . . . . 63 a) Maßgeblicher Zeitraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Die einzelnen Angemessenheitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer . . . . . . . . . 66 bb) Komplexität des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 cc) Verhalten des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 dd) Sachbehandlung durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bzw. nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Verhältnis der Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK zueinander . . . . . . . . . . 69 4. Entfall der Opfereigenschaft bei Verfahrensverzögerung . . . . . . . . . 71 5. Folgen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . 74 C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer  . . . 75 I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

10 Inhaltsverzeichnis

II.

III. IV.

V.

1. Erste Urteile und Bezug zum nationalen Verfassungsrecht . . . . . . . 75 2. Konkretisierungen in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . 79 a) Verzögerung in einzelnen Verfahrensabschnitten . . . . . . . . . . . . . 79 b) Maß des Verschuldens des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Verfahrensverzögerung durch ein erfolgreiches Rechtsmittel? . . 81 d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ in der deutschen Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Einstellung des Verfahrens aufgrund eines Verfahrenshindernisses  . 85 2. Strafzumessungslösung als Regelfall  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Anfänge der Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Unterscheidung der strafzumessungsrelevanten Sachverhalte . . . 92 c) Verfahrensverzögerung im Jugendstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . 94 d) Erste kritische Töne in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Verfahrenshindernislösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Befürworter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Ablehnende Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 aa) Befürworter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Ablehnende Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 cc) Anwendung im Jugendstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Entschädigungsanspruch statt Strafmilderung . . . . . . . . . . . . . . . 107 4. Erste Impulse zur Vollstreckungsanrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats des BGH  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Die „Vollstreckungslösung“ des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 17.01.2008 – GSSt 1 / 07  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Dogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Auswirkungen / Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Reaktionen in der Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Kritische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung durch die Rechtsprechung der Strafsenate des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Konkretisierung der Art und Weise des Vollstreckungsabschlags . . . . . 123 1. Maß der Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Feststellung des Konventionsverstoßes ohne weitere Kompensation . 126 II. Gesamtstrafenbildung / Verschlechterungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Teilrechtskraft der Vollstreckungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 V. Berufsrechtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 VI. Vollstreckung eines ausländischen Strafurteils  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Inhaltsverzeichnis11 E. Diskussion der Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Notwendigkeit des Systemwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 II. Formelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Durchführung eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG . . 138 2. Entgegenstehende Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG . . . . . . . 142 III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR . . . . . . . . 147 1. Kriterien des Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Vollstreckungslösung als Kompensation und wirksamer Rechtsbehelf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Vereinbarkeit mit dem Entschädigungsgedanken der EMRK . . . 150 c) Vereinbarkeit mit Art. 13, 35 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens  . . . . . . . . 157 1. Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Strafzumessungsrelevanz der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Strafzumessung – Strafzwecke und Spielraumtheorie  . . . . . . . . 162 c) Schuldausgleichstauglichkeit der überlangen Verfahrensdauer . . 163 aa) Langer Zeitabstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Belastungen durch überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . 165 cc) Konventionswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer . . . . 166 V. Einpassung in das deutsche Strafprozessrecht – Weitergeltung von Verfahrenshindernislösung und Einstellungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . 168 VI. Einpassung der Vollstreckungslösung in das Sanktionensystem des StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Sanktionensystem des StGB – Verhältnis der §§ 49, 51, 60 StGB  . 172 2. Herausnahme der Kompensation aus der Strafzumessung . . . . . . . . 173 3. Analoge Anwendung des § 51 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) § 51 StGB analog versus § 49 StGB analog . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Zunahme der kurzzeitigen Strafvollstreckungen . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Konflikt mit § 47 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Konflikt mit § 56 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5. Anhebung der Grenze zur Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . 185 VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Maßstab zur Bezifferung des als vollstreckt geltenden Teils . . . . . . 188 2. Anknüpfung der Vollstreckungsanrechnung an die Gesamtstrafe  . . 191 3. Revisibilität des Vollstreckungsausspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4. Verschlechterungsverbot in Übergangsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5. Regelungslücke bei Freispruch und Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6. Problematik im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 7. Verständigung über Kompensation für überlange Verfahrensdauer  . 198

12 Inhaltsverzeichnis F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen /  Problemkreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art.  36 WÜK . . . . . . . . . . . . . 201 1. WÜK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Rechtsprechung des IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Rechtsprechungsentwicklung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a) Erste Befassung durch den BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Weitere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 aa) Widerspruchslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 cc) Revisionsrechtliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 dd) Beweisverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Anwendbarkeit der Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Annahme eines Beweisverwertungsverbots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Grundlegende Entscheidungen des EGMR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Rechtsprechungsentwicklung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Kompensation durch Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4. Verfahrenshindernis aufgrund der unzulässigen Tatprovokation . . . . 229 III. Härteausgleich aufgrund mangelnder Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Stellungnahme in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 IV. Sonstige Verfahrensfehler / Rechtsstaatswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 239 G. Rechtsvergleichende Untersuchung: Sanktionsmöglichkeiten bei rechtsstaatswidrigen ­Verfahrensverzögerungen in anderen ­Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 I. Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Gesetz „Pinto“ in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. Fristsetzungsantrag und normierte Einstellungsmöglichkeit in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 IV. Schadensersatz in Frankreich, Spanien und Portugal . . . . . . . . . . . . . . . 245 V. Spezielles Abhilfeverfahren in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Frühere Entwürfe einer Untätigkeitsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Normierte Entschädigungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Reaktionen auf die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 V. Vor- und Nachteile der Vollstreckungslösung im Vergleich zu einem isolierten Entschädigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Inhaltsverzeichnis13 I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung der Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 I. Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 II. Entschädigung analog StrEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch  . . . . . . . . . . . . . . . . 269 IV. Eigenständiger, gesetzlich normierter Strafmilderungsgrund . . . . . . . . . 271 V. Eigenständiger Entschädigungsanspruch losgelöst von Strafzumessung und Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 VI. Vollstreckungslösung nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit I. Einleitung „[D]as Strafprozessrecht [kann] heute nicht mehr in nationaler Isolierung betrieben werden, sondern [muss] – schon im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – in ständiger Verbindung mit der internationalen Entwicklung europäischen Standards genügen […].“1

Bereits 1992 schloss Claus Roxin seine Entscheidungsanmerkung, den grundlegenden Senatsbeschluss des BGH vom 27.02.19922 zum Verwertungsverbot bei fehlender Beschuldigtenbelehrung betreffend, mit jener Feststellung, die heute mehr denn je an Aktualität besitzt. Auch Kristian Kühl bemerkte 1997 in seinem Aufsatz zur „Europäisierung der Strafrechtswissenschaft“,3 dass sich schon damals die deutsche Strafrechtswissenschaft gezwungen sah, bei der wissenschaftlichen Bearbeitung des nationalen Strafrechts mit Einflüssen des europäischen Rechts auseinanderzusetzen. Diese Entwicklung schreitet nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch ganz entscheidend in der Rechtsprechung bis heute voran und intensiviert sich, muss doch das Straf- und Strafprozessrecht dieser Tage über den nationalen Tellerrand hinausblicken und aufgrund vielschichtiger europa- und völkerrechtlicher Verpflichtungen an zahlreichen solcher Vorgaben gemessen werden. In zunehmendem Maße spielen Regelungswerke, die nicht vom deutschen Gesetzgeber verfasst worden sind, bei der täglichen Rechtsanwendung eine Rolle, indem sie mitbeachtet werden müssen, will man sich nicht dem Vorwurf der rechtsstaatswidrigen Verfahrensgestaltung aussetzen. Allen voran wurde bereits vor geraumer Zeit die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die am 4. November 1950 durch das Ministerkomitee des Europarats in Rom unterzeichnet worden war und am 3. September 1953 nach Ratifizierung durch 10 Mitgliedsstaaten4 in Kraft trat, aus 1  C.

Roxin, JZ 1992, 918 (924 f.). 38, 214 = NJW 1992, 1463. 3  Kühl, ZStW 109 (1997), 777. 4  Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die EMRK durch das „Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 07.08.1952, BGBl. 1952 II, S. 685. 2  BGHSt

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A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

ihrem „Dornröschenschlaf“5 erweckt, so dass ihr Einfluss auf das deutsche Strafrecht stetig anwuchs,6 weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) immer wieder ein konventionswidriges Verhalten deutscher Strafverfolgungsorgane feststellte und hierdurch den in der EMRK verbürgten Menschenrechten zur Geltung verhalf.7 Die Europäische Menschenrechtskonvention prägte so maßgeblich die Rechtsprechung deutscher Gerichte, allen voran die des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) im Straf- und Strafverfahrensrecht, wobei die Entscheidungen zeigen, dass in Art. 6 EMRK die eigentliche Bedeutung der Konvention für die Strafrechtspflege in Deutschland liegt.8 Der Rechtsprechung des EGMR kommt hier eine solche praktische Bedeutung zu, die sich durchaus mit der des BVerfG vergleichen lässt.9 In zahlreichen, teils sogar spektakulären Entscheidungen stärkte der EGMR die Grundsätze und Individualrechte der Konvention und strich ihre Beachtung durch die nationalen Gerichte bei der künftigen Rechtsanwendung heraus. Neben vielen, einzelne Rechtsfragen betreffenden Entscheidungen10 stellten vor allem die Urteile des EGMR zur Auslegung der Unschuldsvermutung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 EMRK11 sowie zum Anspruch des nicht Deutsch sprechenden Beschuldigten auf Beiordnung eines Dolmetschers12 Meilensteine in der Fortentwicklung des deutschen Strafprozessrechts hinsichtlich der in der EMRK verbürgten Menschenrechte dar. 5  So bezeichnet von Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention, S.  35 (36); in der gleichen Vortragsreihe benutzte Frowein für die Rolle der Europäischen Menschenrechtskonvention in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens den englischen Begriff der „sleeping beauty“, s. Frowein, Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 9. Weigend, StV 2000, 384 (390), schloss sich dem Bild an und führte dieses weiter fort, indem er die künftige Aufgabe darin sah, „die Prinzessin zum Tanzen zu bringen“. 6  Diehm, S. 53, ermittelte, dass sich in den Entscheidungsbegründungen deutscher Strafgerichte der letzten zehn Jahre mehr Bezüge zur EMRK finden als in der Summe der vorherigen Jahrzehnte. 7  So auch Eisele, JR 2004, 12 und JA 2005, 390. 8  Kruis, StraFo 2003, 34. 9  Dieser Feststellung, die bereits im Jahr 2002 durch Nack, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, S. 46, erfolgte, kann auch heute weiterhin uneingeschränkt zugestimmt werden. 10  Siehe hierzu die ausführlichen Beispiele bei Weigend, StV 2000, 384 f. 11  EGMR in den Fällen Minelli . / . Schweiz, Urteil vom 25.03.1983, EuGRZ 1983, 475; Lutz . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 399; Englert . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 405 und Nölkenböckhoff . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 410. 12  EGMR in den Fällen Luedicke, Belkacem, Koç .  / . Deutschland, Urteil vom 28.11.1978, EuGRZ 1979, 34 und Öztürk . / . Deutschland, Urteil vom 21.02.1984, EuGRZ 1985, 62.



I. Einleitung 17

Nachdem die Rezeption der Urteile des EGMR zunächst viele Jahrzehnte lang schleppend verlief, setzte Ende 1999, ausgelöst durch eine Entscheidung des BGH,13 in der sich der 1. Strafsenat sehr intensiv mit der Rechtsprechung des EGMR zum Begriff des „fairen Verfahrens“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK befasste, ein Trendwechsel ein und das Straßburger Gericht gewann Anfang des 21. Jahrhunderts maßgebliche Bedeutung, indem seine Entscheidungen immer häufiger in der nationalen Rechtsprechung Berücksichtigung fanden.14 Dies mündete in die Feststellung, dass die Garantien der EMRK auch in Zukunft wichtige Quellen für Fortentwicklungen der deutschen Praxis sein werden.15 Hierbei versteht der EGMR die EMRK als „living instrument“, was dazu führt, dass sich die europäischen Menschenrechtsstandards verändern können und ihre Auslegung dynamisch und entwicklungsoffen zu erfolgen hat.16 Wohlers traf im Jahre 2004 in einem Beitrag in der Festschrift für Rudolphi17 die heute mehr denn je zutreffende Aussage, dass zukünftig eine wesentliche Aufgabe der Strafprozessrechtswissenschaft darin liegen werde, „die durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisierten Vorgaben der EMRK aufzuarbeiten, systematisch zu erfassen und ihre Bedeutung für die Auslegung und Anwendung des nationalen Strafverfahrensrechts aufzuzeigen“. Zu einem wahren „Dauerbrenner“ sowohl auf europäischer Ebene als auch im nationalen Recht entwickelte sich die Problematik der überlangen Verfahrensdauer bzw. der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (was synonym verwendet werden kann). Während der BGH noch in einer Entscheidung aus dem Jahre 1962 der „Länge des Strafverfahrens […] grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung“18 zumessen wollte, war es auch hier wiederum der EGMR, der am 15.07.1982 mit seinem Urteil im Fall Eckle  . / . Deutschland19 in der deutschen Rechtsprechung eine ganze Lawine an Entscheidungen zu dieser Thematik auslöste und zudem eine intensive, wissenschaftliche Diskussion anstieß. Hierbei ist jedoch zu bemerken, dass neben Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der zwar Leitmotiv und Hauptantriebsfeder für die Rechtsprechung zur Kompensation rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen war, bei überlangen Strafverfahren jeweils auch eine Verletzung 13  BGH,

Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 ff. = NJW 2000, 1123 ff. hierzu Schuska, S.  23 ff. 15  Gaede, HRRS-Festgabe Fezer, S. 21 (23). 16  Demko, HRRS 2005, 94 (104); Gaede, HRRS-Festgabe Fezer, S. 21 (30); Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 35 ff.; KK-Schädler, Vorbem. zur EMRK Rn. 5; Villiger, Rn. 180 f., sprach von einem „evolutiven Vertragswerk“. 17  Wohlers, FS Rudolphi, S. 713 (718). 18  BGH, Urteil vom 12.07.1966, DAR 1963, 169. 19  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371. 14  Vgl.

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A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG vorliegt und so individuell schützende Grundrechte tangiert sind. Ein weiterer Aspekt in dieser Thematik ist auch der bereits mehrfach vom EGMR gerügte fehlende Rechtsbehelf in Deutschland zur Geltendmachung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund überlanger Verfahrensdauer. Hierbei löste insbesondere zuletzt das Piloturteil im Fall Rumpf . / . Deutschland vom 02.09.2010,20 in welchem dies sogar als strukturelles Problem aufgezeigt wurde, eine weitere Dringlichkeit mit Pflicht zur Reaktion in Deutschland aus. Da hierin gleichzeitig ein eigenständiger Verstoß gegen Art. 13 EMRK vorliegt und der EGMR der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2010 aufgab, binnen Jahresfrist einen entsprechenden Rechtsbehelf einzuführen, der seinen Anforderungen genügt,21 kam auch in die Legislative Bewegung. Dies führte letztlich zum „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Er­mitt­ lungsverfahren“,22 welches am 03.12.2011 in Kraft trat.

II. Problemstellung und Ziel der Arbeit Die Verfahrensdauer von Ermittlungs- und Strafverfahren wird schon seit langem seitens der Verteidigung einer kritischen Prüfung unterzogen. Dies vor allem auch deshalb, weil ein Strafprozess regelmäßig in ganz empfindlichem Maße in die Rechtsposition eines Beschuldigten eingreift, der während des laufenden Verfahrens enormen Belastungen ausgesetzt ist.23 Vor allem in Zeiten knapper Kassen der öffentlichen Hand und dem damit verbundenen Personalabbau in der Justiz kann in zunehmendem Maße nicht mehr von der Hand gewiesen werden, dass die Durchführung des Verfahrens längere Zeit in Anspruch nimmt, als angemessen ist. Davon sind nicht nur die aufwändigen und aktenintensiven Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren betroffen. Es stieg in den letzten Jahren deshalb naturgemäß die Anzahl der Verfahren, in denen eine überlange Verfahrensdauer erfolgreich gerügt wurde und die Auswirkungen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine Rolle spielten.24 20  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355. 21  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3358). 22  BGBl. 2011 I, S. 2302, näheres siehe unter H. 23  Krehl / Eidam, NStZ 2006, 1; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (160). 24  Zwar ist der Justizgeschäftsstatistik des Statistischen Bundesamtes (siehe unter www.destatis.de) zu entnehmen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer von Strafverfahren im Zeitraum der Jahre 2005–2011 annähernd gleich geblieben ist. Jedoch ist in diesem Zeitraum die Anzahl der vor dem EGMR erfolgreichen Rügen



II. Problemstellung und Ziel der Arbeit 19

Ausgehend von dem genannten Eckle-Urteil,25 das der nationalen Rechtsprechung aufgab, eine Verletzung des aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK abzuleitenden Rechts auf Verfahrensbeschleunigung zunächst ausdrücklich im jeweiligen Urteil festzustellen und diese zu kompensieren,26 entwickelte sich zwischen BVerfG und BGH in einer Art „Wechselspiel“ eine dezidierte Rechtsprechung zu dieser Thematik. Diese sah – neben der Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens in gravierenden Fällen – regelmäßig bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen ein Ausgleich auf der Strafzumessungsebene vor, sog. „Strafzumessungslösung“.27 In einem „abgestuften Rechtsfolgensystem“28 sollten die beim Beschuldigten durch die überlange Verfahrensdauer entstandenen Beeinträchtigungen bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, wenn die ausdrückliche Feststellung der Konventionswidrigkeit aufgrund unangemessen langer Verfahrensdauer im Urteil nicht zur Kompensation des Verstoßes ausreicht und auch eine Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153, 153a StPO, eine Beschränkung der Strafverfolgung gemäß §§ 154, 154a StPO oder eine Beendigung des Verfahrens aufgrund der §§ 59, 60 StGB nicht in Betracht kommt.29 In Ausnahmefällen, wenn das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegt und zu besonderen Belastungen des Beschuldigten geführt hat, wurde seinerzeit in der Rechtsprechung ein von Verfassungs wegen anzunehmendes Verfahrenshindernis anerkannt, das zur Einstellung des gesamten Verfahrens führte.30 Wird die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung jedoch bei der Strafzumessung ausgeglichen, so war hierbei, entsprechend der verfeinerten aufgrund einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer in Deutschland deutlich angestiegen: während es in den Jahren 2005–2008 jeweils 3–5 Verurteilungen Deutschlands pro Jahr gab, wurde im Jahr 2009 in 14, im Jahr 2010 in 29 sowie im Jahr 2011 in 19 Verfahren vor dem EGMR jeweils im Urteil eine diesbezügliche Konventionsverletzung festgestellt, siehe die „Annual Reports“ unter www.echr.coe.int. 25  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371. 26  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (379 u. 381 f.). 27  Siehe hierzu die Grundsatzentscheidung des BGH, Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 = NJW 1972, 402. 28  So Kraatz, JR 2006, 403 (404 Fn. 28) mit weiteren Nachweisen. 29  Siehe hierzu ausführlich Krehl / Eidam, NStZ 2006, 1 (9); sowie Kraatz, JR 2006, 403 (404) mit Verweis auf BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967; BVerfG, Beschluss vom 25.07.2003, NJW 2003, 2897; BGH, Urteil vom 09.12.1987, BGHSt 35, 137 = NJW 1988, 2188; BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 = NJW 2001, 1146; BGH, Beschluss vom 13.11.2003, NStZ 2004, 639. 30  BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967; BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 = NJW 2001, 1146.

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A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

Rechtsprechung von BVerfG und BGH, im Urteil Art und Ausmaß der konventionswidrigen Verfahrensdauer ausdrücklich festzustellen und zur Kompensation der Konventionswidrigkeit der Strafmilderung durch einen rechnerisch exakt bestimmten Strafabschlag auf die schuldangemessene Strafe vorzunehmen.31 In den Urteilsgründen war sowohl für die Einzelstrafen als auch für die Gesamtstrafe jeweils die an sich verwirkte und die nach Durchführung der Kompensation verhängte Höhe konkret anzugeben, wobei dies indessen nicht dahin verstanden werden sollte, dass die gebotene Ermäßigung im Sinne eines „doppelten Rabatts“ zweifach gewährt würde.32 Diese Rechtsprechung wurde in der Literatur umfassend besprochen und überwiegend befürwortet. Einzelne Stimmen kritisierten die Strafzumessungslösung und zeigten andere Lösungsansätze, allen voran eine generelle Verfahrenshindernislösung, auf.33 Völlig unerwartet und „fast aus heiterem Himmel“34, das heißt ohne eine vorherige ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik,35 hat sich der Große Senat für Strafsachen des BGH mit einem Beschluss vom 17. Januar 200836 auf Vorlage durch den 3. Strafsenat37 von der bisherigen Strafzumessungs- bzw. Strafabschlagslösung abgewandt und sich zur Kompensation von konventionswidrigen Verfahrensverzögerungen 31  Schäfer / Sander / van Gemmeren, Rn. 442 mit Verweis insbesondere auf BVerfG, Beschluss vom 07.03.1997, NStZ 1997, 591 und BGH, Beschlüsse vom 21.12.1998, NStZ 1999, 181 und 17.04.2007, NStZ 2007, 539. 32  BGH, Beschluss vom 17.06.2003, NJW 2003, 2759 (2760). 33  Siehe hierzu und zur einzelnen Kritik im Schrifttum Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (181 ff.). 34  So auch Scheffler, ZIS 2008, 269. 35  So schon Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2212); anders Ziegert, StraFo 2008, 321 f., der unter Verweis auf „LK-Gribbohm, 10. Aufl., § 49 Rn. 240 f.“ eine vorherige Diskussion in der Literatur zu erkennen meinte. Tatsächlich tauchte die Idee, dass „im Hinblick auf den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK“ ein bestimmter Teil der Strafe „als verbüßt gilt“, in der Kommentierung von Gribbohm zu § 46, Rn. 240 f., in der 11. Auflage (2003) des Leipziger Kommentars zum Strafgesetzbuch zum ersten Mal auf. Diese wurde in der Folgeauflage so auch weiterhin vom neuen Bearbeiter vertreten, siehe LK-Theune, 12. Aufl. (2006), § 46 Rn. 244, ohne dass jedoch hierauf eine Reaktion in der Literatur erfolgt ist. Lediglich Basdorf hatte diese Lösungsmöglichkeit einer entsprechenden Anwendung des § 51 StGB für die „Verletzung des Beschleunigungsgebots“ in einem Referat im Jahr 2007 auf dem 1. Karlsruher Strafrechtsdialog [S. 53 (57 f.)] aufgegriffen und sich zu eigen gemacht, ohne jedoch explizit auf die Kommentierung von Gribbohm bzw. Theune im Leipziger Kommentar zu verweisen. 36  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 = NJW 2008, 860. 37  BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294.



II. Problemstellung und Ziel der Arbeit 21

für eine sog. „Vollstreckungslösung“38 ausgesprochen. Hiernach erfolgt der Ausgleich für die rechtsstaatswidrig lange Verfahrensdauer losgelöst von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe und wird aus dem Vorgang der Strafzumessung ausgekoppelt. In der Urteilsformel ist zunächst die nach allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkten zu bestimmende Strafe zu verhängen und zusätzlich hierzu, in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB, auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.39 Dieser Systemwechsel, der eine völlige Abkehr von der bisherigen einhelligen Rechtsprechung bedeutet, hat weit reichende Auswirkungen für Wissenschaft und Praxis. Sofort nach Bekanntwerden der Entscheidung ist eine breite wissenschaftliche Diskussion entbrannt, die die Konsequenzen des Umschwenkens hin zur Vollstreckungslösung in allen Einzelheiten beleuchtete. Die Vereinbarkeit der neuen Rechtsprechung sowohl mit den Vorgaben des EGMR zur Auslegung und Beachtung der EMRK als auch mit dem nationalen Verfassungs-, Strafprozess- sowie Strafzumessungsrecht stand hierbei auf dem Prüfstand. Die Strafzwecke und Diskussionen über den Sinn von Strafe wurden hierbei ebenfalls in den Vordergrund gerückt. Fruchtbar für eine umfassende wissenschaftliche Betrachtung sind die sehr kontroversen Auffassungen, die geäußert wurden. Nicht zu unterschätzen sind auch die Auswirkungen der neuen Vollstreckungslösung auf die gerichtliche Praxis. Diese sind gleichermaßen bei Strafrichtern, Verteidigern und Angeklagten spürbar, da sich der neue Lösungsweg auf den Verlauf und Ausgang von Straf- und Ermittlungsverfahren auswirken wird. Ob dies das eigentliche Motiv der Rechtsprechungsänderung war, kann zunächst dahingestellt bleiben,40 aber jedenfalls wird der Systemwechsel wohl unter anderem dazu führen, dass Straftäter – vor allem Wirtschaftskriminelle – seltener eine Strafaussetzung zur Bewährung errei38  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (129) = NJW 2008, 860 (861). 39  Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 9a; Schäfer / Sander / van Gemmeren, Rn. 443. 40  So aber jedenfalls Scheffler, ZIS 2008, 269 (273) mit Verweis auf Basdorf, 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 53 (58); Jahn hob in zwei journalistischen Artikeln in der FAZ (16.11.2007, S. 11) sowie online unter www.faz.net (08.02.2008) explizit darauf ab, dass die neue Rechtsprechung vor allem dazu diene, Wirtschaftsstraftäter, deren Verfahren oft besonders lange dauern, künftig mit härteren Strafen zu belegen und ihnen seltener eine Strafaussetzung zur Bewährung zu ermöglichen. „Die frühere Vorsitzenden Richterin am BGH und jetzigen Generalbun­des­anwältin, Monika Harms, hatte wiederholt beklagt, dass Wirtschaftsstraftäter deshalb unangemessen niedrige Strafen erhielten, die zudem fast immer zur Bewährung ausgesetzt werden müssten.“ (FAZ.NET, 08.02.2008).

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A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

chen können, da zumindest eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mangels Strafzumessungsrelevanz nicht mehr dazu herangezogen werden kann, die Schwelle des § 56 Abs. 2 StGB zu unterschreiten.41 Diese Tendenz, vor allem Wirtschafts- und Steuerstraftäter härter zu bestrafen und die Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung einzuschränken, setzte sich, wie auch die Urteile des 1. Strafsenats vom 02.12. 200842 und 07.02.201243 zeigen, in markanter Weise in der Rechtsprechung des BGH fort, was ein entsprechendes Motiv für die Rechtsprechungsänderung daher nicht als abwegig erscheinen lässt. Die vorliegende Arbeit möchte die Wurzeln der Rechtsprechung zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung darstellen und die Rechtsprechungsentwicklung nachzeichnen, bevor die neue Vollstreckungslösung in allen Einzelheiten analysiert und auch auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüft wird. Dies geschieht durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Problemen und noch ungeklärten Fragen der neuen Vollstreckungslösung des BGH in ihrem völkerrechtlichen Bezug (EMRK) sowie im Bereich des nationalen Strafrechts. Zudem setzt die Ausarbeitung Schwerpunkte auch bezüglich der Übertragbarkeit der Rechtsprechung auf andere Fallgestaltungen, wie dies zum Teil der BGH schon vorgenommen hat. Letztlich erfolgt eine Betrachtung in rechtsvergleichender Hinsicht. Ein neuer Blickwinkel bei der Bewertung der Vollstreckungslösung kommt zuletzt durch das „Gesetz zur Entschädigung für überlange Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren“ hinzu, in welchem ein genereller Entschädigungsanspruch der von rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung Betroffenen geregelt ist. Ob sich hieraus Auswirkungen auf die Vollstreckungslösung ergeben ist, trotz eines normierten Ausschlusses der Entschädigung nach erfolgter Kompensation im Strafverfahren mittels Vollstreckungsanrechnung, noch offen. Einen kritischen Einwand, ob das weitere Nebeneinander von gesetzlicher Entschädigungslösung und richterrecht­ licher Vollstreckungslösung sinnvoll ist, formulierte zumindest der Präsident des BGH, Tolksdorf,44 woraus sich ein weiterer Diskussionsbedarf ergibt.

III. Gang der Darstellung In einem detaillierten Überblick über den europäischen und nationalen Kontext der relevanten Normen wird der vom Völkerrecht und vom deut41  Näheres

hierzu siehe unter E. VI. 5. Urteil vom 02.12.2008, BGHSt 53, 71 = NJW 2009, 528. 43  BGH, Urteil vom 07.02.2012, NJW 2012, 1458. 44  Tolksdorf, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 13 (14). 42  BGH,



III. Gang der Darstellung23

schen Verfassungs- und Strafrecht gesetzte Rahmen beleuchtet und geprüft, inwieweit sich die geänderte Rechtsprechung in diesen einpasst. Folgeprobleme – auch für andere Fallgestaltungen – werden erörtert, außerdem wird der Blick vom nationalen Kontext abgewandt und Lösungsmöglichkeiten dieser Problematik in anderen Rechtsordnungen analysiert. Anschließend erfolgt eine eigene Bewertung der Vollstreckungslösung unter Aufzeigung alternativer Lösungsansätze. Die Untersuchung beginnt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die Ausgangspunkt für die strafrechtliche Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen bzw. überlangen Verfahrensdauer war. Diese stellte sich gleichzeitig im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) immer wieder als Hauptantriebsfeder und Motor für die weitere Beachtung und die Entwicklung der diesbezüglichen nationalen Rechtsprechung dar. Zunächst werden die völkerrechtlichen Wurzeln der EMRK dargestellt, bevor die Stellung und Funktion des EGMR erörtert wird.45 Sein Einfluss ist es, der die Auslegung der EMRK maßgeblich prägt. Es folgt dann die Herausarbeitung des Einflusses der EMRK auf das deutsche Strafrecht46 sowie der Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.47 Anschließend wird der im nationalen Strafrecht hieraus entwickelte Weg hin zu der bisherigen „Strafzumessungslösung“ nachgezeichnet,48 ehe dann der Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats des BGH vom 23.08.200749 sowie der darauf basierenden Beschluss des Großen Strafsenats des BGH vom 17.01.200850 ausführlich dargestellt wird.51 Zudem werden die gegensätzlichen Reaktionen auf den Systemwechsel in der Literatur gegenübergestellt.52 Dem folgt ein Überblick über die Fortentwicklung der Rechtsprechung durch die Strafsenate des BGH im Anschluss an die Entscheidung des Großen Senats,53 bevor eine ausführliche Auseinandersetzung mit der dort vertretenen „Vollstreckungslösung“ in allen Einzelheiten erfolgt.54 45  Siehe

unter B. I. unter B. II. 47  Siehe unter B. III. 48  Siehe unter C. I. und II. 49  BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294. 50  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 = NJW 2008, 860. 51  Siehe unter C. III. und IV. 52  Siehe unter C. V. 53  Siehe unter D. 54  Siehe unter E. 46  Siehe

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A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

Hierbei wird zunächst die vom BGH gesehene Notwendigkeit zu einem „Systemwechsel“55 sowie die direkte Vorlage an den Großen Strafsenat ohne Beteiligung der anderen Senate und eine eventuelle Bindungswirkung der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG aufgrund von § 31 BVerfGG problematisiert, ehe die neu gefundene Lösung an den Garantien der EMRK in der Ausgestaltung durch den EGMR gemessen wird.56 Das Hauptaugenmerk wird hierbei auf die Frage gelegt, ob hierdurch ein ausreichend wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK besteht und ob die Entschädigung im Rahmen der Vollstreckungslösung dazu geeignet ist, gemäß Art. 34 EMRK die Opfereigenschaft entfallen zu lassen. Bei der anschließenden Prüfung anhand der Vorgaben des nationalen Rechts wird nach Erörterung von verfassungsrechtlichen Grundsätzen57 untersucht, ob sich die Vollstreckungslösung in strafprozessualer Hinsicht mit der bisherigen Verfahrenshindernislösung verträgt58 und ob sie sich in das Sanktionensystem des StGB einpasst.59 Bei Letzterem gilt es insbesondere das Verhältnis der §§ 60, 51 und 49 StGB zueinander zu klären und darzustellen, inwieweit die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eventuell über die Strafzwecke oder  /  und als schuldunabhängiger Strafmilderungsgrund doch zu Strafzumessungsrelevanz gelangt. Anschließend erfolgte eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Folgeproblemen, welche die Vollstreckungslösung vor allem bei der praktischen Umsetzung mit sich bringt.60 Im weiteren Verlauf der Darstellung wird geprüft, ob sich die Vollstreckungslösung auch dazu eignet, für andere, bislang umstrittene Fallgestaltungen herangezogen zu werden.61 In die Diskussion hat das der 5. Strafsenat des BGH für die unterbliebene Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand nach Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 des Wiener Konsularrechtsübereinkommens (WÜK) gebracht. In einem umstrittenen62 Beschluss vom 25.09.200763 statuierte der Senat unter Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots, dass eine Kompensation dieser Rechtsverletzung dergestalt zu 55  So ausdrücklich vom BGH im Beschluss vom 17.01.2008 bezeichnet – BGHSt 52, 124 (129). 56  Siehe unter E. I. bis III. 57  Siehe unter E. IV. 58  Siehe unter E. V. 59  Siehe unter E. VI. 60  Siehe unter E. VII. 61  Siehe unter F. 62  Siehe dazu die Beschlüsse des 1. Strafsenats vom 11.09.2007, NJW 2007, 3587 und 3. Strafsenats vom 20.12.2007, NJW 2008, 1090. 63  BGH, Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307.



III. Gang der Darstellung25

erfolgen hat, dass der Verletzte nunmehr einen Anspruch darauf haben solle, „dass ein zahlenmäßig bestimmter Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung)“.64 Mittlerweile wurde der Beschluss durch das BVerfG wieder aufgehoben, da der 5. Strafsenat in den Ausführungen zu den sich aus einer Verletzung des Art. 36 WÜK ergebenen Konsequenzen die Rechtsprechung des IGH nicht hinreichend berücksichtigt hat.65 Der Entscheidungsbegründung des BVerfG ist zu entnehmen, dass die Vollstreckungslösung wohl nicht zur Kompensation einer Verletzung der Belehrungspflicht über die Möglichkeit der Konsulatsbenachrichtigung geeignet ist, es enthielt sich jedoch der Festlegung einer konkreten Rechtsfolge für einen solchen Verstoß. Eine Anwendung könnte auch für den konventionswidrigen Einsatz von polizeilichen Lockspitzeln in Betracht kommen, da in beiden Fällen ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und somit eine ähnliche Konventionsverletzung vorliegt. Für diese Fallgestaltung war vom BGH66 im Anschluss an die damalige Rechtsprechung zur Kompensation konventionswidriger Verfahrensverzögerungen ebenfalls eine ähnlich anzuwendende „Strafzumessungslösung“ entwickelt worden. Zur Frage, ob die Änderung der Rechtsprechung hin zur „Vollstreckungslösung“ auch auf den Fall der unzulässigen Tatprovokation zu übertragen ist, schweigt sich die Entscheidung des Großen Senats des BGH aus. Zwar wurden vor dieser Entscheidung seitens des 5. Strafsenats bereits Bedenken gegen die Strafzumessungslösung angemeldet,67 in einer ergänzenden Bemerkung im Beschluss vom 22.07.200868 hat jedoch der 3. Strafsenat eine Anwendung der Vollstreckungslösung bei einem rechtsstaatswidrigen Einsatz eines verdeckten Ermittlers grundsätzlich abgelehnt.69 64  BGH,

Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (309). Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (208). 66  BGH, Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 = NJW 2000, 1123. 67  So weist der Senat bereits in einem Urteil vom 21.06.2007, BGH, NStZ 2008, 39 (40), darauf hin, „dass er die Methode der […] numerischen Strafreduzierung bei einem als rechtsstaatswidrig bewerteten Lockspitzeleinsatz ohnehin als dem deutschen Strafzumessungsrecht fremd erachtet“. 68  BGH, Beschluss vom 22.07.2008, Az. 3 StR 266 / 08, HRRS 2008 Nr. 722. 69  Der BGH hatte hierbei ein Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 29.02.2008 (Az. 23 Ks 76 / 07 – 45 Js 7 / 03 – zitiert nach Juris), zu überprüfen, in welchem aufgrund des „als unzulässig bewerteten Einsatzes eines verdeckten Ermittlers“ angeordnet worden war, dass ein Teil der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe „als verbüßt“ gilt. Wegen der Grundsätzlichkeit der Ablehnung der Vollstreckungslösung im Beschluss des 3. Strafsenats kann dahingestellt bleiben, ob das LG Wuppertal die Vollstreckungslösung nur deshalb anwandte, weil der unzulässige Einsatz des verdeckten Ermittlers auch zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt hat. Insoweit bleibt das landgerichtliche Urteil ungenau. 65  BVerfG,

26

A. Problemstellung – Aufgabe und Ziel der Arbeit

Ein weiteres Anwendungsfeld der Vollstreckungslösung eröffnete der BGH zuletzt im Bereich des Härteausgleichs. Hier war es wiederum der 5.  Straf­senat, der dies mit seinem Beschluss vom 08.12.200970 anstieß, und zunächst auf die Fälle des Härteausgleichs bei lebenslanger Freiheitsstrafe und zufällig getrennter Aburteilung beschränkte, später71 auch dann zur Anwendung brachte für einen Härteausgleich aufgrund des Entfallens einer begünstigenden Zäsurwirkung durch mangelnde Möglichkeit der Gesamtstrafenbildung wegen bereits vollstreckter (Ersatz)freiheitsstrafe.72 Aufgrund der angeführten Konstellationen ist weiter zu prüfen, ob eine Übertragung der Vollstreckungslösung auch für andere Fallgruppen, in denen Verfahrensfehler vorliegen und gegebenenfalls ein Beweisverbot erörtert wird, erfolgen kann. Der sich zunächst auf das deutsche Recht beschränkenden Darstellung schließt sich eine rechtsvergleichende Untersuchung der Problematik von Sanktionsmöglichkeiten bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen in anderen Rechtsordnungen an.73 Hierbei wird zunächst geprüft, inwieweit dort eine Rechtsfolgenlösung praktiziert wird, bevor die gesetzlichen Regelungsmodelle hierzu in Italien (das vor allem in den Jahren 1998 bis 2000 eine hohe Zahl von Verurteilungen durch den EGMR wegen konventionswidrigen Verfahrensverzögerungen aufwies und daraufhin gesetzgeberisch tätig wurde74), Österreich, Frankreich, Spanien, Portugal und Polen in Augenschein genommen und bewertet werden. Anschließend wird der Gang der Gesetzgebung und das mittlerweile in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver70  BGH,

Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157. Beschluss vom 26.01.2010, NJW 2010, 2600. 72  Der 5. Strafsenat nahm hierbei eine vollständige Vollstreckungsanrechnung vor, stellte dies aber in Frage für Fälle, bei denen die getrennte Aburteilung Gegebenheiten geschuldet ist, „die außerhalb des Verantwortungsbereichs der Justiz liegen“, BGH, Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157 (1158); dagegen sprach sich der 2. Strafsenat grundsätzlich gegen eine vollständige Anrechnung von verbüßten Haftzeiten im Rahmen des Härteausgleichs aus, Beschluss vom 20.01.2010, NJW 2010, 1470 (1471). Der 4. Strafsenat wiederum lehnte es ab, die Vollstreckungslösung auch auf die Fälle des Härteausgleichs bei der Verhängung zeitiger Freiheitsstrafen zu übertragen, da hier eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung sachgerechter sei, Beschluss vom 09.11.2010, NJW 2011, 868, während der 5. Strafsenat seine Rechtsprechung fortführte und die Vollstreckungslösung ohne nähere Begründung auch beim Härteausgleich eines Nachteils bei der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe anwendete, BGH, Beschluss vom 28.09.2010, Az. 5 StR 343 / 10, zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 73  Siehe unter G. 74  Vgl. Ress, FS Müller-Dietz, S. 627 f. 71  BGH,



III. Gang der Darstellung27

fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das die Normierung eines generellen Entschädigungsanspruchs enthält, ausführlich dargestellt und die damit verbundenen Problempunkte erörtert.75 Im letzten Teil der Arbeit werden alternative Lösungsmöglichkeiten dargestellt und es erfolgt eine eingehende Auseinandersetzung mit den Argumenten für und gegen die Vollstreckungslösung. Zudem werden die Auswirkungen des neuen Gesetzes, insbesondere des dort normierten Entschädigungsanspruchs, auf die Vollstreckungslösung beleuchtet, bevor ein Resümee gezogen wird.76

75  Siehe 76  Siehe

unter H. unter I.

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht und Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1 der EMRK vom 4. November 1950 in der in Deutschland geltenden Bekanntmachung der Neufassung vom 17.05.20021 garantiert jeder Person, dass „über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Dieses Recht auf Verfahrensbeschleunigung in der EMRK ist Ausgangspunkt und gleichzeitig die Grundlage für die Berücksichtigung der Verfahrensdauer in der nationalen deutschen Strafjudikatur. Als „klassischer Leitfall“2 für eine überlange Verfahrensdauer in Strafsachen ist das Urteil des EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland3 vom 15. Juli 1982 anzusehen, da hier zum ersten Mal vom EGMR eine Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung in einem Strafverfahren durch die Bundesrepublik Deutschland festgestellt worden ist und Kriterien zur Konkretisierung der in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK enthaltenen Garantie vor allem auch der deutschen Rechtsprechung an die Hand gegeben worden sind. Seit dieser Entscheidung ist die überlange Verfahrensdauer ins nähere Blickfeld der deutschen Judikatur gelangt, was seinen vorerst letzten Höhepunkt in der Proklamation des Systemwechsels durch den Großen Senat des BGH4 zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen von der Strafzumessungs- hin zur Vollstreckungslösung gefunden hat.

I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR 1. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Die EMRK stellt das älteste Vertragswerk seiner Art im Rahmen des regionalen Menschenrechtsschutzes dar.5 Sie wurde am 04.11.1950 in Rom 1  BGBl. 2002

II, 1054 (1058). jedenfalls Demko, HRRS 2005, 283. 3  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371. 4  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 = NJW 2008, 860. 5  Grabenwarter / Pabel, § 1 Rn. 1. 2  So



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR29

von 13 der damals 15 Mitgliedsstaaten des Europarats (Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Türkei, Vereinigtes Königreich sowie der Bundesrepublik Deutschland und dem Saarland als assoziierte Mitglieder) unterzeichnet. Nachdem Deutschland die Konvention bereits im Dezember 1952 ratifiziert hatte, trat sie nach Erreichen der gemäß Art. 59 Abs. 2 EMRK erforderlichen Zahl von zehn Ratifikationen am 3. September 1953 in Kraft.6 Für das frühere Gebiet der DDR erlangte die Konvention mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 03.10.1990 Geltung.7 Mittlerweile haben alle derzeit 47 Mitgliedsstaaten des Europarats die EMRK unterzeichnet und ratifiziert. Die EMRK als „geschlossene Konvention“,8 die nur von Mitgliedern des Europarats unterzeichnet werden kann, Art. 59 Abs. 1 S. 1 EMRK, ist der erste völkerrechtliche Vertrag, der einen Katalog von Menschenrechten ausdrücklich verbindlich machte und zudem einen effektiven Rechtsschutzmechanismus zu dessen Durchsetzung schuf.9 Ziel war es, in Europa durch die Konventionsrechte einen Mindestgrundrechtsstandard zu gewährleisten.10 Sie nimmt als Menschenrechtsvertrag im völkerrechtlichen Vertragsrecht eine Sonderstellung ein. Denn die EMRK hat nicht Beziehungen zwischen Staaten zum Gegenstand hat, sondern regelt das Verhältnis zwischen Individuen, die sich auf Menschenrechte berufen, und Staaten, die sich zur Einhaltung der Garantien völkerrechtlich verpflichten, wodurch sie eine „objektive Ordnung“ etabliert.11 Mit der Ratifizierung wurde die EMRK für die Konventionsstaaten verbindlich. Hiermit wurde die unmittelbare Verpflichtung begründet, den der Jurisdiktion der Vertragsstaaten unterstehenden Personen die Konventionsrechte zu sichern.12 Die EMRK schützt vorrangig die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat, indem sie Freiheitsrechte garantiert,13 die durch Gewährleistungsansprüche abgesichert werden, während sie keine konkreten Leistungsrechte enthält.14 An der Spitze des Katalogs der von der EMRK gewährleisteten Menschenrechte steht in Art. 2 EMRK das Recht auf Leben. Anschließend folgen weitere Menschenrechtsgarantien, vor allem verschiedene Freiheitsrechte, die auch im deutschen Grundgesetz (GG) zu finden sind, sowie die 6  Grabenwarter / Pabel,

§ 1 Rn. 3. Einf. Rn. 2. 8  Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 1. 9  SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Einl. Rn. 19. 10  Ehlers, Jura 2000, 372; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 134. 11  Grabenwarter / Pabel, § 2 Rn. 1; Peters, S. 12. 12  Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 32. 13  Ehlers, Jura 2000, 372 (374). 14  Peters, S. 15. 7  Frowein / Peukert-Frowein,

30

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

Untersagung von Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und jedweder Diskriminierung. Hingegen sind in der EMRK weder eine gesonderte Menschenwürdegarantie (wie Art. 1 GG) noch eine ausdrückliche Verbriefung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie des Erb- (Art. 14 Abs. 1 GG) und Asylrechts (Art. 16a GG) enthalten.15 Von besonderer Bedeutung sind die grundlegenden rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien der Art. 5 bis 7 EMRK, wovon vor allem der „fair trail“Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK hervorzuheben ist, der die größte praktische Relevanz besitzt. Für die Frage des Rechtsschutzes ist zum einen Art. 13 EMRK bedeutsam, der zunächst jeder Person das Recht auf wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz garantiert. Zum anderen ist hervorzuheben die Regelung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsschutzes vor Erhebung einer Beschwerde gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK, die den allgemeinen Grundsatz widerspiegelt, dass der internationale Menschenrechtsschutz subsidiär zum nationalen Grundrechtsschutz ist.16 2. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Der EGMR, bereits zu Beginn seiner Tätigkeit, im sechsten Jahr nach dem Inkrafttreten der EMRK, als „die Krönung ihres Rechtsschutzsystems“ bezeichnet,17 hat sich im Laufe der Zeit zu einem ganz wesentlichen und bestimmenden Faktor der Menschenrechtsjudikatur und -politik in Europa entwickelt. Vor allem das mit ihm geschaffene Rechtsinstitut der Individualbeschwerde gehört heute zu den Bindegliedern, welche Europa zumindest in Form der Mitgliedsstaaten des Europarats bzw. der EMRK zu einer gewissen Einheit zusammengeführt haben.18 Der EGMR versteht sich nicht als „Superverfassungsgericht“19 oder „Superrevisionsinstanz“20 mit der Aufgabe, sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Fehlern der nationalen Gerichte zu befassen, sondern sieht es unter Bezugnahme auf Art. 19 EMRK als seine wichtigste Aufgabe an, einen menschenrechtlichen Minimalstandard zu sichern und die Einhaltung der Konventionsgarantien durch die Mitgliedsstaaten sicherzustellen.21 15  SK-StPO-Paeffgen,

EMRK, Einl. Rn. 21. EMRK, Art. 6 Rn. 2, Art. 35 Rn. 7. 17  Siehe Mosler, ZaöRV 20 (1959 / 60), 415. 18  Vgl. Siess-Scherz, EuGRZ 2003, 100; Tomuschat, EuGRZ 2003, 95 (100). 19  Peters, S. 10. 20  Guder, S. 117. 21  So auch Guder, S. 117 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR, der in mehreren Entscheidungen feststellte: „According to Article 19 of the Convention, 16  Meyer-Ladewig,



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR31

Seine Aufgaben nimmt der EGMR mit Sitz in Straßburg seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK am 01.01.1998 gemäß Art. 19 S. 2 EMRK als ständiger Gerichtshof wahr. Er besteht aus je einem Richter der Vertragsstaaten, Art. 20 EMRK, die Richter vertreten jedoch nicht ihren Mitgliedsstaat, sondern agieren als unabhängiges Mitglied des EGMR.22 Die Organisation des EGMR ergibt sich grundsätzlich aus der EMRK sowie im Einzelnen aus der Verfahrensordnung (VerfO), die sich der Gerichtshof nach Art. 26 lit. d EMRK gegeben hat.23 3. Auslegung der EMRK durch den EGMR Der EGMR ist gemäß Art. 19 EMRK als ständiger Gerichtshof zu dem Zweck errichtet worden, die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der EMRK sicherzustellen. Ein entsprechendes Selbstverständnis kann auch den Entscheidungen des EGMR entnommen werden.24 Da die Konventionsstaaten gemäß Art. 46 EMRK verpflichtet sind, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen, erweist sich der EGMR als die letzte Autorität in Streitigkeiten um die Auslegung der EMRK.25 Der Rechtsprechung des EGMR kommt somit entscheidende Bedeutung bei der Auslegung der Konvention und der Bestimmung des Umfangs der darin enthaltenen Garantien zu. Bei der Auslegung der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten des Europarats sind die allgemeinen Grundsätze zur Auslegung internationaler Abkommen anzuwenden.26 Heranzuziehen sind hierzu, ungeachtet der Transformation des Vertrages ins innerstaatliche Recht, vor the Court’s duty is to ensure the obvervance of the engagements undertaken by the Contracting States in the Convention“, EGMR in den Fällen Schenk . / . Schweiz, Urteil vom 12.07.1988, NJW 1989, 654 (655); Khan .  / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 12.05.2000, JZ 2000, 993 und Allan . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 05.11.2002, StV 2003, 257. 22  Grabenwarter / Pabel, § 7 Rn. 1. 23  Der EGMR hat seine zum 01.11.1998 in Kraft getretene Verfahrensordnung bereits mehrfach geändert, zuletzt durch Beschluss des Plenums des Gerichtshofs vom 07.11.2005; zur derzeit gültigen Fassung siehe die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt, BGBl. 2006 II, S. 694 ff. 24  Siehe die Rechtsprechungsnachweise in Fn. 21; der EGMR betonte hierbei wiederholt, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich mit tatsachenbezogenen oder rechtlichen Fehlern der nationalen Gerichte zu befassen, EGMR in den Fällen Khan . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 12.05.2000, JZ 2000, 993; Schenk . / . Schweiz, Urteil vom 12.07.1988, NJW 1989, 654 (655) und Allan . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 05.11.2002, StV 2003, 257 (258). 25  Vgl. EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Cremer, Kap. 4 Rn. 5. 26  KK-Schädler, Vorbem. zur EMRK Rn. 5.

32

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

allem die Regeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge27 (WÜV) vom 23. Mai 1969, auch Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) genannt.28 Der EGMR verwies bereits im Jahre 1975, als das WÜV noch gar nicht in Kraft getreten war, im Fall Golder . / . Vereinigtes Königreich darauf, dass die Art. 31–33 WÜV allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts enthalten, die zur Auslegung der EMRK heranzuziehen sind.29 Dies wurde in weiteren Entscheidungen des EGMR bestätigt.30 Insoweit ist die Konvention als „law-making treaty“, d. h. normsetzender Vertrag, einzustufen, der Normen im Sinne von abstrakt-generellen Verhaltensregeln für die Parteien enthält.31 Nach Art. 31 Abs. 1 WÜV sind völkerrechtliche Verträge „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen“. Zudem ist die „Übung bei der Anwendung des Vertrages“ heranzuziehen, Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV. Als weiterer Grundsatz gilt, dass der Gerichtshof die EMRK so weit wie möglich im Einklang mit anderen Grundsätzen des Völkerrechts auslegt.32 Bei der Auslegung der Konvention ist zunächst von ihrem Wortlaut auszugehen, wobei – wie allgemein bei der Anwendung internationaler Abkommen – auf den genauen Wortlaut weniger Gewicht zu legen ist als bei ausschließlich innerstaatlichen Gesetzen.33 Nach der Schlussformel der EMRK sind der englische und der französische Wortlaut der Konvention gleichermaßen verbindlich. Gemäß Art. 33 Abs. 3 WÜV wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrages in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. Bei Differenzen des Wortlauts der Vertragssprachen ist unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Konvention im Sinne einer harmonisierenden Auslegung die Bedeutung zu ermitteln, welche die verschiedensprachigen Texte am besten miteinander in Einklang bringt.34 27  Siehe 28  So

BGBl. 1985 II, S. 927. LR-Gollwitzer, MRK, Einl. Rn. 52 mit weiteren Rechtsprechungs­ nach­

weisen. 29  EGMR im Fall Golder .  /  . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 21.02.1975, EGMR-E 1, 146 (149) = EuGRZ 1975, 91 (93). 30  EGMR in den Fällen Marckx . / . Belgien, Urteil vom 13.06.1979, EuGRZ 1979, 457; Deumeland . / . Deutschland, Urteil vom 29.05.1986, EuGRZ 1988, 20; Loizdou . / . Türkei, Urteil vom 18.12.1996, EuGRZ 1997, 555 und Mamatkulov . / . Türkei, Urteil vom 06.02.2003, EuGRZ 2003, 704. 31  EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Cremer, Kap. 4 Rn. 18. 32  Heckötter, S. 72 mit Verweis auf die Entscheidung des EGMR im Fall Bankovic u. a. . / . NATO-Staaten, Entscheidung vom 12.12.2001, NJW 2003, 413 (414). 33  Meyer-Goßner, StPO, Vor Art. 1 MRK Rn. 5. 34  LR-Gollwitzer, MRK, Einl. Rn. 55; Grabenwarter / Pabel, § 5 Rn. 4 mit Verweis auf Art. 33 Abs. 4 WÜV.



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR33

Aufgrund der Unterschiede der nationalen Rechtssysteme der Konven­ tionsstaaten und der Tatsache, dass sich Begriffe internationaler völkerrechtlicher Verträge nicht unmittelbar mit denen der nationalen Rechtsordnungen vergleichen lassen, ist die EMRK autonom unter Berücksichtigung ihrer Systematik und Zielsetzung auszulegen und ohne direkte Orientierung an Begriffen des nationalen Rechts.35 Eine am Recht des jeweils betroffenen Staates orientierte Auslegung scheidet aus, weil ansonsten eine international einheitliche Gewährleistung der Rechte nicht möglich wäre und auch gerade Rechte gegenüber einzelnen Staaten durchgesetzt werden sollen, die dort noch keinen besonderen Stellenwert genießen.36 Der EGMR betont dennoch, dass bei der Auslegung bestimmter Konventionsbegriffe sowohl das Rechtsverständnis im betroffenen Staat heranzuziehen ist,37 als auch ein Vergleich mit den Rechtssystemen der übrigen Vertragsstaaten zu erfolgen hat.38 In der Praxis ist gerade die autonome Interpretation der bedeutende Ansatzpunkt für die Rechtsfortbildung durch den EGMR.39 Der EGMR hat – ausgehend vom Fall Tyrer . / . Vereinigtes Königreich40 im Jahr 1978 – wiederholt ausgesprochen, dass er die EMRK im Sinne einer dynamischen bzw. evolutiven Auslegung als „living instrument“ (lebendes Instrument) versteht.41 Die Auslegung hat nicht statisch zu erfolgen, sondern muss „im Lichte der heutigen Verhältnisse“42 unter Berücksichtigung der gewandelten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und ethischen Auffassung vorgenommen werden.43 Dies führt dazu, dass sich der Menschenrechtsschutz durch die Rechtsprechung des EGMR stetig fortentwickelt und es deshalb erforderlich ist, jederzeit die Rechtsprechung zu den einzelnen Konventionsgarantien heranzuziehen, um den von der EMRK 35  Meyer-Goßner, StPO, Vor Art.  1 MRK Rn. 5; KK-Schädler, Vorbem. zur EMRK Rn. 5; BeckOK-Valerius, EMRK, Art. 1 Rn. 4.1. 36  Eisele, JA 2005, 390 (391). 37  So der EGMR im Fall König . / . Deutschland, Urteil vom 28.06.1978, EGMRE 1, 278 (299) = EuGRZ 1978, 406 (415 f.). 38  Vgl. EGMR im Fall Engel u.  a. .  /  . Niederlande, Urteil vom 08.06.1976, EGMR-E 1, 178 (190) = EuGRZ 1976, 221 (232). 39  Grabenwarter / Pabel, § 5 Rn. 11. 40  EGMR im Fall Tyrer .  /  . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25.04.1978, EGMR-E 1, 268 = EuGRZ 1979, 162. 41  EGMR in den Fällen Marckx . / . Belgien, Urteil vom 13.06.1979; EGMR-E 1, 396 = EuGRZ 1979, 457; Artico . / . Italien, Urteil vom 13.05.1980, EGMR-E 1, 480 = EuGRZ 1980, 662 und Vo . / . Frankreich, Urteil vom 08.07.2004, NJW 2005, 727. 42  EGMR in den Fällen Tyrer . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25.04.1978, EGMR-E 1, 268 (273) = EuGRZ 1979, 162 (164) und Vo . / . Frankreich, Urteil vom 08.07.2004, NJW 2005, 727 (730). 43  LR-Gollwitzer, MRK, Einl. Rn. 53a; Grabenwarter / Pabel, § 5 Rn. 13.

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

gewährten Schutz in der aktuellen Ausprägung zu erfassen.44 Schädler45 kritisierte in diesem Zusammenhang, dass jede neue Entscheidung des EGMR zu einer neuen, abweichenden Bewertung staatlichen Handelns führen kann und die im einzelnen Konventionsstaat vorherrschenden tatsäch­ lichen rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse eine zu starke Rolle spielen und deshalb die Orientierung der Konventionsstaaten an der Rechtsprechung des EGMR zu wenig stark erfolge. Dem muss jedoch entgegnet werden, dass die Normen der EMRK ihrem Sinn und Zweck nach gerade offen sind für neue tatsächliche Erkenntnisse, ohne hierdurch an Wirkkraft zu verlieren, und dass es die Flexibilität und die Möglichkeit der Reaktion auf wechselnde tatsächliche und rechtliche Begebenheiten sind, die den Erfolg der EMRK als Instrumentarium zur Gewährleistung eines Mindeststandards an Menschenrechten in den Konventionsstaaten ausmachen.46 Beispielhaft ist auf die Folterrechtsprechung des EGMR im Fall Selmouni . / . Frankreich47 zu verweisen, wonach Akte, die in der Vergangenheit als (bloß) unmenschliche und erniedrigende Handlungen eingestuft worden sind, fortan als Folter im Sinne des Art. 3 EMRK qualifiziert werden. Zur Begründung führte der EGMR an, dass die zunehmend hohen Anforderungen an den Menschenrechtsschutz eine größere Strenge bei der Bewertung der Verletzung grundlegender Werte der demokratischen Gesellschaft erfordern.48 Dass hiermit natürlich den Entscheidungen des EGMR ein gewisses Maß an Aussagekraft und Verlässlichkeit genommen wird, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Zudem ist die Kasuistik des „living instrument“ im Zusammenhang mit einem anderen Aspekt der dynamischen Auslegung zu sehen. Der EGMR betont, ausgehend vom Fall Airey . / . Irland49, dass die Auslegung der Konvention unter Berücksichtigung ihres Zieles, der Sicherstellung eines wirksamen Menschenrechtsschutzes, „effektivitätssichernd“50 sein muss. Die EMRK ist so auszulegen, dass sie Menschenrechte gewährleistet, die 44  Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn.  37; SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Einl. Rn.  283 ff. 45  KK-Schädler, Vorbem. zur EMRK Rn. 5; ähnlich Schuska, S. 22, der ebenfalls bemängelte, dass sich die Ergebnisse der Rechtsprechung zu ähnlichen Problemen schnell ändern können und daher eine „Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung“ nicht gewährleistet sei. 46  So auch EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Cremer, Kap. 4 Rn. 82. 47  EGMR im Fall Selmouni . / . Frankreich, Urteil vom 28.07.1999, NJW 2001, 56. 48  EGMR im Fall Selmouni . / . Frankreich, Urteil vom 28.07.1999, NJW 2001, 56 (60). 49  EGMR im Fall Airey . / . Irland, Urteil vom 09.10.1979, EGMR-E 1, 414 = EuGRZ 1979, 626. 50  So Peters, S. 19.



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR35

konkret und effektiv sind, nicht theoretisch und illusorisch, und dass die zum Schutz des Einzelnen bestehenden Schutzgarantien praktisch wirksam verstanden und angewandt werden.51 Zuletzt ist ferner zu beachten, dass der EGMR den nationalen Staaten bei der Umsetzung und Anwendung der Konvention regelmäßig einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zubilligt.52 Die Rechtssetzung und Anwendung des nationalen Rechts ist grundsätzlich Sache des einzelnen Vertragsstaats. Im Einzelfall prüft dann der EGMR im Sinne einer „endgültigen Kontrolle“, ob der betreffende Sachverhalt mit den Konventionsgarantien in Einklang zu bringen ist, unabhängig von der Einschätzung durch die nationalen Instanzen.53 4. Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR Neben der aufgrund mangelnder praktischer Bedeutung zu vernachlässigenden Staatenbeschwerde gemäß Art. 33 EMRK besteht die Möglichkeit gemäß Art. 34 EMRK vor dem EGMR eine Individualbeschwerde zu erheben. Sie ist ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbarer, außerordentlicher Rechtsbehelf,54 der als effektiver Mechanismus zur Durchsetzung der Menschenrechte auf internationaler Ebene eingestuft werden kann.55 Gemäß Art. 34 EMRK ist jede natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe unabhängig von politischen Rücksichtnahmen ihrer Regierung den Gerichtshof beschwerdeberechtigt. Als wichtigste Voraussetzung der Individualbeschwerde muss der Beschwerdeführer behaupten, selbst in einem eigenen Konventionsrecht verletzt zu sein. Diese „Opfereigenschaft“ muss auch weiter andauern. Den Begriff des Opfers legt der EGMR autonom aus und zählt darunter jede Person, die von der streitigen Handlung oder Unterlassung direkt betroffen ist.56 Neben den unmittelbar verletzten Personen sind in engen Grenzen auch mittelbar Betroffene beschwerdeberechtigt, wenn sie selbst in einem eigenen Konventionsrecht 51  EGMR im Fall Airey . / . Irland, Urteil vom 09.10.1979, EGMR-E 1, 414 (418) = EuGRZ 1979, 626 (628); bestätigt durch EGMR in den Fällen Artico . / . Italien, Urteil vom 13.05.1980, EGMR-E 1, 480 (485) = EuGRZ 1980, 662; Soering . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 07.07.1989, NJW 1990, 2183 (2184) und Mamatkulov . / . Türkei, Urteil vom 06.02.2003, EuGRZ 2003, 704 (707). 52  Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 45. 53  LR-Gollwitzer, MRK, Einl. Rn. 64. 54  So auch Ehlers, Jura 2000, 372 (381). 55  Vgl. Grabenwarter / Pabel, § 9 Rn. 1; Eisele, JA 2000, 424 (428). 56  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34 Rn. 15 u. 17 mit Verweis die Rechtsprechung des EGMR im Fall Brumarescu . / . Rumänien, Urteil vom 28.10.1999, Nr. 28342 / 95, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc.

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

mitbeeinträchtigt sind und ein eigenes Interesse an der Beendigung einer auch sie beschwerenden Verletzung der Rechte eines anderen haben.57 Die Opfereigenschaft ist dann unproblematisch gegeben, wenn der Beschwerdeführer von einer an ihn gerichteten, hoheitlichen Maßnahme betroffen ist. Nicht mehr zulässig ist die Beschwerde, wenn die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers entfallen ist. Dies kann aus tatsächlichen Gründen der Fall sein oder auch durch ausdrücklich getroffene Maßnahmen des beklagten Staats.58 Für die letztgenannte, nachträgliche innerstaatliche Kompensation ist notwendig, dass der Staat die Konventionsverletzung ausdrücklich anerkennt und eine angemessene Wiedergutmachung dafür leistet.59 In zahlreichen Fällen hat es der EGMR sogar ausreichen lassen, dass lediglich die Feststellung und Anerkennung der Verletzung ohne weitere Kompensation etwa in Form einer Geldentschädigung erfolgt ist.60 In Art. 35 Abs. 1 EMRK ist als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung geregelt, dass der EGMR erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe angerufen werden kann. Das Gebot der Rechtswegerschöpfung ist Ausdruck eines allgemeinen völkerrechtlichen Prinzips, wonach es in erster Linie Aufgabe der innerstaatlichen Instanzen ist, einen wirksamen Menschenrechtsschutz sicherzustellen und dort die Konventionsverletzungen zu beheben.61 Im Hinblick auf diese Subsidiarität der EMRK schreibt Art. 13 EMRK vor, dass im innerstaatlichen Recht ein entsprechender Rechtsbehelf im Hinblick auf die behauptete Konventionsverletzung vorhanden sein 57  LR-Gollwitzer, MRK, Verfahren Rn. 26; als Beispiel sind die Witwe, Eltern oder sonstige nahe Angehörige eines Getöteten zu nennen. 58  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34 Rn. 26 ff. 59  LR-Gollwitzer, MRK, Verfahren Rn. 28 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR in den Fällen Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (378); Lüdi . / . Schweiz, Urteil vom 25.06.1992, EuGRZ 1992, 300; Amuur . / . Frankreich, Urteil vom 25.06.1996, ÖJZ 1996, 956 (957) und Rotaru . / . Rumänien, Urteil vom 04.05.2000, ÖJZ 2001, 74 (75); siehe auch EGMR in den Fällen Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1264) und Zullo . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, Nr. 64897 / 01, zitiert nach www.echr.coe.int / echr /  en / hudoc. 60  Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 13.07.1983, NJW 1984, 2749 (2751); EGMR in den Fällen Demicoli . / . Malta, Urteil vom 27.08.1991, EuGRZ 1991, 475 (478); Borgers . / . Belgien, Urteil vom 30.10.1991, EuGRZ 1991, 519 (520); SchulerZgraggen . / . Schweiz, Urteil vom 24.06.1993, EuGRZ 1996, 604 (607); EGMR, Urteil vom 18.02.1999, NVwZ 2001, 304 (307); EGMR in den Fällen Nicolova . / . Bulgarien, Urteil vom 25.03.1999, NJW 2000, 2883 (2886); Aquilina . / . Malta, Urteil vom 29.04.1999, NJW 2001, 51 (54); Klein . / . Deutschland, Urteil vom 27.07.2000, NJW 2001, 213 (214); Atlan . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 19.06.2001, ÖJZ 2002, 698 (699). 61  Grabenwarter / Pabel, § 13 Rn. 22; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 35 Rn. 7; ­Peters, S. 241.



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR37

muss. Die Rechtswegerschöpfung ist in der Regel dann anzunehmen, wenn das höchste nationale Gericht erfolglos angerufen worden ist, wobei hierzu nach der vorherrschenden Meinung die Anrufung des nationalen Verfassungsgerichts gehört.62 Die Individualbeschwerde ist das Instrument, welches das Schutzsystem der Konvention geprägt und mit Leben gefüllt hat.63 Es wird rege von ihr Gebrauch gemacht, die große Zahl der eingehenden Beschwerden zeigt, dass das Individuum selbst der beste Hüter seiner Interessen ist.64 Das wiederum gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, die Konvention auszugestalten und fortzuentwickeln. 5. Wirkungen der Entscheidungen des EGMR Die Reichweite der Entscheidungskompetenz des EGMR hängt vom Geltungsbereich der EMRK ab. Diese ist ihrer Rechtsnatur nach ein völkerrechtlicher Vertrag, der für die Vertragsstaaten mit seiner Ratifizierung verbindlich wird und damit unmittelbar die Verpflichtung begründet, den der Jurisdiktion der Vertragsstaaten unterstehenden Personen die Konven­ tionsrechte zu sichern.65 Die Wirksamkeit der EMRK erstreckt sich demnach auf die Unterzeichnerstaaten,66 nur diese können überhaupt von den Entscheidungen des EGMR betroffen werden. In Art. 46 Abs. 1 EMRK ist festgeschrieben, dass die Konventionsstaaten in Bezug auf Streitigkeiten, die sich aus der EMRK ergeben, und an denen sie als Partei beteiligt sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen haben. Die Überwachung der Durchführung des endgültigen Urteils obliegt gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK dem Ministerkomitee, dem sämtliche endgültige Urteile zugeleitet werden. a) Feststellungsurteil Der EGMR entscheidet zunächst über das Vorliegen einer Konventionsverletzung in Form eines Feststellungsurteils entsprechend Art. 41 EMRK.67 Hierin wird festgestellt, ob der Beschwerdeführer durch die angegriffene Maßnahme oder den gerügten nationalen Rechtssatz (Gesetz, Verordnung) in MRK, Verfahren Rn. 42; Ehlers, Jura 2000, 372 (381). EMRK, Art. 34 Rn. 1. 64  So auch Tomuschat, EuGRZ 2003, 95 (97). 65  Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 32. 66  So auch Kieschke, S. 35. 67  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 42 Rn. 4; Peters, S. 253; Schmalz, S. 19. 62  LR-Gollwitzer,

63  Meyer-Ladewig,

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

einem von der EMRK gewährten Konventionsrecht verletzt ist. Der EGMR ist jedoch keine „Superrevisionsinstanz“,68 die nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs die bisherige Rechtsanwendung überprüft. Er hebt weder nationale Urteile oder Verwaltungsakte staatlicher Instanzen auf, noch stellt er die Nichtigkeit von Gesetzen fest oder ordnet die Wiederaufnahme von Verfahren an;69 die Urteile des EGMR sind keine Gestaltungsurteile, sie haben keine kassatorische Wirkung.70 Die Feststellung einer Konventionsverletzung ist der Rechtskraftwirkung zugänglich. Ein weiteres Verfahren zwischen den gleichen Beteiligten und über denselben Streitgegenstand ist ausgeschlossen, zudem hat der verurteilte Staat seiner Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK nachzukommen.71 Grundsätzlich besteht bei Feststellung einer Konventionsverletzung für den verurteilten Staat die Pflicht, die Konventionsverletzung zu beenden und den Zustand vor dem Eintritt der Verletzung soweit wie möglich wiederherzustellen (Naturalrestitution – „restitutio in integrum“).72 Die Beendigungspflicht folgt unmittelbar aus der Primärverpflichtung zur Unterlassung völkerrechtswidrigen Verhaltens.73 b) Gerechte Entschädigung Der EGMR spricht gemäß Art. 41 EMRK dem Beschwerdeführer bei Feststellung einer Konventionsverletzung und unvollkommener innerstaat­ licher Wiedergutmachung der Verletzungsfolgen, oder wenn die Konven­ tionsverletzung ihrer Natur nach eine Wiedergutmachung unmöglich macht, eine gerechte Entschädigung zu.74 Dies geschieht entweder in dem Urteil, das die Konventionsverletzung feststellt, oder in einem gesonderten Urteil am Ende eines Nachverfahrens, das nur noch die Frage der Entschädigung betrifft.75 Dem Tatbestandsmerkmal der unvollkommenen innerstaatlichen Wiedergutmachung kommt hierbei nach der Rechtsprechung des EGMR keine praktische Bedeutung mehr zu, da auch dann eine Verurteilung zur Zahlung einer gerechten Entschädigung erfolgt, wenn im nationalen Recht noch eine Entschädigung möglich ist.76 Im Sinne eines effektiven MenRess, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 232; Werwie-Haas, S. 51. EMRK, Art. 42 Rn. 5. 70  Diehm, S. 104; Eisele, JA 2005, 390 (392); Ress, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 232; Wittinger, NJW 2001, 1238. 71  Schmalz, S. 19. 72  Grabenwarter / Pabel, § 16 Rn. 3; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 14. 73  Polakiewicz, S. 53. 74  Heckötter, S.  52 f. 75  LR-Gollwitzer, MRK, Verfahren Rn. 70. 76  Werwie-Haas, S. 59 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR in den Fällen Papamichalopoulos . / . Griechenland, Urteil vom 31.10.1995, Nr. 14556 / 89, 68  Siehe

69  Meyer-Ladewig,



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR39

schenrechtsschutzes ist es dem Beschwerdeführer unzumutbar, würde er darauf verwiesen werden, im Hinblick auf seinen Entschädigungsanspruch erneut den nationalen Rechtsweg zu erschöpfen.77 Die Entscheidung über die gerechte Entschädigung steht im billigen Ermessen des Gerichtshofs.78 Soweit der EGMR dem Beschwerdeführer eine Entschädigungszahlung zuspricht, liegt ein Leistungsurteil vor, das eine direkte Verpflichtung des verurteilten Staats zur Zahlung der Geldsumme aus eigenen Mitteln enthält.79 Die „gerechte Entschädigung“ im Sinne des Art. 41 EMRK umfasst sowohl den materiellen und immateriellen Schadensersatz, als auch den Ersatz von Auslagen und Kosten im Verfahren, einschließlich der nationalen Rechtsverfolgungskosten.80 Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich konkrete Anträge zu stellen und trägt die Darlegungs- und Beweislast.81 Zunächst ist der durch die Konventionsverletzung eingetretene materielle Schaden in Form von tatsächlich erlittenen Vermögensnachteilen des Beschwerdeführers auszugleichen. Der Gerichtshof gewährt zudem in vielen Fällen auch Schadensersatz für Nichtvermögensschäden als Ausgleich für die psychologischen Wirkungen der Konventionsverletzung.82 Da insoweit zumeist ein Nachweis schwierig oder gar unmöglich ist, entscheidet der EGMR über die immateriellen Schäden ebenfalls nach billigem Ermessen. Obwohl das Verfahren vor dem EGMR grundsätzlich kostenfrei ist, da der Gerichtshof keine Gerichtskosten erhebt, können dem Beschwerdeführer insbesondere durch die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistands, Zeugenund Sachverständigenentschädigung sowie Übersetzungskosten nicht unerhebliche Kosten entstehen. Diese sowie die gesamten Kosten der nationalen Rechtsverfolgung können, wenn sie im Einzelnen vorgetragen und aufgeschlüsselt werden, ebenfalls gemäß Art. 41 EMRK bei Feststellung einer Konventionsverletzung dem verurteilten Staat als Entschädigungszahlung auferlegt werden.83 zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc und De Wilde, Ooms und Versyp . / . Belgien, Urteil vom 10.3.1972, EGMR-E 1, 122 (124 f.). 77  So auch Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258). 78  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 17; Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239). 79  Okresek, EuGRZ 2003, 168 (169); Peters, S. 254. 80  Peters, S. 255. 81  Grabenwarter / Pabel, § 15 Rn. 6. 82  So kommt eine Entschädigung beispielsweise als Ausgleich für die Unannehmlichkeiten, Ungewissheit oder gar gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei überlanger Verfahrensdauer in Betracht sowie als Schmerzensgeld bei Folter oder erniedrigender Behandlung, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 9, 19 ff. sowie WerwieHaas, S. 59, jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen. 83  Grabenwarter / Pabel, § 15 Rn. 10, Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 30 ff.

40

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

c) Anordnung konkreter Maßnahmen Im Schrifttum wird mittlerweile, ausgehend von der Entscheidung des EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien,84 die Diskussion geführt, ob der EGMR dazu befugt ist oder sein soll, bei der Feststellung einer Konven­ tionsverletzung gleichzeitig auch konkrete Maßnahmen zu deren Beendigung anzuordnen. Grundsätzlich hat der verurteilte Mitgliedsstaat eine Wahlfreiheit hinsichtlich der Art und Weise der Urteilsumsetzung. Es ist im Hinblick auf den deklaratorischen Charakter der Urteile des EGMR im allgemeinen Sache des belangten Staats, diejenigen Mittel zu wählen, die er in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung ergreifen muss, um seiner Verpflichtung aus Art. 46 EMRK nachzukommen.85 Der EGMR vermied es in seiner anfänglichen Rechtsprechung, in den Urteilen Anweisungen oder Hinweise zu geben, wie der verurteilte Mitgliedsstaat bei einer festgestellten Konventionsverletzung weiter zu verfahren habe, um den konventionswidrigen Zustand zu beenden.86 Im Belgischen Sprachenfall87 betonte der EGMR im Jahr 1968, dass die innerstaatlichen Behörden in der Wahl der Maßnahmen frei bleiben, die sie im Schutzbereich der Konvention für angemessen halten. „Die Kontrolle des Gerichtshofes erstreckt sich lediglich auf die Übereinstimmung dieser Maßnahmen mit den Anforderungen der Konvention.“88 Er bestätigte diese Rechtsprechung in einem Urteil vom 13.06.1979 im Fall Marckx . / . Belgien,89 in dem es hieß, dass es bei der Reaktion auf eine festgestellte Konventionsverletzung „allein eine Sache des vom Verfahren betroffenen Staates [ist], die Maßnahmen zu treffen, die ihm geeignet erscheinen, um den Zusammenhang und die innere Folgerichtigkeit seines innerstaatlichen Rechts sicher zu stellen“.90 Auf diese Rechtsprechung wurde in der Folgezeit vielfach verwiesen und die Anordnung konkreter Maßnahmen abgelehnt. So führte der EGMR aus, dass er weder dazu befugt sei, eine Änderung der nationalen Gesetzgebung anzuordnen91 noch letzt84  EGMR

268.

im Fall Asanidse . / . Georgien, Urteil vom 08.04.2004, EuGRZ 2004,

85  Grabenwarter / Pabel,

§ 16 Rn. 3. S. 46. 87  EGMR im Belgischen Sprachenfall, Urteil vom 23.07.1968, EuGRZ = EGMR-E 1, 31. 88  EGMR im Belgischen Sprachenfall, Urteil vom 23.07.1968, EuGRZ (301) = EGMR-E 1, 31 (39). 89  EGMR im Fall Marckx . / . Belgien, Urteil vom 13.06.1979, EuGRZ = NJW 1979, 2449. 90  EGMR im Fall Marckx . / . Belgien, Urteil vom 13.06.1979, EuGRZ (458) = NJW 1979, 2449 (2452). 86  Heckötter,

1975, 298 1975, 298 1979, 454 1979, 454



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR41

instanzliche Gerichtsurteile aufzuheben.92 Im Fall Selmouni . / . Frankreich93 verwies er wiederum ausdrücklich auf Art. 41 EMRK, welcher ihn daran hindere, konkrete Maßnahmen anzuordnen. In der Folgezeit weichte der EGMR seine bislang sehr strikte Rechtsprechung auf, indem er gewisse Vorgaben machte, wie der verurteilte Konventionsstaat bei der Behebung der Konventionsverletzung vorzugehen habe, ohne diese jedoch verpflichtend im Tenor auszusprechen.94 91

Mit Urteil vom 08.04.2004 im Fall Asanidse . / . Georgien95 ordnete der EGMR erstmals im Tenor der Entscheidung eine konkret zu ergreifende Abhilfemaßnahme an. Nachdem der Beschwerdeführer auch nach rechtskräftigem Freispruch im nationalen Strafverfahren weiterhin in gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstoßender Weise willkürlich gefangen gehalten worden war, sprach der EGMR ihm zum einen eine finanzielle Entschädigung zu und entschied zudem, „dass der beklagte Staat dafür sorgen muss, dass der Beschwerdeführer zum frühestmöglichen Zeitpunkt freigelassen wird“.96 Zur Begründung wurde angeführt, dass die festgestellte Verletzung der Konvention ihrer Natur nach keine echte Wahlmöglichkeit hinsichtlich der zu ergreifenden Beendigungsmaßnahme lasse, so dass der Gerichtshof angesichts „der besonderen Umstände des Einzelfalls“ selbst mit der Freilassung die konkrete Maßnahme anordnete.97 Die Reaktionen in der deutschen Literatur auf diese Entscheidung waren sehr unterschiedlich. Während Guder98 eine fehlende Kompetenz für die Anordnung derartiger Maßnahmen feststellte und eine dogmatische Begründung einforderte, lehnte auch WerwieHaas99 im Regelfall konkrete Weisungen des EGMR ab und konnte die 91  EGMR in den Fällen X. . / . Großbritannien, EuGRZ 1986, 5; F. . / . Schweiz, Urteil vom 18.12.1987, EuGRZ 1993, 130 (132); Belilos . / . Schweiz, Urteil vom 29.04.1988, EuGRZ 1989, 21 (32). 92  EGMR in den Fällen Pakelli . / . Deutschland, EuGRZ 1983, 344 (348); Belilos . / . Schweiz, Urteil vom 29.04.1988, EuGRZ 1989, 21 (32). 93  EGMR im Fall Selmouni . / . Frankreich, Urteil vom 28.07.1999, NJW 2001, 56. 94  So verwies er im Fall Ismail Günes .  /  . Türkei, Urteil vom 13.11.2003, Nr.  53968 / 00, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc, darauf hin, dass die Konventionsverletzung in Form der mangelnden Unabhängigkeit des türkischen Gerichts durch eine erneute Verhandlung vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht behoben werden könne. 95  EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien, Urteil vom 08.04.2004, EuGRZ 2004, 268. 96  EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien, Urteil vom 08.04.2004, EuGRZ 2004, 268 (276). 97  EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien, Urteil vom 08.04.2004, EuGRZ 2004, 268 (275). 98  Guder, S.  120 f. 99  Werwie-Haas, S. 83.

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

Entscheidung des EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien lediglich als Ausnahmefall hinnehmen. Dagegen befürwortete Breuer100 das Urteil im Sinne eines effektiveren Einschreitens bei Konventionsverletzungen und wertete es als wesentlichen Schritt, obgleich er einräumte, dass der Anwendungsbereich dieser Rechtsprechung, die sich auf Fälle einer „Ermessensreduzierung auf null“ beschränkt, gering sein mag.101 Seinem rechtsdogmatischen Begründungsansatz mag zwar zu folgen sein, wenngleich den von ihm hieraus gezogenen Schlüssen nicht zugestimmt werden kann. Da die Begründung der Entscheidung im Urteil des EGMR unter dem Stichwort „VII. Anwendung von Artikel 41 der Konvention“102 erfolgt, ist als Rechtsgrundlage zunächst Art. 41 EMRK zu prüfen, der von der Gewährung einer „Entschädigung“, in der englischen und französischen Originalfassung der EMRK als „satisfaction“ bezeichnet, ausgeht. Eine Entschädigung im Sinne der EMRK ist jedoch, unabhängig davon, welche völkerrechtliche Bedeutung man dem Begriff der „satisfaction“ zumisst,103 klar zu trennen von einer Maßnahme, die eine festgestellte Konventionsverletzung beenden soll. Art. 41 EMRK ist somit nicht zur Anwendung zu bringen, da durch Beendigungsmaßnahmen nicht die Folgen der Rechtsverletzung wieder gutgemacht, sondern dass die Ursache selbst beseitigt wird. Letzteres folgt unmittelbar aus der Primärverpflichtung zur Unterlassung völkerrechtswidrigen Verhaltens, während Art. 41 EMRK seinem Anwendungsbereich nach auf die Sekundärpflichten beschränkt ist.104 Art. 41 EMRK kann somit nicht als Rechtsgrundlage dienen. Breuer versuchte eine eigene Lösung zu finden, indem er dem EGMR nicht nur die Befugnis zubilligen möchte, in seinem Urteil die Verletzung einer Primärpflicht festzustellen, sondern zudem als „Annexkompetenz“ auch die Befugnis zur Feststellung der sich aus der Primärpflicht unmittelbar ergebenden Konsequenzen.105 Diese Konstruktion ist abzulehnen. Gerade aus dem im Völkerrecht herrschenden Prinzip der begrenzten (Einzel-) 100  EuGRZ

2004, 257 (259 ff.). EuGRZ 2004, 257 (263). 102  EGMR im Fall Asanidse . / . Georgien, Urteil vom 08.04.2004, EuGRZ 2004, 268 (274 f.). 103  Siehe näher hierzu Breuer, EuGRZ 2004, 257 (260). 104  So auch Breuer, EuGRZ 2004, 257 (261). 105  EuGRZ 2004, 257 (261) mit der Anmerkung, dass ein entsprechender Antrag auf Anordnung konkreter Maßnahmen im Antrag auf Feststellung der Konventionsverletzung mitenthalten sein soll. Heckötter, S. 64 f., stimmte dieser Lösung über die Annexkompetenz grundsätzlich zu, schränkte die Anwendung jedoch auf die Fälle ein, bei denen es sich um ein Dauerdelikt handelt, welches die Konventionsverletzung verursacht, und bei denen es keine entgegenstehende innerstaatliche Gerichtsentscheidung gibt und eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. 101  Breuer,



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR43

Ermächtigung106 ergibt sich, dass internationale Organisationen und ihre Organe nur innerhalb der ihnen von den Vertragsstaaten übertragenen Kompetenzgrenzen handeln dürfen. Die Vertragsparteien bleiben „Herren der Verträge“, so dass die völkerrechtlich geschaffenen Organe nur in rechtlich verbindlicher Weise tätig werden dürfen, wenn hierfür eine Ermächtigung im Vertrag vorhanden ist.107 Da eine entsprechende Anordnungskompetenz nicht explizit in der EMRK geregelt ist, kann dies nicht dadurch umgangen werden, dies als Annexkompetenz in die EMRK hineinzulesen. Sollte dem EGMR eine entsprechende Kompetenz zukommen, bedarf dies einer ausdrücklichen Regelung in der EMRK. In der Folgezeit führte der EGMR seine Rechtsprechung fort, tat dies jedoch mit vorsichtigeren Formulierungen. Sowohl im Urteil des EGMR vom 26.02.2004 im Fall Görgülü . / . Deutschland108, als auch vom 08.07.2004 im Fall Ilascu u. a. . / . Moldawien und Russland109 führte der EGMR zwar unter dem Stichwort „Art. 41 EMRK“ nach der konkreten Bezifferung eines Schadensersatzanspruchs jeweils ausdrücklich konkret zu ergreifende Maßnahmen auf. Im Fall Görgülü . / . Deutschland erfolgte dies nach der Feststellung einer Verletzung von Art. 8 EMRK in der Form, dass der verurteilte Staat darauf hingewiesen wurde, dass zur Einhaltung der Verpflichtungen aus Art. 46 EMRK aufgrund der Verurteilung „dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden muss“.110 Ähnlich im Fall Ilascu u. a. .  /  . Moldawien und Russland, bei dem der EGMR das Vorliegens einer rechtswidrigen und willkürlichen Haft der drei Beschwerdeführer feststellte und ebenfalls unter Verweis auf Art. 46 EMRK aussprach, dass die verurteilten Staaten alles unternehmen müssten, „um die willkürliche Freiheitsentziehung der noch in Haft befindlichen Beschwerdeführer zu beenden und ihre sofortige Freilassung zu gewährleisten“.111 Aus beiden Entscheidungen kann gefolgert werden, dass der EGMR selbst die konkrete Anordnung von Abhilfemaßnahmen im Tenor einer Entscheidung, wie im Fall Asanidse . / . Georgien geschehen, nicht weiter in dieser Deutlichkeit weiterverfolgte, sondern sich darauf beschränkte, dies als HandVitzthum-Klein / Schmahl, Rn.  189 ff.; Stein / von Buttlar, Rn. 533. Grabitz / Hilf / Nettesheim, EGV Art. 249 Rn. 60 ausdrücklich für den EUVertrag, der ebenfalls ein völkerrechtlicher Vertrag ist. 108  EGMR im Fall Görgülü . / . Deutschland, Urteil vom 26.02.2004, NJW 2004, 3397. 109  EGMR im Fall Ilascu u. a. . / . Moldawien und Russland, Urteil vom 08.07.2004, NJW 2005, 1849. 110  EGMR im Fall Görgülü . / . Deutschland, Urteil vom 26.02.2004, NJW 2004, 3397 (3401). 111  EGMR im Fall Ilascu u. a. . / . Moldawien und Russland, Urteil vom 08.07.2004, NJW 2005, 1849 (1854). 106  Siehe 107  So

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

lungsmöglichkeiten anzuführen.112 Im Bereich von Verstößen gegen das Folterverbot in Art. 3 EMRK positioniert sich der EGMR insoweit klarer, als er ein Beweisverwertungsverbot der aufgrund von Folter erlangten Beweismittel vorgibt und ansonsten einen Verstoß gegen die Verfahrensfairness annimmt, ohne jedoch wiederum die daraus resultierende Maßnahme konkret zu bezeichnen oder gar anzuordnen.113 Weitergehende Anordnungen bedürfen einer Änderung der EMRK, welche sicherlich schwerlich durchzusetzen ist. d) Wirkung inter partes – Praxis der „pilot judgements“ In diese Diskussion über die Rechtsprechungsentwicklung hinein implementierte der EGMR, ausgehend von der Entscheidung im Fall Broniowski . / . Polen,114 die Praxis der sog. „pilot judgements“ (Piloturteile). Während zunächst der Grundsatz der Rechtskraft (res iudicata) besteht, der in allen Rechtsordnungen anerkannt ist und als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Völkerrecht gilt,115 und sich die Rechtskraft einer Entscheidung des EGMR nur auf die am Verfahren beteiligten Parteien erstreckt (Wirkung inter partes), war bislang bereits darüber hinaus eine Orientierungswirkung der Urteile des EGMR für die anderen Mitgliedsstaaten der EMRK festzustellen, indem die nationale Rechtsprechung und Gesetzgebung die Entscheidungen des EGMR berücksichtigen, ohne dass der Staat am Verfahren beteiligt war.116 Dies erfolgt vor allem deshalb, um eine künftige eigene Verurteilung durch den EGMR zu verhindern.117 Der EGMR ist nun durch Urteil vom 22.06.2004 im Fall Broniowski . / . Polen118 dazu übergegangen, seine Folgerungen aus Konventionsverletzun112  Hierfür spricht auch eine Formulierung im Urteil vom 22.06.2004, den Fall Broniowski . / . Polen, NJW 2005, 2521, betreffend, wo der EGMR nochmals deutlich aussprach, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichtshofs sei, darüber zu entscheiden, welche konkreten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtung des beklagten Staates nach Art. 46 EMRK angemessen sind, siehe NJW 2005, 2521 (2529). 113  EGMR in den Fällen Allan . / . Vereinigtes Königreich, Urteil vom 05.11.2002, StV 2003, 257; Jalloh . / . Deutschland, Urteil vom 11.07.2006, NJW 2006, 3117 (3122); Gäfgen . / . Deutschland, Urteil vom 01.06.2010, NJW 2010, 3145 (3149). 114  EGMR im Fall Broniowski . / . Polen, Urteil vom 22.06.2004, NJW 2005, 2521 = EuGRZ 2004, 472. 115  Siehe Heckötter, S. 27. 116  Grabenwarter / Pabel, § 16 Rn. 8. 117  Schmalz, S. 20. 118  EGMR im Fall Broniowski . / . Polen, Urteil vom 22.06.2004, NJW 2005, 2521.



I. EMRK und Rechtsprechung des EGMR45

gen in sog. „pilot judgements“ präziser zu fassen. Bei systematischen und strukturellen Defiziten in einem Mitgliedsstaat, die zur Feststellung einer Konventionsverletzung führen, bezeichnet der EGMR im Urteil die allgemeinen Maßnahmen, die im staatlichen Bereich notwendig sind, um das festgestellte strukturelle Problem zu lösen.119 Sinn und Zweck dieser Musterverfahren ist natürlich, mit einer Grundsatzentscheidung der immer zahlreicher werdenden Folgefälle bei strukturellen Mängeln in einem Mitgliedsstaat Herr zu werden und den unter enorm hoher Arbeitsbelastung stehenden EGMR durch Vermeidung von Wiederholungsfällen zu entlasten.120 Strukturelle Mängel können in den jeweiligen Mitgliedsstaaten sowohl in Form einer konventionswidrigen Verwaltungspraxis bestehen, als auch in Form eines innerstaatlichen Gesetzes, welches gegen die EMRK verstößt. Das nunmehr praktizierte Piloturteilsverfahren impliziert somit regelmäßig, was bislang undenkbar schien, eine inzidente Normenkontrolle durch den EGMR.121 Dieser kann nunmehr über den Einzelfall hinaus entscheiden. Zudem besitzt der verurteilte Mitgliedsstaat die Möglichkeit, durch gesetzgeberische Maßnahmen auf die Verurteilung zu reagieren, um so in Parallelverfahren zu erreichen, dass die Beschwerden aus dem Register gestrichen werden.122 Zur Entlastung des Gerichtshofs kann dieser bei Anwendung des „Musterverfahrens“ die Prüfung ähnlicher anhängiger Fälle für die Zeit aussetzen, in der vom entsprechend verurteilten Konventionsstaat die Ergreifung erforderlicher Maßnahmen verlangt wird.123 Bestätigt wurde diese begrüßenswerte Rechtsprechung durch das Urteil des EGMR im Fall Hutten-Czapska . / . Polen vom 19.06.2006,124 in dem im Tenor ein struktureller Mangel festgestellt und ausgesprochen wurde, dass der verurteilte Konventionsstaat durch Gesetzesänderung oder andere Maßnahmen dafür Sorge zu tragen habe, dass die Konventionsverletzung beendet wird.125 Es ist davon auszugehen, dass der EGMR diese Praxis der Piloturteilsverfahren fortsetzt, auch wenn zu hoffen ist, dass hiervon weiterhin 119  EGMR im Fall Broniowski . / . Polen, Urteil vom 22.06.2004, NJW 2005, 2521 (2529 f.). 120  So auch Meyer-Ladewig / Petzold, NJW 2009, 3749 (3754) und Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 7. 121  Siehe hierzu Breuer, EuGRZ 2008, 121 (123). 122  So im Broniowski-Folgeverfahren Wolkenberg u. a. .  / . Polen, EuGRZ 2008, 126. 123  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3358). 124  EGMR im Fall Hutten-Czapska . / . Polen, Urteil vom 19.06.2006, Nr. 35014 / 97, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc. 125  EGMR im Fall Hutten-Czapska . / . Polen, Urteil vom 19.06.2006, Nr. 35014 / 97, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc, siehe Tenor Ziff.  3 und 4.

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

zurückhaltend Gebrauch gemacht wird, um die besondere Bedeutung der in diesen Verfahren ergehenden Musterurteile herauszustellen.126 Das erste Piloturteil in einem Verfahren gegen Deutschland erging am 02.09.2010 im Fall Rumpf . / . Deutschland, welches das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen überlange Verfahren in Deutschland zum Gegenstand hatte. Der Gerichtshof wies unter ausdrücklicher Anführung des Urteils im Fall Sürmeli . / . Deutschland127 aus dem Jahr 2006 darauf hin, dass es deutsche Behörden unterlassen hätten, einen Rechtsbehelf zur wirksamen Abhilfe für Konventionsverletzungen einzuführen und sie damit gegen Deutschland ergangene Urteile anhaltend nicht befolgen.128 Dieses systematische Problem bestehe aufgrund von „Mängeln im deutschen Rechtssystem“, Ziel des Musterverfahrens sei, „schnellstmöglich Abhilfe für eine große Zahl von dem im Urteil bezeichneten strukturellen Problem betroffenen Personen im staatlichen Recht zu ermöglichen“.129 Hierfür wurde Deutschland eine Frist von einem Jahr ab Rechtskraft des Urteils eingeräumt, um einen entsprechenden Rechtsbehelf einzuführen.130 Meyer-Ladewig führte aus, dass es hierzu nicht erforderlich gewesen wäre, das Pilot­ urteilsverfahren anzuwenden, da eine Anwendung von Art. 46 EMRK genügt hätte, er begründete diese Vorgehensweise des EGMR jedoch damit, dass hierdurch die Bedeutung des Problems stärker betont werde und der Gerichtshof „seinen Unmut über die deutsche Säumnis, das Urteil Sürmeli zu befolgen, plakativ zum Ausdruck“ bringen könne.131 Eine Bestätigung seiner Auffassung kann auch darin zu sehen sein, dass es der EGMR in der Entscheidung im Fall Rumpf . / . Deutschland entgegen der sonst üblichen Praxis bei Piloturteilsverfahren nicht für erforderlich hielt, die Prüfung ähnlicher anhängiger Fälle für die Zeit auszusetzen, in der Deutschland die erforderlichen Abhilfemaßnahmen zu treffen habe. Vielmehr sollte Deutschland im Rahmen der anderen Fälle „regelmäßig an seine Verpflichtungen nach der Konvention und insbesondere nach diesem Urteil“ erinnert werden.132 schon Breuer, EuGRZ 2008, 121 (126). im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389, näheres siehe unter B. III. 3. 128  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3357); zum Inhalt siehe näher unter B. III. 3. 129  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3358). 130  Dies führte letztlich dazu, dass Ende 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren verabschiedet worden ist, um diese Pflicht zu erfüllen, näheres hierzu unter H. 131  Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358 (3359). 132  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3358). 126  So

127  EGMR



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht47

Es konnte nun dargestellt werden, wie sich das Selbstverständnis der EMRK darstellt und dass sich der EGMR als Hüter der Garantien der ­EMRK in seiner Wächterfunktion und durch die starke Inanspruchnahme durch die Bürger immer stärker dazu aufgerufen fühlt, auf die nationalen Regelungen Einfluss zu nehmen. Dies wirkt sich insofern aus, dass in der vor allem für diese Abhandlung relevanten Frage der Folgen überlanger Verfahrensdauer im Strafprozess der EGMR sowie die EMRK aufgrund der dargestellten Aufgabenstellung Triebfedern zur Lösungsfindung waren und Lösungsvorschläge an den entsprechenden konventionsrechtlichen Vorgaben zu messen sind.

II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht Ungeachtet der Anordnung konkreter Maßnahmen stellt sich die Frage, wie die Garantien der EMRK – insbesondere in ihrer Auslegung durch den EGMR – ansonsten im nationalen Recht, hier vornehmlich interessant im Bereich des Straf- und Strafprozessrecht, Berücksichtigung finden und zur Anwendung kommen und der Gesetzgeber wie auch die Rechtsprechung ihrer Aufgabe zur Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen. Bereits im Jahr 1983 stellten Jung und Schroth allgemein fest, dass der nationale Strafgesetzgeber zur Wahrung seiner Autorität ein Interesse daran habe, „nicht zu weit von der internationalen Norm abzuweichen“,133 ohne hierbei bereits die EMRK als den „Motor“ zur Rechtsangleichung des Strafrechts in Europa konkret zu benennen.134 Lange Zeit wurde die EMRK in der deutschen Rechtswirklichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommen, so dass auch der Einfluss der einzelnen Konventionsgarantien auf die deutsche Rechtsordnung und insbesondere auf den Bereich des deutschen Strafrechts sehr gering war. Bezeichnend hierfür war auch das damals vorherrschende Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, das Limbach damit umschrieb, dass das BVerfG als eine Institution bezeichnet worden war, „über der nur der blaue Himmel schwebe“.135 Mittlerweile hat sich diese Einschätzung grundlegend geändert, da der Einfluss europäischer Komponenten auf die deutsche Rechtsordnung zunehmend größer wurde. Ruffert stellte deshalb zu Recht fest, dass der EMRK bei der Grundrechtsentwicklung in Deutschland und Europa eine Schlüsselposition zukomme und die völkerrechtlichen Vor133  Jung / Schroth,

GA 1983, 241 (242). Bild bemühte bereits Esser in seiner Dissertation im Jahr 2002, als er die „Motorfunktion der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechts“ erörterte, siehe Esser, S.  816 ff. 135  Limbach, NJW 2001, 2913. 134  Dieses

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

gaben der EMRK und das nationale Verfassungs- und Gesetzesrecht in einer Weise ineinander greifen, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Anforderungen häufig verwischt werden.136 Es waren vor allem in jüngster Zeit einige spektakuläre Entscheidungen des EGMR,137 bei denen eine Verurteilung Deutschlands wegen Verstößen gegen die EMRK erfolgt ist. Diese erzielten ein Umdenken und widerlegten die von Dreier geäußerte Auffassung, insbesondere der deutsche Grundrechtsschutz sei weitreichender als die Gewährleistungen der EMRK und somit dem internationalen Standard zumindest gleichwertig.138 Interessant ist dies auch deshalb, weil die Konvention in der Anwendung und Auslegung, die sie durch den EGMR erfährt, teilweise umfangreichere Menschenrechtsgarantien als das deutsche Grundgesetz enthält.139 Mittlerweile kann man die Garantien der EMRK in ­Verbindung mit ihrer Auslegung durch den EGMR als im deutschen Rechtssystem allgegenwärtig bezeichnen. Insbesondere im deutschen Straf- und Strafprozessrecht bestimmen sie den Anwendungsalltag, sie sind aber auch verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt. Ein Grund für diese immer stärker werdende Auseinandersetzung mit der EMRK ist die zunehmende Zahl von Übersetzungen und Veröffentlichungen der Urteile des EGMR in deutschsprachigen juristischen Zeitschriften.140 1. Rang der EMRK und Wirkungen der Urteile des EGMR in Deutschland Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag entfaltet seine Wirksamkeit zunächst zwischen den Vertragsparteien, d. h. den Unterzeichnerstaaten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die EMRK durch Gesetz vom 136  Ruffert,

EuGRZ 2007, 245 (245 f.). Verhältnis von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht EGMR im Fall von Hannover . / . Deutschland, Urteil vom 24.06.2004, NJW 2004, 2647; zur Unverhältnismäßigkeit einer strafprozessualen Durchsuchung EGMR im Fall Buck . / . Deutschland, Urteil vom 28.04.2005, StraFo 2005, 371; zur Zulässigkeit der Verabreichung von Brechmitteln an einen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verdächtigten Beschuldigten EGMR im Fall Jalloh . / . Deutschland, Urteil vom 11.07.2006, NJW 2006, 3117; zu den Regelungen der Sicherungsverwahrung EGMR im Fall M. . / . Deutschland, Urteil vom 17.12.2009, NJW 2010, 2495. 138  Dreier, GG, Band I, Vorb. Rn. 24. 139  Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (152); Frowein, EuGRZ 1980, 231; Kieschke, S. 34; Weigend, StV 2000, 384 (385 f.); wobei von Frowein als Beispiele die Verurteilungen in den Fällen König . / . Deutschland, Urteil vom 28.06.1978, EuGRZ 1978, 406 und Luedicke u. a. . / . Deutschland, Urteil vom 28.11.1978, EuGRZ 1979, 34 angeführt werden, bei welchen der EGMR feststellte, dass das nationale deutsche Vorgehen konventionswidrig war. 140  So auch Guder, S. 103. 137  Zum



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht49

07.08.1952141 ratifiziert und Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Hiermit wurde die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaft zum Abschluss des Vertrages nach außen erteilt und die Menschenrechtskonvention in innerstaatliches Recht transformiert, wonach sich aus Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG die unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK im deutschen Recht ergibt.142 Die EMRK besitzt in Deutschland nach herrschender Meinung in Rechtsprechung143 und Schrifttum144 den Rang eines einfachen Gesetzes. Deshalb ist die Konvention von deutschen Gerichten wie anderes Gesetzesrecht des Bundes „im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden“, ihr kommt in der Normenhierarchie der deutschen Rechtsordnung kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab zu, so dass ein Beschwerdeführer eine Verletzung eines in der EMRK enthaltenen Menschenrechts nicht unmittelbar mit einer Verfassungsbeschwerde rügen kann.145 Dennoch genießt die EMRK in Deutschland im Vergleich zu anderen einfachen Bundesgesetzen eine Sonderstellung. Die Gewährleistungen der Konvention müssen bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaat­ lichen Grundsätze des Grundgesetzes beachtet werden. Der Konventionstext soll hierbei als Auslegungshilfe zur Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten herangezogen werden. Dies ist Ausdruck der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“, das die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht fördert und deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht.146 Zwar überlässt es die Konvention den Vertragsparteien, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen, jedoch müssen die menschenrechtlichen Gehalte des jeweils in Rede stehenden Vertragstextes 141  „Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, BGBl. 1952 II, S. 685. 142  Vgl. auch Werwie-Haas, S. 39. 143  BVerfG, Beschluss vom 26.03.1987, BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427; BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990, BVerfGE 82, 106 (120); BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, BVerfGE 111, 307 (317) = NJW 2004, 3407 (3408). 144  Eisele, JA 2005, 390; Esser, S. 868; LR-Gollwitzer, StPO, Einf. zur EMRK, Rn. 85; Kühl, ZStW 100 (1988), 406 (408); Kühne, StV 2001, 73 (74); MeyerGoßner, StPO, Vor Art. 1 EMRK Rn. 3; Ruffert, EuGRZ 2007, 245 (246); Tenckhoff, FG Augsburg, S. 301 (303); Weigend, StV 2000, 384 (386). 145  BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, BVerfGE 111, 307 (317) = NJW 2004, 3407 (3408). 146  BVerfG, Beschluss vom 26.03.1987, BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427; BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, BVerfGE 111, 307 (318) = NJW 2004, 3407 (3408); BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1935); Eisele, JA 2005, 390 (391); Esser, StV 2005, 348 (353); Meyer-Ladewig, EMRK, Einleitung Rn. 33; Ruffert, EuGRZ 2007, 245 (247).

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

im Rahmen eines aktiven Rezeptionsvorgangs in den Kontext der aufnehmenden Verfassungsordnung „umgedacht“ werden, wobei Grenze für die völkerrechtsfreundliche Auslegung der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes selbst ist und dieser hierdurch nicht eingeschränkt werden darf.147 In Kollisionsfällen durch neuere Gesetze sind diese, „soweit es der Wortlaut auch nur einigermaßen zulässt“, so auszulegen, dass sich hieraus kein Verstoß gegen die in der EMRK enthaltenen Garantien ergibt und mit den völkerrechtlichen Vorgaben vereinbar ist.148 Der EGMR als ganz wesentlicher und bestimmender Faktor der Menschenrechtsjudikatur und -politik in Europa besitzt eine herausragende Stellung.149 Diese resultiert aus dem Einfluss des Gerichtshofs auf die na­ tionale Rechtsprechung in den einzelnen Konventionsstaaten, der sich nicht nur – aber maßgeblich – auf die jeweiligen Verfassungsgerichte auswirkt. Die Urteile des EGMR haben in den jeweiligen Mitgliedsstaaten zwar keine kassatorische Wirkung, aus Art. 46 Abs. 1 EMRK ergibt sich jedoch die völkerrechtliche Handlungspflicht des betroffenen Staates, alle endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs, in denen er Partei ist, zu befolgen. Bemerkenswert ist, dass die EMRK in Art. 46 Abs. 2 EMRK zwar eine Regelung enthält, die dem Ministerkomitee eine Überwachungsfunktion der Befolgung der Urteile zuweist, jedoch für den Fall, dass der verurteilte Konventionsstaat seiner Verpflichtung aus dem Feststellungs- oder Leistungsurteil nicht nachkommt, keine Sanktion enthält und keinerlei Zwangsmittel zur Durchsetzung der Entscheidung vorsieht.150 Das BVerfG nahm sich schon früh der Thematik des Einflusses der Rechtsprechung des EGMR auf die nationale Judikatur an. Im Jahr 1986 stellte das BVerfG in einem Beschluss fest, dass einem Urteil des EGMR, in dem eine Entscheidung eines deutschen Gerichts für konventionswidrig erachtet wird, nicht direkt ins jeweilige Mitgliedsland hineinwirken könne und ihm keine die Rechtskraft der Entscheidung beseitigende Wirkung zukomme.151 Nationale Entscheidungen bleiben somit von Urteilen des Gerichtshofs unangetastet, lediglich durch die Umsetzung des Mitgliedsstaates können mittelbar konkrete Änderungen erzielt werden. Richtungsweisende Bedeutung hinsichtlich der Frage der Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR kommt einer grundsätzlichen Entscheidung des BVerfG im Fall „Görgülü“ aus dem Jahr 2004 zu.152 Das Verfassungsgericht führte aus, dass 147  BVerfG,

Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1936). StV 2000, 384 (387). 149  Siehe oben unter B. I. 2. 150  Kieschke, S. 58; Uerpmann, JZ 2001, 565 (569). 151  BVerfG, Beschluss vom 11.10.1985, NJW 1986, 1425 (1426). 152  BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, NJW 2004, 3407 = BVerfGE 111, 307. 148  Weigend,



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die Urteile des EGMR nur für die am Verfahren beteiligten Vertragsparteien und nur in Bezug auf den Streitgegenstand bindend seien (res iudicata) und eine mit § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des BVerfG gebunden sind, in der EMRK nicht existiere.153 Dennoch haben die Entscheidungen des EGMR über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus weitergehende, faktische Bindungswirkung sowohl für den Fall, dass die Bundesrepublik Deutschland Partei des Verfahrens war, als auch bei der Beteiligung eines anderen Konventionsstaats. Die verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung durch den EGMR als derjenigen Institution, die für die Interpretation der EMRK zuständig ist, besitzt Gültigkeit auch für andere Gerichtsverfahren und die Anwendung der EMRK durch sonstige staatliche Organe.154 Deutlich wird dies insbesondere anhand der jüngst ergangenen Pilotenscheidungen des EGMR, die ausdrücklich als Leitentscheidungen für eine Vielzahl von schon bekannten, gleichgelagerten Fällen dienen sollen. Die Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof erhält somit über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine „normative Leitfunk­ tion“, an der sich alle Vertragsstaaten zu orientieren haben und die zu einer faktischen Verbindlichkeit für die drei Staatsgewalten in Deutschland führt.155 Letzteres führt das BVerfG näher aus, indem es den Verwaltungsbehörden und Gerichten auferlegt, sich zwar nicht unter Berufung auf Entscheidungen des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG zu lösen, jedoch die Gewährleistungen der EMRK in Gestalt der Entscheidungen des EGMR „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ zu berücksichtigen.156 Sollte durch den Gerichtshof eine nationale Norm als konventionswidrig eingestuft worden sein, ist diese entweder in der Rechtsanwendungspraxis völkerrechts153  BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, NJW 2004, 3407 (3409) = BVerfGE 111, 307 (320). 154  So Eisele, JR 2004, 12 (14). 155  BVerwG, Urteil vom 16.12.1999, NVwZ 2000, 810 (811) = BVerwGE 110, 203 (210 f.); BVerwG, Beschluss vom 30.07.2001, NVwZ 2002, 87; so auch Eisele, JA 2005, 390 (392); Eisele, JR 2004, 12 (14); Guder, S. 124; Limbach, NJW 2001, 2913 (2915); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 16; Ruffert, EuGRZ 2007, 245 (247); Ress, ZaöRV 2004, 621 (630), bezeichnet dies als „Orientierungswirkung“ der Urteile des EGMR mit „quasi erga omnes-Effekt“. 156  BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, NJW 2004, 3407 (3410) = BVerfGE 111, 307 (323); ähnlich auch BVerfG, Beschluss vom 26.03.1987, BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427; BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1936); Esser, StV 2005, 348 (353); Guder, S. 112; Meyer-Goßner, StPO, Vor Art. 1 MRK Rn. 4a.

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

konform auszulegen oder durch den Gesetzgeber zu ändern.157 Schwierigkeiten treten dann auf, wenn ein Widerspruch zwischen EMRK und einfachem Bundesrecht besteht und eine konventionsgemäße Auslegung der Norm aufgrund des eindeutig entgegenstehenden Wortlauts und somit klaren Willens des Gesetzgebers nicht möglich ist. Solange das entsprechende Gesetz weiter in Kraft ist, besteht für die Gerichte die Problematik, dass sie einerseits das EGMR-Urteil zu befolgen haben, andererseits nach Art. 20 Abs. 3 GG an das nationale Recht, sollte es auch konventionswidrig sein, gebunden sind. Teilweise wird hierzu vertreten, in diesem Fall könnte eine tatsächliche Ausnahme von der Befolgungspflicht der Entscheidungen des EGMR bestehen.158 Dies ist völkerrechtlich jedoch sehr zweifelhaft. Darüber hinaus kommt in Betracht, dass das entsprechend befasste Gericht die Frage der Gültigkeit der konventionswidrigen Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegt. Da eine Verfassungswidrigkeit des Gesetzes in Betracht kommt ist hierbei zu prüfen, ob sich das Grundgesetz entsprechend völkerrechtskonform auslegen lässt.159 Das Verhältnis von EGMR und BVerfG bringt daher – da sich die Formulierungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Konvention und dem Grundgesetz deutlich überschneiden – interessante Kollisionen mit sich, die letztlich zugunsten der Auslegung des EGMR ausgehen. Denn das BVerfG zieht nunmehr bei der Prüfung von Verfassungsverstößen die E ­ MRK in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof heran, um Divergenzen zu vermeiden.160 Zunächst bestand ein institutionell angelegter Konflikt, da beide Gerichte im Bereich der Verfassungs- bzw. Individualbeschwerde einen vergleichbaren Prüfungsmaßstab hatten, ohne dass es jedoch hierbei zu Zuständigkeitskonflikten kommen konnte.161 Dies erbrachte divergierende Entscheidungen beider Gerichte in der gleichen Sache, die letztlich die gefestigte Abwägungspraxis des BVerfG betraf und von diesem durch besonderes Herausstellen des Souveränitätsvorbehalts des Grundgesetzes beantwortet wurde. Im Laufe der Zeit schwächte sich dies dadurch ab, dass sich 157  BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, NJW 2004, 3407 (3410) = BVerfGE 111, 307 (325); so auch Schilling, S.  71 f. 158  Heckötter, S. 189. 159  Grundlage für eine Anrufung des BVerfG ist Art. 100 Abs. 1 GG, wobei das vorlegende Gericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Norm ausreichend darlegen muss. Sollte das BVerfG nach Prüfung des der EMRK widersprechenden Gesetzes zu der Auffassung gelangen, dass es dennoch mit dem Grundgesetz im Einklang steht, so bleibt es weiterhin gültig und ist vom Gericht anzuwenden, auch wenn hierdurch ein Konventionsverstoß verursacht wird, siehe hierzu ausführlicher Heckötter, S.  218 ff. 160  Kühne, StV 2001, 73 (75). 161  So auch Limbach, NJW 2001, 2913 (2914).



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht53

das BVerfG zunehmend zur Vermeidung von Rechtssprechungsdivergenzen die Auslegung der EMRK durch den EGMR zunutze machte und in seinen Entscheidungen berücksichtigte. Mit Klein kann festgestellt werden, dass hierdurch der EGMR eine Kontrolle ausübte, die, „nachdem sich der Pulverdampf gelegt hat, dem BVerfG nicht unbedingt schlecht getan“ hat.162 Denn beide Gerichte haben so auf ihre Weise und in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich einen wichtigen Schritt zur Stärkung des europäischen Grundrechtsschutzes getan. Festgestellt werden kann aufgrund der dargestellten Wirkungsweise „ein Dialog zwischen Straßburg und den obersten Gerichten der Vertragsstaaten über die Auslegung und Anwendung der Konvention, dank dessen sie heute verstärkt als ein „europäisches Verfassungsgesetz“ wahrgenommen wird“, zudem orientieren sich die drei Gerichte der europäischen Gemeinschaften daran.163 2. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht Mit der zunehmenden Bedeutung und Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR im deutschen Recht geht ein steigender Einfluss der Garantien der EMRK im deutschen Straf- und Strafprozessrecht einher. Dies spiegelt sich zum einen in der zunehmenden Anwendung und Auseinandersetzung in strafgerichtlichen Entscheidungen wieder, ist aber auch an der großen Anzahl an wissenschaftlichen Beiträgen und Abhandlungen164 abzulesen. So war es bereits ein erster Überblick Kühls im Jahr 1988, der zeigte, dass damals – wenn auch zurückhaltend – der Einfluss der EMRK auf das nationale Straf- und Strafverfahrensrecht in einzelnen Bereichen vorhanden war.165 Die EMRK sowie der EGMR werden zu Recht als „Motor der Strafrechtsentwicklung“166 bzw. „Motor für die Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte“167 gesehen. Die hohe Aktualität und Brisanz 162  Klein,

NVwZ 2010, 221 (224). NJW 2009, 3749 (3750). 164  Diehm, Die Menschenrechte der EMRK und ihr Einfluss auf das deutsche Strafgesetzbuch, 2006; Eisele, JR 2004, 12; Esser, Auf dem Weg zu einem europäi­ schen Strafverfahrensrecht, 2002; Esser, StV 2005, 348; Gaede, Fairness als Teil­ habe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2006; Jung / Schroth, GA 1983, 241; Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, 2003; Kruis, StraFo 2003, 34; Kühl, ZStW 109 (1997), 777; Kühl, FS Jung, 2007, S. 433; Kühne, StV 2001, 73; Nack, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, S. 46; Weigend, StV 2000, 384; Tenckhoff, FG Augsburg, 2003, S. 301; Wohlers, FS Rudolphi, 2004, S. 713. 165  Kühl, ZStW 100 (1988), 406 ff. und 601 ff. 166  Roxin, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 91. 167  Esser, S. 27. 163  Meyer-Ladewig / Petzold,

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

zeigen sich auch darin, dass sich beim 3. Karlsruher Strafrechtsdialog im Jahre 2011, bei dem ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praktikern der obersten Gerichte und Ermittlungsbehörden stattfand, ein ganzer Tagungsabschnitt mit dem „Einfluss der strafrechtlichen Rechtsprechung des EGMR auf das BVerfG und den BGH“ befasste.168 Auch wenn sicherlich die Bestrebungen des EGMR zunächst dahin gingen, nicht in Einzelheiten der nationalen Strafverfahrensordnungen eingreifen zu wollen, sondern lediglich allgemeine Grundstrukturen im Lichte der EMRK zu überprüfen und bei Bedarf grundsätzlich korrigierend ein­ zu­ wirken,169 so führten letztlich zahlreiche Korrekturen an vielen kleinen Stellschrauben dazu, dass das deutsche Straf- und Strafprozessrecht durch den europäischen Menschenrechtsschutz eine starke Prägung erfahren hat. Die in der EMRK vorrangig enthaltenen Freiheits- und Abwehrrechte können von jedem Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren als Schutzrechte gegen ein Übermaß an staatlicher Eingriffsintensität vorgebracht werden.170 Dies führt jedoch in vielen Fällen zu einer Kollision dieser „klassischen, beschuldigtenschützenden Menschenrechte“ mit den modernen Menschenrechten der EMRK in Form von Leistungsrechten und kollektiven Rechte, die verletztenschützend eingestuft werden können, da sie Schutzpflichten enthalten.171 Wie jedoch beispielshaft am Urteil des EMRK im Fall Gäfgen . / . Deutschland zu sehen ist, wonach das Folterverbot als absolutes Recht selbst bei akuter Gefahr für Leib oder Leben eines Dritten zugunsten des Beschuldigten eingreift und eine Rettungsfolter menschenrechtswidrig macht,172 muss häufig den beschuldigtenschützenden Menschenrechten im Kollisionsfall der Vorrang eingeräumt werden. Mit im Ergebnis weitreichenden Entscheidungen nahm der EGMR direkten Einfluss auf die Rechtsprechung von BVerfG und BGH in Strafsachen sowie auf die nationale Gesetzgebung im Bereich des Strafprozessrechts. Sehr früh kam bereits die Frage der Kostentragung von Dolmetscherleistungen in Ermittlungs- und Strafverfahren bei nicht der deutschen Sprache hinreichend mächtigen Beschuldigten auf. Mit Urteil des EGMR vom 28.11.1978 im Fall Luedicke u. a. .  /  . Deutschland,173 ergänzt durch das 168  Siehe hierzu die im Tagungsband abgedruckten Beiträge u. a. von Tolksdorf, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 13, Vogel, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 23 und Schmitt, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 47. 169  So bereits Kühne, StV 2001, 73 (77). 170  Vogel, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 23 (24). 171  Vogel, 3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 23 (24). 172  EGMR im Fall Gäfgen . / . Deutschland, Urteil vom 01.06.2010, NJW 2010, 3145. 173  EGMR im Fall Luedicke u. a. . / . Deutschland, Urteil vom 28.11.1978, EuGRZ 1979, 34.



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht55

Urteil des EGMR vom 21.02.1984 im Fall Öztürk . / . Deutschland174 für das gerichtliche Bußgeldverfahren, wurde festgestellt, dass die nationalen deutschen Kostenregelungen, wonach der Angeklagte im Fall einer Verurteilung die Verfahrenskosten einschließlich etwaiger Dolmetscherkosten selbst zu tragen habe, gegen Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK verstoßen, der grundsätzlich zur Sicherung eines fairen Verfahrens auch für einen nicht ausreichend deutsch sprechenden Beschuldigten einen Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers garantiere. Damit ist insbesondere nicht in Einklang zu bringen, dass einem Verurteilten später die Dolmetscherkosten in Rechnung gestellt werden. Folge war, dass zunächst die Landesjustizverwaltungen per Dienstanweisung darauf einwirkten, dass entsprechende Dolmetscherkosten nicht mehr im Rahmen der Verfahrenskosten angesetzt wurden, bis dann das entsprechende Kostenverzeichnis zum Gerichtskostengesetz in Nr. 1904 bzw. 9005 Abs. 4 KVGKG geändert wurde, worin nunmehr geregelt ist, dass sowohl im Straf- als auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren für Dolmetscher- und Übersetzerleistungen, auf die der Beschuldigte zu seiner Verteidigung angewiesen ist, keine Kosten mehr erhoben werden.175 In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 1989 hat der EGMR den Umfang der Gewährung von unentgeltlichen Dolmetscherleistungen näher bestimmt und diese nicht nur auf das mündliche Vorbringen in der Hauptverhandlung beschränkt, sondern auch auf das gesamte Ermittlungsverfahrens sowie für die Übersetzung von verfahrenswesentlichen Schriftstücken ausgedehnt.176 Mittlerweile ist durch die Rechtsprechung sogar anerkannt, dass Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK dem die Gerichtssprache nicht kundigen Angeklagten unabhängig von seiner finanziellen Lage, unabhängig vom Umfang der Ermittlungen und der Schwere der Tat, für das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren einen Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers gewährt.177 Früh musste sich der EGMR zudem ausführlich mit der Reichweite der Unschuldsvermutung im Strafprozess befassen. Bereits 1983 wurde eine Regelung in der Schweiz als nicht mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK vereinbar eingestuft. Denn hiernach konnten einer Person die Gerichts- bzw. Verfahrenskosten trotz Freispruchs oder Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung auferlegt werden und es kam gleichzeitig zum 174  EGMR

62.

im Fall Öztürk . / . Deutschland, Urteil vom 21.02.1984, EuGRZ 1985,

175  Siehe Heckötter, S.  149 Fn.  959 sowie die Gesetze vom 18.08.1980, BGBl. 1980 I, S. 1503 (1507) und 15.06.1989, BGBl. 1989 I, S. 1082 (1083) bzw. Gesetz vom 05.05.2004, BGBl. 2004 I, S. 718 (773). 176  EGMR im Fall Kamasinski . / . Österreich, Urteil vom 19.12.1989, EGMRE 4, 450 (472). 177  BGH, Beschluss vom 26.10.2000, NJW 2001, 309 (310).

56

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

Ausdruck, dass „die Aufteilung der Kosten auf der Würdigung der Schuld des Angeklagten“ beruht.178 Konkreten Bezug zum deutschen Strafprozessrecht hatten dann kurz darauf drei Verfahren, die allesamt mit Urteil des EGMR vom 25.08.1987 entschieden wurden. Sie taxierten die Reichweite der Unschuldsvermutung bei Einstellung des Verfahrens, insbesondere in Bezug auf eine mögliche Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen und die Kostentragungspflicht, genau ein. Es wurde festgestellt, dass die Nichterstattung der eigenen notwendigen Auslagen grundsätzlich nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoße.179 Art. 6 Abs. 2 EMRK sei jedoch dann verletzt, wenn im Rahmen der Entscheidung, die nach Einstellung des Verfahrens die Erstattung der notwendigen Auslagen des Angeklagten ablehnt, die Entscheidungsgründe, die nicht vom Tenor getrennt werden können, im Kern einer Entscheidung über die Schuld des Angeklagten gleichkommen, ohne dass seine Schuld zuvor nachgewiesen worden ist.180 Wenn aber, wie in den drei zur Beurteilung anstehenden Strafverfahren, der eine Erstattung der notwendigen Auslagen versagende Beschluss dies mit der bestehenden Verdachtslage gegen den Angeklagten, nach der „eine Verurteilung deutlich wahrscheinlicher ist als ein Freispruch“, begründet, sei dies keine Schuldfeststellung und im Hinblick auf die Unschuldsvermutung nicht zu beanstanden.181 Einen markanten Punkt setzte der EGMR mit seinem Urteil vom 25.04.1983 im Fall Pakelli . / . Deutschland, worin er feststellte, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dann vorliegt, wenn dem Angeklagten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die mündliche Revi­ sionshauptverhandlung vor dem BGH verweigert wird, da „das Interesse der Rechtspflege“ dies in einem solchen Fall erfordere.182 Ein weiteres vom EGMR geprägtes Feld ist die Problematik der Akteneinsicht während des Ermittlungsverfahrens bei Vollzug von Untersuchungshaft. Hier setzte bereits im Jahr 1989 ein in Deutschland wenig Beachtung gefun178  EGMR

(479).

im Fall Minelli . / . Schweiz, Urteil vom 25.03.1983, EuGRZ 1983, 475

179  EGMR im Fall Englert . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 405 (409). 180  EGMR in den Fällen Lutz . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 399 (403); Englert . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 405 (409) und Nölkenböckhoff . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 410 (413). 181  EGMR in den Fällen Lutz . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 399 (403); Englert . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 405 (409) und Nölkenböckhoff . / . Deutschland, Urteil vom 25.08.1987, EuGRZ 1987, 410 (414). 182  EGMR im Fall Pakelli . / . Deutschland, Urteil vom 25.04.1983, EuGRZ 1983, 344 (348).



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht57

denes183 Urteil des EGMR im Fall Lamy . / . Belgien ein deutliches Zeichen, in dem festgestellt wurde, dass bei der Verweigerung der Akteneinsicht während der ersten 30 Tage bei der Anordnung von Untersuchungshaft in die dem Haftrichter vorliegende Ermittlungsakte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK vorliege, da in diesem Verfahrensstadium der Zugang zu diesen Aktenteilen für den Beschuldigten von entscheidender Bedeutung sei und er deshalb die die Untersuchungshaft rechtfertigenden Gründe, die der Staatsanwaltschaft bekannt seien, nicht wirksam bestreiten könne, so dass keine Waffengleichheit bestehe und das Verfahren „nicht wirklich kontradiktorisch“ sei.184 Während das BVerfG noch in einer Entscheidung vom 11.07.1994, das genannte Urteil des Gerichtshofs ignorierend, feststellte, dass es auch bei Vollzug von Untersuchungshaft gegebenenfalls ausreichend sei, den Beschuldigten während des Ermittlungsverfahrens mündlich über die wesentlichen, die Haftentscheidung begründenden Ermittlungsergebnisse zu unterrichten, jedoch bei Gefährdung des Untersuchungszwecks eine Akteneinsicht weiterhin verweigert werden könne und nur ausnahmsweise, „um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können“, bei Nichtausreichen der mündlichen Mitteilung eine Teilakteneinsicht zu gewähren sei,185 waren es sowohl der Ermittlungsrichter des BGH als auch dann entscheidend der EGMR in drei die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Fällen, die ­Position bezogen und ein sofortiges Akteneinsichtsrecht bei Anordnung von Untersuchungshaft unabhängig von der Gefährdung des Untersuchungszwecks im Sinne des § 147 Abs. 2 StPO in die dem Haftrichter vorliegenden Aktenteile anerkannten.186 Insbesondere der EGMR führte hierzu aus, dass bei der Freiheitsentziehung einer Person eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme in einem kontradiktorischen Verfahren möglich sein müsse, wobei Waffengleichheit zwischen allen Beteiligten bestehen müsse und deshalb ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK dann vorliege, wenn dem Verteidiger des Beschuldigten kein sofortiger Zugang zu den Schriftstücken und Beweismitteln, die dem entscheidenden Gericht vorgelegen haben, gewährt worden sei.187 Im Folgenden orientierte sich die Rechtsprechung hieran, bis letztlich durch den Gesetzgeber im Jahr 2009 eine Er183  So

auch Tenckhoff, FG Augsburg, S. 301 (309). im Fall Lamy . / . Belgien, Urteil vom 30.03.1989, EGMR-E 4, 262

184  EGMR

(270).

185  BVerfG,

Beschluss vom 11.07.1994, NJW 1994, 3219 (3220). Beschluss vom 28.09.1995, NStZ 1996, 146; EGMR in den Fällen Lietzow . / . Deutschland, Urteil vom 13.02.2001, NJW 2002, 2013 (2014); Schöps  . / . Deutschland, Urteil vom 13.02.2001, NJW 2002, 2015 (2017) sowie Garcia Alva . / . Deutschland, Urteil vom 13.02.2001, NJW 2002, 2018 (2019). 187  EGMR im Fall Lietzow . / . Deutschland, Urteil vom 13.02.2001, NJW 2002, 2013 (2014); in den beiden Parallelfällen wird auf diesen Abschnitt der Entscheidung ohne dessen erneute Wiedergabe verwiesen. 186  BGH,

58

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

gänzung des § 147 Abs. 2 StPO vorgenommen und ausdrücklich geregelt wurde, dass dem Verteidiger eines sich in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten Akteneinsicht in die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen zu gewähren ist.188 Eine weitere Ausdehnung des Akteneinsichtsrechts erfolgte aufgrund der Entscheidung des EGMR im Fall Öcalan . / . Türkei, worin eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 lit. b und c EMRK aufgrund mangelnder Akteneinsicht zur Vorbereitung einer ordnungsgemäßen Verteidigung rechtzeitig vor der Hauptverhandlung festgestellt wurde.189 So ist, über die Regelung des § 147 Abs. 7 StPO hinaus, in konventionskonformer Auslegung des § 147 StPO dem Angeklagten selbst Akteneinsicht zu gewähren, wenn dies für eine sachgerechte Verteidigung notwendig ist und von der Bestellung eines Verteidigers zur Sicherung der Verteidigung abgesehen wird, gegebenenfalls auch trotz Vorhandenseins eines Verteidigers.190 In jüngerer Zeit war es die Entscheidung des EGMR im Fall Jalloh . / . Deutschland vom 11.07.2006 zur zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei dem Verdacht des Vorliegens eines Betäubungsmitteldeliktes, die eine deutliche Grenze in der Reichweite der strafprozessualen Eingriffsmöglichkeiten zur Gewinnung von Beweismitteln bei Drogendelikten setzte. So stelle das Legen einer Nasen-Magen-Sonde zum zwangsweisen Verabreichen eines Brechmittels eine schwerwiegende Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten dar, zumal dies meist unter Anwendung von starker Zwangseinwirkung erfolgt. Zudem sei es regelmäßig nicht notwendig, ein Brechmittel zu verabreichen, da ein Abwarten des Ausscheidens der Drogen auf natürlichem Wege abgewartet werden könne, so dass eine Maßnahme vorliege, die das Mindestmaß an Schwere erreicht habe, dass hierin eine unmenschliche und erniedrigende Handlung im Sinne von Art. 3 EMRK gesehen werden müsse.191 Darüber hinaus mache die Verwertung der durch zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln beim Beschuldigten gewonnene Beweis das Verfahren insgesamt unfair im Sinne des Art. 6 EMRK, da die für die Verurteilung des Beschuldigten entscheidenden Beweise durch eine Maßnahme erlangt worden seien, die im Widerspruch zu einem der wesentlichsten von der Konvention garantierten Rechte stehen und das öffentliche Interesse an der Verurteilung zumindest im Bereich der unteren Betäubungsmittelkriminalität, d. h. der Straßendealer, 188  Siehe

BGBl. 2009 I, S. 2274 (2277). im Fall Öcalan . / . Türkei, Urteil vom 12.03.2003, EuGRZ 2003, 472

189  EGMR

(480 f.). 190  Eisele, JA 2005, 390 (394); KK-Laufhütte, § 147 Rn. 2. 191  EGMR im Fall Jalloh . / . Deutschland, Urteil vom 11.07.2006, NJW 2006, 3117 (3121).



II. Berücksichtigung der EMRK im deutschen Strafrecht59

nicht so gewichtig sei, dass es geboten wäre, die Verwertung der Beweise zuzulassen.192 Außerdem liege ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK deshalb vor, weil das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst zu belasten, durch die Brechmittelverabreichung verletzt würde.193 Durch diese Entscheidung sah sich der BGH in seiner rechtlichen Einschätzung der strafprozessualen Zulässigkeit eines Brechmitteleinsatzes „geläutert“ und stufte in einem Urteil vom 29.04.2010 in anderer Sache die Verabreichung von Brechmittel, die den Tod des Beschuldigten zur Folge hatte, als unrechtmäßig und zumindest objektiv strafbar als Körperverletzung mit Todesfolge ein und hob einen Freispruch des Instanzgerichts auf.194 Zuletzt brachte das Urteil des EGMR vom 17.12.2009 im Fall M . / . Deutschland das in Deutschland bis dato geltende System der Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung zu Fall. Die Sicherungsverwahrung in der bisherigen Form wurde als konventionswidrig eingestuft. Denn sie sei, entgegen der Einstufung im nationalen Recht, vom EGMR als „Strafe“ im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK anzusehen. Dies sei insbesondere deshalb der Fall, weil kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem Vollzug einer Sicherungsverwahrung bestehe, die anordnenden und vollstreckenden Stellen identisch seien und es sich bei der Sicherungsverwahrung um die „schwerste“ nach dem StGB zu verhängende Sanktion handle.195 Eine rückwirkende Verlängerung der zunächst befristet angeordneten Sicherungsverwahrung nach Änderung des § 67d StGB stelle somit eine zusätzliche Strafe dar, die gegen den Betroffenen anhand einer gesetzlichen Vorschrift verhängt wurde, die zur Tatzeit noch keine Geltung hatte, so dass Art. 7 Abs. 1 EMRK verletzt sei.196 Zudem stelle die Verlängerung bzw. nachträgliche Entfris192  EGMR im Fall Jalloh . / . Deutschland, Urteil vom 11.07.2006, NJW 2006, 3117 (3123). 193  EGMR im Fall Jalloh . / . Deutschland, Urteil vom 11.07.2006, NJW 2006, 3117 (3125). 194  BGH, Urteil vom 29.04.2010, NJW 2010, 2595 (2598); in seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung hob Eidam lobend die „materiell-strafrechtliche Absicherung“ der prozessualen Unzulässigkeit einer Brechmittelvergabe hervor und verknüpfte dies mit der Hoffnung, dass eine solche nun „für immer aus dem Repertoire des Strafprozessrechts verbannt ist“, NJW 2010, 2599 (2599 f.). Ein erneutes, freisprechendes Urteil hob der BGH wiederum auf, wobei er hierbei, neben der Feststellung anderer Rechtsfehler, die nicht hinreichend Berücksichtigung seiner Einschätzung der Strafbarkeit zumindest wegen Körperverletzung hervorhob, siehe BGH, Urteil vom 20.06.2012, NJW 2012, 2453. 195  EGMR im Fall M . / . Deutschland, Urteil vom 17.12.2009, NJW 2010, 2495 (2498 f.). 196  EGMR im Fall M . / . Deutschland, Urteil vom 17.12.2009, NJW 2010, 2495 (2499).

60

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

tung der Sicherungsverwahrung eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK dar, da kein ausreichender Kausalzusammenhang mehr zwischen der zunächst erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung des Betroffenen und der nach Ablauf der ursprünglichen Befristung fortdauernden Freiheitsentziehung bestehe und somit die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung, da sie nicht mehr auf der Verurteilung, die eine Schuldfeststellung beinhaltete, sondern auf einer Entscheidung des Vollstreckungsgerichts beruhe, zweifelhaft sei.197 Das BVerfG musste sich infolge des Urteils des EGMR erneut mit dem nationalen System der Sicherungsverwahrung befassen und nunmehr eine verfassungsrechtliche Überprüfung unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof angeführten Aspekte durchführen. Ergebnis der Überprüfung ist das weitreichende Urteil vom 04.05.2011, mit welchem die bisherigen Regelungen der Sicherungsverwahrung als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt wurden.198 Für eine Übergangszeit bis längstens Ende Mai 2013 wurde angeordnet, dass die bisherigen Regelungen, jedoch mit Einschränkungen, weiter anwendbar bleiben sollen, zudem erging an den Gesetzgeber ein klarer Auftrag, bis spätestens zu diesem Zeitpunkt konventionskonforme und somit auch mit dem Verfassungsrecht in Einklang stehende Vorschriften zu schaffen. Insbesondere müsse eine Regelung gefunden werden, bei welcher dem verfassungsrechtlichen „Abstandsgebot“, wonach sich der Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung deutlicher vom Vollzug der Strafhaft zu unterscheiden habe, Rechnung getragen werde.199 Hierzu musste jedoch die bisherige Systematik grundlegend verändert werden, was Eschelbach zu der Bemerkung veranlasste, dass hiermit eine „Großbaustelle“ eröffnet sei, „aus der aber ein solides Bauwerk hervorgehen kann“.200 Zunächst lag ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, mit dem insbesondere bundesgesetzliche Vorgaben für Einrichtungen, in denen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen werden soll, geschaffen werden sollten, die sich deutlich vom Vollzug der Strafhaft unterscheiden und einen Schwerpunkt auf die therapeutische Behandlung legen. Zudem musste eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werdende Regelung für die Behandlung von Taten, die vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes begangen wurden, getroffen werden.201 Mittlerweile wurde das „Gesetz zur bundes197  EGMR im Fall M . / . Deutschland, Urteil vom 17.12.2009, NJW 2010, 2495 (2496 ff.). 198  BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1933). 199  Vgl. BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1937). 200  Eschelbach, NJW 2010, 2499 (2500). 201  Näheres siehe Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ vom 06.06.2012, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 9874, S. 1 ff.



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR61

rechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung“ vom 05.12.2012 verkündet, welches zum 01.06.2013 in Kraft trat.202

III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK 1. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Art. 6 EMRK fasst in einem Grundrecht in Form von unterschiedlichen Einzelgewährleistungen die wesentlichen Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens zusammen.203 Es ist zugleich diejenige Vorschrift der EMRK mit der größten praktischen Bedeutung, welche die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, ihre Justiz so einzurichten, dass die Gerichte alle Anforderungen von Art. 6 EMRK erfüllen können.204 Die Garantien beruhen auf der Leitvorstellung eines in Gewalten gegliederten Rechtsstaats, vergleichbare Garantien finden sich sowohl in den Verfassungen der Konventionsstaaten als auch im Recht der Europäischen Union.205 In Art. 6 Abs. 1 EMRK sind die allgemeinen Verfahrensgrundsätze vor Gericht enthalten, die als allgemeine Leitlinien für ein insgesamt gerechtes und unparteiisches Verfahren zu beachten sind und „jedermann“ zustehen.206 Die Garantien finden sowohl auf Verfahren, die Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ zum Gegenstand haben, als auch in Verfahren über eine „strafrechtliche Anklage“ Anwendung. Dabei werden die Begriffe aufgrund der Übernationalität der Konvention nicht nach innerstaatlicher Rechtsterminologie bestimmt, sondern sind autonom völkerrechtlich unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der EMRK auszulegen.207 Unter „civil rights“ sind Verfahrensgegenstände zu subsumieren, die im weitesten Sinne zivilrechtliche Verfahren betreffen. Insoweit trügt das Verständnis dieses Begriffs im deutschen Recht, da viele Streitigkeiten, die hier als öffentlich-rechtliche Streitigkeiten eingestuft werden und für die die Verwaltungs-, Sozial-, Verfassungs- oder Finanzgerichtsbarkeit zuständig ist, unter den völkerrechtlichen Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ 202  BGBl. 2012

I, S. 2425.

203  EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Grabenwarter / Pabel,

Kap. 14 Rn. 1. EMRK, Art. 6 Rn. 1. 205  Grabenwarter / Pabel, § 24 Rn. 2 f. 206  LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 55. 207  Gaede, wistra 2004, 166 (168); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 4; SKStPO-Paeffgen, EMRK, Art. 6 Rn. 14. 204  Meyer-Ladewig,

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

im Sinne der EMRK fallen.208 Auch unter die „strafrechtliche Anklage“ fällt nicht nur das Kriminalstrafrecht des jeweiligen Mitgliedsstaates. Vielmehr zählen hierzu auch andere Maßnahmen, die von der Natur des Vergehens her und der Art und Schwere der Sanktion vergleichbar sind.209 Inhaltlich umfassen die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowohl die Organisation der Judikative und das Recht auf Zugang zu aufgrund gesetzlicher Grundlagen bestehenden, unabhängigen und unparteiischen Gerichten als auch die Gewährleistung des fairen Verfahrens in all seinen Ausprägungen. In Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK sind zudem weitere, konkret bezeichnete Garantien enthalten, die nur für Verfahren aufgrund von „strafrechtlichen Anklagen“ gelten und besondere Aspekte des in Abs. 1 S. 1 geregelten Gebots der Verfahrensfairness darstellen. Hierzu gehören insbesondere die Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 EMRK, sowie weitere Beschuldigtenrechte wie die Unterrichtung über die Beschuldigung (Abs. 3 lit. a), das grundsätzliche Verteidigungsrecht (lit. c) und das Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher (lit. e), die nach der Rechtsprechung des EGMR lediglich als unselbständige Einzelausprägungen des „Fair-trail-Grundsatzes“ anzusehen sind.210 Im Vordergrund steht – auch als Kernstück der Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK bezeichnet211 – das Recht auf ein faires Verfahren („fair hearing“ bzw. „fair trail“). Dieses wird umfassend verstanden und vom EGMR unter Berücksichtigung der Verfahrensgesamtheit einschließlich aller Rechtsmittelinstanzen und der Heilungsmöglichkeiten hinsichtlich etwaiger Verstöße überprüft. Das nähere Augenmerk dieser Untersuchung soll auf den Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist („within a reasonable time“, „dans un délai raisonnable“), der einerseits in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich neben der Gewährleistung eines fairen Verfahrens aufgeführt ist, andererseits jedoch einen Unterfall derselben darstellt, gerichtet sein. Ferner soll diese sich auf die Ausprägungen desselben im Bereich der strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren beschränken. 208  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 4; näher hierzu EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Grabenwarter / Pabel, Kap. 14 Rn. 13 ff. und SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Art. 6 Rn. 15 ff. 209  Grabenwarter / Pabel, § 24 Rn. 17; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 21 ff. mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR, der im Fall Engel u. a. . / . Niederlande, Urteil vom 08.06.1976, EuGRZ 1976, 221 = EGMR-E 1, 178, das Disziplinarrecht und im Fall Öztürk . / . Deutschland, Urteil vom 21.02.1984, EuGRZ 1985, 62 = NJW 1985, 1273, Ordnungswidrigkeiten im Sinne des deutschen Rechts unter die „strafrechtliche Anklage“ subsumiert. 210  LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 70; Grabenwarter / Pabel, § 24 Rn. 98. 211  LR-Gollwitzer, MRK, Art.  6 Rn.  64; EMRK  /  GG-KonkordanzkommentarGrabenwarter / Pabel, Kap. 14 Rn. 87.



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR63

Dieser Anspruch wird auch als „Recht auf Verfahrensbeschleunigung“ bezeichnet und ist im Bereich des Strafrechts Folge des Bedürfnisses, dass jeder Einzelne einem gegen ihn geführten Ermittlungs- und Strafverfahren nicht unangemessen lang ausgesetzt sein soll.212 Vor allem dort soll gewährleistet sein, dass der Beschuldigte nicht länger als nötig der Zukunftsungewissheit und den Belastungen ausgesetzt ist, die mit einem Ermittlungs- und Strafverfahren typischerweise verbunden sind, und das Verfahren zügig durchgeführt wird.213 Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung ist zwar Bestandteil des Gebots effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, steht jedoch gleichzeitig auch im Spannungsverhältnis zu den anderen Gewährleistungen des fairen Verfahrens, da ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig das Verfahren verlängert.214 Dieser Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung ist die am meisten vor dem EGMR in Anspruch genommene Garantie, was maßgeblich zur andauernden Überlastung des EGMR beiträgt; sie ist es auch, die am häufigsten zu eine Verletzung feststellenden Urteilen führt.215 2. Kriterien zur Bestimmung angemessener Verfahrensdauer Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung beschränkt sich nicht nur auf einzelne Verfahrensabschnitte, vielmehr ist im Einzelfall jeweils eine Beurteilung des gesamten Ermittlungs- und Strafverfahrens vorzunehmen. In der EMRK ist nicht näher festgelegt, welche Dauer für das jeweilige Verfahren noch angemessen ist. Die Angemessenheit ist hier vielmehr ein „relationaler Begriff“216 und anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wofür der EGMR in seiner Rechtsprechung entsprechende Kriterien entwickelt hat, die im Folgenden dargestellt werden. Der EGMR nimmt die Beurteilung, ob im konkreten Einzelfall eine überlange Verfahrensdauer gegeben ist, in zwei Prüfungsschritten vor: Zunächst wird die Gesamtdauer des Verfahrens festgelegt, wobei die in Betracht zu ziehenden Zeiträume erörtert auch Gaede, wistra 2004, 166 (168); Ress, FS Müller-Diez, S. 627 (634). wistra 2004, 166 (168); LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 76. 214  EMRK / GG-Konkordanzkommentar-Grabenwarter / Pabel, Kap. 14 Rn. 103; so auch der EGMR im Fall König . / . Deutschland, Urteil vom 28.06.1978, EuGRZ 1978, 406 (417). 215  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 188; siehe auch die Statistik des EGMR unter www.echr.coe.int, wonach im Zeitraum von 1959–2011 von insgesamt 12425 Urteilen, in denen eine Konventionsverletzung festgestellt worden ist, in 4810 Fällen (= 38,7 %) eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund überlanger Verfahrensdauer vorlag. Dies ist auch die mit Abstand am häufigsten verletzte Konventionsgarantie (danach folgen die sonstigen Verletzungen des Fairnessgebots mit 3672 Urteilen und die Verletzung der Eigentumsgarantie mit 2569 Urteilen). 216  So SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Art. 6 Rn. 116. 212  So

213  Gaede,

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

werden, anschließend wird die Verhältnismäßigkeit  /  Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der entwickelten Kriterien überprüft.217 a) Maßgeblicher Zeitraum Für den in Betracht zu ziehenden Zeitraum ist zunächst zu klären, wann die maßgebende Frist beginnt. In Strafsachen fällt der Fristbeginn auf den Zeitpunkt, in welchem die betroffene Person als „angeklagt“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK gilt. Für den Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ ist jedoch nicht zwingend auf den entsprechenden Begriff und dessen Bedeutung im innerstaatlichen Recht abzustellen, vielmehr hat eine autonome Auslegung des Terminus im Kontext und im Sinne der EMRK zu erfolgen.218 Anerkannt ist, dass es sich hierbei um einen früheren Zeitpunkt handelt als die formelle Anklageerhebung vor einem Strafgericht.219 Eine „Anklage“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt vor, entweder wenn dem Betroffenen offiziell mitgeteilt bzw. er sonst darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung gegen ihn ermittelt wird, oder wenn Maßnahmen der Strafverfolgung, die aufgrund eines Tatverdachts gegen ihn getroffen werden, wesentliche Auswirkungen auf die Situation des Verdächtigen haben.220 Denn von diesem Zeitpunkt an steht der Beschuldigte unter der psychischen Belastung durch das anhängige Ermittlungsverfahren.221 Dies ist insbesondere bei der Verhaftung bzw. der Erhebung der ersten Beschuldigungen,222 Zustellung eines Beschlagnahme217  Kühne,

StV 2001, 529. in den Fällen Neumeister . / . Österreich, Urteil vom 27.06.1968, EGMRE 1, 62 (68); König . / . Deutschland, Urteil vom 28.06.1978, EuGRZ 1978, 406 (415) = NJW 1979, 477; Adolf . / . Österreich, Urteil vom 26.03.1982, EuGRZ 1982, 297 (301). 219  Ress, FS Müller-Dietz, S. 627 (640); so auch Demko, HRRS 2005, 283 (284) mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (379); siehe zudem EGMR in den Fällen Foti u. a. . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 578 (581) und Corigliano . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 585 (587). 220  So der EGMR im Fall Pedersen u. a. . / . Dänemark, Urteil vom 17.12.2004, NJW 2006, 1645 (1646); zuvor ähnlich bereits u. a. in den Fällen Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (379); Foti u. a. . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 578 (581); Corigliano . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 585 (587) und Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856. 221  LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 80. 222  EGMR in den Fällen Wemhoff . / . Deutschland, Urteil vom 27.06.1968, EGMR-E 1, 54 (60) und Neumeister . / . Österreich, Urteil vom 27.06.1968, EGMRE 1, 62 (68). 218  EGMR



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR65

beschlusses223 aber auch bei Vernehmung von Zeugen anzunehmen. Beispielsweise liegt dies – wie im Fall Eckle . / . Deutschland224 – vor, wenn die Vernehmung von Geschäftspartnern des Beschuldigten erfolgt, was diesem zwangsläufig nicht verborgen bleiben kann. Werden verschiedene Strafverfahren gegen dieselbe Person zur gemeinsamen Erledigung verbunden – was grundsätzlich aus prozessökonomischen Gründen vorteilhaft ist – kommt das Anfangsdatum des zuerst begonnenen Verfahrens in Betracht.225 Der für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu beurteilende Zeitraum endet mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelinstanz, sei es durch Freispruch, Verurteilung oder Verfahrenseinstellung.226 Wird ein Verfahren vom Rechtsmittelgericht zur erneuten Entscheidung an das vorherige Instanzgericht zurückverwiesen und nach dessen Entscheidung erneut dem Rechtsmittelgericht vorgelegt, so ist die letzte Rechtsmittelentscheidung maßgebend, auch wenn diese Entscheidung infolge einer Rechtsmittelbeschränkung nur noch einen Teil des Verfahrens betrifft.227 Der EGMR führt hierzu in der Entscheidung im Fall Kudla . / . Polen228 ergänzend aus, dass die Konventionsstaaten durch die EMRK nicht dazu verpflichtet sind, Berufungs- oder Revisionsgerichte einzurichten. Wenn sie dies jedoch tun, müssen sie sicherstellen, dass auch in diesen Instanzen die Garantien des Art. 6 EMRK eingehalten werden.229 Zudem ist anerkannt, dass das weitere, sich außerhalb des ordentlichen Instanzenzugs befindliche Verfahren vor den Verfassungsgerichten bei der Bestimmung der Verfahrensdauer ebenfalls mit zu berücksichtigen ist, wenn das Ergebnis dieses Verfahrens, wie beispielsweise in Deutschland bei der Verfassungsbeschwerde gegen ein Strafurteil, für den Ausgang des Streits vor den ordentlichen Gerichten entscheidend sein kann.230 223  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (380). 224  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (380). 225  Frowein / Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 139. 226  EGMR in den Fällen Wemhoff . / . Deutschland, Urteil vom 27.06.1968, EGMR-E 1, 54 (60); Neumeister . / . Österreich, Urteil vom 27.06.1968, EGMRE 1, 62 (68); Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (380); Corigliano . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 585 (587); Pedersen u. a. . / . Dänemark, Urteil vom 17.12.2004, NJW 2006, 1645 (1646). 227  So auch LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 82; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 197. 228  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694. 229  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2697). 230  EGMR in den Fällen Deumeland . / . Deutschland, Urteil vom 29.05.1986, NJW 1989, 652 (653); Süßmann . / . Deutschland, Urteil vom 16.09.1996, EuGRZ

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

b) Die einzelnen Angemessenheitskriterien Im Rahmen der verfahrens- bzw. sachbezogenen Analyse231 richtet sich die Einzelfallbetrachtung des EGMR in ständiger Rechtsprechung an vier Kriterien aus: der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, der Komplexität des Falles, dem Verhalten des Beschwerdeführers sowie der Sachbehandlung durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bzw. die nationalen Gerichte.232 aa) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer Während dieses Beurteilungskriterium zunächst in der Rechtsprechung des EGMR – beispielsweise im Fall Eckle . / . Deutschland233 – nicht ausdrücklich herangezogen wurde,234 ist es mittlerweile zumindest im Strafprozess seit dem Fall Kudla . / . Polen235 Teil der gängigen Spruchpraxis, dass je nach Bedeutung des Falles für den Beschwerdeführer erhöhte Sorgfalts- und Beschleunigungspflichten für die Strafverfolgungsbehörden und -gerichte gelten können. So ist nach dem Grundsatz zu verfahren, dass je bedeutender die Auswirkungen und der Ausgang des Verfahrens für den Betroffenen sind, desto eher die Grenze des zeitlich Angemessenen erreicht bzw. überschritten ist.236 Bedeutungserhöhende Umstände liegen u. a. bei der Inhaftierung des Beschuldigten und / oder schweren psychischen Beeinträchtigungen aufgrund der Last des Ermittlungs- und Strafverfahrens vor.237

1996, 514 (518); Gast u. a. . / . Deutschland, Urteil vom 25.02.2000, NJW 2001, 211; Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856. 231  So die zutreffende Bezeichnung von Ambos, NStZ 2002, 628 (630). 232  Gaede, wistra 2004, 166 (169); LR-Gollwitzer, MRK, Art. 6 Rn. 77; Grabenwarter / Pabel, § 24 Rn. 70 ff.; Kühne, StV 2001, 529 (530); SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Art. 6 Rn. 118 ff.; jeweils mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung des EGMR. 233  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371. 234  Im Fall König . / . Deutschland wurde dies der Sache nach bereits angewandt, als der EGMR ausführte, dass es bei dem Rechtsstreit um die berufliche Existenz des Antragsstellers ging, EuGRZ 1978, 406 (420). 235  Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2698). 236  SK-StPO-Paeffgen, EMRK, Art. 6 Rn. 119. 237  So der EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2698).



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR67

bb) Komplexität des Falles Als weiteres Prüfkriterium kommt seit jeher der Komplexität des Falles in rechtlicher und / oder tatsächlicher Hinsicht große Bedeutung zu.238 So kann bei Verfahren, die sich im Hinblick auf Sach- oder Rechtsfragen als besonders schwierig darstellen, eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer hinzunehmen sein, als bei weniger komplexen Verfahren. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass sich die Komplexität gerade auf den konkreten Verfahrensinhalt, und nicht auf benachbarte Sachverhaltskomplexe, bezieht und vom EGMR mittlerweile auch eingehend, nicht nur kursorisch geprüft wird.239 Im Strafbereich wird vor allem im Bereich der Steuerund Wirtschaftsstrafverfahren regelmäßig von komplexen, eine längere Verfahrensdauer einnehmenden Verfahren ausgegangen, ohne dass allein die wirtschaftliche Natur eines Falles per se ein Verfahren besonders kompliziert machen muss.240 Allein die Vielfältigkeit der Sachumstände und die Schwierigkeit der Rechtsfragen sind für die Komplexität bezeichnend.241 cc) Verhalten des Beschwerdeführers Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist ebenfalls zu berücksichtigen, wie sich der Beschwerdeführer, d. h. im Ermittlungsbzw. Strafverfahren der Beschuldigte und Angeklagte, im Verfahrensverlauf verhalten hat. Es können nur solche Verfahrensverzögerungen zu einer unangemessen langen Verfahrensdauer im Sinne einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK führen, die dem Staat zuzurechnen sind.242 Hierbei sind nur solche Zeiträume entscheidend, die allein den Ermittlungsbehörden und den Gerichten anzulasten sind, im Gegensatz zu Zeiträumen, die durch ein Verhalten des Beschwerdeführers ausgelöst werden.243 Dem Beschwerdeführer darf wiederum nicht zum Nachteil gereichen, die ihm prozessual 238  EGMR in den Fällen Hennig . / . Österreich, Urteil vom 02.10.2003, wistra 2004, 177; Foti u. a. . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 578; Corigliano . / . Italien, Urteil vom 10.12.1982, EuGRZ 1985, 585; Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856; Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371. 239  Gaede, wistra 2004, 166 (169) mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen des EGMR. 240  EGMR im Fall Pélissier u. a. .  / . Frankreich, Urteil vom 25.03.1999, NJW 1999, 3545 (3548). 241  Ress, FS Müller-Diez, S. 627. 242  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 201. 243  Ress, FS Müller-Diez, S. 627 (642).

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B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

zustehenden Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen und alle Rechtsmittel auszuschöpfen.244 Außerdem kann auch der Beschleunigungsgrundsatz von Betroffenen eines Ermittlungs- und auch Strafverfahrens nicht die aktive Mitwirkung zur Aufklärung von Straftaten verlangen.245 Dagegen muss bewusst prozessverzögerndes Verhalten eines Angeklagten, der beispielsweise vielfache Fristverlängerungen bei Stellungnahmen erbittet,246 die beteiligten Stellen missbräuchlich mit Beschwerden überhäuft247 oder wiederholt die Verschiebung bereits anberaumter Verhandlungstermine beantragt,248 bei der Angemessenheitsprüfung Beachtung finden. dd) Sachbehandlung durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bzw. nationalen Gerichte Der EGMR prüft im Rahmen der Angemessenheit der Verfahrensdauer akribisch genau, ob die staatlichen Strafverfolgungsbehörden (einschließlich Gerichte) das Verfahren zügig betrieben und in jedem Verfahrensabschnitt hinreichend gefördert haben, oder ob entsprechende Versäumnisse in der Durchführung, beispielsweise durch Phasen kompletter Inaktivität oder mehrfacher Verlegung von Verhandlungsterminen, vorlagen. Hierbei führen Verzögerungsgründe, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen, regelmäßig zu einer Unangemessenheit der Verfahrensdauer. Vor allem personelle oder organisatorische Gründe entlasten den betroffenen Staat nicht, da er Abhilfemaßnahmen ergreifen muss und ihn die Pflicht trifft, das Gerichtssystem so einzurichten, dass die Gerichte die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen können.249 Wichtig ist hierbei, dass der EGMR bei der Prüfung der angemessenen Verfahrensförderung durch die Ermittlungsbehörden und Strafgerichte jedem einzelnen Verfahrensabschnitt ein eigenständiges Gewicht zukommen lässt und Verzögerungen in einem Verfahrensteil nicht durch eine insgesamt angemessene Verfahrensdauer oder die besonders beschleunigte Betreibung des Verfahrens in einem anderen Verfahrensteil kompensiert werden können.250 Lediglich 244  SK-StPO-Paeffgen,

EMRK, Art. 6 Rn. 121. wistra 2004, 166 (169); Kühne, StV 2001, 529 (530). 246  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (380). 247  EGMR im Fall Smirnova . / . Russland, Urteil vom 24.07.2003, Nr. 46133 / 99 und 48183 / 99, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc. 248  EGMR im Fall G.K. . / . Polen, Urteil vom 20.01.2004, Nr. 38816  / 97, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc. 249  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 202 mit Verweis auf den EGMR in den Fällen Gast u. a. . / . Deutschland, Urteil vom 25.02.2000, NJW 2001, 211 (212) und Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856 (2857). 245  Gaede,



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR69

für Verfahren vor den staatlichen Verfassungsgerichten hat der EGMR anerkannt, dass die genannten Grundsätze nicht in gleicher Art und Weise anzuwenden sind, da es die herausgehobene Stellung dieser Gerichte notwendig macht, die Reihenfolge der Bearbeitung der anhängigen Fälle nicht nur strikt am Verfahrenseingang auszurichten ist, sondern hierbei auch andere Kriterien heranzuziehen sind.251 250

3. Verhältnis der Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK zueinander Art. 13 EMRK enthält die verfahrensrechtliche Garantie, dass jeder Person im innerstaatlichen Recht der Konventionsstaaten ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, um Verletzungen der EMRK geltend machen zu können. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Subsidiaritätsregelung in Art. 35 Abs. 1 EMRK zu sehen, wonach eine Klage zum EGMR erst zulässig ist, wenn der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist. Zunächst galt bei Prüfung des Vorliegens einer Konventionsverletzung der uneingeschränkte Grundsatz, dass die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK das ganze Spektrum der Garantien für das gerichtliche Verfahren umfassen und im Verhältnis zu Art. 13 EMRK strenger sind, so dass sie die dortige Garantie „absorbieren“.252 Art. 6 Abs. 1 EMRK sei im Verhältnis zu Art. 13 EMRK lex specialis und es gebe kein Erfordernis, eine Verletzung von Art. 13 EMRK zu prüfen, wenn der Gerichtshof bereits eine Verletzung der weitergehenden Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt hat.253 Diese Rechtsprechung hat der EGMR zumindest für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unangemessen langer Verfahrensdauer mit dem Urteil vom 26.10.2000 in der Sache Kudla . / . Polen254 geändert. Hiernach ist nunmehr trotz Feststellung eines Konventionsverstoßes aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zusätzlich gesondert zu prüfen, ob für den Beschwerdeführer auch eine wirksame Rechtsschutzmöglichkeit im innerstaatlichen Recht zur Geltendmachung 250  EGMR in den Fällen Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2698) und Hennig . / . Österreich, Urteil vom 02.10.2003, wistra 2004, 177 (179). 251  EGMR in den Fällen Gast u. a. . / . Deutschland, Urteil vom 25.02.2000, NJW 2001, 211 (212) und Voggenreiter . / . Deutschland, Urteil vom 08.01.2004, NJW 2005, 41 (43). 252  EGMR im Fall Brualla Gómez de la Torre . / . Spanien, Urteil vom 19.12.1997, Nr.  26737 / 95, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc. 253  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 25. 254  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694.

70

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

dieses Verstoßes bestand oder ansonsten zusätzlich eine Verletzung von Art. 13 EMRK vorliegt.255 Ein wesentlicher Grund für diese Rechtsprechungsänderung dürfte die Arbeitsüberlastung des EGMR – gerade aufgrund von Beschwerden wegen unangemessen langer Verfahrensdauer – gewesen sein, so dass sich der Gerichtshof dazu berufen fühlte, den dem europäischen Menschenrechtsschutz zugrunde liegenden Subsidiaritätsgrundsatz stärker heraus zu heben und darauf hinzuwirken, dass die Konventionsstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht einen wirksamen Schutz der Menschenrechte einschließlich der dazugehörigen Rechtsbehelfe gewährleisten.256 Dies ist gleichzeitig notwendiger Ausfluss der effektivitätssichernden Auslegung der Konvention durch den EGMR, mit der den Konventionsrechten zu größtmöglicher, praktischer Wirksamkeit verholfen werden soll.257 Zudem soll mit dieser Rechtsprechungsänderung durchgesetzt werden, dass die Mitgliedsstaaten wirksame innerstaatliche Rechtsbehelfe gegen überlange Verfahren schaffen und somit die Verfahrensflut in diesem Bereich begrenzen, da bei entsprechender innerstaatlicher Beschwerdemöglichkeit solche Verfahren vor dem EGMR nicht mehr nötig und – wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK – auch nicht mehr möglich sind.258 Der EGMR führte in seiner Kudla-Entscheidung aus, dass die Konvention jedem Mitgliedsstaat aufgibt, in der innerstaatlichen Rechtsordnung einen wirksamen Rechtsbehelf zur Geltendmachung von Konventionsverletzungen zur Verfügung zu stellen. Art. 13 EMRK stellt eine Garantie für jede Person dar, mit der die wirksame Wahrnehmung der durch die Konvention aufgegebene Möglichkeit, im innerstaatlichen Recht eine wirksame Beschwerdemöglichkeit bei Konventionsverletzungen zu haben, gewährleistet werden soll; hierbei müssen „die Erfordernisse von Art. 13 EMRK […] als Verstärkung der in Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden und nicht als Erfordernisse, die von der in diesem Artikel auferlegten allgemeinen Verpflichtungen, Personen nicht unangemessenen Verzögerungen gerichtlicher Verfahren auszusetzen, absorbiert werden“.259 Des weiteren wurde festgestellt, dass es seinerzeit in den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten kein vorherrschendes System eines Rechtsbehelfs gegen die überlange Dauer von Verfahren gab. Ferner müsse die in der Vorschrift genannte „Instanz“ nicht notwendig ein Gericht sein, zudem müssen wirksame Rechtsbehelfe sowohl bei Verhinderung der 255  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2699 f.). 256  Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679; Vorwerk, JZ 2004, 553. 257  Siehe Demko, HRRS 2005, 403 (404). 258  Ambos, NStZ 2002, 628 (629). 259  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2700).



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR71

Konventionsverletzung oder ihrer Fortdauer als auch bei Schaffung angemessener Abhilfe für bereits geschehene Verletzungen möglich sein.260 Im Nachgang zu dieser Entscheidung hat der EGMR mit dem Urteil im Fall Sürmeli . / . Deutschland261 hinsichtlich des nationalen Rechts entschieden, dass die im deutschen Recht bestehenden Rechtsbehelfe der Verfassungsbeschwerde, der Dienstaufsichtsbeschwerde sowie der Schadensersatzklage keine ausreichende Beschwerdemöglichkeit im Sinne des Art. 13 EMRK darstellen und somit das deutsche Rechtssystem keinen wirksamen Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer bietet.262 Zuletzt hob der EGMR den besonderen und dringlichen Handlungsbedarf in dieser Frage mit seinem ersten Piloturteil gegen Deutschland im Fall Rumpf . / . Deutschland263 hinsichtlich eines Zivilrechtsstreit hervor, indem festgestellt wurde, dass es sich bei der überlangen Verfahrensdauer in Deutschland um ein strukturelles Problem handelte. Neben der Auferlegung einer Entschädigung wurde die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Urteils einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einzuführen. Hierbei führte der Gerichtshof aus, dass ein Rechtsbehelf dann als wirksam gilt, wenn er zur Beschleunigung einer Entscheidung der mit dem Fall befassten Gerichte führt oder angemessene Entschädigung des Beschwerdeführers für bereits aufgetretene Verzögerungen vorsieht.264 Deutschland reagierte darauf mit der Verabschiedung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrecht­ lichen Ermittlungsverfahren, welches am 03.12.2011 in Kraft trat.265 4. Entfall der Opfereigenschaft bei Verfahrensverzögerung Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR führt nicht jede einmal eingetretene Verletzung einer Garantie der EMRK zu einer Verurteilung des hierfür verantwortlichen Mitgliedsstaats. So kann die Beschwer des Opfers einer Konventionsverletzung entfallen und die Opfereigenschaft hierdurch 260  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW (2700). 261  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, 2389. 262  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, 2389 (2392); ob die Vollstreckungslösung diesen Vorgaben entspricht unter E. III. näher beleuchtet. 263  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, 3355. 264  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, 3355 (3356). 265  BGBl. 2011 I, S. 2301, näheres hierzu unter H.

2001, 2694 NJW 2006, NJW 2006, wird unten NJW 2010, NJW 2010,

72

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

nicht mehr fortbestehen. Das Vorhandensein der Opfereigenschaft wird deshalb während des gesamten Verfahrens vor dem EGMR geprüft,266 wobei die Verortung der Prüfung uneinheitlich sowohl im Rahmen der Zulässigkeit als auch der Begründetheit der Klage erfolgt.267 Ausgehend vom Fall Eckle . / . Deutschland stellte der EGMR in zahlreichen Entscheidungen fest, dass die Opfereigenschaft dann entfällt, wenn durch die nationalen Behörden bzw. Gerichte die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und angemessene und ausreichende Wiedergutmachung geleistet worden ist.268 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass es der EMRK nach in erster Linie jedem einzelnen Vertragsstaat obliegt, den Genuss der in ihr niedergelegten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten.269 Der Gerichtshof lässt es jedoch weitgehend offen, welche Mittel geeignet sind, um angemessene Wiedergutmachung für die Konventionsverletzung zu leisten.270 Für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK durch Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Ermittlungs- oder Strafverfahren wurde vom EGMR anerkannt, dass sowohl eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe271 als auch die Einstellung des Verfahrens272 dazu geeignet sind, den Verstoß angemessen und ausreichend zu 266  Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34 Rn. 26 mit Verweis auf den EGMR im Fall Prodan . / . Moldawien, Urteil vom 18.05.2004, Nr. 49806 / 99, zitiert nach www.echr. coe.int / echr / en / hudoc; zudem siehe EGMR im Fall Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1263). 267  Im Rahmen der Zulässigkeit: EGMR im Fall Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648; bei der Begründetheit: EGMR in den Fällen Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259; O. . / . Deutschland, Urteil vom 13.11.2008, StV 2009, 519. 268  EGMR in den Fällen Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (378); Holzinger . / . Österreich, Urteil vom 30.01.2001, ÖJZ 2001, 478 (479); Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1263); Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648; O. . / . Deutschland, Urteil vom 13.11.2008, StV 2009, 519 (521). 269  Siehe EGMR in den Fällen Cordier . / . Deutschland, Urteil vom 19.01.2006, Nr.  71741 / 01, zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc und Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648 (649). 270  Pfeiffer, FS Baumann, S. 329 (338); Trurnit / Schroth, StraFo 2005, 358 (361). 271  EGMR in den Fällen Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (378); Dzelili . / . Deutschland, Urteil vom 10.11.2005, NVwZ-RR 2006, 513 (516) = StV 2006, 474 (478); Sprotte . / . Deutschland, Urteil vom 17.11.2005, NJW 2006, 3549 (3550); Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1263); Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648; Weisert . / . Deutschland, Urteil vom 03.04.2007, NJW 2008, 3273. 272  EGMR im Fall O. . / . Deutschland, Urteil vom 13.11.2008, StV 2009, 519 (521).



III. Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR73

beheben. Zudem kommt auch in Betracht, dass dem Opfer der Konven­ tionsverletzung eine Geldentschädigung gewährt wird. Der Gerichtshof geht beim Vorliegen einer überlangen Verfahrensdauer von einer „starken“ Vermutung dafür aus, dass hierdurch ein Nichtvermögensschaden entstanden ist.273 Ob der geleistete Geldbetrag angemessen und ausreichend ist, beurteilt sich danach, ob dieser als gerechte Entschädigung entsprechend Art. 41 EMRK einzustufen wäre bzw. ob „die Höhe der innerstaatlich zugebilligten […] Entschädigung unter den besonderen Umständen des Falls nicht offensichtlich unangemessen“ ist.274 Der EGMR unterscheidet zudem formell genau zwischen den einzelnen vorliegenden Konventionsverletzungen. So ist die Verletzung jedes einzelnen Konventionsrechts festzustellen und auch getrennt wiedergutzumachen. So anerkannte er zwar im Fall Dzelili . / . Deutschland,275 dass die Opfereigenschaft im Hinblick auf eine überlange Verfahrensdauer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK durch angemessene Strafminderung entfallen ist, stellte jedoch gleichzeitig die mangelnde Kompensation der Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen entsprechend Art. 5 Abs. 3 EMRK fest, was zu einer entsprechenden Verurteilung führte. In Ausnahmefällen hat es der EGMR sogar genügen lassen, dass allein die Feststellung der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung durch eine innerstaatliche Instanz eine hinreichende gerechte Entschädigung für den immateriell erlittenen Schaden darstellt und keine weiteren Maßnahmen notwendig sind, um die Opfereigenschaft entfallen zu lassen.276 Hierbei seien insbesondere die gesamten Umstände des Verfahrens zu berücksichtigen und nach billigem Ermessen zu entscheiden, ob bereits die Feststellung der Konventionsverletzung allein „eine hinreichend gerechte Entschädigung für den vom Beschwerdeführer erlittenen Nichtvermögensschaden ist“.277

273  EGMR im Fall Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1265). 274  EGMR im Fall O. . / . Deutschland, Urteil vom 13.11.2008, StV 2009, 519 (521). 275  EGMR im Fall Dzelili . / . Deutschland, Urteil vom 10.11.2005, NVwZ-RR 2006, 513 = StV 2006, 474. 276  EGMR in den Fällen Cevizovic . / . Deutschland, Urteil vom 29.07.2004, NJW 2005, 3125 (3128); Uhl . / . Deutschland, Urteil vom 10.02.2005, EuGRZ 2005, 121 = StV 2005, 475 mit Anm. Pauly – beides Strafverfahren; Klein . / . Deutschland, Urteil vom 27.07.2000, NJW 2001, 213 (214) – Zivilrechtsstreit; Zimmermann und Steiner . / . Schweiz, Urteil vom 13.07.1983, NJW 1983, 2749 (2751) – Verwaltungsrechtsstreit. 277  EGMR im Fall Cevizovic . / . Deutschland, Urteil vom 29.07.2004, NJW 2005, 3125 (3128).

74

B. Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafrecht

5. Folgen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Stellt der EGMR fest, dass eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und somit ein Konventionsverstoß in Form einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, ohne dass durch den betroffenen Konventionsstaat eine (vollkommene) Wiedergutmachung erfolgt und hierdurch die Opfer­ eigenschaft entfallen ist, wird der verletzten Partei entsprechend Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung zugesprochen. Entschädigungsfähig sind sowohl durch die Konventionsverletzung nachweislich eingetretene materielle Schäden sowie Kosten und Auslagen der verletzten Partei, als auch immaterielle Schäden (z. B. als Ausgleich für die psychologischen Wirkungen / Belastungen der Konventionsverletzung), deren Höhe vom EGMR nach billigem Ermessen festgesetzt wird.278 Bei der Entschädigung aufgrund überlangen Verfahrens sind bei der Bemessung der Höhe der Entschädigungsleistung vor allem die Dauer der Verzögerung, die Zahl der Instanzen, die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, aber auch sein Verhalten im Prozess zu berücksichtigen.279 Wie bereits im Rahmen der Möglichkeit des Entfalls der Opfereigenschaft ausgeführt,280 lässt es der Gerichtshof teilweise sogar ausreichen, dass im Urteil lediglich die Konventionsverletzung festgestellt wird und Kosten und Auslagen erstattet werden, ohne dass der verletzten Partei darüber hinaus eine weitere Entschädigung zugesprochen wird. Die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes genügt dann als Ausgleich, so dass eine weitere Entschädigung pekuniärer Art nach Art. 41 EMRK nicht mehr notwendig ist.281

278  Meyer-Ladewig,

EMRK, Art. 41 Rn. 21 ff. EMRK, Art. 41 Rn. 21. 280  Siehe oben unter B. III. 4. 281  Vgl. EGMR in den Fällen Zimmermann u.  a. .  /  . Schweiz, Urteil vom 13.07.1983, NJW 1984, 2749 (2751); Klein . / . Deutschland, Urteil vom 27.07.2000, NJW 2001, 213 (214); Uhl . / . Deutschland, Urteil vom 10.02.2005, StV 2005, 475 (477). 279  Meyer-Ladewig,

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer Die nationale Rechtsprechung in Deutschland zur überlangen Verfahrensdauer in Strafverfahren kann auf eine langjährige Entwicklung zurückblicken. Bei dieser bildete sich, ausgehend von den Kriterien der EMRK, in einem wechselseitigen Zusammenwirken des BGH und des BVerfG, unter Berücksichtigung der Rechtssprechungsentwicklung des EGMR (siehe oben unter B. III.), eine dezidierte Linie heraus. Die erste veröffentlichte Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die sich mit der Länge des Strafverfahrens auseinandersetzte, stammte vom 21.12.1962.1 Und obwohl die EMRK in Deutschland schon lange Zeit Gültigkeit hatte, fand sie hierin keinerlei Beachtung und Erwähnung. Vielmehr führte der BGH in seinem Urteil aus, dass der Länge des Strafverfahrens grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung zukomme und dass dies bei der „Abwägung der Tat gegen die Täterpersönlichkeit unter den Gesichtspunkten der Sühne, der Abschreckung anderer, der Wirkung auf die allgemeine Rechtsüberzeugung sowie der Belange der Hinterbliebenen der Unfallopfer“ im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu berücksichtigen sei.2 1. Erste Urteile und Bezug zum nationalen Verfassungsrecht Einen ersten Hinweis auf die Anwendung des in Art. 6 EMRK enthaltenen Beschleunigungsgebotes auch in deutschen Strafverfahren findet sich dann im Urteil des BGH vom 12.07.1966.3 Zwar wendete der BGH in dieser Entscheidung zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer Art. VII Abs. 9(a) des NATO-Truppenstatuts an, in welchem ebenfalls die Pflicht auf alsbaldige und schnelle Verhandlung statuiert wird. Jedoch verwies er darauf, dass diese Vorschrift einen inneren Zusammenhang unter anderem zur Norm des Art. 6 EMRK, die „den dem deutschen Strafverfahren seit langen eigenen, bisher aber nicht ausgesprochenen Beschleuni1  BGH,

Urteil vom 21.12.1962, DAR 1963, 169. Urteil vom 21.12.1962, DAR 1963, 169. 3  BGH, Urteil vom 12.07.1966, BGHSt 21, 81 = NJW 1966, 2023. 2  BGH,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

gungsgrundsatz ausdrücklich“ betont, besitze und den Mitgliedern der in Deutschland stationierten ausländischen Truppen die gleichen Rechte gewähren solle.4 Neben der Feststellung, dass es für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer „weder einen einheitlichen noch einen festen Maßstab“ gebe, hielt sich der BGH im konkret zu beurteilenden Sachverhalt letztlich bedeckt, da selbst das Vorliegen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots keine Auswirkungen auf den Verfahrensausgang gehabt hätte.5 In der Folgezeit ergingen mehrere instanzgerichtliche Entscheidungen,6 die das Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich zur Anwendung brachten, ohne jedoch näher auf die einzelnen, diesbezüglich zu prüfenden Kriterien einzugehen. Lediglich das Urteil des LG Frankfurt vom 05.11.19707 ist näher zu beleuchten, da dort bereits eine Prüfung, ob die Verfahrensdauer angemessen im Sinne des Art. 6 EMRK war, durchgeführt wurde: Zunächst sei „sachbezogen zu untersuchen, ob die für das Verfahren benötigte Zeit in einem angemessenen Verhältnis zu der Bedeutung des Verfahrensgegenstandes und dem Maß der Schuld der Angeklagten“ stehe und so die Strafverfolgung noch weiter geboten sei. Dabei wurde zum einen auf die konkrete Straferwartung abgehoben, zudem musste berücksichtigt werden, ob nach der verstrichenen Zeit noch Aussicht bestehe, die der Straftat zugrunde liegenden Tatsachen noch zuverlässig und vollständig zu ermitteln.8 Als weiteres Kriterium sei „personenbezogen“ zu untersuchen, ob nicht die Auswirkungen des Verfahrens den Angeklagten bereits derart betroffen und beeinträchtigt haben, dass eine Verfahrensfortsetzung ihm nicht mehr zumutbar sei, wobei insbesondere gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen in Betracht zu ziehen seien.9 Kritik erfuhr diese Entscheidung jedoch von Hanack, der anführte, dass mit dieser Fülle von Bezugspunkten völlig heterogene Gesichtspunkte vermischt würden und es letztlich wiederum eine Abwägung sei, was im Einzelfall als angemessen, geboten bzw. nicht mehr zumutbar eingestuft werden könne.10 Er zweifelte daran, ob der Gesetzgeber das Problem der überlangen Verfahrensdauer überhaupt mit Generalklauseln oder unbestimmten Rechtsbegriffen sachgerecht lösen könne, zumal eine solche Lösung im Zweifel gerade die Nicht4  BGH,

Urteil vom 12.07.1966, BGHSt 21, 81 = NJW 1966, 2023. Urteil vom 12.07.1966, BGHSt 21, 18 = NJW 1966, 2023. 6  LG Frankfurt, Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234; LG Krefeld, Beschluss vom 18.05.1971, JZ 1971, 733; OLG Stuttgart, Beschluss vom 20.11.1973, NJW 1974, 284; OLG Hamm, Urteil vom 22.10.1974, NJW 1975, 702. 7  LG Frankfurt, Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234. 8  LG Frankfurt, Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234 (236). 9  LG Frankfurt, Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234 (236). 10  Hanack, JZ 1971, 705 (707). 5  BGH,



I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer77

ahndung komplizierter Strafsachen (z. B. Wirtschaftsdelikte) „in gefährlicher Weise“ begünstigen könnte.11 Dennoch wurde von ihm anerkannt, dass sogar die deutsche Verfassung ein Beschleunigungsgebot für Strafverfahren enthalte, welches sich aus dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG) ergebe. Dies deshalb, weil es mit diesen Grundsätzen unvereinbar sei, den ­Beschuldigten länger als nötig in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen.12 Der BGH argumentierte in ähnlicher Weise, als er in einer Entscheidung vom 10.11.197113 in einem Nebensatz erwähnte, dass mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Art. 6 EMRK dem deutschen Strafverfahrensrecht keine zusätzliche Regelung eingefügt worden, sondern hiermit nur ein Grundsatz bestätigt worden sei, welcher bereits zuvor unabhängig hiervon aufgrund des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 3 GG Gültigkeit gehabt habe.14 Im Folgenden statuierte der BGH in mehreren Entscheidungen,15 dass die Frage der Unangemessenheit einer Verfahrensverzögerung ein „Werturteil“ darstelle, für das die Abwägung zahlreicher personen- und sachbezogener Umstände, wie die Schwere der Tat und die Schwierigkeit der Ermittlungen, maßgebend sei. Das BVerfG äußerte sich im Jahr 1983 grundlegend zur überlangen Dauer von Strafverfahren.16 Zunächst stellte es fest, dass das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes eine angemessene Beschleunigung von Strafverfahren fordere und daraus folgend eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verfahrensverzögerung den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletze.17 Als Kriterien für die Bestimmung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung wurden der durch die Verzögerung der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Beschuldigten, insbesondere durch ergriffene Zwangsmaßnahmen wie der 11  Hanack,

JZ 1971, 705 (707). JZ 1971, 705 (711). 13  BGHSt 24, 239 = NJW 1972, 402. 14  BGHSt 24, 239 (240) = NJW 1972, 402 (403). 15  BGH, Urteil vom 03.02.1982, NStZ 1982, 291 mit Verweis auf folgende, nicht veröffentlichte Entscheidungen des BGH: Urteil vom 24.02.77, Az. 1 StR 554 / 76; Beschluss vom 25.10.77, Az. 5 StR 616 / 77; Urteil vom 24.11.77, Az. 4 StR 459 / 77; jeweils abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de. 16  BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967. 17  NJW 1984, 967. 12  Hanack,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Vollzug von Untersuchungshaft bzw. die Beschlagnahme von Beweismitteln, genannt.18 Das BVerfG verwies jedoch darauf, dass Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst – sei es auch durch zulässiges Prozessverhalten – verursacht habe, nicht zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots führen können. Später stellte das BVerfG klar, dass die für das Strafverfahren entwickelten Grundsätze zum Recht auf ein faires Verfahren auch für Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz gelten, wo ebenfalls eine angemessene Verfahrensbeschleunigung zu fordern sei.19 Im Folgenden arbeitete der BGH mit zahlreichen Einzelentscheidungen eine ständige Rechtsprechung heraus, die sich stark an die Rechtsprechung des EGMR und den genannten Beschluss des BVerfG aus dem Jahre 1983 anlehnte und entsprechend feststellte, dass für die Angemessenheit der Frist auf die Gesamtdauer des Verfahrens von Beginn bis zum Ende der Frist abzustellen sei und dann die Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen, das eigene Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaß der mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten zu berücksichtigenden seien.20 Die angemessene Frist beginne, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird und ende mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.21 Die Dauer des weiteren Verfahrens vor dem BVerfG sei hierbei dann als Teil der Gesamtverfahrensdauer anzusehen, wenn sich die Entscheidung des BVerfG auf die weitere Sachbehandlung durch die Fachgerichte ausgewirkt habe.22 Die Beurteilung der Angemessenheit habe nicht schematisch ausschließlich am abgelaufenen Zeitraum zu erfolgen, sondern müsse jeweils zum Verfahrensinhalt in Relation gesetzt werden.23 Auch im Rahmen des Strafverfahrens sei die Verfahrensförderung nicht allein Aufgabe der Justizbehörden, das Beschleunigungsgebot richte sich vielmehr an alle staatlichen Stellen, die am Verfahren beteiligt 18  NJW

1984, 967. Beschluss vom 19.03.1992, NJW 1992, 2472. 20  So beispielshaft der BGH, Beschluss vom 29.03.2001, NStZ-RR 2001, 294 (295); Beschluss vom 17.12.2003, NStZ 2004, 504 (505); Urteil vom 25.10.2005, NStZ-RR 2006, 50. 21  BGH, Beschluss vom 06.09.1988, NJW 1990, 56; BGH, Beschluss vom 29.03.2001, NStZ-RR 2001, 294 (295); Beschluss vom 17.12.2003, NStZ 2004, 504. 22  So der BGH, Urteil vom 08.03.2006, NStZ-RR 2006, 177 (178). Das BVerfG hat die Frage, ob die Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens zur Dauer des Strafverfahrens bei der Prüfung der angemessenen Verfahrensdauer hinzuzurechnen ist, in seinem Beschluss vom, 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (682), offen gelassen, jedoch in einem Nebensatz erwähnt, dass dies aufgrund der Stellung des BVerfG im deutschen Rechtssystem „eher fernliegend“ (S. 681) sei. 23  BGH, Urteil vom 25.10.2000, NJW 2001, 1146 (1149); BGH, Beschluss vom 17.12.2003, NStZ 2004, 504. 19  BVerfG,



I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer79

sind.24 Als den staatlichen Stellen zuzurechnende Ursachen kommen sowohl organisatorische Mängel als auch persönliche Versäumnisse oder unsachgemäße Verfahrensbehandlung in Betracht.25 2. Konkretisierungen in der Rechtsprechung des BGH Schon seit geraumer Zeit geht der BGH jedoch bei der Festlegung einzelner Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer einen eigenen Weg und setzt sich hierbei in Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR. a) Verzögerung in einzelnen Verfahrensabschnitten So stellte er – erstmals in einer Entscheidung im Jahre 1999 und mehrfach bestätigt in jüngerer Zeit – fest, dass eine gewisse Untätigkeit innerhalb einzelner Verfahrensabschnitte nicht ohne weiteres zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK führe, wenn die Sache insgesamt in angemessener Frist verhandelt wurde und dadurch die Gesamtverfahrensdauer angemessen sei.26 Dies wurde in der Literatur zwar zum Teil begrüßt,27 den ablehnenden Stimmen ist jedoch beizupflichten. Es besteht ein deutlicher Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR, der die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bereits dann annimmt, wenn die Dauer eines einzelnen Verfahrensabschnitts sich als unangemessen lang erwiesen hat. Dies stellt einen höheren Maßstab dar, den der BGH nicht herabzusetzen befugt ist.28 Gaede29 bezeichnete es zu Recht gar als „eine Art europäisches Roulette“, wenn sich der BGH darauf 24  So bejahte der BGH eine Entschädigungspflicht wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, nachdem die Meldebehörden es versäumt hatten, den Zuzug eines zur Aufenthaltsermittlung ausgeschriebenen Beschuldigten an die Staatsanwaltschaft zu melden („unterlassene Amtshilfe“), BGH, Beschluss vom 04.08.2009, NStZ 2010, 230. 25  Siehe Fischer, StGB, § 46 Rn. 124a mit zahlreichen Verweisen auf Einzelfallrechtsprechung des BGH. 26  BGH, Beschluss vom 04.01.1999, NStZ 1999, 313; BGH, Beschluss vom 18.04.2002, NStZ-RR 2002, 219; BGH, Beschluss vom 17.12.2003, NStZ 2004, 504; BGH, Beschluss vom 11.05.2004, NStZ 2005, 582; BGH, Beschluss vom 21.07.2005, JR 2006, 297 (299); BGH, Urteil vom 25.10.2005, NStZ-RR 2006, 50 (51); BGH, Beschluss vom 11.01.2007, NStZ-RR 2007, 150 (151). 27  Matt / Renzikowski-Bußmann, StGB, §  46 Rn.  48; MüKomm-Franke, § 46 Rn. 62; Schäfer, Strafzumessung, 3. Aufl., Rn. 440; Ulsamer, FS Faller, S. 373 (380); Cirener / Sander, JR 2006, 300 (301), die ausdrücklich darauf hinwiesen, dass der BGH hierdurch „nicht etwa einen Konventionsverstoß kaschiert“. 28  So auch Demko, HRRS 2005, 283 (293). 29  HRRS 2005, 377 (381).

80

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

einlässt. Denn es gibt weder in der EMRK noch in der Rechtsprechung des EGMR hierzu starre, abstrakt vorbestimmte, im Allgemeinen vertretbare Verfahrenshöchstfristen, die als Vergleichswert für eine insgesamt angemessene Verfahrensdauer herangezogen werden könnten. Ferner bestehen verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des Kriteriums der insgesamt angemessenen Verfahrensdauer, wenn es an einer Begründung für die Angemessenheit fehlt.30 Die angemessene Verfahrensdauer muss letztlich nach Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der den Einzelnen im konkreten Fall vor unangemessener Verzögerung schützen will, anhand des einzelnen Verfahrens und der dort in den einzelnen Verfahrensstadien getroffenen Fortführungsentscheidungen beurteilt werden. Hierdurch werden auch die in den jeweiligen Verfahrensstadien tätigen staatlichen Stellen stärker in die Pflicht genommen.31 b) Maß des Verschuldens des Angeklagten Als weiteres Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wurde vom BGH32 wie auch bereits zuvor vom BVerfG33 auf „das Maß des Verschuldens“ des Angeklagten hinsichtlich der zugrunde liegenden Tat abgestellt. Dieses Kriterium stellt jedoch bei genauer Betrachtung der Vorgehensweise des EGMR bei der Überprüfung von Verfahren auf ihre Konventionswidrigkeit einen Fremdkörper dar, der geradezu systemwidrig den sonstigen Beurteilungskriterien, die allesamt verfahrensbezogen sind, gegenübersteht. Bislang hat der EGMR das Kriterium der Schuld des Angeklagten weder zur Prüfung herangezogen noch ausdrücklich davon ausgenommen. Es ist zwar zuzugeben, dass der EGMR den bisher von ihm herangezogenen Beurteilungskriterien keinen abschließenden Charakter zusprach, tatsächlich aber hat sich seine Rechtsprechung durch zahlreiche Entscheidungen faktisch auf die vier genannten Punkte eingependelt.34 Gegen Personen, die einer Straftat verdächtig sind, soll ein faires Ermittlungsund Strafverfahren geführt werden, welchem sie nur so lange wie nötig ausgesetzt sein sollen. Hierbei ist die Tatschuld des Beschuldigten bzw. Angeklagten kein tauglicher Gesichtspunkt, der die Strafverfolgungsbehörden zur Verlängerung des Verfahrens berechtigen und unnötige Verfahrensverzögerungen rechtfertigen. Das Maß der Schuldschwere sagt nichts darüKrehl, StV 2005, 561 (562). Demko, HRRS 2005, 283 (293); Gaede, wistra 2004, 166 (172). 32  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 (174) = NJW 2001, 1146 (1148). 33  BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994, NJW 1995, 1277 (1278). 34  Siehe auch Demko, HRRS 2005, 283 (294); Gaede, wistra 2004, 166 (169 Fn. 52); zu den vier Kritierien siehe oben unter B. III. 2. b). 30  So

31  Vgl.



I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer81

ber aus, wie schwierig sich die Aufklärung des Tatvorwurfs gestaltet. Zudem steht auch diejenige Person, die verdächtigt wird, schwere Schuld auf sich geladen zu haben, genauso unter dem Schutz der EMRK und des Grundgesetzes und besitzt daher den Anspruch auf Abschluss des Verfahrens in angemessener Frist.35 c) Verfahrensverzögerung durch ein erfolgreiches Rechtsmittel? Uneinheitlich stellt sich die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage dar, ob Verfahrensverzögerungen durch ein erfolgreiches Rechtsmittelverfahren ebenfalls eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK darstellen können. Während der BGH zunächst in diese Richtung tendierte,36 bildete sich dann die gegenteilige Auffassung heraus. So begründe allein die Verfahrensverlängerung, die dadurch entsteht, dass auf die Revision des Angeklagten ein Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, regelmäßig keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; dies gelte auch dann nicht, wenn eine erneute Zurückverweisung erforderlich sei. Ein derartiger Verfahrensgang und der mit ihm verbundene zusätzliche Zeitbedarf sei Ausfluss einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems, das die Möglichkeit eröffne, fehlerhafte Entscheidungen zu korrigieren.37 Eine Ausnahme solle für solche Fälle gelten, bei denen die Zurückverweisung aufgrund „erheblicher, kaum verständlicher Rechtsfehler“38 bzw. „eklatanter Gesetzesverletzung“39 erfolge. Es geht also um Entscheidungen, die unter keinen Gesichtspunkten mehr zu rechtfertigen seien. 35  So bereits I. Roxin, StraFo 2001, 51 (52); I. Roxin, StV 2001, 490 (491); dem zustimmend Demko, HRRS 2005, 283 (294 f.); Paeffgen, StV 2007, 487 (493). Ähnlich im Ergebnis auch Kempf, StV 2001, 134 (135), der sich mit der Problematik der Tatschuld bei überlanger Verfahrensdauer im Rahmen der Diskussion über eine Verfahrenseinstellung bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung auseinandersetzte und dahingehend argumentierte, dass ein Abstellen auf die Schuld des Betroffenen gegen die Unschuldsvermutung verstoße; dem widersprechend Ambos, NStZ 2002, 628 (631), der anführte, dass es zahlreiche prozessuale Situationen gebe, in denen bestimmte Entscheidungen von hypothetischen Schulderwägungen auf der Grundlage eines vorläufigen Ermittlungsergebnisses abhängig gemacht würden, insbesondere im Rahmen der Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO. 36  Siehe BGH, Beschluss vom 04.10.1995, wistra 1996, 19; BGH, Beschluss vom 24.07.1991, NStZ 1992, 78. 37  BGH, Beschluss vom 19.07.2000, NStZ 2001, 106  f.; BGH, Urteil vom 07.02.2006, NJW 2006, 1529 (1532); BGH, Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (310). 38  BGH, Beschluss vom 11.09.2008, NStZ 2009, 104. 39  BGH, Urteil vom 07.02.2006, NJW 2006, 1529 (1532).

82

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Das BVerfG argumentierte zunächst in ähnlicher Weise und beanstandete es von Verfassungs wegen nicht, dass die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit – von den Ausnahmen abgesehen, bei denen das Revisionsverfahren der Korrektur offensichtlich der Justiz anzulastender Verfahrensfehler diene – nicht der ermittelten Überlänge des Verfahrens hinzugerechnet wurde. Denn dieser Zeitbedarf folge aus einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens.40 Als rechtsstaatswidrig könnten allenfalls Verzögerungen eingestuft werden, die aufgrund der Aufhebung von Entscheidungen eintreten, die unter keinem Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen seien.41 Bezug genommen wurde insoweit auf eine Entscheidung des EGMR vom 31.05.2001, in welchem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung aufgrund eines gravierenden Verfahrensfehlers des Instanzgerichts vorlag, da dieses das Urteil nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Absetzungsfrist zu den Akten gebracht hatte.42 Die Rechtsprechung des BVerfG verschärfte sich in der Folgezeit jedoch in Bezug auf die Annahme einer konventions- bzw. verfassungswidrigen Verfahrensüberlänge. Nun sollte es nicht mehr auf das Gewicht des in der Revisionsentscheidung zu korrigierenden Fehlers ankommen, sondern jede erhebliche Verfahrensverzögerung, die durch die Bereinigung eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers eintrete, sollte zu einer Kompensationspflicht führen.43 Hieraus folgt, dass faktisch jede Revisionsentscheidung, in der ein Verfahrensfehler festgestellt wird, der in der Sphäre der Justiz wurzelt und mit welcher eine Strafsache zur erneuten Verhandlung an das Instanzgericht zurückverwiesen wird, eine entschädigungspflichtige Feststellung der fortan rechtsstaatswidrigen Verfahrensdauer nach sich zieht.44 Nachdem der BGH diese Auffassung zunächst nicht teilte und ausdrücklich bemerkte, nicht an die entsprechende Kammerentscheidung des BVerfG gebunden zu sein,45 scheint sich nunmehr ein Umschwung auch in der Rechtsprechung des BGH anzudeuten. In einer jüngeren Entscheidung des 4. Strafsenats vom September 2009, die bislang in der Literatur keine Beachtung gefunden hat, wurde angedeutet, dass der BGH seine Rechtsprechung im Sinne des BVerfG ebenfalls verschärft und bei Vorliegen eines 40  BVerfG,

Beschluss vom 25.07.2003, NStZ 2004, 335 (336). Beschluss vom 21.01.2004, BVerfGK 2, 239 (251). 42  EGMR im Fall Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856 (2857). 43  BVerfG, Beschluss vom 05.12.2005, NJW 2006, 672 (673). 44  Siehe im Ergebnis BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005, NStZ 2005, 456 (457); BVerfG, Beschluss vom 05.12.2005, NJW 2006, 672 (675). 45  BGH, Urteil vom 07.02.2006, NJW 2006, 1529 (1532); BGH, Urteil vom 08.03.2006, StV 2006, 241 (242). 41  BVerfG,



I. Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer83

Verfahrensfehlers generell die Verfahrensdauer ab Aufhebung des Urteils in der Revisionsinstanz zum Zeitraum der kompensationspflichtigen Überlänge zählen möchte. Begründet wird dies damit, dass das Verfahren ab diesem Moment „der Korrektur der der Justiz anzulastenden Verfahrensfehler“ diene.46 Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich diese Rechtsprechung fortsetzt. d) Bewertung In der Literatur sind unterschiedliche Auffassungen zu finden. Schädler argumentiert, dass es in letzter Konsequenz eine „Verkürzung der Rechtsmittel“ darstellen würde, sollte jede erfolgreiche Verfahrensrüge des Angeklagten regelmäßig zur Annahme eines kompensationspflichtigen Verstoß gegen den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung führen.47 Dagegen führt Krehl an, dass nicht der Angeklagte das Risiko einer fehlerhaften tatgerichtlichen Rechtsanwendung zu tragen habe. Verzögerungen, die auf dem Staat zuzurechnenden richterlichen Fehlentscheidungen beruhen, verschlechtern die Situation des Angeklagten ohne dessen Zutun ohnehin. Es sei hierbei nicht nachvollziehbar, warum nur eklatante Gesetzesverstöße bei der Berechnung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung Berücksichtigung finden sollen.48 Die wohl derzeit vorherrschende Rechtsprechung sowie die ihr zustimmenden Literaturmeinungen vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Das Rechtssystem ist derart organisiert, dass es einen Instanzenzug vorhält, der die Möglichkeit bietet, regelmäßig bei der richterlichen Entscheidungsfindung vorkommende Fehler zu korrigieren. Diesem Verfahrensmechanismus liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, dass nicht jeder dem Tatrichter anzulastende Rechtsfehler bei Zurückverweisung des Verfahrens eine mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbare Verzögerung des Verfahrensabschlusses zur Folge hat. Denn andernfalls unterläge schon die gesetzliche Ausgestaltung des Revisionsverfahrens als solche, die diesen Zeitbedarf durch entsprechende Verfahrensregelungen vorsieht, verfassungsrechtlichen Bedenken unterläge.49 Gerade die Abstufung ist hier der entscheidende Bewertungsmaßstab. Nur gravierende, mutwillige bzw. unter keinen Umständen nachvollziehbare Mängel in der Verfahrensdurchführung 46  BGH,

Beschluss vom 22.09.2009, NStZ-RR 2010, 75 (76). EMRK, Art. 6 Rn. 36. 48  Krehl, ZIS 2006, 168 (172); Krehl, StV 2006, 408 (409). Weitergehend vertritt Knauer, der die Einstufung einer erfolgreichen Revision aufgrund eines Verfahrensfehlers des Instanzgerichts als eine dem Staat zurechenbare, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung begrüßte, die Ansicht, dass dies darüber hinaus auch bei einer fehlerhaften Auslegung materiellen Rechts durch das Instanzgericht anzunehmen sei, Knauer, StraFo 2007, 309 (314). 49  So auch der BGH, Urteil vom 07.02.2006, NJW 2006, 1529 (1532). 47  KK-Schädler,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

lassen den hierdurch eintretenden Zeitverzug und die zusätzlichen Belastungen beim Angeklagten als unverhältnismäßig und deshalb rechtsstaatswidrig erscheinen. Darüber hinausgehende, strengere Anforderungen werden auch nicht durch die Rechtsprechung des EGMR verlangt.50 Unabhängig von den dargestellten Meinungen ist es unbestritten und allgemeine Auffassung, dass auch während des Revisionsverfahrens und bei gegebenenfalls Zurückverweisung des Verfahrens zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz die allgemeinen Grundsätze zur Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung heranzuziehen sind und eine konventionswidrige Überlänge beispielsweise dann vorliegt, wenn die Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte es unterlassen, ein Verfahren nach Aufhebung durch das Revisionsgericht in gebotener Weise zu fördern.51 Unklarer ist die Problematik, ob bei der Überprüfung der angemessenen Verfahrensdauer auch die Zeitdauer des Verfahrens vor dem BVerfG mit einzubeziehen ist. Der EGMR hat bereits wiederholt betont, dass grundsätzlich alle staatlichen Gerichte dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK unterfallen. Somit hat das Verfahren vor einem Verfassungsgericht ebenfalls bei der Prüfung, ob eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, Berücksichtigung zu finden. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts, wie regelmäßig bei vorangegangenen Strafverfahren anzunehmen, Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten haben kann.52 Bei der konkreten Beurteilung der Angemessenheit sei aber zu beachten, dass es die Rolle des Verfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ auf besondere Weise notwendig mache, andere Überlegungen – wie beispielsweise die Art der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung – zu berücksichtigen; daher ist nicht nur die bloße Zeitfolge, in der die Fälle dort eingegangen sind, entscheidend.53 Das BVerfG konnte es bislang dahingestellt lassen, ob die Bearbeitungsdauer einer „nicht zum Rechtsweg gehörenden Verfassungsbeschwerde“ zur Dauer des Strafverfahrens hinzuzurechnen sei, bezeichnete eine solche Rechtsauffassung jedoch ohne weitere Begründung aufgrund der Stellung des BVerfG im deutschen Rechtssystem als „eher fern liegend“.54 Die Literaturstimmen folgen der Auffassung des EGMR und 50  Zu

den einzelnen Kriterien siehe oben unter B. III. 2. auch BVerfG, Beschluss vom 25.07.2003, NStZ 2004, 335 (336 f.). 52  EGMR im Fall Gast und Popp . / . Deutschland, Urteil vom 25.02.2000, NJW 2001, 211 (212); EGMR im Fall Metzger . / . Deutschland, Urteil vom 31.05.2001, NJW 2002, 2856. 53  EGMR im Fall Gast und Popp . / . Deutschland, Urteil vom 25.02.2000, NJW 2001, 211 (212). 54  BVerfG, Beschluss vom 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (681). 51  So



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 85

weisen zu Recht darauf hin, dass das Verfahren vor dem BVerfG zwar einen besonderen Rechtsbehelf darstelle, der nicht zum eigentlichen Schutzbereich des strafrechtlichen Beschleunigungsgebots zähle. Er schaffe nicht letzte Klarheit über den staatlichen Strafanspruch, sondern nehme lediglich im Einzelfall Einfluss auf die zuvor getroffene staatliche Reaktion. Dennoch müsse das verfassungs- bzw. menschenrechtliche Beschleunigungsgebot auch für die dortigen Verfahren Anwendung finden, wenn sie für den Ausgang des Strafverfahrens von Bedeutung sein können.55

II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“  in der deutschen Rechtsprechung 1. Einstellung des Verfahrens aufgrund eines Verfahrenshindernisses Nachdem der BGH zunächst der Länge des Verfahrens keinerlei recht­ liche Bedeutung zumaß,56 führte er dann aus, dass die Nichteinhaltung des Beschleunigungsgebots zwar eine Verfahrensverletzung „nicht ohne Gewicht sei“, diese aber kein dauerndes, von der Verjährung der Strafverfolgung unabhängiges Verfahrenshindernis zur Folge habe. Es sei bei den ansonsten teilweise sehr ins Detail gehenden Vereinbarungen in den völkerrechtlichen Verträgen weder ausdrücklich noch in einer sonst eindeutig erkennbaren Weise festgelegt worden, dass eine entsprechende Verletzung die Unzulässigkeit des weiteren Verfahrens zur Folge habe.57 Ob ansonsten Konsequenzen für das Strafverfahren zu ziehen sind, erörterte der BGH nicht. Anschließend bestätigte der BGH in einer weiteren Entscheidung diese Rechtsprechung und führte ergänzend aus, dass zwar eine Verletzung des der EMRK wie auch dem deutschen Verfassungsrecht zu entnehmenden Beschleunigungsgebots nicht ohne Folgen bleiben könne, jedoch das Mittel des Verfahrenshindernisses „seiner Natur nach gänzlich ungeeignet“ sei, als gerechter Ausgleich hierfür zu dienen. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses mit der Folge der Verfahrenseinstellung könne nur dort erfolgen, wo in sinnvoller Weise an eine bestimmte, für das Verfahren im Ganzen 55  Siehe Krehl, StV 2006, 408 (411); Krehl, ZIS 2006, 168 (176); Paeffgen, StV 2007, 487 (492); andere Auffassung Strate, NJW 2006, 1480 (1482), der den in der Menschenrechtskonvention verbürgten Anspruch auf „Anhörung innerhalb angemessener Frist“ nur für das Erkenntnisverfahren zur Anwendung bringen möchte, welches mit rechtskräftigem Abschluss beendet sei. 56  BGH, Urteil vom 21.12.1962, DAR 1963, 169, siehe oben unter C. I. 1. 57  BGH, Urteil vom 12.07.1966, BGHSt 21, 81 = NJW 1966, 2023, der sich auf Art. VII Abs. 9 (a) Nato-Truppenstatut bezog, jedoch bereits die Parallele zu Art. 6 EMRK herstellte, näheres oben unter C. I. 1.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

uneingeschränkt rechtserhebliche Tatsache anzuknüpfen sei.58 Eine Vernachlässigung des Beschleunigungsgebots sei jedoch für sich keine Tatsache, welche in diesem Sinne der Eigenart des Prozesshindernisses gemäß sein könne, zumal die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Verfahrensverzögerung ein Werturteil sei, für das eine Abwägung zahlreicher personen- und sachbezogener Umstände durchgeführt werden müsse. Darüber hinaus müsse die Interessenlage des betroffenen Beschuldigten in Betracht gezogen werden, da einem unschuldig Verfolgten nur mit einem Freispruch und nicht mit der Verfahrenseinstellung gedient sei.59 Hingegen äußerte der Vorprüfungsausschuss des BVerfG in seiner richtungsweisenden Entscheidung vom 24.11.198360 verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Auffassung des BGH, wonach aus einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in keinem Fall ein Verfahrenshindernis herzuleiten sei. Vielmehr könne in Fällen, in denen das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegt und in denen die Dauer des Verfahrens zudem mit besonderen Belastungen für den Beschuldigten einhergegangen ist, eine so erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots im Strafverfahren festzustellen sein, dass ein anerkennenswertes Interesse an weiterer Strafverfolgung, die allgemein dem verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsgüterschutz dient, im Einzelfall nicht mehr besteht und eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist.61 In solchen „extrem gelagerten Fällen“, in denen auch das Strafverfahrensrecht keine Möglichkeit zur sonstigen Verfahrensbeendigung, beispielsweise durch Einstellung nach § 153 StPO, biete, sei ein von Verfassungs wegen unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes abzuleitendes Verfahrenshindernis anzunehmen.62 Die Reaktion des BGH auf die verfassungsgerichtliche Entscheidung war zunächst eher verhalten. Zwar wurde die Auffassung des Vorprüfungsausschusses des BVerfG zur Kenntnis genommen, ihr jedoch nicht gefolgt, als der BGH mit Urteil vom 09.12.1987 den „Abbruch des Verfahrens“ wegen eines „Zurückverweisungsverbots“ aufgrund des „irreparablen“ Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot anordnete und das Verfahren einstellte, nachdem die Staatsanwaltschaft in einem Strafverfahren wegen Untreue die 58  BGH,

Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 (240) = NJW 1972, 402 (403). Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 (241) = NJW 1972, 402 (403); bestätigt durch Urteil vom 12.10.1977, JR 1978, 246. 60  NJW 1984, 967. 61  BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967. 62  BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967; bestätigt durch Beschlüsse des BVerfG vom 19.04.1993, StV 1993, 352 – im „Ex­ trembereich“ sei ein Verfahrenshindernis anzunehmen – sowie 14.07.1994, NJW 1995, 1277 – „die Frage der verfassungsrechtlichen Folgen der überlangen Dauer eines Strafverfahren ist hinreichend geklärt“. 59  BGH,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 87

Verfahrensakten dem Revisionsgericht mit einer nicht nachvollziehbaren Verzögerung von fünf Jahren vorgelegt hatte.63 Der BGH verwies darauf, dass in diesem Fall eine Verfahrensverzögerung von besonders schwerwiegendem Ausmaß vorliege und aufgrund der damit verbundenen Belastungen des Beschuldigten das Rechtsstaatsgebot ein anerkennenswertes Interesse an der Strafverfolgung entfallen lasse, wodurch eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar sei. Ausdrücklich wurde jedoch die Annahme eines allgemeinen Verfahrenshindernisses aufgrund der überlangen Verfahrensdauer weiter abgelehnt.64 Im Jahr 2000 schwenkte der BGH jedoch um und setzte einen „markanten Schlussstein“65 unter die Diskrepanz seiner Rechtsprechung im Vergleich zum Verfassungsgericht. In seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 25.10.200066 folgte er letztlich der Auffassung des BVerfG und erkannte erstmals grundsätzlich ein Verfahrenshindernis wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung an, ohne jedoch im konkreten Fall Stellung beziehen zu müssen, da sich das Vorliegen dort nicht abschließend feststellen ließ. In den Urteilsgründen wurde ausgeführt, dass sich in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen aus der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip das Verbot einer weiteren Strafverfolgung ergeben könne und sich dies als ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis darstelle, was subsidiär zu sonstigen Kompensationsmöglichkeiten sei.67 In solchen Ausnahmefällen habe der Grundsatz, dass Verfahrenshindernisse regelmäßig an objektiv feststellbaren Tatsachen anknüpfen und nicht Ergebnis wertender Abwägungen sind, zurückzutreten, „wenn feststeht, dass für eine solche Abwägung aufgrund des Gewichts des Verstoßes kein Raum bleibt“.68 Die Prüfung, ob ein festgestellter Verstoß so gewichtig ist, dass er einer Weiterführung des Verfahrens entgegen steht, könne jedoch regelmäßig nicht ohne tatsächliche Feststellungen zur Tatschuld des Angeklagten durchgeführt werden.69 Hierdurch solle verhindert werden, dass der Tatrichter bei schwierigen und umfangreichen Verfahren per se ein Verfahrenshindernis annimmt, ohne die Verfahrenstatsachen, Feststellungen zum Schuldumfang, die für die Verfahrensverzögerung maßgeblichen Gründe so63  BGH,

Urteil vom 09.12.1987, NStZ 1988, 283 (284). Urteil vom 09.12.1987, NStZ 1988, 283 (284). 65  So auch I. Roxin, StraFo 2001, 51. 66  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 = NJW 2001, 1146. 67  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 (171) = NJW 2001, 1146 (1148). 68  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 (171  f.) = NJW 2001, 1146 (1148). 69  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 (174) = NJW 2001, 1146 (1149). 64  BGH,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

wie die der Entscheidung zugrundeliegenden Gesamterwägungen darzulegen.70 Die Verfahrenseinstellung sei somit abhängig vom Maß der Schuld des Angeklagten bzw. von dem ihm zuzurechnenden Schuldumfang, was das Revisionsgericht im vorliegenden Fall nicht überprüfen konnte, so dass es das Verfahren an die Vorinstanz zurückverwies. In den (veröffentlichten) instanzgerichtlichen Entscheidungen sind bis dato ebenfalls konträre Positionen hinsichtlich der Möglichkeit der Annahme eines Verfahrenshindernisses aufgrund einer überlangen Verfahrensdauer zu finden. Für ein Verfahrenshindernis sprach sich bereits früh das Landgericht Frankfurt a. M. aus. Es wurde ausgeführt, dass die EMRK zwar nicht konkret bestimmt habe, was bei einer Verletzung von Art. 6 EMRK geschehen solle, da die Konsequenzen in den einzelnen Mitgliedsstaaten je nach Rechtsordnung unterschiedlich sein müssen. Jedoch wäre ein Gesetz dieses hohen Ranges seines Inhalts beraubt und praktisch ohne Bedeutung, wenn eine Konventionsverletzung im Einzelfall folgenlos bliebe, so dass es sachgerecht erscheine, die unangemessene Verfahrensverzögerung so zu behandeln, als wäre sie ein Prozesshindernis mit der Folge der Verfahrenseinstellung.71 Im konkreten Fall nahm das Gericht eine solche überlange Verfahrensdauer an und stellte das Verfahren ein, da seit der Kenntnis des Angeklagten von dem Verfahren „das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen und noch kein rechtskräftiges Urteil ergangen ist“.72 Im weiteren Verlauf – insbesondere nach der grundsätzlichen Anerkennung durch den BGH – sprachen sich auch zahlreiche Oberlandesgerichte für die Möglichkeit der Annahme eines Verfahrenshindernisses aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung aus.73 Lediglich das Oberlandesgericht Hamm stellte – allerdings ohne weitere Begründung – fest, dass aus einer unangemessen langen Verfahrensverzögerung kein Verfahrenshindernis hergeleitet werden könne.74 auch Tiwisina, S. 109. Frankfurt a. M., Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234 (235). 72  LG Frankfurt a. M., Urteil vom 05.11.1970, JZ 1971, 234 (236). 73  OLG Zweibrücken, Beschluss vom 21.09.1988, NStZ 1989, 134; OLG Stuttgart, Beschluss vom 18.03.1993, NStZ 1993, 450, nachdem es zuvor ausdrücklich noch die Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses offen gelassen hatte, jedoch anklingen ließ, dass die Einstellung des Verfahrens „nur in wenigen, an klar umrissene Tatbestände anknüpfenden Fällen möglich ist“, OLG Stuttgart, Beschluss vom 20.11.1973, NJW 1974, 284 (285); BayObLG, Beschluss vom 11.07.1994, wistra 1994, 352; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 09.08.1994, NStZ 1995, 49; OLG Koblenz, Beschluss vom 09.12.1994, NJW 1994, 1887; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.12.1994, StV 1995, 400; wiederum offen gelassen hatte es das LG Krefeld, ob eine ungemessene Verfahrensverzögerung die Unzulässigkeit des weiteren Verfahrens zur Folge haben kann, LG Krefeld, Beschluss vom 18.05.1971, JZ 1971, 733 (735). 74  OLG Hamm, Urteil vom 22.10.1974, NJW 1975, 702 (703). 70  So

71  LG



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 89

2. Strafzumessungslösung als Regelfall Obwohl der BGH sein Hauptaugenmerk im Zusammenhang mit den Konsequenzen aus rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen zunächst auf die gerade dargestellte Problematik des Verfahrenshindernisses legte, wurde darüber hinaus bereits früh erwogen, dies bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. In zunehmendem Maße bildete sich – mit überwiegender Befürwortung in der Literatur – eine Rechtsprechung heraus, welche die Strafzumessungslösung als Regelfall zur Kompensation überlanger Verfahrensdauer vorsah und in der Folgezeit immer genauer ausgestaltete. a) Anfänge der Strafzumessungslösung Nachdem in einem Urteil aus dem Jahr 1966 seitens des BGH zwar festgestellt worden war, dass die Nichteinhaltung des Beschleunigungsgebots eine Verfahrensverletzung „nicht ohne Gewicht“ sei, hieraus jedoch nicht ohne weiteres die Unzulässigkeit des weiteren Verfahrens abgeleitet werden könne und sich die Entscheidung darüber hinaus zur Frage sonstiger Reaktionsmöglichkeiten einer Erörterung enthielt,75 wurde bereits fünf Jahre später der Grundstein für die Strafzumessungslösung gelegt. Der BGH führte im Urteil vom 10.11.1971 aus, dass die „Berücksichtigung bei der Strafzumessung das geeignete Mittel [sei], mit dem einer Verletzung des Anspruchs des schuldigen Angeklagten auf schleunige Abwicklung des Strafverfahrens Rechnung zu tragen ist“.76 Gegen eine Verfahrenseinstellung spreche, dass erst im Zeitpunkt des Sachurteils Schuldmaß und Schuldumfang feststehen, um als sichere Kriterien für die Frage der Zumutbarkeit von Verzögerungen herangezogen werden zu können. Nur im Bereich der Strafzumessung können die unterschiedliche psychische und körperliche Empfänglichkeit für die aus der Verfahrensverzögerung resultierenden Belastungen durch die Vornahme der erforderlichen Abstufungen angemessene Beachtung finden. Zudem reiche der im Gesetz vorgesehene Spielraum in den dort vorgesehenen Fällen bis hin zum völligen Absehen von Strafe, bei Vergehen komme eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO in Betracht und bei Verbrechen sei regelmäßig die Möglichkeit des Zurückgehens auf die gesetzliche Mindeststrafe ausreichend, um den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot hinreichend zu berücksichtigen.77 Bei besonders schweren Verstößen sei, so der BGH damals, nicht mit der 75  BGH,

Urteil vom 12.07.1966, BGHSt 21, 81 = NJW 1966, 2023. Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 (242) = NJW 1972, 402 (403). 77  BGH, Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 (242) = NJW 1972, 402 (403). 76  BGH,

90

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Annahme eines Verfahrenshindernisses, sondern mit der Gewährung eines Gnadenerweises zu reagieren.78 Nachdem sich das OLG Hamm mit der ausdrücklichen Feststellung, dass eine dem Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zuwiderlaufende Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung berücksichtigt werden könne, der Rechtsprechung angeschlossen hatte,79 bestätigte der BGH seine Auffassung in einer Entscheidung vom 12.10.1977. Er stellte zudem ausdrücklich klar, dass die Anwendung der Strafzumessungslösung innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Spielraums zu erfolgen habe und es weder erforderlich noch zulässig sei, die vom Gesetz aufgestellten Rechtsfolgenvoraussetzungen zu ignorieren.80 Dies bedeute auch, dass eine Einstellung nach § 153 StPO und eine Anwendung des § 59 StGB nur bei Vorliegen der jeweils genannten Voraussetzungen erfolgen könne, wobei im Rahmen des § 59 StGB zwar die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Frage, ob die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu einer Strafe noch gebiete, bzw. bei der Täterprognose Berücksichtigung finden könne, es hingegen nicht möglich sei, hierdurch auf das Vorliegen besonderer Umstände der Tat zu verzichten. Der Gesetzgeber habe ein äußerst differenziertes Rechtsfolgensystem geschaffen und dabei die einzelnen Abstufungen staatlicher Reaktion auf strafbares Verhalten an entsprechend differenzierende gesetzliche Kriterien gebunden, dass innerhalb dieser abgestuften Rechtsfolgenbestimmungen auch eine den Angeklagten psychisch belastende Verfahrensverzögerung ausreichend berücksichtigt werden könne.81 Eine weitere grundlegende Entscheidung hinsichtlich der vom BGH eingeschlagenen Strafzumessungslösung stellt der Beschluss des Vorprüfungsausschusses des BVerfG vom 24.11.1983 dar, in welchem auch direkte Bezüge zu der kurz zuvor ergangenen Entscheidung des EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland82 zu finden sind. Neben der Feststellung des Verfas78  BGH,

Urteil vom 10.11.1971, BGHSt 24, 239 (242 f.) = NJW 1972, 402 (403). Hamm, Urteil vom 22.10.1974, NJW 1975, 702 (703). 80  BGH, Urteil vom 12.10.1977, BGHSt 27, 274 (275) = JR 1978, 246 (247). 81  BGH, Urteil vom 12.10.1977, BGHSt 27, 274 (276) = JR 1978, 246 (247); auch die weiteren Senate schlossen sich der Auffassung an, dass eine dem Beschleunigungsgebot zuwiderlaufende Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden müsse, BGH, Urteil vom 03.02.1982, NStZ 1982, 291 (292); BGH, Beschluss vom 30.11.1982, NStZ 1983, 167. 82  EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (378), der richtungsweisend die Möglichkeit der Kompensation einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK durch Strafmilderung oder Verfahrenseinstellung aufzeigte, dies jedoch mit dem Erfordernis verband, dass die staatlichen Stellen die Konventionsverletzung im Rahmen der Kompensation „ausdrücklich oder in der Sache“ anerkennen und deshalb die Wiedergutmachung leisten. 79  OLG



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 91

sungsgerichts, dass der deutsche Gesetzgeber keine Regelung über Rechtsfolgen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots im Strafverfahren getroffen habe, enthält der Beschluss einen unmissverständlichen Appell an die Strafverfolgungsbehörden bzw. Strafgerichte, die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen aus einer rechtsstaatswidrigen Verletzung des Beschleunigungsgebots in Anwendung und Auslegung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen.83 Hierbei seien zunächst Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a StPO in Betracht zu ziehen, und sollte eine angemessene Reaktion hierdurch nicht möglich sein, müsse der Umstand der überlangen Verfahrensdauer „im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung“ berücksichtigt werden.84 Darüber hinaus merkte das Gericht bereits in dieser Entscheidung, unter Bezugnahme auf die Auslegung der EMRK durch den EGMR an, dass es nahe liege, bei einer Kompensation sowohl die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festzustellen als auch das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstandes näher zu bestimmen.85 Im Folgenden bestätigte der BGH diese Rechtsprechung eines „schuldunabhängigen Strafmilderungsgrundes“86 der überlangen Verfahrensdauer und führte sie fort, indem er ausdrücklich unterschied zwischen dem Strafzumessungsgrund der langen Zeitspanne zwischen Beendigung der Tat und ihrer Aburteilung (Tatferne) und der besonderen Strafmilderung aufgrund einer der Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zuwiderlaufenden Verfahrensverzögerung.87 Einen weiteren Aspekt fügte der BGH im Jahr 1992 hinzu. Neben der Feststellung, dass es sich bei der überlangen Verfahrensdauer um einen „wesentlichen Strafmilderungsgrund“ handele, wies der Senat in einem Verfahren wegen Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967. Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967. 85  BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967; so auch Kühne, der zur Entscheidung des EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland anmerkte, dass auch das Ausmaß der Wiedergutmachung erkennbar sein müsse, Kühne, EuGRZ 1983, 382 (383). 86  So auch Bruns, MDR 1987, 177 (181). 87  BGH, Beschluss vom 29.11.1985, NStZ 1986, 217 (218); BGH, Beschluss vom 29.03.1988, StV 1988, 295; BGH, Beschluss vom 06.09.1988, NJW 1990, 56; BGH, Beschluss vom 24.07.1991, NStZ 1992, 78. 83  BVerfG, 84  BVerfG,

92

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

darauf hin, dass die lange Verfahrensdauer bereits bei der Strafrahmenwahl Berücksichtigung finden müsse.88 Anschließend gestaltete das BVerfG seine Rechtsprechung weiter aus, wandte diese auch auf Ordnungswidrigkeitenverfahren an und bekräftigte die Anwendung der Strafzumessungslösung. Zunächst wurde die Einschätzung, die vermeidbaren Belastungen durch überlange Verfahrensdauer kämen der angestrebten Sanktion gleich, auf Bußgeldverfahren übertragen und gleichsam festgestellt, diese Belastungen „treten mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach das Bußgeld verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss“, so dass die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung Auswirkungen auf die Höhe des konkret festzusetzenden Bußgelds habe, wenn sie nicht im Extremfall sogar zur Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG führen müsse.89 Hinsichtlich der Strafverfahren wurde seitens des BVerfG in zwei weiteren Entscheidungen festgestellt, dass bei zunehmender Verzögerung des Verfahrens die zusätzlichen fühlbaren Belastungen hierdurch in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss, trete und sich die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung auswirken „muss“,90 was dann im Folgenden vom BGH so aufgenommen wurde.91 b) Unterscheidung der strafzumessungsrelevanten Sachverhalte Einen weiteren Meilenstein der Rechtsprechung im Bereich der Entwicklung der Strafzumessungslösung stellt die Entscheidung des BGH vom 21.12.1998 dar, deren Kernaussagen bis zuletzt Gültigkeit hatten. In dem Beschluss wurde ausdrücklich festgestellt, dass der Tatrichter bei überlanger Verfahrensdauer grundsätzlich drei verschiedene Strafmilderungsgründe zu unterscheiden und zu bedenken habe. Dies sind der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil, die Belastungen durch die lange Verfahrensdauer sowie darüber hinaus die Verletzung des in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK garan88  BGH,

Beschluss vom 22.01.1992, NStZ 1992, 229 (230). Beschluss vom 19.03.1992, NJW 1992, 2472 (2473). 90  BVerfG, Beschluss vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254 (3255); BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994, NJW 1995, 1277; BVerfG, Beschluss vom 07.03.1997, NStZ 1997, 591. 91  BGH, Beschluss vom 29.04.1997, StV 1997, 408; BGH, Beschluss vom 16.07.1997, StV 1998, 377; BGH, Beschluss vom 23.07.1997, wistra 1997, 347. 89  BVerfG,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 93

tierten Beschleunigungsgebots.92 Die für den letztgenannten Strafmilderungsgrund notwendig festzustellenden Umstände seien durch den Tatrichter als „gerichtskundige Tatsachen im Wege des Freibeweises“ zu erheben, anschließend sei im Urteil Art und Ausmaß der Verzögerung festzustellen und in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen.93 Der BGH hatte sich im Folgenden wiederum mit den Auswirkungen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen auf die Strafrahmenwahl zu beschäftigen. So wurde in einem Verfahren wegen Mordes geprüft, ob ausnahmsweise besondere Umstände vorliegen, aufgrund derer die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre und eine Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, die zu einer Milderung der absolut angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe führen könne, zu erfolgen habe.94 Letztlich wurde dies abgelehnt und zur Begründung angeführt, dass hier keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern, wie vom Großen Senat des BGH95 gefordert. Außerdem habe sich der Gesetzgeber mit der gänzlichen Beseitigung der Verjährung beim Mordtatbestand deutlich dahingehend positioniert, dass derartige Tatsachen für die Ahndung der Tat keine Rolle spielen. Diese Rechtsprechung zur Frage der Auswirkung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen beim Mordtatbestand bekräftige der BGH in einer weiteren Entscheidung. Er führte nochmals aus, dass eine Kompensation aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK durch Absehen von der lebenslangen Freiheitsstrafe regelmäßig nicht in Betracht komme.96 Kurz darauf entschied das BVerfG, dass die grundsätzlich als nachteilige Tatfolge über die Würdigung der Person des Angeklagten gemäß § 46 Abs. 2 StGB bei der Strafzumessung zu berücksichtigende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung („personenbezogener Schuldmilderungsgrund“) in Fällen der Verurteilung wegen Mordes regelmäßig keine Berücksichtigung finden könne.97 „Der Mordparagraph verfügt über keinen Strafrahmen, der Gelegenheit dazu böte, Schuldmilderungen als Folge einer unangemessenen Verfahrensdauer gegen die Tatschuld abzuwägen“, zudem habe der Gesetzgeber durch die ausdrückliche Herausnahme des Verbrechens des Mordes 92  BGH,

Beschluss vom 21.12.1998, NJW 1998, 1198. Beschluss vom 21.12.1998, NJW 1998, 1198 (1199). 94  BGH, Urteil vom 21.02.2002, StV 2002, 598 (599). 95  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 19.05.1981, BGHSt 30, 105 = NJW 1981, 1965. 96  BGH, Urteil vom 07.02.2006, NJW 2006, 1529 (1535). 97  BVerfG, Beschluss vom 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (681 f.). 93  BGH,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

aus der Verjährung deutlich gemacht, dass bei diesem Delikt lange zurückliegende Taten keine Auswirkungen auf die Schuld haben sollen, so dass die Anwendung der Strafzumessungslösung insoweit in der Regel ausscheide.98 Darüber hinaus ließ es das Verfassungsgericht offen, ob Ausnahmefälle denkbar seien, bei denen bei längerem Zeitablauf zwischen Tatbegehung und rechtskräftiger Verurteilung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ein Abrücken von der lebenslangen Freiheitsstrafe erforderlich sein könnte.99 In weiteren Entscheidungen wies das BVerfG darauf hin, dass die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingend bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen sei. Ihre Auswirkungen können der Sanktion selbst gleichkommen, so dass das Prinzip des verhältnismäßigen Strafens verletzt sei und im Falle eines solchen, mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht im Einklang stehenden überlangen Verfahrens sorgfältig geprüft werden müsse, „ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann“.100 Zur Art und Weise der Strafreduzierung bei zu bildenden Gesamtstrafen gab der BGH zu bedenken, dass aufgrund der Verfahrensverzögerung sowohl jeweils die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe(n) zu ermäßigen seien, dies jedoch nicht dahin verstanden werden dürfe, dass die gebotene Ermäßigung im Sinne eines „doppelten Rabatts“ gewährt werde.101 Deshalb empfehle es sich, sowohl bei den Einzelstrafen wie auch bei der Gesamtstrafe die Strafhöhe vor und nach Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung konkret anzugeben und damit jeden Zweifel über das Ob und das Maß der Reduzierung auszuräumen.102 c) Verfahrensverzögerung im Jugendstrafverfahren Erstmals äußerte sich der BGH im Jahre 2002 zu der Frage, wie der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Jugendstrafverfahren zu begegnen ist. Neben der Feststellung, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte bei Jugendsachen mehr noch als im Verfahren gegen Erwachsene gehalten seien, alles zu tun, um unnötige Verfahrensverzögerungen zu vermeiden, hielt er es für „bedenklich“, die im Erwachsenenstrafrecht gelten98  BVerfG,

Beschluss vom 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (681 f.). Beschluss vom 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (682). 100  BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003, NJW 2003, 2225; BVerfG, Beschluss vom 27.07.2003, NJW 2003, 2897; BVerfG, Beschluss vom 21.01.2004, BVerfGK 2, 239 (247); BVerfG, Beschluss vom 23.09.2005, NJW 2005, 3485 (3486). 101  BGH, Beschluss vom 14.05.2002, NStZ 2002, 589; BGH, Beschluss vom 17.06.2003, NStZ 2003, 601. 102  BGH, Beschluss vom 17.06.2003, NStZ 2003, 601. 99  BVerfG,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 95

den Grundsätze zur Kompensation überlanger Verfahren durch strafmildernde Berücksichtigung uneingeschränkt, „schablonenhaft“ auf das Jugendstrafrecht zu übertragen.103 Die Kompensation von Verfahrensverzögerungen dürfe nicht dazu führen, dass die zur Erziehung erforderliche Dauer der Jugendstrafe unterschritten und dadurch die Erreichung des Erziehungsziels gefährdet werde, so dass kein mathematischer Abschlag vorgenommen werden könne, sondern nur soweit eine strafmildernde Berücksichtigung zu erfolgen habe, als Gedanken des Schuldausgleichs in die Strafzumessung einfließen können.104 Das BVerfG hingegen lässt eine in diese Richtung zielende Problematisierung vermissen, als es auch hinsichtlich jugendlicher und heranwachsender Straftäter grundsätzlich eine ausdrückliche Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebots und des Ausmaßes der Berücksichtigung dieses Umstands bei der Strafbemessung für erforderlich hält und dort lediglich im Rahmen der Strafzumessung die erzieherischen Gesichtspunkte auch im Hinblick auf die Verfahrensdauer Beachtung finden sollen.105 d) Erste kritische Töne in der Rechtsprechung Einen ersten kritischen Einwand zur Strafzumessungslösung formulierte bezeichnenderweise der 3. Strafsenat des BGH in einer Entscheidung vom 07.06.2005. Er bemerkte, dass die in der Rechtsprechung des BVerfG zur Verfahrensverzögerung nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK geforderte numerische Kompensation im Strafzumessungsrecht ein „Fremdkörper“ sei, der auf diesen Fall, sowie die Fälle tatprovozierenden Verhaltens von Lockspitzeln, beschränkt bleiben und nicht auf alle anderen Strafmilderungs- und Straferschwerungsgründe ausgedehnt werden solle.106 Etwas vorsichtiger formulierte der 5. Strafsenat des BGH seine Kritik, als er anmerkte, dass eine erhebliche strafmildernde Wirkung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel generell den Zielen effektiver Verteidigung der Rechtsordnung „widerstreitet“.107 103  BGH,

Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364. Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364 (365); dies wird durch eine spätere Entscheidung bestätigt, in welcher der BGH nochmals betont, dass es im Jugendstrafverfahren „nicht möglich [ist], im Wege der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung einen bezifferten Abschlag von der erzieherisch gebotenen Strafe vorzunehmen“, Beschluss vom 26.10.2006, NStZ-RR 2007, 61. 105  BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003, NJW 2003, 2225 (2227 f.). 106  BGH, Beschluss vom 07.06.2005, NStZ-RR 2006, 201 (202). 107  BGH, Urteil vom 08.08.2006, StV 2007, 461 (462). 104  BGH,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

3. Meinungsstand in der Literatur Die Rechtsprechungsentwicklung sowohl hinsichtlich der Verfahrenshindernislösung als auch der Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung wurde durch die Literatur von Beginn an eng begleitet und kontrovers diskutiert. a) Verfahrenshindernislösung aa) Befürworter Mit Schenk fand die Annahme eines Verfahrenshindernisses für die Verletzung des Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist einen frühen Befürworter. Er führte zur Begründung zwei alternative Argumente an. Zum einen stellte er darauf ab, dass es „nicht rechtens“ sein könne, dass der Staat seinen Strafanspruch in einem Verfahren unter Verletzung einer grundlegenden Rechtsgarantie, die dem Schutz des Angeklagten dient, zu dessen Lasten durchsetze. Denn hierdurch sei der staatliche Strafanspruch verwirkt. Darüber hinaus ließe sich ein Verfahrenshindernis auch über eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Strafverfolgungsverjährung begründen. Denn wenn schon der Ablauf der nur innerstaatlich vorgesehenen und jederzeit abänderlichen Strafverfolgungsverjährungsfrist ein Verfahrenshindernis darstelle, so müsse dies umso mehr für eine auf andere Weise nicht wiedergutmachbare Verletzung des „Grundrechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist“ nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 2 GG gelten.108 Zudem stellte er bereits früh fest, dass Art. 13 EMRK bei Konventionsverstößen eine wirksame Abhilfemöglichkeit erfordere, die im Verlust des staatlichen Strafanspruchs zu sehen sei.109 Dem folgte zunächst Peters und führte aus, dass sich bei überlanger Verfahrensdauer, bei der sich die staatlichen Strafverfolgungsorgane „prozesswidrig“ verhielten, die Parallele zur Verjährung aufdränge und deshalb die Annahme eines Prozesshindernisses die sachgemäße Lösung sei.110 Auch Imme Roxin befasste sich in ihrer 1988 erschienenen Monographie ausführlich mit den Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße – unter anderem wegen überlanger Verfahrensdauer – und führte hierbei aus, dass es grundsätzlich möglich sei, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung bei einem Verstoß gegen tragende Verfassungsgrundsätze – insbesondere gegen das Rechtsstaatsprinzip – ein Verfahrenshindernis extra legem zu entwickeln, da eine dogmati108  Schwenk,

ZStW 79 (1967), 721 (736 f.). ZStW 79 (1967), 721 (740). 110  Peters, JR 1978, 247. 109  Schwenk,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 97

sche Regelungslücke bestehe.111 Daraus schloss sie, dass in Extremfällen, in denen die unnötigen Verfahrensverzögerungen bereits den Regelstrafrahmen der abzuurteilenden Tat ausgeschöpft haben, ein solcher Verstoß vorliege und das Verfahren aufgrund eines Verfahrenshindernisses einzustellen sei.112 Sollte der Betroffene bereits Untersuchungshaft erlitten haben, liege ein solcher Verstoß bereits dann vor, wenn die Zeit der Untersuchungshaft und die Verzögerungen zusammen den Regelstrafrahmen ausschöpfen. Zur Begründung wurde angeführt, dass entgegen der Auffassung des BGH die Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht im Wege einer wertenden Gesamtwürdigung zahlreicher Umstände festzustellen sei, sondern dies vielmehr durch eine reine Tatsachenprüfung erfolge, inwieweit die tatsächliche Verfahrensdauer die notwendige übertroffen habe.113 Auch dem Argument, dass der Unschuldige die zeitliche Verzögerung besonders belastend empfinde und ihm nur mit einem Freispruch gedient sei, wird entgegnet, dass nicht jeder Freispruch eine zufriedenstellende Begründung enthalte und eine Verfahrenseinstellung, die sich nicht zu eventuell bestehenden, schwerwiegenden Verdachtsmomenten äußert, für den Betroffenen deutlich weniger belastend sein könne, zumal es äußert selten sein dürfte, dass sich die Unschuld eines Verdächtigen erst nach überlangem Strafverfahren herausstellt.114 Hieraus entwickelte sich eine starke Strömung in der Literatur, die – eng an die von der Rechtsprechung entwickelte Argumentation angelehnt115 – für außergewöhnliche Sonderfälle die Annahme eines Verfahrenshindernisses grundsätzlich befürwortete.116 Hervorzuheben ist hiervon die Argumentation von Waßmer,117 der eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für die Annahme eines Verfahrenshindernisses in den Fällen sah, wenn ein irreparabler Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Positionen vorliegt und eine weitere Durchführung des Verfahrens ausscheidet, um für materielle Gerechtigkeit und Rechtsfrieden zu sorgen. Ansonsten würde der Zweck des Verfahrens verfehlt.118 In Extremfällen sei eine weitere Durchführung des Verfahrens infolge der nicht legitimierbaren Vertiefung des 111  I.

Roxin, Rechtsfolgen, S. 185, 243. Roxin, Rechtsfolgen, S. 250. 113  I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 244. 114  I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 248 f. 115  Hierzu siehe oben unter C. II. 1. 116  I. Roxin, StraFo 2001, 51; Kempf, StV 2001, 134 (135); I. Roxin, StV 2001, 490 (491); Ostendorf / Radke, JZ 2001, 1094 (1096); Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1973); Ambos, NStZ 2002, 628 (631); I. Roxin, StV 2003, 377; Trurnit / Schroth, StraFo 2005, 358 (363); Krehl / Eidam, NStZ 2006, 1 (10); Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (187 ff.). 117  ZStW 118 (2006), 159. 118  Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (188). 112  I.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Rechtsverstoßes unmöglich, andernfalls würde der Beschuldigte zum bloßen Objekt staatlichen Handelns und der Wahrheitsfindung um jeden Preis. Zudem liege auch ein Verstoß gegen Treu und Glauben vor, wenn die Durchsetzung des Strafanspruchs durch die staatlichen Strafverfolgungsorgane extrem verzögert werde, so dass die weitere Durchsetzung dann aufgrund Verwirkung ausgeschlossen sei.119 Aus dem Kreis der grundsätzlichen Befürworter eines Verfahrenshindernisses erfolgten jedoch kritische Reaktionen auf das vom BGH herangezogene Prüfkriterium der Schuld des Angeklagten im Rahmen der Bewertung der Verfahrenslänge. Zum einen wurde angeführt, dass die Anknüpfung an den dem Angeklagten zuzurechnenden Schuldumfang bei der Feststellung des Verfahrenshindernisses gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK verstoße. Es sei mit dieser nicht vereinbar, wenn bei der Begründung der Verfahrenseinstellung auf die Schuld abgestellt werde, ohne zuvor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt zu haben.120 Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass die Schwere des Tatvorwurfs und der Schuld keine Auswirkungen auf die angemessene Verfahrenslänge haben dürfe, da auch der mit einem gewichtigen Schuldvorwurf konfrontierte Angeklagte einen Anspruch darauf habe, dass dieser binnen angemessener Frist geklärt wird. Insbesondere sollen die Justizbehörden nicht aufgrund der Schuld des Angeklagten berechtigt sein, ein Verfahren unnötig in die Länge zu ziehen.121 Zudem könne die Schuld des Angeklagten schon deshalb kein Kriterium für die Bejahung eines Verfahrenshindernisses sein, weil sie eine Wertung voraussetze, Verfahrenshindernisse jedoch jeweils an Tatsachen anknüpfen, die jederzeit im Verfahren geklärt werden können, ohne dass erst die Durchführung einer Hauptverhandlung notwendig sei.122 Für die Frage einer Verfahrenseinstellung sei vielmehr allein entscheidend das Gewicht der anzulastenden Verfahrensverzögerung und die daraus folgenden Auswirkungen auf den Betroffenen aufgrund dieser „unberechtigte[n] zusätzliche[n] Bestrafung“.123 Abzustellen sei auf den Regelstrafrahmen der anzuwendenden Strafvorschriften, wobei ein Verfahrenshindernis dann anzunehmen sei, wenn die Verfahrensüberlänge bereits 119  Waßmer,

ZStW 118 (2006), 159 (189). StV 2001, 134 (135 f.) mit Hinweis u. a. auf die Entscheidung des EGMR im Fall Minelli . / . Schweiz, Urteil vom 25.03.1983, EuGRZ 1983, 475, worin festgestellt worden war, dass die Unschuldsvermutung verletzt sei, wenn eine gerichtliche Entscheidung zum Ausdruck bringt, der Angeklagte sei schuldig, ohne dass er zuvor formell für schuldig erklärt worden ist und seine Verteidigungsrechte habe ausüben können. 121  I. Roxin, StraFo 2001, 51 (52, 54); I. Roxin, StV 2001, 490 (491). 122  I. Roxin, StV 2003, 377 (378). 123  I. Roxin, StraFo 2001, 51 (54). 120  Kempf,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 99

den Regelstrafrahmen erreicht oder überschritten habe.124 Eine Verfahrens­ einstellung könne nur „ultima ratio“ sein, zudem habe der Gesetzgeber in den Strafrahmenobergrenzen die Delikte nach ihrer Schwere bewertet und aufgezeigt, bis zu welcher zeitlichen Ausdehnung der Täter eines Deliktes den Belastungen der Strafe ausgesetzt sein solle.125 Eine Begründung erfolgte teilweise auch über den „Rechtsgedanken des § 60 StGB im Wege richterlicher Rechtsfortbildung“, wonach von der Strafe abzusehen sei, da aufgrund des strafähnlichen Charakters des überlangen Verfahrens die Strafzwecke ganz oder teilweise erreicht seien und insoweit das Strafbedürfnis entfallen sei.126 Als weiteres Argument wurde vertreten, dass die Abhängigkeit der Verfahrenseinstellung wegen überlanger Verfahrensdauer von Feststellungen zur Schuld des Angeklagten verfassungsrechtlich bedenklich sei und namentlich Art. 1 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hierdurch tangiert würde. Denn dies führe im Einzelfall zur Durchführung langwieriger Beweisaufnahmen, die den bereits von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffenen und hierdurch belasteten Beschuldigten weiterer erheblicher Belastungen aussetze.127 Um den aufgezeigten Schwierigkeiten zu entgehen, wurde die Möglichkeit erörtert, die Entscheidung, ob ein Verfahrenshindernis anzunehmen sei, an eine hypothetische Schuldprüfung anzuknüpfen.128 Eine solche sei nicht mit einer vorgerichtlichen Schuldfeststellung zu vergleichen, zudem gehe es bei der Sanktionierung überlanger Verfahrensdauer um die Frage einer schuldangemessenen Strafe, bei der die zusätzlichen Belastungen durch die Verfahrensüberlänge zu berücksichtigen sei.129 Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei deshalb die Entscheidung darüber, ob ein Verfahrenshindernis angenommen werden müsse, nicht anhand der tatsächlich festzustellenden Schuld, sondern mithilfe einer hypothetischen Schuldprüfung vorzunehmen.130 Im Falle extremer Verfahrensverzögerung könne jedoch zudem ausnahmsweise eine rein formale Anknüpfung erfolgen könne: Ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen diene auch dem öffentlichen Interesse, so dass in Extremfällen aufgrund der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs und zur Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane eine weitere Strafverfolgung im Interesse des Rechtsfriedens ausgeschlossen ist und hierzu eine absolute zeitliche 124  I.

Roxin, StV 2001, 490 (492), I. Roxin, StV 2003, 377 (379). Roxin, StraFo 2001, 51 (54). 126  I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 250 ff. 127  Trurnit / Schroth, StraFo 2005, 358 (363 f.). 128  Ambos, NStZ 2002, 628 (631); Trurnit / Schroth, StraFo 2005, 358 (364). 129  Ambos, NStZ 2002, 628 (632). 130  Trurnit / Schroth, StraFo 2005, 358 (364). 125  I.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Grenze zu setzen sei.131 Die Festlegung der absoluten zeitlichen Grenze könne die Summe der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen die Fristen der Verfolgungsverjährung des § 78 StGB ausschöpfen, da es um die Wiederherstellung des Rechtsfriedens aufgrund Zeitablaufs gehe und die entsprechende Anwendung der gestuften Fristenregelung des § 78 Abs. 3 StGB zu sachgerechten Lösungen führe. Hierbei scheide ein Verfahrensabbruch nur beim Verbrechenstatbestand des Mordes nach § 211 StGB mangels Annahme eines Verfahrenshindernisses aus.132 bb) Ablehnende Meinungen Gewichtige Stimmen in der Literatur sprachen sich auch gegen die Möglichkeit der Annahme eines Verfahrenshindernisses bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung aus. Dies könne weder aus der EMRK noch dem deutschen Recht entnommen werden. Art. 6 EMRK sehe spezielle Sanktionen für eine Verletzung nicht vor, so dass die EMRK sie auch nicht konkludent in Form des Verfahrenshindernisses kenne, zumal auch die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs nicht auszuschließen sei.133 Ein Verfahrenshindernis könne sich auch nicht aufgrund einer (ergänzenden) Rechtsfortbildung ergeben, da die gesetzliche Wertung der Verfolgungsverjährungsfristen eindeutig sei und keinen weiteren Raum biete die vorhandene Regelungslücke in diesem Sinne zu schließen.134 Auch im Vergleich mit den ansonsten im strafprozessualen System vorhandenen Verfahrenshindernissen sei festzustellen, dass diese sich an einigermaßen exakt beschreibbare und beschriebene Ereignisse knüpfen, die eine Sachentscheidung ausschließen. Dies müsse von der Rechtsstaatswidrigkeit des Verfahrens bzw. von Verstößen gegen das Fairnessgebot unterschieden werden, die eine „andere Qualität“ besitzen.135 Zudem führe die gegenteilige Auffassung zu 131  Waßmer,

ZStW 118 (2006), 159 (192). ZStW 118 (2006), 159 (193). 133  Hanack, JZ 1971, 705 (708). 134  Hanack, JZ 1971, 705 (712 ff.); ähnlich auch Wohlers, wonach es abzulehnen sei, ein Verfahrenshindernis sowohl an die Wertung, dass die Verfahrensverzögerung ein bestimmtes Quantum überschritten habe, was zu einer qualitativen Neubewertung führen müsse, anzuknüpfen, als auch es dann anzunehmen, wenn der Zeitraum der Untätigkeit das Höchstmaß einer möglichen Freiheitsstrafe übersteigt, Wohlers, JR 1994, 138 (141). 135  Rieß, JR 1985, 45 (48); Im Ergebnis ähnlich auch Kohlmann, der ebenfalls ein Verfahrenshindernis ablehnte und kritisch anmerkte, dass die Bewertung extremer Überlänge des Verfahrens von einer Vielzahl von Einzelumständen abhänge, sich keine verbindliche Grenzziehung vornehmen lasse und es somit für den Betroffenen „kaum vorhersehbar“ sei, wann ein Verfahrenshindernis vorliege, Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 203 (211). 132  Waßmer,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 101

verfassungswidrigen Konsequenzen, da keine hinreichend fixierbaren Kriterien zur Bestimmung des Verfahrenshindernisses bestehen, so dass die Abwägung nicht „ohne Willkür“ erfolgen könne.136 Auch aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung könne sich kein Verfahrenshindernis ergeben. Rechtsmissbräuchlich und daher verwirkt können nur Rechtspositionen sein, die in einem besonderen Zusammenhang mit der verletzten Rechtspflicht stehen.137 Da jedoch zwischen dem Anspruch des Beschuldigten auf ein prozessordnungsgemäßes Verfahren und dem Anspruch des Staates auf verbindliche Klärung einer bestehenden Verdachts­ situation kein qualifizierter Zusammenhang bestehe, könne die Verletzung prozessualer Bestimmungen die Berechtigung und Verpflichtung des Staates zur Verwirklichung des materiellen Strafrechts „weder begrenzen noch aus­ schließen“.138 Einen weiteren Aspekt fügte Rieß hinzu, der ein Verfahrenshindernis allgemein aufgrund schwerwiegender Rechtsstaatswidrigkeit nur in Form eines „Verfolgungsverbots“ bei irreparablen Schäden in Betracht zieht. Dies schließt er jedoch im Rahmen eines Strafverfahrens aus, da die Strafprozessordnung ein differenziertes Rechtsschutz- und Reaktionssystem zur Verfügung stelle, mit dem auf Verfahrensüberlänge, beispielsweise durch die Möglichkeit der Strafmilderung, hinreichend reagiert werden könne und so keine irreparablen Schäden eintreten können.139 Ähnlich argumentierte auch Scheffler, der jedoch insbesondere irreparable Konsequenzen in Form der Veränderung der Verfahrenslage aufgrund der Verzögerung und damit eintretenden Beweisverlust hervorhebt. Darauf könne jedoch beweisrechtlich – d. h. entweder durch Beweisverwertungsverbote oder Beweiserleichterungen – reagiert werden.140 Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Ablehnung eines Verfahrenshindernisses wollte Hanack für den Fall zulassen, dass ein Rechtsmittelverfahren so lange dauert, dass es selbst bei denkbar ungünstigstem Ausgang die Grenze der Vollstreckungsverjährung erreicht.141

136  Hanack,

JZ 1971, 705 (715). JR 1994, 138 (140 f.). 138  Wohlers, JR 1994, 138 (141). 139  Rieß, JR 1985, 45 (48). 140  Scheffler, Überlange Dauer, S. 274. 141  Hanack, JZ 1971, 705 (714). 137  Wohlers,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

b) Strafzumessungslösung aa) Befürworter Die vom BGH im Zusammenspiel mit dem BVerfG – unter Bezugnahme auf die Auslegung der EMRK durch den EGMR – entwickelte und nach und nach verfeinerte Strafzumessungslösung im Hinblick auf die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen fand im Grundsatz Zustimmung sowohl in Literaturbeiträgen142 als auch in der Kommentar­ literatur.143 Sie hatte sich als herrschende Meinung herausgebildet, zumal man das Gefühl haben darf, dass die Rechtsprechung – ohne dies jedoch konkret zu bezeichnen – einzelne Ideen der Literatur aufgenommen und sich zu eigen gemacht hatte, was für eine höhere Akzeptanz sicherlich förderlich war. Schon früh wurde von den Befürwortern der Strafzumessungslösung deren Legitimation in der EMRK ausgemacht. Die Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung sei der gebotene Weg des Ausgleichs, da die Kompensation durch Strafmilderung bis hin zum Absehen von Strafe und durch Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO im System der Konvention eine adäquate Form der Wiedergutmachung darstelle, die eine Verantwortlichkeit des Staates nicht entstehen lässt.144 Für den Fall eines Freispruchs wurde die Möglichkeit der Entschädigung nach Art. 50 EMRK a. F. für gegeben erachtet. Die ausdrückliche Milderung aufgrund der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ermögliche es, Verletzungen der EMRK weitgehend innerhalb des Strafverfahrens auszugleichen und ein nachfolgendes Verfahren vor den Organen der EMRK, respektive dem EGMR, überflüssig zu machen.145 Darüber hinaus wurde bei der dogmatischen Einordnung vertreten, die Strafmilderung erfolge nach § 46 Abs. 2 StGB im Rahmen der Gesamtabwägung aller für und gegen den Täter sprechenden Gesichtspunkte. Hierbei seien die nachteiligen Folgen einer überlangen Verfahrensdauer, die vom Beschuldigten strafähnlich empfunden werden, als „poena naturalis“ und 142  Krehl / Eidam,

NStZ 2006, 1 (8); Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (198). 27. Aufl., § 46 Rn. 57, die Auffassung wird auch in der Folgeauflage nach Änderung der Rechtsprechung durch den BGH hin zur Vollstreckungslösung weiter vertreten („gegen den Wechsel von der Strafzumessungszur Vollstreckungslösung sind gewichtige Einwände zu erheben“ – Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 46 Rn. 57c); Fischer, StGB, 55. Aufl., § 46 Rn. 62; MüKommFranke, § 46 Rn. 58, 62, 66; SK-StGB-Horn, § 46 Rn. 146, der zur Begründung vorrangig auf die Teilverwirkung des staatlichen Strafanspruchs abstellt. 144  Vogler, ZStW 89 (1977), 761 (783 f.); Kloepfer, JZ 1979, 209 (215 Rn. 53). 145  Uerpmann, NStZ 1995, 336. 143  Schönke / Schröder-Stree,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 103

somit nachteilige Tatfolge über den Rechtsgedanken des § 60 StGB, der regelmäßig keine direkte Anwendung finden kann, bei der Bemessung der schuldangemessenen Strafe zu berücksichtigen.146 Der strafähnliche Charakter führe dazu, dass das Strafbedürfnis sinke und dem Beschuldigten eine Strafmilderung zustehe.147 Zur Klarstellung hierzu wurde teilweise vorgeschlagen, die Problematik rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen gesetzlich zu regeln und im Rahmen des § 46 StGB ausdrücklich aufzunehmen, dass auch die Wirkungen des Verfahrens bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien.148 Einen anderen Ansatzpunkt vertrat Scheffler. Da seiner Auffassung nach eine Strafmilderung wegen der Tatferne nicht ohne weiteres dogmatisch begründbar sei, sah er anstatt eines obligatorischen Strafmilderungsgrundes des Zeitablaufs eine einzelfallorientierte, differenzierte Betrachtungsweise als geboten. Hierbei müsse geprüft werden, ob die Strafe noch als schuldangemessen empfunden werde und noch ihre general- und spezialpräventiven Wirkungen entfalte.149 Es sei das – unabhängig von der Ursache – der Blickwinkel weg vom Handlungsunrecht hin zum Erfolgsunrecht zu richten und aufgrund der Unzumutbarkeit der beim Beschuldigten  /  Angeklagten durch die Verfahrensüberlänge bestehenden Belastungen eine Strafmilderung zu gewähren und nicht wegen verzögernden Handelns.150 In diesem Zusammenhang müssen dann Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153, 153a, 154, 154a StPO, eine analoge Anwendung der §§ 354, 354a StPO sowie das Absehen von Strafe nach § 60 StGB geprüft werden, eine schematische Anrechnung entsprechend § 51 StGB scheide trotz des Schon-bestraft-Seins aufgrund des fehlenden konstanten Übercharakters der Verfahrensbelastungen aus.151 Nicht ganz eindeutig ist seine Position zur Frage, ob im Rahmen der Strafmilderung § 49 StGB angewendet werden und das gesetzliche Mindestmaß der Strafe unterschritten werden dürfe.152 Kraatz, JR 2006, 403 (405). Roxin, Rechtsfolgen, S. 232 ff. 148  Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (198). 149  Scheffler, S. 214, 218, wobei er in seiner Schlussbetrachtung wiederum feststellte, dass in der Tatferne ein fakultativer Strafmilderungsgrund liege und in diesen Fällen „Strafmilderung grundsätzlich möglich ist“ (S. 273). 150  Scheffler, S.  273 f.; Scheffler führte hierbei aus, dass Verfahrensbelastungen zu Verfahrensverzögerungen in keinem direkten Bezug stehen und deshalb der Grundsatz dahingehend lauten müsse, dass „überdurchschnittliche Belastungen, die durch das Verfahren als solches entstehen, strafmildernd zu berücksichtigen sind“, S. 224. 151  Scheffler, S. 273. 152  Während Scheffler zunächst ausführte, dass Einigkeit darüber herrsche, dass trotz Strafmilderung das gesetzliche Mindestmaß nicht unterschritten werden dürfe (S. 234), schloss er im Rahmen seiner Schlussbetrachtung eine Unterschreitung der Strafrahmenuntergrenze nicht mehr aus (S. 273). 146  Vgl. 147  I.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Ebenfalls als Befürworter der Strafzumessungslösung ist Schroth zu sehen, der bei der Festlegung der Überlänge eine eigene Differenzierung vornahm. Er unterschied zwischen „schlichter Überlänge“ für den puren, zu langen Zeitablauf seit Beendigung der Tat und „qualifizierter Überlänge“ für den Zeitraum, in welchem die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren nicht hinreichend gefördert und hiermit den Beschuldigten unnötig zusätzlich belastet haben.153 Als schlicht überlang solle das Verfahren dann einzustufen sein, wenn seit Beendigung der Tat bereits die Länge der Verfolgungsverjährungsfristen erreicht sei, mit der Konsequenz, dass „im Rahmen des Spielraums der Schuld eine Strafmilderung notwendig“ sei.154 In Fällen der qualifizierten Überlänge liege ein rechtsstaatswidriges Verhalten der Strafverfolgungsbehörden vor, das strafähnlichen Charakter habe und woraus folge, dass der Staat einen Teil seiner Strafgewalt verliere, um das zu Unrecht erlittene wiedergutzumachen. Das führe dazu, dass die qualifizierte Überlänge als schon „geleistete Strafe“ bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müsse, was nur möglich sei, wenn dem Tatrichter durch die untere Grenze des Spielraums der Schuld keine Grenze gesetzt werde und insoweit die gesetzlichen Mindeststrafen keine Geltung haben.155 Bei der konkreten Bemessung der zu leistenden Wiedergutmachung sei sowohl die „Länge der qualifizierten Überlänge“ als auch die Intensität der Belastung des Angeklagten hierdurch zu berücksichtigen.156 bb) Ablehnende Meinungen Bereits früh fanden sich ablehnende Stimmen. So wurde angeführt, dass verfahrensrechtliche Vorgänge – wozu die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu zählen sei – nicht zu einer schuldunterschreitenden Strafe führen dürfen. Die Berücksichtigung der Verfahrensüberlänge im Rahmen der Strafzumessung stelle eine systemfremde Überfrachtung der Strafzumessung mit Billigkeitserwägungen dar, die der Strafe ihre eigentliche Funktion nehmen und für die es dogmatisch keine Begründung gebe.157 Der längere zeitliche Abstand zwischen Tat und Aburteilung habe weder Indizwirkung für die Täterschuld, noch könne dies zu einer Schuldverringerung führen.158 153  Schroth,

NJW 1990, 29 (30). NJW 1990, 29 (30). 155  Schroth, NJW 1990, 29 (30). 156  Schroth, NJW 1990, 29 (31). 157  Wohlers, JR 1994, 138 (142). 158  Hillenkamp, JR 1975, 133 (138 f.), der allenfalls die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs als gehindert ansieht, was für die Annahme eines Verfahrenshindernisses spreche; Wohlers, JR 1994, 138 (141 f.). 154  Schroth,



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 105

Zudem stehe die Abhängigkeit der Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen von der Schwere des Tatvorwurfs nicht mit der EMRK im Einklang, da hierdurch nicht sichergestellt sei, dass jede Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu einer Entschädigung führt.159 Es wird auf die fehlende gesetzliche Grundlage verwiesen und insbesondere der Gesetzgeber in die Pflicht genommen, sich dieser Problematik anzunehmen und diese zu regeln.160 Darüber hinaus wurde angeführt, dass „diese Anrechnungen auf das Drastischste die – wie auch immer zu definierenden – Strafzwecke konterkarieren“.161 Eine besondere Belastung des Beschuldigten durch das Andauern der Strafverfolgung im Sinne einer echten „Poena naturalis“ liege nicht vor, da es sich weder um Nachteile aus der der Tat selbst noch als direkte Folge der Tat handle, auch könne eine Berücksichtigung des Verstoßes gegen die EMRK nicht durch Annahme eines Strafmilderungsgrundes erfolgen, da das Schuld-Sühne-Prinzip nicht für spezial­ präventive Erwägungen aufgegeben werden dürfe und eine entsprechende Berücksichtigung hinsichtlich des Resozialisierungsziels der Strafe „eher kontraindiziert“ sei.162 Vereinzelt wurde die Strafzumessungslösung wegen ihrer „unzuträglichen Mathematisierung“163 beziehungsweise als „Fremd­ kör­per“164 im Rahmen der Strafzumessung abgelehnt, teilweise jedoch ohne alternative Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Weitere Kritik entzündete sich an der Problematik der mangelnden Anwendbarkeit der Strafzumessungslösung bei Verhängung von lebenslanger Freiheitsstrafe im Rahmen des Mordtatbestands. Insoweit bestehe die Möglichkeit, Strafabstufungen im Rahmen der Festsetzung der Mindestverbüßungsdauer gemäß § 57a StGB vorzunehmen oder – da die Kompensation für überlange Verfahren entsprechend der Rechtsprechung des EGMR einen Ausgleich für objektives Verfahrensunrecht darstelle – aus Gesichtspunkten der Strafzumessungsschuld auch eine Reduzierung der Strafe bei absoluter Strafandrohung in Betracht zu ziehen sei, was über eine entsprechende Anwendung von § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfolgen könne.165 Alternativ wurde die Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB über die Heranziehung der vom Großen Senat des BGH für den Heimtückemord entwickelten Rechtsfolgen159  Kraatz, JR 2006, 403 (405  f.), der ausführte, dass insbesondere bei dem schwersten vorstellbaren Tatvorwurf des Mordes aufgrund dessen absoluter Strafandrohung eine Strafmilderung nicht erfolgen könne. 160  Hillenkamp, JR 1975, 133 (134); Kraatz, JR 2006, 403 (408). 161  Paeffgen, StV 2007, 487. 162  Paeffgen, StV 2007, 487 (490 Fn. 26 und 27). 163  Schäfer, Strafzumessung, 3. Aufl., Rn. 443. 164  Basdorf, 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 57; Kraatz, JR 2006, 403 (406). 165  Krehl, ZIS 2006, 168 (177 ff.).

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

lösung166 auch auf rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen erwogen. Dort sei die Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB aus Gründen der im Rechtsstaatsprinzip verankerten Verhältnismäßigkeit erfolgt, so dass dies erst Recht bei konventionswidrigen Verfahrensverzögerungen mit besonderen sanktionsähnlichen Belastungen – die schuldmindernd wirken und den erhobenen Unrechtsvorwurf relativieren – gelten müsse.167 cc) Anwendung im Jugendstrafverfahren Diskutiert wurde des Weiteren über die Anwendung der Strafzumessungslösung bei Verurteilungen unter Anwendung von Jugendstrafrecht. Die diesbezüglich ablehnende Entscheidung des BGH168 erfuhr ausführlich begründete Kritik. Diesem „Sonderweg“ für das Jugendstrafrecht konnte nicht zugestimmt werden. Dies wurde zum einen damit begründet, dass auch bei Berücksichtigung des Erziehungszwecks im Rahmen der Strafzumessung unter Anwendung von Jugendstrafrecht nur eine „gerechte und als gerecht empfundene Strafe einen pädagogischen Wert“ habe und insbesondere eine das Maß der Schuld überschreitende Strafe dem Erziehungsgedanken entgegen stehe.169 Da Maßnahmen des Jugendstrafrechts nur dann ihre volle erzieherische Wirkung entfalten können, wenn sie zeitnah im Anschluss an die Tat angeordnet und vollzogen werden, bestehe ein „limitierender Zusammenhang zwischen Maß der Schuld und Erziehungsgedanken“, so dass die Verfahrensverzögerung bei der Bestimmung der Schuld zu berücksichtigen sei und „über den Faktor der Schuld begrenzend auf den erzieherisch nutzbaren Bereich der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen“ einwirke.170 Auch gelte im Jugendstrafrecht ebenso das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Ausfluss des verfassungsrechtlich garantierten Rechtsstaatsprinzips. Dieses gebiete – unter Einschränkung des Erziehungsgedankens – die 166  Siehe hierzu BGH, Beschluss des Großen Senats vom 19.05.1981, BGHSt 30, 105 = NJW 1981, 1965, der ausführte, dass „eine abschließende Definition oder Aufzählung“ der für ein Abrücken von der absoluten Strafandrohung des Mordtatbestandes in Frage kommenden Umstände nicht erfolgen könne, BGHSt 30, 105 (119), und eine Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB dann erfolge, wenn die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheine, BGHSt 30, 105 (118) – vgl. bereits oben unter C II 2 b). 167  Hoffmann-Holland, ZIS 2006, 539 (539 f.); Gaede, JR 2007, 254 (254 f.), der insoweit hinsichtlich der „verfassungs- und konventionskonformen Handhabung des Mordtatbestandes“ von einer „erweiterten Rechtsfolgenlösung“ sprach. 168  BGH, Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364, näher hierzu siehe oben unter C. II. 2. c). 169  Rose, NStZ 2003, 588 (589 f.). 170  Rose, NStZ 2003, 588 (590).



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 107

­ erücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der B Strafzumessung, da auch dort die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse.171 Zum anderen wurde angeführt, dass Verfahrensverzögerungen lediglich nur ganz entfernt mit dem verschuldeten Unrecht der begangenen Tat zu tun haben können. Deshalb sei die überlange Verfahrensdauer auch bei Jugendlichen über die Tatsache der hierdurch bestehenden zusätzlichen Verfahrensbelastungen strafmildernd zu berücksichtigen. Hierzu müsse § 52a S. 1 JGG entsprechend angewendet werden.172 Die Ausnahmetatbestände des § 52a S. 2 und 3 JGG seien jedoch nicht heranzuziehen, da erzieherische Gründe für eine Nichtanrechnung angesichts der Einschätzung der Wirkungen des Jugendstrafvollzugs nicht ersichtlich seien und „die kürzeste Dauer die noch erzieherischste“ sei.173 c) Entschädigungsanspruch statt Strafmilderung Als alternative Lösungsmöglichkeit wurde ein Entschädigungsanspruch erwogen. Die dogmatische Herleitung erfolgte von Kraatz über den allgemeinen Amtshaftungsanspruch nach § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, „der die schuldhafte Amtspflichtverletzung erschöpfend regelt und damit § 823 Abs. 2 BGB iVm Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verdrängt“.174 Bei der Berechnung der zuzugestehenden Entschädigung könne jedoch keine direkte Parallele zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme gezogen werden, da eine solche durch die Verfahrensverzögerung nicht vorliege. Deshalb sei auch keinesfalls der Zeitraum der rechtsstaatswidrig überlangen Verfahrensdauer als zu entschädigende Zeit einer Freiheitsentziehung anzusehen sein und auch weder aufgrund von § 51 Abs. 4 StGB noch gemäß § 7 Abs. 3 StrEG pro verzögertem Tag ein Tagessatz oder ein Euro zu gewähren. Vielmehr müsse eine Geldentschädigung gewährt werden, deren Höhe nach billigem Ermessen festzusetzen sei, wobei ein Verweis („wie auch bei“) auf Art. 41 EMRK und § 51 Abs. 4 S. 2 StGB erfolgte.175 Ebenfalls zu einer Geldentschädigung als „Entschädigung 171  Rose,

NStZ 2003, 588 (590). JR 2003, 509 (511), wobei er eine Parallele zu § 51 StGB im Erwachsenenstrafrecht zog. 173  Scheffler, JR 2003, 509 (511), der in diesem Zusammenhang darauf verwies, dass seitens des 64. DJT sogar die Streichung von § 52a S. 2 und 3 JGG empfohlen worden sei. 174  Kraatz, JR 2006, 403 (407) mit Verweis auf Palandt / Sprau, § 839 Rn. 3. 175  Kraatz, JR 2006, 403 (407). Interessant ist, dass Kraatz bereits von einem „Anrechnungsmodell“ (406) sprach. Wie jedoch dieser pekuniäre Anspruch auf eine verhängte Strafe, vor allem Freiheitsstrafe, anzurechnen sei wird nicht näher erklärt 172  Scheffler,

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

für amtspflichtwidriges Strafverfolgen“ – jedoch ohne nähere dogmatische Begründung – tendierte Paeffgen mit Verweis auf die Regelung im spanischen Recht.176 Ob ein solcher Entschädigungsanspruch, wie in Spanien, als gesonderter Anspruch gegenüber dem Justizministerium geltend zu machen sei, oder im Zuge einer Art weiteren Adhäsion Inhalt des selben Verfahrens werden kann, ließ er letztlich offen, bezeichnete die letztere Variante jedoch als die pragmatischere, die auch dem Rechtsgedanken des Art. 5 EMRK Genüge tue.177 Teilweise wurde gefordert, gesetzlich einen eigenständigen Schadensersatzanspruch für die Fälle überlanger Verfahrensdauer zu schaffen.178 4. Erste Impulse zur Vollstreckungsanrechnung Während in den Jahren 2005 und 2006 zwar erste kritische Töne hinsichtlich des Strafzumessungsmodells in der Rechtsprechung des 3. und 5. Strafsenats des BGH aufgekommen waren,179 können als Geburtsstunde der Vollstreckungslösung – auch wenn sich dies später so ausdrücklich nicht in den Entscheidungen des BGH wiederfindet – die Kommentierungen zu § 46 StGB durch Gribbohm (11. Auflage) und Theune (12. Auflage) im Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch gesehen werden. Zunächst führte Gribbohm noch – mit Stand vom 01.02.1994 – aus, dass die Berücksichtigung der von den Strafverfolgungsbehörden verschuldeten Verfahrensverzögerung als verfahrensbedingter Nachteil im Rahmen der Strafzumessung kein Fremdkörper im Rahmen des geltenden Strafzumessungssystems und diesem nicht völlig fremd sei.180 Danach rückte er die Idee der Vollstreckungslösung insoweit in das Blickfeld, als er die Wahlmöglichkeit ins tatrichterliche Ermessen stellte, dass dieser entweder „die zu verhängende Strafe sodann von vornherein um dieses Strafquantum mindert oder ob er die Strafe so festsetzt, wie er es ohne die Verletzung des Beschleunigungsverbots getan hätte, und zugleich ausspricht, dass ein bestimmter Teil der Strafe im Hinblick auf den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK als verbüßt gilt“.181 Letztlich präferierte er die zweite Lösung, da die exakte und erschließt sich auch ansonsten nicht. Die Zuständigkeit des Strafrichters begründete er mit einer „Annexkompetenz […] entsprechend § 17 Abs. 2 S. 1 GVG“. 176  Paeffgen, StV 2007, 487 (494) mit Verweis auf Art. 24 Abs. 2 und Art. 121 der spanischen Verfassung in Verbindung mit §§ 292, 293 des spanischen Gerichtsorganisationsgesetzes; weiteres zur spanischen Regelung siehe unten unter G. IV. 177  Paeffgen, StV 2007, 487 (494). 178  Kraatz, JR 2006, 403 (408). 179  Näheres siehe oben unter C. II. 2. d). 180  LK-Gribbohm, 11. Aufl., § 46 Rn. 239. 181  LK-Gribbohm, 11. Aufl., § 46 Rn. 240.



II. Entwicklung der bisherigen „Strafzumessungslösung“ 109

Bestimmung des aufgrund der Verletzung der EMRK zu entschädigenden Quantums eine sinngemäße Anwendung anderer Anrechnungsregeln wie §§ 56f und 58 StGB nahe lege. Zudem seien andere Umstände, die zu Strafmilderungen oder Strafschärfungen führen, bislang nicht mit bestimmten Strafquanten berücksichtigt worden.182 Theune ruderte in der im Jahr 2006 erschienen Folgeauflage wieder etwas zurück. Er führte zwar aus, dass „zu erwägen wäre […], ob die zusätzliche Belastung des Beschuldigten durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in diesen Fällen nicht durch eine stärkere Anrechnung der Untersuchungshaft, etwa ganz oder teilweise im Maßstab 1:2 (entsprechend § 51 Abs. 4 StGB) oder dadurch kompensiert werde, dass ein Teil der Strafe als verbüßt gilt“. Dies wollte er jedoch nur auf die Fälle der Verurteilung wegen Mordes beziehen, bei denen eine Strafmilderung aufgrund der regelmäßigen zu verhängenden lebenslangen Freiheitsstrafen nicht in Betracht komme.183 Erstaunlicherweise fand die schon früh im Leipziger Kommentar geäußerte Auffassung keinen Widerhall in der wissenschaftlichen Literatur. Sie wurde weder wiedergegeben noch kritisch beleuchtet, ja geradezu mit Ignoranz belegt. Zuletzt war es Basdorf,184 der im Rahmen des 1. Karlsruher Strafrechtsdialogs am 15. Juni 2007 die Idee äußerte, dass eine Kompensation für Verletzungen des Beschleunigungsgebots durch eine Vollstreckungslösung erfolgen könne. Hiermit machte er deutlich, dass die bisherige Strafzumessungslösung innerhalb des BGH nicht unumstritten war, denn er gehörte dem 5. Strafsenat als Vorsitzender an. Dies, sowie die beiden oben genannten etwas kritischeren Töne zur Strafzumessungslösung in Entscheidungen des 3. bzw. 5. Strafsenats des BGH von 2005 und 2006, zeigt, dass es innerhalb des Gerichts brodelte, dort entsprechende Bestrebungen zur Änderung der bisherigen Rechtsprechung im Gange waren und man den Umschwung hin zur Vollstreckungslösung hätte erahnen können. Basdorf sprach im Hinblick auf die Anrechnung der Verletzung des Beschleunigungsgebots durch numerisch bezeichneten Strafabschlag ebenfalls ausdrücklich von einem „Fremdkörper in unserer Strafzumessung“, der so im System der Strafmilderungsgründe nicht vorgesehen sei.185 Vielmehr müsse eine entsprechende Anwendung von § 51 StGB in Betracht gezogen werden, da die Belastung des Angeklagten durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung einer vorweggenommenen Strafe entspreche und „sich der festgestellte Umfang der Verfahrensverzögerung durch ein damit angemessen korrespondierendes Maß an vorweg teilverbüßter Strafe kompensieren“ lie182  LK-Gribbohm,

11. Aufl., § 46 Rn. 241. § 46 Rn. 244. 184  Basdorf, 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 53 ff. 185  Basdorf, 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 57. 183  LK-Theune,

110

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

ße.186 Die Vorteile dieses in der Wirkung dem erhöhten Anrechnungsmaßstab für im Ausland erlittene, überharte Haft vergleichbaren Systems seien darin zu sehen, dass dies sowohl ein Umschwenken von zu verbüßender Freiheitsstrafe auf eine Bewährungsstrafe oder von Freiheits- auf Geldstrafe aufgrund der Verfahrensverzögerung nicht mehr ermögliche, was nach Schuldgesichtspunkten gerechter sei, sowie zudem durch eine Anrechnung auf die Mindestverbüßungszeit des § 57a StGB sogar eine Kompensation bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe erfolgen könne.187 Beachtlich bei den Ausführungen Basdorfs ist, dass auch dieser von ihm erhobene Fingerzeig ohne jeglichen Verweis auf die dargestellten ähnlichen und bereits in der Literatur geäußerten Kompensationsideen im Sinne von Entscheidungen im Rahmen der Vollstreckungsentscheidung erfolgte.

III. Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats des BGH Am 23.08.2007 läutete der 3. Strafsenat des BGH mit einem Vorlagebeschluss188 an den Großen Senat für Strafsachen des BGH den Systemwechsel von der Strafzumessungslösung hin zur Vollstreckungslösung ein. Dem Senat lag ein Revisionsverfahren vor, bei welchem von der Staatsanwaltschaft in ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision beanstandet wurde, dass das Landgericht die wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung vorgenommene Kompensation rechtsfehlerhaft durchgeführt habe. So habe das Landgericht in diesem Rahmen die gesetzliche Mindeststrafe des Straftatbestandes der besonders schweren Brandstiftung (§ 306b Abs. 2 StGB – Mindeststrafe 5 Jahre Freiheitsstrafe) in Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB unterschritten, da ansonsten die Gewährung eines bezifferten Strafabschlages auf die an sich verwirkte Strafe innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich gewesen wäre.189 Der Senat lehnte eine Herabsetzung der im Gesetz festgeschriebenen Mindeststrafen sowohl in direkter als auch in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB ab. Eine unmittelbare Anwendung scheitere daran, dass die Strafmilderung als gebotene Kompensation für überlange Verfahrensverzögerungen durch keine gesetzliche Vorschrift geregelt sei. Eine analoge Anwendung sei ebenfalls abzulehnen, da es dem Rechtsanwender – auch wenn eine analoge Anwendung nicht gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen würde – nicht freistehe, den gesetzlichen Katalog der Vorschriften, die eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorschreiben oder 186  Basdorf,

1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 58. 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 58. 188  BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, Az. 3 StR 50 / 07, NJW 2007, 3294. 189  NJW 2007, 3294 (3295). 187  Basdorf,



III. Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats des BGH 111

zulassen, nach seinen Vorstellungen durch Festlegung eines ungeschriebenen obligatorischen oder fakultativen Milderungsgrundes zu erweitern.190 Daraus schloss der Senat, dass es Konstellationen gebe, bei denen der an sich gebotene Ausgleich für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung an gesetzliche Schranken stoße, da eine Kompensation nicht oder nicht vollständig möglich sei. Die Spanne zwischen der notwendigerweise auszusprechenden, gesetzlichen Mindeststrafe und der in gravierenden Fällen möglichen Einstellung des Verfahrens aus verfassungsrechtlichen Gründen, stelle eine „Kompensationslücke“ dar, die nicht durch Herabsetzung der Mindeststrafe geschlossen werden könne. Dieses Vorgehen lasse sich weder mit den sich aus der EMRK ergebenden konventionsrechtlichen Verpflichtungen noch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips und des Übermaßverbots vereinbaren.191 Auch böte diese Möglichkeit nur eine Teillösung, da es wiederum Sachverhalte geben könne, für die eine Unterschreitung auch des bereits analog § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens erforderlich sei. Diese könne nur durch eine wiederum analoge Anwendung – jetzt des § 49 Abs. 2 StGB – geschehen, wodurch die Bindung an die Strafrahmenuntergrenze aus übergeordneten rechtlichen Gründen entfallen könne.192 Alternativ erwog der Senat, die Vorschrift des § 49 StGB ungeachtet ihrer grundsätzlichen Analogiefeindlichkeit im Wege richterlicher Rechtsfortbildung – ähnlich der Rechtsfolgenlösung bei lebenslanger Freiheitsstrafe aufgrund eines Heimtückemordes – zur Lösung eines „extremen Sonderfalls“ doch ausnahmsweise analog heranzuziehen. Aber auch diese Erwägungen wurden verworfen mit dem Hinweis darauf, dass eine verfassungs- und konventionskonforme Auslegung des Gesetzes in Form der vom Senat entwickelten „Anrechnungs- oder Vollstreckungslösung“ möglich sei und sich diese Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB stimmiger in das System strafrechtlicher Rechtsfolgenbestimmung einfüge und deshalb anzuwenden sei.193 Der Angeklagte müsse bei Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zunächst zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe verurteilt werden. Anschließend sei in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.194 Das Vollstreckungsmodell führe dazu, dass die Kompen190  NJW

2007, 2007, 192  NJW 2007, 193  NJW 2007, 194  NJW 2007, 191  NJW

3294 (3295). 3294 (3296). 3294 (3296). 3294 (3296). 3294.

112

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

sation jenseits der Strafzumessung und damit auch jenseits der Bindung an gesetzlich vorgegebene Strafrahmen erfolge und hierdurch Kompensationserwägungen abgekoppelt würden von Fragen, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolge, die Voraussetzungen für die Verhängung von Sicherungsverwahrung erfüllt seien oder ausländerrechtliche bzw. beamtenrechtliche Folgen daran anknüpften.195 Für die konkrete Durchführung der Kompensation wies der Senat darauf hin, dass nicht bei jeder Einzelstrafe anzusetzen sei, sondern dass sich der als vollstreckt geltende Teil lediglich auf die ausgesprochene Gesamtstrafe beziehe.196 Diese vom Senat vertretene Rechtsauffassung stand im Widerspruch zur bis dahin aufgrund der Vorgaben des EGMR und BVerfG entwickelten, ständigen Rechtsprechung des BGH. Da es sich bei dieser beabsichtigten Rechtssprechungsänderung hin zum Anrechnungs- bzw. Vollstreckungsmodell um eine Fortbildung des Rechts von grundsätzlicher Bedeutung handele, wurde diese Rechtsfrage dem Großen Senat für Strafsachen des BGH gemäß § 132 Abs. 4 GVG zur Entscheidung vorgelegt, ohne zuvor in ein Anfrageverfahren nach § 132 Abs. 3 GVG eingetreten zu sein, bei welchem die übrigen Strafsenate hätten erklären können, ob sie ihre bisherige Auffassung aufgeben und sich der Rechtsauffassung des anfragenden Senats anschließen würden.197

IV. Die „Vollstreckungslösung“ des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 17.01.2008 – GSSt 1 / 07 Der Große Senat entschied die ihm vorgelegte Rechtsfrage im Sinne des Vorlagebeschlusses des 3. Strafsenats. Die vom Instanzgericht vorgenommene Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafe zum Ausgleich der eingetretenen Verfahrensverzögerung gab dem Großen Senat hinreichend Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung. Im Rahmen der Erörterung der bisherigen Strafzumessungslösung kommt der Große Senat zwar zu dem Ergebnis, dass hierdurch „im Regelfall“ eine ausreichende Kompensation des rechtswidrigen Verstoßes gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung, die auch mit den Vorgaben des Grundgesetzes, der EMRK sowie des nationalen Straf- und Strafprozessrechts im Einklang stehe, möglich sei. Sie stoße jedoch „in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen“.198 Darüber hinaus habe das Vollstreckungs195  NJW

2007, 3294 (3297). 2007, 3294 (3298). 197  NJW 2007, 3294 (3298). 198  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (129) = NJW 2008, 860 (861). 196  NJW



IV. „Vollstreckungslösung“ des Großen Senats für Strafsachen113

modell weitere Vorzüge, indem Strafzumessung und Entschädigung getrennt werden und somit der schuldangemessenen Strafe die ihr sowohl in strafrechtlichen wie auch in außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion belasse.199 1. Dogmatische Grundlagen Der Große Senat verortet die rechtlichen Grundlagen der Vollstreckungslösung zunächst in den Bestimmungen der EMRK und deren Entschädigungsprinzip. Zudem möchte er zur Begründung der neuen Vollstreckungslösung „den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB fruchtbar“ machen.200 Nach dem Konzept der EMRK solle bei Vorliegen der Verletzung eines dort garantierten Menschenrechts eine Entschädigung zum Ausgleich des so entstandenen „objektiven Verfahrensunrechts“ erfolgen und die so geleistete Wiedergutmachung eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaats der ­EMRK, der für die Menschenrechtsverletzung verantwortlich zeichnet, verhindern, da so die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 EMRK entfalle. Diese Art Staatshaftungsanspruch sei allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auszurichten, „ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht“.201 Auch werde den Anforderungen der Art. 13 und 34 EMRK Genüge getan, die eine jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes erfordern, zumal für die Zahlung einer Geldentschädigung – was zur Wiedergutmachung nach der Rechtsprechung des EGMR ebenfalls möglich sei – im nationalen deutschen Recht keine Rechtsgrundlage bestehe, nachdem die Bestimmungen des StrEG, die abschließenden Charakter haben, nicht entsprechend angewendet werden können.202 Da die Belastungen durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen ebenfalls immaterielle Nachteile darstellen, die „ähnlich“ den Auswirkungen der Untersuchungshaft seien, rechtfertige dies einen Ausgleich durch Anrechnung auf die Strafe durch Heranziehung des Rechtsgedankens des § 51 199  BGH,

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (129) = NJW 2008, 860

200  BGH,

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (135) = NJW 2008, 860

(861). (863).

201  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (138) = NJW 2008, 860 (863 f.). 202  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (140) = NJW 2008, 860 (864).

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB. Da hierzu eine wertende Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen sei und sich eine schematische Anrechnung der Verzögerungsdauer verbiete, müsse dies bereits im Erkenntnisverfahren durch Feststellung der Umstände durch den Tatrichter erfolgen.203 2. Begründung Zur Begründung führt der Große Senat mehrere „gewichtige Gründe“ an, insbesondere stellt er darauf ab, dass so zunächst die nach § 46 StGB schuldangemessene Strafe ihre Funktion behalte. Hieran schließen sich andere strafrechtliche Bestimmungen, wie die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), die Verhängung (oder nachträgliche Anordnung) der Sicherungsverwahrung (§§ 66, 66a, 66b StGB), die Anordnung von Führungsaufsicht (§ 68 StGB), der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§ 45 StGB) sowie die Möglichkeit der Verhängung einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder des Absehens von Strafe (§ 60 StGB), aber auch außerstrafrechtliche Regelungen, wie beamtenrechtliche oder ausländerrechtliche Konsequenzen (§ 24 BRRG, §§ 53, 54 AufenthG), Tilgungsfristen im Bundeszentralregister (§ 46 BZRG) sowie Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 GewO), an.204 Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass die überlange Verfahrensdauer weiterhin ihre Funktion als Strafzumessungsgrund aufgrund der Reduzierung des Strafbedürfnisses aufgrund des langen Zeitabstands zwischen Tat und Verurteilung sowie der strafmildernd zu berücksichtigenden Belastungen aufgrund des gegen den Angeklagten geführten Ermittlungs- und Strafverfahrens behält und lediglich die gesondert zu bewertende und zu entschädigende rechtsstaatswidrige Verzögerung als „wesensfremder“ Vorgang aus dem Bereich der Strafzumessung herausgelöst werde. So erfolge die „Mathematisierung“ nur noch in einem Bereich (§ 51 StGB), der bereits nach der gesetzlichen Konzeption für solche Berechnungen offenstehe.205 Die Anknüpfung des Vollstreckungsmodells ausschließlich an die für die Vollstreckung allein relevante Gesamtstrafe vereinfache die Rechtsfolgenentscheidung erheblich. Zudem könne der Rechtsprechung des EGMR viel 203  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (140 f.) = NJW 2008, 860 (864 f.). 204  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (141) = NJW 2008, 860 (865). 205  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (142) = NJW 2008, 860 (865).



IV. „Vollstreckungslösung“ des Großen Senats für Strafsachen115

besser entsprochen werden, da so auch mehrere Konventionsverstöße, wie z. B. der bei Verbüßung von Untersuchungshaft doppelt vorliegende Verstoß bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 3 EMRK, gesondert zu kompensieren seien.206 Verfassungsrechtliche Vorgaben stehen der Rechtsprechungsänderung nicht entgegen, da das BVerfG insoweit der bisherigen Strafzumessungslösung habe nicht zuschreiben können, die allein zulässige Kompensationsmöglichkeit zu sein, und das Vollstreckungsmodell ebenso dem verfassungsrecht­ lichen Übermaßverbot Genüge tue.207 3. Auswirkungen / Folgen Die Auswirkungen des Systemwechsels hin zum Vollstreckungsmodell auf den Angeklagten seien nicht nur negativer Natur. Denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Zeitpunkte von Halb- und Zweidrittelstrafe schneller erreicht, wodurch die Möglichkeit der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach § 57 StGB früher erfolgen könne.208 Bei der Verhängung einer Strafe zur Bewährung ergebe sich kein Unterschied zur bisherigen Rechtslage. Es könne daran gedacht werden, die Kompensation zusätzlich in Form des Verzichts auf Bewährungsauflagen vorzunehmen, da ansonsten die Entschädigung „faktisch erst dann wirksam [werde], wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss“.209 Im Jugendstrafrecht bleibe die bislang bestehende Problematik weiterhin vorhanden. Sie müsse nunmehr lediglich an anderer Stelle verortet werden. Sei bislang zu prüfen gewesen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreite, die Strafe aufgrund der überlangen Verfahrensdauer zu mildern, müsse dies nun entsprechend bei der Frage, ob ein Teil der Strafe für vollstreckt zu erklären ist, geprüft werden.210 Der Große Senat weist zudem darauf hin, dass es bei der Kompensation im Rahmen der Vollstreckungsentscheidung nur noch um den Ausgleich für 206  BGH,

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (143) = NJW 2008, 860

207  BGH, (865 f.). 208  BGH, (866). 209  BGH, (866). 210  BGH, (866).

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (143 f.) = NJW 2008, 860

(865).

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (144 f.) = NJW 2008, 860 Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145) = NJW 2008, 860 Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145 f.) = NJW 2008, 860

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

die rechtsstaatswidrige Verursachung der langen Verfahrensdauer gehe, so dass der Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB nicht heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen sei. „Vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben“.211 Zuletzt wird ausgeführt, dass bei nachträglicher Auflösung und anschließender Neubildung einer Gesamtstrafe ebenfalls festzusetzen sei, welcher Teil dieser neuen Gesamtstrafe nach dem Vollstreckungsmodell als vollstreckt gelten solle. Hierbei habe sich das Tatgericht daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neu zu bildende Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden seien. „In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben.“212

V. Reaktionen in der Literatur Sowohl der Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats als auch die Entscheidung des Großen Senats lösten eine Flut von Besprechungen in der Literatur in Form von Anmerkungen, Aufsätzen, Beiträgen in der Kommentarliteratur sowie eigenständigen ausführlichen Abhandlungen aus. Eine kontroverse Diskussion, wie sie die Thematik bislang nicht kannte, setzte sich in Gang. Ihr war sowohl deutliche Ablehnung als auch Zustimmung zu entnehmen. 1. Zustimmung Schnell fand sich eine große Zahl von Befürwortern der neuen Vollstreckungslösung.213 Zunächst wurde hervorgehoben, dass der Systemwechsel 211  BGH,

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (147) = NJW 2008, 860

212  BGH,

Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (147 f.) = NJW 2008, 860

(866). (867).

213  Artkämper, StRR 2008, 107: „eine dogmatisch saubere und in sich schlüssige Lösung“; Bußmann, NStZ 2008, 236, wonach zwar die Dringlichkeit für den Systemwechsel nicht nachvollziehbar sei, die Vollstreckungslösung dennoch begrüßt wurde, da sie die Transparenz des Rechtsfolgenausspruchs erhöhe und für eine systemgerechtere Trennung zwischen Strafzumessung und der Kompensation für rechtsstaatswidriges Verhalten der Strafverfolgungsbehörden sorge; Heghmanns, ZJS 2008, 197 (198), wonach die Vollstreckungslösung den Vorgaben des EGMR entspreche und „zu insgesamt sachgerechteren Resultaten führe“; Keiser, GA 2008, 686 (691 f.), wonach die Vollstreckungslösung von einer „fast unwiderstehlichen Benutzerfreundlichkeit“ und „bestechenden Einfachheit“ sei; Kraatz, JR 2008, 189 (190 u. 192),



V. Reaktionen in der Literatur117

hin zur Vollstreckungslösung nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG stehe. Die bislang unbeanstandet gelassene Strafzumessungslösung bedeute nicht zwingend und ausschließlich die Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung und die Verfassungswidrigkeit einer sonstigen Berücksichtigung im Rechtsfolgenbereich, die bislang noch nicht Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Prüfung gewesen sei.214 Ein wesentlicher Vorteil der Vollstreckungslösung sei darin auszumachen, dass sie die gesetzlich vorgegebenen Mindeststrafen respektiere und sich allein am Entschädigungsgedanken der EMRK orientiere. Das durch die Verletzung des Menschenrechts entstandene objektive Verfahrensunrecht könne so ausgeglichen werden, ohne an das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld als eher sachfremde Bewertungskriterien anzuknüpfen.215 Hierdurch könne grundsätzlich zunächst die systemgerechte und an das ungemilderte Maß der Schuld geknüpfte Punktstrafe ausgesprochen werden und es komme bei der Kompensation nicht mehr auf den Strafrahmen des verwirklichten Delikts an.216 Überdies stelle die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein sachfremdes Kriterium im Bereich der Strafzumessung dar, da sie weder die Strafempfindlichkeit des Täters bzw. präventive Belange tangiere noch eine Folge der Tat sei, so dass durch die Herausnahme aus dem Kreis der Strafzumessungsfaktoren die Verhängung einer schuldunterschreitenden Strafe vermieden werde.217 Für die dogmatische Verortung in Form der analogen Anwendung des § 51 StGB wird angeführt, dass die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ähnlich der vollzogenen Untersuchungshaft eine Folge des Verfahrens der die Vollstreckungslösung jedoch nur als im Ansatz geglückt bezeichnet und letztlich ein Geldentschädigung bevorzugt; Peglau, NJW 2007, 3298 (3299), sprach der Vollstreckungslösung „großen Charme“ sowie einen „positiven Eindruck“; Reich, S. 280: „Die Vollstreckungslösung ist […] das richtige Instrument zur Kompensation von Verfahrensverstößen der unangemessen langen Verfahrensdauer“; Schmitt, StraFo 2008, 313 (315), der von einem „Paradigmenwechsel“ spricht; Volkmer, NStZ 2008, 608: „vorbehaltlose Zustimmung“ zum Systemwechsel; BeckOK-StGB-von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 61.1, wonach sich das Vollstreckungsmodell besser in das System der Straffolgen einpasse; Weber, JR 2008, 36 (37): „hat die Anrechnungslösung viel für sich“. 214  Bußmann, NStZ 2008, 236 (237); Keiser, GA 2008, 686 (693 f.). 215  Schmitt, StraFo 2008, 313 (316). 216  Kraatz, JR 2008, 189 (191); Weber, JR 2008, 36. 217  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (200); BeckOK-StGB-von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 61.1; Keiser, GA 2008, 686 (696 f.); Reich, S. 91; Streng, JZ 2008, 979 (985), folgert daraus, dass die Vollstreckungslösung „eine Phase einigermaßen gesetzesfern unbestimmter – wenngleich täterfreundlicher – Gesetzesauslegung“ beende, § 46 Abs. 1 StGB vor „Überfrachtung mit systemfremden Billigkeitserwägungen“ verschone und sich „wieder an die lex scripta“ annähere.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

und keine Wirkung der Tat oder Strafe sei, so dass dies unabhängig von der Person der Beschuldigten gesehen werden müsse und nicht über die Würdigung der Person in den Strafzumessungsvorgang einzufließen habe.218 Auch rechtsmethodisch sei dies besser zu begründen, da diese Vorschrift der Schadlosstellung und Wiedergutmachung von Verfahrensbeeinträchtigungen diene und somit für eine näher verwandte Thematik konzipiert sei, „als die auf Schulddefizite bzw. reduzierte Präventionsbedürfnisse aufbauenden Vorschriften, die Strafrahmenverschiebungen nach § 49 StGB legitimieren“.219 Zudem wird vertreten, dass sich die Vollstreckungslösung deshalb besser in das Sanktionensystem des StGB einfüge, weil eine Analogiebildung zu § 51 StGB dem Rechtsgedanken des § 56f Abs. 3 S. 1 StGB entspreche. Hiernach habe im Falle eines Bewährungswiderrufs eine Anrechnung der bereits zur Erfüllung der Bewährungsauflagen erbrachten Leistungen in einem angemessenen Maßstab auf die noch zu vollstreckbare Strafe zu erfolgen.220 Ein großer Vorteil der Vollstreckungslösung liege darin, dass sie mit den Regelungen der Sicherungsverwahrung besser harmoniere. Es könne nicht mehr passieren, dass aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine Strafe von unter zwei Jahren Freiheitsstrafe festgesetzt werde und somit die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nicht mehr erfüllt seien.221 Als für den Angeklagten positive Auswirkung des Systemwechsels wird vor allem das schnellere Erreichen des Halbstrafen- bzw. Zwei-DrittelZeitpunktes angeführt, woraus sich die Möglichkeit ergebe, dass die Strafaussetzung des Strafrests zur Bewährung faktisch früher geschehen könne.222 Als noch ungelöstes Folgeproblem bezeichnet Bußmann die Frage der konkreten Anwendung der Vollstreckungslösung im Bereich der Gesamtstrafenbildung. Der Beschluss des Großen Senats lasse hierbei insbesondere offen, wie bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe im Einzelnen vorzugehen sei, wenn die Gesamtstrafe mit ihrem Anrechnungsausspruch wieder in die zu Grunde liegende Einzelstrafen aufzulösen und hieraus in Verbindung mit weiteren Verurteilungen neue Gesamtstrafen zu bilden s­ eien. Die Rechtsprechung habe hier noch zu klären, ob bei der als vollstreckt 218  Weber, JR 2008, 36 (37), der anfügt, dass eine entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB über einen ungeschriebenen gesetzlichen Strafmilderungsgrund für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen die Gefahr der Auflösung der gesetz­ lichen Strafrahmen in sich bürge. 219  Hehmanns, ZJS 2008, 197 (199); Schmitt, StraFo 2008, 313, (316 Fn. 34), führt zudem aus, dass die bislang durch den bezifferten Strafschlag erfolgte „Mathematisierung“ durch die Anwendung von § 51 StGB nun in einem Bereich erfolge, der nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine zahlenmäßige Bewertung vorsehe. 220  Keiser, GA 2008, 686 (695). 221  I. Roxin, StV 2008, 14 (18). 222  Schmitt, StraFo 2008, 313 (317).



V. Reaktionen in der Literatur119

geltende Teil der ursprünglichen Gesamtstrafe über die Einzelstrafen auf die neuen Gesamtstrafen zu übertragen und ob hierbei eine „mathematische Verteilung“ vorzunehmen sei oder ob hier dem mit der Bildung der Gesamtstrafe befassten Gericht noch „Raum für wertende Entscheidungen“ belassen werde.223 2. Kritische Betrachtung Ebenso zahlreich sind die ablehnenden Stimmen, die in vielfacher Hinsicht Kritik am Systemwechsel übten.224 Zunächst wurde die schnelle Entscheidungsfindung kritisiert. Der Große Senat habe keinen wissenschaft­ lichen Diskurs vor der Entscheidungsfindung zugelassen, obwohl im Anschluss an den 1. Karlsruher Strafrechtsdialog im Jahr 2007 zwischen Strafrechtswissenschaftlern und Richtern des BGH vor anstehenden Entscheidungen das Eintreten „in einen fruchtbaren Dialog“ vereinbart worden sei.225 Zudem hätte es der Große Senat unterlassen, das Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 GVG durchzuführen, obwohl aufgrund der bisherigen Rechtsprechung der Senate eine Divergenzvorlage hätte erfolgen müssen.226 Es wurde die Frage aufgeworfen, ob die „bislang über viele Jahre praktizierte und allgemein als angemessen erachtete“ Strafzumessungslösung den Status von Gewohnheitsrecht erlangt habe, welches für die Gerichte nach Art. 97 Abs. 1 GG bindend sei und durch den Großen Senat nicht 223  Bußmann,

NStZ 2008, 236 (237). StV 2010, 657 (660), wonach Täter im Bereich der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung durch das Vollstreckungsmodell „erheblich schlechter gestellt“ würden; SSW-StGB  /  Eschelbach, § 46 Rn. 57: Systemwechsel „ohne Rechtsgrund“, der nur eine unvollkommene Problembewältigung erreiche und dessen Folgen „kaum absehbar“ seien; Fischer, StGB, § 46 Rn. 142; Gaede, JZ 2008, 422, wonach die Vollstreckungslösung eine grundlegende Rechtsprechungsänderung bewirke und in sich inkonsequent sei; Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209; Möller, S. 151, wonach das Vollstreckungsmodell keine tragfähige Rechtsgrundlage vorweisen könne; Reichenbach, NStZ 2009, 120 (122), der die Anwendung des Vollstreckungsmodells in Mordsachen sowohl in Fällen der verzögerlichen Sachbehandlung noch bei sonstigen Konstellationen langen Zeitablaufs seit Begehung der Tat kategorisch ablehnt; I. Roxin, StV 2008, 14 (18), die ausführt, dass das Vollstreckungsmodell die bisher herrschende Meinung in Form der Strafzumessungslösung nicht verdrängen könne; Salditt, StraFo 2007, 513, wonach sich das materielle Strafrecht durch die Vollstreckungslösung in „wichtigen Teilen“ verändere; Scheffler, ZIS 2008, 269: „Systemwechsel ohne System“; Schöne  /  Schröder-Stree / Kinzig, § 46 Rn. 57c: „gewichtige Einwände“ gegen den Systemwechsel; Streng, JZ 2008, 979 (985): „halbherzig“; Ziegert, StraFo 2008, 321. 225  Scheffler, ZIS 2008, 269 (274). 226  Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2211 f.), die daraus folgen, dass der Große Senat deshalb womöglich in der unzuständigen Besetzung entschieden habe. 224  Çelik / Stief,

120

C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

abgeändert werden könne.227 Weitere verfassungsrechtliche Bedenken wurden deshalb geäußert, weil durch die Vollstreckungslösung der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit des Strafens verletzt sei. Bei der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung liege ein schuldunabhängiger Strafmilderungsgrund vor, da dies wegen der nachteiligen Auswirkungen auf den Betroffenen eine nachteilige Tatfolge darstelle, so dass dies bei der Strafzumessung im Rahmen der Würdigung der Person Berücksichtigung finden müsse. „Der Angeklagte würde in ungerechtfertigter Weise zusätzlich bestraft, wenn man dieses vorweggenommene Übel nicht beim Ob und Wie der Sanktionsbestimmung wieder ausgleichen würde.“228 Sehr viel Ablehnung erfuhr die analoge Anwendung des § 51 StGB. Zum einen fehle eine Begründung dafür, warum dies gegenüber einer Anwendung von § 49 StGB analog vorzugswürdiger sei.229 Die mangelnde Begründung der Herausnahme des schuldunabhängigen Strafzumessungselementes der überlangen Verfahrensdauer als einen bislang „bedeutsamen Faktor“ aus der Strafzumessung könne nicht durch eine Analogie der Vorschrift des § 51 StGB gerechtfertigt werden.230 Zum anderen liegen keine vergleichbare Fallgestaltungen vor, die eine analoge Anwendung von § 51 StGB ermöglichen: während es sich bei § 51 StGB um die Anrechnung rechtmäßigen Freiheitsentzugs handle, stellten die zu berücksichtigenden Verfahrensverzögerungen rechtswidriges Vorgehen der Justizbehörden dar, so dass dies eine andere Interessenslage betreffe.231 Darüber hinaus handele es sich bei der Vorschrift des § 51 StGB nicht um eine Entschädigungssondern vielmehr um eine Strafvollstreckungsregel, die nicht verallgemeinerungsfähig sei und sich zudem an die Vollstreckungsbehörde richte.232 Auch sei vor dem Hintergrund der Bindung der Gerichte an das Gesetz entsprechend Art. 20 Abs. 3 GG eine im extremen Ausnahmefall anzuwendende Analogie zu § 49 Abs. 1 StGB und die hiermit verbundene ausnahmsweise 227  Ignor / Bertheau,

NJW 2008, 2209 (2210 f.). Roxin, StV 2008, 14 (17); im Ergebnis so auch Möller, S.  69 ff. 229  Fischer, StGB, § 46 Rn. 142; Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 46 Rn. 57c. 230  Ziegert, StraFo 2008, 321 (322, 324), wonach § 51 StGB eine Ausnahmeregelung darstelle, die nicht nach Belieben zur Eliminierung schuldausgleichspflichtiger Tatsachen aus der Strafzumessung herangezogen werden könne; ähnlich auch Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2212), die den staatlichen Strafanspruch als von der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung unmittelbar betroffen sehen. 231  Möller, S.  63 f.; I. Roxin, StV 2008, 14 (16), mit Verweis auf die in „jüngerer Zeit“ erfolgten Einfügung des § 60 StGB, wonach außerstrafrechtliche Gesichtspunkte dazu führen können, von der Verhängung einer an sich schuldangemessenen Strafe abzusehen. 232  Scheffler, ZIS 2008, 269 (277); Ziegert, StraFo 2008, 321 (325 f.). 228  I.



V. Reaktionen in der Literatur121

Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen vorzugswürdig gegenüber der systematischen, „gleichsam Tag für Tag“ vorkommenden Analogie zu § 51 StGB, die faktisch zur Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen führe.233 Als weiteres gewichtiges Argument wird darauf abgestellt, dass durch die Vollstreckungslösung eine Zunahme zu verbüßender Freiheitsstrafen – insbesondere kurzzeitiger Strafvollstreckungen – zu erwarten sei, was dem Gedanken der Resozialisierung widerspreche234 und eine Rechtsfortbildung contra legem darstelle, da dies gerade durch § 47 Abs. 1 StGB verhindert werden solle.235 Außerdem würde die Bandbreite des § 56 StGB enorm verkürzt, da insbesondere durch die formelle Verhängung von Strafen ab sechs Monaten die obligatorische Aussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 3 StGB trotz de facto kürzen Vollzug ausgehebelt werde.236 Weitere Kritik wurde daran festgemacht, dass es schwierig sei, nunmehr eine klare Trennung zwischen den im Rahmen der Strafzumessung im Sinne des § 46 StGB verbleibenden Aspekten und denjenigen, die bei der Vollstreckung anzurechnen sind, vorzunehmen.237 Auch sei es problema233  Ziegert,

StraFo 2008, 321 (325 f.). Roxin, StV 2008, 14 (17). 235  Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2212); SSW-StGB  /  Eschelbach, § 46 Rn. 59; andere Auffassung Kraatz, JR 2008, 189 (191), wonach § 47 StGB nur die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen verbiete und das Gesetz durch § 51 Abs. 1 S. 1 StGB selbst die Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen hinnehme; Peglau, NJW 2007, 3298 (3299), der die vom Gesetz nicht gewünschten kurzzeitigen Freiheitsstrafen als „hinnehmbare Folge“ des Vollstreckungsmodells einstufte. 236  Çelik / Stief, StV 2010, 657 (660); Salditt, StraFo 2007, 513; Keiser, GA 2008, 686 (700), führte zur besseren Harmonisierung hierzu an, dass man bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen entweder die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung bis zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren schaffen oder vorzugsweise die Strafaussetzung zur Bewährung an der nach Abzug des als vollstreckt geltenden Teils verbleibenden Reststrafe von maximal zwei Jahren festmachen solle; Von Çelik / Stief wurde zur Vermeidung übermäßiger Härten und um die gesetzgeberischen Vorgaben zu berücksichtigen vorgeschlagen, entweder bei einer nach Anrechnung verbleibenden Strafe von weniger als sechs Monaten das Merkmal der Verteidigung der Rechtsordnung einschränkend auszulegen und die noch zu vollstreckende Strafe bei einer günstigen Prognose zwingend zur Bewährung auszusetzen, oder in Form eines „Umkehrschlusses aus § 56 Abs. 3 StGB […] eine durch Anrechnung im Urteil bestimmte zu vollstreckende Strafe von unter sechs Monaten wie eine verhängte Strafe unter sechs Monaten zu behandeln“. Alternativ sollte zur Vermeidung von Härtefällen in den Fällen der nach Anrechnung noch zu vollstreckenden Strafe von unter sechs Monaten am Strafzumessungsmodell festgehalten werden. 237  SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 59: „konfuse Gemengelage der beiden Vorgänge“; Gaede, JZ 2008, 422; Heghmanns, ZJS 2008, 197 (198); Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 46 Rn. 57c; Streng, JZ 2008, 979 (985 f.), der vielmehr befürwortete, sämtliche in Folge der rechtsstaatswidrig überlangen Verfahrensdauer 234  I.

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C. Entwicklung der Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer

tisch, wenn vielfach – was vermehrt zu erwarten ist – neben der Feststellung der Verfahrensüberlänge zusätzlich keine weitere Entschädigung erfolge.238 Zuletzt wurde angeführt, dass auch das Vollstreckungsmodell keine umfassende Lösung für die Entschädigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen darstelle239 und sogar der Verhinderungen von Verfahrensverzögerungen entgegen arbeite, da außer der tatsächlichen Vollstreckungsdauer alle strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgen erhalten bleiben.240 Darüber hinaus wurden Zuständigkeitsprobleme in der Abgrenzung von erkennendem Gericht und Vollstreckungsgericht aufgezeigt, wenn die Anrechnung der als vollstreckt geltenden Strafteile dazu führt, dass der Halbstrafen- oder Zweidrittelzeitpunkt bei Urteilsverkündung bereits erreicht ist und grundsätzlich eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung mit der praktischen Folge der sofortigen Haftentlassung in Betracht komme.241

auftretenden außergewöhnlichen Belastungen insgesamt als „Strafersatz“ aus der Strafzumessung herauszunehmen und vollständig mittels Vollstreckungsanrechnung zu berücksichtigen. 238  Gaede, JZ 2008, 422, warnte davor, sich nicht auf das vom Großen Senat angeregte „menschenrechtliche Vabanquespiel“ einzulassen, indem bei geringen Verzögerungen von einer Kompensation abgesehen werde; Von Schäfer / Sander / van Gemmeren wurde prophezeit, dass nur noch in seltenen Fällen sehr grober Konventionswidrigkeit der Verfahrensdauer neben der bloßen Feststellung der Konventionswidrigkeit hinaus – die der Opfersituation häufig ausreichend Rechnung trage – noch ein Vollstreckungsabschlag erfolge. 239  Volkmer, NStZ 2008, 608 (609), der für die Fälle des Freispruchs und bei mangelnder Anrechnungsmöglichkeit im Jugendstrafrecht eine Geldentschädigung zur Erfüllung des Staatshaftungsanspruchs befürwortete; Ziegert, StraFo 2008, 321 (327), wobei der von ihm für den Fall des Freispruchs gemachte Vorschlag, wonach der Freigesprochene eine „Gutschrift“ erhalte, die er im Falle künftiger Straffälligkeit einlösen könne, als ironisch zu bezeichnen ist. 240  I. Roxin, StV 2008, 14 (18). 241  SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 59.

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung durch die Rechtsprechung der Strafsenate des BGH In der Folgezeit nach dem Beschluss des Großen Senats – beginnend bereits am nächsten Tag – und insbesondere in den ersten Monaten hatten sich die einzelnen Strafsenate des BGH mit der Anwendung der Vollstreckungslösung auf verschiedene Fallgestaltungen zu beschäftigen. Dies führte dazu, dass sie durch ihre Rechtsprechung eine Konkretisierung des Vollstreckungsmodells vornahmen und durch Entscheidungen hinsichtlich bislang noch nicht geregelter Anwendungsprobleme die Rechtsprechung – teilweise in gegensätzlicher Art und Weise – fortentwickelten. So ergingen Entscheidungen zum einen zur Präzisierung der Fragestellung, auf welche Art und Weise der Vollstreckungsabschlag zu erfolgen habe. Zudem kam die Problematik auf, was in der Übergangszeit für die in der Revisionsinstanz anhängigen Verfahren im Hinblick auf das Verschlechterungsverbot gelten solle. Außerdem wurden die bereits im Rahmen der Strafzumessungslösung erörterten Probleme des Vollstreckungsabschlags einer an sich erzieherisch notwendigen Jugendstrafe diskutiert, zudem ergaben sich neue Diskussionsansätze, beispielsweise hinsichtlich der Frage der (Teil-)Rechtskraft bei entsprechend beschränkter Revisionseinlegung.

I. Konkretisierung der Art und Weise des Vollstreckungsabschlags In zahlreichen Entscheidungen folgten die Strafsenate des BGH der Entscheidung des Großen Senats und machten wiederholt deutlich, dass nach dem neuen Vollstreckungsmodell der Ausgleich für den dem Staat zurechnenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe abgekoppelt zu bewerten und allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auszurichten sei. Hierbei habe der Tatrichter im Auge zu behalten, dass die Verfahrensdauer als solche bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sei.1

1  BGH, Beschluss vom 14.02.2008, Az. 3 StR 416 / 07, S. 4 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de; BGH, Urteil vom 06.03.2008, NStZ-RR 2008, 208.

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D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

1. Maß der Kompensation Zur Bestimmung des Maßes der Kompensation wird es deshalb ausdrücklich abgelehnt, den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen,2 vielmehr solle sich die Anrechnung „auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe“ zu beschränken haben.3 Anhand der Kasuistik, die ausdrücklich als Einzelfallentscheidungen zu sehen sind, können Anhaltspunkte dafür gefunden werden, wie hoch der Vollstreckungsabschlag nach Auffassung des BGH anzusetzen ist. So wurde vom 3. Senat in einer Entscheidung vom 06.03.2008 von einer verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten aufgrund einer Verfahrensüberlänge von einem Jahr und zwei Monaten ein Vollstreckungsabschlag von einem Monat gewährt, wobei ausdrücklich festgestellt wurde, dass „die Verzögerung auf den Angeklagten erkennbar nur geringe Auswirkungen [hatte], weil sie nach dem Urteil des Landgerichts eintrat und der Angeklagte sich in Freiheit befand“.4 Der 5. Strafsenat sprach in zwei Entscheidungen im April / Mai 2008 jeweils aus, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer drei Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Hierbei lag zum einen eine Verzögerung bei der Aktenversendung an den Generalbundesanwalt im Revisionsverfahren von sieben Monaten vor bei einer verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren sechs Monaten,5 zum anderen handelte es sich um eine (weitere) rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung innerhalb des erstinstanzlichen Verfahrens von einem Jahr bei Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten.6 Für eine Verzögerung von etwa vier Jahren im Rahmen des Revisionsverfahrens aufgrund der Nichtbeachtung der vom BVerfG im konkreten Fall aufgestellten Anforderungen, was zu einem neuerlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie nach entsprechender Aufhebung und Zurückweisung zu einem weiteren Revisionsverfahren geführt hat, wurde zur Kompensation von der verhängten Freiheitsstrafe von elf Jahren ein Strafanteil von sechs Monaten für vollstreckt erklärt.7 2  BGH, Beschluss vom 14.02.2008, Az. 3 StR 416 / 07, S. 5 – zitiert nach bundesgerichtshof.de. 3  BGH, Beschluss vom 15.02.2011, Az. 1 StR 19  / 11, S. 4 – zitiert nach bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603. 4  BGH, Urteil vom 06.03.2008, NStZ-RR 2008, 208 (209). 5  BGH, Beschluss vom 01.04.2008, Az. 5 StR 80  / 08, S. 3 – zitiert nach bundesgerichtshof.de. 6  BGH, Beschluss vom 07.05.2008, Az. 5 StR 118 / 08, S. 3 – zitiert nach bundesgerichtshof.de. 7  BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603.

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I. Konkretisierung der Art und Weise des Vollstreckungsabschlags125

Als „rechtlich nicht mehr vertretbar“ bewertete der 3. Strafsenat hingegen einen Vollstreckungsabschlag von einem Jahr und zehn Monaten bei einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung von einem Jahr und fünf Monaten.8 Dem Angeklagten sei hiermit eine Strafreduzierung zugebilligt worden, die zu einer Verkürzung der verhängten Strafe in einem Umfang geführt habe, der nicht einmal durch Anrechnung einer inländisch erlittenen Untersuchungshaft hätte erreicht werden können. Somit habe der Tatrichter hiermit die Grenzen des ihm insoweit zustehenden Bewertungsspielraums „in rechtsfehlerhafter Weise überschritten“.9 Ebenfalls „in ihrer Höhe rechtlich nicht mehr nachvollziehbar“ sei in einer weiteren Fallkonstellation die Anordnung, dass bei einer festgestellten Verfahrensverzögerung von drei Jahren und neun Monaten von der verhängten Gesamtstrafe von sechs Jahren zur Entschädigung insgesamt zwei Jahre und sieben Monate als vollstreckt gelten, da die überaus lange Verfahrensdauer bereits bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigt worden sei und sich die Anrechnung deshalb nur auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken habe.10 Wiederum der 3. Senat stellte in einer Entscheidung vom 13.01.2010 fest, dass bei einer Verzögerung des Beginns der Hauptverhandlung von einem Jahr, die im Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden lag, die bloße Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ohne weiteren Vollstreckungsabschlag zur Kompensation ausreichend sei, um die „minder schweren Folgen des Verfahrensverstoßes [für den Angeklagten] auszugleichen“.11 Zuletzt entschied der 4. Senat, dass für eine der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung von ca. sechseinhalb Monaten während des Revisionsverfahrens durch verzögerte Aktenvorlage von der verhängten Freiheitsstrafe von 5 Jahren zwei Monate als vollstreckt gelten.12 Problematisch erscheinen zwei Entscheidungen des 5. Strafsenats, denen entnommen werden kann, dass die Festlegung der konkreten Höhe des Vollstreckungsabschlags an der „Tatschwere und der für das Tatopfer hervorgerufenen lebensbedrohlichen Situation“13 bzw. der „Art und Schwere des 8  BGH,

Urteil vom 18.06.2009, StV 2010, 228 (230). Urteil vom 18.06.2009, StV 2010, 228 (231). 10  BGH, Beschluss vom 15.02.2011, Az. 1 StR 19 / 11, S. 4 – zitiert bundesgerichtshof.de. 11  BGH, Beschluss vom 13.01.2010, Az. 3 StR 494 / 09, S. 4 – zitiert bundesgerichtshof.de. 12  BGH, Beschluss vom 19.06.2012, Az. 4 StR 83 / 12, S. 3 – zitiert bundesgerichtshof.de. 13  BGH, Beschluss vom 07.05.2008, Az. 5 StR 118 / 08, S. 3 – zitiert bundesgerichtshof.de. 9  BGH,

nach www. nach www. nach www. nach www.

126

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

Tatvorwurfs“14 und dem Umfang und der Schwierigkeit des Verfahrens, somit angelehnt an die Tatschuld bzw. des Verschuldens des Täters bei der Tat, zu messen sei. Dies steht im Widerspruch zur Entscheidung des Großen Senats, der Wert darauf legte, die Entschädigung von Aspekten der Strafzumessung zu trennen und die Entschädigungshöhe rein an der Intensität des Konventionsverstoß zu messen.15 In der Literatur wird nach einer Analyse der ersten Entscheidungen nach dem Systemwechsel von Pohlit die Rechtspraxis der Instanzgerichte gerügt. Die Gerichte stellen jeweils viel zu oft und „vorschnell“ eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung fest und gewähren „allzu großzügig Kompensationen“, nur um das Urteil revisionsfest zu machen, was letztlich das Gegenteil bezwecke und so vom BGH nicht hingenommen werde.16 2. Feststellung des Konventionsverstoßes ohne weitere Kompensation Der Rechtsprechung sind vereinzelt Anhaltspunkte zu entnehmen, wann es ausreichend sein kann, neben der ausdrücklichen Feststellung des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auf eine weitere Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell zu verzichten. Erwähnte der Große Senat diese Möglichkeit lediglich in seinem Beschluss vom 17.01.2008, ohne Voraussetzungen dafür zu benennen, wann eine solche Feststellung zur Kompensation ausreichend sein kann,17 waren es in der Folgezeit zwei Entscheidungen des 4. und 1. Strafsenats, die eine Konkretisierung vornahmen. Zum einen lag eine „denkbar geringe“ Verfahrensverzögerung aufgrund später Terminsanberaumung vor, so dass zur Kompensation die Feststellung des Vorliegens einer Verletzung des Beschleunigungsgebots ausreichte und diese durch den Senat selbständig vorgenommen wurde.18 Im zweiten Fall führte der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 09.10.2008 aus, dass eine bloße Feststellung des Verstoßes insbesondere dann ausreichend sein könne, wenn „dem Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie dem wegen der Verfahrensdauer vom Landgericht angenommenen – an sich aber fern liegenden und jedenfalls konkret nicht be14  BGH, Beschluss vom 26.11.2008, Az. 5 StR 450 / 08, S. 7 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de. 15  So auch Reich, S.  75 f. 16  Pohlit, FS Rissing-van Saan, S. 453. 17  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (146) = NJW 2008, 860 (866). 18  BGH, Beschluss vom 21.02.2008, Az. 4 StR 666  /  07, S. 4 f. – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de.



II. Gesamtstrafenbildung / Verschlechterungsverbot127

legten – psychischen Druck auf die nicht inhaftierte Angeklagte bereits im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen ist“.19 Wenngleich hier wieder eine Tendenz zu erkennen war, entgegen der Entscheidung des Großen Senats die Strafzumessungserwägungen mit dem zu kompensierenden objektiven Verfahrensunrecht aufgrund der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu vermischen, kann den Ausführungen entnommen werden, dass in einer Gesamtschau häufig nach entsprechender Berücksichtigung der strafzumessungsrelevanten Faktoren der aufgrund des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot verbleibende, kompensationspflichtige gesondert festzustellende Sachverhalt kein so großes Gewicht mehr besitze, dass häufig die bloßes Feststellung des Verstoßes ausreichen könne.20 Eine entsprechende Befürchtung äußert nach einer ersten Analyse der Entscheidungen nach Einführung der Vollstreckungslösung auch Beukelmann. Er führt aus, dass vielfach ein Vollstreckungsabschlag nicht mehr erfolge, da die bloße Feststellung des Konventionsverstoßes nach Berücksichtigung der belastenden Umstände und des Zeitablaufs bereits im Rahmen der Strafzumessung zur Kompensation ausreiche und auch ansonsten die Anrechnung der Höhe nach nicht groß ausfalle, nachdem der Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB ausdrücklich ausgeschlossen worden war.21 Er selbst geht im Regelfall von einem Vollstreckungsabschlag in Höhe von 1 / 4 bis allenfalls 1 / 3 der festgesetzten Strafe aus.

II. Gesamtstrafenbildung / Verschlechterungsverbot Ein durch den Großen Senat nicht gelöstes Problem machte der 3. Strafsenat bereits in einem Beschluss an dem auf die Entscheidung folgenden Tag aus und entwickelte eine sich fortsetzende Rechtsprechung hierzu. So stellte er in zahlreichen Entscheidungen fest, dass in den Übergangsfällen, die zunächst vom Instanzgericht mittels der Strafzumessungslösung entschieden worden waren, nunmehr nach Anwendung des Vollstreckungsmodells kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO vorliege, wenn der neue Tatrichter höhere Strafen als die bisher erkannten 19  BGH,

Urteil vom 09.10.2008, StV 2008, 633 (635). die gleiche Richtung argumentiert auch Scheffler in seiner Entscheidungsanmerkung. Neben der klaren, ablehnenden Positionierung hinsichtlich der Vollstreckungslösung aufgrund der im deutschen Recht grundsätzlich durch Geldzahlung zu leistenden Entschädigung, sieht er die künftige Rechtsentwicklung dahingehend, dass sich die Vollstreckungsanrechnung „langsam aus der Rechtswirklichkeit […] verabschieden“ und vielfach aufgrund des geringen übrig bleibenden, zu kompensierenden Rests nicht mehr als eine ausdrückliche Feststellung der Verletzung erfolgen werde, Scheffler, StV 2009, 719 (721). 21  Beukelmann, StraFo 2011, 210 (214). 20  In

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D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

verhängt, „die jedoch die im angefochtenen Urteil als an sich verwirkt und ohne Kompensation als schuldangemessen festgesetzten Einzelstrafen nicht übersteigen dürfen“.22 Zudem dürfe die im Falle vollständiger Vollstreckung zu verbüßende Strafe, d. h. die schuldangemessene Gesamtstrafe abzüglich des als vollstreckt geltenden Teils, nicht höher als die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Gesamtstrafe sein, damit der Angeklagte „im Ergebnis nicht schlechter steht“.23 Der Senat geht noch weiter und vertritt die Auffassung, dass der Angeklagte sogar „einen Vorteil“24 erhalte bzw. durch die Form der Anrechnung selbst bei höherer (Gesamt-)Strafe „besser gestellt“25 werde, da sich in Folge der Anrechnung der Zeitpunkt der Reststrafaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 StGB nach vorne verlagere und der Verurteilte früher zur Bewährung aus dem Strafvollzug entlassen werden könne. Schnell regte sich seitens der anderen Strafsenate des BGH Widerstand gegen diese Rechtsprechung des 3. Strafsenats. Während teilweise nur Bedenken geäußert wurden, ohne dass die Problematik letztlich einer Entscheidung zugeführt werden musste,26 sprach sich der 1. Strafsenat deutlich gegen diese Auslegung des Verschlechterungsverbots aus. Eine höhere Strafe nach Zurückweisung durch die Revisionsinstanz verstoße auch dann gegen das Verschlechterungsverbot, wenn der die bisherige Strafe über22  BGH,

Beschluss vom 18.01.2008, StV 2008, 399 (400). Beschluss vom 13.02.2008, NStZ-RR 2008, 168; BGH, Beschluss vom 19.02.2008, Az. 3 StR 536  /  07, S. 4 f. – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 09.04.2008, wistra 2008, 341 (342); BGH, Beschluss vom 08.05.2008, Az. 3 StR 123 / 08, S. 4 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 17.11.2009, Az. 3 StR 437 / 09, S. 4 – zitiert nach www.bundesge richtshof.de. 24  BGH, Beschluss vom 13.02.2008, NStZ-RR 2008, 168; BGH, Beschluss vom 19.02.2008, Az. 3 StR 536 / 07, S. 5 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 25  BGH, Beschluss vom 18.01.2008, StV 2008, 399 (400). 26  2. Strafsenat: „Die Auffassung des 3. Strafsenats […] ist nicht bedenkenfrei“, BGH, Beschluss vom 05.03.2008, StV 2008, 400; 4. Strafsenat: „Nach Auffassung des Senats ist es zweifelhaft, ob es mit dem Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO vereinbar wäre, auf höhere als die in dem angefochtenen Urteil festgesetzten Einzelstrafen zu erkennen“, BGH, Beschluss vom 10.04.2008, Az. 4 StR 443 / 07, S. 9, zitiert nach ww.bundesgerichtshof.de, wobei eine Entscheidung offen bleiben konnte, weil im konkreten Fall das Verschlechterungsverbot die Verhängung einer höheren und damit dann nicht zur Bewährung auszusetzenden Strafe verbot; 5. Strafsenat: „Gegen die […] erwogenen Möglichkeit einer Erhöhung der bisher verhängten Strafe hätte der Senat indes dogmatische Bedenken“, BGH, Beschluss vom 02.04.2008, Az. 5 StR 354 / 07, S. 16 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de, es kam hier deshalb darauf nicht an, weil der Senat für den Fall einer Schuldfeststellung nach erneuter Hauptverhandlung eine Verfahrenseinstellung, „jedenfalls aber eine Sanktion unterhalb einer Geldstrafe in Betracht“ zog. 23  BGH,



II. Gesamtstrafenbildung / Verschlechterungsverbot129

schießende Teil der neu erkannten Strafe wieder für verbüßt erklärt wird, „allein der höhere Strafausspruch stellt einen gesteigerten Makel dar“.27 Dem schließt sich Schäfer in seiner Anmerkung zu diesem Beschluss an, indem er ausführt, dass das Gebot der Rechtssicherheit für die Bestimmung der Grenzen des Verschlechterungsverbots klare und berechenbare Regeln verlange und eine Verschlechterung stets vorliege, wenn an Stelle einer milderen auf eine schwerere Strafe erkannt werde, „mögen auch die Randbedingungen die neue Strafe milder erscheinen lassen“.28 Vor allem habe keine Abwägung aller Vor- und Nachteile der verschiedenen Rechtsfolgen miteinander zu erfolgen. Jede Erhöhung einer bereits erkannten Strafe stelle eine Verschlechterung im Sinne des § 358 StPO dar, ohne dass die dem späteren Vollstreckungsverfahren vorbehaltenen Anordnungen, wie die Möglichkeit der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 StGB, hierbei eine Rolle spielen.29 Dass die Rechtsprechung des 3. Strafsenats nicht zutreffend sein könne, zeige sich auch daran, dass anstatt einer zweijährigen Bewährungsstrafe nunmehr eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt werden könne, von der zwar ein Jahr als vollstreckt gelte, aber noch mindestens ein halbes Jahr vollstreckt werden müsse. Zudem schließen sich weitere, den Angeklagten benachteiligende Rechtsfolgen an eine höhere Strafe an, wie die Voraussetzungen von Sicherungsverwahrung, beamtenrechtliche und ausländerrechtliche Folgeregelungen und ähnliches.30 Das BVerfG hatte sich mit dieser Problematik in seiner Entscheidung vom 10.03.2009 zu beschäftigen, traf hierzu jedoch nur eine missverständliche Aussage. Zum einen wurde festgestellt, dass in einem anderen als dem streitgegenständlichen Verfahren ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot nicht gegeben sei, da dort „der Nachteil einer höheren Strafe durch die Möglichkeit einer früheren Entlassung auf Bewährung ausgeglichen wurde“, während im zur Entscheidung anstehenden Fall eine Verschlechterung anzunehmen sei, wenn eine höhere als die bisherige Strafe ausgeurteilt werde, auch wenn diese nur maximal in der Höhe der früheren Strafe hätte vollstreckt werden dürfen. Denn mit der höheren Strafe sei ein erhöhtes Unrechtsurteil verbunden, woraus „weitere, für die Zukunft noch nicht vollständig absehbare Nachteile“ aufgrund von Vorschriften, die an die Höhe der verhängten Strafe anknüpfen, wie beispielsweise die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB, erwachsen könnten.31 Neben dieser speziellen Problematik positionierte sich das BVerfG auch allgemein, 27  BGH,

Beschluss vom 20.03.2008, NJW 2008, 2451 (2454) = JR 2008, 302. JR 2008, 302 (303). 29  Meyer-Goßner, StPO, § 331 Rn. 17; Schäfer, JR 2008, 302 (303). 30  Schäfer, JR 2008, 302 (304). 31  BVerfG, Beschluss vom 10.03.2009, StV 2009, 673 (674).

28  Schäfer,

130

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

indem es klar herausstellte, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, ein Urteil nicht deshalb aufzuheben, um den Strafausspruch von der Strafzumessungs- auf die Vollstreckungslösung umzustellen.32 Ohne sich klar zur Vollstreckungslösung zu äußern, stufte das BVerfG die bisher praktizierte Form der Berücksichtigung von Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung ausdrücklich als eine verfassungsgemäße Form der Kompensation ein, woran sich auch durch den Systemwechsel nichts geändert habe.33 Den Ausführungen kann jedoch wohl darüber hinaus entnommen werden, dass auch hinsichtlich des neuen Vollstreckungsmodells keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, denn ansonsten hätte sich das BVerfG in dieser Entscheidung deutlicher dagegen stellen oder zumindest einen entsprechenden Hinweis anbringen müssen. In der Literatur wird für die Übergangszeit, in der in der Revisionsinstanz Urteile zu überprüfen sind, die die Problematik noch nach der früheren Strafzumessungslösung behandelt haben, von Beukelmann befürwortet, den Strafausspruch beizubehalten, sofern keine weiteren Rechtsfehler festzustellen seien. Denn der allein der höhere Strafausspruch bei Anwendung des Vollstreckungsmodells stelle einen „gesteigerten Makel“ dar, weshalb die Strafzumessungslösung in Übergangsfällen grundsätzlich die „mildere Lösung“ sei.34 Als unstrittig bei Altfällen wird jedoch angenommen, dass eine Beschwer des Revisionsführers durch die Anwendung des Strafzumessungslösung dann gegeben sei, „wenn sich bei Anwendung des Vollstreckungsmodells der Zeitpunkt, zu dem Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, nach vorne verlagert und der Angeklagte bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 57 StGB früher aus dem Strafvollzug entlassen werden könnte“.35

III. Jugendstrafrecht Auch die Frage der Art und Weise einer Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bei Anwendung von Jugendstrafrecht ist noch nicht abschließend geklärt. Während es der BGH im Jahr 2002 noch für „bedenklich“ hielt, die damalige Strafzumessungslösung ohne weiteres 32  BVerfG,

Beschluss vom 10.03.2009, StV 2009, 673 (674). Beschluss vom 10.03.2009, StV 2009, 673 (674). 34  Beukelmann, StraFo 2011, 210 (214 Fn. 52); als „strittig“, bezeichnet dies Pohlit, FS Rissing-van Saan, S. 453 (456 f.), der sich jedoch dazu nicht positioniert, ob das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO nach Aufhebung des Strafausspruchs und Zurückverweisung an das neue Tatgericht grundsätzlich der Verhängung höher Strafen entgegen stehe, auch wenn sich nach Durchführung des Strafabschlags keine höhere, tatsächlich zu verbüßende Strafe ergebe. . 35  Pohlit, FS Rissing-van Saan, S. 453 (456 f.). 33  BVerfG,



III. Jugendstrafrecht131

auf das Jugendstrafrecht zu übertragen,36 stellte der Große Senat in seiner Entscheidung die grundsätzliche Anwendbarkeit des Vollstreckungsmodells fest. Er verwies jedoch darauf, dass es nunmehr im Einzelfall zu prüfen sei, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreite, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären.37 Weitere Entscheidungen der Senate, die die Verhängung einer Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2, 2. Alt. JGG zum Gegenstand hatten, bestätigten zumindest hierfür die Möglichkeit der Kompensation über die Vollstreckungslösung.38 Unklar bleibt weiterhin die Anwendbarkeit, wenn die Jugendstrafe, gegebenenfalls neben der Schwere der Schuld, auf das Vorliegen schädlicher Neigungen gestützt wird. Hier bemisst sich die Höhe der Jugendstrafe, anders als bei der Verhängung von Jugendstrafe aufgrund der Schwere der Schuld, bei der auch Gedanken des Schuldausgleichs in die Strafzumessung einfließen, ausschließlich an Erziehungsgesichtspunkten, so dass bei der bisherigen Strafzumessungslösung eine Reduktion der Strafe vom 3. Strafsenat abgelehnt worden ist, da innerhalb der reduzierten Strafdauer der Erziehungsbedarf nicht abzudecken sei.39 Das OLG Düsseldorf neigt mittlerweile dazu, die Vollstreckungslösung auch bei der Verhängung einer Jugendstrafe aufgrund schädlicher Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2, 1. Alt. JGG anzuwenden.40 Dies wird von Ostendorf, der dies vor allem auch aufgrund des im Jugendstrafrecht noch bedeutsameren Beschleunigungsgrundsatzes für geboten erachtet, begrüßt. Er führt aus, dass die Rechtsfolgen im Jugendstrafrecht zwar vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten seien, hierbei jedoch auch die Sanktionswirkungen des Verfahrens, die 36  BGH,

II. 2.

Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364, siehe auch oben unter C.

37  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145) = NJW 2008, 860 (866), siehe hierzu auch oben unter C. IV. 1. c). 38  BGH, Beschluss vom 27.11.2008, NStZ 2010, 94 (95), der in seiner Entscheidung die Gefahr, dass der gewährte Ausgleich für die Verfahrensverzögerung zur Unterschreitung der zur Erziehung erforderlichen Dauer der Jugendstrafe führen könnte, „angesichts des geringen als vollstreckt anzusehenden Teils der Jugendstrafen“ ausschloss; BGH, Beschluss vom 19.05.2010, Az. 2 StR 278 / 09, S. 19 („Die kompensierende Anwendung des Vollstreckungsmodells ist auch bei Verhängung von Jugendstrafe grundsätzlich zulässig […], jedenfalls wenn sie auf das Vorliegen besonders schwerer Schuld gemäß § 17 Abs. 2 JGG gestützt wird“). 39  BGH, Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364 f.; BGH, Beschluss vom 26.10.2006, NStZ-RR 2007, 61. 40  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.03.2010, NStZ 2011, 525 (526), worin eine „gesamtheitliche Betrachtung, inwieweit die Vollstreckung zur Erziehung nötig ist“, durchzuführen sei, aber grundsätzlich ein Abschlag im Sinne der Vollstreckungslösung wegen des Verbots der Schlechterstellung im Vergleich zu Erwachsenen in Betracht gezogen werden müsse.

132

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen verstärkt würden, im Hinblick auf das Resozialisierungsziel der Verhinderung künftiger Straftaten berücksichtigt werden müssen.41 Höchstrichterlich ist hierzu bislang le­ diglich eine Äußerung des 5. Strafsenats zu finden. Im Beschluss vom 28.09.2010 konnte eine Entscheidung hierzu zwar unterbleiben, der Senat neigt jedoch dazu, die Frage der Übertragung des Vollstreckungsmodells auf Jugendstrafverfahren bei denen die Verhängung einer Jugendstrafe (auch) aufgrund von schädlichen Neigungen in Betracht kommt, „zu bejahen“.42

IV. Teilrechtskraft der Vollstreckungsentscheidung Die Herausnahme der Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aus dem Bereich der Strafzumessung führt zu der neuen, vom 3. Strafsenat in mehreren Entscheidungen erörterten Problematik, ob Vollstreckungsentscheidung und Schuldspruch unabhängig voneinander in der Rechtsmittelinstanz überprüft werden können. Insbesondere ist hier von Interesse, ob bei einer Aufhebung des tatrichterlichen Urteils im Strafausspruch durch das Revisionsgericht die Frage der Kompensation einer bis zur revisionsgerichtlichen Entscheidung eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung erfasst ist. Zunächst wurde festgestellt, dass aufgrund der rein am Entschädigungsgedanken orientierten eigenen Rechtsfolge zur Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, Strafausspruch und die Kompensationsentscheidung grundsätzlich selbständig nebeneinander stehen und auch getrennt voneinander auf Rechtsfehler überprüfbar seien.43 Eine Ausnahme sei lediglich dann zu machen, wenn die Verfahrensdauer oder die durch diese entstandenen besonderen Belastungen des Angeklagten rechtsfehlerhaft festgestellt werden und hierbei der Strafausspruch untrennbar mit der Kompensation verknüpft sei, „da diese Tatsachen für beide Entscheidungen gleichermaßen relevant sind“.44 Daraus zog der 3. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 27.08.2009 den Schluss, dass die Aufhebung allein des Strafausspruchs durch das Revisionsgericht grundsätzlich die Frage eines Ausgleichs für eine bis dahin eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, unabhängig davon, ob ein solcher gewährt wurde oder nicht, grundsätzlich nicht erfasse und insoweit „horizontale (Teil-)Rechtskraft“ eingetreten sei, so dass nur noch eine Kompensation für eine nach Erlass 41  Ostendorf,

StV 2011, 586 (587). Beschluss vom 28.09.2010, NStZ 2011, 524 (525); bejahend auch ­Eisenberg, JGG, § 18 Rn. 15 f. 43  BGH, Beschluss vom 16.06.2009, StV 2009, 638 (639). 44  BGH, Urteil vom 18.06.2009, StV 2010, 228 (230). 42  BGH,



V. Berufsrechtliche Verfahren133

der Revisionsentscheidung eingetretene Verfahrensüberlänge geprüft werden könne.45 Maier führt in seiner Entscheidungsanmerkung aus, dass es für den Umfang der Teilrechtskraft entscheidend sei, welche Bestandteile der Ur­ teils­ formel bestehen bleiben. Zweifel hinsichtlich einer rechtskräftigen Entscheidung über die Gewährung einer Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen können nur dann berechtigt aufkommen, wenn „keine Kompensation gewährt wurde, die Urteilsgründe hierzu weder Feststellungen noch Hinweise enthalten und das Revisionsgericht Art. 6 EMRK nicht behandelt; in einem solchen Fall fehlte jeder Anknüpfungspunkt für eine Bindungswirkung“.46 Er fügt jedoch an, dass eine Bindungswirkung dann entfallen könne, wenn sich in der neuen Tatsacheninstanz die Unschuld oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten herausstelle oder ein bisher übersehenes Prozesshindernis zu berücksichtigen sei.47

V. Berufsrechtliche Verfahren Der Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen des BGH befasste sich in einem berufsrechtlichen Verfahren gegen einen Steuerberater mit der Frage, wie dort mit einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung umzugehen ist. In seiner Entscheidung vom 07.12.2009 stellte er fest, dass auch in berufsrechtlichen Verfahren, die stets die wirtschaftliche Existenzgrundlage des Betroffenen berühren und wozu neben den Verfahren gegen Steuerberater auch die anwaltsgerichtlichen Verfahren sowie die beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren zu zählen seien, mit zunehmender Verfahrensdauer fühlbar zusätzliche Belastungen beim Betroffenen entstehen und eine überlange Verfahrensdauer einen Konventionsverstoß im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK darstelle, dessen Kompensation sich ebenfalls an der Vollstreckungslösung des Großen Senats zu orientieren habe.48 Hierzu wird näher ausgeführt, dass es in leichteren Fällen ausreiche, eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in den Urteilsgründen ausdrücklich festzustellen, bei schwerwiegenden Verzögerungen eine Einstellung nach den §§ 153, 153a StPO in Verbindung mit den berufsrechtlichen Regelungen in Betracht zu ziehen und ansonsten bei Geldstrafen oder Geldbußen einen Teil der festgesetzten Strafe oder Buße für vollstreckt zu erklären sei.49 Sollte ei45  BGH,

Urteil vom 27.08.2009, NJW 2009, 3734 f. NStZ 2010, 650 (651). 47  Maier, NStZ 2010, 650 (651). 48  BGH, Urteil vom 07.12.2009, NJW 2010, 1155  f.; zustimmend Sorgenfrei, NStZ 2010, 641 (642). 49  BGH, Urteil vom 07.12.2009, NJW 2010, 1155 (1156), wonach insbesondere eine solche, „am Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 S. 2 StGB orien46  Maier,

134

D. Fortentwicklung der Vollstreckungslösung

ne direkte Übertragung nicht möglich sein, müsse eine entsprechende Kompensation gewährt werden, indem bei einem Berufsausschluss die Mindestausschlussfrist zu verkürzen sei oder bei berufsrechtlichen Warnungen oder Verweisen ein Teil der Tilgungsfrist als verstrichen gelte.50

VI. Vollstreckung eines ausländischen Strafurteils Zu einer weiteren Folgefrage nach dem Systemwechsel hin zum Vollstreckungsmodell hatte das OLG Rostock – da insoweit bislang noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorlag – Stellung zu beziehen. Zu prüfen war, ob bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen in dem in einem anderen Mitgliedsstaat der EMRK geführten Ermittlungs- und Strafverfahren und einer mangelnden Kompensation durch den anderen Staat im Falle einer Vollstreckung der Rechtsfolgen aus dem ausländischen Strafurteil im Rahmen der Umwandlungsentscheidung nach § 54 Abs. 1 IRG ebenfalls die Vollstreckungslösung zur Anwendung kommen müsse. Dem stehe jedoch sowohl die Rechtskraft des ausländischen Strafurteils als auch der Umstand entgegen, dass der Konventionsverstoß der deutschen Justiz nicht zuzurechnen und deshalb hier nicht auszugleichen sei.51 Anders als eine Anrechnung einer im Ausland erlittenen Untersuchungshaft sei es Sache der Justiz im fehlbaren Konventionsstaat, für einen Ausgleich, „etwa durch einen nachträglichen (Teil-)Erlass der verhängten Strafe“, zu sorgen.52

tierte Entschädigung […] stets uneingeschränkt einerseits im Einklang mit den Zielen des berufsgerichtlichen Verfahrens [stehe], andererseits den im Einzelfall gebotenen Ausgleich objektiven Verfahrensunrechts und damit die Beseitigung der ­Opfereigenschaft nach Art. 34 EMRK“ gewährleiste. 50  BGH, Urteil vom 07.12.2009, NJW 2010, 1155 (1156 f.). 51  OLG Rostock, Beschluss vom 02.08.2010, NStZ-RR 2010, 340. 52  OLG Rostock, Beschluss vom 02.08.2010, NStZ-RR 2010, 340.

E. Diskussion der Vollstreckungslösung I. Notwendigkeit des Systemwechsels Der Wechsel vom Strafzumessungs- zum Vollstreckungsmodell wurde sowohl im Vorlagebeschluss als auch im Beschluss des Großen Senats damit begründet, dass die Strafzumessungslösung in bestimmten Fallkonstellationen an ihre Grenzen stoße und eine Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Strafabschlags innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens, insbesondere bei erhöhten Mindeststrafen, nicht immer möglich sei.1 Deshalb zog das Gericht andere Möglichkeiten im Rahmen der Regelungen des Straf- und Strafprozessrechts in Betracht, um sich auch bei der Entschädigung von rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen innerhalb der Gesetzesbindung der Gerichte gemäß Art. 20 Abs. 3 GG zu bewegen. Tatsächlich legte der BGH mit dieser Begründung seine Finger nur in eine von mehreren Wunden, die sich im Rahmen dieses Kompensationsmodells auftaten. Die Strafzumessungslösung zur Kompensation der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund überlanger Verfahrensdauer besitzt deut­ liche Schwachstellen, die bis dato gar nicht oder nur am Rande aufgezeigt worden waren. Die weitgehende Einigkeit über diese Form der Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwischen BGH und BVerfG2 sowie die ausdrückliche Billigung durch den EGMR3 hatten zuvor die Kritiker verstummen lassen, was sich auch darin zeigt, dass nach Anstoßen der Diskussion durch den Vorlagebeschluss und insbesondere nach Vollzug des Systemwechsels eine Vielzahl von wissenschaftlichen Beiträgen hierzu regelrecht aus dem Boden sprossen. Zuzustimmen ist dem BGH, dass die Problematik der Berücksichtigungsfähigkeit der überlangen Verfahrensdauer nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens eine deutliche Einschränkung der Kompensationsmöglichkeiten darstellt, so dass dies als einer der Hauptschwachpunkte anzusehen ist. Hierdurch wird eine Kompensation bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Verurteilung wegen Mordes gemäß § 211 StGB verhindert. Zudem bestehen Kompensationslücken in den Fällen, bei denen von der schuldangemessenen Stra1  BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2008, 3294; BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (129) = NJW 2008, 860 (861). 2  Ausführlich hierzu siehe C. II. 2. 3  Siehe oben unter B. III. 4.

136

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

fe zum Ausgleich der überlangen Verfahrensdauer ein derart hoher Strafabzug vorzunehmen ist, dass die erhöhte gesetzliche Mindeststrafe unterschritten würde und gleichsam eine Verfahrenseinstellung nicht sachgerecht ist. Die dazwischen liegende Spanne kann bei deutlich erhöhter Mindeststrafe ziemlich groß sein und lässt dann eine sachgerechte Kompensation nicht zu. Eine weitere Schwierigkeit ist die Frage der Anwendung der Strafzumessungslösung im Jugendstrafrecht. Die mit Verweis auf die Notwendigkeit der Festsetzung der erzieherisch erforderlichen Jugendstrafe ablehnende Haltung des BGH4 hinsichtlich der Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der Bemessung der auszusprechenden Sanktion führt ebenfalls zu einer Kompensationslücke, für deren Schließung der BGH keine Lösung anbot. Eine Übertragung des Strafzumessungsmodells inhaltsgleich auf das Jugendstrafrecht und daraus folgend die Vornahme eines Strafabschlags aufgrund überlanger Verfahrensdauer bei der Bemessung der (erzieherisch erforderlichen) Jugendstrafe, stellt keinen gangbaren Weg dar, da dies das System des Jugendstrafrechts unterlaufe, bei welchem im Rahmen der Sanktionenfindung der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht und in diesem Zusammenhang die Berücksichtigung einer Entschädigung für erlittenes Verfahrensunrecht eine Verquickung sachfremder Erwägungen darstellt.5 Insoweit kann zwar Reich in ihrer Position zugestimmt werden, dass aufgrund der unterschiedlichen gesetzgeberischen Intention des Jugendstrafrechts in Form eines auf das Erziehungsprinzip abgestellten Sonderstrafrechts keine unrechtmäßige Schlechterstellung der nach Jugendstrafrecht zu beurteilenden Angeklagten und somit kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt, wenn diese nicht in den Genuss der Strafzumessungslösung kommen.6 Jedoch besteht auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden, vielleicht sogar noch verstärkt, das Bedürfnis nach zügiger Betreibung von Ermittlungsund Strafverfahren sowie das konventions- und verfassungsrechtlich normierte Erfordernis nach entsprechender Kompensation von rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung. Die Berücksichtigung der Verfahrensüberlänge darf auch nicht in allgemeinen Erwägungen bei der Bildung der erzieherisch gebotenen Jugendstrafe untergehen, sondern es muss auch im Bereich des Jugendstrafrechts eine (gesonderte) Form der Entschädigung geben. Dies war nach der bisherigen Konzeption des Strafzumessungsmodells nicht gegeben, so dass auch deshalb ein wie auch immer gearteter Reformbedarf bestand. 4  Siehe

oben unter C. II. 2. aber der Lösungsansatz von Rose, NStZ 2003, 588 (589 f.), ausführlicher dargestellt unter C. II. 3. 6  Siehe Reich, S.  148 f. 5  So



I. Notwendigkeit des Systemwechsels137

Zuletzt ist zudem als großes Manko der Strafzumessungslösung anzuführen, dass eine Kompensationsmöglichkeit nur bei Verurteilung des Angeklagten besteht, jedoch bei einem anderen Verfahrensabschluss, wie der Einstellung des Ermittlungs- oder Strafverfahrens oder einem Freispruch, weder eine Entschädigung für erlittenes Verfahrensunrecht durch überlange Verfahrensdauer vorgesehen ist noch eine solche erfolgt. Hierdurch bestand, wenn man vor allem auch die vielen nach Abschluss der Ermittlungen eingestellten Verfahren ansieht, in einem großen Bereich ein nicht hinnehm­ bares Kompensationsdefizit. Dass dies auch vom EGMR erkannt wurde, zeigte sich insbesondere in dem bereits dargestellten Piloturteil aus dem Jahr 2010 im Fall Rumpf . / . Deutschland, in welchem ebenfalls ein fehlender wirksamer Rechtsbehelf zur Beschleunigung oder Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer angemahnt wurde.7 Inwieweit die Ausführungen des BVerfG in mehreren Entscheidungen zur Strafzumessungslösung, in welchen eine zwingende Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs festgestellt wurde,8 einem Systemwechsel entgegenstehen und lediglich zu einer Reform der Strafzumessungslösung hätten führen müssen, wird untenstehend genauso näher beleuchtet wie die Frage, ob der insbesondere vom 3. Strafsenat geäußerte Einwand, eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung in Form der numerischen Kompensation stelle sich eher als „Fremdkörper“ dar,9 eine Abkehr von der Strafzumessungslösung zwingend erforderte. Klar herauszustellen ist jedoch, dass Reformbedarf bestand. Dem kann auch die positive Bewertung durch den EGMR, der in mehreren Entscheidungen bei einer „eindeutigen und messbaren Minderung der Strafe“ ein Entfall der Opfereigenschaft im Sinne der EGMR annahm und somit die Strafzumessungslösung grundsätzlich positiv bewertete,10 nicht entgegen stehen. Es ist zunächst einmal dem nationalen Recht überlassen, eigenständig die Umsetzung der Konventionsgarantien vorzunehmen und Abhilfemaßnahmen gegen Konventionsverletzungen zu ergreifen. Die Bewertung durch den EGMR stellt nur eine Bewertung im Sinne einer Überprüfung der gefundenen, nationalen Lösung dar, ohne dass hierdurch eine 7  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355. 8  Siehe C. II. 2. 9  BGH, Beschluss vom 07.06.2005, NStZ-RR 2006, 201 (202). 10  Vgl. den EGMR in den Fällen Dzelili . / . Deutschland, Urteil vom 10.11.2005, NVwZ-RR 2006, 513 (516) = StV 2006, 474 (478); Sprotte . / . Deutschland, Urteil vom 17.11.2005, NJW 2006, 3549 (3550); Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648; Weisert . / . Deutschland, Urteil vom 03.04.2007, NJW 2008, 3273.

138

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

zwingende Festschreibung erfolgt. Insoweit steht es dem nationalen Recht auch frei, seine Gesetzgebung und Rechtsprechung zu ändern, ohne sich aufgrund der Rechtsprechung des EGMR an die bisherigen Lösungen gebunden zu fühlen.

II. Formelle Aspekte 1. Durchführung eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG Der 3. Strafsenat legte seinem Vorlagebeschluss die Auffassung zugrunde, dass die beabsichtige Änderung der Rechtsprechung eine „Fortbildung des Rechts von grundsätzlicher Bedeutung“ darstelle und somit eine Vorlage unmittelbar, d. h. ohne vorherige Durchführung eines Anfrageverfahrens bei den anderen Strafsenaten, an den Großen Senat für Strafsachen erfolgen könne.11 Nach der Auffassung des vorlegenden Senats wirke sich die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung insoweit sowohl auf die Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung als auch wegen versuchten Betruges aus, wobei die Frage der Unterschreitung des gesetzlichen Strafrahmens zur Vornahme des erforderlichen Ausgleichs – wie hier bei der Verurteilung wegen des Brandstiftungsdeliktes mit seiner Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren – bisher noch nicht Gegenstand einer Senatsentscheidung gewesen sei, weswegen hier eine Grundsatzvorlage in Betracht komme. Darüber hinaus liege im Rahmen der Kompensation bei der Festsetzung der Strafe für den versuchten Betrug eine Divergenz zum bisherigen Strafzumessungsmodell vor, da hiervon abgewichen werden solle.12 Dennoch erfolgte ohne nähere Begründung, lediglich mit dem lapidaren Hinweis auf den Gesetzeswortlaut und die Norm des § 132 Abs. 4 GVG, die direkte Vorlage an den Großen Strafsenat. § 132 GVG ist die rechtliche Grundlage für die Bildung der Großen Senate beim BGH und enthält abschließend geregelt die Vorlagemöglichkeiten.13 Eine Divergenzvorlage ist gemäß § 132 Abs. 2 GVG vorgesehen, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Hierbei muss die zu entscheidende Rechtsfrage im konkreten Fall entscheidungserheblich und die frühere Entscheidung, von der abgewichen werden soll, hiervon getragen sein.14 Die Grundsatzvorlage nach § 132 Abs. 4 GVG kann erfolgen, wenn 11  BGH,

Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2008, 3294 (3298). Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2008, 3294 (3297 f.). 13  KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 1; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 5. 14  LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 6; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 15. 12  BGH,



II. Formelle Aspekte139

dem erkennenden Senat eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, zur Entscheidung vorliegt und die Vorlage an den Großen Senat zur Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Während der Divergenzvorlage zwingend gemäß § 132 Abs. 3 GVG ein Anfrageverfahren bei den Senaten, von deren Entscheidung abgewichen werden soll, vorauszugehen hat mit dem Ziel der Klärung, ob an der bisherigen Rechtsprechung weiter festgehalten werden soll, und zudem bei Fortbestehen der Divergenz eine Vorlagepflicht an den Großen Strafsenat besteht, liegt die Grundsatzvorlage selbst bei Vorliegen aller Voraussetzungen im Ermessen des Senats. Dieser kann aber, trotz Fehlen einer entsprechenden, gesetzlichen Regelung, ebenfalls ein Anfrageverfahren bei allen Strafsenaten durchführen.15 Fraglich ist, wie verfahren werden muss, wenn die Voraussetzungen beider Vorlageformen vorliegen. Früher vertrat der BGH, noch hinsichtlich der vorherigen Regelungen der §§ 136 ff. GVG a. F., die Auffassung, dass für den Fall der Divergenz „ein besonderes Vorlageverfahren“ vorliege und dieses der Grundsatzvorlage vorgehe. Dies wurde vor allem damit begründet, weil in der früheren Gesetzesfassung unterschiedliche Besetzungsregelungen für die einzelnen Vorlageformen getroffen worden sind.16 Mittlerweile hat der BGH in Bezug auf den neu gefassten § 132 GVG entschieden, dass die gleichzeitige Vorlegung nach den Vorschriften der Abs. 2 und Abs. 4, d. h. Divergenz- und Grundsatzvorlage, zulässig sei, da der Große Senat in beiden Fällen – entgegen der früheren Rechtslage – gleich besetzt sei.17 Diese Auffassung wird teilweise auch in der Literatur vertreten,18 andere Stimmen sehen jedoch auch nach der Neufassung weiter die Divergenzvorlage als „vorgreiflich“ an.19 Tatsächlich ist nach der aktuellen Gesetzesfassung für die meisten Vorlageverfahren die gleiche Besetzung des Großen Senats vorgesehen. Nach § 132 Abs. 5 S. 2 GVG tritt lediglich ein weiteres, zusätzliches Senatsmitglied hinzu, wenn ein anderer Senat, d. h. 15  Dies

ist auch ständige Praxis, vgl. KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 16. Großer Senat, Beschluss vom 07.11.1986, NJW 1986, 1764 (1765). 17  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 22.11.1994, NJW 1995, 407 (408). 18  KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 16. 19  Kissel / Mayer, § 132 Rn. 30, begründen dies weiterhin mit der möglichen erweiterten Besetzung des Großen Senats für den Fall, dass „andere Senate“ im Sinne des § 132 Abs. 5 S. 2 GVG, z. B. die Senate für Anwaltssachen, Steuerberatersachen oder Notarsachen bzw. der Kartellsenat, die Rechtsfrage vorlegen; LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 39, stellt zwar fest, dass der Senat nach der Neufassung stets gleich besetzt sei, sieht die Divergenzvorlage jedoch deshalb als „vorgreiflich“ an, weil ansonsten ein Senat, der nach bereits erfolgter Aufhebung und Rückverweisung einer Sache erneut damit in der Revision betraut ist, bei nunmehr abweichender Auffassung ansonsten über eine Grundsatzvorlage die Selbstbindung des Revisionsgerichts umgehen könne. 16  BGH,

140

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

der weder Zivil- noch Strafsenat, sondern ein Spezialsenat ist (hierzu zählen das Dienstgericht des Bundes für die Richter im Bundesdienst nach § 61 DRiG, der Senat für Anwaltssachen (§ 106 BRAO), der Kartellsenat nach § 94 GWB u. ä.), vorlegt oder wenn von dessen Entscheidung abgewichen werden soll.20 Entscheidend ist deshalb, dass die Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 GVG die speziellere Regelung darstellt und mit dem Anfrageverfahren weitergehende Vorlagevoraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Vorlage durchführen zu können. Zudem ist der Formulierung der Divergenzvorlage als Pflichtvorlage – während die Grundsatzvorlage als „kann“-Bestimmung ausgestaltet ist – zu entnehmen, dass diese Vorlageart auf jeden Fall einschlägig und zu beachten ist, auch wenn gleichzeitig die Voraussetzungen des § 132 Abs. 4 GVG vorliegen. Der BGH hat sich hierzu noch nicht positioniert, seine Entscheidung hinsichtlich der Möglichkeit der gleichzeitigen Vorlage nach § 132 Abs. 2 und Abs. 4 GVG21 steht dem nicht entgegen, vielmehr ist sie dahingehend fortzuführen, dass hierbei auch alle Voraussetzungen des § 132 GVG, einschließlich der Durchführung des Anfrageverfahrens, erfüllt sein müssen.22 Es ist somit zu prüfen, ob neben der vom vorlegenden 3. Strafsenat angenommenen Divergenz in Bezug auf die Verurteilung wegen versuchten Betruges auch hinsichtlich des Tatbestandes der besonders schweren Brandstiftung in der beabsichtigen Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung des BGH vorlag.23 Das Instanzgericht hatte aufgrund der überlangen Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung die in § 306b Abs. 2 StGB angedrohte Mindeststrafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB abgemildert, was eine Strafrahmenverschiebung darstellt. Hierzu hatte sich der BGH bereits geäußert. In einer Entscheidung vom 22.01.1992 wies er ausdrücklich darauf hin, dass die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung einen wesentlichen Strafmilderungsgrund darstelle, der „schon bei der Strafrahmenwahl zugunsten des Angeklagten ins Gewicht fallen“ müsse.24 Hierbei kann es jedoch keinen Unterschied machen, ob die Strafrahmenverschiebung aufKissel / Mayer, § 132 Rn. 10. Großer Senat, Beschluss vom 22.11.1994, NJW 1995, 407 (408). 22  So auch Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2211); Kissel / Mayer, § 132 Rn. 30. 23  Vgl. auch Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2212). 24  BGH, Beschluss vom 22.01.1992, NStZ 1992, 229 (230); im Grundsatz so auch vertreten in einer Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994, NJW 1995, 1277 (1278), worin bestätigt wurde, dass die rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung durch die konkrete Strafbemessung „wie auch der Entscheidung der Frage einer Milderung gem. den §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB für die versuchten Taten und der Prüfung des Vorliegens eines besonders schweren Falles“ ausreichend berücksichtigt worden sei. 20  Vgl.

21  BGH,



II. Formelle Aspekte141

grund der Nichtannahme eines besonders schweren Falles, über die Strafmilderung aufgrund der Versuchsstrafbarkeit oder – wie im Fall des Vorlagebeschlusses – über eine ausdrücklich analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB erfolgt. In allen Fällen handelt es sich um eine so im Gesetz nicht vorgesehene Verschiebung der Mindeststrafe zur Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, wenngleich sicherlich in den ersten beiden der genannten Fallkonstellationen im StGB enthaltene Einfallstore genutzt werden. Es liegen somit vergleichbare Sachverhalte vor, so dass zur Frage der Strafrahmenverschiebung wegen überlanger Verfahrensdauer bereits eine anderslautende – nämlich diese befürwortende – Entscheidung des BGH vorlag. Jedoch – und das übersehen Ignor / Bertheau – handelt es sich um einen Beschluss des 3., also selben Strafsenats, mit dem eine Divergenz besteht und von dem abgewichen werden soll. Von seiner eigenen Rechtsprechung kann ein Senat aber jederzeit abweichen, ohne dass eine Divergenzvorlage notwendig ist, es sei denn, die geäußerte Rechtsansicht ist mittlerweile von anderen Senaten oder dem Großen Senat in entscheidungserheblicher Weise übernommen worden,25 was hier nicht ersichtlich ist. Der vorlegende Senat hat somit im Ergebnis zu Recht hinsichtlich des Brandstiftungsdeliktes die Voraussetzungen einer Divergenzvorlage verneint. Jedoch wäre dennoch zunächst ein Anfrageverfahren bei den anderen Strafsenaten durchzuführen gewesen aufgrund der Divergenz im Hinblick auf das Umschwenken von der bisherigen Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung hin zur analogen Anwendung des § 51 StGB hinsichtlich der Betrugsstrafbarkeit. Insoweit betraf das Vollstreckungsmodell als solches auch die bisherige, einhellige Rechtsprechung aller Senate des BGH zur Strafzumessungslösung. Da ein vollständiger System- und somit auch Rechtsprechungswechsel erfolgen sollte, hätte insgesamt zur Frage des Übergangs von der Strafzumessungszur Vollstreckungslösung ein Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 GVG bei allen anderen Strafsenaten erfolgen müssen. Der Große Senat hätte erst angerufen werden dürfen, wenn insoweit die Divergenz hinsichtlich noch mindestens eines Strafsenats bestehen geblieben wäre. Positiver Nebeneffekt hiervon wäre gewesen, dass das Anfrageverfahren genügend Raum geschaffen hätte, um die wünschenswerte, breitere wissenschaftliche Diskussion führen zu können.26 Folge der mangelnden Durchführung des Anfrageverfahrens ist jedoch nicht die Unwirksamkeit der getroffenen Entscheidung. Vielmehr könnte darin ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters aus 25  LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 13; KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 5; Kissel /  Mayer, § 132 Rn. 17. 26  So wohl auch Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2212).

142

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu sehen sein.27 Zwar wurde anstatt des Anfrageverfahrens und einer anschließenden Divergenzvorlage die Rechtsfrage sofort dem Großen Senat wegen der grundsätzlichen Bedeutung vorgelegt, so dass das selbe Gericht zur Entscheidung berufen war, zumal der Große Senat entsprechend § 132 Abs. 5 GVG für diesen Fall, da ein Strafsenat und somit kein „anderer Senat“ im Sinne des § 132 Abs. 5 S. 2 GVG vorlegte, die gleiche Besetzung aufwies. Dennoch liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vor. Zwar war nach der allgemeinen Zusammensetzung entsprechend der Normierung im GVG das genau gleiche Gremium zur Entscheidung über beide Vorlagen berufen, die konkrete personelle Besetzung hätte aufgrund der zeitlich späteren Befassung nach Durchführung des Anfrageverfahrens wegen eines möglicherweise veränderten Geschäftsverteilungsplanes und des Ausscheidens und Neueintretens von Senatsmitgliedern eine andere sein können. Eine Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG ist hierdurch jedoch nicht begründet, da kein willkürliches Handeln zum Verstoß gegen das Grundgesetz führte. 2. Entgegenstehende Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG Einer Abkehr von der Strafzumessungslösung und somit auch einer neuen Kompensationsmöglichkeit in Form des Vollstreckungsmodells könnte aufgrund der zahlreichen, eine Berücksichtigung bei der konkreten Strafbemessung bestätigenden Entscheidungen des BVerfG eine Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG entgegenstehen. So hat sich mittlerweile eine gefestigte Rechtsprechung des BVerfG herausgebildet,28 woraus entnommen werden kann, dass eine überlange Verfahrensdauer, die durch vermeidbare Verzögerungen der Justizorgane bedingt ist, zwingend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sei. Das BVerfG führt hierzu in mehreren Entscheidungen ähnlich lautend aus, dass die überlange Dauer des Verfahrens den Beschuldigten zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzte, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können und mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss, trete, weshalb „sich eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung auswirken“ müsse.29 27  LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 32; KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 10; Kissel /  Mayer, § 132 Rn. 16. 28  Siehe auch oben unter C. II. 2. 29  BVerfG, Beschluss vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254 (3255).



II. Formelle Aspekte143

Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden Entscheidungen des BVerfG neben den Verfassungsorganen des Bundes und der Länder auch alle Gerichte und Behörden, so dass sie in ihren Entscheidungen hiervon nicht abweichen dürfen, ohne sich in einen Gegensatz zum BVerfG zu stellen. Die Aufgabe der Strafzumessungslösung könnte eine solche Abweichung von der klaren und bindenden Position des BVerfG darstellen. Zunächst ist unstreitig, dass die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG bei Entscheidungen der beiden Senate des BVerfG eintritt.30 Darüber hinaus liegt aufgrund des § 93c Abs. 1 BVerfGG eine Bindungswirkung auch bei stattgebenden Kammerentscheidungen vor, die in ihrer Wirkung Senatsentscheidungen gleichstehen.31 Keine Bindungswirkung hingegen entfalten Kammerbeschlüsse, mit denen gemäß § 93b BVerfGG eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, da mit ihnen keine Entscheidung in der Sache ergeht.32 Die Bindungswirkung erfasst sowohl bei Senats- als auch stattgebenden Kammerentscheidungen neben dem Tenor auch die die Entscheidung tragenden Gründe, wobei eine Missachtung der Bindungswirkung gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstößt.33 Entscheidend ist jedoch, dass die Regelung des § 93c BVerfGG deshalb geschaffen wurde, um der Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichts Herr zu werden und nicht um weitergehende Kompetenzen auf die Kammern zu übertragen. Deshalb ist die Kammer nur zur Entscheidung mit entsprechender Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG befugt, wenn der Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung gemäß § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG zukommt, die für ihre Beurteilung maßgebliche Frage durch eine Senatsentscheidung des BVerfG bereits geklärt ist und die Verfassungsbeschwerde in diesem Sinne offensichtlich begründet ist.34 Stattgebende Kammerentscheidungen sollen keine neuen Themengebiete eigenständig verfassungsrechtlich erschließen können, dann ist die Grenze ihrer Zuständigkeit überschritten.35 Sinn und Zweck der Regelung des § 93c BVerfG ist die Verstärkung der Geltung der von einem Senat des BVerfG bereits aufgestellten Grundsätze durch eine fallorientierte Spezifi30  Rixen, NVwZ 2000, 1364; Umbach / Clemens / Dollinger-Schlemmer, § 93c Rn. 13. 31  BVerfG, Beschluss vom 05.12.2005, NJW 2006, 672 (674); Gaier, JuS 2011, 961 (963); Rixen, NVwZ 2000, 1364 (1366); Umbach / Clemens / Dollinger-Schemmer, § 93c Rn. 14. 32  BVerfG, Beschluss vom 24.01.1995, NJW 1995, 1733. 33  BVerfG, Beschluss vom 06.11.1968, NJW 1969, 267; BVerfG, Beschluss vom 10.06.1975, NJW 1975, 1355 (1356); BVerfG, Beschluss vom 12.11.1997, NJW 1998, 519 (522); BVerfG, Beschluss vom 05.12.2005, NJW 2006, 672 (674). 34  Krehl, StV 2006, 407 (409 f.). 35  Strate, NJW 2006, 1480 (1482).

144

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

zierung.36 Hierzu ist es also nicht notwendig, dass der zur Entscheidung anstehende Sachverhalt bereits Gegenstand einer Senatsentscheidung war. Es reicht vielmehr aus, dass der verfassungsrechtliche Maßstab festgelegt worden ist, der durchaus allgemeiner Natur sein und durch die Kammern im konkreten Einzelfall ausgefüllt werden kann.37 Zu prüfen ist somit, ob bereits Senatsentscheidungen vorliegen, die einen grundsätzlichen Maßstab zu der Frage der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen vorgeben. Mehrere solcher, bereits ältere Entscheidungen gibt es, die sich mit den Voraussetzungen überlanger Verfahrensdauer und mit dem darin liegenden Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz als festem Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, der im gesamten Strafverfahren Geltung besitzt, befassen.38 Entgegen der Auffassung Krehls39 ist hierin jedoch kein „hinreichend konkretes verfassungsrechtliches Fundament“ zur Frage, wie eine Kompensation für eine Verfahrensverzögerung aus verfassungsrechtlichen Gründen zu gewähren ist, zu sehen. Den Senatsentscheidungen sind einzelne Fallkonstellationen zu entnehmen, aus denen auf die konkreten Anforderungen an eine ausreichende Beschleunigung von Ermittlungs- und Strafverfahren je nach Ausprägung der einzelnen Verfahrenskonstellation geschlossen werden kann. Es liegen somit nur bindende Anhaltspunkte für die Frage des „ob“ einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung vor, nicht, wie eine entsprechende Verletzung auszugleichen ist. Auch die von Krehl vorgenommene Verknüpfung dieser Senatsrechtsprechung mit einem Senatsbeschluss zur allgemeinen Frage der Verhältnismäßigkeit von Strafen, in welcher festgestellt wurde, dass staatliches Strafen auf mehreren Ebenen der aus dem Rechtsstaatsprinzip geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen seien und „die einen Täter treffenden Folgen einer strafbaren Handlung zur Schwere der Rechtsgutsverletzung und des individuellen Verschuldens in einem gerechten Verhältnis stehen“40 müssen, geht fehl, soweit er hieraus den Schluss zieht, diese durch eine Senatsrechtsprechung klar bezeichnete Grenze staatlichen Strafens führe zu der zwingenden Folge, dass auch bei überlanger Verfahrensdauer zu prüfen sei, „ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann“.41 Ob eine entsprechende Kompensa­ 36  Rixen,

NVwZ 2000, 1364 (1366). StV 2006, 407 (410); Ziegert, StraFo 2008, 321 (327). 38  BVerfG, Beschluss vom 03.05.1966, BVerfGE 20, 45 (50); BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973, BVerfGE 36, 264 (273); BVerfG, Beschluss vom 09.03.1976, BVerfGE 42, 1 (11); BVerfG, Beschluss vom 26.05.1981, BVerfGE 57, 250 (274 f.); BVerfG, Beschluss vom 12.01.1983, BVerfGE 63, 45 (69). 39  Krehl, StV 2006, 407 (410). 40  BVerfG, Beschluss vom 15.05.1995, NJW 1995, 1811 (1814). 41  Krehl, StV 2006, 407 (410). 37  Krehl,



II. Formelle Aspekte145

tion im Rahmen der Strafzumessung zu erfolgen hat, ist sicherlich eine aufgrund der Entscheidung des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit des Strafens zu prüfende, vielleicht sogar naheliegende Option, aber gerade noch nicht durch eine Senatsentscheidung festgelegt.42 Der Auffassung Krehls, die näheren Bestimmung, wie eine entsprechende Kompensation im Rahmen der Strafzumessung zu erfolgen habe, bewege sich im Rahmen des durch eine Senatsentscheidung gezogenen Rahmens und könne durch Kammerentscheidungen erfolgen,43 kann nicht gefolgt werden. Gerade diese Verbindung zwischen einer überlangen Verfahrensdauer und somit einem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und der Strafzumessungsrelevanz dieser Frage wurde bislang durch eine Senatsentscheidung nicht hergestellt. Es ist eine Überinterpretation der genannten verfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Verhältnismäßigkeit des Strafens, die sich im Übrigen von der Thematik her mit der Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit der Spionage in der früheren DDR befasste, weil Belastungen durch unangemessen lange Verfahrensdauer hierin nicht in Bezug genommen wurden und sich hieraus auch nicht zwingend ergibt, dass diese im sich an Schuldgesichtspunkten orientierenden Sanktionensystem des StGB ausgeglichen werden müssen. Die vorliegenden Entscheidungen des BVerfG zur Strafzumessungslösung44 sind allesamt Kammerentscheidungen. Hinsichtlich der Frage der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrenszögerungen liegen keine Senatsentscheidungen vor. Auch Ziegert ist nicht zuzustimmen, der eine Senatsentscheidung des BVerfG zur überlangen Dauer eines Disziplinarverfahrens als ausreichender, verfassungsrechtlicher Maßstab „allgemeiner Natur“ anerkennt.45 Im Senatsbeschluss des BVerfG vom 04.10.1977 wird ausgeführt, dass jede vermeidbare Verzögerung von Disziplinarverfahren, welche ihrer Natur nach mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen seien, den Beschuldigten einem Eingriff und einer Belastung aussetze, „die fühlbar schwerer sind als im Falle der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens“ und somit mit zunehmender Verzögerung des Abschlusses des Verfahrens die Aufrechterhaltung einer Gehaltskürzung als vorläufige, disziplinarische Maßnahme „immer stärker in einen Widerstreit mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit“ gerate, so dass sich bei Eintritt der Unverhältnismäßigkeit eine weitere Aufrechterhaltung verbiete.46 Ziegert sieht hierin ein Judiz in der Form, dass Verfahrensverzögerungen eine schwere Belastung darstellen, die Auswirkungen auf die zu verhängende Sanktion habe, welche durch die Beauch Bußmann, NStZ 2008, 236 (237). StV 2006, 407 (411). 44  Näher hierzu siehe oben unter C. II. 2. 45  Ziegert, StraFo 2008, 321 (327). 46  BVerfG, Beschluss vom 04.10.1977, NJW 1978, 152 (153). 42  So

43  Krehl,

146

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

lastung unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden könne.47 Er verkennt hierbei jedoch zum einen die Zielrichtung der Senatsentscheidung, die sich mit einer laufenden Sanktionierung befasst, im Strafverfahren vergleichbar mit vollzogener Untersuchungshaft, deren weitere Aufrechterhaltung bei überlanger Verfahrensdauer unverhältnismäßig werden kann. Hieraus kann nicht in einem weiteren Schritt abgeleitet werden, dass bei der Bildung einer vollständig neu auszusprechenden Disziplinarmaßnahme ohne vorherige, begleitende Sanktionierung zwingend eine Berücksichtigung der Verfahrensdauer bei der konkreten Bestimmung der Maßnahme zu erfolgen hat. Der Entscheidung kann insoweit nicht entnommen werden, dass sich dies auch auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auswirkt. Zum anderen sind Disziplinar- und Strafverfahren zwei nur bedingt vergleichbare Verfahrensgestaltungen, die nur ähnliche Zielrichtungen verfolgen und bei der Bestimmung der anstehenden Sanktion andere Kriterien zugrunde legen (Disziplinierungsgedanke im Gegensatz zum Schuldprinzip), so dass schon deshalb ein verfassungsgerichtlich für die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Sanktion in einem der beiden Verfahrensarten festgelegter Maßstab nicht ohne weiteres auf die andere übertragen werden könnte. Da somit die bezogene Senatsentscheidung zu weit interpretiert worden ist und die zugrundeliegenden Fallgestaltungen nicht vergleichbar sind, ist hieraus kein Judiz und kein allgemein festgelegter Maßstab zu entnehmen, der auf überlange Verfahrensdauer im Strafverfahren übertragbar ist. Es liegt somit kein durch eine Senatsentscheidung aufgestellter Grundsatz zur Berücksichtigung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz im Bereich der Strafzumessung vor, der selbst oder in Form einer diese konkretisierende Kammerentscheidung Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG erlangt hat und wogegen durch den Systemwechsel hätte verstoßen werden können.48 Vielmehr sind die – allesamt eine Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückweisenden – Kammerentscheidungen zur Strafzumessungslösung eine Bestätigung durch das BVerfG dafür, dass diese Art der Kompensation bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine mit der Verfassung in Einklang stehende Möglichkeit darstellt, ohne diese als zwingende Folge festzuschreiben. Es besteht für den BGH somit ein vom Verfassungsgericht nicht begrenzter Spielraum, durch Änderung seiner Rechtsprechung im Rahmen des geltenden Rechts zu anderen Kompensationsmöglichkeiten zu 47  Ziegert,

StraFo 2008, 321 (327). Roxin wirft die Frage der „möglicherweise“ eingetretenen Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG ebenfalls auf, reklamiert eine mangelnde Auseinandersetzung mit dieser Problematik durch den BGH und positioniert sich selbst letztlich hierzu nicht. Es erfolgt lediglich die Anmerkung, dass „das BVerfG auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG die Strafzumessungslösung maßgeblich entwickelt“ habe, StV 2008, 14 (17). 48  I.



III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR147

greifen, wenngleich in einer solch bedeutenden Rechtsfrage eine Senatsentscheidung des BVerfG zur endgültigen Klärung wünschenswert wäre.

III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR Der Beschleunigungsgrundsatz findet neben der verfassungsrechtlichen Verankerung seine Grundlage in der Europäischen Menschenrechtskonvention, so dass sich ein im nationalen Recht gefundenes Kompensationsmodell zur Vermeidung einer entsprechenden Sanktionierung durch den EGMR auch an den Gewährleistungen der EMRK und den sie konkretisierenden Vorgaben des EGMR messen lassen muss. Die Vollstreckungslösung des BGH ist somit auf ihre Vereinbarkeit mit den in den Art. 6, 13 und 35 und 41 EMRK enthaltenen, konventionsrechtlichen Regelungen zu überprüfen. 1. Kriterien des Art. 6 EMRK Zunächst ist festzustellen, dass bei den zur Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer heranzuziehenden Kriterien seit längerer Zeit eine Diskrepanz zwischen dem nationalen Recht in Form der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH und den Festlegungen durch den EGMR besteht, die auch durch die Entscheidung des Großen Senats nicht aufgelöst wurde. Vielmehr äußerte er sich nicht zu den Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, so dass er stillschweigend die bisherige Linie des BGH akzeptierte.49 Wie bereits dargestellt50 kommt der Angemessenheit der Gesamtverfahrensdauer nach dem BGH entscheidende Bedeutung zu, so dass auch – entgegen dem EGMR – Verzögerungen während einzelner Verfahrensabschnitte unschädlich sein können, wenn die Gesamtdauer des Verfahrens angemessen ist. Dies könnte dazu führen, dass aufgrund des strengeren Maßstabs des EGMR durch diesen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung angenommen wird, während das nationale Recht eine solche nicht bejaht. Eine Verurteilung durch den EGMR ist dann zu erwarten und im System angelegt. Auch in einem weiteren Punkt besteht die Gefahr einer unterschiedlichen Beurteilung des Einzelfalls durch EGMR und BGH. Bislang erging hierzu lediglich eine Entscheidung des BGH,51 49  Auch von Weber, JR 2008, 36 (38), wird kritisiert, dass keine Auseinandersetzung mit den uneinheitlichen Kriterien zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer erfolgt ist. 50  Siehe oben unter C. I. mit detaillierten Nachweisen. 51  BGH, Urteil vom 25.10.2000, BGHSt 46, 159 (174) = NJW 2001, 1146 (1148) mit Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254.

148

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

die bislang in der Rechtsprechung unwidersprochen blieb. Dennoch ist das Heranziehen des Maßes des Verschuldens bei der Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ein systemwidriges Kriterium, welches nicht den Voraussetzungen des Art. 6 EMRK entspricht. Die bislang vom EGMR zu Recht angenommenen vier Beurteilungspunkte der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers sowie der Sachbehandlung durch die nationalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, die sicherlich nicht zwingend als abschließend zu betrachten sind, beziehen sich allesamt auf das Verfahren, so dass das tatbezogene Kriterium des Verschuldens hierzu nicht passt. Es ist darüber hinaus auch nicht mit dem Sinn und Zweck des Beschleunigungsgrundsatzes vereinbar, dass ein höheres Maß an Verschulden des Täters eine längere Verfahrensdauer rechtfertige, da dies nichts über die zur Durchführung des Verfahrens notwendige Zeitspanne aussagt und die EMRK insoweit keine Unterschiede hinsichtlich des Schutzbedürfnisses vor überlanger Verfahrensdauer enthält.52 Die angemessene Verfahrensdauer ist unabhängig vom Verschulden des Täters festzulegen. In beiden Fällen steht die nationale Rechtsprechung somit nicht in Einklang mit den menschenrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, insbesondere den Kriterien, wie sie durch den EGMR festgelegt worden sind. Es besteht deshalb die Gefahr, dass es bereits bei der Festlegung, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, zu unterschied­ lichen Beurteilungen durch die nationalen Strafgerichte und das BVerfG auf der einen und dem EGMR auf der anderen Seite und somit zu einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Gerichtshof kommen kann. Eine Angleichung an die sachgerechten Beurteilungskriterien des EGMR ist dringend geboten. 2. Vollstreckungslösung als Kompensation und wirksamer Rechtsbehelf Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die Vollstreckungslösung mit den Regelungen der Art. 13, 35 und 41 EMRK vereinbar ist und sowohl eine hinreichende Entschädigungsregelung zur Kompensation einer Konventionsverletzung darstellt als auch als wirksamer Rechtsbehelf zur innerstaatlichen Gel52  So auch Demko, HRRS 2005, 283 (294 f.); Paeffgen, StV 2007, 487 (493); I. Roxin, StraFo 2001, 51 (52); I. Roxin, StV 2001, 490 (491); einen Schritt weiter geht Kempf, StV 2001, 134 (135), der ein Abstellen auf das Maß des Verschuldens sogar als einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ansieht, was jedoch zu weit geht und es zudem deshalb unschädlich wäre, weil sich dies lediglich günstig für den Beschuldigten auswirken würde.



III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR149

tendmachung einer Verletzung der EMRK anzusehen ist. Denn sollte durch den betroffenen Konventionsstaat bei Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung keine oder nur eine unvollkommene Wiedergutmachung geleistet worden sein, so würde die Opfereigenschaft nicht entfallen und der Betroffene über einen Gang zum EGMR eine gerechte Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK zugesprochen bekommen. Zudem läge bei Nichtvorhandensein eines wirksamen Rechtsbehelfs ein weiterer, entschädigungspflichtiger Verstoß gegen Art. 13 EMRK vor. Außerdem wäre einer Klageflut zum EGMR Tür und Tor geöffnet, da mangels Subsidiarität im Sinne des Art. 35 EMRK kein zunächst zu bestreitender, nationaler Rechtsweg vorliegt. a) Bindungswirkung Auch hinsichtlich der vom EGMR getroffenen Entscheidungen, mit denen die Strafzumessungslösung als taugliches Mittel zur Kompensation von Verletzungen des Beschleunigungsgrundsatzes und somit zum Entfallen der Opfereigenschaft des Betroffenen bezeichnet wird,53 ist zu erörtern, ob hierdurch eine Bindungswirkung eingetreten ist und andere Mittel zur Kompensation somit ausgeschlossen sind. Zunächst ist festzustellen, dass eine dem § 31 BVerfGG vergleichbare Regelung der EMRK nicht zu entnehmen ist. Es ist zwar richtig, dass dem EGMR die Rolle zukommt, die Garantien der EMRK zu konkretisieren und über die Auslegung der EMRK letztverbindlich zu entscheiden, so dass den Entscheidungen grundsätzliche Bedeutung zukommt, die nach der Auslegung des BVerfG eine normative Leitfunktion für das nationale Recht mit Bindungswirkung für die innerstaatlichen Gerichte darstellen.54 Dies gilt jedoch nur für die Auslegung und die Bestimmung der Reichweite der Konventionsgarantien, deren Hüter der EGMR ist. Wie eine eingetretene Konventionsverletzung zu kompensieren ist, damit eine Verurteilung durch den Gerichtshof vermieden werden kann, ist Sache der Konventionsstaaten. Dies ist Art. 35 EMRK zu entnehmen, der die Subsidiarität nationaler Rechtsbehelfe und somit auch nationaler Kompensationsmöglichkeiten enthält. Jede Nation kann im Rahmen ihrer eigenen Rechtssetzung, sei es durch den Gesetzgeber oder durch Auslegung und Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen durch die (obersten) Gerichte, eine Rege53  EGMR in den Fällen Eckle . / . Deutschland, Urteil vom 15.07.1982, EuGRZ 1983, 371 (378); Dzelili . / . Deutschland, Urteil vom 10.11.2005, NVwZ-RR 2006, 513 (516) = StV 2006, 474 (478); Sprotte . / . Deutschland, Urteil vom 17.11.2005, NJW 2006, 3549 (3550); Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1263); Chraidi . / . Deutschland, Urteil vom 26.10.2006, EuGRZ 2006, 648; Weisert . / . Deutschland, Urteil vom 03.04.2007, NJW 2008, 3273. 54  Zuletzt BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, NJW 2011, 1931 (1935) mit weiteren Nachweisen.

150

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

lung treffen, die sich ins nationale Recht einpasst. Über Art. 13 EMRK besteht zwar eine Verpflichtung, einen wirksamen Rechtsbehelf zur Geltendmachung von Konventionsverletzungen zu schaffen, aber auch dort bleibt die konkrete Ausgestaltung den jeweiligen Staaten überlassen. Dem EGMR kommt nach dem Verständnis der EMRK in beiden Bereichen jedoch lediglich die Rolle des Überprüfers zu, ob die jeweils gefundenen Lösungen des nationalen Rechts mit der Konvention im Einklang stehen, ohne dies damit festzuschreiben.55 Den nationalen Rechtsordnungen soll hierbei weiterhin die Kompetenz zustehen, ihre Regelungen zu verändern und insbesondere auch ihr Rechtsschutzsystem selbst zu regeln. Dieses Selbstverständnis kann auch der bislang einzigen Entscheidung des EGMR, die sich, zumindest ansatzweise, mit dem Vollstreckungsmodell befasste, entnommen werden. Im Urteil vom 22.01.2009, den Fall Kaemena und Thönebohn . / . Deutschland betreffend, erfolgte keine kritische Auseinandersetzung mit der Aufgabe der bisherigen Strafzumessungslösung, vielmehr begrüßte der Gerichtshof den durch den Großen Strafsenat des BGH neu eingeschlagenen Weg, ohne sich jedoch im Einzelnen mit der Vereinbarkeit mit der Konvention zu beschäftigen.56 In der Entscheidung ist lediglich der Hinweis enthalten, dass vor dem Systemwechsel im Hinblick auf die mangelnde Kompensationsmöglichkeit bei lebenslanger Freiheitsstrafe zumindest in diesem Bereich kein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK zur Verfügung stand.57 Entgegen der Auffassung Reichs58 ist der genannten Entscheidung darüber hinaus aber keine ausdrückliche Anerkennung der Vollstreckungslösung als wirksamer Rechtsbehelf zur Geltendmachung einer unangemessenen Verfahrensdauer zu entnehmen. Der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zur Strafzumessungslösung kommt deshalb keine Bindungswirkung zu, so dass eine Änderung durch den BGH insoweit unproblematisch war. b) Vereinbarkeit mit dem Entschädigungsgedanken der EMRK Eine Nichtvereinbarkeit der Vollstreckungslösung könnte sich jedoch aus den weiteren Regelungen der EMRK ergeben. Das System der EMRK 55  So auch Tiwisina, S. 116; andere Ansicht wohl I. Roxin, StV 2008, 14 (16), wonach aufgrund der Bindungswirkung der Rechtsprechung des EGMR ein Verstoß der Vollstreckungslösung gegen die EMRK vorliege. 56  EGMR im Fall Kaemena und Thöneböhn .  / . Deutschland, Urteil vom 22.01. 2009, StV 2009, 561 (563). 57  EGMR im Fall Kaemena und Thöneböhn .  / . Deutschland, Urteil vom 22.01. 2009, StV 2009, 561 (563). 58  Reich, S. 85.



III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR151

lässt den Mitgliedsstaaten weitgehend freie Hand bei der Frage, wie auf Konventionsverletzungen zu reagieren ist.59 Im Einzelfall erfolgt dann eine Überprüfung der jeweils gefundenen Entschädigungslösung anhand der Kriterien der EMRK. Das hat, wie bereits dargestellt,60 bislang dazu geführt, dass die Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen im Strafurteil bei der Strafzumessung eine hinreichende Entschädigung darstellte, sogar die bloße Feststellung der Konventionsverletzung ohne weitere Entschädigung ausreichte, und es ist, wie es auch das Urteil im Fall Kaemena und Thönebohn . / . Deutschland andeutet, zu erwarten, dass auch die Vollstreckungslösung im Einzelfall geeignet ist, eine hinreichende Entschädigung im Sinne der Art. 41 EMRK mit der Folge des Entfalls der Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne der EMRK zu gewähren. Der vom EGMR hierfür gewährte Spielraum ist weit gefasst und schließt diverse Formen der Wiedergutmachung für den Betroffenen ein. Der in der Literatur mehrfach vertretenen Auffassung, dass sich die Vollstreckungslösung „sogar folgerichtiger“61 einfüge, da sie sich allein auf die besonderen Umstände der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung beziehe, ohne Bezug zu Schuldgesichtspunkten, und sich somit allein an der Entschädigung des durch die Verletzung des Konventionsrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts orientiere, kann nur bedingt zugestimmt werden. Dies stellt sicherlich einen deutlichen Vorzug des Vollstreckungsmodells gegenüber der Strafzumessungslösung dar und ist für sich genommen mit dem Entschädigungsgedanken der EMRK besser in Einklang zu bringen. Doch stellt dies nur eine punktuelle Lösung dar, die nur einen Teil der entschädigungspflichtigen Verstöße gegen den Beschleunigungsgrundsatz umfasst und für sich genommen eine ausreichende Entschädigung darstellen mag. Bei Betrachtung des gesamten Systems drängt sich jedoch zwangsläufig eine andere Bewertung auf. Die im nationalen Recht gefundene Lösung muss sich in ihrer Gesamtheit an den Vorgaben der EMRK (in ihrer Auslegung und Fortentwicklung durch den EGMR) messen lassen, auch wenn im Einzelfall bei Anwendung der Vollstreckungslösung eine ausreichende, angemessene Entschädigung festzustellen ist. Der Auffassung Heghmanns,62 wonach ein Individualbeschwerderecht überhaupt nur dann bestehe, wenn aufgrund der überlangen Verfahrensdauer ein subjektives Recht wie Freiheit oder Eigentum verletzt sei, und woraus abgeleitet werden kann, dass sich nicht in jedem Fall eine Kompensationsauch Kraatz, JR 2008, 189 (190). oben unter B. III. 4. 61  So Bußmann, NStZ 2008, 236 (237); ähnlich argumentieren auch Schmitt, StraFo 2008, 313 (316) und Tiwisina, S.  116 f. 62  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (199). 59  So

60  Siehe

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

notwendigkeit ergebe, ist klar zu widersprechen. Art. 34 EMRK bietet jeder natürlichen Person die Möglichkeit, die Verletzung eines jeden durch die Konvention garantiertes Recht mittels der Individualbeschwerde durch den Gerichtshof überprüfen zu lassen. Hierzu ist der in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK normierte Beschleunigungsgrundsatz zu zählen, ohne dass ein dann zu erfolgender Übelsausgleich von der positiven Feststellung einer erlittenen Einbuße abhängig ist. Wenngleich es nun die mit der Entscheidung des Großen Strafsenats gefundene Lösung vermag, einzelne der bislang vorhandenen Entschädigungslücken zu schließen, so verbleiben weiterhin einige gewichtige Lücken. Zudem verschärft das Vollstreckungsmodell von seiner Systematik her gegenüber der bisherigen Strafzumessungslösung die Inkonsequenz im Bereich der Findung der angemessenen Sanktion für ein strafbares Verhalten unter Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Zum einen sollen weiterhin die diversen Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 ff. StPO und §§ 59, 60 StGB zur Reaktion auf eine überlange Verfahrensdauer in Betracht zu ziehen sein, was einen deutlichen Bezug zu strafzumessungsrelevanten Aspekten und letztlich auch Schuldgesichtspunkten im Rahmen der abzuurteilenden Straftat darstellt. Andererseits erfolgt der Vollstreckungsabschlag nunmehr völlig losgelöst von diesen Kriterien, unabhängig von der Strafzumessung und allein am Entschädigungsgedanken für die erlittene Verfahrensüberlänge orientiert. Diese Vermischung der verschiedenen Arten der Berücksichtigung ist unsystematisch und ohne dogmatische Verankerung. Wegen dieser Missstände und insbesondere aufgrund der weiterhin bestehenden Entschädigungslücken entspricht die Vollstreckungslösung von ihrer Systematik dem Entschädigungsgedanken der EMRK nicht. Weder bei einer Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO, was einen beträchtlichen Anteil der durchgeführten Verfahren aus­ macht, noch bei einem Freispruch kann der Betroffene eine Entschädigung für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung erlangen. Ähnlich auch bei mangelnder Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer im Rahmen von anderweitigen Verfahrenseinstellungen, wo für den Betroffenen keine Möglichkeit mehr besteht, die Verfahrensüberlänge geltend zu machen. Dies gilt auch für das Jugendstrafverfahren, sofern dort eine Vollstreckungsanrechnung aus erzieherischen Gründen unterbleibt. Letzteres stellt für die Frage der Kompensation einer Konventionsverletzung eine völlig sachfremde Erwägung dar, so dass die hiervon bestehende Abhängigkeit der Gewährung einer Entschädigung ebenfalls einen im System der Vollstreckungslösung angelegten Schwachpunkt darstellt. Hierbei wird nicht verkannt, dass die zuletzt genannten Argumente hinsichtlich der Entschädigungslücken gleichsam für die Strafzumessungslösung gelten, weshalb auch diesbezüglich Zweifel an der Vereinbarkeit mit der EMRK bestehen.



III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR153

Darüber hinaus sind in einer weiteren, häufig vorkommenden Konstellation ebenfalls große Bedenken zu äußern, ob dort das Vollstreckungsmodell zu einer ausreichenden Kompensation für eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes führen kann, nämlich bei der Vollstreckungsanrechnung im Rahmen einer Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. In diesen Fällen steht zunächst nur der Strafausspruch als solcher im Raum, ohne dass die Strafe selbst vollstreckt wird. Die Reduzierung der Strafe wirkt sich nur dann aus, wenn die Strafaussetzung zur Bewährung durch das Gericht widerrufen wird. Es ist somit fraglich, ob diese lediglich bedingte Erwartung, nur im Falle eines nicht regelmäßig eintretenden Widerrufs der Strafaussetzung in den tatsächlichen Genuss der Strafverkürzung aufgrund der überlangen Verfahrensdauer zu kommen, ausreichend ist, um den Betroffenen angemessen für die erlittene Konventionsverletzung zu entschädigen. Man könnte anführen, dass es sowohl der EGMR, als auch in seiner Folge der BGH, in bestimmten Fallkonstellationen haben ausreichen lassen, dass die Verletzung eines Konventionsrechts im Urteil lediglich festgestellt wird und keine weitere Entschädigung erfolgt, so dass eine angemessene Kompensation dann erst recht bei einer zusätzlichen Vollstreckungsanrechnung, auch wenn sich diese faktisch zunächst nicht auswirkt, aufgrund der durch den Ausspruch als solchen erfolgten Entschädigungswirkung anzunehmen sei. Aber auch diese Argumentation führt eher dazu, wie im übrigen auch eine allzu großzügige Anwendung der alleinigen Feststellung als ausreichende Entschädigung, dass der EMRK mit seinem Entschädigungssystem für eingetretene Konventionsverletzungen nicht mehr hinreichend genüge getan wird und der Menschenrechtsschutz so über eher symbolische und weniger wirksame Kompensationsmaßnahmen ausgehöhlt wird. Dem Geist der Konvention entsprechen klare und unbedingte Entschädigungslösungen, die zwar im jeweiligen nationalen Rechtssystem verankert sein sollen, ja sogar müssen, aber nicht von einzelnen, dort geregelten Eventualitäten abhängen. Auch die vom Großen Strafsenat im Falle von Bewährungsstrafen angedachte Möglichkeit, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung neben der Anrechnung auf die (zunächst hypothetisch) zu vollstreckende Strafe auch dadurch sofort wirksam auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Bewährungsauflagen verzichtet wird,63 kann der Akzeptanz als wirksame Kompensationslösung nicht entscheidend weiterhelfen. Zum einen ist im Einzelfall fraglich, ob überhaupt und gegebenenfalls welche Bewährungsauflagen in Betracht kommen. Diese dienen als strafähnliche

63  Siehe BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145) = NJW 2008, 860 (866).

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

Maßnahme der Genugtuung für das begangene Unrecht,64 so dass es wiederum sachfremd wäre, wegen der überlangen Verfahrensdauer darauf zu verzichten (soweit überhaupt ausreichend vorhanden), zumal ja gerade das Vollstreckungsmodell das Ziel hatte, die Kompensation von Überlegungen zur Straffestsetzung zu trennen. Zudem würde bei Verzicht auf entsprechende Bewährungsauflagen und dennoch später erfolgtem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, beispielsweise wegen erneuter Straffälligkeit, eine „Überkompensation“ erfolgen, da der Verurteilte dann vollständig in den Genuss der Vollstreckungsanrechnung kommt und bereits zuvor im Hinblick auf den voraussichtlich nur deklaratorischen Ausspruch, das ein Teil der Strafe als vollstreckt gelte, zusätzliche Vergünstigungen im Bereich der Bewährungsauflagen bekommen hatte. Dies zeigt, dass eine solche Verknüpfung nicht sinnvoll ist. Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich die gefundene Lösung, die durch das Vollstreckungsmodell in einem Hauptanwendungsfall verändert wurde, aus Einzelansätzen zusammensetzt, die für sich genommen im Einzelfall eine angemessene Entschädigung bieten mag, jedoch in ihrer Gesamtheit nicht mit dem Entschädigungsgedanken der EMRK in Einklang zu bringen ist. Vielmehr sollte anstatt punktueller Lösungen ein einheitliches Entschädigungssystem gefunden werden, das auf alle Fallgestaltungen Anwendung finden kann. Deshalb verbietet es sich auch, Entschädigungsaspekte mit der Strafzumessungssystematik zu vereinbaren, da hiervon ein großer Teil der Verfahrensabschlüsse betroffen ist. c) Vereinbarkeit mit Art. 13, 35 EMRK Weiter ist zu prüfen, ob in der Vollstreckungslösung ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne der Art. 13 und 35 EMKR zur Geltendmachung der Konventionsverletzung aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung im nationalen Recht zu sehen ist, der zunächst erfolglos bestritten werden muss, um eine zulässige Beschwerde zum EGMR erheben zu können. Art. 13 EMRK verlangt, dass im innerstaatlichen Recht ein Rechtsbehelf vorhanden sein muss, mit dem entweder die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes verhindert bzw. ihre Fortdauer verhindert wird oder eine angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann.65 Ein bestimmter Rechtsbehelf hierfür herrscht in den 64  Fischer, StGB, § 56b Rn. 2; BeckOK-StGB-von Heintschel-Heinegg, § 56b Rn.  1; Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 56b Rn. 1 f. 65  Vgl. EGMR in den Fällen Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2390) und Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3356).



III. Vereinbarkeit mit der EMRK und den Vorgaben des EGMR155

anderen Konventionsstaaten nicht vor,66 es muss lediglich sichergestellt sein, dass hiermit die Rechte und Freiheiten der Konvention wirksam durchgesetzt werden können. Der Rechtsprechung des EGMR ist zudem zu entnehmen, dass es hierfür auch ausreichen kann, wenn mehrere Rechtsbehelfe zusammengenommen die Anforderungen des Art. 13 EMRK erfüllen, „selbst wenn keiner von ihnen allein diesen Anforderungen entspricht“.67 An diesen Kriterien ist auch das Vollstreckungsmodell des Großen Strafsenats zu messen. Zwar wurde durch den EGMR in seiner Entscheidung im Fall Kaemena und Thöneböhn . / . Deutschland68 die Vollstreckungslösung insoweit gutgeheißen, da sie „dem subsidiären Charakter des Instrumenta­ riums der Beschwerde zum Gerichtshof, der in den Art. 1, 35 Abs. 1 und 13 der Konvention zum Ausdruck kommt“, entspreche, ohne dass sich der Gerichtshof jedoch im Einzelnen damit auseinandersetzte und dies näher begründete. Gaede stellt fest, dass die Vollstreckungslösung des BGH eine wirksame nationale Überprüfung von Verletzungen der Konvention im Sinne des Art. 13 EMRK garantiere.69 Auch Kotz führt aus, dass die Forderungen des EGMR nach einem entsprechenden Rechtsbehelf im Strafrecht durch die Vollstreckungslösung „Früchte getragen“ hätten, auch wenn er zugeben muss, dass dies letztlich nur dann einen wirksamen Rechtsbehelf darstellt, wenn der Angeklagte verurteilt wird.70 Der Entscheidung des EGMR darf mangels konkreter Befassung mit den Einzelheiten der Vollstreckungslösung nur aufgrund der ausdrücklichen, jedoch sehr plakativ gehaltenen Begrüßung des neuen Kompensationsmodells letztlich kein zu großes Gewicht beigemessen werden, auch wenn die sonstigen neueren Entscheidungen die Deutschland betreffen allesamt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 13 EMRK insbesondere im zivilrechtlichen Verfahren herausstellen.71 Die Vollstreckungslösung allein kann nur in einem Teil der strafrechtlichen Ermittlungs- und Strafverfahren überhaupt zur 66  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2700); zu den Rechtsbehelfen in den einzelnen Konventionsstaaten und ihre Bewertung durch den EGMR siehe nachstehend unter G. 67  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2390). 68  EGMR im Fall Kaemena und Thöneböhn .  / . Deutschland, Urteil vom 22.01. 2009, StV 2009, 561 (563). 69  Gaede, JZ 2008, 422 (424), der das Vollstreckungsmodell sogar als „vermittelnde Option“ anstatt eines Verwertungsverbotes auf rechtswidrig erlangte Beweismittel, die zu einer aufgrund der Beweisverwertung bis in das Urteil fortwirkenden Konventionsverletzung führen, ausweiten möchte. 70  Kotz, ZRP 2011, 85. 71  Siehe EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3357) mit Verweis auf zahlreiche Verfahren vor dem EGMR nach der Sürmeli-Entscheidung, die zivilrechtliche Sachverhalte betrafen.

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

Geltung kommen und bietet nur in Strafverfahren, die mit einer Verurteilung des Angeklagten enden, die Möglichkeit zur Kompensation von rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen und somit auch der wirksamen Geltendmachung eines Rechtsbehelfs aufgrund dieser Konventionsverletzung. Trotz einiger weiterhin daneben bestehender Kompensationsmöglichkeiten durch verschiedene Einstellungsnormen, bei denen die überlange Verfahrensdauer ebenfalls Berücksichtigung finden kann, ist dies insgesamt nicht ausreichend. Es bleiben zu große Anwendungsfelder ohne entsprechende Möglichkeit der Geltendmachung zumindest im Entschädigungswege und damit ohne wirksamen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK. Wenn man vergleicht, dass der EGMR in seiner Entscheidung im Fall Sürmeli . / . Deutschland ausführte, dass ein vorbeugender Rechtsbehelf, der zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen kann, „absolut betrachtet die beste Lösung“ darstelle und einem solchen, der lediglich Wiedergutmachung leiste, vorzuziehen sei, und darüber hinaus Italien lobend Erwähnung findet, wo eine Kombination von zweierlei Rechtsbehelfen, einen auf Beschleunigung des Verfahrens und den anderen auf Wiedergutmachung, vorhanden ist,72 so kann die in Deutschland vorliegende Situation einer nicht einmal vollumfassenden Entschädigungsmöglichkeit bei der Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes im Strafverfahren ohne Vorhandensein eines Rechtsbehelfs zur Vorbeugung nicht ausreichen um den Anforderungen des Art. 13 EMRK zu genügen. Hierbei ist anzumerken, dass auch der Gesetzgeber trotz der Vollstreckungslösung des BGH im Strafrecht ebenfalls weiteren Handlungsbedarf sah, was sich im „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ vom 03.12.2011 zeigt.73 Festzustellen ist somit, dass durch die Vollstreckungslösung des BGH im Hinblick auf die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung kein ausreichender wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK geschaffen wurde.74 Durch das Fehlen eines entsprechenden Rechtsbehelfs liegt eine weitere, grundsätzlich ebenfalls entschädigungspflichtige Konventionsverletzung vor. Hieraus folgt, dass das Vollstreckungsmodell in mehrfacher Hinsicht nicht mit den Vorgaben der EMRK in Einklang zu bringen ist und den Anforde72  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2390). 73  Näheres hierzu siehe unter H. II. 74  Andere Auffassung Reich, S. 85, die ohne nähere Begründung feststellt, dass die Vollstreckungslösung „erst recht mit völkerrechtlichen Vorgaben in Einklang“ stehe und einen wirksamen Rechtsbehelf zur Geltendmachung einer unangemessenen Verfahrensdauer darstelle.



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens157

rungen des EGMR weder an eine ausreichende Wiedergutmachung einer bereits eingetretenen Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK mit dem Ergebnis des Entfalls der Opfereigenschaft noch an das Vorhandensein eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 13 EMRK genügt.75

IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens Die Vollstreckungslösung ist darüber hinaus auf ihre Vereinbarkeit mit den nationalen, verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu überprüfen. Ein Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht wäre dann anzunehmen, wenn es zwingend erforderlich ist, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen und somit aufgrund des Systemwechsels, der von dieser Strafzumessungsrelevanz abrückt und eine Berücksichtigung erst im Wege einer Vollstreckungsanrechnung auf die bereits festgesetzte Strafe vorsieht, der Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens nicht mehr gewahrt wäre. Hierfür könnte sprechen, dass in der bisherigen Rechtsprechung von BGH76 und BVerfG77 einhellig vertreten worden ist, dass die durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetretene Verletzung der Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK als eigenständiger, schuld­ unabhängiger Strafmilderungsgrund zwingend bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen sei, da die Auswirkungen überlanger Verfahrensdauer der Sanktion selbst gleichkommen könne und dann das Prinzip des verhältnismäßigen Strafens verletzt sei. 1. Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens Der Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens ist allgemein anerkannt und als Teil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der aus dem Rechtsstaats75  Andere Auffassung Ziegert, StraFo 2008, 321 (327), mit der pauschalen Feststellung, dass die Vollstreckungslösung den Anforderungen des EGMR genüge. 76  BGH, Beschluss vom 21.12.1998, NJW 1998, 1198; BGH, Beschluss vom 24.07.1991, NStZ 1992, 78; BGH, Beschluss vom 06.09.1988, NJW 1990, 56; BGH, Beschluss vom 29.03.1988, StV 1988, 295; BGH, Beschluss vom 29.11.1985, NStZ 1986, 217 (218). 77  BVerfG, Beschluss vom 23.09.2005, NJW 2005, 3485 (3486); BVerfG, Beschluss vom 21.01.2004, BVerfGK 2, 239 (247); BVerfG, Beschluss vom 27.07.2003, NJW 2003, 2897; BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003, NJW 2003, 2225; BVerfG, Beschluss vom 07.03.1997, NStZ 1997, 591; BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994, NJW 1995, 1277; BVerfG, Beschluss vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254 (3255); BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 24.11.1983, NJW 1984, 967.

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

prinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgt, verfassungsrechtlich beachtlich. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hält im Rahmen der Prüfung der individuellen Schuld des Angeklagten allgemein dazu an, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und insbesondere der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zum dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen.78 Insbesondere ist in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann.79 2. Strafzumessungsrelevanz der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung Es ist deshalb zu erörtern, ob die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zwingend hierauf Einfluss hat und sich so im Bereich der Strafzumessung auswirken muss. In diesem Problemfeld findet sich neben der mittlerweile uneinheitlichen Rechtsprechung von BVerfG und BGH eine Vielzahl von wissenschaftlichen Meinungen, die sich, ohne dass sich ein besonderer Überhang feststellen lässt, in zwei Lager aufteilen lassen. a) Meinungsstand Die Rechtsprechung des BVerfG ist bislang einhellig und gelangt zu dem Ergebnis, dass sich rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen strafmildernd auswirken müssen und sogar im Extremfall zu einem unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes herzuleitenden Verfahrenshindernis führen können, da die zusätzlichen, fühlbaren Belastungen des Angeklagten in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können und diese Belastungen „mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss“, treten.80 Zudem wird auf die Straf78  BVerfG, Beschluss vom 21.01.2004, BVerfGK 2, 239 (247); BVerfG, Beschluss vom 25.07.2003, NJW 2003, 2897; BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003, NJW 2003, 2225; BVerfG, Beschluss vom 15.05.1995, BVerfGE 92, 277 (326) = NJW 1995, 1811; BVerfG, BVerfG, Beschluss vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254 (3255); Beschluss vom 04.10.1977, BVerfGE 46, 17 (29) = NJW 1978, 152. 79  BVerfG, Beschluss vom 21.01.2004, BVerfGK 2, 239 (247); BVerfG, Beschluss vom 25.07.2003, NJW 2003, 2897; BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003, NJW 2003, 2225. 80  BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994, NJW 1995, 1277; BVerfG, Beschluss vom 19.04.1993, NJW 1993, 3254 (3255).



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens159

ziele abgestellt. Es wird ausgeführt, dass mit fortschreitender Zeit das Interesse an der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs insbesondere im Hinblick auf den Strafzweck der Generalprävention abnehme und hierdurch der gegenüber dem Beschuldigten erhobene Unrechtsvorwurf relativiert werde.81 Auch der BGH vertrat zunächst übereinstimmend die Auffassung, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu einer Berücksichtigung auf der Strafzumessungsebene führen müsse und der Tatrichter zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und – falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses) nicht in Betracht kommen – in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen habe.82 Durch den Beschluss des Großen Senats wurde ausdrücklich an dieser Einschätzung nicht weiter festgehalten. Vielmehr solle nunmehr der Entschädigungsgedanke aus der Strafzumessung herausgenommen werden und lediglich sowohl der lange Zeitabstand zwischen Tat und Urteil, wodurch das Strafbedürfnis allgemein abnehme, als auch die konkreten Belastungen des Angeklagten durch das gegen ihn geführte Verfahren, die sich generell umso stärker strafmildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen Kenntnis des Verfahrens und Verfahrensabschluss verstreicht, für die konkrete Strafzumessung relevant sein.83 Dem verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und somit auch dem Übermaßverbot sei dadurch hinreichend genüge getan, dass die Rechtsstaatswidrigkeit der Verfahrensverzögerung durch die bezifferte Reduzierung der Strafe im Vollstreckungsausspruch bei der den Angeklagten treffenden Sank­tion berücksichtigt werde, insoweit sei dies auch mit der Rechtsprechung des BVerfG vereinbar.84 81  BVerfG,

Beschluss vom 21.06.2006, NStZ 2006, 680 (681). Beschluss vom 19.03.2003, StraFo 2003, 247; BGH, Beschluss vom 20.08.2002, wistra 2002, 420 (421); BGH, Urteil vom 21.02.2002, StV 2002, 598; BGH, Beschluss vom 23.01.2001, wistra 2001, 177  f.; BGH, Beschluss vom 06.06.2000, NStZ-RR 2000, 343; BGH, Beschluss vom 21.12.1998, NJW 1999, 1198 (1199); BGH, Beschluss vom 16.10.1997, StV 1998, 376 (377); BGH, Beschluss vom 23.07.1997, wistra 1997, 347. 83  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (141 f.) = NJW 2008, 860 (865). 84  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (143 f.) = NJW 2008, 860 (865 f.). 82  BGH,

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

In der Literatur stehen sich schon seit jeher zwei gegensätzliche Auffassungen unvereinbar gegenüber.85 Zahlreiche Autoren sprechen sich – insbesondere aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und somit verfassungsrechtlicher Erwägungen – teilweise mit differierenden Begründungen, eindeutig für eine Berücksichtigungspflicht im Bereich der Strafzumessung aus. Ausgehend von Schwenk, der bereits 1967 argumentierte, dass bei der Verletzung einer grundlegenden, dem Angeklagten dienenden Rechtsgarantie der staatliche Strafanspruch verwirkt sei,86 wurde schon früh vertreten, dass ein überlanges, gegen das Beschleunigungsgebot verstoßendes Strafverfahren strafähnlichen Charakter besitze, allein durch das Verfahren eine „Übelszufügung mit Strafcharakter“87 vorliege und hierdurch das Strafbedürfnis sinke, so dass der Staat einen Teil seiner Strafgewalt verliere und eine ausdrückliche Strafmilderung aufgrund des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu erfolgen habe.88 Teilweise wurde argumentiert, die konventionswidrigen Verfahrensverzögerungen relativieren den erhobenen Unrechtsvorwurf und müssen sich deshalb schuldmindernd auswirken.89 I. Roxin verortet die Notwendigkeit der Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats in § 46 Abs. 2 StGB.90 Die überlange Verfahrensdauer stelle sich wegen ihrer nachteiligen Auswirkungen für den Beschuldigten als nachteilige Tatfolge dar, die über die Würdigung seiner Person in den Strafzumessungsvorgang einfließe. Diese schuldunabhängige Strafmilderung verstoße auch nicht gegen das Schuldprinzip, da dieses lediglich eine schuldüberschreitende, nicht jedoch eine schuldunterschreitende Strafe verbiete; dies habe auch der Gesetzgeber durch die Einführung des § 60 StGB gezeigt.91 Auch Ziegert zählt die rechtsstaatswidrige Verfah­ rensverzögerung zu den schuldunabhängigen Strafzumessungstat­ sachen, die – wie andere Belastungen während des Verfahrens auch – als schuldausgleichstauglich einzustufen seien und somit das Maß der Schuld mindern.92 Auch hier müsse die Strafe „den gerechten Schuldausgleich herstellen, das Urteil darf nicht auf die nachfolgende Ebene der Vollstreckung 85  Ausführlicher

hierzu siehe bereits oben unter C. II. 3. b). ZStW 79 (1967), 721 (736). 87  I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 234. 88  Uerpmann, NStZ 1995, 336; Schroth, NJW 1990, 29 (30), der bereits den Schluss zog, dass deshalb dem Tatrichter durch die untere Grenze des Spielraums der Schuld keine Grenze gesetzt werde dürfe und insoweit die gesetzlichen Mindeststrafen keine Geltung haben sollen. 89  Hoffmann-Holland, ZIS 2006, 539 f.; Gaede, JR 2007, 254 f. 90  I. Roxin, StV 2008, 14 (16 f.). 91  I. Roxin, StV 2008, 14 (17). 92  Ziegert, StraFo 2008, 321 (322 u. 324); so auch Möller, S.  37 ff. 86  Schwenk,



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens161

verweisen“, so dass die Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung geboten sei.93 Auch die Gegenansicht formierte sich früh. So war es zunächst Hillenkamp, der anführte, dass sich durch den langen zeitlichen Abstand zwischen Tatbegehung und Aburteilung die Schuld nicht verringere und der materielle Strafanspruch grundsätzlich nicht berührt werde, so dass eine Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung nicht der richtige Weg sei.94 Scheffler wählte einen anderen Ansatzpunkt und differenzierte zwischen den Verfahrensverzögerungen, die als solche keine Strafmilderung ergeben sollen, und den Verfahrensbelastungen, die hierzu in keinem direkten Bezug stehen und sich bei überdurchschnittlichen Belastungen aus dem Gedanken des Erfolgsunrechts heraus auf die Strafzumessung auswirken sollen.95 Mehrere Stimmen bemängelten, dass die überlange Verfahrensdauer als verfahrensrechtlicher Vorgang nicht zu einer schuldunterschreitenden Strafe führen dürfe und dies eine systemfremde Überfrachtung bzw. unzuträgliche Mathematisierung der Strafzumessung darstelle, die von der Kompensation zu trennen sei.96 Insbesondere stelle die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eine Folge des Verfahrens dar und keine Wirkung der Tat oder Strafe, so dass dies nicht unter § 46 StGB subsumiert werden und nicht über die Würdigung der Person in den Strafzumessungsvorgang einfließen könne.97 Auch Paeffgen lehnte eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung ab, da dies die Strafzwecke konterkariere und eine besondere Belastung des Beschuldigten im Sinne einer „poena naturalis“ nicht vorliege, da es sich weder um Nachteile aus der Tat selbst noch als direkte Folge der Tat handle, sondern vielmehr um Begleiterscheinungen der Strafverfolgung. Das Übermaßverbot sei nicht betroffen durch die Verletzung des Beschleunigungsgebots. Eine Strafmilderung aufgrund des Verstoßes gegen die EMRK verbiete sich, da das Schuld-Sühne-Prinzip nicht für spezialpräventive Erwägungen aufgegeben werden dürfe und sich eine entsprechende Berücksichtigung bei der Strafbemessung nicht mit dem Resozialisierungsziel der Strafe vertrage.98 Heghmanns und Streng gehen sogar noch einen Schritt weiter und regen an, die (über)lange Verfahrensdauer gemeinsam mit den sich hieraus ergebenden Belastungen sowie dem aufgrund des Zeitauflaufs reduzierten Präventionsbedürfnis aus der Strafzumessung zu eliminieren und vollständig im 93  Ziegert,

StraFo 2008, 321 (324). JR 1975, 133 (138 f.). 95  Scheffler, S. 224. 96  Bußmann, NStZ 2008, 236; Kaiser, GA 2008, 686 (695); Schäfer, Strafzumessung, 3. Aufl., Rn. 443; Schmitt, StraFo 2008, 313 (316); Volkmer, NStZ 2008, 608; Wohlers, JR 1994, 138 (142). 97  Kraatz, JR 2008, 189 (190); Weber, JR 2008, 36 (37). 98  Paeffgen, StV 2007, 487 (490 Fn. 26 und 27). 94  Hillenkamp,

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

Rahmen der Vollstreckungsanrechnung zu berücksichtigen.99 Eine Ausnahme sei – unter Verweis auf § 46 Abs. 1 S. 2 StGB – dann zu machen, wenn die Präventionsebene betroffen sei und die nicht-strafrechtlichen Folgen der Tat die Basis für seine Lebensführung gefährden.100 b) Strafzumessung – Strafzwecke und Spielraumtheorie Die Grundsätze der Strafzumessung sind in § 46 StGB enthalten. Zwar hat es der Gesetzgeber bewusst vermieden, die Strafzwecke gesetzlich zu definieren, jedoch können aus der Vorschrift des § 46 StGB entsprechende Rückschlüsse gezogen werden.101 Neben dem zunächst naheliegenden Zweck der Strafe zur Herbeiführung eines angemessenen Ausgleichs für das schuldhaft begangene Unrecht, sind darüber hinaus sowohl spezialpräventive Aspekte in Form der Verhinderung weiterer Straftaten durch den Täter durch die durch die Strafe erzielten Wirkungen als auch generalpräventive Gesichtspunkte durch die Abschreckung Dritter zur Begehung solcher Straftaten und die Erhaltung des Vertrauens der Bevölkerung in die Geltung der Rechtsordnung zu nennen.102 Darüber hinaus ist weiterer Strafzweck die Resozialisierung des Täters als „positive Spezialprä­ven­tion“.103 Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert die Berücksichtigung all dieser Strafzwecke bei der Strafzumessung, stellt jedoch heraus, dass bei der Bemessung der konkreten Strafe ein gerechtes Verhältnis zwischen der Strafhöhe zur Tatschwere und zum Verschulden des Täter herzustellen und die Strafe nach dem Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit zu bestimmen sei.104 Bei der konkreten zu verhängenden Strafe ist nach der herrschenden Meinung und auch hier vertretenen Spielraumtheorie zunächst ein fiktiver Schuldrahmen zwischen der schon der Schuld des Täters angemessenen und der noch der Schuld gerecht werdenden Strafe festzulegen, der sich seinerseits im gesetzlichen Strafrahmen bewegen muss.105 Hierbei ist entsprechend dem Tatschuldprinzip die dem Maß der Schuld angemessene Strafe zu be99  Heghmanns,

ZJS 2008, 197 (200); Streng, JZ 2008, 979 (985 f.). JZ 2008, 979 (980). 101  Fischer, StGB, § 46 Rn. 2; LK-Theune, vor §§ 46–50, Rn. 22. 102  SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 18. 103  Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 26; BGH, Urteil vom 08.12.1970, NJW 1971, 439; BGH, Urteil vom 05.12.2002, NStZ 2003, 495. 104  BVerfG, Beschluss vom 15.05.1995, NJW 1995, 1811 (1814). 105  Vgl. hierzu BGH, Urteil vom 10.11.1954, NJW 1955, 190, BGH, Urteil vom 27.10.1970, NJW 1971, 61; BGH, Urteil vom 17.09.1980, NJW 1981, 692; BGH, Beschluss vom 14.12.1984, NStZ 1985, 164; zudem SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 42; LK-Theune, § 46 Rn. 39; Schäfer / Sander / van Gemmeren, Rn. 882. 100  Streng,



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens163

stimmen, mit der auch noch im Zeitpunkt des Urteils ein gerechter Schuldausgleich erreicht werden kann.106 In diesem so festgelegten Schuldrahmen sind dann die zulässigen Präventionsaspekte zu berücksichtigen.107 In concreto ist im Rahmen der persönlichen Schuld zunächst gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 StGB die Schwere der Tat im Sinne ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung in Form des personalen Handlungsunrechts zu bestimmen, darüber hinaus sind bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen der Strafe auf das zukünftige Leben des Täters herauszustellen, § 46 Abs. 1 S. 2 StGB.108 Schuldüber- und -unterschreitende Strafen sind rechtsfehlerhaft, auch die Berücksichtigung präventive Gesichtspunkte ist nur innerhalb des Schuldrahmens möglich.109 Die von I. Roxin geäußerte Auffassung, wonach sich nur eine schuldüberschreitende Strafe verbiete, nicht jedoch eine schuldunterschreitende, und somit „schuldunabhängige Strafmilderungsgründe“ anzuerkennen seien,110 ist nicht ohne Einschränkung zu folgen. Die im engeren Sinne nicht unmittelbar an die Tatschuld anzuknüpfenden Tatsachen haben dann Strafzumessungsrelevanz, wenn sie dazu notwendig und auch geeignet sind, einen gerechten Schuldausgleich herzustellen und deshalb mittelbar das Maß der Schuld mindern.111 Diese zwar als schuldunabhängig einzustufenden Strafzumessungskriterien haben über die Schuldausgleichstauglichkeit dennoch Schuldrelevanz und wirken sich unmittelbar auf die Strafe aus. c) Schuldausgleichstauglichkeit der überlangen Verfahrensdauer Es ist deshalb zu prüfen, inwieweit die (rechtsstaatswidrige) überlange Verfahrensdauer notwendigerweise zur Herstellung eines gerechten Schuldausgleichs bei der konkreten Strafbemessung zu berücksichtigen ist. Zunächst ist der von Rechtsprechung und Literatur vorgenommenen Dreiteilung112 der zu prüfenden Aspekte im Rahmen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zuzustimmen. Zur Bewertung der Schuldausgleichstauglichkeit und somit auch Strafzumessungsrelevanz ist zu unterscheiden nach dem bloßen Zeitabstand zwischen Tat und Urteil, den Belastungen beim Beschuldigten aufgrund des langandauernden Verfahrens sowie der Rechtsstaatswidrigkeit bzw. Konventionswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer. 106  LK-Theune,

§ 46 Rn. 8. Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 480. 108  Fischer, StGB, § 46 Rn. 5 ff. 109  SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 42. 110  I. Roxin, StV 2008, 14 (17). 111  So bereits Ziegert, StraFo 2008, 321 (324). 112  Siehe oben unter C. II. 2. 107  Streng,

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

aa) Langer Zeitabstand Schon der lange Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, hat zu einer strafmildernden Berücksichtigung zu führen, da hierdurch das Strafbedürfnis allgemein abnimmt.113 In der Literatur wird dies dogmatisch damit begründet, dass der bloße Zeitablauf bei langer Verfahrensdauer den durch die Tat bewirkten Normgeltungsschaden verringere, da die Tatschuldbewertung sich als aktueller Ausdruck der tatbezogenen Normbestätigungsbedürfnisse darstelle und sich der Normgeltungsschaden durch Zeitablauf relativiere.114 Andere Stimmen machen die strafmildernde Wirkung des bloßen Zeitablaufs an den Verjährungsvorschriften der §§ 78 ff. StGB fest, die ein Nachlassen der Strafbedürftigkeit bei Erreichen des entsprechenden Zeitpunktes bedeuten, woraus entnommen werden könne, dass für die Wiederherstellung des sozialen Friedens ab einem bestimmten Zeitpunkt Strafe nicht mehr notwendig sei.115 Dem entgegnet Hörnle im Rahmen der von ihr vertretenen „tatproportionalen Strafzumessungstheorie“, dass der Zeitablauf an der für die Strafzumessung relevanten Faktoren von Unrecht, Schuld und Gewicht der Übelszufügung nichts ändere und sich auch den Verjährungsvorschriften kein allmähliches, graduelles Absenken des Strafniveaus mit zunehmendem Zeitablauf zu entnehmen sei, so dass „grundsätzlich keine graduelle Milderung der Strafe in Abhängigkeit von der verstrichenen Zeit“ erfolge.116 Scheffler sieht ebenfalls die Möglichkeit der Strafverringerung aufgrund des bloßen Zeitablaufs für gegeben, leitet dies aus dem Gesichtspunkt der Strafempfindlichkeit her. Er sieht jedoch hierin keinen obligatorischen Strafmilderungsgrund des Zeitablaufs, sondern „eine einzelfallorientierte, differenzierende Betrachtungsweise“ als geboten an.117 Entscheidend ist nach der hier vertretenen Auffassung, dass im Rahmen der Schuld auch präventive Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Vor allem aus generalpräventiven Erwägungen heraus nimmt das Strafbedürfnis der Allgemeinheit mit 113  So auch der BGH in mehreren Entscheidungen, siehe BGH, Beschluss vom 06.09.1988, NJW 1990, 56; Beschluss vom 22.01.1992, NStZ 1992, 229 (230); Beschluss vom 16.10.1997, NStZ-RR 1998, 108; Beschluss vom 21.12.1998, NJW 1999, 1198; BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (141 f.) = NJW 2008, 860 (865). 114  Streng, FS Müller-Dietz, S. 874 (900); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 474. 115  Siehe Frisch, ZStW 99 (1987), 349 (379); Schroth, NJW 1990, 29 (30); SKStGB-Rudolphi, vor § 78 Rn. 10. 116  Hörnle, S. 352, die darüber hinaus der Rechtsprechung und herrschenden Lehre Inkonsequenz vorwirft, wenn sie die verstrichene Zeit als Strafmilderungsgrund anerkennen, andererseits jedoch die Verfolgungsverjährung nicht als Strafaufhebungsgrund einstufen. 117  Scheffler, Überlange Dauer, S. 218.



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens165

zunehmendem Zeitablauf nach der Tat ab, was aus ähnlichen Erwägungen heraus wie der oben ausgeführte Gedanke der Relativierung des Normgeltungsschadens zu begründen ist. Zudem ist in spezialpräventiver Hinsicht auch das Bedürfnis auf Einwirkung auf den Täter einer Tat nach längerem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Verurteilung geringer einzustufen, da nach einer Zeitspanne des normgerechten Verhaltens und der sozialen Integration eine Einwirkung durch Strafe zur Verhinderung weiterer Straftaten nicht mehr im gleichen Maße notwendig ist, wie sofort nach der Tat. Der bloße Zeitablauf ist deshalb strafmindernd zu berücksichtigen. bb) Belastungen durch überlange Verfahrensdauer Auch der zweite Aspekt (über)langer Verfahrensdauer, nämlich die hierdurch beim Beschuldigten bzw. Angeklagten verursachten Belastungen aufgrund der Ungewissheit des Verfahrensausgangs des gegen ihn geführten Verfahrens sowie darüber hinaus zusätzlicher persönlicher und beruflicher Nachteile müssen sich bei der Strafzumessung auswirken. Hierbei herrscht weitgehend Einigkeit in der Literatur und Rechtsprechung. Letztlich sind gemäß § 46 Abs. 2 StGB alle für und gegen den Täter sprechenden Umstände im Rahmen der Festlegung der schuldangemessenen Strafe zu berücksichtigen. Die Belastungen aufgrund der langen Verfahrensdauer werden vom Beschuldigten als Strafe empfunden, so dass diese nachteiligen Wirkungen strafzumessungsrelevant sind. Hierfür kann der Rechtsgedanke des § 60 StGB herangezogen werden, wonach bei den Beschuldigten schwer treffenden Tatfolgen die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt ist und durch die „poena naturalis“ das Strafbedürfnis wegfallen kann.118 In den Belastungen durch die lange Verfahrensdauer ist ebenfalls ein solcher, sanktionsähnlicher Charakter zu sehen, der sich als bereits geleistete Strafe im Rahmen der Strafzumessung auswirken muss.119 Der Beschuldigte ist durch die Verfahrensdauer faktisch bereits einer Belastung und somit einem sanktionsähnlichen Übel ausgesetzt gewesen, das man – je nach dessen Dauer mehr oder weniger stark, bei kurzer Verfahrensdauer sogar überhaupt nicht – im Rahmen der Sanktionsbestimmung ausgleichen muss, da der auch Kraatz, JR 2006, 403 (405); zuvor bereits Streng, FS Jung, S. 961 f. S. 350; Paeffgen, StV 2007, 487 (490); Schroth, NJW 1990, 29 (30); Streng, JZ 2008, 979 (984); andere Ansicht Reich, S. 83 f., wonach bei „einer uferlosen Einbeziehung aller denkbaren mittelbarer Tatfolgen“ die Gefahr bestünde, dass die Strafzumessung mit sachfremden Billigkeitserwägungen überladen werde und somit die Strafe ihre eigentlichen Funktion nicht mehr erfüllen könne, weshalb die lange Verfahrensdauer einschließlich der hierdurch erzeugten Belastungen beim Täter aus der Strafzumessung herauszulösen sei und ebenfalls mithilfe einer Vollstreckungsanrechnung entsprechend § 51 StGB Berücksichtigung finden müsse. 118  So

119  Hörnle,

166

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

Betroffene ansonsten ungerechtfertigterweise zusätzlich bestraft würde.120 Problematisch hierbei ist jedoch nur, dass allein anhand der Verfahrenslänge kein objektiver Maßstab angelegt werden kann, da hierdurch kein konstanter Übelscharakter vorliegt und die gleiche Verfahrenslänge zu unterschied­ lichen Belastungen der einzelnen Betroffenen führt.121 Es ist somit im Rah­ men der Feststellung der Schuldausgleichstauglichkeit zu prüfen, zu welchen tatsächlichen Belastungen die konkrete Verfahrensdauer beim Täter geführt hat, und danach die Gewichtung im Rahmen der Strafzumessung dieses Aspektes festzulegen. Grundsätzlich ist somit festzustellen, dass die aufgrund der Verfahrensdauer eintretenden Belastungen beim Beschuldigten bzw. Angeklagten ebenfalls als schuldausgleichstaugliche Aspekte bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. cc) Konventionswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer Im Ergebnis abzulehnen ist hingegen die Berücksichtigungspflicht der Konventions- bzw. Rechtsstaatswidrigkeit überlanger Verfahrensdauer als schuldausgleichstauglicher Aspekt im Rahmen der Strafzumessung. Auswirkungen auf die Schuld des Täters und somit auch auf die Strafzumessung haben die Belastungen durch die lange Verfahrensdauer als solche, unabhängig von der Frage der Angemessenheit der Dauer. Den bereits von Heghmanns,122 Scheffler123 und Reich124 geäußerten Argumenten, wonach der Umstand der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverlängerung sowohl als solcher präventiv irrelevant sei und die Verfahrensbelastungen zu den Verfahrensverzögerungen keinen direkten Bezug haben, da es dem Betroffenen letztlich egal sei, ob sein Verfahren so lange dauere, weil die Strafverfolgungsorgane verzögern, oder weil die Beweislage so kompliziert ist, kann nur zugestimmt werden. Die Rechtsstaatswidrigkeit einer überlangen Verfahrensdauer sowie die sich aus dem Verstoß gegen die EMRK gleichsam ergebende Entschädigungspflicht stehen in keinem direkten Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Straftat und nur in mittelbarer Abhängigkeit zum 120  Ähnlich I. Roxin, StV 2008, 14 (17), die jedoch ausdrücklich auf die rechtsstaatswidrige Verfahrensüberlänge abstellt und gerade darin die ungerechtfertigte Zusatzbestrafung sieht. Die faktischen Belastungen treten jedoch durch die (lange) Verfahrensdauer als solche ein, unabhängig vom Vorliegen nicht gerechtfertigter und somit konventions- und verfassungswidriger Überlänge. 121  Siehe Scheffler, S. 228. 122  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (200). 123  Scheffler, Überlange Dauer, S. 224. 124  Reich, S. 61.



IV. Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens167

durchgeführten Strafverfahren. Damit ist die Ahndung der Tat hiervon unbeeinflusst. Der Betroffene empfindet die Durchführung des Verfahrens mit seiner Ungewissheit des Verfahrensausgangs und seinen Belastungen aufgrund des Status als Beschuldigter und Angeklagter sowie die konkrete Inanspruchnahme bei Durchführung von Hauptverhandlungsterminen bereits als sanktionsähnlich. Hierdurch ist er belastet und beeindruckt, wobei für den Grad des Belastungsempfindens unbedeutend ist, worin der Grund für die konkrete Verfahrenslänge zu sehen ist. Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als solche besitzt keine Schuldausgleichstauglichkeit, da hiermit kein Zusammenhang mehr mit einem gerechten Schuldausgleich herzustellen ist. Die Wirkung des Strafverfahrens auf den Täter wird von der Verfahrensdauer als solcher und den hieran anknüpfenden Belastungen geprägt, ohne dass hierbei die in der Sphäre der Strafverfolgungsbehörden liegenden Gründe für die Unangemessenheit der Verfahrenslänge eine Rolle spielen.125 Die Rechtsstaats- und Konventionswidrigkeit überlanger Verfahrensdauer ist somit nicht strafzumessungsrelevant, so dass eine Nichtberücksichtigung auf der Strafzumessungsebene keine Verletzung des Prinzips des verhältnismäßigen Strafens darstellt. Soweit der Große Strafsenat in seiner Entscheidung die Kompensation für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK aus der Strafzumessung eliminiert, ist die Rechtsprechungsänderung nach der hier vertretenen Ansicht dogmatisch begründet erfolgt. Hingegen läge eine solche Verletzung dann vor, wenn man dem weitergehenden, von Streng und Heghmanns vertretenen Ansatz, auch die sich aus der Verfahrensdauer ergebenden Belastungen sowie den bloßen Zeitablauf zwischen Tat und Verurteilung ebenfalls aus der Strafzumessung zu eliminieren und ebenfalls im Rahmen der Vollstreckungsanrechnung zu berücksichtigen,126 folgt. Diese beiden Aspekte haben sich zwingend, da schuldrelevant, auf die Bemessung der konkret festzusetzenden Strafe auszuwirken.

125  So auch Reich, S. 66, die ausführt, dass für den Angeklagten „das Andauern des Strafverfahrens, das ihn in langer und quälender Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens hält“, belastend sei und gerade nicht die Tatsache, „dass hierfür gerade die Justizorgane gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verantwortlich sind“. 126  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (200); Streng, JZ 2008, 979 (985 f.); ebenfalls ist ein Verstoß anzunehmen unter Zugrundelegung der Ansicht von Reich, S. 84, wonach die lange Verfahrensdauer einschließlich ihrer Belastungen keine Strafzumessungsrelevanz besitzen solle.

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

V. Einpassung in das deutsche Strafprozessrecht – Weitergeltung von Verfahrenshindernislösung und Einstellungsmöglichkeiten Sowohl die Rechtsprechung als auch die herrschende Meinung in der Literatur hatten in einem fortschreitenden Prozess im Rahmen der Entwicklung der Strafzumessungslösung festgelegt, dass im Rahmen der Berücksichtigung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zunächst zu prüfen sei, ob diese entweder bei außergewöhnlichen Sonderfällen zur Annahme eines Verfahrenshindernisses führen müsse, oder ob deshalb eine Einstellungsmöglichkeit gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a StPO oder das Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB bzw. der Ausspruch einer Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB in Betracht komme.127 Wenngleich er sich hierzu nicht ausführlich geäußert und dies auch nicht begründet hat, so bestimmte der Große Strafsenat dennoch ausdrücklich, dass weiterhin, auch nach dem Systemwechsel hin zur Vollstreckungslösung, „die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO)“ und gegebenenfalls zu prüfen sei, „ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht“.128 Diese Weitergeltung sowohl der Verfahrenshindernislösung als auch der sonstigen Möglichkeiten zur Verfahrensbeendigung aufgrund der Konventionsverletzung sollen durch den Systemwechsel und die neu eingeführte Vollstreckungsanrechnung nicht berührt werden, sondern als weitere Kompensa­ tionsmöglichkeiten bestehen bleiben. In der Literatur wird dies teilweise vollständig abgelehnt129 bzw. lediglich für eklatante Extremfälle eine Einstellung des Verfahrens aufgrund eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen ausnahmsweise zugelassen.130 Auch Ziegert hat Bedenken, die Möglichkeiten eines Verfahrenshindernisses und der Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a StPO weiterhin zuzulassen, da sie an eine aufgrund der überlangen Verfahrensdauer eingetretene Schuldminderung anknüpfen und dies nur mit dem Strafzumessungsmodell in Einklang zu bringen sei.131 Gaede problematisiert, dass die weiterhin bestehende Anwendbarkeit der §§ 59 und 60 StGB die Kompensation überlanger Ver127  Siehe

näher hierzu oben unter C. II. 1. und 2. Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145) = NJW 2008, 860 (866). 129  Schäfer / Sander / van Gemmeren, Rn. 443m. 130  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (201), der eine Anwendung der §§ 153, 153a, 154, 154a StPO sowie der §§ 59, 60 StGB ablehnt aufgrund des mangelnden Einflusses der Konventionsverletzung auf die Schuld des Täters. 131  Ziegert, StraFo 2008, 321 (325). 128  BGH,



V. Einpassung in das deutsche Strafprozessrecht169

fahrensdauer zumindest in diesen Anwendungsfällen im Bereich der Strafzumessung belasse.132 Hingegen stimmt Weber der Auffassung des Großen Strafsenats zu und konkretisiert, dass bei Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zunächst zu überprüfen sei, ob verfahrensrechtliche Möglichkeiten zumindest gemäß §§ 153 ff. StPO zur Kompensation ausreichen, um den Opferstatus des Beschuldigten zu beseitigen.133 Es ist somit zu prüfen, ob die weitere Anwendbarkeit dieser Möglichkeiten zur Verfahrensbeendigung mit der Vollstreckungslösung harmoniert bzw. insgesamt angezeigt ist und mit dem geltenden Strafprozessrecht in Einklang zu bringen ist. Die Entwicklung der Verfahrenshindernislösung aufgrund des Konventionsverstoßes der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung mit der Folge der Verfahrenseinstellung, die zuletzt nach der Rechtsprechung des BGH eine Prüfung erfordere, ob ein ganz außergewöhnlicher Sonderfall vorliege, der eine weitere Strafverfolgung verbiete und hierbei tatsächliche Feststellungen zum Schuldumfang zu treffen seien,134 zeigt deutlich, dass diese nicht unumstritten war und sich ebenfalls weiterentwickelte. Für die Frage einer weiteren Anwendbarkeit, auch vor dem Hintergrund des Vollstreckungsmodells, ist den bislang diesbezüglich sehr pauschalen Erwägungen, wonach das überlange Verfahren ein derartiges Gewicht habe, dass eine weitere Durchführung des Verfahren ausscheide, entgegen zu treten. Vielmehr ist – wie auch bei den Überlegungen zur Strafzumessung – zu differenzieren nach den Kriterien, die schuld- und somit strafzumessungsrelevant sind, und dem Aspekt der Konventionswidrigkeit. Wurde bislang im Rahmen der Verfahrenshindernislösung und des Strafzumessungsmodells alles in einen Topf geworfen und ohne Differenzierung in einer Gesamtschau das Maß der Verfahrensüberlänge sowie die Auswirkungen auf den Betroffenen als Grundlage für die Anwendbarkeit der entsprechenden Einstellungsmöglichkeiten und die Annahme eines Verfahrenshindernisses genommen, so ist dies – nicht nur vor dem Hintergrund der neuen Vollstreckungslösung – abzulehnen. Im Rahmen der strafprozessualen Einstellungsmöglichkeiten gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a StPO sowie der Vorschriften der §§ 59, 60 StGB spielen Strafzumessungserwägungen, insbesondere Schuldgesichtspunkte eine Rolle. Während Einstellungen gemäß § 153 und § 153a StPO bei geringer Schuld, bzw. wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht, möglich sind, kann eine Verfahrensbeschränkung nach §§ 154, 154a StPO dann erfolgen, wenn ein Tatvorwurf bzw. eine zu erwar132  Gaede,

JZ 2008, 422. JR 2008, 36 (37). 134  Hierzu näher oben unter C. II. 1. 133  Weber,

170

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

tende Strafe gegenüber anderen nicht beträchtlich ins Gewicht fällt. Auch die Verhängung einer Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB sowie ein Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB sind von Strafzumessungskriterien abhängig. Zu einer Bewertung können somit nur, wie oben bereits dargestellt, der zeitliche Abstand zwischen Tat und Verurteilung sowie die Verfahrensdauer als solche herangezogen werden. Im Rahmen ihrer jeweiligen Voraussetzungen ist dann zu prüfen, ob entsprechende Einstellungen, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt oder ein Absehen von Strafe angezeigt sind. Eine Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO kommt nur dann in Betracht, wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat, ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt. Nicht jedoch kann eine Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a StPO oder eine Anwendung der §§ 59, 60 StGB aufgrund einer Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer erfolgen, wie es wohl den Ausführungen des Großen Strafsenats entnommen werden muss. Es ist dogmatisch nicht begründbar, zu einer eventuellen Beseitigung der Opfereigenschaft die genannten strafprozessualen oder strafrechtlichen Normen heranzuziehen. Auch hinsichtlich der Annahme eines Verfahrenshindernisses ist zu unterscheiden. Mag dies in krassen Extremfällen bei entsprechender Verfahrenslänge und herausragenden Belastungen beim Betroffenen unabhängig von der Frage der Rechtsstaatswidrigkeit anzunehmen sein, so ist es hingegen lediglich als Reaktion auf die rechtsstaatswidrige Überlänge und zur Kompensation derselben nur theoretisch denkbar, dass hierin eine derartige Unzumutbarkeit der weiteren Verfahrensdurchführung zu sehen ist, die eine sofortige Einstellung erfordert. Die Entschädigungsverpflichtung müsste – unabhängig von den Belastungen der zugleich auch vorliegenden langen Verfahrensdauer – derart groß sein, dass hierdurch die Straftat und ihre Verfolgung mittels eines Strafverfahrens als dem Betroffenen nicht mehr vermittelbar und als ihn weit über Gebühr belastend erscheint. In solchen Fällen wäre dann zudem bereits eine solche Verfahrenslänge erreicht, die aufgrund der hierdurch beim Betroffenen erzielten Belastungen ein Verfahrenshindernis begründen würde. Der von Reich hierzu verfolgte Ansatz, dass ein Verfahrenshindernis dann anzunehmen sei, wenn der zum Ausgleich der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einzuräumende Vollstreckungsabschlag die zu verhängende Strafe derartig reduziere, dass keine oder keine nennenswerte zu vollstreckende Strafe übrig bleibt,135 vermag nicht zu überzeugen, da hierdurch wiederum die gesamte Dogmatik der 135  Reich,

S. 101.



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB171

Strafzumessung ignoriert wird und genau der Impetus der Vollstreckungslösung, dass die zunächst festgesetzte Strafe ihre Funktion behalten solle, ins Gegenteil verkehrt würde. Insbesondere ist die auch der Rechtsprechung zu entnehmende Tendenz hervorzuheben, dass der Rechtsstaats- bzw. Konventionswidrigkeit allein nur ein geringes Gewicht beizumessen ist im Vergleich zu den strafzumessungsrelevanten Aspekten der überlangen Verfahrensdauer. Hierbei sei auf die Entscheidungen von BGH und EGMR verwiesen, wonach die bloße Feststellung der Konventionswidrigkeit zur Kompensation ausreichend sein könne oder ansonsten ein geringer Bruchteil der Strafe als vollstreckt auszusprechen sei.136 Die Vollstreckungslösung steht somit, soweit sie die Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 ff. StPO sowie die Vorschriften der §§ 59, 60 StGB weiterhin zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für anwendbar erklärt, nicht im Einklang mit der Dogmatik des geltenden Straf- bzw. Strafprozessrechts. Auch hinsichtlich der Weitergeltung der Verfahrenshindernislösung bestehen nur theoretisch denkbare Anwendungsfälle, so dass ein tatsächliches Bedürfnis nach dessen weiterer Existenzberechtigung in diesem Problemfeld fraglich ist. Konsequenterweise ist, vor allem vor dem Hintergrund der Aufgliederung der überlangen Verfahrensdauer in die teilweise strafzumessungsrelevanten Aspekte, die grundsätzliche Möglichkeit der Annahme eines Verfahrenshindernisses aufgrund der Rechtsstaatswidrigkeit der Verfahrensüberlänge abzulehnen.

VI. Einpassung der Vollstreckungslösung in das Sanktionensystem des StGB Die Erwägungen des Großen Strafsenats im Rahmen der Vollstreckungslösung, insbesondere die Erörterung der analogen Anwendung der §§ 49 und 51 StGB und der Strafzumessungsrelevanz der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, bewegen sich in einem zentralen Bereich des Strafrechts, nämlich der Findung der angemessenen strafrechtlichen Sanktion für schuldhaftes Handeln des Täters. Keiser sieht durch die Entscheidung das gesamte Rechtsfolgensystem des StGB auf den Prüfstand gestellt.137 Salditt geht sogar so weit zu sagen, dass sich durch die Vollstreckungslösung „am Ende […] das materielle Strafrecht in wichtigen Teilen verändert“ habe.138 Ob dies – wie teilweise vertreten wird139 – den Strafzumessungsvorgang vor 136  Siehe

oben unter B. III. 4. und 5. sowie D. I. GA 2008, 686 (698). 138  Salditt, StraFo 2007, 513 zum Vorlagebeschluss. 139  Siehe hierzu insbesondere Streng, JZ 2008, 979 (985). 137  Keiser,

172

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

der Berücksichtigung systemfremder Erwägungen bewahrt und sich insbesondere durch die Analogie zu § 51 StGB wieder der „lex scripta“ annähere ist im Folgenden im Rahmen der grundsätzlichen Erörterung, inwieweit sich das Vollstreckungsmodell in das Sanktionensystem des StGB einfügt, zu prüfen. 1. Sanktionensystem des StGB – Verhältnis der §§ 49, 51, 60 StGB Das Schuldstrafrecht des StGB macht das „Ob“ und „Wie“ einer Sank­ tionierung strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens von der individuellen Schuld des rechtswidrig Handelnden abhängig. Wie bereits dargestellt, ist die zentrale Norm hierfür § 46 StGB, im Rahmen der Strafzumessung sind alle schuldausgleichstauglichen Kriterien zu berücksichtigen. Über § 49 StGB kann auf die Strafzumessung in erheblichem Maße Einfluss genommen werden, indem hierdurch der Strafrahmen, in welchem sich die festzusetzende Strafe bewegen muss, abweichend vom Strafrahmen des eigentlichen Delikts herabgesetzt und so die eigentlich angedrohte Mindeststrafe unterschritten werden kann. Zum einen ist die Strafrahmenmilderung z. B. bei der Beihilfe zu einer Straftat (§ 27 StGB) oder dem Versuch der Beteiligung an einer Straftat (§ 30 StGB) zwingend vorgeschrieben, zum anderen fakultativ zugelassen, so dass in diesen Fällen, wie beispielsweise der erheblich verminderten Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB, der Strafbarkeit durch Unterlassen (§ 13 StGB) oder der Versuchsstrafbarkeit (§ 23 StGB), das Tatgericht eine Gesamtabwägung aller wesentlichen Tatumstände und der Täterpersönlichkeit vornehmen und danach über die Frage der Strafrahmenmilderung nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden muss.140 Der Verweis auf die Anwendbarkeit der Strafrahmenmilderung nach § 49 StGB muss ausdrücklich in einer anderen Vorschrift erfolgen. Der BGH hat bislang hiervon eine Ausnahme zugelassen in seiner Rechtsfolgenlösung für den Fall des Heimtückemordes, indem dort zugunsten des Täters eine sinngemäße Anwendung des § 49 StGB erfolgte zur Vermeidung der ansonsten zwingend vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe, wenn im Einzelfall bei der Tat außergewöhnliche Umstände vorliegen.141 Eine von der Praxisrelevanz her eher unbedeutende,142 jedoch im Rahmen des Sanktionensystems nicht zu vernachlässigende Vorschrift ist die Möglichkeit des Absehens von Strafe gemäß § 60 StGB. Diese Vorschrift besitzt 140  Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, 141  BGH,

§ 49 Rn. 7; LK-Theune, § 49 Rn. 7 f. Großer Senat, Beschluss vom 19.05.1981, BGHSt 30, 105 = NJW

1981, 1965. 142  Meier, S. 48.



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB173

einen enormen Ausnahmecharakter und wird dogmatisch als „Extremfall einer Strafzumessungsregel“ bezeichnet.143 Hiernach besteht die Möglichkeit, unabhängig vom Deliktstypus, bei schweren Tatfolgen, die den Täter unmittelbar oder mittelbar getroffen haben, und einer an sich verwirkten Strafe von nicht mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe, von der Verhängung einer Strafe ganz abzusehen. Als Begründung wird angeführt, dass die schweren Tatfolgen eine Strafe als unnötig erscheinen lassen und deren Verhängung so offensichtlich verfehlt wäre, da die Tatfolgen die Schuld des Täters als kompensiert erscheinen lassen.144 Das „Alles-oder-nichts-Prinzip“ dieser Vorschrift hebt den Ausnahmecharakter hervor. Sollte eine Anwendung von § 60 StGB nicht erfolgen können, so sind die schweren Tatfolgen jedenfalls im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.145 Zuletzt ist noch, da diese Vorschrift nunmehr durch die Vollstreckungslösung des BGH ins Blickfeld gerückt wurde, § 51 StGB darzustellen. Dies ist keine Norm, die Einfluss auf die Verhängung der konkreten strafrecht­ lichen Sanktion hat, sondern betrifft als gesetzliche Strafvollstreckungsregel146 das spätere Vollstreckungsverfahren. Hiernach sind auf eine zu vollstreckende Freiheits- oder Geldstrafe die aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Strafverfahrens war, erlittene Untersuchungshaft oder sonstige Freiheitsentziehung anzurechnen. Die Anrechnung erfolgt grundsätzlich kraft Gesetzes, ohne dass es hierzu einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. Lediglich bei der Anrechnung einer ausländischen Strafe oder Freiheitsentziehung bedarf es einer gerichtlichen Entscheidung, da dort das Maß der Anrechnung gemäß § 51 Abs. 4 S. 2 StGB nach Ermessen des Gerichts erfolgt und keine automatische eine Anrechnung im Maßstab 1:1 vorgenommen werden kann. Die Vorschriften stehen in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander sondern können bei entsprechendem Vorliegen ihren Voraussetzungen durchaus kumulativ Anwendung finden. 2. Herausnahme der Kompensation aus der Strafzumessung Wie oben bereits ausführlich dargestellt,147 ist die im Rahmen der Vollstreckungslösung vorgenommene Herausnahme der Kompensation für eine 143  LK-Hubrach,

§ 60 Rn. 2 f. StGB, § 60 Rn. 5; Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 60 Rn. 1; SSWStGB / Mosbacher, § 60 Rn. 1; so auch BGH, Beschluss vom 03.09.1996, NStZ 1997, 121 (122). 145  LK-Hubrach, § 60 Rn. 33. 146  So auch LK-Theune, § 51 Rn. 70. 147  Siehe oben unter E. IV. 2. 144  Fischer,

174

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung aus dem Bereich der Strafzumessung als dogmatisch dringend geboten zu begrüßen. Insoweit ist den entsprechend deutlichen Äußerungen in der Literatur und sogar der Rechtsprechung, wonach sich die Berücksichtigung einer überlangen Verfahrensdauer in Form der Entschädigung mittels Strafzumessungslösung als Fremdkörper im Rahmen der Strafzumessung gemäß § 46 StGB darstelle und nicht der inneren Systematik des deutschen Sanktionenrechts entspreche,148 zuzustimmen. Es hatte sich ein Modell entwickelt, dass eine Entschädigung für einen Konventions- und Verfassungsverstoß mit Strafmilderung erkauft, obwohl hierin bei sauberer Trennung der verschiedenen Aspekte keine Strafzumessungsrelevanz zu sehen ist und ohne eine systematische und für alle Fallgestaltungen anwendbare Verortung der Entschädigung vorzunehmen. Man ist geneigt zu sagen, dass hier sämtliche Gerichtsinstanzen, bis hin zum BVerfG, wohl des Ergebnisses der möglichen Kompensation wegen ein Auge bei der Einstufung der Strafzumessungsrelevanz der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zudrückten und dem EGMR blindlings folgten. Die nun durch das Vollstreckungsmodell erfolgte Korrektur bringt den Strafzumessungsvorgang wieder näher an den Gesetzeswortlaut des § 46 StGB heran und befreit ihn, wie Streng149 bereits feststellte, von „systemfremden Billigkeitserwägungen“. Somit steht dies sehr gut im Einklang mit den Strafzumessungsvorschriften des StGB. 3. Analoge Anwendung des § 51 StGB Von entscheidender Bedeutung für die Bewertung der Vollstreckungslösung ist jedoch, ob die analoge Anwendung des § 51 StGB dogmatisch zu begründen ist und sich in das Sanktionensystem des StGB einpasst. In diesem Zusammenhang ist auch zu erörtern, ob alternativ eine analoge Anwendung des § 49 StGB in Betracht zu ziehen ist. Dies war vom Instanzgericht angenommen worden,150 da innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens eine Kompensation mittels herkömmlicher Strafzumessungslösung nicht möglich gewesen war, was letztlich zum Systemwechsel durch den Großen Strafsenat führte. Zugegebenermaßen bestanden im Rahmen des Strafzumessungsmodells, wie oben bereits erörtert,151 erhebliche Kompensationslücken, auch für den 148  Basdorf, 1. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 57; Kraatz, JR 2006, 403 (406); Kraatz, JR 2008, 189 (190); BGH, Beschluss vom 07.06.2005, NStZ-RR 2006, 201 (202). 149  Streng, JZ 2008, 979 (985). 150  Siehe BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294. 151  Siehe oben unter E. I.



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB175

Fall einer Verurteilung des Betroffenen, wenn der gebotene Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens nicht oder nicht vollständig erfolgen kann. Es lag somit auf der Hand, eine analoge Anwendung von Vorschriften zu prüfen, die eine weitergehende Kompensation ermöglichen. Hierzu zählte zunächst die vom Instanzgericht angenommene Möglichkeit über eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB. Insbesondere im Hinblick auf die vom BGH entwickelte Rechtsfolgenlösung beim Heimtückemord wurde eine Analogiefeindlichkeit der Vorschrift nicht von vornherein ausgeschlossen, jedoch letztlich zugunsten der sich „stimmiger in das System strafrecht­ licher Rechtsfolgenbestimmung“152 einfügenden analogen Anwendung des § 51 StGB verworfen. a) § 51 StGB analog versus § 49 StGB analog Für eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB bei Fällen, in denen eine Kompensation über die Strafzumessung an die Grenzen des gesetz­ lichen Strafrahmens stößt, machten sich zahlreiche Literaturstimmen stark. So wurde der im Jahr 1975 erfolgten Einfügung des § 60 StGB in das Strafgesetzbuch entnommen, dass auch außerstrafrechtliche Gesichtspunkte dazu führen können, von der Verhängung einer an sich schuldangemessenen Strafe abzusehen. Deshalb müsse neben der einfachen Auswirkung auf die Strafzumessung auch in Fällen nicht genügender Kompensation auf diese Weise eine erweiterte Möglichkeit über eine analoge Anwendung des § 49 StGB bestehen.153 Auch Salditt bevorzugt eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB, da diese sich nur zu Gunsten des Angeklagten auswirke und damit auch verfassungsrechtlich kein Problem bereite.154 Als vorzugswürdig wird zudem gesehen, dass eine analoge Anwendung des § 49 StGB nur in Ausnahmefällen eine ausnahmsweise Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen erlaube, während die Vollstreckungslösung systematisch in allen Fällen der Kompensation zu einer ständig vorkommenden Analogie zu § 51 StGB führe und so das Sanktionensystem des StGB durch die Rechtsprechung erweitert werde.155 Gleichsam wird als Gefahr der analogen Anwendung des § 49 StGB zu Recht die Auflösung der gesetzlichen Strafrahmen und das Verwischen von Grenzen der Überprüfbarkeit der richter­ lichen Strafzumessung angeführt.156 152  BGH,

Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294 (3296). I. Roxin, StV 2008, 14 (16). 154  Salditt, StraFo 2007, 513. 155  Vgl. Ziegert, StraFo 2008, 321 (325 f.). 156  Kraatz, JR 2008, 189 (191); Weber, JR 2008, 36 (37). 153  So

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

In etwas abgewandelter Form möchte Kraatz die Möglichkeiten vor allem des § 49 StGB fruchtbar machen, indem er, neben dem Aufwerfen einer „Anrechnungslösung“, alternativ erwogen hat, die Strafzumessungslösung gesetzlich zu verankern. Dies solle durch Einfügung eines neuen § 48 StGB erfolgen, der ausdrücklich eine Strafmilderung bei Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK normiere und auf eine entsprechende Anwendung der §§ 49 und 50 StGB verweise.157 Für eine analoge Anwendung des § 51 StGB hatte zunächst der Große Strafsenat ausgeführt, dass hierdurch die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen respektiert werden und dennoch eine Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen erfolgen könne mit dem Vorteil, dass dies als wesensfremder Vorgang aus der Strafzumessung herausgelöst werde.158 Auch Weber befürwortet dies, da die überlange Verfahrensdauer – ähnlich wie vollzogene Untersuchungshaft – eine Folge des Verfahrens und keine Wirkung der Tat oder Strafe sei, so dass die Entschädigung hierfür allein objektiv auf Wiedergutmachung abziele und nicht im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen, sondern hiervon klar zu trennen sei.159 Ähnlich argumentiert Heghmanns, der in § 51 StGB eine Vorschrift sieht, die der Schadlosstellung und Wiedergutmachung von Verfahrensbeeinträchtigungen diene und somit für eine näher verwandte Thematik konzipiert sei als die in Relation zu Schulddefiziten stehende Norm des § 49 StGB.160 Einen Vorteil macht Schmitt darin aus, dass mit der analogen Anwendung des § 51 StGB nunmehr die gesondert ausgewiesene, zahlenmäßig genau bestimmte Kompensation in einem Bereich erfolge, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine solche zahlenmäßige Bewertung vorsehe.161 Einen weiteren Aspekt führt Keiser damit an, dass eine Analogie zu § 51 StGB dem Rechtsgedanken des § 56f Abs. 3 S. 1 StGB, wonach erbrachte Leistungen zur Erfüllung von Bewährungsauflagen im Falle eines Bewährungswiderrufs in angemessenem Maßstab auf die noch zu vollstreckende Strafe anzurechnen sei, entspreche und sich dies besser in das Sanktionensystem einfüge.162 Ausführlich wird von Reich die Vergleichbarkeit der Fallkonstellationen erörtert und festgestellt, dass sowohl die Untersuchungshaft als auch die unangemessen lange Verfahrensdauer in Freiheits- und somit Grundrechte des Betroffenen eingreifen und dass § 51 StGB eine „Art Doppelwirkung“ 157  Kraatz,

JR 2006, 403 (408). Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (135 f. u. 142) = NJW 2008, 860 (863 u. 865). 159  Weber, JR 2008, 36 (37). 160  Heghmanns, ZJS 2008, 197 (199). 161  Schmitt, StraFo 2008, 313 (316 Fn. 34). 162  Keiser, GA 2008, 686 (695). 158  BGH,



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB177

zukomme, indem hierdurch sowohl der verfahrensrechtliche Freiheitsentziehungsvorgang als solcher als auch die damit einhergehenden Belastungen kompensiert werden. Da es sich in beiden Fallgestaltungen um einen verfahrensrechtlichen Vorgang handle, der sich als Wirkung des Strafverfahrens darstelle, sei eine Gleichbehandlung der jeweiligen Kompensation gerechtfertigt.163 Gewichtige Stimmen wenden sich jedoch gegen die Analogie zu § 51 StGB. Zum einen wird angeführt, dass es keine vergleichbaren Fallgestaltungen seien und andere Interessenlagen vorliegen, da es bei § 51 StGB um die Anrechnung rechtmäßigen Freiheitsentzugs gehe, während rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen ein rechtswidriges Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden darstellen.164 Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass § 51 StGB keine Entschädigungs-, sondern eine Strafvollstreckungsregel sei, die sich nicht zur Verallgemeinerung eigne. Mit ihr könne die Anrechnung erlittener Untersuchungshaft „gewissermaßen zufällig“ über eine Naturalrestitution erfolgen, was nicht auf die Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer übertragen werden könne.165 Adressat des § 51 StGB sei allein die Vollstreckungsbehörde.166 Überdies wird vertreten, dass eine analoge Anwendung des § 51 StGB die Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen doch wieder von einer vollstreckbaren Strafe abhängig mache und sich deshalb als eine Art „Annex zur Tatschuld“ darstelle, was gerade durch die Abkehr vom Strafzumessungsmodell vermieden werden sollte.167 Auf einen weiteren Aspekt weist Reichenbach hin. Die sich bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aus der Anwendung von § 51 StGB ergebende Konsequenz der anstatt der Vollstreckungsanrechnung zu erfolgenden Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 StGB führe letztlich mittelbar zur Infragestellung der absoluten Straf163  Reich, S. 69, die darüber hinaus die Vergleichbarkeit der Fallgestaltungen darin festmacht, dass bei der Untersuchungshaft ebenfalls nur eine Anrechnung gemäß § 51 StGB erfolgt, wenn eine Verurteilung erfolgt; ansonsten stehe lediglich die Möglichkeit einer Entschädigung nach dem StrEG offen. 164  Möller, S.  63 f.; I. Roxin, StV 2008, 14 (16); Ziegert, StraFo 2008, 321 (325). 165  Scheffler, ZIS 2008, 269 (277), der bei einer Ausweitung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen, in denen Verfahrensverstöße durch eine Vollstreckungsanrechnung kompensiert werden sollen, eine „nicht hinnehmbare Relativierung des Verfahrensrechts“ befürchtet, ZIS 2008, 269 (279). 166  Ziegert, StraFo 2008, 321 (325 f.). 167  Kraatz, JR 2008, 189 (191); ähnlich auch Fischer, StGB, § 46 Rn. 142a, der die Vollstreckungsanrechnung ebenfalls als (gesonderter) Akt der Strafzumessung einstuft, der nach denselben Kriterien wie im Rahmen der Strafzumessungslösung erfolge.

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

androhung des § 211 StGB durch die regelmäßige fiktive Teilverbüßung, was weder mit § 78 Abs. 2 StGB noch mit § 49 StGB in Einklang zu bringen sei. Deshalb sei die Vollstreckungslösung an die Rechtsfolgenlösung des BGH beim Heimtückemord anzubinden, die nur in extremen Ausnahmefällen zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Anwendung finde, was letztlich aber das Vollstreckungsmodell überflüssig mache.168 b) Eigene Bewertung Um das Ergebnis vorweg zu nehmen, kann festgestellt werden, dass keine der beiden Lösungen überzeugt und sich ins Sanktionensystem des StGB einfügt. Eine Anwendung der Strafmilderungsmöglichkeiten des § 49 StGB – sei es in analoger Anwendung oder über eine gesetzliche Regelung speziell für den Fall überlanger Verfahrensdauer à la Kraatz – ist dogmatisch nicht begründbar und birgt die Gefahr einer weitgehenden Relativierung der gesetzlichen Strafrahmen in sich. Die ansonsten zu einer Anwendung von § 49 StGB führenden Umstände haben allesamt Tatbezug bzw. sind Aspekte, die mit der Schuld des Täters korrelieren. Zwar ist es richtig, dass bei Beibehaltung des Strafzumessungsmodells nur in seltenen Ausnahmefällen eine analoge Anwendung des § 49 StGB, da der gesetzliche Strafrahmen keine ausreichende Kompensation zulasse, erfordere. Dennoch können zur Erfüllung der Entschädigungspflicht nicht die grundlegenden Regelungen des Strafzumessungsrechts außer Acht gelassen werden. Insbesondere auch über den Rechtsgedanken des § 60 StGB kann eine solche Erweiterung nicht hergeleitet werden, da zum einen nicht unstreitig ist, ob aus dieser Vorschrift herausgelesen werden kann, dass gravierende Täterbelastungen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren überhaupt im engeren Sinne schuldmindernd zu sehen sind,169 und es zum anderen bei der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Sinne eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK keine über die lange Verfahrensdauer hinausgehenden Belastungen des Betroffenen gibt, die über die Strafzumessung hinaus ein weiteres Mal im Rahmen der Entschädigung zu berücksichtigen sind. Einen gewissen Charme kann man einer Analogie zu § 51 StGB nicht absprechen. Die Grundtendenz ist sogar sehr begrüßenswert, die Kompensation für einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK fern von jeglichen, gesetzlich vorgegebenen Mindeststrafen und ohne Bezug zur Täterschuld oder gar Tatschwere durchzuführen. Reichenbach, NStZ 2009, 120 (124). JZ 2008, 979 (982) führt an, dass eine diesbezügliche Anwendung des § 60 StGB auch als „Gnadenakt der Gesellschaft“ ohne Schuldbezug gesehen werden könne. 168  So

169  Streng,



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB179

Auch ist es richtig, dass § 51 StGB zahlenmäßig genau zu bestimmende Werte kennt und insbesondere § 51 Abs. 4 S. 2 StGB eine gerichtliche Ermessensentscheidung sowie eine konkrete, zahlenmäßige Bestimmung erfordert, wie eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung auf eine ausgesprochene Strafe anzurechnen ist. Zudem handelt es sich bei der Untersuchungshaft und der überlangen Verfahrensdauer in beiden Fällen um grundrechtsrelevante Sachverhalte. Die Wiedergutmachung für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen hat jedoch weder etwas mit der Strafzumessung zu tun, noch stellt die Berücksichtigung im Rahmen des Vollstreckungsausspruchs eine hiermit näher verwandte Lösung dar. § 51 StGB ist eine Strafvollstreckungsregel, die sowohl im Rahmen des Verfahrens verbüßte Untersuchungshaft als auch eine im Ausland erlittene Strafe oder Freiheitsentziehung hinsichtlich der den Verurteilten tatsächlich treffenden Strafe zur Berücksichtigung bringt, so dass praktisch keine doppelte Sanktionierung der abgeurteilten Tat erfolgt. Dies ist keine mit der Wiedergutmachung für erlittenes Verfahrensunrecht vergleichbare Fallgestaltung. Zum einen ist eine Entschädigung nicht als ähnlich mit dem Ausgleich für eine bereits erfolgte, strafähnlich wirkende Sanktion einzustufen, zum anderen handelt es sich bei der Untersuchungshaft und auch den anderen im Rahmen des § 51 Abs. 4 S. 2 StGB relevanten Freiheitsentziehungen um rechtmäßig angeordnete Maßnahmen oder Sanktionen im Einklang mit dem geltenden Straf- und Strafprozessrecht. Es liegt also eine Situation vor, in welcher durch rechtmäßiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte beim Betroffenen ein Eingriff in das Freiheitsgrundrecht erfolgt ist, der bei der konkreten Vollstreckung der aufgrund der zugrundeliegenden Tat festgesetzten (tat- und schuldangemessenen) Strafe in Form der Anrechnung zu berücksichtigen ist, um die bereits eingetretene, strafähnliche Wirkung der erfolgten Maßnahme auf die Strafe selbst zu übertragen. Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als solche ist hingegen bereits von ihrer Anlage her gerade ein vom (Grund-) Gesetz nicht zugelassener Umstand, der während des Strafverfahrens rechtmäßig eintreten kann. Zudem kommt diesem Umstand selbst keine strafähnliche Wirkung zu. Wie bereits ausgeführt, stellt die Verfahrensdauer als solche die Belastung für den Betroffenen dar, woraus sich eine entsprechende Wirkung ergibt, unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der langen Dauer. Zuletzt muss deutlich hervorgehoben werden, dass auch der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK keine freiheitsentziehende Wirkung besitzt oder gar eine Maßnahme der Freiheitsentziehung darstellt. Zwar kann im weitesten Sinne davon ausgegangen werden, dass die Belastungen durch ein anhängiges Ermittlungs- und Strafverfahren einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit darstellen. Man kann wohl auch zumindest freiheitsbeschränkende Aspekte darin erblicken, dass der Angeklagte bei

180

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

einer Hauptverhandlung im Strafverfahren anwesend zu sein hat, jedoch stellen dies die auch genauso mit einer rechtmäßig langen Verfahrensdauer einher gehenden Wirkungen strafprozessualer Art dar. Sie sind weder vergleichbar mit tatsächlich erfolgter Freiheitsentziehung durch Untersuchungshaft, noch kann man sie an der Rechtsstaatswidrigkeit der Verfahrensverzögerung festmachen. Die von Reich170 angenommene bloße Feststellung, dass es sich in beiden Fallgestaltungen um einen verfahrensrechtlichen Vorgang handle, der sich als Wirkung des Strafverfahrens darstelle, ist zu weitgehend, öffnet Tür und Tor für zahlreiche weitere Problemkreise und genügt nicht für eine hinreichende Vergleichbarkeit der Fallgestaltungen im Sinne einer Übertragbarkeit der Regelungen des § 51 StGB. Darüber hinaus stehen weitere Argumente gegen eine analoge Anwendung von § 51 StGB parat: auch mit der Vollstreckungslösung kann eine Entschädigung nur erfolgen, wenn eine Verurteilung erfolgt. Bei anderen Verfahrensausgängen (Freispruch, Einstellung) bleibt eine Entschädigungslücke vorhanden. Zudem muss dem vordergründigen Vorteil der Kompensationsmöglichkeit auch bei der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer entgegen gehalten werden, dass hierdurch die absolute Strafandrohung des § 211 StGB vielfach durch Anrechnung einer fiktiven Teilverbüßung aufgeweicht wird und das vor dem Hintergrund, dass gerade der Mordtatbestand keine Verjährung kennt und somit die Verfahrensdauer entsprechend der gesetzlichen Regelung keinen Einfluss auf die Strafzumessung sowie die Strafbarkeit überhaupt haben darf (was allerdings eine überlange Verfahrensdauer dennoch nicht rechtfertigen kann). Zuletzt ist der Auffassung, dass eine Analogie zu § 51 StGB dem Rechtsgedanken des § 56f Abs. 3 S. 1 StGB entspreche, ebenfalls deutlich zu widersprechen. Zwar ist nachzuvollziehen, dass diese beiden Vorschriften sich vom Rechtsgedanken her ähneln, geht es in beiden um während des Ermittlungsoder Strafverfahrens erfolgte Einbußen in die persönliche Freiheit oder auch pekuniärer Art, die bei der Festsetzung der zu vollstreckenden Strafe Berücksichtigung finden müssen. In beiden Fällen handelt es sich auch um rechtmäßig gerichtlich angeordnete Beeinträchtigungen beim Betroffenen, so dass dies im weitesten Sinne als ähnlich bezeichnet werden kann. Jedoch ist es verfehlt, dies mit der Situation bei einer überlangen Verfahrensdauer und dem damit verbundenen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zu vergleichen. Es handelt sich weder um eine gerichtlich angeordnete und rechtmäßige Maßnahme und schon gar nicht um beim Betroffenen eingetretene Einbußen, die er im Rahmen der Erfüllung von Bewährungsauflagen gewissermaßen selbständig leistet und die durch sein Zutun erfolgen. 170  Siehe

Reich, S. 69.



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB181

Auch von der rechtspolitischen Seite her kann dem Vollstreckungsmodell kein besonderer Vorzug gegeben werden. Zwar muss zugestanden werden, dass entsprechende Auswirkungen von überlangen Verfahren auf die Strafe des Betroffenen den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten schon einen besonderen Ansporn zur zügigen Verfahrensdurchführung geben, jedoch ist dies sowohl mit der Strafzumessungslösung als auch mit dem Vollstreckungsmodell in gleichem Maße gegeben. Insoweit ist sogar eine Beeinflussung der Strafzumessung die effektivere Alternative, wollte man die entsprechenden staatlichen Stellen zu einer zügigen Verfahrensbetreibung ermuntern, da sie letztlich in entsprechenden Grenzfällen über die Gewährung einer Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung mitentscheidenden Einfluss haben. Tatsächlich ist jedoch insgesamt fraglich, ob eine wie auch immer geartete Entschädigung für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung sich auf die Beschleunigung von Verfahren auswirkt. Dass Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte absichtlich trödeln oder Verfahren bewusst entschleunigen ist eher als böse Unterstellung zu bezeichnen. Vielfach liegt eine zögerliche Verfahrensbearbeitung in der personellen Ausstattung begründet, wo entsprechende Anreize zumindest in Richtung der die Verfahren betreibenden Ermittlungspersonen oder Gerichte fruchtlos sind. Abschließend bleibt festzuhalten, dass weder eine analoge Anwendung des § 49 StGB noch des § 51 StGB sachgerecht und dogmatisch begründbar ist. Beides stellt eine unzulässige Erweiterung der gesetzlichen Vorschriften und damit auch des strafrechtlichen Sanktionensystems dar.171 Insbesondere wird durch die Analogie zu § 51 StGB ein weites neues Feld der teilweise als vollstreckt geltenden Strafen eröffnet,172 das so nur für den Ausnahme171  Abwegig die Ansicht von Möller, S. 71 f., der hierin sogar einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 2 S. GG sieht. Denn durch die Vollstreckungslösung können Freiheitsstrafen verhängt werden, die bereits vollstreckt sind, obgleich sich der Angeklagte nie in Haft befunden hat, sowie Geldstrafen, die teilweise bereits als bezahlt zu betrachten sind, obwohl noch kein Geld geflossen ist, was beides Sanktionsmöglichkeiten darstellen, die so im Sanktionssystem des StGB nicht vorgegeben seien. 172  Dies stellt Reich zwar zunächst auch so fest, sieht darin dennoch keine unzulässige Erweiterung des Sanktionensystems, da eine Anrechnung von fingierter Untersuchungshaft dem System des § 51 Abs. 1, Abs. 4 StGB nicht fremd sei und dies mit der Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit gemäß § 43 StGB verglichen werden könne, siehe Reich, S. 71. Vor allem das angeführte Argument, der Gesetzgeber habe es ausdrücklich der Rechtsprechung und Literatur überlassen, eine Rechtsfolge für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot festzulegen, geht insoweit fehl, weil damit nicht automatisch eine Ausweitung des gesetzlichen Sanktionensystems gemeint war. Es wurde im Gegenteil festgelegt, dass sich die Kompensationsmöglichkeit im Rahmen des nationalen Strafrechtsfolgensystem zu bewegen hat und dies gerade nicht erweitern soll, vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 7 / 551, S. 37.

182

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

fall der bereits im Ausland erlittenen Strafe oder Freiheitsentziehung (vgl. § 51 Abs. 4 S. 2 StGB) vorgesehen ist. Im Rahmen der regelmäßigen Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB für im hiesigen Verfahren erlittene Untersuchungshaft erfolgt kein Vollstreckungsausspruch im Urteil, sondern die entsprechende Anrechnung wird automatisch durch die Vollstreckungsbehörde vorgenommen. Eine Notwendigkeit für eine solche Ausweitung ist überdies nicht zu sehen, zumal weiterhin die genannten Kompensationslücken verbleiben und somit weiterer Regelungsbedarf besteht. Vom Gesamteindruck des Systemwechsels her, vor allem auch aufgrund der mangelnden wissenschaftlichen Diskussion zuvor, kann sich die Entscheidung für eine Vollstreckungsanrechnung im Sinne einer Analogie zu § 51 StGB zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen des Eindrucks einer gewissen Beliebigkeit nicht erwehren, die sich allein am erwünschten Ergebnis orientiert hat. 4. Zunahme der kurzzeitigen Strafvollstreckungen Eine mit dem Systemwechsel hin zur Vollstreckungslösung einhergehende praktische Auswirkung ist sicherlich die Zunahme von zu vollstreckenden kurzzeitigen Freiheitsstrafen. Liegen im Strafausspruch zwar noch Freiheitsstrafen von sechs Monaten oder mehr vor, so kann es neuerdings vielfach dazu kommen, dass nach Abzug des für vollstreckt erklärten Teils der Strafe eine Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten als tatsächlich noch zu vollstreckende Sanktion verbleibt. Zu prüfen ist, ob dies der gesetzlichen Regelung des § 47 StGB, der die Verhängung von kurzen Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur in Ausnahmefällen zulässt und an besondere Voraussetzungen knüpft, widerspricht. Hierzu wird zum einen in abgeschwächter Form vertreten, dass es in einigen Fällen zu vom Gesetz nicht gewünschten, kurzzeitigen Strafvollstreckungen komme,173 während Ignor / Bertheau deutlicher werden und ausführen, dass die zu erwartende Zunahme kurzzeitiger Strafvollstreckungen der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers widerspreche, „aus spezialpräventiven Erwägungen heraus die Vollstreckung und eben deshalb die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nach Möglichkeit zu verhindern“.174 Dies stelle eine Rechtsfortbildung „contra legem“ dar.175 Ausführlich wird die Problematik von Çelik / Stief beleuchtet, die zu dem Ergebnis kommen, dass durch die Vollstreckungslösung entgegen den gesetzgeberischen Vorgaben in den 173  Peglau, NJW 2007, 3298 (3299), jedoch mit der Bemerkung, dass es sich um einen hinnehmbaren Nachteil handle; I. Roxin, StV 2008, 14 (17). 174  Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2213). 175  SSW-StGB / Eschelbach, § 46 Rn. 59; Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2213).



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB183

§§ 47 Abs. 1 und 56 Abs. 3 StGB eine Zunahme von Inhaftierten mit kurzen Strafen unter sechs Monaten – was eigentlich als ultima ratio gedacht die Ausnahme bleiben soll – zu erwarten ist. Zudem werde durch die formelle Verhängung von Strafen ab sechs Monaten hiermit die obligatorische Aussetzung kurzzeitiger Freiheitsstrafen gemäß § 56 Abs. 3 StGB trotz de facto kürzerer Vollzugszeit aufgrund der Vollstreckungsanrechnung ausgehebelt.176 Die Gegenansicht wird von Kraatz und Tiwisina eingenommen, die keinen Konflikt mit § 47 StGB erkennen können, da diese Norm nur die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe verbiete, während die Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen durch § 51 Abs. 1 S. 1 StGB hingenommen werde.177 In Extremfällen könne eine Anwendung von § 57 Abs. 3 StGB helfen mit der Möglichkeit der Reststrafenaussetzung zur Bewährung. a) Konflikt mit § 47 StGB In der Tat stellt sich die mit der Vollstreckungslösung verbundene Zunahme von Strafvollstreckungen kurzzeitiger Freiheitsstrafen nicht als Konflikt mit § 47 Abs. 1 StGB dar. Diese Vorschrift regelt und beschränkt ihrem eindeutigen Wortlaut nach die Verhängung solcher Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten, ohne dass etwas über die Strafvollstreckung bzw. Strafaussetzung dieser Strafe zur Bewährung ausgesagt wird. Dies ist zunächst Teil der in sich stimmigen und geschlossenen Systematik der Strafzumessung, welche nach dem Vollstreckungsmodell durch die Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen unangetastet bleiben soll. b) Konflikt mit § 56 StGB Jedoch ergibt sich in der praktischen Auswirkung der Vollstreckungslösung ein Problem mit dem Sinn und Zweck der Regelungen in § 56 StGB, insbesondere des Abs. 3. Das darin enthaltene, abgestufte System von der obligatorischen Strafaussetzung zur Bewährung bei kurzzeitigen Freiheitsstrafen bis hin zum normierten Ausnahmecharakter unter besonderen Umständen von Strafaussetzungen bei Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren wird bei der Vollstreckungsanrechnung aufgrund überlanger Verfahrensdauer regelmäßig durch die Bewertung der Bewährungsfrage anhand der ausgeworfenen Brutto-Strafe und der verbleibenden, tatsächlich zu vollstreckenden geringeren Netto-Strafe „ausgehebelt“178 und somit ad 176  Çelik / Stief,

StV 2010, 657 (659 f.). JR 2008, 189 (191); Tiwisina, S. 117. 178  So Çelik / Stief, StV 2010, 657 (660). 177  Kraatz,

184

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

absurdum geführt. Die Grenzziehung zwischen den verschiedenen Voraussetzungen der Strafaussetzung zur Bewährung verkommt so zu einer rein akademischen Festlegung, die von der Praxis überholt wird. Denn Sinn und Zweck der Regelungen des § 56 StGB ist die Gewährleistung einer sinnvollen Vollzugsgestaltung mit dem Ziel, dem Resozialisierungsgedanken möglichst effektiv gerecht zu werden.179 Hierbei bestehen wenige Handlungsmöglichkeiten bei kurzer Vollzugszeit, weshalb die Abstufungen in dieser Vorschrift entsprechend ausgestaltet worden sind. Durch die Vollstreckungslösung werden dem Justizvollzug deutlich mehr Strafgefangene beschert, mit denen aufgrund der Kürze der Zeit keine oder nur wenig sinnvolle Resozialisierungsmaßnahmen durchgeführt werden können, so dass eine Hauptsäule, auf der die Strafhaft aufbaut, dort nicht zum Tragen kommt. Die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist jedoch so in das strafrechtliche Sanktionensystem eingebaut, dass dieses bei Verschieben der dortigen Relationen ins Wanken gerät, unsystematisch wird und nicht mehr in sich stimmig ist. § 51 StGB anzuführen, der dies ja gerade in Kauf zu nehmen scheint, kann auch keine Rechtfertigung bieten. Diese Vorschrift regelt den Ausnahmefall der vorangegangenen Untersuchungshaft bzw. anderer freiheitsentziehender Maßnahmen, so dass dort für die Frage des Resozialisierungsgedankens bereits eine Vollzugserfahrung zugrunde zu legen ist. Dies ist bei einer überlangen Verfahrensdauer nicht der Fall. Zudem ist die Anrechnung der Untersuchungshaft ausdrücklich in § 56 Abs. 4 StGB enthalten und somit ausdrücklich vom Willen des Gesetzgebers umfasst. Um den genannten Unstimmigkeiten im strafrechtlichen Sanktionensystem entgegen zu wirken wird von Çelik / Stief vorgeschlagen, die Vollstreckungslösung modifiziert anzuwenden und bei einer nach Anrechnung verbleibenden Strafe von unter sechs Monaten entweder das in § 56 Abs. 3 StGB postulierte Merkmal der Verteidigung der Rechtsordnung einschränkend auszulegen oder die jeweiligen Voraussetzungen des § 56 StGB nicht an der verhängten, sondern an der nach Vollstreckungsanrechnung tatsächlich zu vollstreckenden Strafe zu messen.180 Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass hierdurch wiederum die gerade durch das Vollstreckungsmodell beabsichtigte Trennung zwischen Entschädigung und Strafzumessung teilweise aufgehoben wird, wenn die nach der Anrechnung verbleibende Strafe nochmals hinsichtlich der Strafaussetzung zur Bewährung auf den Prüfstand gestellt wird. Letztlich kommt es dann für die Strafaussetzung zur Bewährung entscheidend auf die nach Vollstreckungsanrechnung verbleibende 179  Siehe

LK-Hubrach, § 56 Rn. 1. StV 2010, 657 (660 f.).

180  Çelik / Stief,



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB185

Netto-Strafe an, die in dieser Form noch keine relevante Zählgröße im strafrechtlichen Sanktionensystem darstellt. Zudem würde der gesamte Vorgang der Rechtsfolgenbestimmung durcheinandergewirbelt, wenn nunmehr erst nach der Vollstreckungsanrechnung eine Entscheidung über die Gewährung einer Bewährung getroffen wird. Mit dem gemachten Vorschlag würde eine Veränderung der gesamten Systematik erfolgen, ohne dass hierfür ein triftiger Grund vorhanden ist, so dass dies abzulehnen ist. Auch der BGH hat – allerdings schon vor langer Zeit – hinsichtlich des Anknüpfungspunktes für die Prüfung der Strafaussetzung zur Bewährung deutlich herausgestellt, dass dies die ausgesprochene Strafe und nicht der nach Anrechnung im Sinne des § 51 StGB verbleibende Rest ist, da es „nicht allein von der vielfach zufälligen Verhängung oder Dauer der Untersuchungshaft abhängen [kann], ob die vom Gericht für schuldangemessen erachtete Strafe zu vollstrecken oder zur Bewährung auszusetzen ist“.181 Dies gilt insbesondere auch für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, ein Abrücken hiervor ist nicht angezeigt. Auch die anderweitig aufgezeigte Lösung über § 57 StGB und die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung182 vermag nicht zu überzeugen, da es hier – entgegen der Intention des Gesetzgebers – zu überhaupt keiner Strafvollstreckung kam und die Reststrafenaussetzung allein aufgrund der Tatsache, dass es sich lediglich um eine kurze Strafvollstreckung handeln würde, quasi als eine Art Gnadenakt erfolgt. Das Vollstreckungsmodell ist deshalb auch aufgrund der tatsächlichen Zunahme von kurzen, zu vollstreckenden Freiheitsstrafen und der darin liegenden Diskrepanz zu dem in § 56 StGB enthaltenen, abgestuften System der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung, die einen Systembruch hierzu darstellt, abzulehnen. 5. Anhebung der Grenze zur Strafaussetzung zur Bewährung Ebenfalls eine faktische, wenn nicht gar gewollte183 Konsequenz aus dem Systemwechsel ist die tatsächliche Absenkung der Schwelle, unterhalb derer eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, da ein erheblicher Strafabschlag für eine überlange Verfahrensdauer, der eine Aussetzung zur Bewährung erst möglich macht, nicht mehr vorgesehen ist und es deshalb insbesondere in langen Wirtschaftsstrafverfahren wegen der dort besonders 181  BGH,

Urteil vom 12.03.1954, BGHSt 5, 377 (378) = NJW 1954, 846. Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209 (2213); Kraatz, JR 2008, 189 (190); Tiwisina, S. 117. 183  Dem widerspricht Schmitt, StraFo 2008, 313 (316), vehement und führt an, dass dies keine Rolle bei den Überlegungen zur Rechtssprechungsänderung gespielt habe. 182  Vgl.

186

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

langen Verfahrensdauer zu der bislang erreichten Strafaussetzung zur Bewährung nicht mehr kommen kann.184 Salditt sieht darin einen Verstoß gegen das Justizgrundrecht des Art. 103 Abs. 2 GG, welches auch für die Strafaussetzung zur Bewährung gelte und deshalb verletzt sei, weil das materielle Strafrecht durch die Vollstreckungslösung zum Nachteil des Angeklagten verändert werde. Die Vorschrift des § 56 StGB knüpfe an die Netto-Strafe nach § 46 StGB an und gerade dieser Bezugspunkt sei durch den Systemwechsel betroffen.185 Dagegen führt Scheffler an, dass neben der enormen Verkürzung der Bandbreite der Anwendbarkeit des § 56 StGB durch das Vollstreckungsmodell relativ hoch bestrafte Straftäter sogar bevorzugt werden, da hierdurch die nach § 57 Abs. 1 oder 2 StGB relevanten Zeitpunkte der Strafrestaussetzung zur Bewährung schneller erreicht werden können und damit insbesondere Straftäter, gegen die eine relativ geringe Freiheitsstrafe festgesetzt wird und die (deshalb) nicht in Untersuchungshaft genommen worden sind, schlechter gestellt werden, „also der Typus Wirtschaftsstraftäter, an den Harms offenbar dachte“.186 Zunächst ist festzustellen, dass durch den Systemwechsel der Strafzumessungsfaktor der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung weggefallen ist, so dass es in der Natur der Sache liegt, dass sich in weniger Strafverfahren als bisher eine sich noch im bewährungsfähigen Bereich bewegende Freiheitsstrafe ergibt. Ob dies eine dramatische Zunahme an zu vollstreckenden Strafen, vor allem im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts, nach sich zieht, oder ob die nach der Vollstreckungslösung in der Strafzumessung verbleibenden Aspekte der Verfahrensdauer und der Tatferne es in vielen Fällen auch ermöglichen, die magische Grenze einer (Gesamt-)Strafe von zwei Jahren zu erreichen oder zu unterschreiten, kann letztlich für die rechtliche Bewertung dahingestellt bleiben. Fakt ist, dass es durch die Rechtsprechungsänderung zu Verurteilungen kommt, bei denen gerade deshalb eine Bewährungsaussetzung nicht mehr möglich ist, so dass der jeweilige Betroffene hierdurch benachteiligt wird. Gleichzeitig ist jedoch auch Scheffler zu folgen und zu attestieren, dass in anderen Fällen durch die Anwendung des Vollstreckungsmodells Verurteilte, die zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe verurteilt werden, netto gerechnet früher als bislang in den Genuss einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung und somit bedingten Freilassung aus dem Strafvollzug kommen.187 Beides sind Folgen, 184  So bereits Bußmann, NStZ 2008, 236; Gaede, JZ 2008, 422; Kraatz, JR 2008, 189; Salditt, StraFo 2007, 513. 185  Salditt, StraFo 2007, 513. 186  Scheffler, ZIS 2008, 269 (273). 187  So auch Schmitt, StraFo 2008, 313 (317).



VI. Einpassung in das Sanktionensystem des StGB187

die mittelbar an den Systemwechsel anknüpfen, sich jedoch im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung bewegen. Es ist sehr strittig, ob das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG überhaupt für Änderungen der Rechtsprechung gilt.188 Unter den sogenannten Justizgrundrechten sind die im Grundgesetz enthaltenen Vorschriften über das Recht auf den gesetz­ lichen Richter in Art. 101 GG, das in Art. 103 Abs. 1 GG geregelte rechtliche Gehör, das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 103 Abs. 3 GG sowie der Grundsatz nulla poena sine lege des Art. 103 Abs. 2 GG zu verstehen. Letzterer wird in Bezug genommen. Hiernach darf keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz erfolgen, hierunter zu subsumieren ist auch ein Rückwirkungsverbot und damit auch der Grundsatz, dass nachträglich keine zu Lasten des Betroffenen wirkende Einführung oder Verschärfung einer Strafvorschrift erfolgen darf. Eine solche erfolgt auch nicht durch die Rechtsprechungsänderung des Großen Strafsenats, gleich welcher Ansicht man hinsichtlich der Frage der Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots im Rahmen von Änderungen der Rechtsprechung folgt. Die natürlich ebenfalls unter den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG fallende Vorschrift über die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) wird in ihrem Anwendungsbereich nicht verändert, die Vollstreckungslösung wirkt sich lediglich auf den Anknüpfungspunkt aus, die nach § 46 StGB festzusetzende, tatund schuldangemessene Strafe. Die bislang erfolgte Berücksichtigung durch Anrechnung auf die Strafhöhe war Ergebnis langjähriger Rechtsprechungsentwicklung. Diese kann sich weiter fortsetzen und den tatsächlichen Erfordernissen sowie Entwicklungen in der wissenschaftlichen Diskussion angepasst werden, ohne dass hierdurch ein von Art. 103 Abs. 2 GG beim Beschuldigten geschütztes Vertrauen auf weiteren Bestand der Anrechnung im Rahmen der Strafzumessung und daraus folgend eine mildere Strafe, die sich noch im bewährungsfähigen Bereich bewegt, verletzt wird. Auch wenn sich dies in Teilen als Rechtsprechungsänderung zu Lasten des Betroffenen auswirkt, so ist hierin keine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG zu sehen, der sich auf gesetzliche oder gewohnheitsrechtlich anerkannte Regelungen bezieht. Das häufigere Überschreiten der Schwelle der noch zur Bewährung aussetzungsfähigen Strafe aufgrund der fehlenden Berücksichtigungsmöglichkeit rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen und die daraus faktisch resultierende Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 56 StGB stellen keinen Verstoß gegen (grund-)gesetzliche Regelungen dar und sind insoweit nicht zu beanstanden.

188  Zum Streitstand siehe SK-StGB-Rudolphi, § 1 Rn. 8 und LK-Dannecker, § 1 Rn.  432 ff.

188

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung Die Entscheidung des Großen Strafsenats befasste sich zwar ausführlich mit den Grundlagen für eine Entschädigungspflicht aufgrund eines Verstoßes gegen die EMRK und den hierzu bestehenden Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung, sie ließ jedoch insbesondere hinsichtlich der praktischen Umsetzung und weitergehender Fragestellungen zahlreiche Probleme offen, die auch bislang durch die nachfolgende Rechtssprechungsfortentwicklung durch die Strafsenate des BGH nicht hinreichend gelöst werden konnten. Im Folgenden soll dieses nun im Sinne einer kritischen Betrachtung erörtert werden. 1. Maßstab zur Bezifferung des als vollstreckt geltenden Teils Zunächst stellt sich in der praktischen Umsetzung der Vollstreckungslösung die Problematik, nach welchem Maßstab der als vollstreckt zu beziffernde Teil der festgesetzten Strafe festzusetzen ist. Nach der Entscheidung des Großen Strafsenats und weiterer Senatsentscheidungen besteht hierfür ein richterlicher Ermessensspielraum im Sinne des § 51 Abs. 4 S. 2 StGB, wobei ausdrücklich ausgeschlossen wird, den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen. Vielmehr hat sich die Anrechnung allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu orientieren und wird sich häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.189 Nähere Ausführungen hierzu erfolgten im Beschluss des Großen Senats jedoch nicht, so dass eine Vielzahl von Einzelfallentscheidungen190 herangezogen werden muss, um sich ein Bild oder eine Tendenz über den angemessenen Maßstab des als vollstreckt geltenden Teils der ausgesprochenen Strafe machen zu können. Zuletzt, und hierfür hatte der Große Strafsenat bereits den Weg geebnet, indem er ausdrücklich die Prüfung voranstellte, ob die bloße Feststellung der Konventionsverletzung zur Kompensation ausreichen könnte,191 häuften sich die Entscheidungen, in denen nur die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als aus189  BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (146 f.) = NJW 2008, 860 (866); BGH, Beschluss vom 14.02.2008, Az. 3 StR 416 / 07, S. 5 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 15.02.2011, Az. 1 StR 19 / 11, S. 4 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (606). 190  Näher hierzu vgl. oben unter D. I. 191  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (146) = NJW 2008, 860 (866).



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung189

reichende Entschädigung für den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK erfolgte und auf eine weitere Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell verzichtet wurde.192 Dies nährt die in der Literatur geäußerten Befürchtungen, dass vielfach lediglich die Feststellung erfolge und ein Vollstreckungsabschlag nicht mehr vorgenommen werde.193 Zustimmung verdient die klare Ablehnung einer Anrechnung nach dem Maßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB. Die Anwendung dieses Maßstabs ist nicht sachgerecht, da es sich bei der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht um eine tatsächliche Freiheitsentziehung handelt und ihr auch kein freiheitsentziehender Charakter zukommt. Zudem lässt es sich vielfach nicht auf den Tag genau feststellen, welcher Teil der Verfahrensdauer als überlang einzustufen ist. Die Anrechnung der Überlänge im Verhältnis 1:1 auf die ausgesprochene Strafe würde eine deutliche Überkompensation darstellen, die vor allem im Vergleich zur Anrechnung tatsächlich erlittener Untersuchungshaft als augenscheinliche Ungleichbehandlung einzustufen wäre. Darüber hinaus wäre es sicherlich wünschenswert gewesen, wenn der BGH sich klarer positioniert und den Anrechnungsmaßstab präzisiert bestimmt hätte. So ergingen nach dem Beschluss des Großen Strafsenats Entscheidungen, die von der Relation der Vollstreckungsanrechnung sowohl zur Verfahrensüberlänge als auch zur festgesetzten Strafe eine große Bandbreite abdeckten und keine Tendenz für den Regelfall erkennen lassen, so dass sie für die Übertragung auf andere Fälle keinen wirklichen Anhaltspunkt bieten können. Einen konkreten Lösungsansatz entwickelte Beukelmann, der im Regelfall von einem Vollstreckungsabschlag in Höhe von 1 / 4 bis allenfalls 1 / 3 der festgesetzten Strafe ausgehen möchte.194 Dies stellt jedoch, wie im übrigen auch die entsprechenden Ausführungen in der Entscheidung des Großen Strafsenats, einen falschen Ansatz dar, der sich nicht mit dem Entschädigungscharakter in Einklang bringen lässt. Die Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen hängt nicht von der verhängten Strafe ab, so dass eine anteilsmäßige Berechnung immer sachwidrig an die entsprechende Strafe anknüpft. Die Entschädigung muss sich jedoch am zeitlichen Faktor der tatsächlichen Verfahrensüberlänge orientieren, was völlig unabhängig von der Schuld des Angeklagten und der ausgesprochen Strafe ist. Deshalb ist es angezeigt, Anrechnung und Dauer der Überlänge in ein Verhältnis zu setzen. Ansonsten kann es – je nach Straf192  BGH, Beschluss vom 21.02.2008, Az. 4 StR 666  / 07, S. 4 f. – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Urteil vom 09.10.2008, StV 2008, 633 (635); BGH, Beschluss vom 13.01.2010, Az. 3 StR 494 / 09, S. 4 – zitiert nach www.bundes gerichtshof.de. 193  Beukelmann, StraFo 2011, 210 (214); Möller, S. 87; Schäfer / Sander / van Gemmeren, Rn.  443e ff.; Scheffler, StV 2009, 719 (721). 194  Beukelmann, StraFo 2011, 210 (214).

190

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

höhe – zu einer zu geringen Kompensation und damit einem verbleibenden Restentschädigungsanspruch des Betroffenen kommen. Da die Verfahrensdauer als solche mitsamt der damit verbundenen Belastungen bereits Strafzumessungsrelevanz aufweist und für die Kompensation keine Rolle zu spielen hat, ist der zu kompensierenden Rechtsstaatswidrigkeit eine mäßigere Bedeutung zuzumessen, die – in Anlehnung an den BGH – einen „eher geringen Bruchteil“195, jedoch von der Verfahrensüberlänge, ausmachen kann. Vor allem auch im Vergleich mit dem Maßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB und dem dort zugrunde liegenden, tiefgreifenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen durch die erfolgte Freiheitsentziehung, erscheint es angemessen, für die Kompensation der Rechtswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer im Regelfall 1 / 3 der Dauer der Überlänge, bei der Verhängung einer Geldstrafe entsprechend § 51 Abs. 4 S. 1 StGB umgerechnet in Tagessätze, als vollstreckt geltende Strafe anzurechnen. Nur so kann dem rein auf Entschädigung für die Konventions- und Rechtsstaatswidrigkeit ausgerichteten Charakter der Kompensation hinreichend gerecht werden. Es wird nicht verkannt, dass es bei diesem Anknüpfungspunkt für die Berechnung der Vollstreckungsanrechnung wiederum Umsetzungsprobleme geben kann, wenn eine lange Verfahrensüberlänge vorliegt und nur eine geringe Strafe ausgesprochen wird, so dass die Vollstreckungsanrechnung die Strafe nahezu bzw. komplett aufzehrt, oder sogar die anzurechnende die ausgesprochene Strafe übersteigt. Im Sinne des Entschädigungsgedankens müsste dies dann so ausgesprochen und festgestellt werden, auch wenn letztlich keine oder nur eine geringe Reststrafe zur Vollstreckung übrig bleibt. In diesem Fall wäre es eine Überlegung wert, einen entsprechenden Ausnahmefall anzunehmen, der zu einem Verfahrenshindernis führt. Sollte aber die anzurechnende Strafe die verhängte übersteigen, bleibt eine Kompensationslücke, die anderweitig nicht geschlossen wird. Das Ergebnis ist, wenngleich es dem Entschädigungsgedanken eher entspricht, ebenfalls nicht sehr zufriedenstellend. Das zeigt wiederum, dass das Vollstreckungsmodell aus diesem Aspekt heraus keine sachgerechte und konsequente Kompensationslösung darstellt. Insbesondere ist abschließend nochmals darauf hinzuweisen, dass die erkennbare Tendenz, neben der ausdrücklichen Feststellung der Konventionswidrigkeit zunehmend, und nicht nur in Ausnahmefällen ganz geringer Verfahrensverzögerungen, von einer weiteren Kompensation durch Vollstre195  Vgl. BGH, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (147) = NJW 2008, 860 (866); BGH, Beschluss vom 14.02.2008, Az. 3 StR 416 / 07, S. 5 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 15.02.2011, Az. 1 StR 19 / 11, S. 4 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (606).



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung191

ckungsanrechnung zu verzichten, zu nicht abschätzbaren Risiken im Hinblick auf eine Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR führt.196 Hiervor sollte deshalb nur in extremen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden. 2. Anknüpfung der Vollstreckungsanrechnung an die Gesamtstrafe Eine weitere Problematik in der praktischen Umsetzung des Vollstreckungsmodells stellt die vom Großen Senat mit wenigen Worten dargestellte Anknüpfung der Vollstreckungsanrechnung an die Gesamtstrafe dar. Hiernach soll lediglich an der in der Urteilsformel ausgesprochenen Gesamtstrafe, da diese allein Grundlage für die Vollstreckung ist, die Anrechnung vorgenommen werden.197 Schwierigkeiten entstehen hierbei insbesondere bei der nachträglichen Auflösung der Gesamtstrafe und Bildung neuer Einzel(gesamt)strafen. Bei der Bildung der neuen Strafe(n) hat nun das erkennende Gericht gleichsam festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe(n) aus Kompensationsgründen als vollstreckt gelten soll. Zum einen ist das Verschlechterungsverbot zu beachten und der Verurteilte darf nachträglich nicht schlechter gestellt werden, zum anderen müssen bei der Neubildung mehrerer Gesamtstrafen Festlegungen dahingehend getroffenen werden, in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat sich das Gericht „daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren.“198 Dieser Ansatz ist, wie Peglau zurecht feststellt, „nachbesserungswürdig“, da im Fall der nachträglichen Auflösung bzw. Bildung einer Gesamtstrafe Berechnungsprobleme entstehen, da nicht klar ist, in welcher konkreten Höhe die Vollstreckungsanrechnung auf die jeweils neu gebildete Gesamtstrafe überzugehen hat.199 Als noch offen und der weiteren Rechtsprechungsentwicklung vorbehalten bezeichnet Bußmann die Frage, ob bei der Übertragung der Vollstreckungsanrechnung der ursprünglichen Gesamtstrafe über die Einzelstrafen auf die neu zu bildende(n) Strafe(n) eine „mathema196  Ähnlich auch Gaede, JZ 2008, 422, der davor warnt, sich nicht auf dieses „menschenrechtliche Vabanquespiel“ einzulassen. 197  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (147) = NJW 2008, 860 (866). 198  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (147) = NJW 2008, 860 (867). 199  Peglau, NJW 2007, 3298 (3299).

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

tische Verteilung“ vorzunehmen sei oder ob hierbei dem erkennenden Gericht noch „Raum für eine wertende Entscheidung“ verbleibt.200 Dem Vorschlag des Großen Strafsenats, eine Anrechnung in Berücksichtigung der Höhe des Einfließens der Einzelstrafen in die neue Gesamtstrafe vorzunehmen, wird unter Anführung einer mathematischen Beispielsrechnung vorgeworfen, dass hierdurch – nach Berücksichtigung des Anteils des Vollstreckungsrabatts bei der neuen Gesamtstrafe – ein Anrechnungsrest verbleibe, der gegebenenfalls die aufgelöste Einzelstrafe der früheren Gesamtstrafe in ihrer Höhe übersteigt.201 Deshalb wird dafür plädiert, die auf die aufgelöste Gesamtstrafe bezogene Anrechnung zunächst hypothetisch auf die zugrundeliegenden Einzelstrafen in dem Verhältnis der jeweiligen Einzelstrafen zur Summe aller Einzelstrafen – nicht der Gesamtstrafe – zu verteilen und dann den jeweils an die Einzelstrafe geknüpften Anteil der Vollstreckungsanrechnung vollständig bei der Gesamtstrafe, in welcher die jeweilige Einzelstrafe aufgeht, in Abschlag zu bringen.202 Diese Auffassung verdient Zustimmung. Es handelt sich hierbei um den einfacheren und leichter nachvollziehbaren Rechenweg. Zudem – und das sind die entscheidenden Argumente – erfolgt eine mathematische Verteilung der bereits gerichtlich endgültig festgelegten Kompensation in Form einer 1:1-Anrechnung, ohne dass Raum für eine weitere Ermessensentscheidung des Gerichts besteht, das im Zweifel ohne genaue Kenntnis des Verzögerungstatbestandes und der Gründe hierfür darüber im Rahmen einer Ermessenabwägung entscheiden soll. Der jeweils anhand der Verteilung der Einzelstrafen festgelegte Anteil an der als vollstreckt geltenden Strafe bleibt jeweils in vollem Umfang erhalten und wird – als Anhängsel an die jeweilige Einzelstrafe – vollumfänglich bei der Gesamtstrafe, in welcher die Einzelstrafe aufgeht, im Vollstreckungsabschlag in Anrechnung gebracht. So kann die nach der Lösung des Großen Senats bestehende Gefahr des Verbleibens eines Kompensationsrestes, der die restliche Einzelstrafe übersteigt, nach dieser Lösung nicht entstehen. Im konkreten Fall können sich bei einem entsprechenden Verhältnis der Einzelstrafen zu ihrer Gesamtsumme auch genau gerechnet Anteile von jeweils Jahren, Monaten und Tagen ergeben. Eine so genaue Berechnung ist zur konsequenten und gerechten Aufteilung erforderlich und auch nicht zu beanstanden, sieht doch § 51 Abs. 4 StGB ausdrücklich die auch tageweise Anrechnung, die umgerechnet einem Tagessatz entspricht, vor. Mit diesem Lösungsweg kann zudem der Schwierigkeit begegnet werden, dass aus zwei Verfahren, in denen jeweils eine Vollstreckungsanrech200  Bußmann, 201  Siehe

S. 52.

NStZ 2008, 236 (237). die Berechnung bei Kraatz, JR 2008, 189 (194); nachgebildet bei Reich,

202  Kraatz,

JR 2008, 189 (194); Peglau, NJW 2007, 3298 (3299); Reich, S.  52 f.



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung193

nung erfolgt ist, bei zu bildenden, neuen Gesamtstrafen mehrere Anrechnungsteile bei einer Gesamtstrafe zu berücksichtigen sind. Dies erfolgt hier durch einfache, mathematische Addition. Auch diese Problematik in der Umsetzung des Vollstreckungsmodells, die zwar lösbar ist, zeigt, welche (neuen) Schwierigkeiten mit der neuen Entschädigungslösung verbunden sind und dass diese für eine von der Straftat und ihrer Sanktion abgekoppelte, konsequente Kompensation nahezu unbrauchbar und deshalb verfehlt ist. 3. Revisibilität des Vollstreckungsausspruchs Der als vollstreckt geltende Teil der Strafe ist vom Schuldausspruch getrennt zu sehen, so dass sich die Frage der getrennten Anfechtung in der Rechtsmittelinstanz stellt.203 Da durch das Herauslösen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aus dem Bereich der Strafzumessung nun eine eigenständige Prüfung der Voraussetzungen und Festsetzung der Kompensation erfolgt, spricht nichts dagegen, dass der Vollstreckungsausspruch gesondert mit einem Rechtsmittel angefochten und selbständig in einem Rechtsmittelverfahren, entweder in der Berufungs- oder in der Revisionsinstanz, überprüft wird.204 Schwieriger ist jedoch, inwieweit sich eine Revi­ sion hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs auf die Kompensationsentscheidung auswirkt. Entgegen der Auffassung des 3. Strafsenats205 kann bei einer isolierten Anfechtung des Schuld- bzw. Strafausspruchs keine „horizontale (Teil-)Rechtskraft“ hinsichtlich der Entscheidung über eine Vollstreckungsanrechnung für eine überlange Verfahrensdauer eintreten. Zwar handelt es sich um eine eigenständige Teilentscheidung im Rahmen des Urteils, die grundsätzlich isolierbar wäre, sie ist dennoch untrennbar mit dem Schuldspruch verbunden, da eine Vollstreckungsanrechnung nur, und auch in ihrer Höhe hierdurch nach oben begrenzt, bei einer entsprechenden Verurteilung erfolgen kann. Ohne einen Schuldspruch und die Festsetzung einer Strafe gegen den Angeklagten besteht rein faktisch keine Möglichkeit für eine Vollstreckungsanrechnung. Deshalb ist im Falle eines Rechtsmittels auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass hierdurch das Urteil aufgehoben wird und das Verfahren letztlich mit einem Freispruch oder einer Verfahrens­ einstellung endet. Hierdurch würde bei einer Teilrechtskraft des Vollstreckungsausspruchs dieser allein übrig bleiben und für den Betroffenen 203  Siehe

oben bereits unter D. IV. galt bislang bereits für die Vollstreckungsentscheidung über die Anrechnung der Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 4 S. 2 StGB, siehe Fischer, StGB, § 51 Rn. 23. 205  BGH, Urteil vom 27.08.2009, NJW 2009, 3734. 204  Dies

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

wertlos sein und faktisch keinerlei Entschädigungswirkung entfalten, da er nicht auf andere, gar zukünftige, Verfahren übertragen werden kann. Die Anwendung des § 51 StGB ist bereits von seinem Gesetzeswortlaut her auf dasselbe Verfahren beschränkt, eine Ausweitung durch Übertragung auf andere Verfahren, sozusagen als Gutschrift auf anderweitige Verurteilungen, ist sicherlich nicht gewollt, ist nicht praktikabel und auch nicht sachgerecht. Die Ansicht Maiers, für den Fall des Freispruchs oder der Verfahrenseinstellung aufgrund eines bisher übersehenen Prozesshindernisses in der neuen Tatsacheninstanz die Bindungswirkung entfallen zu lassen,206 vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Hiermit ginge ein großes Stück Rechtssicherheit verloren. Zudem kann die Frage der Rechtskraft der Vollstreckungsentscheidung nicht auflösend bedingt vom Ergebnis des das restliche Urteil betreffenden Rechtsmittels, dem eine völlig andere rechtliche Prüfung zugrunde liegt, abhängen, vor allem weil dies unabhängig von den dem Vollstreckungsausspruch zugrunde liegenden Feststellungen erfolgt und hierauf keinen Einfluss hat. Konsequenterweise muss deshalb ein gegen den Schuldspruch und die Strafhöhe gerichtetes Rechtsmittel automatisch auch den Vollstreckungsausspruch erfassen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass einem dann bereits rechtskräftig festgestellten Vollstreckungsrabatt keine adäquat hohe Strafe mehr gegenübersteht mit der ungeklärten Folge, wie mit dem überschießenden Teil des Vollstreckungsausspruchs umzugehen ist. In dieser Konstellation bliebe für die bereits in konkreten Zahlen (d. h. tage-, wochen-, monats- und jahresweise bzw. in einer genauen Anzahl an Tagessätzen) festgestellte Kompensation nur noch eine Entschädigungszahlung in entsprechender Anwendung des StrEG in Betracht, wenngleich dies dem klaren Gesetzeswortlaut des StrEG, der eine Entschädigung nur bei Vorliegen einer Strafverfolgungsmaßnahme vorsieht, widerspricht und deshalb eine Übertragung der Regelungen des StrEG auf rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen dogmatisch auch nicht begründbar ist. 4. Verschlechterungsverbot in Übergangsfällen Der oben ausführlich dargestellte207 Streit der Strafsenate im Nachgang zur Entscheidung des Großen Strafsenats zur Frage, inwieweit ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO vorliegt, wenn nach erfolgreich durchgeführter Revision bei einer erneuten Verurteilung nunmehr die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung anstatt entsprechend der Strafzumessungslösung nach dem Vollstreckungsmodell berücksichtigt wird und deshalb zwar eine höhere, tat- und schuldangemessene Strafe 206  Maier, 207  Siehe

NStZ 2010, 650 (651). oben unter D. II.



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung195

festgesetzt wird, diese nach Abzug des als vollstreckt geltenden Teils die frühere Strafe nicht übersteigt, zeigt ein weiteres, bislang ungelöstes Folgeproblem der Vollstreckungslösung. Die vom 3. Strafsenat hierzu vertretene Position, die dies zulassen würde,208 kann nicht überzeugen. Vielmehr ist zunächst für die Frage des Verstoßes gegen das Verschlechterungsverbot – wie insbesondere auch vom 1. Strafsenat deutlich herausgestellt209 – auf die festgesetzte Einzel- bzw. Gesamtstrafe ohne Abzug des Vollstreckungsabschlags abzustellen. Dies stellt die den Verurteilten belastende Sanktion dar, an die sich gegebenenfalls weitere Rechtsfolgen oder Sanktionen, wie z. B. beamten- und ausländerrechtliche Konsequenzen oder auch die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung, anschließen, so dass jede Erhöhung des Strafausspruchs mit dem Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO nicht in Einklang zu bringen ist. Somit kommt es nicht darauf an, ob die den Verurteilten tatsächlich treffende, zu vollstreckende Netto-Strafe nicht höher als die bisher ausgesprochene Strafe ist und er faktisch nicht schlechter dasteht, ja sogar für den Zeitpunkt einer möglichen Reststrafenaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 StGB einen Vorteil erlangt, da dieser Zeitpunkt früher erreicht wird. Die Nachteile des höheren Strafausspruchs können nicht mit den sonstigen Vorteilen – Schäfer spricht auch von „milderen Randbedingungen“210 – verglichen und gegenübergestellt werden. Dafür sind sie zu verschiedenartig und von ihrer Reichweite her nicht vollständig überblickbar. Bereits die zu Lasten des Angeklagten veränderte Brutto-Strafhöhe stellt vor allem aufgrund der daran möglicherweise zu knüpfenden, weiteren Rechtsfolgen einen gesteigerten Makel dar. 5. Regelungslücke bei Freispruch und Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO Die Vollstreckungslösung mag neben den genannten dogmatischen Schwierigkeiten, wenn man der Begründung zum Systemwechsel folgt, zwar ihren Charme im Herauslösen der Mathematisierung aus der hierfür nicht geeigneten Strafzumessung sowie der Anwendbarkeit auch bei Fällen der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe haben. Eine große Kompensa208  Vgl. BGH, Beschluss vom 18.01.2008, Az. 3 StR 388 / 07, S. 3 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 13.02.2008, NStZ-RR 2008, 168; BGH, Beschluss vom 19.02.2008, Az. 3 StR 536 / 07, S. 4 f. – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 09.04.2008, wistra 2008, 341 (342); BGH, Beschluss vom 08.05.2008, Az. 3 StR 123 / 08, S. 4 – zitiert nach www.bundes gerichtshof.de; BGH, Beschluss vom 17.11.2009, Az. 3 StR 437 / 09, S. 4 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 209  BGH, Beschluss vom 20.03.2008, NJW 2008, 2451 (2454). 210  Schäfer, JR 2008, 302 (303).

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E. Diskussion der Vollstreckungslösung

tionslücke bleibt jedoch sowohl bei einem Freispruch als auch bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO bestehen. Dies stellt weiterhin ein großes Manko des Vollstreckungsmodells dar. Vor allem aufgrund der deutlichen Rechtsprechung des EGMR kann eine Lösung im nationalen Recht, die einer bedeutenden Anzahl von Ermittlungsund Strafverfahren weiterhin eine Entschädigungsmöglichkeit vorenthält, nicht (allein) dauerhaft Bestand haben. Eine Lösung für die Entschädigung entsprechender Verfahrensverzögerungen bei Freispruch oder Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO fehlt in den Erwägungen zum Vollstreckungsmodell gänzlich und stellt die Praxis, sprich die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte, weiterhin vor das Problem, ob und wie mit der bestehenden Kompensationspflicht und einer drohenden Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR – sollte keine Entschädigung erfolgen – umzugehen ist. Solange sich hierzu weder die höchstrichterliche Rechtsprechung noch der Gesetzgeber äußern, ist keine durchgängige und vor allem einheitliche Entschädigungslösung zu erwarten. Erst das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hat sich dieser Problematik angenommen.211 6. Problematik im Jugendstrafrecht Konsequenterweise ist die Vollstreckungslösung auch im Bereich des Jugendstrafrechts anzuwenden, dort in entsprechender Anwendung des § 52a Abs. 1 S. 1 JGG, der als jugendstrafrechtliche Spezialregelung die Anrechnung von Untersuchungshaft und anderen, freiheitsentziehenden Maßnahmen im Jugendstrafrecht regelt. Jedoch hebt der Große Strafsenat des BGH zu Recht hervor, dass „die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme […] durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt“ werden.212 Es bleibt weiterhin die Frage zu klären, ob auf eine Kompensation verzichtet werden muss, wenn dem erzieherische Gründe entgegen stehen, was bislang im Rahmen der Strafzumessung hätte erfolgen können und nun aufgrund einer analogen Anwendung des § 52a Abs. 1 S. 2 JGG zu prüfen wäre. Die zur bisherigen Lösung geäußerte Kritik, dass durch eine Reduzierung der Strafe zur Entschädigung für überlange Verfahrensdauer die zur Erziehung erforderliche Dauer der Jugendstrafe unterschritten werde und so das Erreichen des Erziehungsziels gefährdet sei,213 gilt ebenso für 211  Siehe

unten unter H. Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (145) = NJW 2008, 860 (866); zum Streitstand siehe oben D. III. 213  So BGH, Beschluss vom 05.12.2002, NStZ 2003, 364 (365). 212  BGH,



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung197

eine Reduzierung der Netto-Strafe durch die Vollstreckungsanrechnung. Es entsteht hierdurch das Spannungsfeld zwischen dem im Jugendstrafrecht vorherrschenden Erziehungsgedanken und der nach der EGMR und dem GG unbedingt zu leistenden Entschädigung für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. Es würde die gesamte Systematik des Jugendstrafrechts betreffen, wenn nach der eigentlichen Strafzumessung und der dort getroffenen Abwägung, ob und in welcher Höhe die Verhängung einer Jugendstrafe aus erzieherischen Gründen notwendig ist, das gefundene Ergebnis dadurch relativiert und somit auch zunichte gemacht würde, indem von der eigentlich aus Erziehungsgründen erforderlichen Jugendstrafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf, der dann gegebenenfalls nicht mehr dem mit der Strafe verfolgten Erziehungsgedanken entsprechen kann. Diese Grundsäule des Jugendstrafrechts kann nicht durch anderweitige Überlegungen, die dort nicht unbedingt dogmatisch an der richtigen Stelle sind, angegangen werden. Somit ist im Rahmen der Vollstreckungslösung aus Gründen der Besonderheiten des Jugendstrafrechts § 52a Abs. 1 S. 2 JGG analog anzuwenden und ein Vollstreckungsabschlag nur dann zuzulassen, wenn er nicht dem Erziehungsgedanken widerstreitet. Der – wenngleich auch menschenrechtlich gewährte – Kompensationsanspruch tritt dahinter zurück und muss sich in solche Grundfesten des nationalen (Straf-)Rechts einfügen. Der nach der Darstellung des entsprechenden Streitstandes von Reich geäußerten Rechtsauffassung, dass dem auch ein teilweise vertretener Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung Jugendlicher nicht entgegen stehen kann, da ein solcher nicht anzuerkennen sei, ist vollumfänglich zuzustimmen.214 Das Jugendstrafrecht stellt sich insgesamt als nicht in einzelnen Auswirkungen vergleichbares Aliud im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht mit zahlreichen Vergünstigungen im Rahmen der Anwendung der Vorschriften des JGG dar. Hieraus kann sich keine zwingende Gleichbehandlung im Sinne der unbedingten Anwendung der Vollstreckungslösung ohne die Anwendungsmöglichkeit des § 52a Abs. 1 S. 2 JGG ergeben, zumal bei einem entsprechenden Ausschluss einer Vollstreckungsanrechnung grundsätzlich der Entschädigungsanspruch weiterhin bestehen bliebe. Dann wäre wiederum eine Entschädigungslücke vorhanden, da auch keine anderweitige Möglichkeit der Kompensation in Betracht gezogen werden könnte. Dies zeigt erneut, dass die Vollstreckungslösung kein zufriedenstellendes Ergebnis auch für den Bereich des Jugendstrafrechts bietet.

214  Reich,

S.  147 ff.

198

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

7. Verständigung über Kompensation für überlange Verfahrensdauer Zuletzt ist die Frage zu diskutieren, ob über die Art und Weise der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zwischen den Verfahrensbeteiligten eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO erzielt werden kann und die Vollstreckungsanrechnung insoweit verhandelbar ist. Hierzu bestehen in der Literatur, nachdem sich der BGH zu dieser Frage bislang nicht eindeutig positioniert hat,215 zwei konträre Auffassungen. Während Meyer-Goßner ein solches Vorgehen ausdrücklich ausschließt,216 bejaht Graf die Möglichkeit einer Verständigung auch über das ob und die Höhe der Vollstreckungsanrechnung aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Er führt aus, dass die Kompensation in Form der Vollstreckungslösung „der eigentlichen Strafzumessung in einem Urteil vergleichbar nahe“ stehe und es weder für die Festlegung der Strafe für ein strafbares Verhalten noch für die Höhe der Kompensation für überlange Verfahrensdauer eine „absolut richtige Größe“ gebe.217 Die Grenze einer Verständigung im Sinne des § 257c StPO sei damit gezogen, dass weder eine nicht mehr angemessene Strafhöhe noch eine „in der Höhe bei Weitem übersetzte Kompensation“ vereinbart werden dürfe.218 Zudem sei eine Vereinbarung über eine entsprechende Kompensation dann unzulässig, wenn überhaupt keine Anhaltspunkte für eine Verzögerung ersichtlich sind. Letzteres versteht sich ohne weitere Kommentierung von selbst. Darüber hinaus ist zur Entscheidung dieser Streitfrage zunächst auf die relativ junge Norm des § 257c StPO zu schauen. Hierbei ist festzustellen, dass diese weder in den ausdrücklich bezeichneten Regelungen des Abs. 2 S. 1, die die möglichen Inhalte von Verständigungen aufzählen, noch in Abs. 2 S. 3, der die einer Verständigung entzogenen Bereiche enthält, die Kompensation für überlange Verfahrensdauer in Form der Vollstreckungsanrechnung enthält. 215  In seiner Entscheidung vom 06.10.2010, StV 2011, 74, konnte es der BGH offen lassen, ob die Vornahme einer Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer im Rahmen einer Verständigung verhandelbar ist, da in dem zugrunde liegenden Strafverfahren eine Verständigung nicht zustande gekommen war. Die Ausführungen können jedoch dahingehend interpretiert werden, dass zumindest der 2. Strafsenat des BGH eine Verständigung über die Frage der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als fern liegend und von § 257c Abs. 2 StPO nicht gedeckt einstuft. 216  Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 10. 217  Graf, NZWiSt 2012, 121 (128 f.). 218  So Graf, NZWiSt 2012, 121 (129), der abschließend darauf hinweist, dass allein die potentielle Gefahr eines Missbrauchs der Verständigungsmöglichkeiten nicht die grundsätzliche Möglichkeit der Verständigung über die Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen ausschließen könne.



VII. Praktische Probleme bei der Umsetzung199

Eine Verständigung darüber kann somit weder ausdrücklich darauf gestützt werden, noch liegt ein klarer Hinweis in Richtung Ausschluss vor. Die von Graf angeführte Begründung der starken Ähnlichkeit zur Strafzumessung überzeugt nicht. Zum einen hat die Entschädigung für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen – wie oben bereits ausführlich dargestellt219 – wenig mit dem auf tat- und schuldangemessener Sanktionierung basierenden Strafzumessungsvorgang zu tun, sondern soll das objektiv durch den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK entstandene Verfahrensunrecht beim Betroffenen ausgleichen und Genugtuung hierfür leisten. Zum anderen ist es gerade die Strafzumessung, d. h. die konkrete Strafhöhe, die Hauptbestandteil einer Verständigung ist und die auch durch die vereinbarte Gegenleistung, nämlich das Geständnis des Angeklagten, direkt betroffen ist. Deshalb ist es auch im Rahmen der Verständigung verhandelbar, wie stark sich die geständige Einlassung und die daraus resultierende Verfahrensabkürzung auf das Strafmaß auswirken. Hierin liegt genau der Unterschied zur Vollstreckungsanrechnung aufgrund überlanger Verfahrensdauer, wofür das Geständnis ohne Belang ist. Der entschädigungspflichtige Sachverhalt ist bereits eingetreten, eine Verständigung hat keinen Einfluss auf das Maß der Rechtsstaatswidrigkeit. Auch im Regelfall der gesetzlich normierten Vollstreckungsanrechnung des § 51 StGB ist für eine Verständigung kein Raum, geht es hier um die Anrechnung einer konkret feststehenden Zeit von bereits erlittener Freiheitsentziehung oder Strafe. Entweder besteht ein gesetzlich festgelegter Anrechnungsmaßstab (Abs. 4 S. 1) ohne weitere Entscheidungskompetenz, oder es besteht lediglich ein gerichtliches Ermessen zur Festlegung des Anrechnungsmaßstabs der im Ausland erlittenen Freiheitsentziehung oder Strafe (Abs. 4 S. 2), ohne dass darüber hinaus sachfremde Erwägungen in die Entscheidung Eingang finden dürfen. Im Fall der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist weiter zu berücksichtigen, dass letztlich im Zweifel die Kompensation im Rahmen des nationalen Strafverfahrens der Entscheidung des EGMR stand halten muss, der als Hüter der EMRK bei einer entsprechenden Klage durch den Betroffenen darüber entscheiden muss, ob die erlittene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausreichend kompensiert worden ist. Dies kann dann problematisch werden, wenn der im Rahmen der Verständigung festgelegte Kompensationsteil aufgrund sachfremder Erwägungen wesentlich reduziert worden ist und somit eine Verurteilung Deutschlands durch den EGMR droht. Hierbei kann auch nicht angeführt werden, dass die Verständigung mit Zustimmung des Betroffenen erfolgt ist und man ihm ein „venire contra factum proprium“ vorhalten könnte, sollte er den weiteren Rechtsweg 219  Siehe

oben unter E. IV. 2.

200

E. Diskussion der Vollstreckungslösung

zum EGMR bestreiten, um die nicht hinreichende Kompensation geltend zu machen. Der EGMR prüft das Vorliegen und den Umfang der Verfahrensüberlänge und stellt dem die zur Entschädigung ausgesprochene Vollstreckungsanrechnung gegenüber, die eine ausreichende Kompensation leisten muss. Eine gefundene Verständigung stellt immer eine Gesamtlösung zur verfahrensökonomischen Erledigung eines Strafverfahrens dar, hieraus kann nicht geschlossen werden, dass der Betroffene ausdrücklich auf weitere Entschädigungen für erlittenes Verfahrensunrecht verzichten möchte oder die Verständigung als solche ausreichend zur Entschädigung des übersteigenden Unrechtsgehalts ist. Die Vollstreckungslösung ist somit kein tauglicher Inhalt einer Verfahrensabsprache im Sinne des § 257c StPO und kann nicht zur Verhandlungsmasse hinzugenommen werden. Zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung muss eine eigenständige, rein am Umfang der Rechtsstaatswidrigkeit zu messende Entscheidung getroffen werden.

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen / Problemkreise Über die Problematik der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hinaus ist, zum einen weil entsprechende Bestrebungen in der Rechtsprechung oder Literatur bereits erkennbar sind, oder weil es sich ebenfalls um Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK handelt, zu prüfen, ob die Vollstreckungslösung des BGH auf andere Fallgestaltungen bzw. ähnlich gelagerte Problemkreise übertragen werden kann oder muss. Hierbei sind insbesondere die fehlende oder fehlerhafte Belehrung eines ausländischen Beschuldigten über die Möglichkeit der Unterrichtung seines Konsulats gemäß Art. 36 WÜK, die Kompensation für eine unzulässige Tatprovokation sowie zur Ermöglichung eines Härteausgleichs zum Ausgleich der besonderen Härte infolge nicht durchführbarer Gesamtstrafenbildung in diversen Fallgestaltungen zu zählen. Zuletzt ist zu erörtern, ob es sachgerecht wäre, die Vollstreckungslösung darüber hinaus zur Reaktion auf weitere Verfahrensfehler oder Rechtsstaatswidrigkeiten anzuwenden.

I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK Bereits zeitlich deutlich vor dem Beschluss des Großen Senats – inspiriert durch den Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats – wandte der 5. Strafsenat in einem Beschluss vom 25.09.2007 die Vollstreckungslösung ebenfalls unter analoger Heranziehung des § 51 Abs. 1 StPO auf die Fallgestaltung der fehlenden Belehrung gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK) an.1 Diese Entscheidung fiel in eine Zeit unterschiedlicher Behandlung dieses Problemkreises durch die verschiedenen Senate des BGH und mehrfacher Befassung durch das BVerfG. In der Rechtsprechung scheint sich, wenn man den Beschluss des BVerfG vom 08.07.20102 und im Anschluss daran die Entscheidung des 4. Strafsenats3 heranzieht, die Auffassung durchgesetzt zu haben, grundsätzlich bei Verstößen gegen die Belehrungspflicht über die Benachrichtigung 1  BGH, Beschluss vom 25.09.2007, BGHSt 52, 48 (56) = NJW 2008, 307 (309 f.). 2  BVerfG, Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207. 3  BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

der konsularischen Vertretung eines ausländischen Beschuldigten ein Verwertungsverbot zu prüfen, wenn dem Beschuldigten hierdurch ein Nachteil entstanden ist. Die Anwendung der Vollstreckungslösung aber auch eine Widerspruchslösung – wie vom 1. Strafsenat4 gefordert – wurden abgelehnt. Dennoch bieten die Erörterungen in der Entscheidung des 5. Strafsenats hinreichenden Anlass dafür zu prüfen, ob dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 WÜK mithilfe der Vollstreckungslösung ausreichend begegnet werden kann. 1. WÜK Ähnlich wie die EMRK fand auch das am 24.04.1963 abgeschlossene und am 26.08.1969 durch das Gesetz zu dem Wiener Übereinkommen in Deutschland in innerstaatliches Recht transferierte WÜK5, das insbesondere detailliert die konsularischen Beziehungen der beigetretenen Staaten regelt, zunächst im Bereich des Strafrechts, zu dem es keine unmittelbaren Bezüge aufweist, keine Beachtung. Erst in jüngerer Zeit wurde die „strafprozessuale Brisanz“6 von Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK deutlich. Das WÜK ist nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ein innerstaatlich geltender völkerrechtlicher Vertrag mit Gesetzesrang, zu dessen Auslegung die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen heranzuziehen sind. Aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes besteht für die deutschen Gerichte die Pflicht, die hierzu einschlägige Rechtsprechung der internationalen Gerichte, beim WÜK namentlich des Internationalen Gerichtshofes (IGH), zur Kenntnis zu nehmen und sich bei der Auslegung der Normen daran zu orientieren (normative Leitfunktion).7 Art. 36 WÜK, der eine „self-execut­ ing“-Norm darstellt,8 regelt die Kommunikation und Betreuung von Angehörigen des Entsendestaates durch die konsularische Vertretung im Ausland, insbesondere bei Haftfällen oder anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen.9 Nach herrschender Auffassung ist diese Norm als Ausprägung des Grundrechts auf ein faires Verfahren zu sehen. Zudem handelt es sich bei allen Einzelgarantien aus Art. 36 WÜK um völkerrechtliche Individualan4  BGH,

Beschluss vom 11.09.2007, NJW 2007, 3587 (3588 f.). BGBl. 1969 II, S. 1585. 6  So zutreffend Weigend, StV 2008, 39. 7  Paulus / Müller, StV 2009, 495 (496) mit dem Hinweis, dass der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages durch den IGH eine „normative Leitfunktion beigemessen werden“ muss; so auch das BVerfG, das dem WÜK vergleichbar mit der EMRK „normative Leitfunktion“ zuspricht, BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499 (501). 8  BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499 (501). 9  Wagner / Raasch / Pröbstl, WÜK, Art. 36 Ziff. I. 5  Siehe



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK203

sprüche von Ausländern, namentlich von inhaftierten Ausländern, gegen den Aufenthaltsstaat.10 Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK haben die Strafverfolgungsbehörden einen ausländischen Staatsangehörigen bei seiner Festnahme über sein Recht auf Unterrichtung der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates zu belehren. Diese Belehrung ist unverzüglich nach einer Festnahme, im deutschen Recht in erster Linie nach der vorläufigen Festnahme gemäß § 127 StPO, sowie einer anderweitigen Freiheitsentziehung, bei der der Betroffene für nicht unerhebliche Zeit in seiner körperlichen Fortbewegungsfreiheit nachhaltig eingeschränkt ist, was beispielsweise bei einer kurzzeitigen Fahrzeugkontrolle mit anschließender Atemalkoholmessung nicht der Fall ist, durchzuführen.11 Diese Verpflichtung trifft bereits den festnehmenden Polizeibeamten und nicht erst den Haftrichter.12 Das WÜK enthält jedoch keine Regelung für den Fall, dass der Betroffene nicht oder nur unzureichend belehrt worden ist. Mittlerweile wurde die Belehrungspflicht im Zuge des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.07.200913 mit Wirkung ab 1. Januar 2010 ausdrücklich in die StPO aufgenommen. In § 114b Abs. 3 S. 2 StPO heißt es nunmehr: „Ein ausländischer Staatsangehöriger ist darüber zu belehren, dass er die Unterrichtung der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates verlangen und dieser Mitteilungen zukommen lassen kann.“

Die völkerrechtliche Regelung im WÜK ist jedoch weiterhin parallel gültig und auch die aus der Verfassung abgeleitete Berücksichtigungspflicht behält ihre Bedeutung nach der Einfügung der Benachrichtigungspflicht in die StPO. Die neue Vorschrift ist nunmehr im Lichte dieser Berücksichtigungspflicht, die jetzt die Leitlinie für eine völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung der neuen Vorschrift bildet, zu sehen.14 2. Rechtsprechung des IGH Grundlage für die Befassung mit den Regelungen des WÜK, insbesondere der Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK, im Rahmen der Überprüfung strafgerichtlicher Entscheidungen in Deutschland waren zwei Urteile des IGH aus den Jahren 2001 und 2004, die den Inhalt und die Reichweite von Art. 36 Abs. 1 WÜK grundlegend bestimmten. Zunächst stellte der IGH in 10  Gless / Peters,

StV 2011, 369 (371); Paulus / Müller, StV 2009, 495. WÜK, Art. 36 Ziff. II, 2, 2.2. 12  So auch Esser, JR 2008, 271 (274); Reich, S. 189. 13  Siehe BGBl. 2009 I, S. 2274. 14  So auch Gless / Peters, StV 2011, 369 (371). 11  Wagner / Raasch / Pröbstl,

204

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

seiner Entscheidung im Fall LaGrand deutlich die individualrechtliche Ausrichtung des Völkerrechts heraus15 und verurteilte auf Bestreben Deutschlands die USA wegen der Verletzung der Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK.16 Hierbei stellte der IGH fest, dass die mangelnde Belehrung eines Ausländers über die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates zugleich die Wahrnehmung der in Art. 36 Abs. 1 lit. a und lit. c WÜK garantierten Rechte des Entsendestaates unmöglich mache und daher auch eine Verletzung dieser Rechte darstelle.17 Über diese den Entsendestaaten gewährten Rechte hinaus begründe Art. 36 Abs. 1 WÜK Individualrechte für die festgenommenen Personen,18 ob diese auch als Menschenrechte einzustufen sind und gegebenenfalls die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens berühre, wird ausdrücklich offengelassen.19 Jedoch wird festgestellt, dass es im nationalen Strafprozess bei Verstoß gegen diese völkerrechtlichen Regelungen des Art. 36 WÜK zu einer gerichtlichen Nachprüfung und Neubewertung von Schuldausspruch und Strafmaß unabhängig von deren Endgültigkeit und im Lichte des Völkerrechtsverstoßes kommen müsse, wobei der IGH nach der Feststellung, dass es hierfür unterschiedliche Wege geben, die konkrete Wahl der Mittel dem jeweiligen Staat überlässt.20 Der IGH führte diese Rechtsprechung in seiner Entscheidung im Fall Avena21 fort und konkretisierte sie dahingehend, dass vom jeweiligen Gericht genau untersucht werden müsse, welche nachteiligen Folgen die Verletzung von Art. 36 WÜK im konkreten Fall in Bezug auf den Betroffenen und das Verfahren gehabt hat.22 Der IGH hat es wiederum unterlassen, zur Wiedergutmachung der Verletzung eine konkrete Rechtsfolge vorzugeben. Er hat lediglich festgestellt, dass eine Situation herzustellen sei, die derjenigen entsprechen müsse, die ohne die fehlende Belehrung eingetreten wäre.23 Hierzu müsse das nationale Strafprozessrecht so gestaltet sein, dass eine fehlende oder fehlerhafte Belehrung im Verfahren Berücksichtigung findet und die Überprüfung und gegebenenfalls 15  Oellers-Frahm,

EuGRZ 2001, 265. Urteil vom 27.06.2001, JZ 2002, 91. 17  IGH, Urteil vom 27.06.2001, JZ 2002, 91 – Ziff. 73. 18  IGH, Urteil vom 27.06.2001, JZ 2002, 91 (92) – Ziff. 77 und 89; andere Auffassung Hillgruber, JZ 2002, 94 (96). 19  IGH, Urteil vom 27.06.2001, JZ 2002, 91 (92) – Ziff. 78. 20  IGH, Urteil vom 27.06.2001, JZ 2002, 91 (94) – Ziff. 125; im Originalwortlaut: „… shall allow the review and reconsideration of the conviction and sentence by taking account of the violation of the rights set forth in that Convention.“ 21  IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 (im englischen Originalwortlaut). 22  IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 – Ziff. 121, 122, 138. 23  Vgl. Reich, S. 192  f. mit Verweis auf IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 – Ziff. 119, 152. 16  IGH,



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK205

erneute Verhandlung effektiv in einem justizförmigen Verfahren erfolgt.24 In einer Gesamtbetrachtung der Gründe der Entscheidung des IGH ist die Frage der Menschenrechtsqualität der Rechte aus Art. 36 WÜK – obwohl wiederum ausdrücklich offengelassen25 – eher als zu verneinend anzuse­ hen,26 da hieraus entnommen werden kann, dass der IGH die konsularrechtlichen Freiheitsschutzrechte als vertragliche Individualrechte von den strafprozessualen Beschuldigtenrechten im Sinne des fair-trail-Grundsatzes mit Menschenrechtsqualität abgrenzen wollte.27 Dennoch wurde in der Entscheidung nochmals klargestellt, dass der Anspruch des festgenommenen Beschuldigten auf Belehrung über sein Recht zur Konsulatskonsultation einen normativen Bezug zum betreffenden Strafverfahren besitzt und ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht dort geltend zu machen ist und zu einer Überprüfung führen muss.28 Mit Gless / Peters29 ist der Schluss zu ziehen, dass die Pflicht zur Belehrung über das Recht der Kontaktaufnahme mit dem Heimatkonsulat nach der Rechtsprechung des IGH effektiv im nationalen (Straf-)Recht durchsetzbar sein muss.

24  Insoweit statuierte der IGH ein mit dem EU-Recht vergleichbares Effektivitätsgebot und lehnt eine Überprüfung lediglich im Gnadenwege ab, siehe IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 – Ziff. 138 ff.; so auch Paulus / Müller, StV 2009, 495 (497 f.). 25  IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 – Ziff. 124. 26  IGH, Urteil vom 31.03.2004, HRRS 2004, Nr. 342 – Ziff. 123: „By contrast, in the present case it is not the convictions and sentences of the Mexican nationals which are to be regarded as a violation of international law, but solely certain breaches of treaty obligations which preceded them.“; Ziff. 139: „Accordingly, in a situation of the violation of rights under Article 36, paragraph 1, of the Vienna Convention, the defendant raises his claim in this respect not as a case of ‚harm to a particular right essential to a fair trail‘. […] The rights guaranteed under the ­Vienna Convention are treaty rights which the United States has undertaken to comply with in relation to the individual concerned, irrespective of the due process rights under United States constitutional law.“ 27  Zustimmend Esser, JR 2008, 271 (273); Kreß, GA 2004, 691 (698 f.); andere Auffassung Walther, HRRS 2004, 126 (129), der in der Entscheidung des IGH „einen bedeutsamen Schritt für die Verankerung des Benachrichtigungsrechts beim Beschuldigten-Grundrecht auf effektive Verteidigung“ erkennt, die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK mit der aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO gleichstellt und bei einem Verstoß ein beweisrechtliches Verwertungsverbot annehmen möchte. 28  So auch Paulus / Müller, StV 2009, 495 (498); Weigend, StV 2008, 39 (42); andere Auffassung Burchard, JZ 2007, 891 (892 f.): „ … in der Belehrung über das Recht zur Kontaktierung des Konsulats keinen originär strafprozessualen, insbesondere keinen für das faire Verfahren wesentlichen Kern zu erblicken, sondern lediglich ein individualschützendes, das Strafverfahren in einem Reflex betreffendes „treaty right“. 29  Gless / Peters, StV 2011, 369 (376).

206

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

3. Rechtsprechungsentwicklung in Deutschland a) Erste Befassung durch den BGH Erstmals beschäftigte sich der BGH kurz nach der LaGrand-Entscheidung im Jahr 2001 mit der Reichweite der Rechte aus Art. 36 WÜK. In Übereinstimmung mit dem IGH erkannte auch der 5. Strafsenat in der Belehrungsverpflichtung des Art. 36 WÜK ein subjektives Recht des einzelnen, festgenommenen ausländischen Staatsangehörigen. Er stellte jedoch gleichsam heraus, dass der Betroffene durch diese Vorschrift, die im Ausland ein spurloses Verschwinden des Beschuldigten aus der Öffentlichkeit aufgrund des staatlichen Zugriffs verhindern soll, nicht vor eigenen unbedachten Äußerungen vor einer Kontaktaufnahme mit den entsprechenden Konsularbeamten schütze und keinen über § 136 StPO hinausgehenden Schutz gewähre.30 Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 WÜK könne deshalb, weil das Recht auf Kontaktaufnahme mit dem Konsulat die prozessuale Stellung des betroffenen Ausländers im Strafprozess nicht berühre, ein Beweisverwertungsverbot nicht nach sich ziehen. Das Übereinkommen gebe nichts für eine „zusätzliche Privilegierung von Angehörigen der dem WÜK beigetretenen Staaten gegenüber anderen – deutschen wie nichtdeutschen – Beschuldigten“ her.31 Darüber hinaus beschäftigte sich der BGH mit der Frage, welche Stelle für die Belehrung zuständig sei und wies diese Aufgabe, entsprechend der Pflicht zur Benachrichtigung Dritter bei Verhaftung des Beschuldigten nach der StPO (§ 114b Abs. 1 S. 2 StPO alte Fassung), dem Richter zu.32 In seiner Entscheidungsanmerkung kritisierte Paulus diese Entscheidung zu Recht als „viel zu eng“ und der Rechtsprechung des IGH widersprechend.33 Zwar sei dieser kein vollständiges Verwertungsverbot für Äußerungen vor Belehrung über die Kontaktrechte zum Konsulat zu entnehmen, Art. 36 WÜK diene jedoch dem Zweck, dass ein ausländischer Staatsangehöriger nach seiner Festnahme die Unterstützung durch das Konsulat seines Heimatlandes in Anspruch nehmen könne und eine fehlende oder fehlerhafte Belehrung über dieses Recht als relativer Revisionsgrund zu prüfen sei.34 Zudem müsse die Auslegung des Art. 36 WÜK, insbesondere um dem Effektivitätsgebot zu genügen und die Zwecke des WÜK vollständig zu verwirklichen, dazu füh30  BGH,

Beschluss vom 07.11.2001, NStZ 2002, 168 = StV 2003, 57. Beschluss vom 07.11.2001, NStZ 2002, 168 = StV 2003, 57. 32  BGH, Beschluss vom 07.11.2001, NStZ 2002, 168 = StV 2003, 57. 33  Paulus, StV 2003, 57 (59). 34  Paulus, StV 2003, 57 (59  f.) mit dem weiteren Vermerk, dass hierbei eine Beruhensprüfung in der Regel zu einem negativen Ergebnis führe, insbesondere, wenn der Haftrichter eine ordnungsgemäße Belehrung nachgeholt hat. 31  BGH,



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK207

ren, dass regelmäßig bereits die Polizei bei der Festnahme eines ausländischen Staatsangehörigen über die Rechte aus Art. 36 WÜK belehrt.35 b) Entscheidung des BVerfG Das BVerfG teilte die Auffassung des BGH nicht und hob die Entscheidung mit Beschluss vom 19.09.200636 auf. Insbesondere widerspreche die Auslegung des Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK derjenigen des IGH, die Missachtung der Berücksichtigungspflicht stelle einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 GG, das auch durch völkervertragsrechtliche Vorschriften ausgestaltet werde, dar, dessen Rechtsfolgen vom BGH festzulegen seien.37 Das BVerfG bemängelte, dass sich der 5. Straf­ senat nicht hinreichend mit der Rechtsprechung des IGH insbesondere im Fall LaGrand auseinandergesetzt habe, woraus sich die Revisibilität des Strafurteils bei einer Verletzung von Art. 36 WÜK ergebe. Diese Norm verkörpere ein geschlossenes Regelungssystem zur Gewährleistung eines umfassenden Schutzes der ausländischen Staatsangehörigen und somit konstituiere Art. 36 Abs. 1 lit. c S. 1 WÜK die Verteidigungsmöglichkeit und folglich die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten.38 Bei der Behandlung des Belehrungsfehlers sei nicht zwingend von der Unverwertbarkeit des zustande gekommenen Beweisergebnisses auszugehen und die Rechtsprechung des BGH zu Verstößen gegen § 136 StPO könne, da sich die Belehrungspflicht des Art. 36 WÜK nicht an den Beginn der Beschuldigtenvernehmung knüpfe, nicht ohne weiteres übertragen werden. Der BGH müsse sich jedoch näher mit der Frage eines möglichen Beweisverwertungsverbots vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Belehrungspflicht auseinandersetzen.39 Im Ergebnis fand die Entscheidung des BVerfG in der Literatur durchweg Zustimmung,40 auch wenn sich in der Argumentation oder den Schlussfolgerungen Differenzen ergaben. So vertrat Burchard die Auffassung, das BVerfG habe der IGH-Rechtsprechung zu Unrecht die Interpretation entnommen, Art. 36 WÜK habe einen originär strafprozessualen Schutzzweck. Vielmehr handele es sich um ein klassisches Konsularrecht, ein lediglich „individualschützendes, das Strafverfahren in einem Reflex betreffendes treaty right“.41 35  Paulus,

StV 2003, 57 (60). Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499. 37  BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499 (500). 38  BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499 (502 f.). 39  BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, NJW 2007, 499 (503). 40  Burchard, JZ 2007, 891 (892); Kreß, GA 2007, 296; Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593; Walter, JR 2007, 99. 41  Burchard, JZ 2007, 891 (893). 36  BVerfG,

208

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

Walter bemängelte an der Rechtsprechung des BVerfG das Fehlen einer Aussage, welche Folgen an einen Verstoß gegen Art. 36 WÜK zu knüpfen seien. Er vertritt die Auffassung, dass Belehrungsmängel zur Unverwertbarkeit der Angaben, die ein Festgenommener vor ordnungsgemäßer Belehrung gemacht hat, führen sollen, vorausgesetzt, er widerspricht der Verwertung nach entsprechender Belehrung rechtzeitig.42 Habe der Festgenommene vor der Belehrung noch keine Angaben gemacht, so sei ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht in Art. 36 WÜK durch eine Strafmilderung auszugleichen. ­Insgesamt wird die Hoffnung gehegt, dass der BGH nunmehr aufgrund der Entscheidung des BVerfG seine Rechtsprechung zur Kompensation von völkerrechtlich (mit-)begründeten Verfahrenspflichten überdenkt und grundsätzlich regelt.43 c) Weitere Rechtsprechung Nachdem das BVerfG die Festlegung der konkreten Folgen eines Verstoßes gegen Art. 36 WÜK dem BGH überlassen hatte, befassten sich innerhalb kürzester Zeit drei verschiedene Strafsenate mit der Thematik und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. aa) Widerspruchslösung In seinem Beschluss vom 11.09.2007 gelangte der 1. Strafsenat zu der widersprüchlichen Auffassung, dass er zwar dahinstehen ließ, ob aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK ein Beweisverwertungsverbot zu folgern sei. Er stellte jedoch gleichzeitig fest, dass das Recht auf konsularischen Beistand den Grundsatz des fairen Verfahrens konkretisiere und Angaben von Beschuldigten, die im Ermittlungsverfahren unter Verstoß gegen diese Belehrungspflicht erlangt worden sind, „gleichwohl verwertet werden können, wenn der (verteidigte) Angeklagte nicht bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt widersprochen hat“ und der Widerspruch mit einer Begründung versehen sei, welche die konkrete Angriffsrichtung erkennen lasse (Widerspruchslösung).44 Da der Senat bei seiner Begründung den Vergleich zu der Belehrungspflicht aus § 136 StPO zog, muss hieraus entnommen werden, dass wohl trotz ausdrücklichen Offenlassens der Frage in dieser Entscheidung die Tendenz hin zur Annahme eines Beweisverwer42  Walter,

JR 2007, 99 (104). die damalige Kompensationsrechtsprechung zu Verstößen gegen die EMRK, die eine Strafzumessungslösung vorsah, sei seiner Auffassung nach unbefriedigend, Walter, JR 2007, 99 (104). 44  BGH, Beschluss vom 11.09.2007, NJW 2007, 3587 (3588 f.). 43  Insbesondere



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK209

tungsverbots besteht.45 Die Entscheidung erfuhr Kritik in der Literatur aufgrund ihrer Verschärfung durch das inhaltliche Begründungserfordernis, das als „falsch“ erachtet wurde.46 Insbesondere Gaede trat dem entgegen und kritisiert die Ausdehnung der rechtsentziehend wirkenden Widerspruchsobliegenheit als „erstaunliche Umdeutung des geltenden Rechts“,47 die auch die Ausführungen des IGH missachte, „die gegen nationale Präklusionen streiten“.48 Darüber hinaus führt Jahn an, dass mit dieser Rechtsprechung der Widerspruch schon in der Hauptverhandlung „revisionsähnlich ausgestaltet“ werde, wofür es keine Rechtsgrundlage gebe und womit die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung erreicht sein dürften.49 Lediglich Schomburg / Schuster können der Argumentation näher treten, indem sie den Vergleich mit anderen bedeutsamen Belehrungspflichten „zumindest für möglich erscheinen“ lassen.50 bb) Vollstreckungslösung In dem vom BVerfG zurückverwiesen Verfahren gelangte der 5. Strafsenat mit Beschluss vom 25.09.2007 zu der Entscheidung, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führe, da dieses subjektive Recht des Beschuldigten, anders als § 136 StPO, kein für die Ausgestaltung der Verteidigung zentrales Sonderrecht darstelle und eine solche Rechtsfolge auch nicht aufgrund Verfassungs- oder Völkerrecht geboten sei.51 Die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK knüpfe nicht an den Beginn der Vernehmung an, sondern allein an die Festnahme bzw. Inhaftierung, so dass sich die Rechtslage anders als bei der Belehrung über das Schweigerecht oder Verteidigerkonsultationsrecht des Beschuldigten darstelle und auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein mögliauch Jahn, JuS 2008, 82 (83); Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593 (595). ZJS 2008, 76; Paulus / Müller, StV 2009, 495 (498) führen an, dass der Senat lediglich auf die entsprechende Rechtsprechung zu § 136 StPO verwiesen habe, ohne sich mit den Besonderheiten der WÜK und den Vorgaben des IGH auseinanderzusetzen. Die vom 1. Strafsenat gebildete „Konstruktion“ sei mit den völkerrechtlichen Vorgaben unvereinbar. 47  Gaede, HRRS 2007, 402 (405), der weiter ausführte, dass diese Rechtsprechung des 1. Strafsenats den Strafprozess ohne eine Novellierung der StPO vermehrt zu einem Parteienprozess mache, um eine straffe Verfahrensdurchführung zu erreichen. Das Tatgericht würde vermehrt seiner Aufgabe enthoben, die Rechtmäßigkeit des Prozesses von sich aus zu prüfen und zu gewährleisten. 48  Gaede, HRRS-Festgabe Fezer, S. 21 (46). 49  Jahn, JuS 2008, 82 (83 f.). 50  Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593 (595). 51  BGH, Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (309). 45  So

46  Velten,

210

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

ches Beweisergebnis nicht vergleichbar sei.52 Hinsichtlich der Kompensation sei die Situation vergleichbar mit den Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung und der Verleitung einer nicht tatgeneigten Person zu einer Straftat durch einen polizeilichen Lockspitzel, so dass Wiedergutmachung im „sachnächsten nationalen Verfahren“ zu leisten sei und in den Fällen, bei denen eine erhebliche Bestrafung erfolge und der Verstoß gegen Art. 36 WÜK nicht nur kurzfristig fortwirke und eine Belehrung alsbald durch den Haftrichter erfolgt sei, die Vollstreckungslösung des BGH Anwendung finden solle.53 Bei „Strafen geringeren Gewichts“ und baldiger Nachholung der Belehrung könne ganz auf eine Kompensation verzichtet werden. Zudem ließ es der 5. Strafsenat offen, ob bei geringer Schwere des Verstoßes andere Kompensationsmöglichkeiten des nationalen Rechts, wie eine Geldentschädigung in analoger Anwendung des StrEG oder durch Kostennachlass analog § 465 Abs. 2 StPO, in Betracht zu ziehen seien.54 Neben Befürwortern55 fand auch diese Lösung zahlreiche Kritiker. Paulus / Müller wiesen darauf hin, dass die Vollstreckungslösung bei Verstößen gegen das WÜK aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht anwendbar sei, da eine Analogie zu § 51 StGB mangels nicht vorhandener zeitlicher Komponente bei Verletzungen von Art. 36 WÜK nicht möglich sei und zudem auch den Vorgaben des IGH in keinster Weise genüge, der eine Überprüfung von Strafzumessung und Schuldausspruch verlange.56 Letzteres wird auch von Esser vertreten, der ausführt, dass eine allein auf den Strafausspruch abstellende Kompensationslösung ohne die Möglichkeit einer Urteilsaufhebung gegen die völkerrechtlichen Vorgaben verstoße.57 Zudem wendet er sich dagegen, die Vollstreckungslösung „unbesehen als Ausgleich für Verfahrensverstöße im Rahmen der Beweisgewinnung zu etablieren“.58 Auch Reich lehnt die Anwendung der Vollstreckungslösung sowohl in völkerrechtlicher Hinsicht wie auch aus dogmatischen Gründen ab, da ein „bloßer Ausgleich“ durch die Gewährung eines Vollstreckungsrabatts „zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung von Belehrungsverstößen“ führen würde.59 Insbesondere könne im Rahmen der Vollstreckungslösung die 52  BGH,

Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (309). Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (309). 54  BGH, Beschluss vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (310). 55  Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593 (597). 56  Paulus / Müller, StV 2009, 495 (500 f.); so auch Strate, HRRS 2008, 76 (86), der neben der Unvereinbarkeit mit den Vorgaben des IGH insbesondere die „Unvorhersehbarkeit“ und „Unberechenbarkeit“ der Vollstreckungslösung für die Fälle des Verstoßes gegen Art. 36 WÜK kritisiert, da nicht klar sei, an welchen Maßstäben sich die Berechnung der als verbüßt anzurechnenden Strafe orientiere. 57  Esser, JR 2008, 271 (277). 58  Esser, JR 2008, 271 (277). 59  Reich, S. 209 und S. 215. 53  BGH,



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK211

vom IGH geforderte Differenzierung nicht vorgenommen werden, ob dem Beschuldigten durch die mangelnde Belehrung tatsächlich ein konkreter, auszugleichender Nachteil entstanden ist.60 Auch Weigend spricht sich gegen die Vollstreckungslösung aus, da „Fehler und Kompensation auf verschiedenen Feldern liegen, die schlicht nichts miteinander zu tun haben“ und so die Strafzumessungsregeln der §§ 46 ff. StGB „zu bloßer Handelsware verkom­ men“.61 Begründet wird dies insbesondere damit, dass der Anspruch des Festgenommenen aus Art. 36 WÜK nicht gleichzustellen sei mit der Belehrungspflicht des Beschuldigten über sein Schweigerecht und sein Recht auf Verteidigerkonsultation, da die Benachrichtigung des Konsulats lediglich eine Aussicht darauf verschaffe, dass das Konsulat den Beschuldigten bei der Organisation der Verteidigung unterstützt und eine Verletzung dieser Aussicht im Strafverfahren nur eine schwache Gewichtung habe und nur weniger einschneidende Rechtsfolgen nach sich ziehen solle.62 cc) Revisionsrechtliche Lösung In ausdrücklicher Abgrenzung zu den beiden vorgenannten Entscheidungen entschied der 3. Strafsenat mit Urteil vom 20.12.2007, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK zwar revisibel sein, er jedoch weder aus völker- oder verfassungsrechtlicher Hinsicht zu einem Beweisverwertungsverbot noch zur Kompensation mittels Vollstreckungslösung führen müsse.63 Insbesondere ziehe nicht jeder Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift, die eine Belehrungspflicht vorsieht, ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Hierbei ergebe sich im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen, dass die Belehrungspflichten aus § 136 StPO und Art. 36 WÜK nicht ausreichend ähnlich seien und bei letzterer an die Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme angeknüpft werde, während sich § 136 StPO auf den Beginn der Beschuldigtenvernehmung beziehe. Bei der Belehrung über das Recht der Konsulatsbenachrichtigung handele es sich inhaltlich „lediglich um einen zusätzlichen Schutz“, während dem Betroffenen alle weiteren Verteidigungsrechte darüber hinaus zur Verfügung stehen.64 Ausführlich beschäftigt sich der 3. Strafsenat mit der Anwendung der Vollstreckungslösung durch den 5. Strafsenat, wobei eine Vorlage an den Großen Strafsenat deshalb nicht in Erwägung gezogen wurde, weil eine entscheidungserhebliche Ab60  Reich,

S. 209. StV 2008, 39 (44). 62  Weigend, StV 2008, 39 (42). 63  BGH, Urteil vom 20.12.2007, NJW 2008, 1090 (1091 f.). 64  BGH, Urteil vom 20.12.2007, NJW 2008, 1090 (1092). 61  Weigend,

212

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

weichung von der Rechtsprechung deshalb nicht gesehen wurde, weil dort die Anwendung der Vollstreckungslösung ausdrücklich für den Fall einer alsbald nachgeholten Belehrung – wie es im Fall des 5. Strafsenats erfolgt ist – offen gelassen worden ist. Die Vollstreckungslösung, die auch ansonsten mit dem Straf- und Strafverfahrensrecht nur schwerlich in Einklang zu bringen sei, könne jedoch für die Fälle des Verstoßes gegen Art. 36 WÜK deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil Verstöße gegen das Verfahrensrecht im Rahmen der Vorschriften über das Revisionsverfahren ausdrücklich und abschließend geregelt seien und der Staat Verfahrensverstöße, die Auswirkungen auf das Urteil haben, nicht einfach im Wege eines Vollstreckungsrabatts gewissermaßen abhandeln könne. Dies würde „zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts“ führen.65 Zudem bestehe ein Unterschied zu einem Verstoß gegen die EMRK darin, dass sich hinsichtlich eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK weder aus dem WÜK noch aus dem Rechtsstaatsgebot eine Entschädigungspflicht, vergleichbar zu Art. 41 EMRK, ergebe. Esser befürwortet diese revisionsrechtliche Lösung des 3. Strafsenats und führt zur Klarstellung aus, dass in dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK kein absoluter Revisionsgrund zu sehen sei, sondern ein relativer im Sinne des § 337 StPO, der als Verfahrensrüge geltend gemacht werden müsse und dann zu der Prüfung führe, ob sich die mangelnde Belehrung auf die Urteilsfindung ausgewirkt habe.66 Hierbei sei zu beachten, dass eine nachgeholte Belehrung den Verstoß zwar nicht kompensieren könne, jedoch aufschlussreich darüber sei für die Frage, ob die Verteidigung des Betroffenen durch die unterbliebene Belehrung beeinträchtigt worden ist. Esser drückt sein Bedauern darüber aus, dass es der 3. Strafsenat versäumt habe, trotz entgegenstehender Rechtsprechung anderer Senate des BGH die Frage der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 ÜK dem Großen Strafsenat zur Entscheidung vorzulegen.67 Paulus / Müller, die sowohl die Möglichkeit eines Beweisverwertungsverbots in Erwägung ziehen68 als auch die Lösung über einen relativen Revisionsgrund durch „verfassungskonforme Auslegung des § 337 StPO“ für möglich erachten, gehen noch einen Schritt weiter und verlangen eine erneute Befassung und „Klärung durch das BVerfG“.69 65  BGH,

Urteil vom 20.12.2007, NJW 2008, 1090 (1093). JR 2008, 271 (277 f.). 67  Esser, JR 2008, 271 (278); so auch Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593 (597), die auf die Grundsätzlichkeit der betroffenen Rechtsfrage im Sinne des § 132 Abs. 4 GVG zur „Vereinheitlichung der Rechtsprechung in völkerrechtsfreundlicher Auslegung“ verweisen. 68  Für ein Beweisverwertungsverbot auch Deiters, ZJS 2008, 212 (215). 69  Paulus / Müller, StV 2009, 495 (502). 66  Esser,



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK213

Eine solche Befassung erfolgte in Bezug auf die Entscheidung des 5. Strafsenats, nachdem die hierdurch Verurteilten Verfassungsbeschwerde einlegten mit der Begründung, der BGH sei mit dem angegriffenen Beschluss seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des IGH hinsichtlich der Rechte aus Art. 36 WÜK nicht nachgekommen. Das BVerfG stellte in dem Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 08.07.2010 fest, dass die vom IGH verpflichtend im Rahmen der Überprüfung und Neubewertung von Schuldspruch und Strafausspruch durchzuführende Einzelfallprüfung, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf ein Nachteil entstanden ist, durch die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH nicht gewährleistet sei und den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren verletze.70 Das BVerfG verwies nochmals ausdrücklich darauf, dass sich aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes die verfassungsunmittelbare Pflicht der deutschen Gerichte ergebe, „einschlägige Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen“, was in der Entscheidung des BGH nicht ausreichend geschehen sei, indem entgegen der Rechtsprechung des IGH nicht anerkannt worden sei, dass das aus Art. 36 WÜK resultierende subjektive Recht des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte die „verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten konsti­ tuiere“.71 Das BVerfG führte aus, dass der durch den Verstoß gegen die Belehrungspflicht entstandene Nachteil sowohl im Rahmen der Beweiserhebung als auch der Beweiswürdigung berücksichtigt werden könne und auch grundsätzlich die Abwägungslösung eine denkbare Möglichkeit hierzu sei, ohne sich jedoch auf eine von Verfassungs wegen festgelegte Rechtsfolge festzulegen, wobei aus der Begründung zu schließen ist, dass die Vollstreckungslösung hierzu als ungeeignet erachtet wird.72 Durch die Entscheidung des BVerfG sehen Gless / Peters die Strafgerichte „an ihre völkerrechtsbezogenen Verpflichtungen erinnert“ und führen aufbauend hierauf aus, dass der Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK grundsätzlich zu einem, im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des BGH modifizierten, Beweisverwertungsverbot führen müsse.73 Da das nationale System der Beweisverbotslehre auf den Ausgleich der widerstreitenden Interessen des mutmaßlichen Straftäters auf der einen und 70  BVerfG,

Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (209). Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (208 ff.). 72  Siehe insbesondere BVerfG, Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (210 f.). 73  Gless / Peters, StV 2011, 369. 71  BVerfG,

214

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

dem Interesse an staatlicher Strafverfolgung auf der anderen Seite ausgerichtet sei, müssen in Fällen mit internationalem Bezug auch die Eigeninteressen dritter Staaten sowie „das spezielle Anliegen eines Individuums in einer internationalen Konstellation“ Berücksichtigung finden. Das führe bei einem Verstoß gegen Art. 36 WÜK dazu, dass ein Beweisverwertungsverbot weder durch ein Widerspruchserfordernis „noch durch die festgelegten Einflussgrößen des tradierten Abwägungsansatzes“ faktisch ausgeschlossen ist und das völkerrechtlich verbürgte Individualinteresse vorrangig oder außerhalb des gängigen Abwägungsmodells berücksichtigt wird.74 dd) Beweisverwertungsverbot Einen Schlusspunkt unter die Debatte in der Rechtsprechung scheint der Beschluss des 4. Strafsenats vom 07.06.2011 in dem vom BVerfG zurückverwiesenen Verfahren zu setzen, in welchem die Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK durch die Vorgaben der Entscheidungen des BVerfG als „klar umgrenzt“ bezeichnet werden.75 Hieraus wird gefolgt, dass grundsätzlich ein Beweisverwertungsverbot in Betracht komme, entsprechend der Vorgaben des IGH jedoch die vom BGH für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre anzuwenden sei, wonach insbesondere der Schutzzweck der verletzten Norm mit dem Eingriff beim Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates abgewogen werden müsse.76 Da Zweck der Belehrung nach Art. 36 WÜK die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte, insbesondere durch Unterstützung bei der Vermittlungen anwaltlichen Beistandes, sei und nicht der Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten, prüfte der 4. Strafsenat im konkreten Fall, ob dem Beschuldigten durch die fehlende Belehrung im Rahmen des Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf den dargestellten Zweck ein Nachteil entstanden ist. Dies wurde verneint, da der Beschuldigte vor seiner Vernehmung sowohl über sein Schweigerecht als auch die Möglichkeit, anwalt­ lichen Beistand beizuziehen, belehrt worden sei. Zudem habe er nach Vertretung durch einen Verteidiger die erste, noch unverteidigt durchgeführte, polizeiliche Vernehmung bestätigt, so dass ein Zustand eingetreten sei, der dem Zweck des Art. 36 WÜK entspreche. Deshalb liege auch kein Beruhen des Urteils im revisionsrechtlichen Sinn auf der unterbliebenen Belehrung 74  Gless / Peters,

StV 2011, 369 (374, 376). Beschluss vom 07.06.2011, Az. 4 StR 643 / 10, S. 3 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de (Zitat in StV 2011, 603 nicht enthalten!). 76  BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (605). 75  BGH,



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK215

vor.77 Hinsichtlich der vom 1. Strafsenat für die Fälle der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 WÜK angewandten Widerspruchslösung blieb der 4. Strafsenat in seiner Entscheidung zurückhaltend. Er lehnte das Erfordernis, einen speziell auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch zu erheben, im konkreten Fall ab, da eine Belehrung auch zu einem späteren Zeitpunkt – anders als im Fall des 1. Strafsenats – nicht nachgeholt worden sei und somit entsprechend der Rechtsprechung des IGH zumindest bis zu einer möglichen Nachholung der Belehrung Einwände nach nationalem Strafprozessrecht, die eine Überprüfung ausschließen, nicht möglich seien.78 Hier mag dem Senat entgegengehalten werden, dass er seine Auffassung hätte zum Anlass nehmen können, die grundsätzliche Frage der Rechtsfolgen einer unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 WÜK dem Großen Senat für Strafsachen vorzulegen, um sowohl das Eingreifen eines Beweisverwertungsverbotes und die Anwendung der Widerspruchslösung als auch die Übertragung der Vollstreckungslösung generell klären zu lassen, um so einen wirklichen Schlusspunkt herbeizuführen. In diesem Zusammenhang wäre dem 4. Strafsenat dann auch die Möglichkeit eröffnet gewesen, die ablehnende Haltung zur Anwendung der Vollstreckungslösung etwas deutlicher zu äußern, als vom Ergebnis her zu argumentieren, wonach eine Anwendung derselben bereits deshalb ausscheide, weil „dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht entstanden ist“.79 4. Anwendbarkeit der Vollstreckungslösung Auch wenn die Entscheidung des 4. Strafsenats im konkreten Fall – aufgrund der mangelnden Befassung durch den Großen Strafsenat und da sie bislang unwidersprochen blieb – einen Endpunkt darstellt, so ist die Problematik von der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, da es zu viele verschiedene Sachverhaltsvarianten geben mag, die zu weiteren, abweichenden Senatsentscheidungen führen können. Es wäre somit wünschenswert, wenn bei Bestehen einer noch so geringen Überschneidung mit einer der bisherigen Entscheidungen der Senate endlich der Große Strafsenat mit der Rechtsfrage befasst wird und eine umfassende Klärung herbeiführt. Dennoch kann aus der bisherigen Rechtsprechungsentwicklung – vor allem nach der Entscheidung des BVerfG vom 08.07.2010 – geschlossen 77  BGH,

Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (606). BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (604). 79  BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (606), verbunden mit der deutlichen Aussage, dass der Senat der Auffassung des 3. Strafsenats zugeneigt sei, der eine solche Kompensation für generell ausgeschlossen erachte. 78  Vgl.

216

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

werden, dass wohl die Vollstreckungslösung seitens der Gerichte nicht mehr zur Kompensation eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht gemäß Art. 36 WÜK herangezogen wird. Dies ist auch sachgerecht, da sie gegen die völkerrechtlichen Vorgaben verstößt und auch mit den nationalen Regelungen nicht in Einklang zu bringen ist. Allein aufgrund der Tatsache, dass es sich beim WÜK – genauso wie die EMRK – um eine völkerrechtliche Vereinbarung handelt, die in Deutschland nach der Transformation in innerstaatliches Recht den Rang eines einfachen Bundesgesetzes innehat und der gleichzeitig aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine normative Leitfunktion zukommt, sowie die Tatsache, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK ebenfalls eine Beeinträchtigung des Grundrechts auf ein faires Verfahren darstellt, konnte zwar grundsätzlich eine Parallele zu Fällen der Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gezogen werden. Doch können weitere Gemeinsamkeiten zu diesem eine Entschädigungspflicht nach sich ziehenden Verstoß, bei dem die Schuldfrage völlig unberührt ist, die eine gleiche Sachbehandlung erfordern oder ermöglichen, nicht gefunden werden, zumal selbst dort die Anwendbarkeit der Vollstreckungslösung in Frage steht, ja sogar nach hiesiger Auffassung abzulehnen ist. Die völkerrechtlichen Vorgaben vor allem des IGH als der Gerichtsbarkeit, deren einschlägige Entscheidungen von den deutschen Gerichten zur Kenntnis zu nehmen sind und mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben, ohne hiervon ohne zwingende verfassungsrechtliche Gründe abweichen zu können, wurden in den beiden dargestellten Entscheidungen in den Fällen La­ Grand und Avena klar formuliert. Auf nationaler Ebene muss im Rahmen eines innerstaatlichen Verfahrens gewährleistet sein, dass strafrechtliche Verurteilungen in Schuld- und Strafausspruch unter Einbeziehung der Verletzung einer der Garantien aus dem WÜK einer Überprüfung und Neubewertung unterzogen werden können, um so gegebenenfalls entstandene Nachteile auf Seiten des Betroffenen ausgleichen zu können.80 Diese Voraussetzungen können durch die Vollstreckungslösung, die an eine gefundene Strafe ansetzt, nur indirekt den Strafausspruch betrifft und auf diesen einwirkt, nicht erfüllt werden. Der Verstoß wird als solcher festgestellt und seine Auswirkungen auf das Ermittlungs- und Strafverfahren gegebenenfalls nur insoweit geprüft, als nur bei Vorliegen eines Nachteils durch die fehlende oder fehlerhafte Belehrung beim Angeklagten die Vollstreckungslösung anzuwenden ist.81 Zudem 80  Vgl.

hierzu BVerfG, Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (209). der Gegenvorschlag Walters, JR 2007, 99 (102), die Vollstreckungslösung gerade in den Fällen anzuwenden, in denen mangels belastender Aussage aufgrund des Belehrungsverstoßes keine Auswirkungen im Ermittlungs- und Strafverfahren festzustellen sei und somit ein mögliches Beweisverwertungsverbot nicht 81  Auch



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK217

kann sicherlich mit dem Sinn und Zweck der Vorschriften des WÜK sowie der Intention der internationalen Rechtsprechung nicht ein rein mathematisch berechneter Strafabschlag, für dessen Anrechnungsmaßstab keine konkreten Bezugspunkte ersichtlich sind, begründet werden. Auch ist der Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK weder vergleichbar mit den Fallgestaltungen, die dem § 51 StGB, der für die Begründung der Vollstreckungslösung analog herangezogen wurde, zugrunde liegen, noch dogmatisch im Sinne der Systematik der StPO in dieser Art und Weise zu kompensieren. Sinn und Zweck der Regelungen in Art. 36 WÜK ist, dass bei der am stärksten einschneidenden, strafprozessualen Eingriffsmaßnahme in Form der vorläufigen Festnahme einem ausländischen Beschuldigten, der aufgrund der zu seinem Heimatland bestehenden Unterschiede in Sprache, Rechtssystem und Verteidigungsmöglichkeiten einen erhöhten Schutzbedarf hat, die Möglichkeit der Gewährung von konsularischem Beistand eröffnet werden muss, um ihm so Hilfe zur Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte zu gewähren. Da die Belehrung gemäß § 36 WÜK – anders als § 136 StPO, der zu Beginn der Beschuldigtenvernehmung greift – an die ausländische Staatsangehörigkeit und die Festnahme anknüpft, ist hiermit nicht direkt die Aussagefreiheit des Beschuldigten geschützt. Es können sich somit nicht ohne weiteres die gleichen Konsequenzen ergeben, dies gilt auch, insoweit nun eine entsprechende Regelung in § 114b StPO enthalten ist. Bei Verstößen gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK liegt somit, neben dem Verstoß gegen formelles Strafprozessrecht in Form der Verpflichtung in § 114b Abs. 3 S. 2 StPO, eine Verletzung des subjektiven Rechts des Betroffenen vor, die zunächst im Verfahren selbst geheilt oder behoben bzw. beseitigt werden muss im Sinne der direkten Folgenbeseitigung. Anders als bei dem Vergleichsfall der überlangen Verfahrensdauer, die nicht mehr unmittelbar reparabel ist und bei welcher eine Kompensation höchstens auf der Rechtsfolgenebene möglich wäre, besteht bei der fehlerhaften oder fehlenden Belehrung über die Konsulatsbenachrichtigung sowohl die Möglichkeit der Nachholung der Belehrung als auch des Ausgleichs hierdurch erlittener Nachteile im Rahmen des Strafverfahrens selbst (einschließlich des Rechtsmittelverfahrens), so dass sich die Anwendung auch aus diesem Grund verbietet. Diese Argumentation gilt in ähnlicher Form auch für die Annahme, durch den Belehrungsverstoß sei gleichzeitig der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt. Dies wird zuletzt vor allem vom BVerfG vertreten, das bei Missachtung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, völkervertragsrechtliche greife, ist mit Reich, S. 209, abzulehnen, da für diese Fälle eine Kompensation in Ermangelung einer generellen Pflicht im WÜK überhaupt nicht geboten ist.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

Vorschriften wie das WÜK samt der hierzu vorhandenen einschlägigen Rechtsprechung auch des IGH zu beachten und anzuwenden, einen Grundrechtsverstoß gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip annimmt, ohne hierbei selbst eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK konkret zu benennen.82 Auch im Rahmen dieser generalklauselartig formulierten Menschenrechtsgarantie sind sonstige völkerrechtliche Verfahrensvorschriften, wie die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK, zur Konkretisierung, was ein „faires Verfahren“ ausmacht, heranzuziehen. Dem BVerfG ist grundsätzlich zuzustimmen. Es muss jedoch daraus die weitere Konsequenz gezogen werden, dass bei fehlender oder fehlerhafter Belehrung über die Konsulatsbenachrichtigung gleichzeitig auch der menschenrechtlich garantierte Grundsatz des fairen Verfahrens tangiert ist und somit auch ein entschädigungspflichtiger Verstoß gegen die EMRK vorliegt. Auch hierfür gilt, dass die EMRK zunächst eine Beseitigung oder Heilung des Verstoßes und seiner Folgen im Verfahren selbst bevorzugt und nur für den Fall, dass dies nicht oder nur unvollständig möglich ist, eine Entschädigung vorsieht. Vor allem nach den Vorgaben des IGH muss es hinsichtlich des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK im nationalen Recht entsprechende Regelungen geben, so dass der gleichzeitig vorliegende Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens auf dieser Ebene bewertet wird und nachteilige Folgen ausgeglichen werden. Dies ist bei dieser konkreten Verletzung auch vollständig möglich, so dass es der Heranziehung des Entschädigungsgedankens aus der EMRK hierfür nicht bedarf. 5. Annahme eines Beweisverwertungsverbots Wie von vielen Stimmen in der Literatur vertreten83 und zuletzt auch vom 4. Strafsenat des BGH84 anerkannt, kommt grundsätzlich bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK ein Beweisverwertungsverbot in Betracht. Dies sollte jedoch – anders als vom 4. Strafsenat angenommen85 – nicht nur für die Fälle, in denen eine Beleh82  Siehe

BVerfG, Beschluss vom 08.07.2010, NJW 2011, 207 (209). Deiters, ZJS 2008, 212 (215); Gless, JR 2008, 317 (326); Gless / Peters, StV 2011, 369 (377); Paulus / Müller, StV 2009, 495 (502); Reich, S. 210; Velten, ZJS 2008, 76 (79); Walter, JR 2007, 99 (102); Weigend, StV 2008, 39 (43) nur „ausnahmsweise“ für den Fall, dass das Gericht positiv feststellen kann, dass die rechtzeitige Information an das Konsulat dazu geführt hätte, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zugeführt worden wäre, der die belastende Aussage verhindert hätte. 84  BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (605). 85  Hier führt der BGH aus, dass „die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes […] nicht von vornherein ausgeschlossen“ sei, BGH, Beschluss vom 07.06.2011, StV 2011, 603 (605). 83  Siehe



I. Fehlende / Fehlerhafte Belehrung gemäß Art. 36 WÜK219

rung auch später nicht nachgeholt worden ist, sondern generell gelten. Deshalb wäre es wünschenswert, dass der Große Strafsenat des BGH die Möglichkeit bekommt, sich hierzu grundsätzlich zu äußern. Dies hätte bislang bereits erfolgen müssen, da sowohl aufgrund der verschiedenen Auffassungen mehrerer Strafsenate die Möglichkeit einer Divergenzvorlage gemäß § 132 Abs. 2 GVG bestand, als auch eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne des § 132 Abs. 4 GVG vorliegt. Mit dem Sinn und Zweck der Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK, dem ausländischen Beschuldigten durch Aufzeigen konsularischer Unterstützung eine Hilfe zur effektiven Wahrnehmung seiner Verteidigungsmöglichkeiten gewähren zu können, korrespondiert am ehesten die anschließende Abwägung, ob sich ein Mangel bei der Belehrung des Beschuldigten auf das Verfahren ausgewirkt hat und deshalb eine so erlangte Aussage nicht verwertbar ist, oder ob dieser folgenlos blieb. Hierbei ist klar herauszustellen, dass sich Art. 36 WÜK, im Gegensatz beispielsweise zu § 136 StPO, nicht auf eine Vernehmungssituation bezieht und somit ein Verstoß nicht direkt aussagerelevant sein muss. Vielmehr ist zu überprüfen, ob sich die Verteidigungssituation insgesamt bei einer entsprechenden Belehrung anders dargestellt hätte. Dies ist sicherlich nicht immer eindeutig zu beantworten, wobei aus dem weiteren Verhalten des Beschuldigten im Verfahren entsprechende Schlüsse gezogen werden können. Abzulehnen ist ein Beweisverwertungsverbot im konkreten Fall vor allen dann, wenn der Beschuldigte von sich aus einen Verteidiger zu Rate zieht und gegebenenfalls bereits gemachte Aussagen nach Einschalten des Verteidigers bestätigt oder wiederholt. Abzulehnen ist zum einen die Auffassung, nach der ein Beweisverwertungsverbot dann nicht angenommen werden kann, wenn sich der ausländische Beschuldigte bereits seit längerer Zeit in Deutschland aufhält, eventuell sogar dort seinen ständigen Lebensmittelpunkt besitzt und so die „ausländerspezifische Hilfslosigkeit“ fehlt.86 Neben den Problemen bei der praktischen Umsetzung, wann ein solcher Zeitpunkt anzunehmen ist, an dem eine solche Hilfslosigkeit nicht mehr besteht, kann dieses Tatbestandsmerkmal weder den Regelungen des WÜK noch der Rechtsprechung des IGH entnommen werden.87 Da eine exakte Grenzziehung nicht möglich ist und zudem eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den IGH zu befürchten wäre, kann einem solchen, ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal nicht zugestimmt werden. 86  Deiters, 87  So

ZJS 2008, 212 (215); Esser, JR 2008, 271 (275). auch Reich, S.  210 f.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

Zudem kann der vom 1. Strafsenat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 200788 für Fälle fehlender Belehrung nach Art. 36 WÜK aufgeworfenen Möglichkeit der Anwendbarkeit der Widerspruchslösung nicht gefolgt werden. Hiernach müsste der Beschuldigte bei einem entsprechenden Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 WÜK der Verwertung seiner Vernehmung spätestens nach einer entsprechenden Beweiserhebung in der Hauptverhandlung unter konkreter Bezeichnung des geltend gemachten Verfahrensverstoßes widersprechen, um ein Beweisverwertungsverbot zu erreichen.89 Auch dies widerspricht den Vorgaben des IGH zur Anwendung und Auslegung der Regelungen des WÜK und somit völkerrechtlichen Bestimmungen, da eine solche Ausschluss- oder Verwirkungsklausel nicht mit der durch den IGH in den Fällen Avena und LaGrand festgelegten, uneingeschränkten Berücksichtigungspflicht und Überprüfbarkeit eines Verstoßes gegen Bestimmungen des WÜK in Einklang zu bringen ist. Denn wird die Rüge nicht rechtzeitig erhoben, ist der Belehrungsverstoß bei Anwendung der Widerspruchslösung weder im anhängigen Verfahren zu berücksichtigen, noch kann er in einer Rechtsmittelinstanz geltend gemacht werden. Zuletzt muss, um den völkerrechtlichen Vorgaben vollständig gerecht zu werden, zudem eine Möglichkeit geschaffen werden, den Verfahrensverstoß in einem Revisionsverfahren geltend zu machen. Hierzu bedarf es jedoch keiner Ergänzung der in der StPO abschließend geregelten Revisionsgründe, da es ausreichend ist, den Verstoß gegen die Belehrungspflicht als relativen Revisionsgrund im Sinne des § 337 StPO anzuerkennen, um hierdurch eine vollumfängliche Prüfung des Verstoßes zu ermöglichen. Verfahrensrecht­ liche Konsequenzen ergeben sich nur dann, wenn der Belehrungsverstoß Auswirkungen auf das Verfahren hatte und das zu überprüfende Instanzurteil darauf beruht.90

II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz Als polizeiliche Lockspitzel bezeichnet man verdeckte Ermittler im Sinne des § 110a StPO sowie Vertrauenspersonen und sonstiger Informanten der Polizei, die eingesetzt werden, um jemanden zu einer Straftat zu verleiten und so dessen Festnahme und Strafverfolgung sowie die Ermittlung von Auftragge88  Siehe

oben unter F. I. 3. BGH, Beschluss vom 11.09.2007, NJW 2007, 3587 (3588 f.); zustimmend Schomburg / Schuster, NStZ 2008, 593 (595). 90  So auch Kreß, GA 2007, 296 (304); Paulus / Müller, StV 2009, 495 (498); Reich, S. 214; dagegen für einen absoluten Revisionsgrund plädierend Walther, HRRS 2004, 126 (131); Weigend, FS Lüderssen, S. 463 (477), die übersehen, dass hierdurch der Sinn und Zweck der Regelungen des WÜK sowie die Rechtsprechung des IGH überinterpretiert und ein nicht sachgerechtes Ergebnis erzielt wird. 89  Vgl.



II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz221

bern und Hintermännern insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu ermöglichen. Ein anderer Ausdruck hierfür ist „agent provocateur“. Bislang war es gängige Rechtsprechung und auch herrschende Meinung in der Literatur, dass der unzulässige und somit konventionswidrige Einsatz polizeilicher Lockspitzel einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt und unter Anwendung der Strafzumessungslösung zu kompensieren ist.91 Diese Parallele zur bisherigen Rechtsprechung bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung erfordert die Erörterung, ob nunmehr nach Vollzug des Systemwechsels hin zum Vollstreckungsmodell bei überlanger Verfahrensdauer dies auch auf den konventionswidrigen Lockspitzeleinsatz zu übertragen ist, zumal bereits seitens des 5. Strafsenats Kritik geübt worden war, indem er die numerische Strafreduzierung bei einem rechtsstaatswidrigen Lockspitzeleinsatz als „dem deutschen Strafzumessungsrecht fremd“ bezeichnete.92 Obwohl der vorlegende 3. Strafsenat diese Thematik in seinem Vorlagebeschluss zur Vollstreckungslösung, zwar ohne sich eindeutig zu positionieren, erwähnte,93 nahm der Große Senat hierzu keine Stellung. Im Folgenden kamen in der Literatur Stimmen auf, die ausgehend von dieser Entscheidung zur Vollstreckungslösung eine Anwendung auch für die unzulässige Tatprovokation ins Gespräch brachten.94 1. Grundlegende Entscheidungen des EGMR Mit einem wegweisenden Urteil im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal95 setzte der EGMR ein deutliches Zeichen für die Beurteilung der Einsätze 91  Vgl. insbesondere die grundlegenden Entscheidungen des BGH, Urteil vom 23.05.1984, BGHSt 32, 345 = NJW 1984, 2300; Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 = NJW 2000, 1123; Urteil vom 30.05.2001, BGHSt 47, 44 = NJW 2001, 2981; sowie die herrschende Meinung in der Literatur: Fischer, StGB, § 46 Rn. 68; KK-Senge, vor § 48 StPO, Rn. 85; LK-Theune, § 46 Rn. 261. 92  BGH, Urteil vom 21.06.2007, NStZ 2008, 39 (40). 93  BGH, Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294 (3298), der sich tendenziell weiterhin für die Strafzumessungslösung aussprach, indem er ausführte, dass „jedenfalls […] durch die unzulässige Tatprovokation das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters unmittelbar gemindert [werden], so dass eine an den Strafausspruch anknüpfende Kompensation des rechtsstaatswidrigen Verhaltens der Strafverfolgungsorgane gegenüber dem Angeklagten hier mit Recht bei der Zumessung der Strafe nach § 46 StGB vorgenommen wird“. Im Nachgang zur Entscheidung des Großen Senats lehnte jedoch der 3. Strafsenat mit Beschluss vom 22.07.2008, Az. 3 StR 266 / 08, S. 2 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de, die Anwendung der Vollstreckungslösung ohne jegliche Begründung explizit ab. 94  Gaede, JZ 2008, 422 (423); Kraatz, JR 2008, 189 (194); Weber, JR 2008, 36 (38 f.). 95  EGMR im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal, Urteil vom 09.06.1998, NStZ 1999, 47.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

polizeilicher Lockspitzel, welches auch in Deutschland einen Wendepunkt in der bis dato diffus geführten Diskussion darstellen sollte. Neben der grundsätzlichen Billigung von verdeckt arbeitenden Ermittlern, insbesondere im Bereich der ansonsten schwer aufklärbaren Betäubungsmitteldelikte sowie bei organisierter Kriminalität, stellte der Gerichtshof heraus, dass auch in diesen Verfahren das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK zu beachten sei. Insbesondere bei der Anstiftung bislang Unverdächtiger zur Begehung der Tat sowie der Annahme, dass diese ohne das Einschreiten der polizeilichen Lockspitzeln nicht begangen worden wäre, liege eine entschädigungspflichtige Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.96 Zwar konnte der EGMR keine Regelung der verfahrensrechtlichen Konsequenzen im nationalen Recht vornehmen und insbesondere keine Urteile nationaler Gerichte kassieren. Jedoch zeigt die von ihm gewährte Entschädigung für die gesamte erlittene Haftzeit den Stellenwert der Verletzung, insbesondere durch die Begründung, dem Beschwerdeführer sei durch das Eingreifen der verdeckten Ermittler und „dessen Verwendung im angefochtenen Strafverfahren […] von Beginn an vollständig ein faires Verfahren entzogen“ worden.97 Aus diesem Wortlaut wird in Entscheidungsbesprechungen in der Literatur der Schluss gezogen, dass keine Bestrafung des Täters möglich sein soll, zum einen aufgrund eines Beweiserhebungs- und -verwertungsverbots,98 zum anderen allgemein aufgrund einer „Straffreistellung“ entweder wegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes, der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs99 oder eines absoluten Verfahrenshindernisses.100 Der EGMR bestätigte seine Rechtsprechung mit Urteil im Fall Ramanauskas . / . Litauen vom 05.02.2008 und führte weiter aus, dass die Verwendung besonderer Ermittlungsmethoden und die Nutzung von Quellen verdeckter Hinweisgeber für sich allein noch nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoße.101 Der Einsatz von V-Leuten sowie sonstiger, polizeilicher Lockspitzel müsse aber eingegrenzt werden und es zudem sichergestellt sein, dass solche Beweise nicht verwendet würden, die durch polizeiliche Anstiftung eines bislang nicht Tatverdächtigen gewonnen worden sind. Ansonsten wäre das Recht auf ein faires Verfahren von Anfang an beeinträchtigt. Eine Anstiftung durch die Polizei liege dann vor, „wenn die 96  EGMR im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal, Urteil vom 09.06.1998, NStZ 1999, 47 (48). 97  EGMR im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal, Urteil vom 09.06.1998, NStZ 1999, 47 (48); so auch Sommer, NStZ 1999, 48 (49). 98  Kinzig, StV 1999, 288 (292). 99  So Sommer, NStZ 1999, 48 (50) und auch Korn, S. 141. 100  Kempf, StV 1999, 128 (130); Lesch, JR 2000, 434 (436). 101  EGMR im Fall Ramanauskas . / . Litauen, Urteil vom 05.02.2008, NJW 2009, 3565 (3566).



II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz223

eingesetzten Personen, Mitglieder der Polizeikräfte oder Personen, die in ihrem Auftrag tätig werden, sich nicht darauf beschränken, strafbares Verhalten nur zu verfolgen, sondern diejenigen, auf die sie angesetzt sind, derart beeinflussen, dass sie sie anstiften, eine Straftat zu begehen, die sie sonst nicht begangen hätten“.102 Es wurde anschließend vom Gerichtshof nochmals ausdrücklich herausgestellt, dass ein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK bei einer solchen, unzulässigen Tatprovokation nur dann gegeben sei, wenn alle Beweise „ausgeschlossen werden“, die aufgrund der polizeilichen Anstiftung erlangt worden sind.103 In Ergänzung hierzu entschied der EGMR wenig später im Fall Pyrgiotakis . / . Griechenland, dass eine unzulässige Tatprovokation auch bei Einschalten eines bislang unverdächtigen Mittelsmannes durch die Polizei vorliege, der ein Drogengeschäft vermittle. Denn auch hier sei im Handeln der Polizei der entscheidende, wenn nicht ausschließliche Grund dafür zu sehen, dass es zu der Vermittlung des Geschäfts gekommen ist, das polizeiliche Einschreiten also als derjenige Faktor gelten kann, der die Straftat provoziert hat.104 Diese Entscheidungen des EGMR zeigen, dass der unzulässige Einsatz eines agent provocateur nicht zu einer Bestrafung des zu einer Straftat Verleiteten führen darf, um nicht gegen den fair-trail-Grundsatz des Art. 6 EMRK zu verstoßen, wobei die dogmatische Einordnung einer solchen Straffreistellung nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist. Als Lösungsmöglichkeiten wurden zuletzt sowohl ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der durch die Tatprovokation erlangten Beweismittel105 als auch ein Verfahrenshindernis, da das Verfahren im Fall der unzulässigen Tatprovokation „umfassend torpediert“ würde,106 ins Spiel gebracht. 102  EGMR im Fall Ramanauskas . / . Litauen, Urteil vom 05.02.2008, NJW 2009, 3565 (3566). 103  EGMR im Fall Ramanauskas . / . Litauen, Urteil vom 05.02.2008, NJW 2009, 3565 (3567). 104  So der EGMR im Fall Pyrgiotakis . / . Griechenland, Urteil vom 21.02.2008, HRRS 2008 Nr. 500 Rn. 18. Aus dieser Entscheidung ergibt sich auch, dass weder eine erhebliche Einwirkung auf den Mittelsmann notwendig ist noch der Nachweis einer direkten Kausalität, so auch Gaede / Buermeyer, HRRS 2008, 279 (282). 105  Reich, S. 228 f.; früher bereits Kinzig, StV 1999, 288 (292). 106  Gaede / Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286); zuvor führte bereits Korn, S. 152, aus, dass ein absolutes Verfahrenshindernis deshalb vorliege, da „die Strafverfolgung eines Täters, der ohne Tatverdacht zu einer Straftat provoziert wurde, welche letztendlich zu keiner materiellen Rechtsgutsverletzung führte, […] in einem unerträglichen Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen“ stehe. Eine Einschränkung wurde gemacht, wenn die Provokation tatsächlich zu einer materiellen Rechtsgutsverletzung geführt habe (z. B. bei Körperverletzungsdelikten, Diebstählen), da dann der Schutz des Einzelnen vorgehe.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

2. Rechtsprechungsentwicklung in Deutschland Begleitet durch eine rege wissenschaftliche Diskussion war die Rechtsprechung der verschiedenen Senate des BGH zunächst in den 1980er Jahren stark divergierend. Während zunächst beim Vorliegen einer unzulässigen Tatprovokation „ein dem Staat zuzurechnender Rechtsverstoß“, der in das Strafverfahren „hineinwirke“, gesehen wurde, ohne die genaue Konsequenz festzustellen,107 dann jeweils die Möglichkeiten eines Verfahrenshindernisses,108 der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs109 sowie eines Strafausschließungsgrundes110 vertreten wurde, war es der 1. Strafsenat mit seiner Leitentscheidung vom 23.05.1984, der diese unterschiedlichen Lösungswege ablehnte und sich als erster für die Strafzumessungslösung aussprach.111 Die Qualifikation eines konkreten Lockspitzeleinsatzes als rechtsstaatswidrig müsse nicht notwendig einer Bestrafung des Verlockten entgegenstehen. Vielmehr sei „die nachhaltige erhebliche Einwirkung des Lockspitzels auf den Täter […] ein wesentlicher Strafmilderungsgrund“, so dass der Tatrichter hieraus einen erheblichen Spielraum bei der Festlegung der Sanktion habe, der die Verneinung eines besonders schweren und die Annahme eines minder schweren Falles wie auch die Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153, 153a StPO, das Zurückgehen auf die gesetzliche Mindeststrafe sowie die Möglichkeit der Gewährung einer Verwarnung mit Strafvorbehalt umfasse.112 Hierdurch solle vor allem eine Verhinderung der Strafverfolgung unabhängig von der Schuld des provozierten Täters vermieden werden, vielmehr sei es Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, „notfalls des Gesetzgebers“, rechtsstaatswidrige Praktiken im Ermittlungsverfahren zu unterbinden.113 Eine anschließend durchgeführte Vorlage des 2. Strafsenats an den Großen Strafsenat zur Klärung der Frage, ob die unrechtmäßige Anstiftung durch einen polizeilichen Lockspitzels einen selbständigen Strafmilderungsgrund darstelle – was vom vorlegenden Senat befürwortet wurde – oder zur Annahme eines Verfahrenshindernisses führen müsse,114 wurde vom Großen Strafsenat des BGH nicht mit einer Sachentscheidung beantwortet, da er die 1. Strafsenat, Urteil vom 15.04.1980, NJW 1980, 1761. 2. Strafsenat, Urteil vom 06.02.1981, NJW 1981, 1626 sowie Beschluss vom 13.11.1981, NStZ 1982, 126. 109  BGH, 4. Strafsenat, Urteil vom 11.09.1980, NStZ 1981, 70. 110  BGH, 5. Strafsenat, Beschluss vom 20.12.1983, NStZ 1984, 178. 111  BGH, Urteil vom 23.05.1984, BGHSt 32, 345 = NJW 1984, 2300. 112  BGH, Urteil vom 23.05.1984, BGHSt 32, 345 (355) = NJW 1984, 2300 (2302). 113  BGH, Urteil vom 23.05.1984, BGHSt 32, 345 (356) = NJW 1984, 2300 (2302). 114  BGH, Vorlagebeschluss vom 04.06.1985, NJW 1986, 75. 107  BGH, 108  BGH,



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Vorlagevoraussetzungen als nicht gegeben ansah und zudem der vorlegende Senat von der bisherigen Rechtsprechungsauffassung nicht abweichen wollte, indem er die Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses im Vorlagebeschluss ablehnte.115 Des Weiteren wurde die Strafzumessungslösung auch nach der oben dargestellten Entscheidung des EGMR im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal weiter unter ausführlicher Erörterung der dort gemachten Ausführungen beibehalten. Der 1. Strafsenat führte in seinem Urteil vom 18.11.1999 aus, dass die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses eine Entscheidung nach dem „Alles oder Nichts“-Prinzip sei, die dem Umfang des späteren schuldhaften Verhaltens des Provozierten nicht gerecht werde, eine Differenzierung nicht möglich mache und auch im Verhältnis zu dem massiven Verstoß gegen § 136a StPO, der ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehe, nicht angemessen sei.116 Darüber hinaus sei dem Wortlaut der EGMR-Entscheidung nicht zwingend das Gebot eines Beweisverwertungsverbots zu entnehmen, da dies bereits nach den Prinzipien des deutschen Strafverfahrensrechts, die nur einzelne, unzulässige Ermittlungshandlungen und nicht die gesamte Beweisaufnahme über die provozierte Tat als einem Beweisverwertungsverbot unterliegend erachten und somit die Reichweite eines solchen völlig unklar sei, ausscheide und der EGMR nicht in die nationalen Regelungen für die Zulässigkeit von Beweismitteln eingreifen wolle.117 Zudem werden die Voraussetzungen, wann eine unzulässige Tatprovokation vorliegt, enger gefasst als dies der EGMR tue. So liege eine solche vor, wenn gegen die Person, gegen die der Lockspitzel eingesetzt werden soll, keine zureichend konkreten Anhaltspunkte vorliegen, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen zu sein oder zu einer künftigen Straftat bereit zu sein und darüber hinaus der agent provocateur über das bloße Mitmachen hinaus „in die Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheb­ lichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt“.118 Zuletzt glich der BGH seine Rechtsprechung in dieser Frage der Strafzumessungslösung im Bereich der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung an und forderte die eigenständige Feststellung des Verstoßes in den Urteilsgründen sowie die gesonderte Festsetzung des Maßes der Kompensation im Rahmen der Strafzumessung.119 Großer Senat, Beschluss vom 07.11.1985, NJW 1986, 1764 (1766). Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 (333) = NJW 2000, 1123 (1126). 117  BGH, Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 (334 f.) = NJW 2000, 1123 (1126). 118  BGH, Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 (338) = NJW 2000, 1123 (1127). 119  BGH, Urteil vom 18.11.1999, BGHSt 45, 321 (336) = NJW 2000, 1123 (1126). 115  BGH, 116  BGH,

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

Die Anwendung der Strafzumessungslösung stieß auf erhebliche Kritik. Es wurde angeführt, dass allein die Straflosigkeit des unzulässig zu einer Tat Provozierten mit der Rechtsprechung des EGMR in Einklang zu bringen sei. Die hierfür anzuwendenden Möglichkeiten wurden erörtert, ohne dass sich eine klare Position herausstellte.120 Zudem wurde als problematisch erachtet, dass der BGH den Kreis, wann eine unzulässige Tatprovokation vorliegt, wesentlich enger gezogen habe, als dies vom EGMR erfolgte, indem nach der Entscheidung des BGH beim bloßen Ansprechen und Ausnutzen einer bestehenden Bereitschaft keine Tatprovokation vorliege.121 Dennoch hielt der BGH (wiederum explizit der 1. Strafsenat) in seiner „Quantensprung-Entscheidung“122 von 2001 an dieser Rechtsprechung fest und führte sie fort, indem er eine unzulässige Tatprovokation auch dann annahm, wenn zwar ein Tatverdacht gegen den Provozierten vorlag, in der verleiteten Straftat jedoch eine erhebliche Steigerung des Unrechtsgehalts der Tat zu sehen war (sog. „Quantensprung“). Werde jedoch durch die Provokation eine über den bestehenden Tatverdacht hinausgehende Steigerung der Verstrickung des Tatverdächtigen „in qualitativ deutlich höheres Unrecht“ bewirkt, stehe das nicht mehr im Einklang mit dem generellen Auftrag der dem Grundsatz des fairen Verfahrens verpflichteten Strafrechtspflege, wobei eine bloße Nachfrage beim Tatverdächtigen noch keine Provo­ kation bedeute.123 In seiner Entscheidungsbesprechung kritisierte Weber zunächst die konkrete Bestimmung der Grenzziehung, wann ein solcher Quantensprung vor allem im Betäubungsmittelstrafrecht erreicht sei. Darüber hinaus hob er zu Recht hervor, dass es der Entscheidung gelungen sei, die Prüfung der Zulässigkeit einer Tatprovokation anhand einer Art Stufenfolge zu systematisieren. So müsse zunächst festgestellt werden, ob überhaupt eine Tatprovokation vorliege, um dann deren Zulässigkeit zu prüfen. Hierbei 120  Sinner / Kreuzer, StV 2000, 114 (117), befürworteten die Annahme eines Verfahrenshindernisses oder eines „verfassungsrechtlich begründeten Verfahrensverbots“; Endriß / Kinzig, NStZ 2000, 271 (272), schienen zu einem Verfahrenshindernis oder einem Beweisverwertungsverbot zu tendieren; für einen Strafausschließungsgrund sprach sich Roxin, JZ 2000, 369, aus; zuletzt führte Kutzner, StV 2002, 277 (283), alternativ die Möglichkeiten eines Verwertungsverbots und eines Strafausschließungsgrundes an, ohne sich letztlich für eines von beiden zu entscheiden. 121  Endriß / Kinzig, NStZ 2000, 271 (273). 122  BGH, Urteil vom 30.05.2001, BGHSt 47, 44 (49) = NJW 2001, 2981 (2982), in welchem es im konkreten Sachverhalt um das Verleiten zum Handeltreiben mit Heroin einer bislang lediglich des Handeltreibens mit Haschisch verdächtigen Person ging, so das der Unrechtsgehalt von erheblich höherem Gewicht sei und der Beschuldigte unter staatlicher Verantwortung „weiter in die Kriminalität gedrängt“ werde. 123  So BGH, Urteil vom 30.05.2001, BGHSt 47, 44 (50) = NJW 2001, 2981 (2982).



II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz227

sei eine Art „Wechselwirkung“ zu beachten, indem die Stimulierung desto nachhaltiger sein dürfe, je stärker der Tatverdacht sei.124 Ohne dass es in der konkreten Entscheidung maßgeblich darauf ankam, sprach sich der 5. Strafsenat in seinem Urteil vom 21.06.2007 gegen eine numerische Strafreduzierung bei einem rechtsstaatswidrigen Lockspitzeleinsatz aus, da diese Methode „als dem deutschen Strafzumessungsrecht fremd“ erachtet wurde.125 Einer Entscheidung des 3. Strafsenats lag ein Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 29.02.2008126 zugrunde, in welchem wegen des „als unzulässig bewerteten Einsatzes eines verdeckten Ermittlers, der auch zu der Verlängerung der Verfahrensdauer geführt hat“, ein Teil der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als verbüßt galt. Unabhängig davon, ob die Vollstreckungslösung hier durch das Instanzgericht aufgrund des unzulässigen Lockspitzeleinsatzes angewandt worden ist – wofür der Wortlaut spricht – oder wegen der hierdurch eingetretenen, verlängerten Verfahrensdauer, positionierte sich der Senat klar gegen die Anwendung der Vollstreckungslösung bei einem rechtsstaatswidrigen Einsatz eines verdeckten Ermittlers.127 Zuletzt bekräftigte wiederum der 1. Strafsenat in einem Beschluss vom 21.01.2009 die Anwendung der Strafzumessungslösung, indem er bei einem Sachverhalt, der einen möglichen unrechtmäßigen Lockspitzeleinsatz zum Inhalt hatte, im Rahmen der Zurückweisung an das Instanzgericht auf die Grundsätze der oben angeführten Entscheidungen aus den Jahren 1999 und 2001, was die Einstufung als solches und vor allem die Kompensation im Rahmen der Festsetzung der Rechtsfolgen betraf, verwies.128 3. Kompensation durch Vollstreckungslösung Im Bereich der unzulässigen Tatprovokation wird die Anwendung der Vollstreckungslösung zur Kompensation des Verstoßes gegen das Gebot der Verfahrensfairness im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK überwiegend abgelehnt. Auch wenn die Strafzumessungslösung hierfür in der Rechtsprechung nicht gänzlich unumstritten ist, was sich insbesondere aus der dargestellten Kritik durch den 5. Strafsenats ergibt, so spielen dennoch Überlegungen 124  Weber,

NStZ 2002, 50 (51). Urteil vom 21.06.2007, NStZ 2008, 39 (40). 126  LG Wuppertal, Urteil vom 29.02.2008, Az. 23 Ks 76 / 07 – 45 Js 7 / 03 – zitiert nach Juris. 127  BGH, Beschluss vom 22.07.2008, Az. 3 StR 266 / 08, S. 2 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de. 128  BGH, Beschluss vom 21.01.2009, NStZ 2009, 405 (406). 125  BGH,

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

hinsichtlich der Übertragung der Vollstreckungslösung dort keine Rolle. Auch in der Literatur wird insbesondere die mangelnde Vereinbarkeit der Vollstreckungslösung (wie im Übrigen auch der Strafzumessungslösung) im Bereich des unzulässigen Lockspitzeleinsatzes mit der Rechtsprechung des EGMR ins Feld geführt.129 Dies ist auch zunächst das Hauptargument gegen eine Rechtsfolgenlösung, gleich ob im Rahmen der Strafzumessung oder beim Vollstreckungsausspruch, möchte man den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und die Grundsätze der europäischen Rechtsprechung auf die nationale Rechtsprechung übertragen, wozu aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine Verpflichtung besteht.130 Konnte man bereits aus der ersten Leitentscheidung in Fall Teixeira de Castro . / . Portugal131 herauslesen, dass sich ein unzulässiger Lockspitzeleinsatz auf das gesamte Verfahren bezieht und somit eine Reduzierung der (zu vollstreckenden) Strafe die Gänze des unfairen Verfahrens nicht beseitigen kann, wird aus dem Urteil im Fall Ramanauskas . / . Litauen132 deutlich, dass eine hinreichende Kompensation nur dann erfolgt, wenn sich die unzulässige Tatprovokation bereits auf die Schuldfeststellung, d. h. auf die Frage, ob der Provozierte für die begangene Tat überhaupt bestraft werden kann, auswirkt. Darüber hinaus bestehen auch keine hinreichenden Parallelen zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung über den hierdurch eingetretenen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 EMKR hinaus. Während sich der Lockspitzeleinsatz direkt auf die strafbare Handlung bezieht und auswirkt, hat die überlange Verfahrensdauer mit der Feststellung der Strafbarkeit nichts zu tun, sondern bezieht sich nur auf das Verfahren der anschließenden Strafverfolgung und hat, wie bereits dargestellt, eine zusätzliche Belastung des Beschuldigten / Angeklagten durch die vom „Normalfall“ abweichende Durchführung des gegen ihn geführten Ermittlungs- und Strafverfahrens zur Folge. Unzulänglichkeiten, die den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnen sind und die beim Zustandekommen oder / und der Durchführung der strafbaren Handlung geschehen, müssen sich auf die Prüfung der Strafbarkeit des Provozierten auswirken. Es ist nicht sachgemäß, dass zunächst von staatlicher Stelle aus eine Straftat provoziert wird, die ansonsten (so) nicht begangen worden wäre, um anschließend den Provozierten einer Strafverfolgung auszusetzen und lediglich die ausgesprochene Sanktion abzuschwächen. Dies widerspricht zum einem dem Sinn und Zweck der Straf129  Gaede / Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285); Reich, S. 230; Roxin, JZ 2000, 369; I. Roxin, S. 179. 130  Siehe oben unter B. II. 1. 131  EGMR im Fall Teixeira de Castro . / . Portugal, Urteil vom 09.06.1998, NStZ 1999, 47. 132  EGMR im Fall Ramanauskas . / . Litauen, Urteil vom 05.02.2008, NJW 2009, 3565 (3566).



II. Konventionswidriger Lockspitzeleinsatz229

verfolgung, zum anderen kann hierdurch der Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens nicht ausreichend kompensiert werden, so dass weiterhin die Gefahr einer Verurteilung durch den EGMR besteht.133 4. Verfahrenshindernis aufgrund der unzulässigen Tatprovokation Verschiedene Lösungsansätze sind denkbar, um dieser Gefahr einer Verurteilung durch den EGMR zu entgehen. Hierbei gilt es, die Möglichkeit zu wählen, die mit dem nationalen Strafrecht und Strafprozessrecht im Einklang steht. Zwar lässt vor allem eine Passage des Urteils im Fall Ramanauskas . / . Litauen den Schluss zu, es könne zumindest nach der Rechtsprechung des EGMR allein ein Beweisverwertungsverbot die einzig wählbare Alternative sein („[…], dass solche Beweise nicht verwendet würden, die durch polizeiliche Anstiftung eines bislang nicht Tatverdächtigen gewonnen worden sind“134), um den Anforderungen der EMRK zu genügen, dies ist jedoch nicht zwingend. Der Gerichtshof kann selbst neben der Festsetzung einer Entschädigung keine konkreten Abhilfemaßnahmen festsetzen, sondern muss dies dem jeweiligen nationalen Recht in eigener Verantwortung überlassen. Zunächst könnte bei unzulässigem Einsatz eines Lockspitzels ein Strafausschließungsgrund in Betracht kommen, da aufgrund der Provokation eine staatliche Bestrafungsbefugnis von vornherein nicht existent ist, insbesondere eine materielle Rechtsgutsverletzung nicht eintritt.135 Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass es je nach Deliktstypus unbillig ist, von einer mangelnden Rechtsgutsverletzung auszugehen, sollte die Tat durch staat­ lichen Einfluss provoziert worden sein. Während sich bei Betäubungsmitteldelikten unter staatlicher Kontrolle die abstrakte Gefahr, dass Drogen in den Umlauf geraten, nicht verwirklicht und somit keine tatsächliche Rechtsgutsverletzung eintritt, ist eine solche jedoch bei provozierten Delikten, die direkt in Rechtsgüter Dritter eingreifen, wie bei Gewalt- oder Eigentumsdelikten der Fall, vorhanden und es schlichtweg mit dem Individualrechtsgüterschutz unvereinbar, wenn von vornherein eine Straffreistellung besteht.136 Näher zu beleuchten sind die Optionen des Eintretens eines Beweisverwertungsverbotes oder der Annahme eines Verfahrenshindernisses. Den Ausfüh­ 133  Dies ist im Übrigen, nach der hier vertretenen Auffassung, auch bei der Strafzumessungslösung der Fall, so dass ein Umschwenken der Rechtsprechung des BGH zwingend notwendig erscheint. 134  EGMR im Fall Ramanauskas . / . Litauen, Urteil vom 05.02.2008, NJW 2009, 3565 (3566). 135  I. Roxin, S. 49; Roxin, JZ 2000, 369 (379). 136  So auch bereits Korn, S. 152.

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

run­gen des EGMR kommt ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der Beweismittel, die aus der Provokation folgen, am nächsten. Jedoch ist es schwierig eine Grenze zu ziehen hinsichtlich der Beweismittel, die dem Verwertungsverbot unterfallen und denen, die im Verfahren zugelassen sind. Bei einer Tatprovokation sind praktisch alle Beweismittel von Anfang an durch die Provokationshandlung betroffen, auch eine gegebenenfalls vom Beschuldigten abgegebene, geständige Einlassung ist in der Regel hiervon umfasst, erfolgte diese genau vor dem Hintergrund der provozierten Tat und der damit scheinbar eindeutigen Beweislage. Es ist somit davon auszugehen, dass von dem Beweisverwertungsverbot das gesamte Geschehen betroffen ist, so dass ein Verfahren ab initio nicht (mehr) sinnvoll durchgeführt werden kann.137 Auch die von Reich vertretene Auffassung, wonach die Lösung über ein Beweisverwertungsverbot Abstufungen und somit eine Einzelfallprüfung ermöglicht, insbesondere wenn andere Beweismittel, wie unbeteiligte, zufällig am Tatort anwesende Zeugen vorhanden sind,138 kann nicht überzeugen. Wie von ihr zurecht angeführt, wird in den meisten Fällen eine Verurteilung dennoch nicht zu erreichen sein, weil solche Beweismittel hierfür nicht ausreichen werden. Jedoch kann es nicht von Zufälligkeiten abhängen, ob letztlich eine Bestrafung des Provozierten erfolgt. Das gesamte Geschehen ist von staatlicher Seite her initiiert, so dass eine Unzulässigkeit des Lockspitzeleinsatzes nur dazu führen kann, dass das Gesamtgeschehen einer Beweisaufnahme entzogen ist, was am sachgerechtesten durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses geschehen kann. Dies ermöglicht weiter die Strafbarkeit der Anstiftung des agent provocateur, was vor allem bei tatsächlich eingetretener materieller Rechtsgutsverletzung aus Gründen der Gerechtigkeit angemessen ist und auch einen nicht als zu gering zu veranschlagenden „Disziplinierungs­ effekt“139 erreichen kann. Die von Kritikern gegen die Lösung über ein Verfahrenshindernis angebrachten Argumente, es handle sich um eine Allesoder-nichts-Lösung ohne die Möglichkeit einer Einzelfallprüfung und abgestuften Reaktionsmöglichkeit, zudem werde ein Verfahrenshindernisses ansonsten im deutschen Recht lediglich in den Fällen angenommen, in denen ein Verfahrensfehler nicht anders heilbar wäre,140 vermögen nicht zu überzeugen. Es ist gerade bei der unzulässigen Tatprovokation eine Situation vorhanden, bei der es entweder zu einer Verurteilung kommen kann oder wegen des Vorliegens von unfairen Verfahrenselementen eben nicht kommen darf. Die Gesamtschau zeigt, dass bei unzulässigem Lockspitzeleinsatz in der ­Regel keine ausreichenden Beweismittel mehr für eine Verurteilung des Pro137  So bereits Gaede / Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286); Sinner / Kreuzer, StV 2000, 114 (117). 138  Reich, S. 232. 139  Sinner / Kreuzer, StV 2000, 114 (117). 140  Vgl. Reich, S. 231.



III. Härteausgleich einer Gesamtstrafenbildung231

vozierten verbleiben, so dass sich hieran ein Verfahrenshindernis knüpfen muss. Mit Gaede / Buermeyer ist verallgemeinert zu konstatieren, dass „das aus einem Unrecht geborene Verfahren hier keine legitimierende Kraft entfalten kann.“141

III. Härteausgleich aufgrund mangelnder Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung In einem ganz anderen Bereich der Rechtsfolgenbildung – unabhängig vom Anwendungsbereich des Grundsatzes des fairen Verfahrens und von Verfahrensfehlern – wird vom BGH die Vollstreckungslösung nunmehr auch als Möglichkeit des Härteausgleichs im Sinne des § 55 StGB bei Unmöglichkeit der Gesamtstrafenbildung wegen bereits vollstreckter Strafen entweder in Kombination mit der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe oder aufgrund entgangener Bewährung durch den Wegfall einer begünstigenden Zäsur mangels Möglichkeit anderweitiger Gesamtstrafenbildung angewendet. Hierbei war es wiederum der 5. Strafsenat, der vorgeprescht ist und die Vollstreckungslösung als „Allheilmittel“ zu sehen scheint, mit dem jegliche Form von Unbill im Strafprozess ausgeglichen werden kann. 1. Rechtsprechungsentwicklung In einer ganzen Reihe von Entscheidungen befassten sich in jüngster Zeit verschiedene Strafsenate des BGH mit der Frage der Anwendbarkeit der Vollstreckungslösung als Härteausgleich bei entstehenden Nachteilen des Angeklagten aufgrund nicht möglicher Gesamtstrafenbildung. Zunächst war es (erneut) der 5. Strafsenat, der das Vollstreckungsmodell für die Vornahme eines Härteausgleichs nach Festsetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe und die nicht mögliche Gesamtstrafenbildung mit einer während der Untersuchungshaft bereits vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe heranzog.142 Es wurde ausgeführt, dass sich bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Taten die Mindestverbüßungsdauer im Rahmen der lebenslangen Freiheitsstrafe auch auf die für andere Taten fiktiv auszusprechenden Strafen, die in die Gesamtstrafe einzubeziehen seien, erstrecke und somit die erfolgte Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe dem Angeklagten bei gemeinsamer Aburteilung „im Ergebnis erspart geblieben“ wäre.143 Der deshalb zu gewährende Härteausgleich müsse, da die Vollstreckungslösung geeignet sei, „den gebotenen Ausgleich eines Übermaßes von Strafe aufgrund zufällig getrennter Aburtei141  Gaede / Buermeyer,

HRRS 2008, 279 (286). Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157. 143  BGH, Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157. 142  BGH,

232

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

lungen ohne systemwidrige Eingriffe in die Strafbemessung zu beseitigen“, in doppelt analoger Anwendung des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungszeit im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden.144 Darüber hinaus ließ es der Senat ausdrücklich offen, ob das Vollstreckungsmodell nunmehr in Ablösung des bisher praktizierten Strafabschlagsmodells auch in anderen Fällen des Härteausgleichs herangezogen werden soll.145 Der 2. Strafsenat folgte dieser Rechtsprechung in seinem Beschluss vom 20.01.2010 und begrüßte die grundsätzliche Anwendung der Vollstreckungslösung im Falle des Härteausgleichs bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe, lehnte jedoch generell eine Kompensation von Verfahrensfehlern im Vollstreckungswege ab.146 Er differenzierte jedoch beim Anrechnungsmaßstab und sah zumindest für die Fälle, bei denen die Aufklärung der Tat über lange Zeit nicht möglich gewesen ist – beispielsweise durch noch nicht vorhanden gewesene technische Möglichkeiten – grundsätzlich keine vollständige Anrechnung der verbüßten Haftzeit für geboten an.147 Der Senat ging sogar so weit, dass die in solchen Fällen aufgrund des langen Zeitablaufs mögliche Verneinung der besonderen Schuldschwere dazu führen könne, einen angemessenen Härteausgleich im Rahmen der Strafzumessung zu bestimmen.148 Schon kurz darauf erweiterte der 5. Strafsenat den Anwendungsbereich der Vollstreckungslösung für weitere Fälle des Härteausgleichs. So solle in den Konstellationen, bei denen aufgrund erfolgter, vollständiger Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe eine den Angeklagten begünstigende Zäsur entfalle und deshalb eine Gesamtstrafenbildung erfolge, die zur Verhängung einer nicht mehr bewährungsfähigen Gesamtstrafe führe, ebenfalls das Vollstreckungsmodell als sachlich gebotener Härteausgleich dieser sich für den Angeklagten „überaus nachteilig“ auswirkenden Gesamtstrafenbildung anzuwenden sein.149 Insbesondere könne so, ohne an die maßgeblichen Grund­ lagen der Strafhöhe und Tatschuld anzuknüpfen, ein gerechter Ausgleich dafür, „dass aufgrund verfahrensrechtlicher Zufälligkeiten eine den Angeklagten beschwerende getrennte oder zusammengefasste Strafbemessung 144  BGH,

Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157 (1158). braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.“, BGH, Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157 (1158). 146  BGH, Beschluss vom 20.01.2010, NJW 2010, 1470. 147  BGH, Beschluss vom 20.01.2010, NJW 2010, 1470 (1471), der sich hiermit nach eigenen Angaben nicht in einen Gegensatz zur Entscheidung des 5. Strafsenats setze, der diese Frage, wie auch die Notwendigkeit eines Härteausgleichs überhaupt, „ausdrücklich offengelassen“ habe. 148  BGH, Beschluss vom 20.01.2010, NJW 2010, 1470 (1471). 149  BGH, Beschluss vom 26.01.2010, NJW 2010, 2600 (2601). 145  „[…]



III. Härteausgleich einer Gesamtstrafenbildung233

stattgefunden hat“, gefunden werden und gleichsam die Transparenz hinsichtlich des gewährten Härteausgleichs erhöht werden.150 Im Ergebnis rechnete der Senat einen geringen Teil der ausgesprochen Gesamtfreiheitsstrafe als verbüßt an. In einer weiteren Entscheidung führte der 5. Strafsenat seine Rechtsprechung fort und nahm nunmehr – jedoch ohne besondere, weitere Begründung – eine Anwendung der Vollstreckungslösung auch in einem Fall einer entgangenen nachträglichen Gesamtstrafenbildung und teilweise vollstreckter (Gesamt-)Freiheitsstrafe vor.151 Gegenwind erhielt diese bislang unwidersprochene Rechtsprechung durch den 4. Strafsenat, der sich in seinem nicht für die amtliche Sammlung vorgesehenen (!) Beschluss vom 09.11.2010 entschieden gegen die Anwendbarkeit der Vollstreckungslösung als Ausgleich für eine in dem Ausschluss einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung liegenden Härte bei der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe aussprach.152 Auch bei dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt führte der Wegfall einer Zäsur aufgrund der bereits erfolgten Vollstreckung einer Geldstrafe – vergleichbar mit der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 26.01.2010 – zum Verlust einer zunächst gewährten Strafaussetzung zur Bewährung. Hierin liege ein „besonderer Nachteil“, der bei der Verhängung von zeitigen Freiheitsstrafen „bei der Bemessung der Strafe für die nunmehr abzuurteilende Tat“ auszugleichen sei.153 In ausdrücklicher Abgrenzung zur Rechtsprechung des 5. Strafsenats wurde ausgeführt, dass der Nachteil aufgrund des Ausschlusses einer an sich möglichen Gesamtstrafenbildung aus der Anwendung zwingender strafzumessungsrechtlicher Vorschriften resultiere und „damit einen unmittelbaren Zusammenhang zum Vorgang der Strafzumessung aufweist“, so dass er „systematisch stimmig“ dort, wie andere schuldunabhängige Strafzumessungsfaktoren, zu berücksichtigen sei und es keinen Grund gebe, den Härteausgleich hierfür aus dem Vorgang der Strafzumessung herauszulösen.154 Interessanterweise beschäftigte sich erstmals der 4. Strafsenat am Schluss seiner Entscheidung mit der Frage, ob er aufgrund der Rechtsprechung des 5. Strafsenats daran gehindert sei, eine entsprechende Entscheidung ohne Durchführung eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 GVG zu treffen. Er sah diese Notwendigkeit jedoch nicht als gegeben und begründete dies 150  BGH,

Beschluss vom 26.01.2010, NJW 2010, 2600 (2601). Beschluss vom 28.09.2010, Az. 5 StR 343 / 10, S. 2 f. – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 152  BGH, Beschluss vom 09.11.2010, NJW 2011, 868. 153  BGH, Beschluss vom 09.11.2010, NJW 2011, 868. 154  BGH, Beschluss vom 09.11.2010, NJW 2011, 868 f. 151  BGH,

234

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

damit, dass den Beschlüssen des 5. Strafsenats nicht entscheidungstragend zu entnehmen sei, dass der gebotene Härteausgleich künftig ausschließlich durch Anwendung der Vollstreckungslösung zu erfolgen habe und „nicht jedenfalls auch“ die bisher aufgrund einer einheitlichen Rechtsprechung der Senate angewandte Strafzumessungslösung herangezogen werden könne. Hierfür spreche, dass der 5. Strafsenat bislang auch davon abgesehen hat, ein entsprechendes Anfrageverfahren einzuleiten.155 Die Diskrepanz in der Rechtsprechung der Senate bleibt bis dato bestehen, wenn auch der 5. Strafsenat in weiteren Entscheidungen die Möglichkeit gehabt hätte, eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen. So rechtfertigte er zunächst im Beschluss vom 11.04.2011 die mangelnde Durchführung eines Anfrageverfahrens gemäß § 132 Abs. 3 GVG in seinen vorangegangenen Entscheidungen damit, dass sich die Ausgangslage durch die Einführung der Vollstreckungslösung zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen aufgrund der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen im Januar 2008 gegenüber früheren Entscheidungen des BGH geändert und somit keine Verpflichtung dafür bestanden habe, ein Anfrageverfahren durchzuführen.156 Im nunmehr zu entscheidenden Fall führte er aus, hiervon wiederum – trotz der mittlerweile vorliegenden, ausdrücklich entgegenstehenden Entscheidung des 4. Strafsenat – absehen zu können, da „eine den Betroffenen ausschließlich begünstigende, sofort abschließende Sachentscheidung“ ermöglicht werden sollte.157 Des Weiteren enthielt er sich bislang einer erneuten, klaren Positionierung, sondern führte in einem Beschluss vom 17.08.2011 aus, dass es der Senat „für vorzugswürdig“ halte, den Härteausgleich auch bei der Verhängung von zeitigen Freiheitsstrafen im Rahmen der Vollstreckungslösung vorzunehmen.158 2. Stellungnahme in der Literatur In der Literatur sind zu dieser Problematik ebenfalls zwei gegensätzliche Positionen zu finden. Während Fischer die Auffassung vertritt, dass der Härteausgleich im Wege der Vollstreckungslösung nur bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe zu erfolgen habe und bei der Bildung zeitiger Freiheitsstrafen die Berücksichtigung auf der Strafzumessungsebene vor155  BGH,

Beschluss Beschluss bundesgerichtshof.de. 157  BGH, Beschluss bundesgerichtshof.de. 158  BGH, Beschluss bundesgerichtshof.de. 156  BGH,

vom 09.11.2010, NJW 2011, 868 (869). vom 11.04.2011, Az. 5 StR 100 / 11, S. 3 – zitiert nach www. vom 11.04.2011, Az. 5 StR 100 / 11, S. 2 – zitiert nach www. vom 17.07.2011, Az. 5 StR 322 / 11, S. 3 – zitiert nach www.



III. Härteausgleich einer Gesamtstrafenbildung235

zugswürdig sei,159 folgen sowohl von Heintschel-Heinegg als auch Reich der Rechtsprechung des 5. Strafsenats und halten es für sachlich geboten, die Vollstreckungslösung generell bei der Durchführung des Härteausgleichs heranzuziehen. Als Begründung wird zum einen angeführt, dass es dabei „nicht um die Berücksichtigung geminderter Tatschuld geht, sondern um den Ausgleich einer den Angeklagten benachteiligenden verfahrensrecht­ lichen Zufälligkeit“.160 Zum anderen handle es sich beim Härteausgleich um einen „Billigkeitsentschädigung“, die keine Strafzumessungsgesichtspunkte berühre und bei der Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung zu einem Verstoß gegen das Tatschuldprinzip des § 46 StGB führe.161 Pohlit, der sich zwar in einem Festschrift-Beitrag auch mit der Rechtsprechung des BGH zur Vollstreckungslösung befasste, zeichnete nur die Entscheidungen nach, ohne selbst hierzu Position zu beziehen.162 3. Bewertung Vor allem die jüngste Entwicklung in der Rechtsprechung des BGH zur Anwendung der Vollstreckungslösung bei der Durchführung des Härteausgleichs im Sinne des § 55 StGB zeigt deutlich, dass allgemein in der Thematik der im Jahr 2008 aus der Taufe gehobenen Vollstreckungslösung eine enorme Dynamik steckt und die Strafsenate des BGH bei der Bewertung dieser neuen Kompensationsmöglichkeit nicht einträchtig nebeneinander stehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass durch das teilweise Absehen der Veröffentlichung der Entscheidungen in der amtlichen Sammlung und das Unterlassen der Anrufung des Großen Strafsenats eine Kultur der offenen Proklamation der verschiedenen Rechtspositionen aufrecht erhalten werden soll. Dies ist jedoch aufgrund der mangelnden Rechtssicherheit vor allem mit dem Blick auf die betroffenen Angeklagten und die Instanzgerichte nicht akzeptabel. Zunächst ist klar herauszustellen, dass die Frage der Vorlage einer Rechtsfrage an den Großen Senat für Strafsachen in § 132 GVG als zwingende Vorschrift eindeutig geregelt ist. Während bei einer Vorlage wegen der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtsfrage nach § 132 Abs. 4 GVG für den befassten Strafsenat keine Pflicht zur Vorlage besteht, sondern ihm hierbei ein Ermessen eingeräumt wird („kann“),163 muss bei bestehender 159  Fischer,

StGB, § 55 Rn. 22a. Heintschel-Heinegg, § 55 Rn. 21. 161  Reich, S.  265 f. 162  Pohlit, FS Rissing-van Saan, S. 453 (468 f.). 163  So auch LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 38; KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 16; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 31. 160  BeckOK-StGB-von

236

F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG ein Anfrageverfahren und gegebenenfalls anschließend eine Vorlage erfolgen.164 Dem Umschwenken auf die Vollstreckungslösung im Rahmen der Durchführung des Härteausgleichs im Sinne des § 55 StGB stand die bis dato einhellige Rechtsprechung aller Strafsenate, die den Härteausgleich auf der Strafzumessungsebene vornahmen165 und bei der Verhängung der absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe die Durchführung eines Härteausgleichs grundsätzlich ablehnten,166 entgegen. Diese divergierenden Entscheidungen waren auch nicht – entgegen der Auffassung des 5. Strafsenats167 – durch die Entscheidung des Großen Strafsenats vom 17.01.2008 zur Vollstreckungslösung überholt. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit der Überholung früherer Entscheidungen, wodurch eine Divergenz nicht mehr besteht, wenn durch Gesetzesänderungen oder eine Entscheidung des BVerfG die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidung entfallen ist, der gleiche Senat seine Rechtsansicht in einer späteren Entscheidung aufgegeben hat oder wenn die entgegenstehende Entscheidung im Widerspruch zu einer später ergangenen Entscheidung des Großen Senats steht.168 Zwar erfolgte durch die bezogene Grundsatzentscheidung des Großen Senats zur Vollstreckungslösung ein Systemwechsel, dieser bezog sich jedoch ausdrücklich nur auf die Kompensation konventions- und rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen, die entsprechend der EMRK entschädigungspflichtig sind. Eine Übertragung auf andere Fallgestaltungen wurde in der Entscheidung weder erörtert noch vorgenommen, so dass das Vollstreckungsmodell nicht ohne weiteres auf den Härteausgleich angewendet werden kann. Vor allem ist dies schon gar nicht in der Annahme möglich, die hierzu bislang ergangenen Entscheidungen seien obsolet geworden. Ein Anfrageverfahren im Sinne des § 132 Abs. 3 GVG 164  Entgegen der jüngsten Auffassung des 3. Strafsenats im Vorlagebeschluss vom 23.08.2007, NJW 2007, 3294 (3298), geht eine Divergenzvorlage gemäß § 132 Abs. 2 GVG einer Vorlage aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage nach § 132 Abs. 4 GVG vor, so auch LR-Franke, GVG, § 132 Rn. 39; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 30; Meyer-Goßner, StPO, § 132 GVG Rn. 16; näheres hierzu siehe unter E. II. 1. 165  BGH, 1. Strafsenat, Urteile vom 23.01.1985, BGHSt 33, 131 (132) = NJW 1985, 1231 und vom 30.04.1997, BGHSt 43, 79 (80) = NJW 1997, 1993; BGH, 2. Strafsenat, Beschluss vom 08.10.2003, Az. 2 StR 328 / 03 – zitiert nach Juris; BGH, 3. Strafsenat, Urteil vom 02.05.1990, NStZ 1990, 436; BGH, 4. Strafsenat, Urteile vom 29.07.1982, BGHSt 31, 102 (103), 23.06.1988, NJW 1989, 236; 15.09.1988, Az. 4 StR 397  /  88 – zitiert nach Juris; Beschluss vom 09.11.1995, BGHSt 41, 310 (311) = NJW 1996, 667 (668). 166  BGH, 3. Strafsenat, Urteil vom 14.03.1990, Az. 3 StR 109 / 89 – zitiert nach Juris; BGH, 4. Strafsenat, Urteil vom 10.06.1999, NStZ 1999, 579 (581). 167  Siehe BGH, Beschluss vom 11.04.2011, Az. 5 StR 100 / 11, S. 3 – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 168  KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 8; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 21.



III. Härteausgleich einer Gesamtstrafenbildung237

unter Beteiligung aller Strafsenate des BGH hätte deshalb bereits vom 5. Strafsenat vor seiner Entscheidung vom 08.12.2009169 zur Klärung, ob weiterhin eine Divergenz besteht, durchgeführt werden müssen. Neben einer anschließenden Vorlage an den Großen Senat aufgrund der Divergenz hätte dann gleichzeitig auch eine Vorlage aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfolgen können.170 In der Sache selbst müssen aufgrund der doppelten Analogie zu § 51 Abs. 1 StGB starke Verrenkungen gemacht werden, die im Bereich der zeitigen Freiheitsstrafen zu keinem sachgerechteren Ergebnis führen. Der bislang erfolgte Ausgleich bei der Bemessung der neu zu erkennenden Strafe, sei es durch Bildung einer fiktiven Gesamtstrafe oder durch unmittelbare Berücksichtigung bei der Festsetzung der neuen Strafe,171 ist der Vollstreckungslösung vorzuziehen. Der Härteausgleich dient der Reaktion auf Nachteile, die im Rahmen der Festsetzung von Strafen entstehen, insbesondere durch von der Grundintention des Gesetzgebers abweichende Gesamtstrafenbildungen. Es betrifft somit ausgleichspflichtige Vorgänge bei der Festsetzung von Strafen, also den Bereich der Strafzumessung, so dass richtigerweise dort auch der Nachteilsausgleich zu erfolgen hat. Dies ist der Strafzumessung auch nicht wesensfremd, zumal der Härteausgleich an § 55 StGB, der zu den gesetzlichen Normen der konkreten Strafzumessung gehört, anknüpft. Vor allem ist der Anrechnungsgedanke des § 51 StGB, der einen Ausgleich für bereits erlittene und rechtmäßig erfolgte Rechtseinbußen während des Ermittlungsverfahrens gewähren soll, nicht ohne weiteres übertragbar auf erst mit Bildung der neuen Strafe(n) entstehende Nachteile. Ein Ausgleich im gleichen Vorgang, bei dem die auszugleichende Härte entsteht, passt besser ins strafrechtliche Sanktionensystem. Der von Reich angeführte Verweis auf § 51 Abs. 2 StGB, woraus sich „explizit entnehmen“ lassen soll, dass bei der Festsetzung einer neuen Strafe anzurechnende Strafen, die bereits vollstreckt sind, anzurechnen und gerade nicht bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien,172 geht fehl, da dies eine reine Vollstreckungsregelung darstellt, die eine praktikable Handlungsanweisung für die Behandlung bereits vollstreckter Strafen in einem weiteren Vollstreckungsverfahren gibt. Dies ist ein rein mathematischer Abwicklungsvorgang, der keinerlei Berührung mehr mit dem Strafzumessungsvorgang hat, wäh169  BGH,

Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157. bereits der Große Strafsenat des BGH im Beschluss vom 22.11.1994, NJW 1995, 407 (408); zustimmend KK-Hannich, GVG, § 132 Rn. 16; Kissel / Mayer, § 132 Rn. 30. 171  BGH, Beschluss vom 09.11.2010, NJW 2011, 868. 172  Reich, S. 266. 170  So

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

rend eine solche beim Härteausgleich unzweifelhaft vorliegt, da dieser durch Vorgänge aufgrund der Regelungen zur Gesamtstrafenbildung notwendig wird. Dies gilt auch für den ebenfalls systemimmanenten Wegfall einer bereits gewährten Strafaussetzung zur Bewährung durch zufälligen Wegfall einer Zäsur und der daraus folgenden Gesamtstrafenbildung, wo ebenfalls der Bereich der Strafzumessung betroffen ist und auch hier auf dieser Ebene ein Nachteilsausgleich zu erfolgen hat. Es liegt – anders als bei der Vollstreckungslösung wegen überlanger Verfahrensdauer – beim Härteausgleich nicht der Entschädigungsgedanke aufgrund eines nicht systemgerecht auf der Strafzumessungsebene auszugleichenden Verstoßes gegen die E ­ MRK zugrunde, so dass dort, soweit möglich, die Anwendung der Strafzumessungslösung vorzugswürdig ist. Dies kann zwar bei der Festsetzung einer einzelnen Strafe zu der von Reich173 befürchteten Unterschreitung der gemäß § 46 StGB schuldangemessenen Strafe führen, was jedoch hingenommen werden muss, da regelmäßig im Rahmen der Gesamtstrafenbildung im Sinne der §§ 53 ff. StGB die einzelne, schuldangemessene Strafe in einer Gesamtstrafe bzw. mehreren Gesamtstrafen aufgeht und sich so deren Wert relativiert. Entscheidend ist, auch gemäß § 46 StGB, dass eine bei der Strafbemessung insgesamt schuldangemessene Reaktion erfolgt, was in der Gesamtschau aller festgesetzten Strafen im Vergleich zum Maß der Schuld aufgrund der verwirklichten Straftaten zu überprüfen ist. Dass hierbei aufgrund der Begehung mehrerer Straftaten und der so erforderlichen Gesamtstrafenbildung ein gewisser „Rabatt“ erfolgt, indem die einzelnen Strafen nicht einfach mathematisch addiert werden, ist aufgrund der §§ 53 ff. StGB dem Willen des Gesetzgebers geschuldet und so auch auf den Härteausgleich zu übertragen. Lediglich der ursprüngliche Impetus des 5. Strafsenats, einen Härteausgleich auch bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe durch Anwendung des Vollstreckungsmodells zu ermöglichen, indem eine Anrechnung auf die Mindestverbüßungszeit im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfolgt, ist zu begrüßen. Hier ist ein Bereich betroffen, der bislang einem Härteausgleich nicht zugänglich war, da das Strafzumessungsmodell dort an seine rechtlichen Grenzen gestoßen ist, und bei welchem aus Gründen der Gleichbehandlung konsequenterweise ebenfalls eine Schlechterstellung aufgrund nicht möglicher Gesamtstrafenbildung auszugleichen ist. Da der vorzugswürdige Weg über die Strafzumessung bei der absoluten lebenslangen Strafe ausscheidet, dies jedoch zu einem aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit nicht hinnehmbaren Nachteil führt, müssen andere Möglichkeiten der Entschädigung in Betracht gezogen werden. Dabei ist es naheliegend, wenn schon bei der konkreten Strafbemessung keine Ausgleichsmöglichkei173  Reich,

S. 266.



IV. Sonstige Verfahrensfehler / Rechtsstaatswidrigkeiten239

ten bestehen, dies im strafprozessual folgenden Schritt der Strafvollstreckung zu berücksichtigen. Wie bereits der 5. Strafsenat ausführte, bezieht sich bei der gleichzeitigen Aburteilung von Straftaten, zu deren Ahndung sowohl eine lebenslange Freiheitsstrafe neben weiteren Geld- oder Freiheitsstrafen festgesetzt wird, die Mindestverbüßungszeit des § 57a Abs. 1 S. 1 StGB nicht nur auf die lebenslange Freiheitsstrafe, sondern auf alle Taten, deren Strafen in die Gesamtstrafe einzubeziehen waren.174 Dies ist für den aufgrund bereits vollstreckter Strafe durchzuführenden Härteausgleich sowohl für nicht mehr berücksichtigungsfähige Freiheits- als auch Geldstrafen weiterzuführen unter doppelt analoger Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB. So wie bereits anerkannt ist,175 diese Vorschrift zur Abwendung einer Ungleichbehandlung analog zur Anrechnung erlittener Untersuchungshaft bei der Festsetzung der Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe anzuwenden, muss dies entsprechend für den nicht bereits bei der Strafzumessung durchführbaren Härteausgleich bei der Festsetzung lebenslanger Freiheitsstrafe gelten. Insoweit besitzt die Regelung des § 51 Abs. 1 StGB einen gewissen Entschädigungscharakter auf der Vollstreckungsebene für (rechtmäßig) zuvor erlittene Nachteile, die dem strafprozessualen System geschuldet sind.

IV. Sonstige Verfahrensfehler / Rechtsstaatswidrigkeiten Auch über die dargestellten Fallgestaltungen hinaus ist es zumindest in Betracht zu ziehen, andere Verfahrensfehler oder sonstige Rechtsstaatswidrigkeiten, die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahrens passieren, durch Anwendung der Vollstreckungslösung auszugleichen. Scheffler geht sogar weiter und sieht bereits „Anzeichen“ dafür, dass eine Ausweitung der Vollstreckungslösung „weit in den dunklen Bereich der Rechtsfolgen von Rechtsstaatswidrigkeiten“ bevorstehe.176 Wenn man die möglichen, wie gerade unter F. I.–III. geprüften Anwendungsbereiche anschaut, könnte tatsächlich der Eindruck entstehen, es sei beabsichtigt, die Vollstreckungslösung als Allheilmittel zum Ausgleich jeglicher Form von Rechts(staats)widrigkeit im Verfahren heranzuziehen. Der BGH hat solchen Bestrebungen mittlerweile in mehreren Entscheidungen eine Absage erteilt. So wurde mehrfach betont, dass die Vollstreckungslösung gerade aufgrund völkervertrags- und verfassungsrechtlicher Gründe als Rechtsinstitut geschaffen wurde und zur Anwendung kam, weshalb dies in anderen Berei174  BGH, 175  Siehe

Beschluss vom 08.12.2009, NJW 2010, 1157. BGH, Beschluss vom 11.08.2004, NJW 2004, 3789; Fischer, StGB,

§ 51 Rn. 4. 176  Scheffler, ZIS 2008, 269 (278).

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F. Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen

chen nicht geboten sei.177 Zuletzt betonte der 3. Strafsenat in seinem Beschluss vom 31.05.2011 nochmals ausdrücklich, dass die Rechtsprechung zur Vollstreckungslösung auf den Besonderheiten der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beruhe und die Folgen, die Verstöße gegen das Verfahrensrecht nach sich ziehen können, grundsätzlich in der Strafprozessordnung geregelt seien. Denn es sei dem Staat insbesondere verwehrt, dem Angeklagten Verfahrensverstöße, die sich auf das Urteil ausgewirkt haben, durch einen Vollstreckungsrabatt „gewissermaßen abzuhandeln“, da dies „zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts führen“ würde.178 Neben den unter E. dargestellten grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung der Vollstreckungslösung bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung besteht auch darüber hinaus keinerlei Bedürfnis, die Vollstreckungslösung für andere Verfahrensunwägbarkeiten heranzuziehen, bei denen die Besonderheiten der Entschädigung für nicht anders zu entschädigende Verstöße gegen die EMRK, die ausschlaggebend für den Systemwechsel des BGH waren, nicht vorliegen. Verfahrensfehlern ist mit den in der Strafprozessordnung hierfür vorgesehenen Reaktionsmöglichkeiten zu begegnen. Ein Eingriff im Rahmen des Vollstreckungsausspruchs muss, wenn überhaupt, auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, um sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, die Verletzung von Verfahrensvorschriften werde nicht sachgerecht ausgeglichen, sondern über eine pauschale Abgeltung durch Reduzierung der zu vollstreckenden Strafe quasi aufgerechnet.179 Deshalb ist der Anwendung der Vollstreckungslösung auf andere Verfahrensfehler und Rechtsstaatswidrigkeiten eine Absage zu erteilen.

177  BGH, Urteil vom 20.12.2007, NJW 2008, 1090 (1093); BGH, Beschluss vom 31.05.2011, Az. 3 StR 97 / 11, S. 2 f. – zitiert nach www.bundesgerichtshof.de. 178  BGH, Beschluss vom 31.05.2011, Az. 3 StR 97 / 11, S. 3 – zitiert nach www. bundesgerichtshof.de. 179  So auch Kraatz, JR 2008, 189 (194).

G. Rechtsvergleichende Untersuchung: Sanktionsmöglichkeiten bei rechtsstaatswidrigen ­Verfahrensverzögerungen in anderen Rechtsordnungen Völlig unterschiedlich sind in dem hier zu untersuchenden Bereich des Strafverfahrens die Reaktionsmöglichkeiten auf überlange Verfahrensdauer in den verschiedenen Mitgliedsländern der EMRK. Neben der in vielen Rechtsordnungen angewandten Möglichkeit der Strafreduzierung vergleichbar der deutschen Strafzumessungslösung (entweder singulär oder in Kombination mit anderen Maßnahmen) werden Lösungen vielfach über die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs oder in prozessualer Hinsicht gewählt. Im Folgenden sollen kurz die Länder dargestellt werden, in denen die Möglichkeit einer Strafmaßreduzierung besteht, bevor dann ausgewählte Modelle, die teilweise direkt im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des EGMR entwickelt worden sind, vorgestellt werden.

I. Strafzumessungslösung In zahlreichen Nationen besteht zum Ausgleich einer überlangen Verfahrensdauer die Möglichkeit einer Berücksichtigung bei der Festsetzung des Strafmaßes, teils aufgrund einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung, wie in Island, Luxemburg, Malta, Niederlande, Schweiz oder dem Vereinigten Königreich, teils aufgrund entsprechender gesetzlicher Regelungen im jeweiligen Strafverfahrensrecht oder gerichtlichen Organisationsgesetz, wie die obligatorischen Anordnungen in Dänemark (§ 1018h des dänischen Gerichtsorganisationsgesetzes), Schweden (Chapt. 29, Sect. 5 und Chapt. 30, Sect. 4 des schwedischen Strafgesetzes) und Norwegen (Chapt. 31 des norwegischen Strafverfahrensgesetzes), sowie die „kann“Bestimmungen in Belgien (§ 21 belgisches Strafverfahrensgesetz) und Finnland (Chapt. 6, Sect. 7, subsect. 3 des finnischen Strafgesetzbuches), was in den jeweiligen Ländern zumeist neben oder anstatt einer sonstigen Entschädigungsmöglichkeit in Geld zu sehen ist. In Dänemark bestehen zusätzlich noch die Möglichkeiten der Rüge der überlangen Verfahrensdauer vor dem verhandelnden Gericht und der Forderung von Entschädigung bereits im Stadium der Strafermittlungen. In Norwegen kann bei Nichtbeachtung der verpflichtenden Strafreduzierung entsprechend des norwegischen Strafverfahrensgesetzes Ersatz des materiellen und in besonderen Fällen auch des

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G. Rechtsvergleichende Untersuchung

immateriellen Schadens, der durch die verzögerte Verfahrensdurchführung entstanden ist, geltend gemacht werden (Chapt. 31, 445, 447 des norwegischen Strafverfahrensgesetzes). Zuletzt sei noch auf Schweden verwiesen, wo zudem auch eine Entschädigung für immaterielle Schäden nach Chapt. 3, Sect.  2 des Staatshaftungsgesetzes sowie Disziplinarmaßnahmen nach Chapt. 20, Sect. 1 des Strafgesetzbuches möglich sind.1 Lediglich in den Rechtsordnungen, in denen die Strafzumessungslösung in Kombination mit Rechtsbehelfen im laufenden Verfahren und sonstigen Entschädigungsmöglichkeiten besteht – wie in Dänemark – wurde eine effektive Kompensation vom EGMR ausdrücklich anerkannt.2

II. Gesetz „Pinto“ in Italien Nachdem Italien in einer Vielzahl von Fällen durch den EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer verurteilt worden war und sogar im Jahr 1999 in einem Urteil des EGMR hierin ein strukturelles Problem und eine mit der EMRK unvereinbare, nationale Praxis gesehen wurde,3 sollte Abhilfe durch das nach seinem Urheber, dem gleichnamigen Senator, benannte „Gesetz Pinto“ vom 24.03.2001 geschaffen werden. Dem in Art. 111 der italienischen Verfassung bereits zuvor enthaltenen, grundsätzlichen Anspruch auf ein zügiges Verfahren wurde mit dem neuen Gesetz eine einfachgesetzliche Regelung zur Seite gestellt, nach welcher bei überlanger Verfahrensdauer ein Entschädigungsanspruch entsteht zur Geltendmachung erlittener mate­ rieller und immaterieller Schäden. Dieser ist entweder beim Gericht des laufenden Verfahrens oder beim jeweiligen Rechtsmittelgericht geltend zu machen, wobei über den Anspruch innerhalb von vier Monaten zu entscheiden ist und es hiergegen wiederum ein Rechtsmittel gibt.4 Das neue Gesetz diente dem Zweck, in Italien eine nationale Entschädigungsmöglichkeit zu schaffen, um selbständig die Verletzung der überlangen Verfahrensdauer zu kompensieren und so die Belastung des EGMR zu verringern. Hierbei ist es zweifelhaft, ob diese Maßnahme allein ausreicht, da zumindest das Grundübel der langen Verfahren hierdurch nicht angegangen wird.5 Nachdem zwar zunächst der EGMR die Entschädigungsmöglichkeit nach dem „Gesetz Pinto“ als ausreichenden innerstaatlichen Rechtsbehelf, der vor 1  Diese Zusammenstellung wurde aufgrund des ausführlichen, für den Deutschen Bundestag erstellten Gutachtens von Luczak, S. 78–82, 85–88, vorgenommen. 2  Siehe Luczak, S. 78. 3  EGMR im Fall Bottazzi . / . Italien, Urteil vom 28.07.1999, NJW 2000, 934 (934 f.). 4  Siehe Hess, FS Rechberger, S. 211 (216). 5  So auch Oellers-Frahm, FS Ress, S. 1027 (1028 / 1031).



III. Fristsetzungsantrag und Einstellungsmöglichkeit in Österreich243

Erhebung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR gemäß Art. 35 EMRK auszuschöpfen ist, einstufte, nahm er in seiner ersten Entscheidung im Fall Scordino . / . Italien die Beschwerde trotz fehlender Durchführung des nationalen Entschädigungsverfahrens an und stellte fest, dass die italienische Gerichtspraxis aufgrund der zögerlichen Entscheidung in Entschädigungsverfahren aufgrund überlanger Verfahrensdauer und zu niedriger Entschädigungssummen nicht den Anforderungen der Art. 6 und 13 EMRK entspreche.6 In der zweiten Entscheidung im Fall Scordino . / . Italien im Jahr 2006 wies der EGMR nochmals auf eine effektive Umsetzung der Entschädigungsmöglichkeiten. Er stellte heraus, dass ein überlanges Entschädigungsverfahren, eine deutlich zu geringe Entschädigungssumme und eine nicht in angemessener Frist nach der Gewährung ausbezahlte Entschädigung die Effektivität dieses Rechtsbehelfs in Frage stelle und zu einer unzulänglichen Wiedergutmachung führe.7 Der EGMR wies hiermit darauf hin, dass Italien sicherzustellen habe, dass sich die Anwendung der grundsätzlich als effek­ tives Kompensationsinstrument angesehenen Regelungen des Gesetzes im Rahmen der Auslegung der EMRK durch den EGMR halte. Ein Manko der italienischen Regelung stellt sicherlich die rein repressiv wirkende Entschädigungslösung ohne einen innerprozessualen Rechtsbehelf gegen Verfahrensverzögerungen dar, da hierdurch auf die vor allem in Italien bestehende Problematik der zahlreichen überlangen Verfahren nicht direkt eingewirkt wird und die mittelbaren Auswirkungen wohl zu keiner nennenswerten Verfahrensbeschleunigung führen werden.8

III. Fristsetzungsantrag und normierte Einstellungsmöglichkeit in Österreich Ein ganz anderer Weg wurde in Österreich eingeschlagen. Dort ist im allgemeinen Prozessrecht, in § 91 des österreichischen Gerichtsorganisa­ tionsgesetzes (GOG), für alle Verfahren vor ordentlichen Gerichten ein sog. „Fristsetzungsantrag“ enthalten. Hiernach kann jede „Partei“ des gericht­ lichen Verfahrens für den Fall, dass das Gericht mit der Vornahme einer 6  EGMR im Fall Scordino . / . Italien, Urteil vom 27.03.2003, Nr. 36813  / 97 – zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc; siehe hierzu Hess, FS Rechberger, S. 211 (217). 7  EGMR (Große Kammer) im Fall Scordino . / . Italien, Urteil vom 29.03.2006, NJW 2007, 1259 (1265). 8  So auch Hess, FS Rechberger, S. 211 (217); Oellers-Frahm, FS Ress, S. 1027 (1045 f.), appellierte daran, bei der Verbesserung der Auslegung und Anwendung des „Gesetzes Pinto“ nicht das primär zu erreichende Ziel aus den Augen zu verlieren, nämlich die Verkürzung der Verfahrenslaufzeiten.

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G. Rechtsvergleichende Untersuchung

Verfahrenshandlung säumig ist, bei diesem Gericht einen an den übergeordneten Gerichtshof gerichteten Antrag stellen, dem erkennenden Gericht für die Vornahme der säumigen Prozesshandlung eine Frist zu setzen.9 Das erkennende Gericht hat dann die Möglichkeit, die beantragte Verfahrenshandlung innerhalb von vier Wochen vorzunehmen, wodurch sich der Fristsetzungsantrag von Amts wegen erledigt. Problematisch an diesem Instrument ist, dass Anknüpfungspunkt ein bestimmter ausstehender Verfahrensschritt ist und es nicht auf die Verfahrenslänge als solche ankommt. Zudem bestehen für das übergeordnete Gericht keinerlei Sanktionsmöglichkeiten, Hess spricht insoweit davon, dass dem Fristsetzungsantrag deshalb lediglich „Symbolcharakter“ zukomme.10 Dennoch hat ihn der EGMR als effektiven Rechtsbehelf im Sinne des Art. 35 EMRK, der also vor Anrufung des Gerichtshofs erfolglos ausgeschöpft werden muss, eingestuft.11 Mit der Änderung des Strafverfahrensrechts zum 01.01.2008 wurde zudem in § 9 der österreichischen StPO ausdrücklich der Anspruch jedes Beschuldigten auf zügige Verfahrensdurchführung und „Beendigung des Verfahrens innerhalb angemessener Frist“ normiert und diesen mit der Möglichkeit, das Verfahren bei Verfahrensverzögerung auf Antrag des Beschuldigten einzustellen, in § 108 Abs. 1 Nr. 2 der österreichischen StPO flankiert.12 Den Gesetzeserläuterungen ist jedoch zu entnehmen, dass lediglich in Extremfällen, bei denen aufgrund des Gewichts der vorgeworfenen Handlung und dem bisherigen Ermittlungsergebnis eine weitere Konkretisierung des Tatverdachts nicht zu erwarten sei, ein Einstellungsanspruch bestehe.13 Die praktischen Auswirkungen der neuen, im Strafprozessreformgesetz normierten Einstellungsmöglichkeit bei überlanger Verfahrenslänge sind zu vernachlässigen, da entsprechende Extremfälle, die eine solch drastische Auswirkung auf das Verfahren rechtfertigen, selten sind. Da auch der Fristsetzungsantrag, da er nur an bestimmte, ausstehende Verfahrensschritte anknüpft, vielfach bei überlanger Verfahrensdauer nicht zur Anwendung kommen kann, besteht keine ausreichende, generelle Regelung zur Kompensation und zur gerichtlichen Geltendmachung des Verstoßes. 9  § 91 des österreichischen GOG ist abgedruckt bei Hess, FS Rechberger, S. 211 (220 f. Fn.  82). 10  Hess, FS Rechberger, S. 211 (221). 11  Siehe den EGMR im Fall Holzinger . / . Österreich, Urteil vom 30.01.2001, ÖJZ 2001, 478 (479). 12  Das Strafprozessreformgesetz wurde am 23. März 2004 im Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Teil I, S. 1 ff., veröffentlicht. 13  Erläuterungen zum Entwurf eines Strafprozessreformgesetzes, S. 34 und 147, abrufbar unter www.parlament.gv.at / PAKT / VHG / XXII / I / I_00025 / imfname_001986. pdf.



IV. Schadensersatz in Frankreich, Spanien und Portugal245

IV. Schadensersatz in Frankreich, Spanien und Portugal Ein Schadensersatzanspruch bei unangemessen langer Verfahrensdauer ist in den Rechtsordnungen Frankreichs, Spaniens und Portugals enthalten. In Frankreich kennt das französische Gerichtsorganisationsgesetz in Art. 781 für die ordentliche Gerichtsbarkeit einen Schadensersatzanspruch bei mangelhafter Funktionsweise der Justizbehörden, soweit grobe Fahrlässigkeit oder „Justizverweigerung“ vorliegt.14 Eine überlange Verfahrensdauer wird hierbei unter den Begriff der „Justizverweigerung“ subsumiert, so dass es für den Anspruch, der auch immateriellen Schadensersatz umfasst, auf ein Verschulden nicht ankommt.15 Der EGMR anerkannte im Jahr 2002 in seiner Entscheidung im Fall Mifsud . / . Frankreich diese Schadensersatzregelung für die ordentliche Gerichtsbarkeit in Frankreich als effektiven Rechtsbehelf im Sinne des Art. 35 EMRK.16 In der spanischen Verfassung wird neben der allgemeinen Garantie eines Verfahrens ohne Verzögerungen in Art. 24 Abs. 2 begleitend auch in Art. 121 der spanischen Verfassung ein Schadensersatzanspruch u. a. bei Fehlern der Justizverwaltung – worunter auch Verfahrensverzögerungen zu subsumieren sind – verfassungsrechtlich gewährleistet und in §§ 292, 293 des spanischen Gerichtsorganisationsgesetzes näher dahingehend ausgestaltet, dass konkret durch die Unzulänglichkeiten der Justiz verursachte Schäden zu ersetzen sind und der Anspruch an das Justizministerium gestellt werden muss.17 Ähnlich ist auch die Regelung in Portugal, wo nach Art. 22 der portugiesischen Verfassung in Verbindung mit Art. 2 § 1 des Dekrets Nr. 48051 Schadensersatz für ungesetzliches staatliches Handeln, wozu nach ständiger Rechtsprechung auch die überlange Verfahrensdauer zu zählen ist, zu gewähren ist.18 In Spanien und Portugal besteht die Besonderheit, dass zusätzlich zu der repressiven Möglichkeit des Schadensersatzes bereits während des laufenden Verfahrens Beschleunigungsmöglichkeiten vorhanden sind. In Spanien kann eine sogenannte „ampero“ (= Schutzanforderung) zum Verfassungsgericht nach erfolgloser Erhebung von Beschleunigungseingaben beim Ins14  Für den Wortlaut der Vorschrift des Art. 781 des französischen Gerichtsorganisationsgesetzes siehe Hess, FS Rechberger, S. 211 (218). 15  Bien / Guillaumont, EuGRZ 2004, 455 (459 f.). 16  EGMR im Fall Mifsud . / . Frankreich, Urteil vom 11.09.2002, Nr. 57220  / 00, S.  7 f. – zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc. 17  Für den Wortlaut der Vorschriften siehe Paeffgen, StV 2007, 487 (494 Fn. 64 und 65). 18  Vgl. Luczak, S. 78.

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G. Rechtsvergleichende Untersuchung

tanzgericht erhoben werden, mit welcher durch das Verfassungsgericht praktische Maßnahmen zur Beschleunigung, wie beispielsweise eine Fristsetzung oder die Aufhebung einer die Verzögerung auslösende Entscheidung des Instanzgerichts, ergriffen werden können.19 Die portugiesische Strafprozessordnung enthält in den Art. 108 und 109 für Strafverfahren einen spe­ ziellen Rechtsbehelf zur Verfahrensbeschleunigung. Wenn die dort für die einzelnen Verfahrensschritte vorgesehenen, gesetzlichen Fristen überschritten sind, können von allen Verfahrensbeteiligten Anträge auf Beschleunigung des Verfahrens gestellt werden. Diese müssen im Ermittlungsverfahren vom Generalstaatsanwalt und im gerichtlichen Verfahren vom obersten Richterrat jeweils innerhalb von fünf Tagen beschieden werden und können teilweise sogar disziplinarische Maßnahmen zur Beschleunigung auslösen.20 Der EGMR hat sowohl die spanische als auch die portugiesische Regelung als effektiven Rechtsbehelf im Sinne des Art. 35 EMRK eingestuft.21 Vor allem die in beiden Ländern erfolgte Verknüpfung von Rechtsbehelfen zur Beschleunigung des Verfahrens einerseits und zur Entschädigung unangemessen langer Verfahrensdauer andererseits stellt eine weitgehend den Anforderungen des EGMR entsprechende, effektive Umsetzung der Garantien und Rechtsschutzerfordernissen der EMRK dar.

V. Spezielles Abhilfeverfahren in Polen Gesondert zu betrachten, obwohl sie ähnliche Elemente wie in Frankreich, Spanien und Portugal enthält, ist die Regelung in Polen. Nachdem Polen nach Italien das Land mit den meisten Verurteilungen durch den EGMR aufgrund überlanger Verfahren ist und insbesondere durch die Entscheidung im Fall Kudla . / . Polen, in der im Jahr 2000 das Fehlen entsprechender „wirksamer“ Rechtsbehelfe zur Beschleunigung des Verfahrens oder zur Gewährung einer Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer herausgestellt und Polen vom EGMR eindringlich zur Schaffung entsprechender Abhilfe aufgefordert worden war,22 wurde mit Gesetz vom 17.06.2004 für alle Gerichtsverfahren ein spezielles Abhilfeverfahren gegen Verfahrensverzögerungen eingeführt. Dieses wurde explizit an den Anforderungen des Gerichtshofs ausgerichtet und kombiniert präventive wie auch 19  Luczak,

S. 38 und 40. Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679 (2680). 21  Siehe EGMR in den Fällen Gonzales Marin . / . Spanien, Urteil vom 05.10.1999, NJW 2001, 2691 (2692) und Tomé Mota . / . Portugal, Urteil vom 02.12.1999, NJW 2001, 2692 (2693 f.). 22  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2700). 20  Siehe



V. Spezielles Abhilfeverfahren in Polen247

kompensatorische Elemente miteinander.23 Hiernach kann jede Prozesspartei während des laufenden Verfahrens eine überlange Verfahrensdauer mittels einer Beschwerde beim übergeordneten Gericht, das dann innerhalb von zwei Monaten zu entscheiden hat und gegebenenfalls die Verfahrensverzögerung feststellt und verfahrensfördernde Maßnahmen anordnet, rügen. Zudem kann auch eine Entschädigungszahlung zugesprochen werden, die aus dem Budget des betroffenen Gerichts zu bezahlen ist. Dies übt einen gesteigerten Druck auf das mit der Sache befasste Gericht aus, kann jedoch gleichzeitig als Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit angesehen werden, da der Richter gegebenenfalls sachfremde Erwägungen bei seiner Verfahrensgestaltung mit einfließen lässt.24 Der EGMR stuft diese neuen Regelungen in Polen nunmehr als effektiven Rechtsbehelf und ausreichende Entschädigung im Sinne der EMRK ein.25

23  Der ins Englische übersetzte Wortlaut der relevanten Regelungen ist bei ­Luczak, S. 28 f., zu finden. 24  Hess, FS Rechberger, S. 211 (218). 25  EGMR in den Fällen Palka . / . Polen, Urteil vom 11.10.2005, Nr. 49176  / 99 – zitiert nach www. www.echr.coe.int / echr / en / hudoc und Koss . / . Polen, Urteil vom 28.03.2006, Nr.  52495 / 99 – zitiert nach www.echr.coe.int / echr / en / hudoc.

H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren I. Frühere Entwürfe einer Untätigkeitsbeschwerde Nach dem Urteil des EGMR im Fall Kudla . / . Polen im Jahr 2000, worin auch für die deutsche Rechtsordnung die Notwendigkeit zur Schaffung eines entsprechenden Rechtsbehelfs zur Geltendmachung von Konventionsverletzungen, insbesondere solcher aufgrund überlanger Verfahrensdauer, evident wurde,1 sind aufgrund einer entsprechenden Initiative des Bundesjustizministeriums in der Folgezeit unabhängig voneinander zwei Gesetzentwürfe für einen präventiven Rechtsbehelf in Form einer sog. „Untätigkeitsbeschwerde“ entwickelt worden. Diese orientierten sich beide stark am ­öster­reichischen Vorbild des in § 91 des österreichischen Gerichtsorganisa­ tionsgesetzes normierten „Fristsetzungsantrags“.2 Der vom hessischen Jus­tiz­ministerium im Jahr 2003 vorgelegte Entwurf sah vor, einen neuen § 17c GVG einzufügen, wonach bei der Nichtvornahme von für die Durchführung des Verfahrens notwendigen Verfahrenshandlungen durch das Gericht „ohne zureichenden Grund nicht binnen angemessener Frist“ von den Verfahrensbeteiligten eine Untätigkeitsbeschwerde erhoben werden könne, sofern das Verfahren bereits seit mindestens 12 Monaten anhängig ist und wonach das Beschwerdegericht, soweit das Ausgangsgericht nicht abhilft, innerhalb von zwei Monaten nach Vorlage der Akten über die Bestimmung einer Frist zur Vornahme der notwendigen Verfahrenshandlung zu entscheiden habe.3 ­Ähnlich der sich hieran anlehnende Entwurf des Bundesjustizministeriums vom 22.08.2005 für ein „Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren“, der in einem neu einzufügenden § 198 GVG unter allgemeineren Voraussetzungen eine Untätigkeitsbeschwerde normieren wollte, wenn „ein anhängiges Verfahren vor dem Gericht ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist gefördert“

1  EGMR im Fall Kudla . / . Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2694, näheres hierzu siehe oben unter B. III. 3. 2  Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (179 f.). 3  Zum genauen Wortlaut des § 17c GVG nach dem hessischen Entwurf aus dem Jahr 2003 siehe Vorwerk, JZ 2004, 553 (554).



II. Normierte Entschädigungslösung249

werde.4 Auch hier sollte die Beschwerde zunächst beim Ausgangsgericht einzulegen sein, welches dann innerhalb einer Monatsfrist hätte abhelfen oder die Untätigkeitsbeschwerde dem Rechtsmittelgericht vorlegen müssen. Dieses wiederum hätte innerhalb eines Monats über die Begründetheit der Beschwerde zu entscheiden und gegebenenfalls eine Frist zu bestimmen, in welcher das Ausgangsgericht Maßnahmen ergreifen müsse, „die geeignet sind, das Verfahren innerhalb angemessener Frist abzu­schlie­ßen“.5 Beide Gesetzentwürfe, die von Steinbeiß-Winkelmann als sog. „Tu-wasBeschwerden“6 eingestuft wurden, fanden ein eher kritisches Echo. So wurde unter anderem eine vermehrte Arbeitsbelastung der Justiz, die wiederum zu verzögerter Verfahrensdurchführung führe, gesehen. Zudem wurde die Problematik aufgezeigt, dass keine Handhabe bestehe, wenn das Ausgangsgericht die angeordneten Maßnahmen nicht fristgerecht vornehme und zuletzt die richterlich Unabhängigkeit in Gefahr gesehen.7 Die zudem in Frage gestellte Notwendigkeit für einen solchen Rechtsbehelf wurde allerdings vom EGMR in seiner Entscheidung im Fall Sürmeli . / . Deutschland klar bejahend beantwortet. Der Gerichtshof begrüßte die Gesetzesinitiative und sah deshalb von der Erteilung konkreter Hinweise zur Umsetzung seiner Entscheidung ab. Zudem ermutigte er den Gesetzgeber zu einer schnellen Verabschiedung der Regelungen.8 Dennoch gab die Bundesregierung, wohl aufgrund der geäußerten Kritik, die Gesetzesinitiativen Ende 2007 auf und verfolgte sie nicht weiter.9

II. Normierte Entschädigungslösung Aufgrund der sich weiter dramatisierenden Situation von ansteigenden Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR wegen überlanger Verfahren 4  Der Wortlaut des neu einzufügenden § 198 GVG entsprechend dem Gesetzentwurf vom 22.08.2005 ist bei Tiwisina, S. 139, abgedruckt. 5  So Abs. 5 des Entwurfs für einen neu einzufügenden § 198 GVG. 6  Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (180); Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2008, 1783 (1785). 7  Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (180); Tiwisina, S.  140 f.; Vorwerk, JZ 2004, 553 (556) jeweils mit weiteren Nachweisen. 8  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2394). 9  Siehe die Antwort der Bundesregierung vom 28.12.2007 auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der FDP-Fraktion, Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16 / 7655, S. 4; auf einem vom Bundesjustizministerium am 08.10.2007 durchgeführten Symposium war von der Mehrheit der Teilnehmer die Einführung einer Entschädigungslösung gegenüber der Untätigkeitsbeschwerde befürwortet worden, Scholz, DRiZ 2010, 182.

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H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

und den damit verknüpften, zum Teil hohen Entschädigungsverpflichtungen10 war die Problematik weiterhin virulent. Mit Datum vom 15.03.2010 legte das Bundesjustizministerium einen neuen Referentenentwurf zur Schaffung eines „Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ vor, welcher vom Bundeskabinett am 18.08.2010 als Gesetzentwurf beschlossen und in den Bundestag eingebracht worden war.11 Hierdurch sollte insbesondere eine „Rechtsschutzlücke“ geschlossen werden, die sowohl im Hinblick auf die Anforderungen des Grundgesetzes, als auch hinsichtlich der Garantien der EMRK bestehe.12 Dies erfolgte noch bevor der EGMR mit seinem Pilot­ urteil im Fall Rumpf . / . Deutschland13 den besonderen Handlungsbedarf in Deutschland, in dem er in den Verletzungen der Art. 6 und 13 EMRK ein systematisches Problem verortete, feststellte und eine Frist von einem Jahr setzte, in welcher spätestens ein oder mehrere Rechtsbehelfe einzuführen seien, um eine mit der EMRK in Einklang stehende Regelung zu treffen und der Verpflichtung aus Art. 46 EMRK nachzukommen. Der EGMR begrüßte in seiner Entscheidung die jüngste Gesetzesinitiative der Bundesregierung und wies ausdrücklich darauf hin, dass es bisher – trotz der zahlreichen, deutlichen Entscheidungen des EGMR – versäumt worden sei, zur Verbesserung der Situation „irgendwelche Maßnahmen wirksam werden zu lassen“.14 Nach Befassung in verschiedenen Ausschüssen des Deutschen Bundestages, der Einholung zahlreicher Stellungnahmen der beteiligten Berufsgruppen und einer Expertenanhörung im Rahmen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, wurde das Gesetz am 29.09.2011 in einer gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf in wenigen Punkten – wie der Begrenzung des Entschädigungsanspruchs auf eine „angemessene“ Entschädigung, der Regelung seiner Übertragbarkeit nach Rechtkrafterlangung, der Streichung der Möglichkeit der Feststellung der Überlänge im Bundesanzeiger, die als „elektronischer Pranger“ bezeichnet worden war,15 sowie der Aktivlegitimation von Körperschaften, die in einem Gerichtsverfahren Angelegenheiten ihres eigenen Wirkungskreises geltend machen16 – die näheren Ausführungen bei Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205. bei Reich, S. 155 f.; Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren / Steinbeiß-Winkelmann, Anhang 5. 12  Siehe Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 15. 13  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355. 14  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3358). 15  Siehe Steinbeiß / Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207). 16  Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 7217, S. 7 f. 10  Siehe

11  Abgedruckt



II. Normierte Entschädigungslösung251

geänderten Fassung vom Deutschen Bundestag verabschiedet und dem Bundesrat zugeleitet, der dem Gesetz in seiner Sitzung vom 14.10.2011 zustimmte.17 Nach Verkündung im Bundesgesetzblatt trat das Gesetz am 03.12.2011 in Kraft.18 Kernstück der nunmehr gesetzlich normierten Regelung ist ein Entschädigungsanspruch, dem, unter Aufgreifen der Aussage des EGMR, wonach ein vorbeugender Rechtsbehelf absolut betrachtet die beste Lösung sei, als Voraussetzung eine Verzögerungsrüge als Element mit konkret-präventiver Beschleunigungswirkung vorgeschaltet ist.19 Ersetzt werden sollen mithilfe des Anspruchs sowohl materielle als auch immaterielle Nachteile. Zentrale Vorschrift der Neuregelung ist § 198 GVG, der wie folgt formuliert ist: § 198 (1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. (2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. (3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Andernfalls werden sie vom Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge. (4)  Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen 17  Bundesrat,

BR-Drucksache 587 / 11. I, S. 2302. 19  So die Gesetzesbegründung, siehe Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S.  15. 18  BGBl. 2011

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H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind. (5)  Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar. (6) …

In § 199 GVG ist in den Absätzen 1 und 2 die Anwendung der Vorschrift auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und das Strafverfahren geregelt, wobei während des laufenden Ermittlungsverfahrens die Staatsanwaltschaft an die Stelle des Gerichts tritt. Folgende Passage enthält eine insbesondere auf die Vollstreckungslösung des BGH abzielende20 Regelung: § 199 (1) … (3)  Hat ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt, ist dies eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Absatz 2 Satz 2; insoweit findet § 198 Absatz 4 keine Anwendung. Begehrt der Beschuldigte eines Strafverfahrens Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, ist das Entschädigungsgericht hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden.

Zuständiges Gericht für die Klage auf Entschädigung ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde, bei Entschädigungsansprüchen gegen den Bund der Bundesgerichtshof (§ 201 Abs. 1 GVG).21 Aufgrund des Verweises auf die Anwendbarkeit der entsprechenden Vorschriften der ZPO über den erstinstanzlichen Zivilprozess vor den Landgerichten22 ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Zivilsenate des OLG für die Entscheidung über die Entschädigungsansprüche zuständig sind, eine ausdrückliche Zuweisung ist weder im neuen Ge20  Vgl. die Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 24; Sommer, StV 2012, 107 (108) bezeichnet § 199 Abs. 3 GVG sogar als gesetzliche Festschreibung der bisherigen Vollstreckungslösung. 21  Die zunächst in Kraft getretene Fassung des § 201 Abs. 1 GVG, die eine Zuständigkeit des OLG, in dessen Bezirk „die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat“, vorsah, wurde im Zuge des Gesetzes über die Besetzung der großen Strafund Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06.12.2011, BGBl. 2011 I, S. 2554, mit Wirkung zum 01.01.2012 entsprechend abgeändert. 22  Siehe § 201 Abs. 2 GVG.



II. Normierte Entschädigungslösung253

setz enthalten noch der Gesetzesbegründung zu entnehmen.23 Das Gericht kann nach § 201 Abs. 3 GVG das Entschädigungsverfahren aussetzen, solange das Hauptsacheverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Die Gesetzesbegründung weist ausdrücklich darauf hin, dass sich die Einführung dieser neuen Rechtsschutzmöglichkeit eng an die Gegebenheiten und Voraussetzungen des EGMR anlehnt und die bislang von der nationalen Rechtsprechung entwickelten „Rechtsbehelfskonstruktionen“ hinfällig werden sollen, da die neue Entschädigungsregelung das Rechtsschutz­ problem bei überlanger Verfahrensdauer „abschließend lösen soll“.24 Der für das Entstehen dieses verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruchs entscheidende Tatbestand ist die Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Frist gemäß Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. Hierbei sind zur Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer insbesondere Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles und die Bedeutung des Rechtsstreits für die Beteiligten zu berücksichtigen und ist als Bezugspunkt grundsätzlich die Gesamtverfahrensdauer in den Blick zu nehmen.25 Zwingende Voraussetzung für den als staatshaftungsrechlichen Anspruch „sui generis“ bezeichneten Entschädigungsanspruch ist die Erhebung einer Verzögerungsrüge, wobei diese Rügeobliegenheit sowohl präventiv der Verfahrensbeschleunigung („Warnfunktion“ in Richtung des mit der Sache befassten Gerichts) als auch der Missbrauchsabwehr (Ausschluss der Möglichkeit zum „Dulde und Liquidiere“) dienen soll.26 Entsprechend § 198 Abs. 3 S. 2 GVG kann die Verzögerungsrüge erst bei Bestehen eines Anlasses zur Besorgnis, dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer vorliegt, erhoben werden. Wird sie zu früh erhoben, so ist sie als gegenstandslos, d. h. als nicht gestellt zu behandeln,27 eine Wiederholung ist in der Regel erst nach sechs Monaten zulässig, es sei denn es ist „ausnahmsweise“ eine kürzere Frist geboten oder das Verfahren wechselt von der Staatsanwaltschaft zu Gericht oder in eine höhere, gerichtliche Instanz. Im neuen Gesetz ist jedoch eine zwingende Reaktion des Gerichts auf die Verzögerungsrüge nicht vorgesehen, es besteht weder eine gesetzliche Pflicht zu einer förmlichen Entscheidung, noch gibt es eine Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtbeachtung bzw. Nichtabhilfe.28 23  Für eine Zuständigkeit der Zivilsenate der Oberlandesgerichte spricht sich auch Reich, S. 158, aus. 24  Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 16. 25  Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 18. 26  Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 20. 27  Link / van Dorp, Rn. 50. 28  So auch Link / van Dorp, Rn. 51.

254

H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

Ausführlich befasst sich die Gesetzesbegründung mit dem „Strafvollstreckungsmodell“ des BGH zur Kompensation von Verfahrensverzögerungen und befürwortet dieses als ausreichende Wiedergutmachung immaterieller Nachteile im Bereich des Strafverfahrens, womit ein Entschädigungsanspruch im Sinne der Neuregelung gemäß §§ 198, 199 Abs. 3 GVG ausgeschlossen ist. Lediglich in Fällen eines Freispruchs, der Verhängung einer Jugendstrafe, bei der aufgrund des Erziehungsgedankens das Vollstreckungsmodell nicht zur Anwendung kommen kann oder einer von der Verfahrensverzögerung unabhängigen Einstellung des Verfahrens kommt eine entsprechende Entschädigung in Betracht.29 Der Ausschluss gilt auch nicht für über immaterielle Schäden hinaus geltend zu machende, konkrete materielle Nachteile.30 Konkret geltend gemachte Schäden werden nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG „angemessen“, d. h. im Unterschied zur verschuldensabhängigen Haftung nicht vollständig entschädigt.31 Der durch die überlange Verfahrensdauer erlittene, immaterielle Vermögensnachteil wird gemäß § 198 Abs. 2 S. 1 GVG widerlegbar vermutet und – sofern nicht im Wege der Billigkeitskorrektur (§ 198 Abs. 2 S. 4 GVG) erhöht oder herabgesetzt – in Form einer Pauschalentschädigung in Höhe von 1200 € für jedes Jahr der Verzögerung gewährt, was sich ebenfalls an der Rechtsprechung des EGMR orientiert.32 Die neuen Entschädigungsregelungen bei unangemessener Verfahrensdauer lassen insbesondere darüber hinausgehende Amtshaftungsansprüche aus § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, die bei schuldhaften Amtspflichtverletzungen eine vollständige Restitution des dadurch verursachten Schadens gemäß §§ 249  ff. BGB vorsehen, unberührt, zwischen beiden Ansprüchen besteht Anspruchskonkurrenz.33 Trotz § 199 Abs. 3 S. 2 GVG, der hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer die Bindung des Entschädigungsgerichts an Entscheidungen des Strafgerichts vorsieht, ist nach der neuen Entschädigungsregelung nicht ausgeschlossen, dass es zu divergierenden Entscheidungen kommt.34 So betrifft die Entscheidung des Strafgerichts nur den Ange29  Gesetzesbegründung,

Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 24. StV 2012, 107 (108). 31  So die Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 34, die bei der Verabschiedung des Gesetzes Berücksichtigung fand. Die Begrenzung auf eine „angemessene“ Entschädigung wird damit begründet, dass gerade kein Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB gewährt werden soll, was auch durch die Rechtsprechung des EGMR nicht geboten sei. 32  BeckOK-Graf, § 198 GVG Rn. 15; Remus, NJW 2012, 1403 (1409). 33  Althammer / Schäuble, NJW 2012, 1 (5). 34  Dies hatte bereits der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung angemerkt, siehe Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17 / 3802, S.  34. 30  Sommer,



III. Reaktionen auf die gesetzliche Regelung255

klagten, hinsichtlich dessen die Verfahrensverzögerung festgestellt wurde. Hinsichtlich anderer Beschuldigter oder sonstiger Verfahrensbeteiligter tritt jedoch keine Bindungswirkung ein, so dass diese gegebenenfalls Entschädigungsansprüche geltend machen können und die Beurteilung des Vorliegens einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung vom Entschädigungsgericht eigenständig zu prüfen ist und möglicherweise eine divergierende Entscheidung erfolgt.

III. Reaktionen auf die gesetzliche Regelung Während Einigkeit über die grundsätzliche Notwendigkeit einer gesetz­ lichen Normierung bestand, finden sich hinsichtlich der konkret gefundenen Lösung in Form des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren unterschiedliche Bewertungen in der Literatur. Positiv bewertete Steinbeiß-Winkelmann die gefundene Lösung, da hierdurch eine geringere Arbeitsbelastung für die gerichtliche Praxis und eine geringere Auswirkung auf die richterliche Unabhängigkeit erzielt werde gegenüber einer Untätigkeitsbeschwerde. Die Ausgestaltung der Verzögerungsrüge als Obliegenheit biete eine Gelegenheit zur Prozessbeschleunigung, ohne bereits ein anderes Gericht zusätzlich zu belasten. Zudem sei aufgrund der Neuregelung insgesamt eine Abnahme der Verfahren mit überlanger Dauer zu erwarten.35 Nur mit einem Nebensatz reißt sie den Gedanken, ob es durch die neue Entschädigungslösung angezeigt wäre, im Strafverfahren die Vollstreckungslösung zu Gunsten einer auch dort generell zu gewährenden Geldentschädigung aufzugeben, an, ohne diesen weiterzuführen und sich zu positionieren.36 Kritischere Töne werden von Scholz angeschlagen, der durch die Neuregelungen eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit sieht. Zum einen stelle die Verzögerungsrüge an den Richter einen „unseriösen Warnschuss, verbunden mit der Ankündigung, den Dienstherrn auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen“, dar, der unzulässigen Druck aufbaue, zum anderen liege bereits eine Verletzung des Kernbereichs der richterlichen Unabhängigkeit vor, wenn im Rahmen des Entschädigungsverfahrens Feststellungen und Empfehlungen zu konkreten, verfahrensleitenden Maßnahmen getroffen werden.37 35  Steinbeiß-Winkelmann,

ZRP 2010, 205 (208 f.). ZRP 2010, 205 (208). 37  Scholz, DRiZ 2010, 182 (184), der dennoch angibt, dass die Regelungen „in die richtige Richtung“ gehen. 36  Steinbeiß-Winkelmann,

256

H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

Als „dringend geboten“ bezeichnet Reich die gesetzliche Normierung eines „verschuldensunabhängigen Verzögerungskompensationsanspruchs in Geld“ aufgrund der bestehenden Kompensationslücke bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen, dem sie auch hinsichtlich der Höhe der zu gewährenden Regelentschädigung für immaterielle Schäden zustimmt.38 Kritisch steht sie jedoch der Zuständigkeitszuweisung der Entschädigungsklagen an das Oberlandesgericht (Zivilsenat) auch für den Bereich des Strafverfahrens gegenüber und befürwortet hingegen eine umfassende Zuständigkeit der Strafgerichte für die Entschädigung unangemessen langer Verfahrensdauer insgesamt direkt im jeweiligen Strafverfahren (auch bei einem Freispruch bzw. einer sonstigen Nichtverurteilung) kombiniert mit einer Kontrollmöglichkeit entsprechend § 406a StPO durch das übergeordnete Gericht.39 I. Roxin bezweifelt, ob die Entschädigungslösung, die nur auf die nachträgliche Wiedergutmachung abstellt, ohne Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen, weitere Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR verhindere. Die Verzögerungsrüge, die sie mangels rechtlicher Handhabe, auf eine zügigere Verfahrensweise hinzuwirken, als „stumpfes Schwert“ bezeichnet, diene lediglich der Wahrung der Entschädigungsansprüche und nicht der Prävention.40 Sie befürwortet eine Kombination von vorbeugendem und kompensierendem Rechtsbehelf. Dagegen sehen Althammer / Schäuble die Anforderungen des EGMR an eine wirksame Beschwerdemöglichkeit als erfüllt an, wenngleich sie der Gesetzbegründung, die suggeriere, dass die Entschädigungsmöglichkeit mit Verzögerungsrüge eine echte Kombinationslösung aus präventiven und kompensatorischen Elementen enthalte, klar widersprechen. Auch sie hätten sich, anstatt sich „lediglich auf die verhaltenssteuernde Funktion der Verzögerungsrüge zu verlassen“, die Kombination mit einer Untätigkeitsbeschwerde gewünscht.41 Schwierigkeiten sehen sie zunächst bei der Anwendung des neuen Rechtsinstituts aufgrund der Vielzahl der verwendeten, unbestimmten Rechtsbegriffe. Speziell mit den Auswirkungen auf das Strafverfahren und vor allem die Anforderungen an künftiges Verteidigerverhalten befasst sich Sommer in seiner ausführlichen Beleuchtung des neuen Gesetzes, insbesondere des neuen Rechtsinstituts der Verzögerungsrüge. Neben deutlicher Kritik an der gesetzlichen Neuregelung insgesamt („Chance vertan“42) und dem Unver38  Reich,

S. 158. S.  159 f. 40  I. Roxin, StV 2011, Ausgabe 2, Editorial S. I. 41  Althammer / Schäuble, NJW 2012, 1 (7). 42  Sommer, StV 2012, 107 (108). 39  Reich,



III. Reaktionen auf die gesetzliche Regelung257

ständnis, weshalb der Gesetzgeber die Kriterien zur Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht weiter konkretisiert habe, wird aufgezeigt, dass der „innovative Kern“ des Gesetzes in Form der Verzögerungsrüge keine Verbesserung der Effektivität des Rechtsschutzes bringe und keinen aktiven Beitrag zur Beschleunigung von Verfahren leisten könne, sondern der Verteidigung Handlungspflichten aufbürde, die sich auf das Verhalten im Strafprozess auswirken.43 Als Verteidiger habe man nunmehr die „mühsame Pflicht, Verzögerungslöcher penibel zu detektieren und bei den Verursachern anzuzeigen“.44 Sommer sieht aufgrund des nicht immer aktuellen Informationsstandes der Verteidigung eine Problematik in der Bestimmung des richtigen Rügezeitpunktes, um zum einen nicht der Gefahr der verspäteten Rüge zu unterliegen, jedoch auf der anderen Seite keine unsubstantiierten, vorsorglichen Rügen zu erheben. Er hebt als positiv hervor, dass nunmehr ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt bestehe, um mangelnde Zielstrebigkeit der Ermittlungsbehörden bereits während des laufenden Ermittlungsverfahrens anzuprangern.45 Zudem erkennt er in der Konstruktion der Verzögerungsrüge als Obliegenheit die Einstufung der Beschleunigung des Verfahrens als disponibles subjektives Recht des Angeklagten, was entsprechende Konsequenzen in der Verfahrensgestaltung habe, wenn insoweit darauf verzichtet würde (Berücksichtigung bei der Terminierung, Schwierigkeiten bei der Ablehnung seitens der Verteidigung vorgebrachter Aufklärungs­ bemü­hungen).46 Einen bemerkenswerten Schluss zieht Sommer aus der Einführung der Verzögerungsrüge im Hinblick auf die Vollstreckungslösung des BGH. Er vertritt die Auffassung, dass die Rügenotwendigkeit auch auf die Vollstreckungslösung übertragen werden und dort zur Anwendung kommen müsse. Denn wenn eine Entschädigung mangels Erhebung der Verzögerungsrüge ausgeschlossen sei, müsse dies auch für die „ausreichende gerichtliche Wiedergutmachung auf andere Weise“ gelten.47 Er appelliert insoweit an die Verteidiger, dies bei ihrem Verhalten im Strafprozess zu berücksichtigen.

43  Sommer,

StV 2012, 107 (109 f.). StV 2012, 107 (112). 45  Er bezeichnet es als „bemerkenswerten Einschnitt in das bisherige Konzept unüberwachter und unbeobachteter Ermittlungsaktivitäten“ und sieht hierin eine weitere Argumentationshilfe, um bei Abschluss des Ermittlungsverfahrens eine ansonsten „nicht erreichbare Einstellung nach § 153a StPO oder die Beantragung eines Strafbefehls“ zu erreichen, Sommer, StV 2012, 107 (111 f.). 46  Sommer, StV 2012, 107 (110). 47  Sommer, StV 2012, 107 (110), wobei er ausdrücklich angibt, dass sich „für diesen rechtsstaatlichen Rückschritt“ aus den Gesetzesmaterialen keine Anhaltspunkte ergeben. 44  Sommer,

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H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

IV. Eigene Bewertung Das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ setzt einen Schlusspunkt unter die jahrelange Diskussion in der Legislative über die Notwendigkeit eines solchen Rechtsbehelfs überhaupt und seine rechtliche Ausgestaltung. Nachdem zuletzt der EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland48 einen eindringlichen Appell an den deutschen Gesetzgeber gerichtet und eine Frist zur Erledigung gesetzt hatte, kam die entscheidende Bewegung in das Gesetzesvorhaben, so dass es fortan mit einer schon viel früher wünschenswert gewesenen Stringenz verfolgt wurde. Dem nun gefundenen Ergebnis in Form des seit 03.12.2011 in Kraft getretenen Gesetzes ist die deutliche Anlehnung an die Erfordernisse des EGMR anzusehen, was etwas ungewohnt oder gar befremdlich anmutet, jedoch aufgrund der mittlerweile immer stärker gewordenen Einbettung auch der deutschen Rechtsordnung in den europäischen Kontext und damit auch den europäischen Menschenrechtsschutz geboten war. Wenn man die Rechtsprechung des EGMR der letzten Jahre, vor allem im Hinblick auf die in den anderen Konventionsstaaten bestehenden Rechtsbehelfe, heranzieht,49 stellt die Lösung über einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch, der sowohl materielle als auch immaterielle Nachteile ausgleicht, unzweifelhaft eine diesen Anforderungen genügende Regelung dar, dies sowohl in der Hinsicht eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 13 EMRK, als auch als ausreichende Entschädigung einer Verletzung des Anspruchs auf angemessene Verfahrensbeschleunigung nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. Den entsprechend geäußerten Bedenken50 kann nicht zugestimmt werden. Anders als es die Gesetzesbegründung sugge­ riert,51 enthält das neue Gesetz jedoch keine kombinierte Lösung aus einem repressiven und darüber hinaus einem präventiv wirkenden Rechtsbehelf. Zwar wäre vor allem eine Konstellation, die einen vorbeugenden Rechtsbehelf enthält nach Auffassung des EGMR, der diesen als „absolut betrachtet die beste Lösung“52 bezeichnet, wünschenswert.53 Dies ist jedoch nicht 48  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355. 49  Näheres siehe oben unter G. IV. und V. 50  Zweifel an der Billigung durch den EGMR äußerten I. Roxin, StV 2011, Ausgabe 2, Editorial S. I; Sommer, StV 2012, 107 (112). 51  Siehe Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17  / 3802, S. 16; dies bestätigend Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (206), die die Verzögerungsrüge als „zentrales Präventionselement“ bezeichnet. 52  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2390). 53  So auch Brummund, JA 2012, 213 (216).



IV. Eigene Bewertung259

zwingend notwendig, um als effektiver Rechtsbehelf im Sinne des EGMR zu gelten. Die Entschädigungspflicht ist umfassend geregelt und stellt hinsichtlich der Voraussetzungen auf die Kriterien der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ab, wie sie vom EGMR entwickelt worden sind. So können eingetretene Verletzungen des Grundsatzes des fairen Verfahrens bei überlangen (Straf-)Verfahren ausreichend – auch der Höhe des Anspruchs nach – entschädigt werden. Den größten Diskussionsstoff liefert sicherlich die in § 198 Abs. 3 GVG als zwingende tatbestandliche Voraussetzung für die erfolgreiche Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs aufgenommene Verzögerungsrüge, welche im Entschädigungsverfahren von Amts wegen zu prüfen ist.54 Die ihr zugedachte Funktion als Möglichkeit zur präventiven Vorwarnung der das Verfahren verzögernden Instanz (Gericht oder Staatsanwaltschaft), um so eine Beschleunigung zu erzielen, kann jedoch in dieser Form der Rügeobliegenheit nicht erreicht werden. Die Rüge löst keinerlei Rechtswirkung auf das laufende Verfahren aus, sie wird (wenn überhaupt?) zur Kenntnis genommen, ohne dass Maßnahmen zur Beschleunigung ergriffen werden müssen und eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit, beispielsweise in Form einer Beschwerde, besteht. Sie kann sich sogar als kontraproduktiv erweisen, wenn das Gericht nach Erhebung der Rüge erst Recht keine Veranlassung sieht, beschleunigende Maßnahmen zu ergreifen, da in der Regel erst nach weiteren sechs Monaten eine erneute Rüge erhoben werden kann und sonstige Rechtsschutzmöglichkeiten nicht vorhanden sind. Einen konkreten rechtlichen Einfluss übt sie nur im Rahmen des Entschädigungsverfahrens aus. Darüber hinaus kann in dieser Ausgestaltung mit dem Rügeerfordernis nicht mehr als eine Hoffnung verbunden sein, dass sich der Rügeempfänger zumindest „moralisch“ dazu verpflichtet fühlt, etwas zum Vorantreiben des Verfahrens zu unternehmen. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund problematisch, dass sich das Rügeerfordernis im Strafprozess – wie Sommer teilweise zutreffend darstellt55 – auf das Verteidigerverhalten auswirken wird, ohne dort beschleunigende Funktion zu haben. Im Gegenteil wird Verteidigern ein breites Tor geöffnet, um zum einen auf frühzeitige Akteneinsicht bereits im Ermittlungsverfahren hinzuwirken und zum anderen durch die Erhebung von Rügen den normalen Verfahrensablauf zu unterbrechen. Zudem bieten sich neue Verhandlungsoptionen, indem im Rahmen von Verständigungsgesprächen bei der Sanktionsbestimmung (Festlegung der konkreten Strafe oder einer weiteren Verfahrensweise nach §§ 153, 153a StPO) eine unsachgemä54  BeckOK-Graf, 55  Sommer,

§ 198 GVG Rn. 16. StV 2012, 107 (110 ff.).

260

H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

ße Verknüpfung mit der Frage einer möglichen Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erfolgt und hierbei entsprechend Druck über die Androhung der Erhebung einer entsprechenden Rüge aufgebaut oder die Erklärung eines Rügeverzichts in Aussicht gestellt wird. Eine optimale Lösung hätte sicherlich, wie ein Vergleich mit den Regelungen in Spanien, Portugal und Polen zeigt,56 die Kombinierung des Entschädigungsanspruchs mit einer Verzögerungs- oder Untätigkeitsbeschwerde erbracht.57 Eine solche Beschwerdemöglichkeit, wie sie im Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums von 2005 vorgesehen war,58 hätte eine entsprechende Handlungspflicht des betroffenen Gerichts oder zumindest, sofern nicht abgeholfen wird, eine Überprüfungsmöglichkeit durch das Rechtsmittelgericht erbracht, welches bei Bedarf verfahrensbeschleunigende Maßnahmen ergreifen kann. Hierin ist auch keine Gefahr für oder ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit zu sehen. Zwar ist die konkrete Verfahrensleitung grundsätzlich von der richterlichen Unabhängigkeit umfasst, dies findet jedoch dort seine Grenze, wo, wie im Bereich der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, in Menschen- bzw. Grundrechte der am Rechtsstreit Beteiligten eingegriffen wird. Hier dient die Auferlegung einer Überprüfungs- und gegebenenfalls Handlungspflicht für den Richter in erster Linie der Behebung eines menschen- bzw. grundrechtswidrigen Zustandes und muss auch, um effektiv zu sein, bei unrechtmäßiger Verweigerung einer Abhilfe zu einer Einwirkungsmöglichkeit des nächsthöheren Gerichts führen können. Die Vorgaben des Rechtsmittelgerichts müssen jedoch auf die ausstehenden, zwingend notwendigen Verfahrensschritte beschränkt sein. Im Rahmen der tatbestandlichen Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs ist das Anknüpfen an den unbestimmten Rechtsbegriff der Unangemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 GVG, wofür zur weiteren Präzisierung in Satz 2 die wesentlichen Kriterien genannt sind, nicht zu beanstanden und steht vollkommen im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der wiederholt, zuletzt im Fall Rumpf . / . Deutschland, die Angemessenheit der Verfahrensdauer exakt nach denselben Kriterien, nämlich der Schwierigkeit des Falls, dem Verhalten des Angeklagten bzw. Beschuldigten sowie der Bedeutung des Falls für den Betroffenen, bewertet.59 Deshalb wäre auch die Festschreibung einer starren Frist, nach deren Zeit56  Siehe

oben unter G. IV. und V. auch Althammer / Schäuble, NJW 2012, 1 (7); I. Roxin, StV 2011, Aus­gabe 2, Editorial S. I. 58  Siehe oben unter H. I. 59  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355 (3356). 57  So



IV. Eigene Bewertung261

ablauf ein Entschädigungsanspruch entsteht, weder mit dieser Rechtsprechung vereinbar noch sachgerecht, denn hierbei könnten die individuellen Verfahrensabläufe und -gestaltungen nicht entsprechend Berücksichtigung finden. Die Gefahr einer weiteren Verurteilung durch den EGMR wäre vorhanden.60 Zu erörtern ist, bei welchen Gerichten es sachgerecht ist, die Zuständigkeit für die Geltendmachung dieser Entschädigungsansprüche anzusiedeln. Als problematisch wird die Zuständigkeitszuweisung der aus Ermittlungsund Strafverfahren resultierenden Entschädigungsklagen zur Entscheidung an die Zivilsenate der Oberlandesgerichte erachtet. In der Gesetzesbegründung sind hierzu keine Ausführungen enthalten, lediglich dem Referentenentwurf vom 15.03.2010 kann entnommen werden, dass das tragende Argument zumindest für eine Befassung durch die Oberlandesgerichte in der besonderen „Autorität“ dieser Gerichte gesehen werden müsse.61 Darüber hinaus ist eine Befassung der Zivilsenate mit Entschädigungsansprüchen aus dem Strafbereich jedoch nicht sachgerecht. Eine an anderer Stelle gegebene Begründung hätte der Gesetzgeber vielmehr konsequenterweise auch auf die Strafgerichtsbarkeit anwenden sollen. Für Entschädigungsansprüche im Bereich der Fachgerichtsbarkeit belässt er unter entsprechender Anwendbarkeit der neuen Regelungen des GVG die Entscheidungskompetenz ausdrücklich in der jeweiligen Gerichtbarkeit (siehe die Vorschriften der §§ 9 Abs. 2 ArbGG, 202 S. 2 SGG, 173 S. 2 VwGO, 155 S. 2 FGO, 128b PatG62). Zur Begründung wurde angeführt, dass damit am besten sichergestellt sei, dass „über das Tatbestandsmerkmal der Angemessenheit der Verfahrensdauer sachkundig geurteilt wird“63 und die Konsenswirkung „nach innen“ deutlich höher sei, als wenn in einer Entscheidung einer fremden Gerichtsbarkeit die Verfahrensdauer beurteilt werde.64 Überdies ist nicht ersichtlich, weshalb die Zivilsenate der Oberlandesgerichte zwar für arbeits-, verwaltungs- oder finanzgerichtliche Verfahren nicht über die notwendige Sachkunde zur Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer verfügen sollen, eine solche 60  Siehe auch Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207), die zudem bei der Fristenlösung einen „Einladungseffekt“ mit der Gefahr automatischer Entschädigungsklagen nach Überschreiten der jeweiligen Regelzeit und somit eine deutlich zunehmende Belastung der Gerichte sieht. 61  Siehe Referentenentwurf zu § 201 Abs. 1 S. 1 in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren / Steinbeiß-Winkelmann, Anhang 5. 62  Jeweils angefügt durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011, BGBl. 2011 I, S. 2303. 63  Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802, S. 25. 64  Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren  / Steinbeiß-Winkelmann, Teil 1 F. Rn. 322.

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H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

aber für den im Hinblick auf das gesamte Prozessrecht deutlich weniger verwandten Strafprozess besitzen. Die Strafsenate besitzen bereits die notwendige Fachkompetenz insbesondere für die Bewertung einer angemessenen Verfahrensdauer und hinreichenden Beschleunigung von Ermittlungsund Strafverfahren, indem sie originär zuständig sind für anderweitige Entscheidungen, die hiermit im Zusammenhang stehen (hierbei sei insbesondere an die Entscheidungen im Hinblick auf eine über sechs Monate andauernde Untersuchungshaft gemäß § 121 StPO erinnert) und kennen aus eigener Anschauung die besonderen Gegebenheiten des Strafprozesses. Sie sind als deutlich sachnäher zu bezeichnen und können, wie bereits Scholz zur Begründung der Belassung der Zuständigkeit bei den jeweiligen Fachgerichtsbarkeiten anmerkte, das Entschädigungsverfahren effektiver ge­stal­ ten,65 während die Zivilsenate eine für sie zunächst fachfremde Materie bewerten sollen. Man könnte dem entgegnen, dass das Entschädigungsverfahren nach den zivilprozessualen Verfahrensnormen durchzuführen ist und deshalb eine Zuständigkeit des Zivilgerichts sinnvoller wäre. Hiergegen ist jedoch anzuführen, dass dem Strafverfahren die zivilprozessualen Normen zumindest aus dem Bereich der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen mittels Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO) geläufig sind und es für gerechte Entschädigungen wichtiger ist, dass das in der Materie vertraute und damit sachnähere Gericht einen so wichtigen, grund- und menschenrechtsrelevanten Anspruch beurteilt, wofür auch Prozesserfahrung eine gewichtige Rolle spielt. Der zur Umstellung auf die Besonderheiten des Zivilprozesses erforderliche, aber im Gegensatz dazu deutlich geringere Aufwand ist hinzunehmen. Zu erörtern ist der noch weitergehende Vorschlag Reichs, nicht den Strafsenaten der Oberlandesgerichte, sondern den für das jeweilige Verfahren zuständigen Strafgerichten die Zuständigkeitskompetenz zur Entscheidung über die Entschädigungsansprüche aufgrund unangemessen langer Verfahrensdauer, ähnlich der Zuständigkeit für Adhäsionsverfahren oder Ansprüchen nach dem StrEG, zuzuweisen.66 Für beide Positionen können schlagende Argumente angeführt werden. Für eine Zuständigkeitszuweisung an das Gericht der Hauptsache kann der Vergleich zum Adhäsionsverfahren gezogen werden und auch für den Entschädigungsanspruch eine ähnliche Annexkompetenz angenommen werden, was die verfahrensökonomischste Lösung darstellt, da die Kompensation im selben Verfahren erfolgt, ohne dass ein anderes Gericht damit befasst wird. Alternativ kann wiederum die Regelung des § 8 StrEG herangezogen werden, der für die Entschädigungsansprüche aufgrund strafprozessualer Eingriffsmaßnahmen eine generelle Zuständigkeit 65  Scholz, 66  Siehe

DRiZ 2010, 182 (184). Reich, S.  159 f.



IV. Eigene Bewertung263

des Amtsgerichts vorsieht, unabhängig davon, ob es zu einem Strafverfahren (vor welchem Gericht auch immer) kommt, oder das Ermittlungsverfahren letztlich eingestellt wird. Vorzugswürdig ist jedoch eine Zuständigkeit der Strafsenate der Oberlandesgerichte, denn so können einheitliche Entscheidungen im jeweiligen OLG-Bezirk erzielt werden und zudem auch am sachgerechtesten die Verfahrensverzögerungen in den jeweiligen Verfahrensstadien beurteilt werden. Ein Argument kann auch daraus gezogen werden, dass sich die Oberlandesgerichte zumindest im Rahmen der 6-MonatsHaftprüfung gemäß § 122 StPO ebenfalls mit der ausreichenden Beschleunigung von Ermittlungsverfahren befassen müssen und somit die Verfahrensdauer eine bekannte Materie ist. Die Ansiedelung beim jeweiligen Hauptsachegericht, ähnlich dem Adhäsionsverfahren, besticht zwar durch die Verfahrensökonomie, bringt jedoch weitere Probleme mit sich. Schwierig ist es zum einen bei den Verfahren, bei denen eine Verfahrenseinstellung erfolgt und somit ein Gericht nicht befasst wird, die gerichtliche Geltendmachung ungeklärt ist, und zum anderen Schwierigkeiten damit verbunden sind, dass Gerichte vielfach über ihre eigenen Verfahrensunzulänglichkeiten zu entscheiden haben, was eine objektive Bewertung nicht immer gewährleistet. Außerdem kann es die zum Teil bereits sehr umfangreichen Strafverfahren noch weiter aufblähen und zusätzliche Problemfelder eröffnen, die ihrerseits zu Verzögerungen führen, was insbesondere bei Verfahren, die während laufender Vollstreckung von Untersuchungshaft geführt werden, nicht akzeptabel ist. Eine generelle Zuständigkeit der Amtsgerichte ähnlich der Regelung im StrEG ist ebenfalls abzulehnen, da diese Instanz letztlich auch über Verfahrensverzögerungen entscheiden müsste, die in Verfahren höherer Gerichte entstehen, was die Akzeptanz der Entscheidung mindert und dem Sinn des Instanzenzuges nicht gerecht wird. Zudem muss gesehen werden, dass die Regelung des § 8 StrEG daher seinen Sinn bekommt, dass die dort entschädigungsfähigen Strafverfolgungsmaßnahmen aufgrund der Regelung des § 162 StPO auch von den Ermittlungsrichtern der Amtsgerichte angeordnet werden und somit dort die Sachnähe vorhanden ist. Zudem wurde dort auch durch die Anordnung der Grund für die Entschädigung gesetzt. Letztlich ist aufgrund der Bedeutung des Anspruchs vor allem im europäischen Kontext und das daraus verstärkt resultierende Erfordernis zur Erzielung einer möglichst einheitlichen Entschädigungspraxis in Deutschland zwingend eine Zuständigkeit der Oberlandesgerichte erforderlich und eine vom ursprünglichen Verfahren zu trennenden Abwicklung zu bevorzugen, um auch das Ursprungsverfahren nicht zu überfrachten. Die daraus folgende einheitliche Rechtsmittelmöglichkeit in Form der Revision zum Bundesgerichtshof, wie bereits in § 201 Abs. 2 S. 3 GVG enthalten, tritt der Argumentation zudem unterstützend bei. Gegen die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte kann nur angemerkt werden, dass dies natürlich für den einen oder anderen Betroffenen eine psychische Hemmschwelle darstellt, mit ei-

264

H. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

nem solchen Entschädigungsanspruch an ein Obergericht herantreten zu müssen, wo dann naturgemäß darüber hinaus Anwaltszwang besteht. Die von Brummund geäußerte Sorge, die von ihm auf der Rechtsfolgenseite kritisch betrachtete Beschränkung auf die Gewährung lediglich einer „angemessenen“ Entschädigung und die Bezifferung mit einem Fixbetrag führe dazu, dass es aufgrund der schlechten Finanzlage der Länderhaushalte vielfach zu einer schlichten Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ohne zusätzliche Gewährung einer finanziellen Entschädigung komme,67 ist sicherlich berechtigt und muss zu einer genauen Beobachtung der Rechtsanwendung des neuen Gesetzes durch die Gerichte führen. Gerade der vom EGMR betonte Ausnahmecharakter bei sehr geringer Überlänge muss beachtet werden und darf die bloße Feststellung nicht zu einem Regelfall werden lassen. Zuletzt ist noch auf die von Sommer geäußerte Auffassung einzugehen, wonach eine Rügenotwendigkeit nunmehr auch als Voraussetzung für die Anwendung der Vollstreckungslösung, sofern diese weiter Bestand haben soll, gelten müsse.68 Dem ist eine klare Absage zu erteilen. Zum einen kann den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden, dass durch die Neuregelung auf das vom BGH entwickelte Vollstreckungsmodell Einfluss genommen und dieses verändert werden sollte. Allein die Verknüpfung mit der Vollstreckungslösung in § 199 Abs. 3 GVG in Verbindung mit der Gesetzesbegründung ist nicht geeignet, diese vom Gesetzgeber als anderweitige Entschädigungsmöglichkeit qualifizierte Regelung unter die gleichen Voraussetzungen wie die normierte Entschädigung in Geld zu stellen. Dies ist weder sachgerecht noch geboten. Die unangemessene Verfahrensdauer ist ein durch Subsumtion objektiv zu ermittelndes Faktum, welches aufgrund der Regelungen der EMRK und des nationalen Grundgesetzes zu einer Entschädigungspflicht führt. Die im Strafprozess hierfür quasi in Form einer Naturalrestitution gefundene Regelung kann jedoch nicht mit einem zivilrechtlich durchsetzbaren Geldanspruch verglichen und von den Voraussetzungen her vermischt werden. Die Vollstreckungslösung ist ausdrücklich als Entschädigung auf „andere Weise“ eingestuft worden, die nichts mit der Entschädigung nach dem neuen Gesetz zu tun hat, sondern lediglich eine solche unnötig machen kann. Das Erfordernis einer Verzögerungsrüge als Voraussetzung für eine Geltendmachung der Konventionsverletzung im Verfahren wäre ein Fremdkörper im Strafprozess.

67  Brummund,

JA 2012, 213 (216). Sommer, StV 2012, 107 (110); als zweifelhaft eingestuft von BeckOKGraf, § 199 GVG Rn. 11; Graf, NZWiSt 2012, 121 (126). 68  So



V. Vor- und Nachteile der Vollstreckungslösung265

V. Vor- und Nachteile der Vollstreckungslösung im Vergleich zu einem isolierten Entschädigungsanspruch Nach Darstellung und Bewertung des normierten Entschädigungsanspruchs durch das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ ist nun gegenüber zu stellen, welche Vor- und Nachteile demgegenüber die vom Großen Straf­ senat des BGH entwickelte und bislang höchstrichterlich nicht in Zweifel gezogene Vollstreckungslösung besitzt. Als großer Vorteil der Vollstreckungslösung ist einzustufen, dass die Entschädigung für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im selben Verfahren und somit durch das Gericht mit der größten Sachnähe erfolgt und deshalb keine weiteren Prozesse und damit auch keine weitere Verfahrensdauer notwendig sind. Es kann direkt auf die Konventionsverletzung reagiert werden und der Betroffene erhält eine vielfach deutlich spürbare Entschädigung durch die Reduzierung der ihn faktisch treffenden Sanktion. Hierzu im Gegensatz stehen die zahlreichen Nachteile des Vollstreckungsmodells, wovon zuerst die große, verbleibende Kompensationslücke in den Fällen des Freispruchs, der erzieherisch abzulehnenden Vollstreckungsanrechnung bei Jugendstrafen und der Einstellung des Ermittlungsverfahrens anzuführen ist, sowie die mangelnde Vereinbarkeit mit der EMRK und der Dogmatik des nationalen Strafrechts. Insbesondere ist zudem die Abhängigkeit der Kompensation vom Ausspruch einer Strafe und deren konkreten Höhe abzulehnen. Die ausgesprochene Strafe in ihrer spezialpräventiven Funktion verliert einen Teil ihrer Wirkung. Deshalb ist der isolierte Entschädigungsanspruch vorzugswürdig, da er den Vorgaben der EMRK (und des EGMR) entspricht und eine vollumfassende Kompensationsmöglichkeit für alle denkbaren Verfahrenskonstellationen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bietet. Der zusätzliche Aufwand eines eigenständigen Entschädigungsverfahrens ist hierbei in Kauf zu nehmen.

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung der Vollstreckungslösung Nachdem nun das Vollstreckungsmodell als Entschädigungslösung für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen dargestellt und seine Schwachstellen aufgezeigt wurden, darüber hinaus mögliche, weitere Anwendungsbereiche der Vollstreckungslösung sowie die Kompensationsmodelle in anderen europäischen Staaten und zuletzt die in Deutschland neu entwickelte gesetzliche Lösung ausführlich erörtert worden sind, wird im Folgenden geprüft, welche alternativen Lösungsmöglichkeiten zur hinreichenden Entschädigung überlanger Verfahrensdauer in Betracht kommen bzw. in der Literatur diskutiert werden. Abschließend erfolgt eine Erörterung, in wie weit sich das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf die Vollstreckungslösung auswirkt und gegebenenfalls deren Existenzberechtigung berührt.

I. Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 Abs. 1 BGB In der verzögerten Durchführung des strafrechtlichen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahrens durch die Strafverfolgungsbehörden oder Strafgerichte könnte eine Amtspflichtverletzung zu sehen sein, die eine Entschädigungspflicht aufgrund eines Amtshaftungsanspruchs gemäß § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG nach sich zieht. Problematisch ist hierbei zunächst, dass ein Verschulden hinsichtlich des amtspflichtswidrigen Verhaltens vorliegen muss. Dies ist vielfach bezüglich der die Ermittlungs- bzw. Strafverfahren betreibenden Amtspersonen, d. h. Staatsanwälte oder Richter, schwerlich nachzuweisen, so dass alternativ an ein Organisationsverschulden des Gesetzgebers aufgrund der mangelhaften personellen Ausstattung der Justiz zu denken ist.1 Entgegen der Auffassung von Broß2 ist die Pflicht zur angemessenen Personalausstattung eine Pflicht, die nicht nur gegenüber der 1  Siehe hierzu insbesondere Kraatz, JR 2006, 403 (407), sowie JR 2008, 189 (192), zuletzt mit Verweis auf das Urteil des BGH vom 11.01.2007, NJW 2007, 830, worin eine schadensersatzpflichtige Amtspflichtverletzung in der zögerlichen Bearbeitung von Eintragungsanträgen einer Sparkasse durch das Grundbuchamt aufgrund eines Organisationsmangels der Justizbehörden des beklagten Landes festgestellt wurde und dem Kläger der Ersatz der entstandenen Zinsschäden zugesprochen wurde. 2  Broß, StraFo 2009, 10 (14).



I. Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 Abs. 1 BGB267

Allgemeinheit, sondern auch gegenüber dem geschädigten Dritten besteht, da hierdurch das Interesse des Rechtssuchenden geschützt wird und gleichzeitig die Einhaltung von Konventionsnormen der EMRK gesichert werden soll, die insoweit im Bereich des Art. 6 EMKR individualschützend sind.3 Entgegen der Auffassung Schefflers4 greift das Spruchrichterprivileg nicht nur bei bewusster Verzögerung nicht, sondern ist gemäß dem Gesetzeswortlaut des § 839 Abs. 2 S. 2 BGB bei jeder pflichtwidrigen Verweigerung oder Verzögerung des Rechtsstreits ausgeschlossen.5 Durch den Schadensersatzanspruch des § 839 BGB kann jedoch nur ein tatsächlich eingetretener Schaden, beziehungsweise über § 253 Abs. 2 BGB ein immaterieller Schaden bei einer eingetretenen Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit geltend gemacht werden. Im Fall einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung wird regelmäßig weder ein Eingriff in die Freiheit noch eine Körperverletzung vorliegen. Allerhöchstens kann eine körperliche Beeinträchtigung bzw. eine Beeinträchtigung der Gesundheit bei Vorliegen einer nervlichen Belastung durch die lange Verfahrensdauer anzunehmen sein, die dann zu einer Entschädigungspflicht führen kann.6 Dies ist jedoch nicht in allen Fällen zwingend gegeben, zudem muss dies dann im Amtshaftungsverfahren vom Betroffenen nachgewiesen werden. Er erhält dann lediglich wegen der entsprechenden körperlichen Auswirkungen und betragsmäßig hiervon abhängig eine Entschädigung zugesprochen, die sich nur indirekt am Grad der Konventions- bzw. Rechtsstaatswidrigkeit orientiert. Eine solche Lösung ist jedoch abzulehnen, da sich die Voraussetzungen eines solchen Amtshaftungsanspruches nicht mit den konventionsrechtlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung decken und somit wiederum, aufgrund der engeren Anspruchsvoraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs, Entschädigungslücken verbleiben. Zudem geht die Intention des § 839 BGB, der von einer tatsächlich eingetretenen Schädigung oder Verletzung eines der genannten Rechtsgüter ausgeht, in eine andere Richtung als der Entschädigungsanspruch der EMRK, der ein konventionsrechtlich relevantes Fehlverhalten ahnden möchte und welchem eine Genugtuungsfunktion zukommt. Hierfür ist für die menschenrechtswidrige Verfahrensverzögerung ein von tatsächlichen körper­ lichen Auswirkungen unabhängiger Entschädigungsanspruch notwendig.7 3  Kraatz,

JR 2008, 189 (192); Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1973). S. 264. 5  Broß, StraFo 2009, 10 (14); Kraatz, JR 2006, 403 (407); Palandt  /  Sprau, § 839 Rn. 67. 6  Kraatz, JR 2008, 189 (192). 7  So auch Kraatz, JR 2008, 189 (192). 4  Scheffler,

268

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

II. Entschädigung analog StrEG Alternativ in Betracht zu ziehen ist die Gewährung einer Entschädigung analog dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG). Entsprechendes war vom BGH selbst zunächst für die Entschädigung von Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ins Spiel gebracht worden,8 bevor der Große Strafsenat dem in kargen, aber deutlichen Worten („Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter.“9) eine Abfuhr erteilte. Auch in der Literatur wurde dieser Lösungsweg bereits zuvor diskutiert.10 Tatsächlich ist die analoge Anwendung dieser Entschädigungsregelungen nicht ganz fernliegend, steht auch dort der Entschädigungsgedanke für einen vom Betroffenen zu duldenden Eingriff der Strafverfolgungsbehörden im Vordergrund. Scheffler bevorzugt ebenfalls die Heranziehung der §§ 1 und 2 StrEG gegenüber einem Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, da eher ein symbolischer Ausgleich mit „Genugtuungsfunktion“ erfolgen müsse.11 Doch über die Vergleichbarkeit der reinen Rechtsfolge in Form einer Entschädigung hinaus, bestehen hinsichtlich der vom Betroffenen erlittenen Rechtseinbuße keinerlei Überschneidungen. Im Rahmen der Entschädigung nach dem StrEG liegt eine rechtmäßig durchgeführte, strafprozessuale Maßnahme vor, die den Betroffenen in seiner Freiheits- oder Eigentumsfreiheit berührt und welche dieser zunächst zu dulden hat. Stellt sich nach Abschluss des Verfahrens seine Unschuld heraus, kann er nach den §§ 1, 2 StrEG Entschädigung hierfür verlangen, im Fall der Verbüßung von Untersuchungshaft durch einen ­pauschalierten Betrag je Hafttag. Anders stellt sich die Situation bei einer entschädigungspflichtigen Verfahrensüberlänge dar. Hier besteht die Kompensationspflicht gerade aufgrund der Menschenrechts- bzw. Rechtsstaatswidrigkeit der langen Verfahrensdauer, die gerade nicht vom Betroffenen hinzunehmen und zu dulden ist. Die Ausgangslange der beiden Entschädigungstatbestände ist somit eine völlig andere. Zudem ist das StrEG ein in sich geschlossenes Regelungssystem, welches in sachlicher, räumlicher, persönlicher und zeitlicher Hinsicht auf „Strafverfolgungsmaßnahmen im engsten Sinn“ begrenzt ist.12 Insbesondere wird auch eine Analogie auf Ordnungsstrafen oder präventivpolizeiliches Handeln, z. B. in Form von Ingewahrsamnahmen, die den entschädigungsfähigen strafprozessualen Er8  Siehe

BGH, Urteil vom 25.09.2007, NJW 2008, 307 (310). Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (140) = NJW 2008, 860 (864). 10  Kühne, EuGRZ 1983, 382 (383); Scheffler, S.  267 f. 11  Scheffler, ZIS 2008, 269 (278). 12  Meyer, StrEG, Einleitung Rn. 34. 9  BGH,



III. Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch269

mittlungsmaßnahmen eher ähneln, als unzulässig abgelehnt.13 Erst recht ist daher eine analoge Anwendung zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen mangels Vergleichbarkeit der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung abzulehnen.14

III. Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch Als weitere Alternative ist der von Volkmer15 favorisierte Vorschlag des Staatshaftungsanspruchs bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung in Form eines öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs zu erörtern. Dass hier eine öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage heranzuziehen sein könnte, ist nicht fernliegend, denn es handelt um Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte im Rahmen ihres hoheitlichen Handelns, die zu einer Entschädigungspflicht führen. Selbst der Große Strafsenat des BGH spricht in seiner Entscheidung zur Vollstreckungslösung davon, dass durch die Kompensation für die überlange Verfahrensdauer „eine Art Staatshaftungsanspruch“16 erfüllt werde. Hierbei ist sicherlich der öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch das naheliegende Rechtsinstitut des Staatshaftungsrechts. In der dogmatischen Herleitung bestehen auch durchaus entsprechende Parallelen zwischen dem Folgenbeseitigungsanspruch und der Entschädigungspflicht für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen. Beide fußen sowohl auf den Grundrechten (insbesondere Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip als auch auf dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns aus Art. 20 Abs. 3 GG,17 da bei nicht rechtmäßigen Rechtseingriffen durch die Hoheitsträger beim Betroffenen eine Wiedergutmachungspflicht besteht.18 Doch bereits bei den Anspruchsvoraussetzungen bestehen Differenzen, die eine Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs zweifelhaft machen. Zwar ist unstreitig auch bei Meyer, StrEG, Einleitung Rn. 39, mit weiteren Nachweisen. Ergebnis her zustimmend Kraatz, der zur Begründung lediglich anführt, dass Entschädigungsansprüche nach dem StrEG nur bei rechtmäßigen Maßnahmen gewährt werden können, JR 2006, 403 (407). 15  Volkmer, NStZ 2008, 608. 16  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (138) = NJW 2008, 860 (864). 17  Volkmer, NStZ 2008, 608 (610). 18  Hierbei ist der im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch mittlerweile herrschenden Meinung zu folgen, dass das hoheitliche Handeln keine Verwaltungsaktsqualität besitzen muss, sondern schlich hoheitliches Handeln ausreicht, siehe Volkmer, NStZ 2008, 608 (610) mit entsprechenden Nachweisen in Fn. 12. 13  Vgl.

14  Vom

270

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein hoheitlicher Eingriff in eine menschen- und grundrechtlich geschützte Rechtsposition festzustellen. Jedoch liegt in dem bei einer Verfahrensüberlänge vorwerfbaren Verhalten ein pflichtwidriges Unterlassen des Betreibens des Verfahrens in einer angemessenen Zeitspanne seitens der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte vor. In der verwaltungsrechtlichen Literatur wird insbesondere von Schoch vertreten, dass der Folgenbeseitigungsanspruch im Unterlassungsfall bereits begrifflich ausgeschlossen sei, da nur schwerlich festgestellt werden könne, welcher Zustand ohne das pflichtwidrige Unterlassen bestehen würde („da es beim behördlichen Unterlassen nichts gibt, das wiederherzustellen wäre“) und darüber hinaus durch ein Unterlassen ein Rechtsstatus nicht beeinträchtigt werden könne.19 Insbesondere im Rahmen der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung sind diese Argumente tragend und in Verbindung mit dem Anspruchsinhalt des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs, der auf die Wiederherstellung des ohne den maßgeblichen Rechtseingriff bestehenden Zustandes ausgerichtet ist,20 zeigt sich deutlich, dass dieses Rechtsinstitut nicht zur Kompensation von Menschenrechts- und Konventionsverstößen gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK geeignet ist. Die Intention des Entschädigungsanspruchs der EMRK zielt zunächst auf die Beendigung des menschenrechts- bzw. konventionswidrigen Zustandes ab sowie auf Entschädigung für die erlittene Konventionsverletzung. Bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung wäre es bereits faktisch ausgeschlossen und somit unmöglich, die Wiederherstellung des Zustandes ohne Eintritt der Verfahrensüberlänge anzustreben. Entgegen der Auffassung Volkmers21 ist somit insoweit gerade kein Gleichlauf von Folgenbeseitigungsanspruch, der auf die Wiederherstellung des status quo ante abzielt, und dem Verzögerungskompensationsanspruch festzustellen. Seine weiteren Ausführungen, dass es gerade die strafgleichen Belastungen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind, für die Wiedergutmachung geleistet werden soll, gehen fehl, da es sich bei der Kompensation um die Entschädigung für erlittenes Verfahrensunbill handelt, dem allein keine strafähnliche Wirkung zukommt. Der Entschädigung kommt vielmehr eine Genugtuungsfunktion zu, weshalb auch vom EGMR anerkannt ist, dass in Fällen geringer Verzögerung auch die bloße Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit zur Kompensation ausreichen kann, was ebenfalls mit dem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch nicht in Einklang zu bringen ist.22 19  Schoch,

Jura 1993, 478 (482). NStZ 2008, 608 (611). 21  Volkmer, NStZ 2008, 608 (611). 22  Die von Volkmer, NStZ 2008, 608 (612 f.), hierzu entwickelte Lösung, dass die bloße Feststellung des rechtsstaatswidrigen Vorgehens zwar weder kompensato20  Volkmer,



IV. Eigenständiger, gesetzlich normierter Strafmilderungsgrund271

Auch ein Hilfskonstrukt über die bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen regelmäßig vorliegende Unmöglichkeit der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes mit der Folge der Gewährung einer Entschädigung in Geld mag zwar vom Ergebnis her gedacht für eine Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs sprechen. Dem stehen jedoch die aufgezeigten dogmatischen Wesensverschiedenheiten in den Anspruchsvoraussetzungen und die Zielrichtungen der Ansprüche entgegen.23 Ein weiteres, ganz wesentliches Argument gegen die Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs ist auch der hierfür gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO zu beschreitende Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten. Dieser Gerichtszweig müsste sich regelmäßig mit der völlig fachfremden Materie der hinreichend beschleunigten Betreibung von strafrechtlichen Ermittlungs- und strafprozessualen Gerichtsverfahren befassen, worunter auch die Entscheidungsakzeptanz sowohl bei den betroffenen Beschuldigten und Angeklagten als auch den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten leiden würde. Vor allem aber können die prozessualen Besonderheiten und Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren deutlich kompetenter durch Strafgerichte beurteilt werden. Aus alldem folgt, dass eine Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs zur Entschädigung für konventionswidrige Verfahrensüberlänge weder dogmatisch begründbar noch sachgerecht und somit abzulehnen ist.

IV. Eigenständiger, gesetzlich normierter Strafmilderungsgrund Noch zu Zeiten der Strafzumessungslösung wurde insbesondere von Kraatz, der die damalige Praxis der Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung aufgrund der fehlenden gesetzlichen Grundlage „dogmatisch als äußerst zweifelhaft“ bezeichnete, die Normierung eines obligatorischen, schuldunabhängigen Strafmilderungsgrundes bei einer gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verstoßenden Verfahrensverzögerung vorgeschlagen.24 Wenngleich die damalige Formurischen noch restitutiven Charakter besitze, jedoch zur Vermeidung erneuter Verfahrensverzögerungen dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Betroffenen Geltung verschaffe, vermag nicht zu überzeugen. 23  Zudem ist der von Volkmer, NStZ 2008, 608 (613), verfolgte Ansatz der analogen Anwendung der Regelung des § 7 Abs. 3 StrEG verfehlt, da gerade keine Freiheitsentziehung vorliegt und somit die dort normierte, pauschale Entschädigungshöhe von 25 € pro Tag der Verfahrensüberlänge deutlich zu hoch ausfallen würde. 24  Kraatz, JR 2006, 403 (408).

272

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

lierung bereits aufgrund ihres einschränkenden Wortlauts, der nur die durch die Verzögerung entstandenen materiellen wie immateriellen Schäden als bei der Strafzumessung berücksichtigungsfähig ansah, nicht mit den konventionsrechtlichen Voraussetzungen, die eine Entschädigung losgelöst von Fragen der Schuld und eines konkreten Schadenseintritts erfordern, in Einklang zu bringen war, so wäre auch ansonsten eine weitergehende gesetz­ liche Normierung eines Strafmilderungsgrundes der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zur hinreichenden Entschädigung ungeeignet, da das „ob“ und das „wie“ einer Kompensation von der strafgerichtlichen Verurteilung abhängt und somit in vielen Fällen ein Entschädigung nicht oder – insbesondere bei gesetzlichen Mindeststrafen – nicht in hinreichender Höhe erfolgen kann. Auf die weiteren Ausführungen hierzu oben unter E. VI. 3., die hier gleichsam gelten, kann verwiesen werden.

V. Eigenständiger Entschädigungsanspruch losgelöst von Strafzumessung und Strafvollstreckung Weder die Strafzumessungs- noch die Vollstreckungslösung sind zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen im Strafprozess geeignet, da sie eine Verknüpfung zwischen der Entschädigung für menschen- und grundrechtswidriges Verhalten und der konkreten Strafbemessung herstellen, die so nicht sachgerecht ist und zudem, wie bereits ausgeführt, zahlreiche Entschädigungslücken erzeugt. Außerdem ist hierin, wie die Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR, zuletzt im Fall Rumpf . / . Deutschland,25 zeigen, kein ausreichender Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK zu sehen. Deshalb muss eine Lösung losgelöst von Fragen der Strafzumessung, Schuld und Vollstreckungsanrechnung gefunden werden, wofür sich ein eigenständiger Entschädigungsanspruch, der gesetzlich normiert ist und vom Grundgedanken her ja auch im neuen Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren enthalten ist, anbietet. Der Anspruch muss die Kriterien des EGMR zur Feststellung des Vorliegens einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu Grunde legen und als Rechtsfolge eine pauschalierte Entschädigungssumme vorsehen, da es nur auf die Wiedergutmachung für das erlittene Verfahrensunrecht und nicht auf die durch die lange Verfahrensdauer beim Betroffenen entstandenen Belastungen ankommt. Letztere sind weiterhin von der Rechtsstaatswidrigkeit zu unterscheiden und bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Deshalb ist auch die zuzusprechende Entschädigungssumme von der Höhe her allein darauf zu beschränken 25  EGMR im Fall Rumpf . / . Deutschland, Urteil vom 02.09.2010, NJW 2010, 3355.



V. Eigenständiger Entschädigungsanspruch273

und nicht zur Entschädigung für die Verfahrensdauer insgesamt heranzuziehen. Von der Idee her ist dem von Volkmer gemachten Vorschlag der analogen Anwendung des § 7 Abs. 3 StrEG26 zuzustimmen, soweit es sich um eine pauschalierte Summe je Zeitverzögerungseinheit handelt. Jedoch muss die Höhe deutlich unter dem Betrag des § 7 Abs. 3 StrEG, der als Entschädigung 25 € für jeweils einen Tag Freiheitsentziehung festlegt, liegen. Zudem ist die Maßeinheit nicht tageweise, sondern für jeweils einen Monat rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung anzusetzen, da die Verfahrensüberlänge nicht taggenau bestimmbar, sondern im Zweifel durch Aufrundung in ganzen Monaten festzustellen ist. Angemessen ist m. E. ein Betrag von 100 € je Monat rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung. Dies ist mehr als nur ein symbolischer Betrag, der beim Betroffenen für ausreichende Genugtuung sorgt und sowohl mit den vom EGMR zugesprochenen Entschädigungssummen in Einklang steht als auch vergleichbar ist mit dem Regelbetrag des neuen Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, wo in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG ein Entschädigungsbetrag von 1200 € pro Jahr der Verfahrensüberlänge vorgesehen ist.27 Als Ideallösung ist sicherlich, wie es auch der EGMR festgestellt hat,28 eine Kombination aus kompensatorischem und vorbeugendem Rechtsbehelf einzustufen, so dass neben einem Entschädigungsanspruch über einen Rechtsbehelf nachzudenken ist, der bereits während des verzögerten Verfahrens eingelegt werden kann und eine Möglichkeit zur Verfahrensbeschleunigung bietet. Der allgemeine Entschädigungsanspruch könnte durch die bereits in der frühen Vorbereitung des neuen Gesetzes diskutierte Untätigkeitsbeschwerde29 flankiert werden. Diese ist zur Geltendmachung der Verzögerung beim Ausgangsgericht einzulegen, welches innerhalb einer bestimmten Frist, die maximal einen Monat betragen darf, über eine Abhilfe zu entscheiden hat oder die Beschwerde ansonsten dem Rechtsmittelgericht vorlegt, welches ebenfalls fristgebunden bei tatsächlichem Vorliegen einer Verfahrensverzögerung dem Ausgangsgericht geeignete Maßnahme auferlegen muss, um eine weitere Verzögerung des Verfahrens zu verhindern. 26  Volkmer,

NStZ 2008, 608 (613). ursprünglichen Referentenentwurf des Bundesjustizministerium war ebenfalls eine Pauschale in Monatssätzen zu je 100 € enthalten, die jedoch im weiteren Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens zu Unrecht als „zu kleinteilig“ gerügt und deshalb geändert wurde, siehe Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren / Steinbeiß-Winkelmann, Teil 1 F. Rn. 318. 28  EGMR im Fall Sürmeli . / . Deutschland, Urteil vom 08.06.2006, NJW 2006, 2389 (2390). 29  Siehe oben unter H. I. 27  Im

274

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

Hingegen ist die im Zuge des neuen Gesetzes in § 198 Abs. 3 GVG normierte Verzögerungsrüge als Voraussetzung für die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs als problematisch anzusehen. Eher unwesentlich ist hierbei, dass dieser Rechtsbehelf nur bedingt vorbeugende Wirkung besitzt. Viel wesentlicher ist, dass trotz des Vorliegens einer kompensationspflichtigen Verletzung des Beschleunigungsgebots ein Entschädigungsanspruch dann ausscheidet, wenn die Verzögerungsrüge nicht erhoben worden ist. Diese weitere Anspruchsvoraussetzung ist nicht mit der EMRK, auch in Verbindung mit ihrer Auslegung durch den EGMR, vereinbar, da sie dort so nicht vorgesehen ist. Hierdurch werden die Konventions- und Menschenrechte ohne zwingendes Bedürfnis relativiert. Weitere Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR in den Fällen, in denen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, jedoch eine Kompensation aufgrund der mangelnden Erhebung der Verzögerungsrüge ausscheidet, sind zu erwarten. Es ist deshalb dringend geboten, die Verzögerungsrüge als Anspruchsvoraussetzung zu eliminieren. Zuletzt ist, wie oben bereits ausführlich erörtert,30 festzustellen, dass es sachgerecht wäre, eine Zuständigkeitszuweisung der Entschädigungsansprüche für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen während des strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens zu den Strafsenaten der Oberlandesgerichte vorzunehmen. Im Rahmen der Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs muss es dem Gericht jedoch möglich sein, entsprechend der Rechtsprechung des EGMR,31 in Ausnahmefällen der nur geringen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aufgrund eigenen Ermessens von der Festsetzung einer finanziellen Entschädigung abzusehen und lediglich die Verletzung des Beschleunigungsgebots festzusetzen, was dann zur Kompensation der Konventionsverletzung ausreicht. Dieses Ansinnen entspricht im Übrigen der neuen gesetzlichen Normierung in § 198 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1 GVG des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren.

VI. Vollstreckungslösung nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Durch das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 03.12.2011 wurde dem Grunde nach ein isolierter Entschädigungsanspruch normiert. In § 199 30  Siehe

oben unter H. IV. hierzu siehe oben unter B. III. 5.

31  Näheres



VI. Vollstreckungslösung bei überlangen Gerichtsverfahren275

Abs. 3 GVG ist jedoch ausdrücklich aufgenommen worden, dass eine anderweitige Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung durch die Staatsanwaltschaft und das Strafgericht im Rahmen des Verfahrens weiterhin zugelassen ist und dies insoweit zur ausreichenden Wiedergutmachung der ­immateriellen Nachteile auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 S. 2 GVG ausreichen kann, so dass ein Entschädigungsanspruch nach der neuen Regelung ausgeschlossen ist bzw. nicht besteht. Sommer ist zu widersprechen, der § 199 Abs. 3 GVG als gesetzliche Festschreibung der Vollstreckungslösung bezeichnet.32 Dies liegt gerade nicht vor, obwohl nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Gesetzgeber bei dieser Regelung ausdrücklich auf die Vollstreckungslösung des BGH Bezug genommen hat, diese billigte und ihre Fortgeltung erreichen wollte.33 Jedoch sieht § 199 Abs. 3 GVG keine bestimmte Form der Kompensation im Ermittlungs- und Strafverfahren vor, so dass die Norm grundsätzlich offen ist für Änderungen in der Rechtsprechung.34 Es ist nun zu prüfen, ob eine solche gesetzliche Konstruktion sachgerecht ist und darüber hinaus, ob der durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren neu normierte Entschädigungsanspruch Auswirkungen auf die Vollstreckungslösung haben muss. Es besteht die regelrecht als abstrus zu bezeichnende Situation, dass sich der Gesetzgeber in der gesetzlichen Regelung an Richterrecht orientiert und für dieses eine Art „Öffnungsklausel“ aufgenommen hat, die zu einem Anspruchsausschluss führen kann. Um die Kritik auf die Spitze zu treiben, muss darauf hingewiesen werden, dass die vom Gesetzgeber in Bezug genommene Vollstreckungslösung gerade wegen des Fehlens einer gesetz­ lichen Anspruchsgrundlage entwickelt worden ist. Der Gesetzgeber wird hiermit seiner Aufgabe nicht gerecht, indem er seine Kompetenz zur Normsetzung auf die Rechtsprechung abwälzt und im Strafbereich nur eine Art Auffanganspruch schafft. Damit kommt er seiner ureigenen Aufgabe nicht nach, die wesentlichen Regelungen selbst zu treffen. Er nimmt sehenden Auges hin, dass die Rechtsprechung zum Ersatzgesetzgeber wird mit dem Nachteil, dass die Entscheidungen keine verlässlichen Parameter darstellen, auf die sich Betroffene in anderen Verfahren und für künftige Verfahrensverzögerungen ohne weiteres verlassen können. Es besteht auch keine Notwendigkeit, die vom Gesetzgeber allgemein richtigerweise als notwendig 32  Sommer, 33  Siehe

StV 2012, 107 (108). die Gesetzesbegründung, Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17 / 3802,

S. 24. 34  So auch Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren  / Ott, Teil 2 A. § 199 GVG Rn. 26.

276

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

erachtete Normierung eines Entschädigungsanspruchs wegen der Verletzung des Beschleunigungsgebots gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK im Bereich des Strafverfahrens im Hinblick auf dortige, eigenständige Kompensationsmöglichkeiten einzuschränken, zumal die Vollstreckungslösung des BGH nur einen kleinen Teilbereich der entschädigungspflichtigen Fälle erfasst und darüber hinaus Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der EMRK und den nationalen, deutschen Regelungen bestehen. Allein die Sachnähe und die verfahrensökonomische Berücksichtigung im selben Prozess vermögen dies nicht zu rechtfertigen. Darüber hinaus ergibt sich aus der nunmehr erfolgten Normierung einer Kompensationsmöglichkeit in Form des Geldentschädigungsanspruchs das Problem, dass hierdurch dem Beschluss des Großen Strafsenats des BGH vom 17.01.2008 zur Vollstreckungslösung die Grundlage entzogen wird, auf der die Entscheidung fußt. Tragende Argumente für die Vollstreckungslösung waren, dass, „solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, […] die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen [aus einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung] zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen“35 seien und hinsichtlich der Frage der Gewährung einer Geldentschädigung geäußert wurde: „Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.“36 Da mittlerweile eine gesetzliche Normierung im GVG vorgenommen wurde, besteht keine Notwendigkeit mehr für alternative Lösungsmodelle und es ist mangels Regelungslücke kein Raum mehr weder für eine analoge Anwendung des § 51 StGB noch für die frühere Strafzumessungslösung über § 49 StGB analog. Dem steht auch nicht entgegen, dass in der Regelung – wie oben bereits ausgeführt – für den Bereich des Ermittlungs- und Strafverfahrens eine Öffnung für verfahrensinterne Entschädigungsmodelle enthalten ist. Denn zunächst müssen diese Lösungen dogmatisch begründbar sein und mit den Regelungen des StGB und der StPO harmonieren. Auch die indirekte Billigung der Vollstreckungslösung durch den Gesetzgeber kann zu keinem anderen Ergebnis führen, da diese hierdurch keinen Gesetzesrang erlangt hat und zudem Raum für Änderungen gelassen wurde. In der bisherigen Aufsatz- und Kommentarliteratur zum neuen Gesetz wird dies überhaupt nicht problematisiert und von einer Weitergeltung der Vollstreckungslösung ausgegangen.37 Lediglich der amtierende Präsident des BGH, Tolksdorf, äußerte Bedenken hinsichtlich einer Weitergeltung der von der Rechtsprechung in 35  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (132 f.) = NJW 2008, 860 (862). 36  BGH, Großer Senat, Beschluss vom 17.01.2008, BGHSt 52, 124 (140) = NJW 2008, 860 (864). 37  Sommer, StV 2012, 107 (108); Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren / Ott, Teil 2 A. § 199 GVG Rn. 25 ff.



VII. Fazit277

Ermangelung gesetzlicher Regelungen vorgesehenen und entwickelten Vollstreckungslösung neben der generell vorgesehenen Entschädigungspflicht in Geld. Er habe Zweifel, ob „dieses Nebeneinander eigentlich sinnvoll und sachgerecht“ sei und würde es begrüßen, „wenn der Gesetzgeber im weiteren Verfahren darüber noch einmal nachdächte.“38 Damit erfasst er die notwendigen Handlungspflichten jedoch nicht vollständig. Neben einem klaren Appell an den Gesetzgeber, die entsprechende Passage des § 199 Abs. 3 S. 1 GVG ersatzlos zu streichen, ist es nun vor allem Aufgabe der Strafsenate des BGH, die Vollstreckungslösung insbesondere vor dem Hintergrund des gesetzlich normierten Entschädigungsanspruchs und trotz der ausdrücklichen Bezugnahme in der Gesetzesbegründung des neuen Gesetzes wieder aufzugeben.

VII. Fazit Die Vollstreckungslösung des BGH – vom Allheilmittel zum Auslaufmodell. So könnte man überspitzt und kurz umrissen das Fazit dieser ausführlichen Abhandlung bezeichnen. Die jahrzehntelange Entwicklung verschiedener Reaktionsmöglichkeiten auf die menschen- und grundrechtswidrige Verzögerung von strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren – von der Annahme eines Verfahrenshindernisses bis hin zur aktuellen Vollstreckungsanrechnung – hat noch immer kein befriedigendes und rechtlich überzeugendes Ende gefunden, so dass auch die von Schmitt39 „im Interesse aller Beteiligten“ erhoffte „Beruhigung“ der Problematik nach der Vollstreckungslösung nicht eintreten kann. Wie eingangs dargestellt, finden europäische Normen – wie die EMRK – immer stärker Einfluss auch im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts, so dass deren Dogmatik und Rechtsverständnis das nationale Recht mittlerweile mit prägt. Vor allem das weite Feld der menschenrechtlich garantierten Verfahrensfairness des Art. 6 Abs. 1 EMRK in all seinen Verästelungen ist Grundlage und Auslöser für zahlreiche, das nationale Strafprozessrecht prägende Entscheidungen von BGH und BVerfG. Auch die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat über den menschenrechtlichen Einfluss der EMRK und des EGMR in Deutschland den Stellenwert erreicht, der sie zu einem über lange Zeit die nationale Rechtsprechung und Literatur beherrschenden Thema gemacht hat. Wurde anfangs noch das „ob“ der Berücksichtigung diskutiert, fließen nunmehr immer mehr Überlegungen aus den nicht vom bundesdeutschen Gesetzgeber aufgestellten Normen bei der Frage des „wie“ der Kompensation des Menschen- und Grundrechtsverstoßes im 38  Tolksdorf, 39  Siehe

3. Karlsruher Strafrechtsdialog, S. 13 (14). Schmitt, StraFo 2008, 313 (321).

278

I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

Strafverfahren ein. Das Umgehen mit diesen fachfremden und deshalb nicht immer vollständig kompatiblen Einflüssen im Rahmen der Befassung mit nationaler Strafrechtsdogmatik führt häufig zu problematischen Ergebnissen, wie auch im Rahmen der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung das vom Großen Strafsenat des BGH geschaffene Vollstreckungsmodell. Große Bemühungen, die bis dato bestehende Gesetzgebungslücke auszufüllen und die bisherigen Lösungsansätze durch ein sich besser in die nationale Dogmatik einfügendes Kompensationsmodell zu ersetzen, kann man dem obersten nationalen Strafgericht nicht absprechen. Jedoch ist die Vollstreckungslösung eher als ein besseres Behelfsmodell der Rechtsprechung einzustufen, da es nur in Teilbereichen, nämlich bei einer Verurteilung eines Angeklagten, für eine ausreichende Kompensation sorgen kann und somit keine allumfassende Lösung darstellt. Dem Großen Strafsenat des BGH ist hierbei vorzuwerfen, dass er sich bei dieser Entscheidung eher von pragmatischen Erwägungen leiten ließ und sich bei genauer Betrachtung die Erkenntnis hätte aufdrängen müssen, dass wesentliche dogmatische Erwägungen des nationalen Strafrechts und auch der Entschädigungsgedanke der EMRK nicht vollständig mit der Vollstreckungslösung in Einklang zu bringen sind. Es widerspricht der absoluten Geltung der Menschenrechte der EMRK (wie im übrigen auch der Grundrechte des Grundgesetzes) und dem unbedingten Entschädigungsanspruch, dass eine Kompensation für eine eingetretene Verletzung von Garantien der EMRK im strafrechtlichen Ermittlungsund Gerichtsverfahren von der Strafe und somit auch indirekt der Schuld des Betroffenen abhängen soll. Auch fehlte weiterhin ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK, der im Rahmen der Reaktion auf überlange Verfahrensdauer nicht vergessen und unterschätzt werden darf. Dem Großen Strafsenat des BGH ist zunächst darin beizupflichten, dass die zuvor im Rahmen der Strafzumessungslösung angenommene Strafzumessungsrelevanz der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung dogmatisch nicht haltbar war und sich darüber hinaus die mathematische Aufspaltung in der Strafzumessung als Fremdkörper darstellte. Vielmehr ist eine Aufteilung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in die drei Teilaspekte, nämlich den langen Zeitabstand zwischen Tat und Verurteilung, die Belastungen für den Betroffenen durch die Verfahrensdauer und den Aspekt der Rechtsstaatswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer, sachgerecht und die Berücksichtigung nur der ersten beiden im Rahmen der Bemessung der tatund schuldangemessenen Strafe dogmatisch sauber. Aber auch die nun im Rahmen der Vollstreckungslösung zur Kompensation für überlange Verfahrensdauer entwickelte Vollstreckungsanrechnung analog § 51 StGB fügt sich nicht in das strafrechtliche Sanktionensystem des StGB ein. Zum einen sind die Fallgestaltungen nicht miteinander vergleichbar, so dass die Analogie zu



VII. Fazit279

§ 51 StGB keine hinreichende, dogmatische Grundlage besitzt. Zum anderen führt das Vollstreckungsmodell zu zahlreichen anderen Folgeproblemen wie die mit der Grundkonzeption des § 56 StGB nicht zu vereinbarende Zunahme der Vollstreckung kurzzeitiger Freiheitsstrafen und praktische Umsetzungsschwierigkeiten durch die Anknüpfung der Vollstreckungslösung an die Gesamtstrafe, die nur teilweise Anwendbarkeit im Jugendstrafrecht, die mögliche Revisibilität des Vollstreckungsausspruchs und die konkrete Bestimmung der Anrechnungshöhe. Herauszustellen ist jedoch, dass auch das Vollstreckungsmodell für eine große Anzahl von Ermittlungs- und Strafverfahren gerade keine Kompensationslösung bietet, nämlich bei – häufig vorkommend – der Einstellung des Ermittlungsverfahrens und bei einem Freispruch im Strafprozess, was zum einen unbefriedigend ist, jedoch zum anderen weiterhin die große Gefahr der Verurteilung Deutschland durch den EGMR in sich birgt. Lediglich die Anwendbarkeit bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe sticht als positiver Aspekt heraus, der jedoch nicht über zu bewerten ist. Auch die weitere Ausgestaltung und Ausweitung der Vollstreckungslösung durch die Rechtsprechung der Senate des BGH stößt auf wenig Zustimmung. Der zunehmende Gebrauch der Möglichkeit, lediglich die Verletzung des Beschleunigungsgebots ohne weitere Kompensation durch eine Vollstreckungsanrechnung festzustellen, auch über die wenigen Ausnahmefälle der sehr geringen Verfahrensüberlänge hinaus, ist als völlig verfehlt abzulehnen. Die Versuche, die Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen wie die fehlende oder fehlerhafte Belehrung nach dem WÜK oder den konventionswidrigen Lockspitzeleinsatz zur Tatprovokation zu übertragen, vermögen nicht zu überzeugen. Lediglich im Bereich des Härteausgleichs bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in Form einer Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer mag die Vollstreckungslösung als Modell in einem Bereich taugen, der nach den bisherigen Möglichkeiten für einen Härteausgleich unzugänglich war. Es ist jedoch schlichtweg abzulehnen, die Vollstreckungslösung nunmehr als Allheilmittel auch für andere Verfahrensverstöße und Unzulänglichkeiten im Strafverfahren heranzuziehen. Andere europäische Länder, insbesondere Frankreich, Spanien, Portugal und Polen, haben es vorgemacht, welche Regelungen auch für Deutschland hätten Modell stehen können, um einen Entschädigungsanspruch gepaart mit präventiv wirkenden Rechtsbehelfen zu normieren, die den Anforderungen der EMRK und des EGMR genügen und eine umfassende Lösung bieten können. Die in Deutschland mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gefundene Entschädigungsregelung ist grundsätzlich zu begrüßen, sie enthält jedoch mit der Verzögerungsrüge ein Element, das in seiner Wirkung verfehlt ist und weitere Probleme aufwirft.

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I. Alternative Lösungsmöglichkeiten und abschließende Bewertung

Interessant ist es nun, die weitere Entwicklung der normierten Entschädigungslösung abzuwarten und insbesondere den Umgang damit und die Reaktionen darauf in der Rechtsprechung, vor allem der Strafsenate des BGH, zu beobachten. Konsequenterweise müsste dort ein Umdenken einsetzen, nachdem nun das bisherige Fehlen einer gesetzlichen Regelung nicht mehr festgestellt werden kann, was bislang der Grund für die in der Rechtsprechung gemachten „Klimmzüge“ war. Insoweit sollten die Strafsenate des BGH, wiederum ganz dem Sinn und Geist der EMRK folgend, die einheitliche Entschädigungsregelung der §§ 198 ff. GVG als umfassende Kompensationsmöglichkeit zur Reaktion auf Verletzungen des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK durch überlange Verfahrensdauer für das strafrechtliche Ermittlungsund Gerichtsverfahren akzeptieren und die Vollstreckungslösung ersatzlos streichen, was auch ansonsten aufgrund der aufgezeigten Schwächen des Vollstreckungsmodells wünschenswert wäre. Hierbei muss aufgrund der genannten dogmatischen Erwägungen unbeachtlich bleiben, dass die Vollstreckungslösung vielfach aufgrund der Verkürzung der tatsächlich zu verbüßenden Strafe für den Betroffenen attraktiver ist, als der Erhalt einer Geldentschädigung. Neben dieser Handlungspflicht besteht gleichzeitig der gesetzliche Nachjustierungsbedarf. Hierbei ist nochmals die Regelung der Verzögerungsrüge in den Blick zu nehmen und konsequenterweise auch die Öffnungsklausel des § 199 Abs. 3 GVG zur Disposition zu stellen. Hinsichtlich der Vollstreckungslösung, der die vorrangige Überprüfung dieser Abhandlung galt, kann – unter Bezugnahme auf Scheffler („nach dem Großen Senat ist vor dem Großen Senat“40) – der deutliche Wunsch nach rascher Klärung durch den BGH geäußert werden, den vom Gesetzgeber wohl eher unbeabsichtigt zugespielten Ball aufzunehmen und in der sowohl in der Rechtsprechung als auch in der wissenschaftlichen Literatur seit langer Zeit ausführlich behandelten Thematik der Entschädigung bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung einen endgültigen Schlusspunkt zu setzen. Vor allem dieser Bereich zeigt exemplarisch, wie das europäische Recht mittlerweile den nationalen strafrechtlichen Regelungen deutlich seinen Stempel aufdrückt und die nationale Rechtsprechung nicht mehr umhin kommt, insbesondere die einen einheitlichen europäischen Menschenrechtsstandard schaffende EMRK, vor allem in ihrer Auslegung und Anwendung durch den EGMR, ihren Entscheidungen als maßgeblichen Orientierungs­ parameter zugrunde zu legen.

40  Scheffler,

ZIS 2008, 269 (279).

J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen 1. Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung ist eine in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK enthaltene Menschenrechtsgarantie. Durch Urteil des EGMR im Fall Eckle . / . Deutschland wurde dies im Jahre 1982 erstmals ins nähere Blickfeld der deutschen Strafjudikatur gerückt, da in der Entscheidung Kriterien enthalten waren, mit denen diese Garantie konkretisiert wurde. 2. Aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes genießt die EMRK in Deutschland trotz ihres Ranges als einfaches Bundesgesetz eine Sonderstellung. Der Konventionstext ist bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten heranzuziehen, die Entscheidungen des EGMR sind bei der näheren Auslegung der Konventionsgarantien zu berücksichtigen. 3. Der Einfluss der Garantien der EMRK auf das deutsche Strafrecht und Strafprozessrecht ist in den letzten Jahren immens gestiegen. Der EGMR nimmt mit seinen Entscheidungen direkten Einfluss auf die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, wodurch die nationalen strafrechtlichen und strafprozessualen Regelungen durch viele Einzelfallentscheidungen insgesamt eine starke Prägung erfuhren. 4. Das Recht auf ein faires Verfahren ist das Kernstück der Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK. Ein Unterfall hiervon ist der Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist, welcher sowohl für strafrechtliche Ermittlungsverfahren als auch für Verfahren vor den Strafgerichten gilt. 5. Wenn ein Konventionsverstoß wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK vorliegt, kommt darüber hinaus eine Verletzung des Art. 13 EMRK in Betracht. Hiernach muss im innerstaatlichen Recht eine wirksame Beschwerdemöglichkeit zur Geltendmachung von Konventionsverletzungen vorhanden sein. Im deutschen Rechtssystem war bislang kein wirksamer Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer im Sinne des Art. 13 EMRK vorhanden, so dass der EGMR im Jahr 2010 in einem Piloturteil gegen Deutschland hierin ein strukturelles Problem feststellte, dringenden Handlungsbedarf hervorhob und eine Frist bis zum Ende des Jahres 2011 zur gesetzlichen Einführung eines wirksamen Rechtsbehelfs setzte. 6. Bei der Bestimmung der Kriterien für eine überlange Verfahrensdauer entwickelte der BGH eine ständige Rechtsprechung, wonach für die

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J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen

Angemessenheit auf die Gesamtdauer des Verfahrens abzustellen sei und dann die Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen, das eigene Verhalten des Beschuldigen sowie das Ausmaß der mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten zu berücksichtigen seien. In einen Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR setzte sich der BGH jedoch zum einen bei der Ablehnung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung trotz gewisser Untätigkeit innerhalb einzelner Verfahrensabschnitte, wenn die Gesamtverfahrensdauer angemessen ist, und zum anderen bei der Heranziehung des Verschuldens des Betroffenen bei der Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Beides ist dogmatisch nicht zu begründen und birgt zudem die Gefahr der Verurteilung durch den EGMR in sich. 7. Nach früherer Diskussion und Anerkennung eines Verfahrenshindernisses für außergewöhnliche Fälle der überlangen Verfahrensdauer hatte sich seit Anfang der 1970er Jahre in Rechtsprechung und Literatur die Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen im Rahmen der Strafzumessung als Regelfall herausgebildet. Hierbei waren drei Strafmilderungsgründe zu unterscheiden: der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil, die Belastungen durch die lange Verfahrensdauer sowie darüber hinaus die Verletzung des in der EMRK garantierten Beschleunigungsgebots. 8. Der Systemwechsel von der Strafzumessungslösung hin zum Vollstreckungsmodell erfolgte aufgrund eines dem Großen Strafsenat vorgelegten Verfahrens, bei welchem das Instanzgericht zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung den gesetzlichen Mindeststrafrahmen in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB unterschreiten wollte, da ansonsten keine hinreichende Strafmilderung möglich gewesen wäre. Der Große Strafsenat lehnte dies jedoch ab und änderte die bisherige Rechtsprechung des BGH dahingehend, dass der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nunmehr keinen bei der Strafzumessung mehr zu berücksichtigenden Aspekt darstellt, sondern nach Festlegung der schuldangemessenen Strafe durch eine Vollstreckungsanrechnung unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB zu entschädigen ist. 9. Problematisch an der bisherigen Strafzumessungslösung war, dass insbesondere bei erhöhten Mindeststrafrahmen oder der absoluten Strafandrohung lebenslanger Freiheitsstrafe eine Kompensation nicht oder nicht ausreichend erfolgen konnte. Zudem bestanden große Kompensations­ lücken bei anderen Verfahrensabschlüssen als einer Verurteilung, wie der Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder bei Freispruch des Angeklag-



J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen283



ten, so dass eine Überprüfung der Fortgeltung des bisherigen Modells angezeigt war.

10. In formeller Hinsicht hätte der Große Strafsenat des BGH vor seiner Entscheidung zur Vollstreckungslösung vom 18.01.2008 aufgrund der Divergenz zur bisherigen Berücksichtigung überlanger Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung gemäß § 132 Abs. 3 GVG ein Anfrageverfahren bei den anderen Strafsenaten durchführen müssen. Die Folge der mangelnden Durchführung des Anfrageverfahrens ist jedoch nicht die Unwirksamkeit der getroffenen Entscheidung. Einer Abkehr von der Strafzumessungslösung stand auch keine Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG entgegen, da die das bisherige Modell billigenden Entscheidungen des BVerfG nicht durch Senatsentscheidungen oder stattgebende Kammerentscheidungen erfolgt sind. 11. Das Vollstreckungsmodell stellt kein einheitliches System dar, das mit dem Entschädigungsgedanken der EMRK in Einklang zu bringen ist. Vielmehr gibt es weiterhin zahlreiche Fallkonstellationen, in denen hierdurch keine oder keine ausreichende Kompensation erfolgen kann. Darüber hinaus ist durch die Vollstreckungslösung auch kein ausreichender wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 13 EMRK geschaffen worden. 12. Die Entscheidung des Großen Strafsenats, die Rechtsstaats- und Konventionswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer als Aspekt aus der Strafzumessung herauszunehmen ist dogmatisch begründet und stellt keine Verletzung des Grundsatzes des verhältnismäßigen Strafens dar. 13. Weder eine analoge Anwendung des § 49 StGB noch des § 51 StGB ist zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen sachgerecht und dogmatisch begründbar, da beides eine unzulässige Erweiterung der gesetzlichen Vorschriften und damit auch des strafrechtlichen Sanktionensystems darstellt. 14. Durch das Vollstreckungsmodell kommt es zu einer tatsächlichen Zunahme von kurzen, zu vollstreckenden Freiheitsstrafen, was ein Bruch mit dem in § 56 StGB enthaltenen, abgestuften System der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung darstellt. Dagegen ist die faktische Konsequenz der Zunahme zu vollstreckender Freiheitsstrafen aufgrund des Wegfalls der Strafmilderung wegen der Konventionsverletzung aufgrund der überlangen Verfahrensdauer dogmatisch nicht zu beanstanden. 15. Bei der Bezifferung des Vollstreckungsabschlags wäre es im Regelfall angemessen, zur Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung 1  /  3 der Dauer der Überlänge anzurechnen, wenn nicht in

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J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen

krassen Ausnahmefällen die ausdrückliche Feststellung der Konven­ tionsverletzung zur Entschädigung ausreicht. 16. Eine Übertragung der Vollstreckungslösung auf andere Problemkreise wie der fehlenden / fehlerhaften Belehrung gemäß Art. 36 WÜK, dem konventionswidrigen Lockspitzeleinsatz, dem Härteausgleich aufgrund mangelnder Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung sowie zur Kompensation sonstiger Verfahrensfehler oder Rechtsstaatswidrigkeiten ist nicht sachgerecht und daher grundsätzlich abzulehnen. Lediglich in den Ausnahmefällen des nicht durchführbaren Härteausgleichs bei der Verhängung einer an sich gesamtstrafenfähigen lebenslangen Freiheitsstrafe erscheint die Heranziehung des Vollstreckungsmodells in Form der Anrechnung bei der Festsetzung der Mindestverbüßungsdauer in doppelter analoger Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB zur Abwendung einer Ungleichbehandlung sinnvoll. 17. Die Reaktionsmöglichkeiten auf überlange Verfahrensdauer sind in den Mitgliedsländern der EMRK völlig unterschiedlich. In vielen Rechtsordnungen wird eine Strafzumessungslösung praktiziert. Daneben bestehen – neben der Möglichkeit der Fristsetzung und eines möglichen Einstellungsanspruchs in Österreich – in mehreren Nationen, wie Ita­ lien, Frankreich, Spanien und Portugal, im Einzelnen speziell ausgestaltete, normierte Entschädigungs- bzw. Schadensersatzansprüche. Ein direkt an den Anforderungen des EGMR ausgerichtetes Abhilfeverfahren wurde in Polen entwickelt, bei welchem eine präventiv wirkende Beschwerde zur Beschleunigung des Verfahrens erhoben und darüber hinaus eine Entschädigungszahlung zugesprochen werden kann. Der EGMR stuft diese Regelung ausdrücklich als effektiven Rechtsbehelf und ausreichend Entschädigung im Sinne der EMRK ein. 18. Am 03.12.2011 trat das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ in Kraft, durch das auch in Deutschland ein gesetzlich normierter Entschädigungsanspruch zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen geschaffen wurde. Dem Anspruch wurde als Voraussetzung die Erhebung einer Verzögerungsrüge vorgeschaltet. Für den Bereich des Strafverfahrens wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die Vollstreckungslösung des BGH Bezug genommen und in § 199 Abs. 3 GVG ein Anspruchsausschluss für die Fälle normiert, in denen eine Vollstreckungsanrechnung erfolgt ist, da insoweit eine ausreichende Wiedergutmachung immaterieller Nachteile vorliegt. 19. Die gesetzliche Normierung eines Entschädigungsanspruchs ist grundsätzlich als sachgerechtes Kompensationsinstrument für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen anzusehen. Die in § 198 Abs. 3 GVG



J. Zusammenfassung der Arbeit in Thesen285

als Anspruchsvoraussetzung normierte Verzögerungsrüge ist jedoch abzulehnen, da sie mit der EMRK nicht in Einklang zu bringen ist. Sachgerecht wäre es, die Strafsenate der Oberlandesgerichte als zuständige Instanzgerichte für die Entscheidung über die Entschädigungsansprüche in strafrechtlichen Angelegenheiten zu bestimmen. 20. Durch das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ wird der Vollstreckungslösung ihre Grundlage entzogen. Es fehlt nunmehr an einer Regelungslücke, die eine analoge Anwendung des § 51 StGB ermöglicht. Darauf sollte die Rechtsprechung nun reagieren und das Vollstreckungsmodell aufgeben. Darüber hinaus wird der Gesetzgeber durch die neu in § 199 Abs. 3 S. 1 GVG enthaltene „Öffnungsklausel“ seiner normsetzenden Funktion nicht gerecht, so dass es nun seine Aufgabe wäre, diese zu streichen.

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Stichwortverzeichnis Amtshaftungsanspruch  107, 266 f. Anfrageverfahren  119, 138, 238 angemessene Verfahrensdauer  63 ff. Beschleunigungsgrundsatz – allgemein  62 ff., 76 ff., 147 – im Jugendstrafverfahren  94, 131 – in Haftsachen  73 Beweisverwertungsverbot  44, 206 ff., 214 f., 218 ff., 225 Divergenzvorlage  139 ff. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte  30 ff., 50 – Anordnung konkreter Maßnahmen  40 ff. – Entscheidungskompetenz  37 – Feststellungsurteil  37 – gerechte Entschädigung  38 f. – Individualbeschwerdeverfahren  35 – Piloturteile  44 ff., 51, 71 – Rechtswegerschöpfung  36 f. – Urteilswirkungen  50 f. Europäische Menschenrechtskonvention  15, 28 f. – Auslegung  32, 34 – Einfluss auf das deutsche Strafrecht  47 ff. – Rang  29 – Subsidiarität  35, 69, 149 Faires Verfahren  62, 78 Folgenbeseitigungsanspruch  269 ff. Freispruch  97, 137, 194, 196 Geldentschädigung  73, 107, 113, 276

Gesamtstrafe  112, 114, 116, 118, 128, 191, 238 Gesamtverfahrensdauer  78 f., 147 Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren  250 ff. Gewohnheitsrecht  119 Grundsatzvorlage  139 f. Härteausgleich  231 ff. – Strafzumessungslösung  232 – Vollstreckungslösung  232, 235 Jugendstrafverfahren  94 f., 106 f., 115, 130 f., 136, 196 Kompensationslücke  111, 135 Komplexität des Verfahrens  67 Lockspitzeleinsatz  95, 220 ff. – Beweisverwertungsverbot  230 – Verfahrenshindernis  229 – Vollstreckungslösung  227 Menschenrechte  29 Opfereigenschaft  35 f., 71 f., 113, 137 Ordnungswidrigkeitenverfahren  92 Rechtsfolgenlösung  105 f., 175, 178 Rechtsmittelinstanz 65, 81, 193 Rechtsschutz  30 Rechtsstaatsprinzip  77, 94, 99, 106, 120 Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung – Jugendstrafrecht 94 ff., 196 – Revision  81 ff.

Stichwortverzeichnis301 – Strafzumessungslösung  102 ff., 158 – Vollstreckungslösung  112 ff. – Voraussetzungen  75 ff. Rückwirkungsverbot  187 Sanktionensystem  118, 172 ff., 181 schuldunabhängiger Strafmilderungsgrund  91, 120, 160, 163 Spielraumtheorie  162 Staatshaftungsanspruch  113 strafähnlicher Charakter  103 f. Strafrahmenwahl 93 Strafvollstreckungsregel  120 Strafziele  158 f. Strafzumessungslösung  89 ff., 102 ff., 112, 117, 241 ff. Strafzwecke  162 Teilrechtskraft  132 f. Übermaßverbot  115, 161 Unschuldsvermutung  55  Untätigkeitsbeschwerde  248 f. Untersuchungshaft  97, 113, 115, 117, 176 f., 182 Verfahrenseinstellung  91, 102, 168 ff., 194, 196

Verfahrensfehler  82, 239 Verfahrenshindernis   85 ff., 96 ff., 168 ff., 190, 224, 229 ff. Verfassungsbeschwerde  65 Verschlechterungsverbot  128 f., 191, 194 Verschulden  80 Verständigung  198 ff. Verwirkung  101 Verzögerungsrüge  251, 255 ff., 259 völkerrechtlicher Vertrag  29 Völkerrechtsfreundlichkeit des Grund­ gesetzes  49, 213 Vollstreckungsanrechnung  108, 189 Vollstreckungslösung  112 ff. – Fortentwicklung  123 ff. – Gesamtstrafenbildung 127, 191 – im Jugendstrafrecht  130, 196 – Revisibilität des Vollstreckungsausspruchs  193 – Verschlechterungsverbot  127, 194 Vorlagebeschluss  110 Widerspruchslösung  208 wirksame Beschwerde  30 wirksamer Rechtsbehelf  69 ff., 154 ff., 242, 245, 247 WÜK  201 ff.