St. Ivo (1247–1303): Schutzpatron der Richter und Anwälte 9783504380731

Ideal als Geschenk zum Weihnachtsfest oder für den eigenen Lesegenuss. Herbst des Mittelalters. Ein junger Mann lässt

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German Pages 135 Year 2006

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St. Ivo (1247–1303): Schutzpatron der Richter und Anwälte
 9783504380731

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StrecklAieck

St.lvo (1247-1303) Schutzpatron der Richter und Anwalte

.

St.Ivo 1247-1303

Schutzpatron der Richter und AnwiJ/te von

Dr. Michael Streck Köln

Dr. Annette Rieck Kiel

2007

oUs

Dr.~~midt Köln

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Vorwort

In diesem Buch geht es um Ivo Hélory, den Heiligen der Juristen. Schon die Tatsache, dass die Juristen einen Heiligen haben, mag manchen überraschen, und das nicht nur, weil er davon bisher nichts wusste: Heilige und Juristen passen nicht zusammen. Bei einem Heiligen denkt der moderne Mensch an Wunder und christliche Tugenden: Nächstenliebe und Barmherzigkeit, Bescheidenheit, Demut, Güte und Friedfertigkeit, Armut und Märtyrertum. Derartige Vorzüge (abgesehen von den Wundern) würden eine erfolgreiche juristische Tätigkeit, gerade als Anwalt, heute beinahe ausschließen. Wirtschaftliches Denken zählt. Der Erfolg wird an der Höhe des Verdienstes gemessen. Extrovertiertes, offensives Auftreten, Rhetorik und vorbehaltlose Parteilichkeit sind gefragt. Wie kann danach der Heilige der Juristen aussehen? Er sollte vom Fach sein, außerdem ein herausragender Jurist, zumindest einer, der in Theorie oder Praxis des Rechts Ungewöhnliches, Bahnbrechendes geleistet hat? Oder wiegt der besonders „gute Christ“ den durchschnittlichen Juristen auf? Wieso legten die Juristen überhaupt Wert auf einen eigenen Heiligen? Was hat ihnen ihr Heiliger bedeutet, und wofür stand er? Dieses Buch, angeregt durch die Feierlichkeiten zum 700jährigen Todestag des Bretonen Ivo Hélory im Jahr 2003, versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Dem Leser Ivo als Individuum greifbar zu machen, wird durch die dünne Quellendecke erschwert. Der „Brunnen der Vergangenheit“ ist schon am Tiefenstrich des Mittelalters oft unergründlich. Wo uns die Person Ivos in das Dunkel der Geschichte entgleitet, haben wir uns an die gesicherten historischen Fakten gehalten, in der Meinung, dass sich aus diesen der Einzelne

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zu einem guten Teil erklärt. So erlaubt der erste Teil des Buches einen Blick in die Welt des mittelalterlichen Juristen. Die Franzosen haben sich mit ihrem Heiligen bereits kurz nach dessen Tod im Jahr 1303 zu beschäftigen begonnen. Im 16. Jahrhundert schwoll die Zahl der Veröffentlichungen an, um im 19. und 20. Jahrhundert geradezu zu explodieren. Den französischen Autoren ging es zumeist um Leben, Wunder und Heiligsprechung ihres Saint Yves. Man hatte keine Berührungsängste, von Ivo auch im Stile eines englischen Kriminalromans, in Comic- oder Kinderbuchform zu erzählen. In Deutschland sind Arbeiten über den Heiligen außerhalb von Sammelwerken erst im 19. Jahrhundert erschienen. In Aufsätzen oder Spezialuntersuchungen beschäftigten sich Wissenschaftler überwiegend mit seinem Nachleben in Deutschland. Eine umfassende Darstellung von Leben und Nachleben Ivos in nicht-wissenschaftlicher, leicht lesbarer Form fehlt hier bisher. Diese Lücke möchten wir füllen. Die Autoren haben sich die Arbeit geteilt: Michael Streck hat das Projekt angeregt, durch Ideen, Impulse und Ermunterungen unermüdlich begleitet und schließlich den Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln, davon überzeugt, es zu veröffentlichen; Annette Rieck hat den Text verfasst. Da sich dieses Buch in erster Linie an Juristen, insbesondere an Rechtsanwälte wendet, möchten wir an dieser Stelle an den Rechtsanwalt und Notar Adolf Weißler aus Halle an der Saale erinnern, der im Jahr 1905 seine „Geschichte der Rechtsanwaltschaft“ mit den Worten einleitete: „Meine lieben Berufsgenossen! ... vor allem hoffe ich Euch zu gefallen. Denn für Euch, liebe Brüder, habe ich geschrieben, an Euch bei jeder Zeile gedacht, von Euch möchte ich gelesen und verstanden werden. Wohl kenne ich die Kargheit Eurer Muße. Allein wenn Ihr zwischen Euren Schriftsätzen und Terminen nicht mehr Zeit und Interesse für die Geschichte des eigenen Berufs finden solltet, so müsste ich verzweifeln ...

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Sich in die Vergangenheit zu versenken, mag persönliche Liebhaberei sein. Aber mit der Geschichte das Wesen unseres Berufes zu erforschen, aus ihr die richtige Grundauffassung zu gewinnen, die unser Handeln täglich und stündlich bestimmt, das ist eine Aufgabe, deren Größe auch der nicht verkennen kann, der nicht gern die Staubluft des Altertums atmet. Soviel die Weltanschauung wichtiger ist als alle Einzelkenntnis, soviel, behaupte ich, muss dieses mein Buch Euch wichtiger sein als Eure Kommentare. Und wenn noch ein Funken von Liebe zum Berufe in Euch ist, so werdet Ihr es lesen und lieben oder hassen.“

Wir wollen den Wunsch hinzufügen, dass dieses Buch für den gebildeten Laien anregend und mit Freude zu lesen sein möge. Wer ein Buch schreibt, ist vielen zu Dank verpflichtet. Nur wenige können an dieser Stelle stellvertretend genannt werden. Prof. Dr. iur. Manfred Baldus, Mechernich, stellte uns großzügig, gründlich sowie detail- und kenntnisreich Literatur und Bildmaterial aus seiner eigenen Forschungsarbeit zu Ivo Hélory zur Verfügung. Bei Rechtsanwalt Heinz Christian Esser, Köln, bedanken wir uns für die Erlaubnis, das in seinem Privatbesitz befindliche Ivo-Gemälde (S. 120) in diesem Buch abzubilden. Dem tatkräftigen Engagement von Kathrin Gschnitzer und Hartmann Eller, Mitarbeitern der Bibliothek der PhilosophischTheologischen Hochschule Brixen, ist es zu verdanken, wenn der Leser eine Vorstellung von der Ivo-Darstellung im prachtvollen barocken Bibliothekssaal der Hochschule erhält, mag er sie auch nicht selbst in Augenschein genommen haben. Prof. Thierry Hamon, Direktor der Zweigniederlassung Rechtswissenschaften der Universität Rennes in Saint Brieuc und wissenschaftlicher Leiter des internationalen Kolloquiums aus Anlass des 700jährigen Todestages des Heiligen im Jahr 7

2003 in Tréguier, hat diese Veröffentlichung mit profundem Rat und seltenem Material, insbesondere zur französischen Seite der Ivo-Verehrung, freundlich und zuverlässig unterstützt. Prof. Ludwig Häring, Dillingen, verdanken wir unsere Kenntnisse über die Ausgestaltung der Studienkirche und des Goldenen Saales der ehemaligen Universität Dillingen. Prof. Häring hat uns kreativ und großzügig an den Früchten seiner jahrelangen Erhaltungs- und Dokumentationstätigkeit zu den alten Räumlichkeiten teilhaben lassen. Rechtsanwalt Dr. Gerd Krieger, Freiburg, nahm sich die Zeit, die Verfasser über die Ivo-Aktivitäten des Freiburger Anwaltvereins eingehend zu unterrichten. Insbesondere mit der großzügigen Übersendung mehrerer Weingläser mit Ivo-Motiven verlieh er der Arbeit an diesem Buch farbige Akzente. Frau Doris Wittmann, Stadtmuseum/Stadtarchiv/wissenschaftliche Bibliothek Ingolstadt, stellte uns unkompliziert, kompetent, schnell und umfassend Material zur Kirche Maria de Victoria in Ingolstadt und zum Fakultätsszepter zur Verfügung. Besonderer Dank gebührt Herrn Prof. em. Dr. iur. Hans Hattenhauer, Speyer, der bei Annette Rieck ursprünglich das Interesse an St. Ivo weckte, es nährte und tatkräftig unterstützte. Er begleitete mit Rat und Tat auch dieses Buch.

Köln/Kiel, im August 2006

Dr. Michael Streck Dr. Annette Rieck

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Inhalt Vorwort Seite 5 Historische Zeittafel zu Ivos Lebensstationen Seite 10 Erster Teil Ein heiliger Jurist Seite 13 Aufbruch · Die „Nationen“ · Ein junger Artist · Kirchenrecht vor Theologie · Bettelorden und Askese · Rechtspraxis an der Universität · Zivilrecht in Orléans · In die Praxis · Der Offizial · Anwalt der Armen · Der Mensch Ivo

Zweiter Teil Von Ivo Hélory zum Heiligen Ivo Seite 47 Heiligsprechung · Die päpstlichen Akten · Die Legende · Ivos Wunder · Der heilige Jurist

Dritter Teil Unsterblichkeit Seite 67 Der Patron · „Ivo!“ · Saint Yves im Bild · Das Heiligengrab als Gerichtsstätte · Saint Yves erobert Europa · Ivo-Bruderschaften · Die Juristen in heiligen Nöten · Die Universitäten · Ivos Weg nach Deutschland · Die Ivo-Feier · Die Festrede · Ivo, der ideale Advokat · Ivo an der Himmelspforte · Der hunderthändige Richter · Ivo – Summa summarum · Das Ende des Ivo-Kults an deutschen Fakultäten · Ivo als Statussymbol · Auf den Spuren der IvoIkonographie · Auf der Suche nach einem verlorenen Heiligen · Ivo international · Le Grand Pardon

Literaturauswahl Seite 131 9

Historische Zeittafel zu Ivos Lebensstationen 1231

Gründung der Pariser Universität durch Gregor IX. (Papst 1227–1241) 1235 Gründung der Rechtsschule von Orléans 1237–1286 Jean I. le Roux Herzog der Bretagne um 1247 Geburt in Kermartin in der Diöszese Minihy bei Tréguier/Bretagne 1247–1261 Kindheit auf dem Adelssitz der Eltern 1252–1271 Bettelordenstreit an der Sorbonne 1261–1267 Studium an der Artistenfakultät in Paris 1267–1271 Studium des Kirchenrechts in Paris 1269–1272 Thomas von Aquin lehrt an der Sorbonne 1271–1273 Studium des römischen Rechts in Orléans 1273–1277 Zweiter Studienaufenthalt in Paris (?) 1277–1279 Zweiter Studienaufenthalt in Orleáns 1280–1284 Offizial in Rennes 1280 Studien bei den Franziskanern in Rennes 1284–1298 Offizial und Berater beim Bischof von Tréguier Tätigkeit als Anwalt 1284 (ca.) Priesterweihe. Pfarrherr von Tresdrez 1276–1314 Philippe IV. le Bel König von Frankreich 1286–1305 Jean II. Herzog der Bretagne seit 1291 (ca.) Askese 1292–1303 (ca.) Pfarrherr von Louannec 1294–1297 Französisch-englischer Krieg 1294–1303 Papst Bonifaz VIII. 1295–1297 (ca.) Konflikt zwischen Papst Bonifaz VIII. und König Philippe le Bel um die Besteuerung des Klerus 1298 (ca.) Beendigung der Tätigkeit als Offizial 19. Mai 1303 Tod in Kermartin 10

1305–1314 1309 1312–1341 1312/1314 (ca.) 1316–1334 1328–1350 1316–1328 1329 26. Februar 1330 23. Juni – 4. August 1330 Juni 1331 1334–1342 1334 1337–1453 1341–1365 19. Mai 1342 1345 19. Mai 1347

Papst Clemens V. Verlegung der Kurie nach Avignon Jean III. Herzog der Bretagne Erste Bemühungen Jeans III. um die Heiligsprechung bei Clemens V. Papst Johannes XXII. Philippe VI. de Valois König von Frankreich Erneuter Heiligsprechungsantrag Jeans III. bei Papst Johannes XXII. Gesandtschaft aus der Bretagne bei Johannes XXII. Eröffnung des Informativprozesses Zeugenbefragung in Tréguier Übergabe der Prozessakten an den Papst Papst Benedikt XII. Seligsprechung in Tréguier Hundertjähriger Krieg zwischen England und Frankreich Bretonischer Bürgerkrieg um die Erbfolge nach Jean III. Krönung Papst Clemens‘ VI. (gest. 1352) Charles de Blois in Avignon Heiligsprechung durch Papst Clemens VI. in Avignon

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Erster Teil Ein heiliger Jurist Sanctus Ivo erat Brito Advocatus et non latro Res miranda populo.

Der Heilige Ivo aus der Bretagne war Anwalt und doch kein Straßenräuber – eine Sache, die dem Volk wie ein Wunder vorkommt.

An der Wand manch bretonischer Kirche liest der Reisende diesen Dreizeiler, dessen Hintergrund sich nicht ohne weiteres erschließt. Seine Geschichte soll hier erzählt werden.

Aufbruch Um das Jahr 1261 machte sich ein junger Franzose aus dem Herzogtum Bretagne auf nach Paris, um dort ein Studium zu beginnen. Für seine Heimat hatte vom Jahr 1213 an eine Zeit tiefgreifender Wandlungen begonnen: Das Land wurde im Jahr 1214 nach der Schlacht von Bouvines in der Grafschaft Flandern aus der englischen Lehnsherrschaft befreit und gelangte als unabhängiges Herzogtum an das französische Herrscherhaus der Capetinger. Der Franzose Pierre I. Mauclerc („schlechter Geistlicher“) de Dreux (gest. 1250), ein Vetter des französischen Königs, heiratete in die bretonische Herzogsfamilie ein und begründete so in der Bretagne eine neue Dynastie. Insbesondere unter der von Sparsamkeit und Besonnenheit geprägten Herrschaft von Pierres Sohn Herzog Jean I. le Roux („der Rothaarige“; 1237–1286), einem vorzüglichen Verwaltungsmann, entstand die Bretagne in ihrer spätmittelalterlichen Gestalt. Jeans Tatkraft stärkte Ansehen und Autorität der bretonischen Herzöge, die sich in der Folge bei aller Abhängigkeit von dem französischen König ihre Eigenstän13

digkeit bewahrten: Für mehr als ein Jahrhundert kehrte Frieden und Wohlstand im Lande ein. In diese glückliche Epoche fiel die Lebenszeit des Mannes, von dem wir erzählen wollen. Die Bretonen sind seit alters her ein besonders frommes Volk. Im 5. Jahrhundert kamen christianisierte Kelten aus Britannien in das Land, auf der Flucht vor den Angeln und Sachsen. Die Kelten lösten die römische Kultur ab, die die Bretagne seit der Eroberung durch Julius Cäsar (100–44 v. Chr.) um 56 v. Chr. über Jahrhunderte geprägt hatte. Weit vor den Römern, vom 6. bis zum 4. Jahrhundert, waren schon einmal Kelten in das Land eingewandert und hatten der Halbinsel den Namen „Armorika/Meerland" gegeben. Ihre gebildeten Priester (Druiden) besaßen im Volk starken Einfluss, so dass hier ein Ursprung der bretonischen Frömmigkeit zu suchen sein mag. Die zweite Welle keltischer Einwanderer veränderte die Armorika tiefgreifend: Das Christentum breitete sich aus, die keltische Sprache belebte sich wieder, die Halbinsel wurde nun „Bretagne/Kleines Britannien“ genannt. Die Führer der Kelten, aber auch viele Mönche und Eremiten von charismatischer Persönlichkeit wurden später von den Bretonen als Heilige verehrt (z. B. St-Malo oder St-Brieuc). So hat nahezu jede Gemeinde ihren eigenen Heiligen; 7777 Heilige sollen in der Bretagne verehrt werden, mag auch der Papst nur die wenigsten anerkennen. Unser junger Bretone wurde zwischen 1247 und 1253 geboren, sein genaues Geburtsjahr kennen wir nicht. Adlig von Herkunft wuchs er auf dem Herrensitz „Kermartin“, bretonisch für: „Haus Martin“, in dem Dörfchen Minihy-Tréguier auf, nordwestlich von St. Brieuc im heutigen Departement Côtedu-Nord gelegen (siehe die Landkarte auf Seite 20/21). Seine Mutter hatte geträumt, ihr Sohn werde einmal ein Heiliger werden, und ihm deshalb nach dem alten Lokalheiligen und

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Schutzpatron „Ivy" den Namen Ivo gegeben, auf französisch: Yves, im altbretonischen Dialekt Trécorien: Erwan. Um eine Verwechslung mit einem anderen, zweihundert Jahre jüngeren Ivo, dem großen Kirchenrechtler Ivo von Chartres (1014–1116), zu vermeiden, nannte man unseren Ivo später mit zweitem Namen nach seinem Vater Hélory, manchmal auch nach seinem Lebens- und Wirkensort Ivo von Tréguier oder Kermartin. Seiner adligen Abstammung entsprechend wäre ihm zu dieser Zeit die Ritterlaufbahn bestimmt gewesen, doch war der Junge wissenschaftlich begabt und interessiert, so dass seine Mutter ihn durch einen jungen Privatlehrer im Lesen und Schreiben sowie im Lateinischen, der Gelehrtensprache des mittelalterlichen Europa, unterrichten ließ. Die Entscheidung für ein Studium bedeutete für Ivo, seine Heimat verlassen zu müssen, denn die Bretagne besaß keine Universität. Es dürfte mit dem Ruhm der Sorbonne zusammen gehangen haben, dass seine Wahl auf Paris fiel. Daneben mag eine Rolle gespielt haben, dass auch sein Lehrer dort ein Studium beginnen wollte, so dass die beiden jungen Männer sich gemeinsam auf die Reise machten. Wir wissen nicht, ob der junge Adlige ein Pferd oder Pferd und Wagen für die Reise gewählt hat; üblicherweise reiste man zu Fuß. Für die Bewältigung der etwa 450 km nach Paris dürften die beiden Männer 12 bis 14 Tagesmärsche benötigt haben. Ivo musste sich bei seiner Immatrikulation noch nicht auf ein Studienfach festlegen. Die Ausbildung an einer mittelalterlichen Universität begann für alle mit dem propädeutischen Grundstudium an der Artistenfakultät, welches das methodische Rüstzeug für das anschließende Hauptstudium – der Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin – vermittelte. Die Artes liberales, die „Sieben freien Künste", hatte das Mittelalter von der Antike ererbt. Das sprachwissenschaftliche Trivium/Dreiweg lehrte die Fächer Grammatik, Rhetorik und 15

Dialektik, das anschließende mathematisch-naturwissenschaftliche Quadruvium/Vierweg die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Zur Immatrikulation an der Artistenfakultät hatte man einen Eid zu schwören. „Vor dem 14. Lebensjahr soll niemand zum Schwören gezwungen werden“, hieß es in den Bestimmungen des Kirchenrechts, die für die Pariser Universität maßgeblich waren. So können wir Ivos Alter in etwa bestimmen. Er bezog Quartier in der rue du Fouarre, der Strohstraße, wo die Artistenfakultät ihren Sitz hatte. Sie soll nach den Strohballen benannt gewesen sein, auf denen die Studenten während der Vorlesungen saßen. Der junge Herr Ivo gehörte nicht zu den Armen unter den Pariser Studenten, doch teilte er, wie damals üblich, ein Zimmer mit einem Kommilitonen. Wie die anderen Bretonen in Paris wird auch er in einem der besonderen Häuser gewohnt haben, die den Landeskindern zur Verfügung standen. Der König war an den Gästen aus der Bretagne sehr interessiert, denn sie entstammten den führenden Familien des Landes, und ihr Studium in der Hauptstadt gab ihm die Möglichkeit, sie kennen zu lernen, um den aufstrebenden Nachwuchs womöglich später in seinen Dienst zu nehmen. Die Welt der mittelalterlichen Studenten war eine durch und durch männliche: Dass dem weiblichen Geschlecht die Universitäten noch bis in das 19. Jahrhundert grundsätzlich verschlossen waren, hatte seinen Grund keineswegs in den kirchlichen Bindungen der Universitäten, denn auch deren zunehmende Entklerikalisierung änderte daran nichts. Man befürchtete vielmehr studentische Promiskuität und eine Entfremdung der Frauen von ihren häuslichen Aufgaben. Die Rechtslehre sprach den Frauen aus den gleichen Gründen wie den Juden das Recht auf Promotion ab: Man hielt den Doktortitel mit seinen Privilegien, Würden und Rechten für unvereinbar mit dem weiblichen Status. 16

Allerdings konnte es auch Ausnahmen von dieser Regel geben, wenn eine Dame von Stand studieren wollte. Vor allem im südlichen Europa, insbesondere im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts, pflegten adlige wie bürgerliche herrschaftliche Häuser ihre Söhne und Töchter gleichermaßen von Privat- oder berühmten Universitätslehrern erziehen zu lassen. Manche dieser Frauen erwarb eine außergewöhnliche Bildung und konnte als „Standesstudentin“ in universitären Kreisen verkehren. Héloise (1100 –1164) soll in Paris die Artes studiert haben, als sie Schülerin und Geliebte des Bretonen Peter Abaelard (1079 –1142) wurde. Dies war jedoch nur möglich, weil ihr Onkel, unter dessen Obhut sie stand, Kirchenrechtler war und ihr den Zugang zum Studium vermittelt hatte. Novella Andreae (1312–1352), Tochter des berühmten und reichen Bologneser Professors für Kirchenrecht Johannes Andreae (um 1270 –1348) und selbst eine hervorragende Kirchenrechtlerin, vertrat ihren Vater in den Vorlesungen, wenn dieser krank war. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge las sie hinter einem Vorhang, weil ihre auffallende Schönheit die ausschließlich männlichen Studenten sonst vom Vortrag abgelenkt hätte. Man bescheinigte ihr „männlichen Scharfsinn“ – das höchste Lob, das einer Frau in der Wissenschaft damals gezollt werden konnte. Dennoch bestätigt das männliche Gepräge wissenschaftlich erfolgreicher Frauen nur, dass Frauenbildung an den Universitäten nicht zeitgemäß war.

Die „Nationen“ Die Erstsemester standen zu Ivos Zeiten, obwohl fremd in einer neuen Stadt und sozialen Umgebung, doch nicht vereinsamt da. Mit ihrem Eintritt in die Universität gehörten sie ohne weiteres einer der nationes/Nationen an, landsmann-

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schaftlichen studentischen Zusammenschlüssen, die die Organisation der mittelalterlichen Universität prägten. Die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmten die Muttersprache, der Geburtsort, die Kulturgemeinschaft und die gemeinsame Geschichte. Die Universitätsnationen waren keine national gesinnten Gebilde oder Vermittler nationaler Ideologien im heutigen Verständnis. Sie waren soziale Zweckgemeinschaften an den fremden Hochschulorten, deren Rolle und Bedeutung sich von einer Universität zur anderen unterschieden. Ihre Funktionen reichten von der Fürsorge für die Mitglieder bis hin zur Wahl des Rektors und der Mitgliedschaft in der Universitätsleitung. Die Nationen besaßen eigene Führungs- und Verwaltungskräfte, führten Siegel, Matrikeln und einen Haushalt, sorgten für Disziplin, organisierten Aufsichten und Schulungskurse, mieteten Häuser. Sie feierten eigene Feste und Gottesdienste zu Ehren ihres heiligen Patrons. Ihren Mitgliedern standen sie bei Gefahr, in Not oder Krankheit bei und sorgten im Todesfall für ein würdiges Begräbnis. Dementsprechend zahlte man für die Zugehörigkeit zur Nation statusgerechte Gebühren. In Paris gab es nur an der Fakultät der Artes vier Nationen, und zwar entsprechend der geographischen Herkunft der Studenten: die französische (Île de France, Südfrankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Kleinasien), die pikardische (Nordostfrankreich und die alten Niederlande bis zur Maas), die normannische (die Kirchenprovinz von Rouen) und die englische, in der die übrigen Länder Europas vertreten waren. Die Bretagne stellte innerhalb der normannischen Nation eine „Provinz“ dar. Ivo wird ihr angehört haben.

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Ein junger Artist Die Pariser Fakultät der Artes liberales, nach der ihre Studenten „Artisten“ hießen, nahm innerhalb der Universität eine beherrschende Stellung ein. Sie verwaltete das Grundstudium, hatte daher auch die meisten Studenten und entschied über die Zulassung zum Hauptstudium. Entsprechend straff und streng waren ihre Verfassung, ihr Lehrbetrieb und das Prüfungswesen organisiert. Man studierte die Artes in der Regel fünf Jahre und konnte mit Eintritt in das zwanzigste Lebensjahr zur Abschlussprüfung für den Grad eines baccalaureus artium zugelassen werden. Jeder künftige baccalaureus musste einen ehrbaren Lebenswandel nachweisen und einen tadellosen Ruf genießen. Vor der Prüfung musste er schwören, in Paris oder an einer anderen gleichwertigen Universität mindestens vier Jahre lang ununterbrochen die Vorlesungen der Artistenfakultät gehört zu haben. Das Examen war nicht banal, hatte doch die Fakultät dafür zu sorgen, dass nur die Begabten zu den Hauptstudien zugelassen wurden. In Paris lag der Schwerpunkt des vorbereitenden ArtesStudienganges auf der Dialektik und der Philosophie. Verlangt wurden eingehende Kenntnisse sämtlicher Schriften des Aristoteles (384–322 v. Chr.) nebst Kommentierungen, die im Hörsaal vermittelt wurden und durch gründliches Selbststudium vertieft werden mussten. Die Fakultät war in der Pflege der mittelalterlichen Philosophie, der Scholastik, führend. Die dominierende Stellung der Theologie konnte sie nicht in Frage stellen, doch war sie mit dieser zusammen von unangetasteter Autorität und vom Papsttum selbst als wichtigste Helferin in allen Fragen der Doktrin anerkannt. Die Universität galt daher nicht zuletzt wegen ihres weiten Einzugsbereichs, dem gesamten Europa nördlich der Alpen, als die „Schule der ganzen Christenheit“.

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Landkarte der Bretagne aus dem Atlas curieux von Nicolas de Fer (1705)

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Wirkungsstätten St. Ivos

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Als Ivo sich 1267 zum Examen meldete, musste er außer dem regelmäßigen Besuch der Vorlesungen nachweisen, dass er seine theoretischen Kenntnisse der scholastischen Philosophie in der disputatio auch praktisch anwenden konnte: Beliebige Probleme wurden dort unter Anwendung der aristotelischen Methode – Fragestellung, Definition, Schlussfolgerung unter Vermeidung logischer Fehlschlüsse, Einreden und Antworten – durchgearbeitet. Die schulmäßige Disputation, die erst die examinierten Magister perfekt beherrschten, war die Krönung der akademischen Ausbildung und der mittelalterlichen Gelehrsamkeit, ein wissenschaftliches Statussymbol ersten Ranges. Die jungen Artes-Studenten nahmen an den öffentlichen Übungen der Meister als Zuhörer teil und disputierten selbst in privaten Lehrveranstaltungen auf niedrigerem Niveau. Wegen der Uferlosigkeit des Prüfungsstoffes herrschte an der Fakultät auch damals Examensangst unter den Studenten und spiegelt sich in speziellen Kompendien zur Prüfungsvorbereitung wider. Im Stil eines Repetitoriums waren dort die philosophischen Lehren der prüfungsrelevanten Werke im Überblick dargestellt und nach Gliederung, wesentlichem Gegenstand und wichtigsten Thesen und Problemen zusammengefasst. Ivo allerdings dürfte weder mit der Zulassung zur Prüfung noch mit deren Bestehen Schwierigkeiten gehabt haben: Sein Zimmergenosse berichtet von seiner untadligen Lebensführung, seinem Fleiß und seinem beharrlichen Besuch der Vorlesungen.

Kirchenrecht vor Theologie Der frischgebackene baccalaureus artium, nun 20 Jahre alt und philosophisch gründlich geschult, wechselte im Jahr 1267 an die theologische Fakultät der Sorbonne in der rue de Saint-Jean-de-Beauvais, um sich im Hauptstudium dem 22

Kirchenrecht zuzuwenden. Wie damals üblich hörte er auch theologische Vorlesungen; denn das Kirchenrecht war in seinen Kernaussagen ohne eine solide theologische Basis nicht sinnvoll zu studieren. Dies galt auch noch zu Ivos Studienzeiten, obwohl sich Theologie und Kirchenrecht bereits seit etwa hundert Jahren zunehmend ihrer unterschiedlichen Gegenstände, Ziele und Interessen, Quellen und Methoden bewusst geworden waren. Die Folge war eine stetig wachsende Entfremdung beider Fächer auch in den Lehrplänen der Universität: Bereits die Erstsemester im Kirchenrecht verbrachten mehr Zeit damit, sich mit den komplizierten Fragen der Rechtsnachfolge in Pfründen und Kirchengütern vertraut zu machen, als sich mit den Spekulationen theologischer Doktrinen zu beschäftigen. Für die Theologie gab es keinen prominenteren Studienort als Paris. Die Fakultät, bis zum Ende des 14. Jahrhunderts auf Grund päpstlicher Entscheidung die einzige auf dem Kontinent (nur in Oxford gab es noch eine zweite), war das Zentrum der kirchlichen Dogmatik, die Königin der abendländischen Theologie. Dort hatte als erster Deutscher der abendländische Kosmopolit Albertus Magnus (um 1200 –1280), ein gebürtiger Schwabe, von 1243 bis 1248 eine Lehrkanzel inne, ehe er an die Universität Köln wechselte. In Paris dozierte Thomas von Aquin (1225–1274), in dessen Vorlesungen Ivo die scholastische Denktechnik in ihrer ganzen Vollkommenheit bewundern konnte. Wesentlich geringer dagegen war die Ausstrahlung des kirchenrechtlichen Fachbereichs, in dem die italienischen Universitäten und Montpellier führend waren. Womit hat Ivo sich bei seinen Studien beschäftigt? Die mittelalterliche Kirchenrechtslehre war zuvorderst auf die Autorität der Heiligen Schrift und die Lehren der Kirchenväter gegründet, so dass die theologischen Vorlesungen eine beträchtliche Synergiewirkung besaßen. Ivo musste sich zudem natür23

lich eingehend mit den kirchlichen Rechtsquellen beschäftigen, dem – erst seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts so genannten – Corpus iuris canonici. Von dieser Sammlung kirchlicher Rechtstexte, Canones genannt, waren zu Ivos Studienzeiten die ersten Teile veröffentlicht und in Kraft, nämlich das Decretum des Bologneser Mönchs und Rechtsgelehrten Gratian (gest. wohl um 1150) aus dem Jahr 1140 sowie der Liber extra von 1234, zusammengestellt von dem spanischen Dominikaner Raimund von Peñafort (um 1180 –1275). Dekret und Liber Extra standen nun im Mittelpunkt der Studien zum materiellen Kirchenrecht.

Bettelorden und Askese In diesen ersten Jahren in Paris ging mit Ivo eine Veränderung vor, die unter seinen Kommilitonen Aufsehen erregte: Der junge Adlige aus begütertem Hause gewöhnte sich an, am Boden auf einer dünnen Streuschicht zu schlafen, obwohl es in seinem Zimmer ein bequemes Lager gab. Beim Essen verzichtete er auf seine Fleischportion, um sie an arme Leute zu verschenken. Diese zunächst tastende Hinwendung zu einer asketischen Lebensführung dürfte mit einer neuen religiösen Bewegung zu erklären sein. Die Pariser Universität war schon vor Ivos Immatrikulation Schauplatz einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner auf der einen Seite sowie den weltgeistlichen Professoren und Würdenträgern der Amtskirche auf der anderen. Letzteren war es um 1252 zunächst um den Ausschluss der Bettelmönche von den Lehrstühlen der Universität gegangen. Davon betroffen war auch Thomas von Aquin, der zeitweise nicht zu Vorlesungen an der theologischen Fakultät zugelassen wurde. Der Konflikt wurde zwar nach heftigen Kämpfen 1255 von 24

Papst Alexander IV. (Papst 1254–1261) zugunsten der Bettelorden entschieden. Doch war der Streit wegen seines grundsätzlichen Charakters damit nicht beigelegt. Die Bettelorden erhielten von päpstlicher Seite weitere Privilegien, ihre Angehörigen waren im Volk und unter den Studenten sehr beliebt und auch in der Wissenschaft erfolgreich. Dementsprechend selbstbewusst behaupteten sie die sittliche und geistliche Überlegenheit ihres Armutsideals gegenüber dem angeblich in Reichtum und Sünde lebenden Weltklerus. So setzte sich der anfangs formelle Streit um die universitäre Lehrbefugnis in einer literarisch-theologischen Auseinandersetzung fort, welcher Stand – Orden oder Weltklerus – die bessere Frömmigkeit für sich beanspruchen dürfe. Ivo geriet also mit Beginn seines Studiums der Freien Künste mitten hinein in diese brennendste Auseinandersetzung der Zeit um die wahre Nachfolge Christi und die recta ratio vivendi, die „wahre Frömmigkeit“. Die Bettelmönche predigten eine neue Frömmigkeit, die aus der Armut erwachse und in ihr sich bewähre. Ihr Aufruf richtete sich gerade an die Reichen und Mächtigen. Diese sollten aus selbstgefundener innerer Einsicht ihr Leben zu einer echten vita apostolica, einem Leben nach Art der Apostel, in evangelischer Armut und Askese umgestalten. Diese Armut war also nicht standesbedingt, sondern beruhte auf einer religiösen Entscheidung für eine Armut um Christi willen. Bei Ivo, nach Herkunft und Stand prädestiniert für diese Armutsbotschaft, scheint sie nun schon in seinen ersten Studienjahren Früchte getragen zu haben. Seinem Studieneifer dürfte die neue Askese nur genützt haben.

Rechtspraxis an der Universität Für Ivo ging es nun um die Aneignung der eigentlichen Rechtsmaterie und deren theoretische Durchdringung. Für 25

die praktische Anwendung der Normen und das gerichtliche Verfahren war in Paris der Traktat De legibus et praeceptis, „Von den Gesetzen und Geboten“, des Franziskaners Johannes von Rupella (gest. 1245) grundlegend. Johannes hatte selbst in Paris studiert und es dort zum Magister der Theologie und Universitätslehrer gebracht. Er erörterte in seiner Schrift methodengenau handfeste Rechtsfragen, indem er ein gedankliches Gerichtsverfahren inszenierte und in einem Wettstreit von Argumenten und Gegenargumenten seine Lösungen entwickelte. Das Gericht war allegorisch mit fides, dem Glauben, und ratio, der Vernunft, besetzt, die Wahrheit sprach sodann das Urteil. Es ging Johannes um ein gründliches Prüfen und Abwägen zur Schulung des juristischen Denkens. Sein Traktat stellte das gerichtliche Verfahren ausführlich dar und ging auf alle daran beteiligten Personen ein: Richter, Kläger, Angeklagte, Zeugen und Anwälte. Seine Ausführungen zum Richter begannen im Kapitel über „Amt und Pflichten des Richters“ und lehrten die Grundsätze der christlichen Gerichtsverfassung. Am knappsten waren seine Ausführungen über die Anwälte, die Johannes mit den Beisitzern und dem übrigen Gerichtspersonal zusammen als „accidentales/ weitere“ Verfahrensbeteiligte einstufte. Erörtert wurden hier drei Problemkreise: Ob der Anwalt verpflichtet sei, hilfsbedürftigen und mittellosen Personen seine Unterstützung zu gewähren; ob der Anwalt für seine Tätigkeit ein Honorar verlangen dürfe und was einen guten Advokaten ausmache. Die Antwort auf die erste Frage lag für Johannes auf der Hand: Natürlich sei der Anwalt dem in rechtliche Bedrängnis geratenen Mittellosen, wie auch der Arzt dem Kranken, zur Hilfeleistung verpflichtet. Unterlassene Hilfeleistung widerspreche dem Gebot der Barmherzigkeit, dem Naturrecht und dem Evangelium und sei eine schwere Sünde.

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Eingehend setzte sich Johannes mit dem Honorar des Anwalts auseinander. Für die mittelalterliche Kirche war diese Frage spätestens seit dem Aufkommen des Streits über die so genannte Simonie im 11. Jahrhundert diskussionswürdig. Der Begriff knüpfte an den Bericht der Apostelgeschichte (8, 9 ff.) an, wo der Zauberer Simon den Apostel Paulus (gest. um 60/62) um den Verkauf des wundertätigen Heiligen Geistes bat und von jenem deshalb mit den Worten verflucht wurde: „Du sollst verdammt sein mitsamt deinem Geld, weil du meinst, Gottes Gabe könne durch Geld erworben werden.“ Der Heilige Geist sei keine käufliche Ware. Aus dieser Episode konnte man den Schluss ziehen, auch die anwaltliche Vertretung und der rechtliche Rat seien etwas Geistiges, spiritualia, das man im Bereich kirchlicher Rechtszuständigkeit nicht für Geld leisten dürfe. Johannes dagegen unterschied zwischen der Rechtsgelehrtheit als solcher und deren praktischer Anwendung: Die Arbeit (labor) rechtlicher Analyse und Erörterung eines Lebenssachverhalts sowie die streitige gerichtliche Auseinandersetzung darüber sei im weiteren Sinne etwas Körperliches (corporalia) und müsse angemessen entlohnt werden – „der Arbeiter ist seines Lohnes wert“, wie es im Lukasevangelium (10,7) heißt. Die Höhe der Vergütung richte sich nach dem Umfang der Sache, dem notwendigen Aufwand, der Beredsamkeit des Anwalts und nach den regionalen Gepflogenheiten. Was machte nun nach der allgemeinen Lehrmeinung, insbesondere der des Thomas von Aquin, einen guten Anwalt aus? Johannes antwortete: Persönliche Eignung – eine gerechte Sache – gehöriges Auftreten – frommer Sinn. Vom Anwaltsberuf mangels persönlicher Eignung ausgeschlossen waren neben Minderjährigen, Blinden und Tauben Übelbeleumdete, Exkommunizierte, Ketzer und Heiden sowie Frauen, denen ja bereits die Universität verschlossen war (S. 16 f.). Auch Klerikern war es in der Regel untersagt, als 27

Anwälte tätig zu sein. Je enger die personale Bindung an die Kirche, je höher der Rang in der kirchlichen Hierarchie, desto umfassender war das Verbot. Mönche beispielsweise durften vor kirchlichen und weltlichen Gerichten nur im Interesse ihres Klosters und mit Erlaubnis ihres Abtes anwaltlich auftreten. Priestern war die Anwaltstätigkeit vor dem kirchlichen Gericht grundsätzlich erlaubt, vor dem weltlichen dagegen untersagt, Letzteres jedoch mit einem Erlaubnisvorbehalt: Prozesse zu Gunsten der eigenen Person, der Kirche, Verwandter und personae miserabiles/hilfsbedürftiger Personen durften sie auch dort führen. Dabei hatten diese Kirchenleute selten eine juristische Ausbildung und waren nur aus der religiösen Pflicht zur misericordia, der Barmherzigkeit, auf diesem Felde tätig. Zum gehörigen Auftreten gehörte eine maßvolle Rhetorik und ein Vorgehen gemäß der Prozessordnung: Der Anwalt durfte keine falschen Zeugen oder andere unrichtige Beweismittel benennen oder sich auf falsche Gesetze berufen. Des Anwalts frommer Sinn äußerte sich in dem Beistand, den er Armen und Hilfsbedürftigen unentgeltlich zu gewähren verpflichtet war. Gerecht war eine Sache, wenn die Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg hatte, was der Anwalt vor Übernahme des Mandats gründlich zu prüfen hatte.

Zivilrecht in Orléans In dieser Weise theologisch-kirchenrechtlich geschult, verließ Ivo 1271 – für uns überraschend – nach vier Jahren Hauptstudium die Sorbonne und wechselte an die Rechtsschule zu Orléans, ohne zuvor das Examen des kanonischen baccalaureus abgelegt zu haben. Was war der Grund? 28

Das juristische Studium in Paris hatte einen wesentlichen blinden Fleck: Man konnte dort das weltliche römische Recht nicht studieren. Papst Honorius III. (Papst 1216 –1227) hatte der Sorbonne im Jahr 1219 Vorlesungen im weltlichen Recht verboten; dort wurde erst 1679 ein Lehrstuhl für Zivilrecht eingerichtet. Es gäbe, so der Papst, nur äußerst selten kirchliche Rechtsfälle, für die das Kirchenrecht selbst keine Lösung bereithalte. Diese Begründung war jedoch vorgeschoben. Sie ließ die zunehmende Irritation des Papstes unerwähnt, dass ihm die Theologen von der Fahne gingen und zur scientia lucrativa, dem einträglichen Beruf des Juristen, überliefen. Dass dieses Verbot nichts fruchtete, zeigt die Klage von Papst Innozenz IV. (Papst 1243–1254) vom Jahr 1252: „Uns kommt immer wieder das entsetzliche Gerücht zu Ohren, dass eine große Zahl von Klerikern das philosophische Studium, ganz zu schweigen vom theologischen, im Stich lässt und in die Vorlesungen des weltlichen Rechts läuft...“

An diesem Missstand litt die theologische Fakultät auch zu Ivos Zeiten. Dabei konnte die Kurie das römische Recht nicht gänzlich totschweigen. Ein Totalverbot hätte sich einerseits gegenüber dem aufsteigenden französischen Königtum nicht durchsetzen lassen. Außerdem lebte die römisch-katholische Kirche selbst nach römischem Recht/Ecclesia Romana vivit lege Romana. Sie wandte es an, wo das kanonische Recht keine Vorschriften bereithielt. Ohne Kenntnis des Zivilrechts kam also auch die kirchliche Rechtspflege nicht aus. Wollte Ivo dieses gründlich kennen lernen, war die berühmte Schule in Orléans der rechte Platz. Ihr internationaler Charakter war einzigartig, hier studierten bis 1532 zehn Nationen. Wenn wir heute vom „römischen Recht“ sprechen, verengen wir in der Regel den Begriff auf die Rechtssammlung Corpus iuris civilis, eine Auswahl des oströmischen Kaisers Justinian I. (482–565) aus den Jahren 533/534. Die Bezeichnung Corpus iuris canonici lehnt sich daran an und grenzt sich gleich29

zeitig ab. Pendant zu den Canones der Kirchenrechtler waren die Leges, die „Gesetze“ des Corpus iuris civilis. In Bologna war gegen Ende des 11. Jahrhunderts eine Abschrift der zwischenzeitlich verschollen gewesenen Digesten aufgetaucht, die das hoch entwickelte klassisch-römische Juristenrecht enthielten. Damit schlug die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Recht. Zur Zeit Ivos war die weltliche Rechtswissenschaft ihren Kinderschuhen längst entwachsen und so selbstbewusst, dass einer ihrer Repräsentanten schreiben konnte: „Die Jurisprudenz ist wie eine milde Herrin. Sie adelt ihre Jünger, verschafft Ämter, verdoppelt Rang und Vermögen. Sie hat... die Rechtsprofessoren in der ganzen Welt zu Herren gemacht und ihnen den Zugang zum Hofe des Kaisers verschafft...“

Da die Karriereaussichten des weltlichen Rechts auch die Kleriker bestachen, hatte sich die Kirche notgedrungen dem zivilrechtlichen Geist öffnen müssen und dadurch ihrerseits Erneuerung und Befruchtung erfahren. Die Verwandtschaft der beiden Rechte in theoretischer wie praktischer Hinsicht war die Voraussetzung, dass sich das weltliche ius commune/ gemeine Recht entwickeln konnte, eine Rechtskultur, die für ganz Europa identisch war. Das ius commune wahrte die Einheit des europäischen Rechts, insbesondere die des Heiligen Römischen Reiches. Daher musste der vollkommene Jurist ein doctor utriusque iuris/Gelehrter beider Rechte, sein: „Purus canonista, purus asinista/Der nur im Kirchenrecht Gelehrte ist ein Eselsgelehrter.“ Es gab also gute Gründe für Ivo, es nicht bei einem kirchenrechtlichen Studium zu belassen. Trotzdem lässt sein Weggang aus Paris Fragen offen. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, zunächst das Examen im Kirchenrecht abzulegen? Immerhin bedeutete das Studium des weltlichen Rechts einen kompletten Fakultätswechsel. Eine Antwort hierauf können wir nicht geben. 30

Die Rechtsschule in Orléans – sie wurde erst im Jahr 1306 zur Universität erhoben – hatte sowohl im kanonischen wie im römischen Recht einen hervorragenden Ruf. Kanonisten und Legisten pflegten regen Austausch; der Unterricht war von praktischer Erfahrung aus Rechtsberatung und Gericht geprägt und auf dem neuesten Stand des Rechts. Der akademische Unterricht behandelte neben dem kirchlichen und weltlichen Recht auch das französische Gewohnheitsrecht der Coutumes und die Gesetzgebungsakte der Könige von Frankreich, die königlichen Ordonnanzen/Ordonnances royales. Ivo wird in Orléans sicherlich das gesamte Spektrum an Lehrveranstaltungen wahrgenommen haben. Ein Kommilitone und Zimmergenosse in Orléans berichtet später von Ivos Askese, die sich im Vergleich zu den Anfängen an der Sorbonne vertieft hatte. Ivo trank nun keinen Wein mehr, fastete grundsätzlich einen Tag in der Woche und war ein eifriger und ausgiebiger Kirchgänger. Bei den ausgelassenen Feiern seiner Kommilitonen fehlte er. Er fluchte nicht, schwor nicht bei Gott oder den Heiligen und enthielt sich aller „unreinen“ weltlichen Freuden.

In die Praxis Mit dem Wechsel nach Orléans hatte sich Ivo noch weiter von seiner Heimat entfernt. In sein Leben kam nun Unstetheit: Er verließ 1273 die Rechtsschule wieder, um von 1277– 1279 noch einmal dorthin zurück zu kehren. Womöglich – sicher wissen wir das nicht – hat er in der Zwischenzeit seine Studien an der Sorbonne fortgesetzt, vielleicht auch ein Praktikum an einem Kirchengericht oder bei einem Anwalt absolviert.

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Auch die Frage, welchen universitären Abschluss Ivo bei Verlassen der akademischen Welt im Jahr 1280 nach immerhin neunzehnjährigem Studium erreicht hat, ist nicht zu beantworten. Jedenfalls war er trotz seines fünf- bis sechsjährigen Grundstudiums, eines achtjährigen Studiums des Kirchenrechts in Paris sowie weiterer fünf Jahre des Studiums beider Rechte in Orléans kein Langzeitstudent im heutigen Sinne. An der Sorbonne war allein für den Erwerb des theologischen Bakkalaureats, des niedrigsten akademischen Grades, ein mindestens achtjähriger Besuch der Vorlesungen Voraussetzung. In Orléans war der Erwerb des Bakkalaureats allerdings früher und ohne streng organisierte Prüfung möglich. Hier reichte nach fünfjährigem Studium die Bescheinigung eines promovierten Lehrstuhlinhabers aus, der Student sei nun befähigt und befugt, selbst Kurse an der Rechtsschule zu halten. Wir haben nur die – allerdings bezweifelbare – Information, Ivo habe im Jahr 1278 in Orléans selbst Lehrveranstaltungen abgehalten, was den Bessitz des Bakkalaureatsgrades vorausgesetzt hätte. Dass er höhere akademische Weihen, etwa einen Magisteroder gar Doktorgrad erreichte, dürfen wir nicht annehmen, auch wenn er später öfter als doctor iuris utriusque/Doktor des kirchlichen und des weltlichen Rechts, dargestellt wurde. Mochte Ivos solide und umfassende juristische Ausbildung für eine wissenschaftliche Karriere auch nicht ausgereicht haben, so eröffnete sie ihm doch einen aussichtsreichen praktischen Berufsweg. So wurde er 1280, in seinem 33. Lebensjahr, vom Bischof von Rennes in die Bretagne zurückgerufen und dort mit dem Amt eines kirchlichen Richters betraut. Hierfür war nach den einschlägigen Statuten kein akademischer Grad, sondern lediglich ein fünfjähriges Rechtsstudium Bedingung. Ivo musste dazu nicht Priester sein und war es trotz seiner Studienwahl auch nicht. Dazu hätte es der Weihe durch einen Bischof bedurft. Ivo lag damit im Trend der Zeit: Seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts begann die 32

Zahl der Laien unter den Kirchenrechtlern stetig anzusteigen, während davor der Klerus das Fach dominiert hatte. Der Berufsweg Ivos war kurz und verlief in engen Bahnen: Er versah sein Amt als kirchlicher Richter zunächst vier Jahre lang in Rennes und wechselte 1284 als juristischer Berater und Kirchenrichter zum Bischof von Tréguier. Dieser Wechsel war ein beruflicher Aufstieg. In Tréguier war er unmittelbar dem Bischof persönlich verantwortlich, während er in Rennes ein Richter neben anderen gewesen war, die ihrerseits einem kirchlichen Verwaltungsbeamten, ebenfalls ein Jurist, unterstanden. Tréguier besaß zudem noch aus einem anderen Grund Anziehungskraft für Ivo: Diese kleine bretonische Stadt liegt in fußläufiger Entfernung zu seinem elterlichen Gut Kermartin in Minihy-Tréguier. Den Herrensitz gibt es heute nicht mehr; er wurde im 19. Jahrhundert durch einen Brand zerstört. Das einzige aus Ivos Lebenszeit noch erhaltene Gebäude ist das Taubenhaus, ein runder Turm, der auf einem Feld neben der Kirche Saint-Yves von Minihy steht. Es belegt den Adel der Familie Hélory, denn das Recht auf ein Taubenhaus war den Adligen vorbehalten. Das Feld mit dem Taubenhaus soll Ivo mehr als jeden anderen Ort seines elterlichen Guts geliebt haben. An die Tauben knüpft sich eine Legende aus seinen Kindertagen: Ivos Vater habe eines Tages die Felder neu ausgesät und seinen Sohn beauftragt aufzupassen, dass seine Tauben die neue Saat nicht auspickten. Während Ivo dort wachte, sei ein Freund zu Besuch gekommen, und gemeinsam hätten die beiden Jungen beschlossen, zur nahen Kapelle zu gehen. Um die Tauben daran zu hindern, in der Zwischenzeit das Feld zu plündern, hätten sie die Seitenwände und das Rad eines alten Karrens am Rande des Feldes vor dem Taubenschlag aufgebaut. Ivo habe geglaubt, dieses Hindernis werde genügen, um die Tauben von dem Feld fernzuhalten. Tatsächlich hätten diese während seiner Abwesenheit den Taubenschlag nicht verlassen, weil ein Engel für Ivo das Feld bewacht habe.

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Übrigens hat man darauf hingewiesen, dass sich eben in dieser Gegend der Gemeindewald eines „von unbeugsamen Galliern bevölkerten Dorfes“ befunden habe, das als einziges in Gallien nicht aufgehört habe, den römischen Eindringlingen Widerstand zu leisten... Dass allerdings unser bescheidener, asketischer, gebildeter und völlig unkriegerischer Ivo ein Nachfahre der unbeugsamen Bewohner des Dorfes von Asterix und Obelix ist, dürfen wir mit einigem Recht bezweifeln. Noch im Jahr des Wechsels nach Tréguier weihte der Bischof den angeblich widerstrebenden Ivo zum Priester und übertrug die Pfarrei Tresdrez seinem einzigen Richter als Pfründe. Der Weiler Tresdrez liegt etwa 33 km westlich von Tréguier, nahe St. Michelen-Grève auf den Klippen. Warum Ivo sich gegen die Priesterweihe gesträubt haben sollte, wissen wir nicht. Die Pfarrei war schon wegen ihrer Entfernung von Kermartin für ihn nicht ohne beträchtlichen Aufwand zu betreuen. Ivo dürfte sein Amt dort nur sporadisch wahrgenommen haben. 1292 wechselte er in die Pfarrei von Louannec, nördlich von Tréguier an der Küste gelegen, die wohl eine einträglichere Pfründe gewesen sein dürfte und leichter zu erreichen war. Ein solcher Werdegang war typisch für durchschnittlich erfolgreiche Kirchenjuristen dieser Zeit: ein Studium der freien Künste, dann des Kirchenrechts, durch theologische Vorlesungen ergänzt, außerdem des Zivilrechts in den Grundzügen; Beendigung des Studiums auf einer mittleren Ebene, begleitende Lehrtätigkeit an der Universität; direkter Einstieg in das Berufsleben als Kirchenrichter, zusätzlich eine Pfarrei als Pfründe. Für das Amt eines schlichten Priesters war Ivo nach Herkommen und Vorbildung weit überqualifiziert, denn das Bildungsniveau des niederen Klerus war im allgemeinen gering. Erst die höheren Stufen der Hierarchie waren Männern mit einem akademischen Grad in Theologie oder noch 34

häufiger im Kirchenrecht vorbehalten. Überdurchschnittlich begabte und erfolgreiche Kirchenrechtler brachten es an der Universität zu einem Doktorgrad und im praktischen Berufsleben zum Bischof oder Erzbischof, herausragende erreichten eine Kardinalsposition, einige wenige wurden sogar Papst. Eine Besonderheit gibt es über Ivo allerdings zu berichten: Er begann nach seiner Rückkehr nach Tréguier neben seinem Richteramt zugleich als Anwalt zu praktizieren. Dies wäre heute gemäß § 47 der Bundesrechtsanwaltsordnung schon berufsrechtlich nicht zulässig. Damals war ein solches Nebeneinander jedoch nicht ungewöhnlich.

Der Offizial Über Ivos Tätigkeit als kirchlicher Richter haben wir kaum Informationen. Seine Amtsführung war offensichtlich unauffällig und blieb innerhalb der zeitgenössischen Vorgaben, die nun betrachtet werden sollen. Das Amt des kirchlichen Richter gab es in Frankreich zur Zeit Ivos schon seit gut einhundert Jahren. Die Verwissenschaftlichung des Rechtsdenkens hatte zuerst das kirchliche Verfahrensrecht erfasst, das nun nach römisch-rechtlichem Vorbild umgestaltet wurde, und war darin dem weltlichen Recht voraus. Bisher waren die Gerichtsverfahren nach lokalem Recht gehandhabt und, sofern sie dem Bischof vorbehalten waren, auf Synoden entschieden worden: Der Bischof hatte dem Gericht persönlich vorgesessen, die Synodalen das Urteil gesprochen. Jetzt erforderten die neuen römisch-kanonischen Prozessformen einen damit vertrauten gelehrten Richter, der auf der Grundlage des neuen Rechts verfuhr und entschied. Als entsprechende Gerichtsorganisation schuf man das Offizialat, die bischöfliche Justizbehörde, der der Kirchenrichter/Offizial, vorsaß. 35

Diese neue Gerichtsbarkeit kam zuerst in Nordfrankreich und in England auf. 1171 wird in Reims ein Offizial als bischöflicher Richter urkundlich erwähnt. Gegen 1210 überzog das Netz der Kirchengerichte ganz Frankreich. Von dort aus verbreitete sich das Offizialat nach französischem Muster in das Heilige Römische Reich: Schon 1196 saß ein Offizial in Mainz, 1221 auch in Trier. Über Speyer, Worms, Köln, Konstanz, Münster, Würzburg, Hildesheim, Magdeburg und Halberstadt, die noch im 13. Jahrhundert Offizialate einrichteten, gelangten diese auch in den Norden des Heiligen Reiches: Im 14. Jahrhundert erhielten neben Paderborn, Minden und Passau auch Osnabrück, Bremen und Schleswig je einen Offizial. Dieser war in der Ausübung der Gerichtsbarkeit Stellvertreter des Bischofs, aber zunehmend von diesem unabhängig. Mehr und mehr gliederte man die Jurisdiktionsgewalt aus dem Aufgabenbereich des Bischofs aus, so dass gegen die Entscheidungen des Offizials nicht mehr an den Bischof appelliert werden konnte. Der Kirchenrichter erledigte neben seiner richterlichen Tätigkeit auch die anderen Verwaltungsgeschäfte, die im Zusammenhang damit anfielen. Insbesondere oblag ihm die Aufsicht über sein Gerichtspersonal. Sein Amt wurde nicht auf Lebenszeit verliehen und konnte jederzeit vom Bischof beendet werden. Für seine Tätigkeit erhielt er als Beamter in der Regel nicht eine Pfründe – Ivo war insoweit eine Ausnahme –, sondern ein Gehalt. Seine Zuständigkeit hatte der Offizial von Amts wegen zu prüfen. Sie war ratione personae/personell auf den Klerus beschränkt sowie auf besonders schutzbedürftige Menschen. Dazu zählten Arme, Unmündige, Witwen und Waisen, außerdem Juden, Reisende, Kaufleute und Seefahrer, die so genannten „hilfsbedürftigen Personen/personae miserabiles“. Weltliche Gerichte besaßen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts für personae miserabiles eine Zuständigkeit

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nur dann, wenn diese größere Vermögensgegenstände erstreiten wollten, etwa eine umfangreiche Erbschaft. Während die sachliche Zuständigkeit der heutigen bischöflichen Gerichte vornehmlich auf Ehesachen beschränkt ist, hatten die mittelalterlichen Offizialate über sämtliche Fälle zu entscheiden, in denen schwere Sünden zu beurteilen waren, vor allem über Ehe- und Familiensachen sowie Betrug und andere strafrechtliche Delikte. Alle übrigen Angelegenheiten, etwa Vertragsverletzungen, gehörten vor die weltlichen Gerichte. Allerdings bestand gewohnheitsrechtlich eine Auffangzuständigkeit des kirchlichen Richters auch für causae prophanae, sofern das weltliche Gericht keinen Rechtsschutz bot. Dies führte im Ergebnis dazu, dass der Rechtsweg zu den bischöflichen Gerichten hilfsweise immer eröffnet war. Der berufliche Alltag Ivos als Offizial erschließt sich am ehesten anhand der Grundsätze des kirchengerichtlichen Verfahrens. Diese waren in Statuten niedergelegt, die der Bischof erließ. Dabei muss man bedenken, dass Ivo als mittelalterlicher Jurist nicht in modern-abstrakter Begrifflichkeit dachte, sondern wesentlich konkretere Fragestellungen formulierte und erörterte. Allgemeine Verfahrensleitsätze oder Prozessmaximen hatten in der Denkwelt eines Offizials im 13. Jahrhundert noch keinen Platz, doch praktizierte man überraschend modern: Es galt der Verfügungs- und Verhandlungsgrundsatz. Einleitung, Gegenstand und Fortsetzung des Verfahrens standen im Ermessen der Parteien, die entsprechende Anträge zu stellen hatten. Der Offizial konnte also nicht von Amts wegen/ex officio, ein Verfahren eröffnen. Er war an das Klagebegehren der Parteien gebunden. Auch Termine und Ladungen ergingen nur auf Antrag, desgleichen waren Berufungen oder Wiederaufnahmen der Initiative der Parteien vorbehalten.

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Auch den Sachverhalt ermittelte der Offizial nicht von Amts wegen. Es war den Parteien überlassen, was sie zum Gegenstand des Verfahrens machen beziehungsweise dem Gericht zu ihrer Entlastung vortragen wollten. Dies betraf auch die Benennung von Zeugen und anderen Beweismitteln. Die dem Zeugen zu stellenden Fragen wurden nach dem Tatsachenvortrag der Parteien formuliert, so dass auch der Umfang der Beweisaufnahme, die wesentliche Entscheidungsgrundlage des Richters, von den Parteien bestimmt wurde. Dem Offizial oblagen die prozessleitenden Verfügungen, etwa die Zustellung von Ladungen oder die Gewährung von Fristverlängerungen. Die Verhandlungen waren öffentlich. Es durften also auch Personen anwesend sein, die an dem Verfahren nicht beteiligt waren. Eine Ausnahme galt für das so genannte tempus iudicii, die Zeit, in der sich der Offizial mit den Anwälten über das Urteil beriet. Auch die Zeugen wurden in Abwesenheit der übrigen Beteiligten – selbst der Parteien – einzeln vernommen. Die Vernehmung führte nicht der Richter selbst durch, sondern entweder ein öffentlicher Notar oder ein Anwalt. Der Offizial erteilte lediglich unter seinem Siegel den Auftrag zur Vernehmung, die ohnedem nicht verwertbar war. Die Zeugenaussagen waren wörtlich aufzunehmen, die Niederschrift aber vor den Parteien zunächst geheim zu halten. Der Notar durfte ihnen weder eine Abschrift des Protokolls zukommen lassen noch Akteneinsicht gewähren. Erst auf Antrag einer Partei wurden die Angaben der Zeugen in einem besonderen Termin zur mündlichen Verhandlung öffentlich gemacht. Auf weiteren Parteiantrag setzte der Offizial noch einen zusätzlichen Termin an, um den Parteien Gelegenheit zu geben, ihre Auffassung bezüglich der Glaubwürdigkeit der Zeugen, der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen und deren Beweiserheblichkeit darzulegen. 38

Das Verfahren vor dem Offizial war durch Mündlichkeit geprägt. Insbesondere der Tatsachenstoff wurde von den Parteien oder deren Prokuratoren mündlich vorgetragen. Letzterer gab als Stellvertreter die prozessual bedeutsamen Erklärungen für die Parteien ab und nahm – je nach Umfang des Mandats – Prozesshandlungen vor. Weil allein der von den Parteien vorgetragene Sachverhalt die richterliche Entscheidungsgrundlage ergab, waren Sachkunde und Sorgfalt hier besonders wichtig. Der Prokurator konnte zumeist einen Bakkalaureusgrad in den Artes vorweisen und sollte an der Universität kirchliches und weltliches Recht gehört haben. Das praktische Handwerkszeug erwarb er während einer Assistenzzeit bei einem Kollegen. Sein soziales Ansehen und seine wirtschaftliche Stellung lagen im Mittelfeld zwischen dem hochbezahlten Advokaten und dem tiefer stehenden und auch schlechter entlohnten Notar. Der Notar protokollierte die mündlichen Erklärungen der Parteien. Er hatte zwar meist einige Semester studiert, besaß aber selten einen akademischen Abschluss. Neben seinem Amt als Protokollant der Verhandlung war er Spezialist für das Entwerfen und Aufsetzen von Kauf- und Übereignungsverträgen, Hypotheken, Eheverträgen und Testamenten. Eine notarielle Urkunde erbrachte den Beweis des ersten Anscheins, dass der darin niedergelegte Rechtsakt auch tatsächlich so stattgefunden hatte. Auf die notariellen Protokolle in den Gerichtsakten stützte sich der Richter maßgeblich bei der Urteilsfindung. Darüber hinaus konnte er aber auch auf mündlichen Vortrag aus seiner Erinnerung zurückgreifen, der nicht in die Gerichtsakten gelangt war. Dem Richter konnten Schriftsätze überreicht werden, in denen die Anwälte ihre Rechtsauffassungen vortrugen. Doch musste deren Inhalt verlesen und als mündlicher Vortrag in

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den Prozess eingeführt werden. Auch die Rechtsfragen wurden in der Verhandlung mündlich diskutiert. Überwiegend fand die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Richter persönlich statt, was wir heute als Prinzip der Unmittelbarkeit bezeichnen. Für einige deutsche Offizialate bestimmten die Statuten allerdings bemerkenswerte Ausnahmen: In Köln und Trier etwa konnte bei einfach gelagerten Fällen der Offizial die Verhandlung einem Advokaten oder einem Notar überlassen. Das Urteil, auf Grund des gefertigten Protokolls gesprochen, blieb allerdings dem kirchlichen Richter persönlich vorbehalten. Ivo saß als Offizial dem Gericht des Bischofs vor. Dessen Aufgabe war vor allem eine seelsorgerische. Religiöse Grundsätze prägten Verfahren und Rechtsprechung der Offizialate. Zentraler Begriff des kanonischen Rechtsdenkens war die Aequitas. Sie wurde unzureichend meist mit „Billigkeit“ übersetzt. Die Aequitas canonica war die Gerechtigkeit des Kirchenrechts und meinte eine höhere, dem christlichen Ideal nahekommende Gerechtigkeit, die das positive Recht im Einzelfall mildern – oder schärfen – konnte und als Maßstab diente, wenn geschriebenes oder ungeschriebenes Recht fehlte. Aequitas war eine Gerechtigkeit, die zwischen falscher Strenge und Milde die rechte Mitte hielt. Die Maxime: Solum Deum prae oculis habere/Gott allein vor Augen haben, wies den Weg zu ihr. Für den Offizial folgten daraus Fürsorgepflichten. Er musste sich um die pauperes et miserabiles/Armen und Hilfsbedürftigen kümmern. Die Parteien hatte er vor finanzieller Ausbeutung durch überzogene Gebühren der Anwälte und Prokuratoren zu schützen. Die Anwälte sollten gratis et pro Deo/ unentgeltlich und um Gotteslohn, den Bedürftigen ihr patrocinium/rechtlichen Beistand gewähren. Im Einzelfall ordnete

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der Offizial einen Anwalt bei. Es gehörte zu seinen prozessleitenden Aufgaben, „verschleppenden Vortrag zu beschneiden, fruchtlose Einwendungen, Anträge und Verzögerungsversuche zurückzuweisen, die Zänkereien und Beschimpfungen der Parteien, Anwälte und Prokuratoren sowie überbordende Massen von Zeugen einzudämmen, ... damit die Parteien nicht ... unbillig mit Mühen und Kosten beschwert werden.“

Ivo hat schnell und ohne Ansehen der Person Recht gesprochen, wie es dem abendländischen Richterleitbild selbstverständlich war. Das Amt soll für ihn jedoch derart qualvoll gewesen sein, dass ihm bei jedem schärferen Urteil die Tränen gekommen seien, als stehe er selbst vor dem Stuhl des Höchsten Richters. Dabei muss man beachten, dass Tränen in der mittelalterlichen Legende auch als Ausdruck einer besonderen Bewegung durch den Heiligen Geist galten. Der weinende Richter Ivo war also kein sentimentaler Zug der Legende. Es ging Ivo um geistgewirkte Entscheidung nach christlichem Selbstverständnis als Priester-Richter. Doch war dies nur die zweitbeste Lösung: Vorrang vor dem Richten hatte das Schlichten. In der Kunst des Vergleichs soll Ivo so erfolgreich gewesen sein, dass er in kaum einem Drittel der bei ihm anhängigen Fälle ein Urteil sprechen musste. Einmal hatte Ivo über einen langdauernden Streit zwischen einem Stiefvater und dessen Stiefsöhnen zu Gericht zu sitzen. Er drängte beide Seiten, sich zu versöhnen. Der Stiefvater blieb jedoch hartnäckig und verlangte ein Urteil nach Recht und Gerechtigkeit. Denoch gelang es Ivo schließlich durch Beten und Feiern einer Messe, beide Seiten zur Annahme seines Schlichterspruchs zu bewegen. In seinem Bemühen, Frieden unter den Parteien wiederherzustellen, setzte Ivo sich in Kontrast zu dem Bild vieler seiner Zeitgenossen vom grausamen Richter, der unerbittlich den Buchstaben des Gesetzes erfüllt. Ivo praktizierte die Aequitas canonica: Diese sieht den gerechten Richter mit einer Waage in 41

der Hand, welche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in ihren beiden Schalen trägt. Ausgewogen ist ein Urteil nur dann, wenn die Waagschalen schweben, weil die strenge Gerechtigkeit durch Barmherzigkeit auf das rechte Maß gebracht wird. Die Legende erzählt, die Reichen seien mit Ivos Urteilen oft nicht zufrieden gewesen, weil er ohne Ansehen der Person Recht gesprochen habe. Besonders eines seiner Urteile soll sie verärgert haben. Wir finden den Fall in leicht variierter Fassung in dem Volksbuch von „Till Eulenspiegel“ wieder, das im 15. Jahrhundert entstand („Wie Eulenspiegel zu Köln einen Wirt mit dem Klange des Geldes bezahlte“) und bei dem Dichter François Rabelais (um 1494–1553): „In der Garküche des kleinen Châtelets zu Paris verzehrte ein Lastträger sein Stückchen Brot und labte sich dabei an dem Duft, welcher vom Bratrost aufstieg. Der Garkoch ließ das ruhig geschehen; als jener aber sein Brot aufgegessen hatte, fasste er ihn beim Kragen und verlangte Bezahlung für den Bratenduft. Der Lastträger entgegnete, dass er ja sein Fleisch gar nicht angerührt und von dem Seinigen überhaupt nicht genommen habe, ihm also auch nichts schuldig sei. Der Duft, um den es sich handle, verzöge sich ja doch nach draußen und ginge sowieso verloren; noch nie habe man gehört, dass Bratenduft in den Straßen von Paris verkauft worden wäre. Dagegen behauptete der Garkoch, dass er nicht verpflichtet sei, den Lastträger mit seinen Bratendüften zu füttern, und wenn er nicht zahle, so werde er ihm seine Trage wegnehmen. Also griff der Lastträger nach seinem Knüppel und setzte sich zur Wehr. Bei dem Lärm lief das Volk von allen Seiten zusammen, und unter den Gaffern befand sich auch Meister Jahn, Narr und Bürger von Paris. Sobald der Garkoch seiner ansichtig wurde, sagte er zum Lastträger: ‚Bist du's zufrieden, dass der edle Meister Jahn unsern Streit schlichtet?’ – ‚Schwerenot, ja’, sagte der Lastträger, ‚Ich bin's zufrieden!’ – Nachdem sich also Meister Jahn den Fall hatte erzählen lassen, befahl er dem Lastträger, ein Geldstück aus der Tasche zu holen, worauf der ihm denn auch einen Tourainer Philippstaler reichte. Diesen legte sich Meister Jahn zuerst auf die linke Schulter, als ob er sein Gewicht prüfen wolle, dann ließ er ihn auf die linke Handfläche fallen, um zu hören, ob er auch von gutem Metall sei, und drückte ihn endlich an seinen rechten Augapfel, als wolle er die Prä-

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gung untersuchen. Dies alles verrichtete er unter dem lautlosen Schweigen des gaffenden Volkes, während der Garkoch ruhig abwartend dabeistand, der Lastträger aber in Verzweiflung geriet. Zuletzt warf er die Münze einige Mal auf die Ladenschwelle, dass sie laut erklang. Dann sprach er mit der Würde eines Gerichtspräsidenten, den Narrenkolben wie ein Zepter in der Hand haltend und die Kappe mit den Eselsohren tief in die Stirn gedrückt, nachdem er sich zwei- bis dreimal tüchtig geräuspert hatte, laut und vernehmlich: ,Der hohe Gerichtshof entscheidet, dass der Lastträger, welcher sein Brot mit Bratenduft gegessen, den Garkoch, wie billig, mit dem Klange seines Geldes bezahlt haben soll, und befiehlt, dass ein jeder sich sofort in seine Behausung zurückbegebe, ohne weitere Kosten und von Rechts wegen.’ („Gargantua und Pantagruel“, Siebenunddreißigstes Kapitel: „Wie Pantagruel Panurg beredet, einen Narren um Rat zu fragen“ des Dritten Buches Des Pantagruel zweites, erschienen 1546)

In der Fassung des Sachverhalts, den Ivo als Offizial entschied, war der Garkoch ein reicher Mann, der Lastträger ein Armer, der den Duft des Essens am Küchenfenster des Reichen genoss – und Ivo war kein Narr, sondern ein gelehrter Jurist.

Anwalt der Armen Wir befinden uns in den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts. Ivo erwarb sich nun in Stadt und Land um Tréguier neben seinem Richteramt einen Namen als Anwalt. Die Professionalisierung des Anwaltsberufes und seine Entwicklung zu einem freien Berufsstand waren eben abgeschlossen. In „beiden Rechten“, dem kirchlichen und weltlichen, akademisch ausgebildete Rechtsanwälte hatte es in Europa vor dem 12. Jahrhundert nicht überall gegeben, nun aber war ein Bedarf nach professioneller Rechtsberatung aufgekommen. Die agrarisch geprägten Gesellschaften des frühen Mittelalters hatten spezialisierte juristische Dienstleistungen nicht benötigt. Erst das Entstehen einer kaufmännischen Wirtschaft 43

und staatlicher Verwaltung seit dem 11. Jahrhundert hatten nun Gesellschaft und Gesetze zunehmend kompliziert werden und einen Markt für die Kenntnisse rechtskundiger Spezialisten entstehen lassen. Dem Anwalt oblagen im römischkanonischen Prozess die rechtliche Durchdringung des Sachverhalts, Beratung und Prozesstaktik. Wichtige Schriftsätze waren von ihm persönlich zu verfassen und mit Unterschrift und Siegel zu versehen, anderenfalls erkannte der Offizial sie nicht an. So herrschte nun faktisch ein Anwaltszwang. Ivo erlangte Autorität, ja regionale Berühmtheit als Advocatus pauperum/Anwalt der Armen. Mit den Worten: „Ego adjuvabo te pro Deo/Ich werde Dir um Gott(eslohn) helfen.“, trug er Bedürftigen seine Unterstützung an. Daher heißt noch heute in Belgien und den Niederlanden das Armenrechtsverfahren „Pro Deo“. Überliefert sind nur wenige Fälle aus Ivos Anwaltstätigkeit: Ein verarmter Adliger namens Richard Le Roux aus Ivos Pfarre in Tresdrez wurde von dem Abt eines nahegelegenen Klosters mit einer Klage auf Herausgabe seines Grund und Bodens überzogen. Le Roux wandte sich an Ivo und bat um dessen rechtlichen Beistand „pro Deo“. Er habe sein gesamtes sonstiges Vermögen verloren. Ivos erste Frage war, ob es sich denn um eine iusta causa/gerechte Sache handle. Sein potentieller Mandant bejahte dies und schwor einen Eid darauf. Ivo aber hörte außerdem Zeugen an, die das Recht des Adligen bestätigen konnten. Erst danach nahm er das Mandat an, focht die Sache bis zu Ende durch und gewann. In einer Ehesache vertrat er eine junge Frau aus seiner Gemeinde. Sie klagte auf Erfüllung eines Eheversprechens, von dem ihr Verlobter nichts mehr wissen wollte. Der aufbrausende junge Mann beleidigte Ivo vor Gericht und schalt ihn „Garköchlein!“ wegen seiner Sympathie für die Armen. Der

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Beruf des Kochs war zu dieser Zeit ein gesellschaftlich gering angesehener ohne zünftige Organisation. Ivo reagierte auf die Beleidigung nur mit einem Lächeln und verhandelte in der sachlich gebotenen Weise weiter. Die anwaltliche Verpflichtung, für Mittellose ohne Honorar tätig zu werden, war ein Gebot christlicher Barmherzigkeit/ misericordia. Miseri-cors ist, „wer ein Herz für die Armen hat“. Die misericordia war der Gipfel des christlichen Glaubens. Zum kirchenrechtlichen Fachbegriff ist die misericordia wegen ihrer überragenden moraltheologischen Bedeutung zwar nicht geworden. Sie hat jedoch im Armenrecht, in der Lehre von den personae miserabiles, über die die Kirche die ausschließliche Gerichtsbarkeit beanspruchte, ihre praktisch wirksamen Spuren hinterlassen. Der Anwalt durfte ein Armenmandat nur aus gutem Grund ablehnen, beispielsweise wegen eines Interessenkonflikts. Ivo hätte einen Armen nicht gegen seinen Bischof vertreten dürfen. Ansonsten hatte die Ablehnung den dauerhaften Entzug der Zulassung zur Folge.

Der Mensch Ivo Ivo hatte seine Lebensweise bereits während seiner Pariser Zeit asketisch bestimmt. Als er in den Jahren 1280 bis 1284 seine erste Stellung als Offizial in Rennes bekleidete, nahm er zu den Franziskanern Verbindung auf. Ihr Einfluss verstärkte bei Ivo diese Haltung in einem Wandlungsprozess, der sich über acht Jahre hinzog. Er beschrieb diese Zeit als eine des inneren Kampfes zwischen Rationalität und Sinnlichkeit. Im neunten Jahr begann er zu predigen, tat dies aber noch in der standesgemäßen Robe des Aristokraten, Offizials und Pfarrherren. Später trug er nur noch einen knopflosen Rock mit langen weiten Ärmeln, eine Art Mönchsgewand. Seine Mahlzeit bestand aus einfacher ungewürzter fleischloser Kost, 45

er trank ausschließlich Wasser. Seine Askese gipfelte schließlich in der Niederlegung des Richteramtes im Jahr 1298. Die verbleibenden fünf Jahre seines Lebens widmete Ivo neben seiner Pfarrei der Enthaltsamkeit, dem Gebet und der Wohltätigkeit. Seinen Besitz verschenkte er an die Armen. Ob er seine Tätigkeit als Advocatus pauperum noch weiter geführt hat, wissen wir nicht. Es scheint aber, als habe er sich überhaupt von der Rechtspflege abgewandt. Seine letzte unmittelbare Beziehung zur Jurisprudenz blieb das Buch, das er zur Nacht als Kopfkissen nahm: ein Band der Digesten des Corpus iuris civilis. Vor allem Ivos letzte Lebensjahre prägten sein Bild bei den Zeitgenossen. Diese rühmten seine Demut und Güte, Leidensfähigkeit und Friedfertigkeit, seine fromme Anteilnahme und Barmherzigkeit. Ivo habe vor allem die Schwachen und Bedürftigen im Blick gehabt und ihnen eine Herberge gebaut, wo sie hätten übernachten können. Er lebte zwar wie ein Bettelmönch, ist aber dem Bettelorden der Franziskaner niemals beigetreten. Ivo blieb der Armutsbotschaft treu, wie sie ihm in Paris begegnet war: ein reicher pauper Christi/ ein Armer um Christi willen aus religiöser Einsicht und freier innerer Entscheidung und Umkehr.

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Zweiter Teil Von Ivo Hélory zum Heiligen Ivo

Am 19. Mai 1303 starb Ivo Hélory, gut 50 Jahre alt, in Kermartin. Etwa drei Wochen vor seinem Tod hatte ihn große Schwäche befallen. Er sah, dass sein Leben zu Ende ging, und nahm den Tod gelassen an. Bei seiner letzten Messe musste man ihm beim An- und Ablegen der Priestergewänder behilflich sein. Nach der letzten Ölung verlor er die Sprache, schlug mit gefalteten Händen und Blick auf das Kruzifix mehrmals das Kreuz und gab im Morgengrauen des Sonntags nach Himmelfahrt seinen Geist auf, als schliefe er ein. Ivo wirkte nun auf die Anwesenden schöner und frischer als zu Lebzeiten. Er starb den Tod eines frommen Mannes, einen „guten Tod“, vorbereitet und ohne Qual.

Heiligsprechung Zehn Jahre später sprach Jean III., Herzog der Bretagne (1312–1341), persönlich bei Papst Clemens V. (Papst 1305– 1314) in Avignon vor und bat um die Heiligsprechung Ivos. Der Herzog brachte damit die aus dem bretonischen Volk kommenden Wünsche zum Ausdruck. Schon bei Lebzeiten hatte Ivo bei den Bretonen im Ansehen besonderer Heiligkeit gestanden. Bei der Überführung seines aufgebahrten Leichnams von Kermartin in die Kathedrale von Tréguier war es zu Menschenaufläufen gekommen, die Leute küssten Ivos Hände und Füße und versuchten, seinen Körper zu berühren. Die Zeiten allerdings, in denen das Volk sich seine Heiligen per viam cultus/durch bloße kultische Verehrung, unmittelbar selbst schuf und nur von seinen örtlichen Bischöfen absegnen ließ, waren vorbei. Die kirchliche Obrigkeit hatte längst 47

vor der Verehrung nicht offiziell anerkannter Heiliger gewarnt. Doch bloße Appelle konnten dem eingetretenen Wildwuchs nicht Einhalt gebieten, so dass die Kirche im 13. Jahrhundert die Heiligsprechungsgewalt ausschließlich in die Hände des Papstes legte und ein ausgefeiltes Kanonisationsverfahren entwickelte, das sich an den kanonischen Prozess als ein rechtlich geordnetes Verfahren anlehnte. Herzog Jean III. hatte mit seinem Besuch bei Clemens V. das formelle Verfahren zur Heiligsprechung in Gang setzen wollen, doch ließ sich die Kurie damit Zeit. Erster Verfahrensabschnitt war der so genannte Informativprozess, eine Voruntersuchung de fama et devotione populi, de miraculis et aliis/ über den Leumund des Kandidaten und seine Verehrung im Volk, über Wunder und anderes: Der Papst musste sich vergewissern, mit wem er es zu tun hatte. Er sandte Personen seines Vertrauens an den Wirkungsort des potentiellen Heiligen, die den Kandidaten auf Herz und Nieren prüften. Diese Beweisaufnahme zur Person Ivos fand vom 23. Juni bis zum 4. August 1330 in Tréguier statt. Die päpstlichen Kommissare, zwei Bischöfe und ein Benediktinerabt, vernahmen 243 Zeugen zum Thema der Voruntersuchung, darunter viele persönliche Bekannte, Freunde und Weggefährten Ivos. Erster und wichtigster Zeuge war dessen ehemaliger Hauslehrer, damals bereits 90 Jahre alt. Die Kommissare überreichten nach Abschluss der Beweisaufnahme die von Notaren gesiegelten Vernehmungsprotokolle am 4. Juni 1331 dem amtierenden Papst Johannes XXII. (Papst 1316–1334). Im nächsten Verfahrensabschnitt mussten die Protokolle durch mindestens drei Kardinäle oder Richter geprüft und die Prüfungsergebnisse, in einem Abschlussbericht zusammengefasst, dem Papst vorgelegt und von diesem abschließend bewertet werden. Doch stockte das Verfahren an dieser Stelle für fast 14 Jahre.

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Im Jahr 1334 sprach der Bischof von Tréguier Alain Hélory seinen Namensvetter Ivo selig. Das Kirchenrecht erlaubte dem Bischof noch bis in das Jahr 1643, Seligsprechungen vorzunehmen, allerdings nur bei Heiligen seiner Diöszese. Alain Hélory hätte Ivo wohl nicht seliggesprochen, wenn ein Protest Benedikts XII. (Papst 1334–1342) zu erwarten gewesen wäre. Dem Bischof von Tréguier muss daran gelegen gewesen sein, dass das in Avignon stockende Verfahren einem baldigen guten Ende entgegen ging. Dennoch blieb die Kurie weitere elf Jahre untätig. Im Februar 1345, während des Bürgerkriegs, der in der Bretagne um die Erbfolge nach Herzog Jean III. tobte, reiste Charles de Blois (gest. 1364), Führer einer der Kriegsparteien, nach Avignon zu Papst Clemens VI. (Papst 1342–1352) und drängte bei ihm im eigenen Namen und stellvertretend für den Adel und die kirchlichen Würdenträger der Bretagne auf die Heiligsprechung Ivos und den Abschluss des doch schon so weit gediehenen Verfahrens. Er durfte hoffen, dass der Papst, aus dem damals mit der Bretagne verbundenen Limoges stammend und ehemals Bischof von Rouen in der nahegelegenen Normandie, für den Heiligen aus seiner Nachbarschaft eine besondere Sympathie empfand. Tatsächlich ging alles nun sehr schnell: Am 19. Mai 1347, an seinem 44. Todestag, wurde Ivo nach dem festgelegten feierlichen Zeremoniell von Papst Clemens VI. in Avignon in den Heiligenkalender aufgenommen, zwei Monate später der französische König vom Papst davon in Kenntnis gesetzt. In der Bulle, die Clemens VI. unter dem Datum des 19. Mai 1347 erließ, bestimmte er, Ivos Fest solle alljährlich an diesem Tag von der gesamten Christenheit begangen werden.

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Die päpstlichen Akten Die Akten des Informativprozesses mit den Zeugenaussagen sind unsere ältesten und wichtigsten Quellen über Ivo Hélory, der selbst außer einem wenig aussagekräftigen Testament keine eigenen Schriften hinterlassen hat. Wir sind in der glücklichen Lage, eine vorzügliche Edition sowohl der Vernehmungsprotokolle wie des päpstlichen Abschlussberichts zu besitzen. Ein Gelehrter aus Vitré in der westlichen Bretagne, Arthur de La Borderie, entdeckte im Jahre 1884 in der Bibliothek der Stadt eine komplette Kopie der Zeugenaussagen sowie weitere Dokumente zum Heiligsprechungsprozess, die er 1887 unter dem Titel „Monuments originaux de l’histoire de saint Yves/Originaldokumente zur Geschichte des heiligen Ivo“ veröffentlichte. Aus den Akten entsteht das Bild eines in den christlichen Kardinaltugenden herausragenden asketischen Weltpriesters. Ivos alltägliche, aber in ihrer schlicht-vornehmen Humanität als selten empfundene christliche Lebensführung, seine Hilfsbereitschaft und eine bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gehende Wohltätigkeit standen im Mittelpunkt der Zeugenaussagen. Ivo verkörperte einen neuartigen Heiligentypus, der im Heiligenkalender nach den Märtyrerheiligen, den Bischofsheiligen und den heiligen Stiftern der Bettelorden etwas Neues darstellte: den sanctus presbyter/heiligen Priester. Außer ihm wurde im Hochmittelalter kein einziger Kleriker dieser untersten Stufe der kirchlichen Hierarchie heiliggesprochen. Ursache war das geringe Ansehen, das die Pfarrgeistlichen bis in das 13. Jahrhundert beim Volk wie auch in der Kirche selbst hatten. Sie galten als ungebildet, dumm, dick, plump, habgierig und allemal komisch. Sie mit Heiligkeit in Verbindung zu bringen, erschien den Zeitgenossen ganz und gar abwegig. So goss eine eigene mittelalterliche Literaturgattung, „les fabliaux“, satirische Verserzählungen weltlichen Ursprungs, ihren ganzen Spott über die allzu offensichtlichen Laster und Miss50

geschicke der Landpfarrer aus. Aber auch kirchliche Texte belegen ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den Priestern und die Fruchtlosigkeit von Versuchen der kirchlichen Obrigkeiten, die Einhaltung des Zölibats und eine zumindest einigermaßen würdige Erfüllung der gottesdienstlichen und seelsorgerischen Aufgaben durchzusetzen und zu kontrollieren. Ivo war hiervon eine allgemein auffällige Ausnahme. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts begann sich die Einstellung gegenüber dem Priesterstand zu ändern. Die kultische Verehrung erreichte nun, nicht zuletzt dank der prägenden Kraft von vorbildlichen Priestern wie Ivo, insbesondere in Westfrankreich auch einfache Pfarrer, zumeist außergewöhnliche Persönlichkeiten. Ivo unterschied sich von seinen Mitbrüdern nicht nur sozial durch seine adlige Herkunft, sondern auch kulturell durch seinen hohen Bildungsstand. Für ihn war das Priesteramt Folge einer freien Entscheidung. Herkunft und Ausbildung prädestinierten ihn eigentlich zu einer erstrangigen kirchlichen Karriere. Er gehörte zur Welt der Gebildeten, Reichen und Mächtigen, mochte er diese auch aus Treue zum Evangelium verlassen und sich als Armer verkleidet haben. Grundsätzlich konnte für die Menschen der damaligen Zeit, die die soziale Hierarchie tief verinnerlicht hatten, nur ein Adliger ein Heiliger sein. Nahezu alle Heiligen im Mittelalter entstammten dem Adel. Bei Ivo aber speiste sich die aura seiner Heiligkeit aus einer willentlichen Geste der Selbsterniedrigung, die nicht jedermann offen stand. Er war letztlich doch kein gewöhnlicher Landpfarrer: ein Studierter, ein „Sorbonnard“, der auf das Land zurückgekehrt war, um mit den kleinen Leuten zu leben. Wie sehr dies die Zeitgenossen beeindruckte, zeigt das Lob, das sie unter den Tugenden ihres Heiligen dessen humilitas/Bescheidenheit zollten: Seine Heiligkeit war das Ergebnis der allseits bewunderten Lebensführung einer Persönlichkeit hohen Ranges, der das Leben von Menschen teilte, die in Not und Elend lebten. Ihnen wollte er dienen. 51

Noch ein Charakterzug dieses sanctus presbyter machte auf die Zeitgenossen tiefen Eindruck: Sein unermüdlicher Eifer in der Ausübung des Priesteramtes insbesondere nach der Aufgabe seiner Richterlaufbahn. Ivo ging es um die Ausbreitung des Evangeliums. Er hatte als Prediger großen Erfolg. Er predigte nicht nur in seiner eigenen Pfarrei, sondern verkündigte Gottes Wort auch in vielen anderen Kirchen der Diöszesen Tréguier und St. Brieuc. Der homme de la parole/Mann des Wortes war zugleich ein homme du livre/Mann des Buches: Er trug allezeit die Bibel bei sich, und seine Mitbürger bezeugten, wie wichtig deren Lektüre für sein Alltagsleben war. Ihre Nähe zum Volk und die Distanz zur Herrschaft verschafften nun den Priestern im Gegensatz zu den Bischöfen gute Aussichten auf öffentliche Verehrung und Anerkennung ihrer Heiligkeit. Dass Ivos Heiligsprechung dennoch einzigartig geblieben ist, lässt auf eine eigene Kirchenpolitik der Kurie schließen. Sie misstraute dem Volk und dem ihm verbundenen niederen Klerus.

Die Legende Man muss bei der Suche nach den Spuren Ivos zwischen den päpstlichen Akten und der „Legende“ unterscheiden. Jene haben die Qualität historischer Quellen, weil Zeitgenossen Ivos befragt werden konnten. Die päpstliche Kommission musste bestrebt sein, sich ein wirklichkeitsgetreues Bild des Kandidaten für die Heiligsprechung zu verschaffen. Um grundsätzlich anderes geht es der Legende, einer religiösen Erzählung von einem Heiligen. Sie will nicht Verlauf und Kausalbeziehung historischer Ereignisse dokumentieren. Sie ist auch keine Biographie des Heiligen im Sinne moderner Geschichtsschreibung, kein Porträt seiner persönlichen Züge. Sie will 52

einen überzeugenden Beleg für die Heiligkeit eines Menschen liefern. Ihre Bedeutung als Geschichtsquelle ist dennoch beträchtlich. Heilige verdanken ihre Verehrung ihren Wundern und ihren Reliquien, vor allem aber den Legenden, in welch zeitlichem Abstand zu deren historischer Existenz diese auch entstanden sein mögen. Die Heiligenverehrung nährte sich so wenig aus dem „historischen Heiligen“ und so weitgehend aus der Legende, dass auch nie existent gewesene Heilige aus der Legende geschichtliche Authentizität empfingen und weitverbreiteten Kult genossen. Eine im Volk verbreitete Anekdote behauptet auch von Ivo, dieser habe als historische Person nie existiert, sondern sei lediglich eine Verballhornung der uralten Advokatenantwort auf die Frage des Mandanten, ob der Rechtsbeistand denn teuer werde: „Ih wo!“ Dass den Geschichten der Legende jegliche historische Beglaubigung fehlt, ändert nichts daran, dass sie oft die reizvolleren sind. Hinzu kommt, dass die Bretagne seit je ein besonders fruchtbarer Boden für Legenden war. Wir erinnern uns (S. 14) an Macht und Einfluss der keltischen Druiden und ihrer Magie. In keiner anderen Region Frankreichs stehen mehr Menhire, roh behauene, senkrecht aufgestellte Steine von bis zu fünf Metern Höhe aus vorgeschichtlicher Zeit, in Alleen angeordnet. Allein an der Küste rund um Carnac an der Südküste des Landes sind es über 3.000. Über ihre Funktion und Bedeutung wird immer noch spekuliert. Die einen halten sie für Fruchtbarkeitssymbole, die anderen für astronomische Zeichen. Die Bretonen allerdings haben ihre eigene Erklärung: die Legende, dass hier Feen in unvordenklichen Zeiten eine riesige Armee versteinerten. Im Wald von Brocéliande, auf halber Strecke zwischen Rennes und Lorient, beginnt die Geschichte von König Arthus und seiner Tafelrunde. Auf Befehl der Königs suchten die Ritter in den Wäldern der Bretagne nach dem Heiligen Gral. Im Norden 53

des Waldes von Brocéliande soll das Grab des Zauberers Merlin liegen, des Freundes von König Arthus. So existieren viele der mythischen Orte wirklich, Geschichte und Geschichten, Mythos, Märchen und Legende mischen sich. Und jeder echte Bretone wird die Frage, ob die Berichte der Legende wahr seien, mit einem resoluten „ja“ beantworten.

Ivos Wunder Die Heiligenlegende lebt vom Wunder. Die heiligmäßige Lebensführung allein genügte nicht, zu groß war das Verlangen der Gläubigen nach magischer Faszination. Wunder sind nicht nur, wie Goethe seinen Faust sagen lässt, „des Glaubens liebstes Kind“. Sie sind außerdem die „Waffen der Heiligen“. Doch fiel es seit jeher nicht leicht zu bestimmen, was ein Wunder sei. Thomas von Aquin entwickelte eine Definition, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Geltung blieb: Wunder seien Ereignisse, die sich außerhalb der naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten vollzögen. Echte Wunder könnten nur von Gott selbst vollbracht werden. Engel, Teufel oder Dämonen brächten lediglich – täuschend echte – Trugbilder zustande. Unter den verschiedenen Arten von Wundern gebe es solche, die die Heiligkeit eines Menschen belegten. Der Heilige habe dann von Gott die Kraft, Wunder zu bewirken (virtus). Diese Lehre war für den Kanonisationsprozess maßgebend. In dem Abschlussbericht der Kardinäle zur causa Ivonis werden einhundert anerkannte miracula/Wunder referiert, von denen Ivo 21 zu Lebzeiten und 79 nach seinem Tod gewirkt haben soll. Von den 243 Zeugenaussagen befassen sich nur 52 mit Ivos Leben und seinen lebzeitigen Wundern, die anderen 191 mit den Wundern post mortem.

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Am häufigsten werden Totenerweckungen und Krankenheilungen, Wunder, die im Alten und Neuen Testament vorgeformt sind, von Ivo berichtet: Von sämtlichen 100 Wundern Ivos waren allein 34 Totenerweckungen, 39 Krankenheilungen, darunter die Heilung von Muttermilchmangel, Lahmheit, Gicht, Fieber, Blindheit, Besessenheit, Schwachsinn, Wassersucht, Ohrensausen, Knochenbruch und Schlangenbiss. Davon machen die biblischen Varianten der Blinden- und Besessenenheilung mit 15 Fällen die stärkste Gruppe aus. Totenerweckungs- und Heilungswunder haben ausschließlich den Zweck der Heiligenverehrung. Die geheilten oder erweckten Menschen interessieren nicht als individuelle Schicksale, sondern als Objekte zum Beweis von Ivos Wunderkraft. Die Heilung oder Wiederbelebung vollzieht sich nach biblischem Vorbild blitzartig und vollkommen. Die Frische und drastische Unmittelbarkeit, mit der die Leidenden wiederhergestellt wurden, bewies den Wundercharakter der Heilung und die Wunderkraft des Heilers. Ein Beispiel im knappen Stil des päpstlichen Abschlussberichts: „Katharina, Ehefrau des Johannes Leganen, ... aus dem Dörfchen Plestin in der Diöszese von Tréguier, war an Händen, Armen, Füßen und Beinen lahm, so dass sie nicht gehen, nicht aufstehen und nicht selbst essen konnte, ein Arm war in den anderen verdreht und verwunden, die Hände unterhalb der Schlüsselbeine zusammenverkrampft, auch die Beine waren verdreht und die Füße einer über den anderen gekreuzt. Derart leidend und lahm, war sie zum Grab des besagten Ivo getragen worden, um dort ihre Gesundheit wiederzuerlangen. Dort lag sie sieben Wochen lang, legte Gelübde ab und betete zu dem besagten Ivo, dass er ihr ihre Gesundheit wiedergebe. Als sie dennoch nicht gesund geworden und schon zur Heimkehr auf ein Pferd gebunden und fortgeführt worden war, konnte sie doch noch wenig später an diesem Tag auf ihren eigenen Füßen und vollkommen geheilt zur Kirche von Tréguier und zum Grab des besagten Ivo zurückkehren.“

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Katharina selbst beschreibt das Heilungswunder eingehender: Als sie schon etwa eine Meile von der Stadt Tréguier entfernt gewesen sei, habe sie einen Blick zurück auf die Kathedrale geworfen, wo Ivo begraben lag, noch einmal ihr Gelübde an ihn bekräftigt und demütig gebetet: „O heiliger Ivo, warum soll ich krank davonziehen? O heiliger Ivo, möge ich durch dich von der Krankheit befreit werden!“ – da sei plötzlich ein ungeheurer Glanz um sie aufgestrahlt und habe sie durch und durch erwärmt. Sofort hätten ihre Arme sich entkrampft und gelöst, die Hände sich entspannt geöffnet, Füße und Beine seien gerade geworden. Ihr Betreuer habe sofort die Riemen gelöst, die sie auf dem Pferd hielten. Sie sei aus eigener Kraft auf den Boden herabgestiegen, ganz und gar genesen, um sogleich zu Ivos Grab zurückzukehren und ihm zu danken. Post mortem beschaffte Ivo mehrmals gestohlene oder verloren gegangene Gegenstände wieder und verhinderte das Niederbrennen eines Hauses, indem er das Feuer mittels einer Winddrehung in eine andere Richtung wendete. Er rettete Wein und Ladung eines Kaufmanns vor dem Untergang im Meer und bewahrte unzählige Tiere vor Krankheit und Tod. Besonders anfällig für den Verlust von Gegenständen war eine Frau namens Blezvenna Gasqueder aus Tréguier. Während ihrer Abwesenheit wurden einst sämtliche Wertgegenstände aus ihrem Haus gestohlen. Laut weinend begab sie sich zu Ivos Grab und versprach ihm für die Wiederbeschaffung ihrer Sachen zehn Schillinge, dazu in jedem Jahr ihres Lebens 12 Pfennige. Nach diesem Gelübde kam ihr eine Eingebung, wo sie ihr Eigentum wiederfinden werde. Sie ließ sofort durch öffentliche Wächter bestimmte Häuser durchsuchen, die dort Dreiviertel des Diebesguts fanden. Der Dieb war mit dem Rest des Diebesguts mittlerweile auf der Flucht – und erblindete plötzlich. Einem vorbeikommenden Mönch gestand er, dies sei ihm wegen des Diebstahls widerfahren. Er 56

erhielt sein Augenlicht erst zurück, nachdem er Ivo gelobt hatte, er werde das Diebesgut zurückgeben und ihm jährlich zwei Schillinge spenden. Derselben Blezvenna kam einmal ein silberner Becher abhanden. Sie weihte ihn daraufhin Ivo und bat ihn, er möge den Becher nicht in fremde Hände fallen lassen. Dafür versprach sie Ivo einen Becher aus Wachs und 12 Pfennige. Den wächsernen Becher stellte sie auf dessen Grab. Nachdem sechs Jahre vergangen waren, brannte das Haus eines gewissen Gaufridus Gasgueder bis auf die Grundmauern nieder. Die gesamte Einrichtung wurde ein Opfer der Flammen – bis auf einen silbernen Becher, der den Brand auf wunderbare Weise unbeschädigt überstanden hatte. Es war der Becher der Blezvenna. Adelicia, Ehefrau des Yves Locgier aus dem Dorf Ploenyet in der Diöszese von Tréguier, führte ihr mit Getreide beladenes Pferd zur Mühle. Dessen Vorderbeine waren zusammengebunden. Das Tier rutschte plötzlich ab, fiel in den Fluss Leu und verschwand. Adelicia, die den Zorn ihres harten und grausamen Ehemannes fürchtete, weihte Ivo das Tier und versprach ihm eine Kerze so lang wie sie selbst. Sie hatte das Gelübde kaum geleistet, da erschienen die Ohren des Pferdes an der Wasseroberfläche, und das Tier konnte aus eigener Kraft an Land gelangen. Nur ein Bruchteil der von Ivo nach seinem Tod gewirkten Wunder hat sich an seinem Grab in direktem Kontakt mit den Reliquien ereignet. Die Fernwirkung der Heiligen verstärkte sich seit dem 13. Jahrhundert zunehmend und lässt einen Wandel in dem Verhältnis der Gläubigen zu ihren Vermittlern im Himmel erkennen. Der Besuch am Grab war für die Gewährung eines Wunders nicht mehr Conditio sine qua non. Die spirituelle Dimension der Verehrung wuchs, die Macht der Heiligen gewann an Universalität.

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Eines der von Ivo post mortem vollbrachten Wunder fällt aus den beschriebenen Typen heraus und ist ungewöhnlich deutlich speziell auf ihn zugeschnitten: Die päpstliche Kommission hatte das Grab Ivos besucht und den Grabstein mit dessen eingemeißeltem Porträt sorgfältig in Augenschein genommen. Danach hob sich dieser Stein „miraculose et non per ministerium hominis/auf wunderbare Weise und nicht von Menschenhand“ etwa zwei Fingerbreit an – Hinweis auf die Heiligkeit Ivos und Anweisung zur „Erhebung der Gebeine zur Ehre der Altäre“: Bei diesem Ritus aus dem Reliquienkult öffnete man das Grab des Heiligen, „erhob“ die sterblichen Überreste und setzte sie am Altar einer Kirche bei. So wurden Ivos Gebeine am 27. Oktober 1347, fünf Monate nach dessen Heiligsprechung, unter ungeheurem Zulauf der Gläubigen erhoben und in einem provisorischen Grab verwahrt. Ivos Schädel, le chef de Saint Yves, und andere seiner Gebeine wurden in einem silbernen Reliquienschrein in der Schatzkammer der Kathedrale St.-Tugdual in Tréguier gesondert aufbewahrt. Sie konnten nun auch in andere Kirchen transportiert werden, um dort den Ruhm des neuen Heiligen zu verbreiten. Jean V., Herzog der Bretagne (gest. 1442), errichtete Anfang des 15. Jahrhunderts in Erfüllung eines Gelübdes in einer Seitenkapelle der Kathedrale ein prächtiges Grabmal für Ivo. Er zahlte sein Gewicht in Gold dafür. Grab und Reliquienschreine wurden 1793 von den Truppen der Französischen Revolution zerstört, die Bruchstücke ins Meer geworfen. Die Reliquien jedoch hatte man in einem Grabgewölbe der Kathedrale St. Tugdual verstecken können, wo man sie im Jahr 1801 wieder unversehrt barg. Der besonders verehrte chef de Saint Yves wird heute in einem gläsernen Schrein mit vergoldeten Bronzeeinfassungen in Tréguier aufbewahrt. Von den übrigen Reliquien sind nur noch die rechte Schulter und die linke Speiche vorhanden. Alles andere befindet sich – sofern noch vorhanden – im Besitz anderer in- und ausländischer 58

Kirchen. Ivo erhielt in den Jahren 1884–1888 in der Kapelle St. Yves, auch Herzogskapelle genannt, der Kathedrale St. Tugdual, die Jean V. im Jahr 1420 hatte anlegen lassen, ein neues aufwändiges Mausoleum, das ihn in Lebensgröße liegend in Marmor abbildet. Zwei Engel halten ihn in ihren Armen. Sein vergeistigtes Gesicht zeigt einen Ausdruck heiterer Milde. Auch unter den Wundern, die Ivo zu Lebzeiten vollbrachte, gab es mit der Vermehrung von Brot und Getreide Varianten alt- und neutestamentlicher Vorbilder. Hierher gehören drei Straf- oder Heilungswunder: So heilte er die todkranke Mutter eines Zeugen, die die Ärzte schon aufgegeben hatten, indem er ihr einen Bissen der eigens für ihn zubereiteten Speise gab. Diese bestand wie üblich aus grobem Brot, kaltem Wasser und Klößchen in Wasser. Daraufhin fühlte sich die Kranke erleichtert und genas. Sie soll danach noch mindestens zwanzig Jahre gelebt haben. Einen durchreisenden Adligen, der seine Reise fortsetzte, ohne Ivos Predigt angehört zu haben, strafte dieser durch eine Lähmung, die den Mann ans Bett fesselte. Nach Ivos Tod bereute dieser, und die Lähmung verschwand. Ein anderes Mal hatte Ivo einen Besessenen zu sich bringen lassen, befragte ihn zunächst zu dessen Krankheit und ließ ihn dann die Beichte ablegen. Der Kranke erklärte danach, der Dämon habe ihn bedroht, er werde in der kommenden Nacht dafür büßen müssen, dass er zu Ivo gegangen sei. Er verbrachte daraufhin die Nacht bei diesem. Sein Lager besprengte Ivo mit Weihwasser, las darüber aus dem Evangelium und sprach mehrere Gebete. Während der Besessene schlief, wachte Ivo arbeitend und betend. Am nächsten Morgen erklärte jener, der Dämon habe ihn verlassen. Ivo Exorzismus war nach dem Vorbild des Neuen Testaments (Matth. 17, 21) durch Beten und Fasten erfolgt.

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In 19 von 21 lebzeitigen Wundern Ivos wird dessen heiligmäßiger Lebenswandel, oft unter Verwendung von Motiven der volkstümlichen Tradition gerühmt: So hatte Ivo sieben Tage lang nichts gegessen und getrunken und war trotzdem nach Gesichtsausdruck und körperlicher Verfassung so wohl anzusehen, als habe er täglich die üppigsten Speisen genossen. Seine prophetische Gabe bewies er, indem er einer Frau die Entlassung ihres im Gefängnis einsitzenden Ehemannes vorhersagte. Er behielt recht, allerdings erst nach seinem Tod. Ivo schloss Frieden mit dem Heiligen Tugdual. Dieser Heilige, sein Tag wird am 30. November gefeiert, war im 6. Jahrhundert aus England in die Bretagne gekommen, um die Bretonen zu missionieren. Er gründete die Abtei von Tréguier und wurde deren Abt und Bischof von Tréguier. Eines Nachts wurden Ivo und ein Zeuge in der Sakristei der Kathedrale durch ein fürchterliches Getöse geweckt. Sie gingen zum Altar, wo der Zeuge zurückblieb. Ivo begab sich allein an die Stelle, wo die Reliquien des Heiligen Tugdual aufbewahrt wurden. Der Zeuge hörte ihn im Wechsel mit jemandem sprechen, ohne jedoch die Worte im einzelnen zu verstehen. Ivo sprach unterwürfig, der andere fordernd. Nach langer Zeit kam Ivo zurück und meinte: „Es ist Frieden geschlossen.“ Dieses Wunder, das Züge einer Spukgeschichte trägt, deutete schon zu Ivos Lebzeiten seine künftige Heiligkeit an, denn ein Friedensschluss mit Tugdual war nur notwendig, weil hier zwei Heilige miteinander in Konkurrenz standen. Ivo hatte den an körperlichen Gebrechen leidenden Zeugen Guillaume Ballech mit den Worten bei sich aufgenommen: „Der gebenedeite Gott schickt seinen Boten zu mir.“ Er hatte ihm zu essen und ein Bett gegeben und ihm am nächsten Morgen Geld zugesteckt. Als der Zeuge danach Ivos Messe

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besuchte, zeigte sich eine Lichterscheinung: Beim Erheben der Hostie erstrahlte der Kelch. Ein Wunder trägt in den päpstlichen Akten den Titel „Enthüllung seiner Heiligkeit“: Ein Zeuge übernachtete auf einer Reise mit Ivo zusammen in einer Stube. In der Nacht rief ihm eine Stimme dreimal zu: „Steh’ auf, der Heilige ruht auf einem Stein!“ Der Zeuge fuhr hoch und griff neben sich, fand Ivo dort aber nicht. Er entdeckte ihn schließlich auf dem Friedhof, wo Ivo in einem hohlen Stein schlief, den zuvor bereits ein anderer Heiliger zu Bußübungen benutzt hatte. Mehrmals stellte Ivo seine Macht über die Elemente unter Beweis: Er bändigte angeschwollene Flusswasser, die eine Brücke unpassierbar gemacht hatten. Als Ivo die Brücke betrat, wollte ihm sein Diener zunächst nicht folgen. Ivo nahm seinen Begleiter lächelnd bei der Hand und meinte: „Sicher ist, dass wir entweder beide mit Gottes Hilfe hinübergelangen oder zusammen untergehen.“ Sobald sie den Fluss unbeschadet passiert hatten, schwoll dieser wieder an. Auch für dieses Wunder gibt es ein biblisches Vorbild im Zug Israels durch das von Mose gestaute Wasser des Roten Meeres (Ex. 14, 21-22). Ein Zeuge berichtet, sein Vater sei in berechtigten Zorn geraten, als Holz für einen Brückenbau, das von erfahrenen Handwerkern sorgfältig vermessen worden war, sich als zu kurz erwies. Der zufällig vorbeikommende Ivo nahm sich der Sache an. Das Holz wurde erneut vermessen und war nun lang genug. Eine Zwergin brachte Ivo und seinen Gästen drei Kuchenbrote, nachdem dieser sein eigenes Brot bis auf einen kleinen Rest verschenkt hatte. Auf die Frage, was sie wolle, antwortete sie, ihr sei zu Ohren gekommen, Ivo habe kein Brot im Hause und finde auch keines zu kaufen. Als man ihr während des Essens etwas abgeben wollte, war sie spurlos ver61

schwunden. Auf die Frage eines Gastes, wo sie denn sei, antwortete Ivo: „Ihr sollt schweigen und nicht reden.“ Zwerge, die Menschen Hilfe bringen und sie beschenken, über deren Geschenke man jedoch Stillschweigen bewahren muss, sind ein in ganz Europa verbreitetes Märchenmotiv. Als typischer Zug christlicher Märchen wird hier erhoben und unterstützt, wer aus Barmherzigkeit (oder auch Naivität) nicht selbst für sich sorgt. Ein Armer in zerschlissenem Rock, den Ivo an seine Tafel geladen hatte, verwandelte sich beim Essen in einen schönen Mann im weißen Gewand, das mit seinem Glanz das Haus erstrahlen ließ. Der Engel sprach: „Gott befohlen! Der Herr sei mit Euch!“ Ivo fing – bewegt vom Heiligen Geist – heftig an zu weinen und sagte: „Nun weiß ich, dass ein Bote unseres Herrn gekommen ist, uns zu besuchen.“ Er aß von diesem Tag an nicht mehr an dem Tisch, an welchem der Engel gesessen hatte. Die Legende erzählt ein Wunder, das die päpstlichen Kommissare nicht in ihren Bericht aufnahmen: Ivo sei eines Abends, von Müdigkeit übermannt, im Freien eingeschlafen, den Kopf auf einem prähistorischen Grabstein, einem „Dolmen“. Ein Bauer aus der Umgebung, der dem Anwalt einen verlorenen Prozess übel nahm, wollte Ivo mit seinem Spaten erschlagen. Ivo wachte eben noch rechtzeitig auf, um dem Schlag auszuweichen. Im gleichen Moment färbten sich die vorher schwarzen Haare des Angreifers feuerrot. Die roten Haare wurden in der Familie über mehrere Generationen vererbt. Definiert man mit Thomas das Wunder als das „Ereigniswerden des Unmöglichen“ unter Aufhebung der Naturgesetze, so erstaunt bei einer Episode aus Ivos Leben die Entscheidung der päpstlichen Kommission, diese unter die miracula aufzunehmen: Beauftragte des Königs von Frank62

reich waren nach Tréguier gekommen, um bei dem Bischof Steuern einzutreiben. Sie beschlagnahmten ein Pferd aus dessen Stall. Dies verletzte die Freiheit der Kirche/libertas ecclesiae und ihr privilegium immunitatis, die Abgabenfreiheit. Der König aber führte soeben Krieg gegen England und benötigte dringend Geld- und Sachmittel. Aus diesem Grund hatte er die Abgabenfreiheit der Kirche kurzerhand aufgehoben. Als die Leute des Königs kamen, bewachte Ivo in der Sakristei der Kathedrale die kostbaren Gottesdienstgefäße. Nun trat er den Vollstreckern der staatlichen Gewalt allein entgegen und nahm ihnen das Pferd mit den Worten weg, sie könnten in libertate Beati Tudwali/im Freiheitsbereich des Heiligen Tugdual nichts als Eigentum beanspruchen. Daraufhin meinte der Schatzmeister von Tréguier: „Köchlein, Köchlein, du hast uns in Gefahr gebracht, alles, was wir haben, zu verlieren, und das, weil du selbst nichts zu verlieren hast.“ Ivo entgegnete: „Ihr könnt reden, was Ihr wollt, ich werde mich trotzdem mein Leben lang nach Kräften für die Verteidigung der Freiheit der Kirche einsetzen.“ Mochten auch alle das Schlimmste befürchtet haben, so beruhigte sich die Lage doch am folgenden Tag wieder, und die Leute des Königs zogen ab. Das Volk erblickte in Ivos Handeln, das wider Erwarten ohne Folgen für diesen und den Bischof von Tréguier blieb, ein „allergrößtes Wunder“, ja ein Gottesurteil. Die spätere Legende schmückte die Episode aus: Die Offiziere des Königs hätten sich auf Ivo gestürzt und ihn misshandelt. Daraufhin seien die Armen und Notleidenden, die Blinden und Lahmen, denen Ivo geholfen hatte, herbeigeeilt und hätten die Leute des Königs verjagt. In der folgenden Nacht sei ein gewaltiges Unwetter über das Gebiet hereingebrochen. Es habe die königlichen Gefolgsleute derart in Angst und Schrecken versetzt, dass sie die Flucht ergriffen. Dieses Wunder fällt aus dem üblichen Rahmen der Heiligenlegende. Dort ist der Heilige, der dem staatlichen Unterdrücker Widerstand leistet, selten. Hier ist die Propaganda63

funktion greifbar: Die weltliche Macht sollte gewarnt werden, sich an Kirchengut zu vergreifen. Die Überhöhung eines Widerstandsakts ins Mirakulöse war ein politisches Bekenntnis der päpstlichen Kommission. Aus Ivos Lebzeiten wird nur von einer einzigen wunderbaren Heilung berichtet. Alle anderen Wunder sollten den Gläubigen stärken und die Tugenden des Gottesmannes bestätigen. Die Kurie hatte bereits im 13. Jahrhundert die Untersuchungskommissionen für die Heiligsprechungsverfahren angewiesen, ihr Augenmerk nicht allein auf die Wunder post mortem zu richten, sondern auch die bei Lebzeiten zusammen mit der Lebensführung des Kandidaten mit besonderer Aufmerksamkeit zu prüfen. Dahinter stand die Sorge, der Täuschung durch ein Doppelleben zum Opfer zu fallen, das hinter der Fassade höchster Tugenden in geheimer Lasterhaftigkeit geführt wurde. Seit dem Pontifikat Johannes XXII. (Papst 1316–1334) enthielt die Mehrzahl der Prozessakten wenigstens einige Wunder zu Lebzeiten. Wie man am Fall Ivo sieht, waren diese Wunder jedoch nicht mehr so gewaltige Ereignisse wie bei den Gottesmännern älterer Zeit. Die übernatürlichen Wunder, Totenerweckungen und Krankenheilungen, wurden in das posthume Wirken des Heiligen verwiesen. Der Raum, den auch im Abschlussbericht zur causa Ivonis dessen Tugenden einnahmen, die große Zahl von Zeugen, die darüber aussagten, die mehr und mehr vergeistigte Natur der lebzeitigen Wunder – all dies trug dazu bei, das Interesse auf die Vollkommenheit des Heiligen in seiner irdischen Existenz zu lenken.

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Der heilige Jurist Ivo wurde schon zu Lebzeiten als advocatus pauperum verehrt. Dennoch waren die Kommissare an dem Juristen Ivo nur am Rande interessiert. Im Heiligsprechungsprozess ging es um die Prüfung eines religiösen Ausnahmemenschen und nicht um die Auszeichnung eines Wissenschaftlers oder fachlich herausragenden Praktikers. Zwar wurde Ivos Namensvetter Ivo von Chartres, ebenfalls Franzose aus vornehmem Hause, ebenfalls Kanoniker, durch seine gewichtigen Lehrbücher zum Kirchenrecht unsterblich. Zum Heiligen nach kanonischem Recht brachte er es aber nicht. Das Desinteresse an dem Juristen Ivo lässt sich schon an der Zahl der Seiten ablesen, die der Abschlussbericht der päpstlichen Kommissare dem widmet: Ivos Lebensbeschreibung nimmt 65 Seiten ein, davon entfallen zweieinhalb auf seine juristische Tätigkeit. Die Zeugen bestätigen schematisch wie in einem modernen Arbeitszeugnis, Ivo habe allen Erwartungen entsprochen, die an einen christlichen Juristen zu stellen seien. Das Bild seines juristischen Arbeitsalltags bleibt lückenhaft. So wurde auch die richterliche Schlichtung zwischen den Stiefsöhnen und dem Stiefvater (S. 41) von der Prüfungskommission nicht als juristische Leistung, sondern als ein vom Heiligen Geist gewirktes Wunder anerkannt. Ivos Schlichtung beweist zwar sein großes Mediatorengeschick, hatte aber für den Fachkollegen nichts Übernatürliches an sich. Die Messe und der Heilige Geist waren das wunderwirkende Mittel.

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Dritter Teil Unsterblichkeit Die Bretonen hatten ihrem Monsieur Yves im Jahr 1347 endlich Rang und Nimbus eines Heiligen verschafft. Intensität, Wirkung, Dauer und Vielfalt von Ivos Nachleben waren damit weder gesichert noch abzusehen.

Der Patron Im mittelalterlichen christlichen Ständestaat waren jeder menschlichen Tätigkeit und jedem Stand, auch Orten und Personen Heilige als patroni/Schutzherren zugeordnet. Die Institution des patrocinium/Schutzverhältnisses stammt aus der Antike und meinte ursprünglich die Beziehung zwischen dem Landbesitzer und den unter seiner Schutzgewalt stehenden clientes/Hörigen, die beide Seiten zum Eintreten füreinander und den Klienten zu Respekt und Dankbarkeit verpflichtete. So hieß auch der Anwalt als Beistand vor Gericht, synonym zu advocatus, patronus causae/Schutzherr der Rechtssache. Noch heute lebt dieser Schutzgedanke in den Begriffen des Klienten und der Klientel/clientela weiter. Nachdem der patronus-Begriff gegen Ende des 4. Jahrhunderts christlich umgedeutet worden war, bezeichnete er nun vor allem Heilige, die als Fürsprecher vor Gott das Anliegen ihrer Schutzbefohlenen vertraten. Man feierte sie an deren Jahrestag, meist dem Tag ihres Todes.

„Ivo!“ „Ivo!“ lautete im 14. Jahrhundert der Kriegsruf der Bretonen. Saint Yves wurde neben St. Ivy patron secondaire de la 67

Bretagne/zweiter Patron der Bretagne. Man erhob ihn zum Stadtpatron nicht nur von Tréguier, sondern auch der bretonischen Hauptstadt Rennes. Le Parlement, der dort ansässige oberste Gerichtshof der Bretagne, hält bis heute am 19. Mai, dem Todestag unseres Heiligen, keine Sitzungen ab und feiert seinen patron et protecteur spécial/besonderen Patron und Beschützer. „N’an neus ket e Breizh, n’an neus ket unan/N’an neus ket eur Zant evel Zant Erwan!/Es gibt in der Bretagne keinen, aber auch keinen einzigen/Es gibt keinen einzigen Heiligen wie den heiligen Ivo!“, besingt ein altes bretonisches Volkslied („Kantik neve Zant Erwan/Lied über heiligen Ivo“) den Nationalheiligen. Charles de Blois (S. 49) persönlich soll es gedichtet haben. Man singt das Lied mit der einförmigen Melodie in Tréguier bis heute bei den alljährlichen Feierlichkeiten am Jahrestag des Heiligen. Ein Priester aus der Diöszese von Tréguier gründete in Rennes im Jahr 1358 ein Hôtel-Dieu/Zentralkrankenhaus unter dem Patronat des Heiligen. In Guingamp, der größten Stadt des ehemaligen Bistums Tréguier, wurde im Jahr 1852 die Société de Saint Yves ins Leben gerufen, mit der man dem Heiligen das Patrozinium über die Arbeiter anvertraute. Nach dem Règlement der Gesellschaft geschah dies „en mémoire des prodiges de charité opérés par saint Yves dans ce pays même/zur Erinnerung an die Wunder der Mildtätigkeit, die Saint Yves in seiner Heimat vollbracht hat“.

Den bretonischen „Nationen“ an den Universitäten (S. 17 f.) fiel bei der Ausbreitung des Ivo-Kults eine maßgebliche Rolle zu. Saint Yves war der natürliche Patron der bretonischen Studenten, die in den Ivo-Kirchen und -kapellen der Universitäten ihr Zuhause fanden und ihren Heiligen feierten. In Paris wurde der Ivo-Tag seit 1420 von der medizinischen(!) Fakultät gefeiert. Ob Saint Yves auch Patron der medizinischen

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oder der juristischen Fakultät war, wissen wir nicht. Seit 1452 feierte die gesamte Sorbonne den Ivo-Tag.

Saint Yves im Bild „... on ne trouve pas une ville, une bourge, un hameau, qui n‘ait sa chapelle, son autel, son image du saint prêtre/... man findet keine Stadt, keinen Marktflecken, keinen Weiler, der nicht seine Kapelle, seinen Altar, sein Bild des heiligen Priesters hat",

schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts ein französischer Historiker über Saint Yves in der Bretagne. Tatsächlich sind den die Bretagne Bereisenden Ivo-Kirchen, -kapellen, -statuen und die für das Land typischen Calvaires/ Kalvarienberge stets gegenwärtig. Calvaires sind plastische steinerne Darstellungen der Kreuzigungsgruppe und des Kreuzigungsberges als Bilderbibeln für das einfache Volk. Man sieht Statuen des Heiligen in Brennilis (Finistère), in Lanrivain (Côtes-du-Nord) oder in Ploubezre (Côtes-du-Nord); eine Église Saint-Yves in Bubry (Morbihan) und in PlounéourMenez (Finistère), eine Église Saint-Yves mit Statue beziehungsweise Calvaire in Plougonven (Finistère) und RocheMaurice (Finistère); in Dinan (Côtes-du-Nord) eine Skulptur in der Église Saint-Sauveur; in Moncontour-de-Bretagne (Côtesdu-Nord) ein Glasfenster mit Saint Yves aus dem Jahr 1537; in Nantes (Loire-Atlantique) ein Portal mit Motiven des Heiligen an der Cathédrale Saint-Pierre; in Plougrescant (Côtesdu-Nord) eine Portaltäfelung mit einer Darstellung Saint Yves’; in Vannes (Morbihan) ein Collège Saint-Yves mit Chapelle. Die Statuen des Heiligen zeigen ein stereotypes Ensemble: Saint Yves sitzt oder steht zwischen einem Reichen und einem Armen. Der in Lumpen gekleidete, barfüßige und kurzhaarig-barhäuptige Bauer, auf einen groben Stock gestützt, möchte dem Heiligen ein Schriftstück, offenbar eine Bitt69

schrift, aushändigen. Sein Blick ist bescheiden zu Boden gerichtet. Auf Saint Yves’ linker Seite steht ein wohlhabender Bürger oder Grundherr, langhaarig, mit Geldbeutel, reich gekleidet und mit Hut. Er sucht den Heiligen mit einem Goldstück zu bestechen. Eine von dem Reichen abgewandte Kopfdrehung Saint Yves’ macht deutlich, dass der Heilige seine Aufmerksamkeit dem Armen zuwendet. Dabei ist Saint Yves als Anwalt oder Richter, meist jedoch als Priester gekleidet. Der Priesterornat stand in höherem Ansehen als die Anwalts- oder Richterroben. Trägt Ivo bei einer juristischen Tätigkeit das Priestergewand, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass er, zugleich Priester und Jurist, sich auch als Jurist den christlichen Tugenden verpflichtet weiß (siehe das Gemälde S. 114).

Das Heiligengrab als Gerichtsstätte In der Bretagne, der terre du passé/dem Land aus der Vergangenheit, gab es noch bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts den alten Rechtsbrauch der Wallfahrt zum Heiligtum „Saint Yves de Vérité/des Heiligen Ivo der Wahrheit“, um dort eine Entscheidung durch Gottesurteil zu suchen. Es handelte sich dabei nicht mehr um das alte Gottesurteil archaischer Zeit mit seinen magischen Praktiken, wenn auch einige zauberische Elemente in der Anrufungszeremonie vorkamen, sondern um ein juristisches Verfahren. Das betreffende Heiligtum, ein altes Beinhaus, hatte ursprünglich nahe von Tréguier auf der anderen Seite des Flusses Jaudy gestanden. Es befand sich darin eine hölzerne Statue des Heiligen. Dieses Haus wurde von der Kirche 1879 abgerissen, um dem damit verbundenen populären Wunderglauben ein Ende zu machen, nachdem dieser nahezu unheimliche Formen angenommen hatte. So pilgerte man nun an 70

den Platz, wo die Kapelle gestanden hatte, oder wich auf andere Ivo-Kapellen aus. Im Jahr 1882 hatte sich die bretonische Justiz mit dem Mord an Philippe Omnès zu beschäftigen, den man erwürgt aufgefunden hatte, die Arme ausgestreckt wie ein Gekreuzigter. Seine Schwester und deren Ehemann hatten vierzehn Tage vor dem Mord eine alte Frau beauftragt, Omnès vor Saint Yves’ Richterstuhl zu laden, weil er einen Meineid geleistet habe. Die Staatsanwaltschaft sah darin ein Indiz für die Täterschaft des Ehepaares und stellte es unter Anklage. Das Gericht sprach beide frei. Geschädigte gingen nur selten persönlich auf die Pilgerreise zu Saint Yves de Vérité. Sie ließen sich von einer um alle vorgeschriebenen Formalien wissenden alten Frau oder einer Bettlerin vertreten. Am Heiligtum erbat diese nach festen Regeln den Urteilsspruch Saint Yves’. Zunächst waren bestimmte magische Handlungen, Verkehrtbeten oder Rückwärtsgehen, durchzuführen. Dann brachte die Vertreterin die Angelegenheit des Rechtsuchenden mit der Formel vor den Richterstuhl des unbestechlichen Ivo: „Tu es le petit saint de la Vérité (Zantik-ar-Wirioné). Je te voue un tel. Si le droit est pour lui, condamne-moi. Mais si le droit est pour moi, fais qu’il meure dans le délai rigoureusement prescrit./Du bist der liebe Heilige der Wahrheit. Ich weihe dir Herrn Soundso. Wenn das Recht auf seiner Seite ist, verurteile mich. Aber wenn das Recht bei mir ist, mach, dass er innerhalb der genau vorgeschriebenen Frist stirbt.“

Der Schriftsteller und Philosoph Ernest Renan (1823 in Tréguier – 1892) berichtet in seinen „Kindheits- und Jugenderinnerungen“ eine weitere Formel: „Tu étais juste de ton vivant, montre que tu l'es encore/Du warst gerecht zu deinen Lebzeiten, zeig', dass du es noch bist.“

Ein langsames Dahinsiechen des Beschuldigten, der nach Jahr und Tag starb, war Beweis seiner Schuld. Die erfolgreichen Bittsteller bei Saint Yves de Vérité hängten ihre Urteils-

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sprüche zum Zeichen ihrer Dankbarkeit an den Wänden der Pariser Kapelle des Heiligen in der Rue de Saint-Jacques auf, die 1357, zehn Jahre nach Ivos Heiligsprechung, geweiht worden war. Wenn es auf den ersten Blick so scheint, als habe in Saint Yves de Vérité der Richter Ivo eigene kultische Bedeutung erlangt und sich in dem erbetenen Gottesurteil eine besondere Wertschätzung des Juristen ausgedrückt, so hält dies näherem Hinsehen nicht stand. „Wenn man, an Leben oder Gut verletzt, sich von den Gesetzen dieser Welt nichts mehr erhofft“ (so ein Legendenerzähler aus dem 19. Jahrhundert) und sich daraufhin an Ivo wandte, so war der gütige Heilige, Spender höherer Gerechtigkeit, gefragt, nicht der rechtsgelehrte Jurist. Letzterer aber vermittelte als ein echter Heiliger den Zugang zum himmlischen höchsten Richter.

Saint Yves erobert Europa Wurde bisher von der populären Verehrung Ivos in der Bretagne berichtet, so machte sein Kult auf Dauer nicht an den Grenzen des Herzogtums, nicht einmal an denen Frankreichs halt. Seine Verehrung verbreitete sich über die angrenzenden Küstenregionen nach Süden und im Norden über die Normandie nach Flandern aus. Seine Reliquien, die man bis nach Antwerpen verbrachte, verbreiteten Botschaft und Kult des Heiligen. Ein Netz von Kapellen, die Saint Yves geweiht sind, zeigt die Spuren der Reliquien. In Rom wurde die Kirche Sancti Andreae de Marmorariis, auf der linken Tiberseite am Fuß des Aventin gelegen, auf den Heiligen Ivo umgewidmet, als Calixt III. (Papst 1455–1458) im April 1455 das hospital de Saint-Yves des Bretons aus der Taufe hob, ein nationales Hospiz für die zahlreichen in Rom

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weilenden Bretonen. Die Kirche hieß nun „Saint Yves des Bretons (Sant’Ivo dei Bretoni)“ und hatte den Rang einer bretonischen Nationalkirche. Im Jahr 1501 soll dort zum ersten Mal eine gemeinsame Ivo-Feier der bretonischen „Nation“ und der Juristen der Kurie stattgefunden haben – ein erster Anhaltspunkt, dass sich nun die Juristen besonders für Ivo zu interessieren begannen.

Ivo-Bruderschaften Der Heilige Ivo wurde bald nach seiner Kanonisierung in den romanischen Ländern in Confréries/Bruderschaften verehrt, vereinsmäßigen Zusammenschlüssen, die Ivo als Patron erwählten. Deren Angehörige aus allen gesellschaftlichen Gruppen verpflichteten sich zu einem Leben und Wirken im Sinne ihres Patrons. Regelmäßige Feiern gehörten zum Vereinsleben. Diese Ivo-Bruderschaften gingen meist auf die Initiative von Bretonen zurück. Schon 1348 soll in Paris eine Confrérie de S. Yves als bretonische Studentenverbindung ins Leben gerufen worden sein. In Rom gründete Leo X. (Papst 1513–1521) im Jahr 1513 eine Confraternitas St. Yvonis/ Bruderschaft des Heiligen Ivo. Die Initiative war auch hier von der bretonischen Nation an der römischen Universität ausgegangen. Auch diese confrérie bretonne war keine Juristenvereinigung, ihre Mitgliedschaft stand jedermann offen. Bei all ihrer Vielfalt hatten die Ivo-Bruderschaften des Mittelalters weder ideell noch praktisch einen besonderen Bezug zum Juristenstand. So schlossen sich in der Bruderschaft an der Kirche SaintDenis in Rouen (Normandie) die Drechsler zusammen, als deren Patron Ivo im Mittelalter gegolten haben soll. Drechseln und „Rechtsverdrehung“ waren dem Volk Synonyme:

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„... die Advokaten ... vermögen [auch dies]: Schiefe Sachen und krumme Geschichten drehen sie so lange hin und her, bis es aussieht, als seien sie gerade“.

Bevor die Juristen Ivo für sich entdeckten, war er bereits in der Volksfrömmigkeit zu Ansehen gekommen, in Italien wurde er Helfer in unterschiedlichsten Nöten. Man verkaufte sein Bild als Holzschnitt für wenig Geld auf Jahrmärkten, in Kirchen und an Klosterpforten. Wie einen Schutzschild brachten es die Gläubigen an ihren Häusern an – ein Brauch, der in Südosteuropa mit anderen Heiligen bis in die Gegenwart praktiziert wird. Noch im 18. Jahrhundert, als der Ivo-Kult bereits abnahm, kämpfte der Heilige auf einem italienischen Holzschnitt als gepanzerter Ritter, das Wort „Caritas“ auf der Brust, mit einem Schwert gegen die Dämonen des Unheils: Hunger, Pest und Krieg. Der Charakter der Ivo-Bruderschaften begann sich im Laufe der Zeit zu verändern. In der frühen Neuzeit, vereinzelt schon im 16. Jahrhundert, versammelten sich Rechtsanwälte, Prokuratoren und Notare unter ihrem Dach. Sie wollten ihrem Patron nun als seine Klienten in ihrem Beruf nachfolgen, indem sie den Armen unentgeltlichen Rechtschutz gewährten. Um in den Genuss bruderschaftlichen Rechtsschutzes zu gelangen, musste eine gütliche Streitbeilegung gescheitert sein, das Attest eines Pfarrers über die persönliche Mittellosigkeit und eine anwaltliche Bestätigung vorliegen, dass es sich um eine iusta causa/eine gerechte Sache, handele. Unter diesen Voraussetzungen übernahm die Bruderschaft die Kosten des Verfahrens. Im weltlichen französischen Recht hatte sich nämlich spätestens mit der Prozessordnung von 1667 der Grundsatz durchgesetzt, dass der Unterlegene im Prozess die Kosten zu tragen habe und sich auf Mittellosigkeit nicht berufen könne. Ivo, Patron dieser Vereinigungen, wird erstmals als Advocatus pauperum/Anwalt der Armen zum Vorbild genommen, 74

als der er in den Akten der päpstlichen Untersuchungskommission dargestellt worden war: „Für Arme, Unmündige, Witwen, Waisen und andere hilfsbedürftige Personen klagte er unentgeltlich, unterstützte ihre Rechtsangelegenheiten und stellte sich, auch ungebeten, zu ihrer Verteidigung zur Verfügung.“

Die Bruderschaften institutionalisierten dies als eine Tugend des Anwalts und ergänzten diese gelegentlich durch die Pflicht zu mildtätiger oder seelsorgerischer Hilfeleistung. So gab es in Rom Anfang des 17. Jahrhunderts eine „Congregatio immaculatae conceptionis et S. Ivonis pauperum advocati/Kongregation der unbefleckten Empfängnis und des Heiligen Armenanwalts Ivo“, die Mittellose unentgeltlich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vor römischen Gerichten unterstützte. Im Jahr 1886 entstand dort ein „Collegium iurisconsultorum S. Ivonis/Kollegium der Rechtsgelehrten des Heiligen Ivo“. Dieses bearbeitete – neben dem Armenrechtsschutz – alle juristischen Fragen, die der Heilige Stuhl ihm antrug, gab dazu sein Rechtsgutachten ab und vertrat die Rechte der Kurie vor Verwaltungsbehörden und Gerichten. In Antwerpen wurde im Jahr 1630 die mächtige „Confrerie van Sint-Yvo“ gegründet, in der sämtliche praktizierenden Rechtsgelehrten: Verwaltungsbeamte, Advokaten, Prokuratoren und Notare, zusammengeschlossen waren. Seit 1636 besaß die Bruderschaft eine Ivo-Kapelle in der St. Jakobskirche. 1650 wurde die Teilnahme am „Sint-Yvofeest“ auf Antrag der Gildevorsitzenden von staatlicher Seite für alle Juristen verbindlich gemacht, so dass „de naamdag van den patroon der Confrerie algemeen door de gansche stad wordt gevierd“. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging die Bruderschaft ein, wurde jedoch 1909 neu gegründet. Auch in Brügge (um den Beginn des 17. Jahrhunderts), in Gent (1677) und Mecheln (1679) kamen juristische Ivo-

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Bruderschaften auf, ebenso in Frankreich, und breiteten sich über Spanien und Portugal bis nach Brasilien aus. Im deutschen Rechtskreis gab es dagegen solche Bruderschaften nicht. Hier ging man andere Wege und befreite die Armen von Gerichtsgebühren. Diese konnten sodann die unentgeltliche Beiordnung eines Prokurators und eines Anwalts verlangen. Dies bestimmten der im Jahre 1275 noch zu Ivos Berufsjahren verfasste Schwabenspiegel, die Reichskammergerichtsordnung von 1495, die Berliner Kammergerichtsordnung von 1516 und andere landesrechtliche Gesetze des 18. Jahrhunderts. Der unentgeltliche Beistand durch Advokaten und Prokuratoren war der Hauptinhalt des Armenrechts, Armenmandate zu übernehmen eine anwaltliche Pflicht, deren Vernachlässigung sanktioniert wurde. Eine staatliche Vergütung erhielten die Anwälte hierfür nicht. Noch anders sicherte der Herzog von Savoyen, Amadeus VIII. (1383–1451), den Bedarf der Armen auf Rechtsschutz: Er schuf das Amt eines Advocatus pauperum und besoldete diesen aus eigenen Mitteln. An der Wittenberger Rechtsfakultät war im Jahr 1536 das jüngste Fakultätsmitglied, Inhaber des Lehrstuhls für die Institutionen, Armenanwalt kraft Amtes am Hofgericht. Ähnlich regelte Leopold I. (1640– 1705) im Jahre 1676 das Armenrecht: Die unentgeltliche Vertretung Mittelloser war Pflicht des jüngstzugelassenen Anwalts. Allein in der Reichsstadt Aachen wurde Armenrechtschutz seit 1766 durch eine Ivo-Bruderschaft unter dem Namen „collegium litteratorum/Gelehrten-Verein“ geleistet. Ausschließlich (katholische) Juristen konnten dem Verein beitreten. Die Gelehrten-Gesellschaft sei, so ihre Satzung, „unter Anrufung des Heiligen Ivo und unter seinem Patronat ... auf ewig gegründet“. Der Satzung stand als Motto ein Vers zum Ruhme Ivos, wohl aus dem 16. Jahrhundert, voran:

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„Ivo pater, legum custos, protector, et amplum Egregiumque decus, cui se debere fatentur Jura, tuo totiens quae debellata favore Aptus eras justas miserorum sumere causas. Vater Ivo, Gesetzeswächter, Beschützer und herrliche, außergewöhnliche Zier, dem zuvor geschändete Rechte ihre Wiederherstellung verdanken, so oft warst du in deiner Gnade bereit, die gerechten Sachen armer Leute zu übernehmen.“

Die Mitglieder der Gesellschaft übernahmen die Vertretung Mittelloser unentgeltlich und verpflichteten sich, unnütze Klagen und unrechten Profit abzulehnen. Vereinszweck war außerdem die Pflege und Beförderung eines angenehmen, freundschaftlichen Umgangs und Austausches unter den Mitgliedern. Die Gesellschaft traf sich donnerstags. Die Sitzungen gaben Gelegenheit zum Austausch über rechtliche und andere „ernsthafte“ Fragen aller Art, man wollte sich dort aber auch durch „honestis iocosis/ehrbare Erheiterung“ von den Anstrengungen des juristischen Tagesgeschäfts erholen. Noch im Jahr seiner Gründung gab das Collegium viel Geld für ein Ölgemälde des Heiligen Ivo von der Hand des Malers Johan Jacob Geldermans aus. Allein der prachtvoll geschnitzte und vergoldete Holzrahmen kostete 45 Reichstaler, wovon die Gesellschaft nur 36 durch ein Rechtsgutachten wieder hereinholen konnte. Das Gemälde hing im Versammlungszimmer des Vereins. Es zeigt Ivo als Anwalt, der, an einem Schreibtisch sitzend, eine Witwe in Begleitung eines Kindes anhört und sich dazu Notizen macht. Von der anderen Seite nähert sich ihm bereits der nächste Ratsuchende: ein gebrechlicher alter Bettler. Die Inschrift am unteren Rand lautet: „s. Ivo collegii juris utriusque Doctorum Aquisgrani Anno 1766. instituti patronus/Der Heilige Ivo, Patron des Aachener Kollegiums von Doktoren beider Rechte, in Aachen im Jahr 1766 gegründet“. Heute hängt das Bild im Dienstzimmer des Oberbürgermeisters im Historischen Rat77

haus zu Aachen als ein Nachfahr der spätmittelalterlichen Gerechtigkeitsbilder flandrischer und brabantischer Rathäuser und mahnt die städtischen Beamten, ihre eigentliche Klientel und Aufgabe nicht zu vergessen. Das Bild des Collegiums gelangte jedes Jahr am 27. Oktober, dem Tag der Umbettung der Gebeine des Heiligen (S. 58), zu besonderer Bedeutung: Aus diesem Anlass, nicht also wie sonst üblich am Todestag, versammelte sich die Gesellschaft zu einer Festmesse in der Jesuitenkirche, wo die Gesellschafter eigens ihnen vorbehaltene Plätze einnahmen. Einen vollen Tag nahm sich der Verein für die Feier seines Patrons Zeit und ließ sich diese, wie man dem Protokollbuch entnehmen kann, etwas kosten. Ein ewiger Bestand, den die Satzung erhofft hatte, war dem Verein allerdings nicht beschieden. Sein Ende kam bereits im Jahr 1786. Über die genauen Gründe wissen wir nichts. Einige ungeschickte Bestimmungen der Satzung mögen dazu beigetragen haben. Die Zahl der Mitglieder war auf 15 beschränkt, das Beitrittsgeld hoch. Die Mitgliedschaft sollte eine Auszeichnung für besondere Verdienste und berufliche Tüchtigkeit sein. Dies gab der Gesellschaft von Anfang an den Charakter vornehmer Abgeschlossenheit. Im Innern war der Verein in zwei Klassen unterteilt. Zur ersten gehörten die studierten Juristen, die zur Aachener Anwaltschaft zugelassen werden konnten, zur zweiten die Notare. Für dieses Amt war keine akademische Vorbildung erforderlich. Es musste lediglich ein Examen abgelegt werden, das in der Reichsstadt aus 55 Fragen bestand, die stets und in derselben Reihenfolge wiederkehrten und immer richtig beantwortet wurden. Vorsitzender konnte nur ein Mitglied der ersten Klasse werden. All dies mag den Verein innerlich ausgehöhlt haben. Die Gesellschaft erhob keine regelmäßigen Mitgliedsbeiträge, sondern finanzierte sich mehr recht als schlecht aus dem

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Aufnahmebeitrag und Strafgeldern, die erhoben wurden, wenn ein Mitglied der Ivo-Messe oder der Donnerstagsrunde fern blieb, sich dort verspätete oder in den Gesprächsrunden politische oder persönlich herabsetzende Themen zur Sprache brachte. Hintergrund mögen die kargen Einkommensverhältnisse der meisten Aachener Juristen gewesen sein. Im Jahr 1785 hatte die Stadt etwa 23000 Einwohner, es praktizierten 35 Juristen mit Universitätsausbildung. Mit den Anwälten konkurrierten die Prokuratoren, die, ohne universitäre Ausbildung, an einzelnen Gerichten eine Zulassung besaßen. So war das Durchschnittseinkommen eines Aachener Advokaten gering. Das Gleiche galt für die Notare, von denen der Aachener Magistrat viel zu viele zugelassen hatte.

Die Juristen in heiligen Nöten Ivo war nicht der einzige Patron, den sich juristische Bruderschaften wählten. Die Juristen hatten bereits andere Heilige vor Saint Yves verehrt. In Paris existierte spätestens seit 1412 eine „Confrérie de Saint-Nicolas“, in der sich die Advokaten und Prokuratoren du Parlement/des höchsten Gerichtshofes, vereinigt hatten. Diese wiederum hatte eine Vorgängerin unter dem Patronat des Heiligen Nikolaus und der Heiligen Katharina gehabt, deren Mitglieder Prokuratoren und Gerichtsschreiber gewesen waren. Ihre Statuten waren im April 1342 von dem französischen König Philippe VI. de Valois (1293–1350) genehmigt worden. Den Heiligen Nikolaus hatten bereits im 13. Jahrhundert auch die officiers de justice de l’évêque et du chapitre/die Justizbeamten des Bischofs und des Kapitels als ihren Patron verehrt. Die Juristen hatten sich erst spät auf die Suche nach einem eigenen Patron begeben können. Ihre Profession war erst seit dem 12. Jahrhundert allmählich entstanden. Zu dieser Zeit 79

waren die berühmten alten Heiligen bereits von anderen Berufen mit Beschlag belegt. So schützte St. Lukas (gest. um 63) die Ärzte, den Soldaten war der Heilige Georg (gest. um 303) Patron. Ivo dagegen gab es da noch nicht, so dass man auf St. Nikolaus oder die Heilige Katharina von Alexandrien zurückgriff. Beide waren aber keine Juristen gewesen, und so fiel es den Juristen schwer, berufliche Verbindungen zu ihnen zu knüpfen. Ein Reisebericht des englischen Weltenbummlers William Carr aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kleidet die Nöte der Juristen um ihren Heiligen in eine Anekdote. Carr erzählt, ein römischer Fremdenführer habe ihm die Kapelle des „St. Evona, eines Juristen aus der Bretagne“ gezeigt. St. Evona habe sich noch zu Lebzeiten Gedanken darüber gemacht, wie man den Juristen einen zu ihnen passenden Patron verschaffen könne. Mit diesem Anliegen habe er sich schließlich an den Papst gewandt. Diesem war kein Heiliger bekannt, der nicht schon durch einen anderen Berufsstand besetzt war. St. Evona blieb beharrlich. Schließlich gab der Papst ihm auf, mit verbundenen Augen die St.-Johannes-Kirche im Lateran zu umrunden, die außen mit einer Vielzahl von Heiligenstatuen besetzt war. Dabei sollte er ständig das Ave Maria beten und nach dem „Amen“ die nächste Statue ergreifen. Der von ihr dargestellte Heilige solle dann der Standespatron werden. Der „gute alte Jurist“, so Carr, tat, wie ihm geheißen. Am Schluss des letzten Gebets hielt er am Altar des Heiligen Michael an, ergriff – blind – Luzifer, den gefallenen Engel, der unter dem Fuß des siegenden St. Michael lag und rief aus: „Dies ist unser Heiliger, lass ihn unseren Patron sein! ...“ Wie und wann genau der Heilige Ivo der Schutzherr des gesamten Juristenstandes geworden ist, wissen wir nicht. Es spricht manches dafür, dass Saint Yves erst um die Wende zum 16. Jahrhundert zum Hauptpatron sämtlicher juristischen Berufe aufstieg, der Rechtsanwälte, Rechtsgelehrten, Ge80

richtsdiener, Verwaltungsbeamten, Notare, Professoren, Studenten und Staatsanwälte.

Die Universitäten Die universitäre Verehrung Ivos hatte schon im 15. Jahrhundert bei den bretonischen Nationen eingesetzt. Diese feierten in ihm jedoch nicht den Juristen, sondern ihren Nationalheiligen. Als Juristen nahm man Saint Yves an den Universitäten im Nordwesten, Süden und Südwesten Europas erst Jahrhunderte später wahr. Im belgischen Leuven war der Ivo-Tag am 19. Mai in der Artistenfakultät schon seit etwa 1430 vorlesungsfrei. Doch wurde Ivo von den Juristen erst um die Wende zum 17. Jahrhundert, in der Blütezeit der Gegenreformation, als ihr Patron gefeiert. In Leuven hatten sich die beiden Fakultäten für römisches und kanonisches Recht kurz nach Gründung der Universität im Jahr 1425 zu einem Collegium utriusque iuris zusammengeschlossen. Dieses gab im Jahr 1607 ein Triptychon in Auftrag, das Ivo als Offizial zeigt, der Eingaben entgegennimmt und Almosen verteilt. Um die gleiche Zeit weihte das Collegium ihrem Heiligen in der St.-Petri-Kirche eine eigene Kapelle. Das Triptychon wurde oberhalb des IvoAltars angebracht; im Jahr 1666 kam eine silberne Statue des Patrons hinzu. Kapelle und Altar wurden im 17. und 18. Jahrhundert aus den Gebühren unterhalten, die die Studenten für das Lizentiatendiplom und die Disputationen zu zahlen hatten. Die Leuvener Studenten wohnten in Bursen oder Kollegien. Armen Studenten wurden dort teilweise Kost und Logie gewährt. Eines dieser Kollegien, Rechtsstudenten vorbehalten, war 1483 von einem Professor des kanonischen Rechts ge-

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stiftet worden. Seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hieß es „Collegium Sancti Ivonis“. Noch heute ist der Name über der Eingangstür der früheren staatlichen Akademie der Schönen Künste in der Vanderkelenstraße in Leuven zu lesen. 1682 überließ Antwerpen der Leuvener Universität Ivo-Reliquien, die am 18. Mai von den Professoren und Studenten der juristischen Fakultät in prächtigem Zug in die St. PetriKirche überführt wurden. Jährlich am 19. Mai feierte man dort eine große Messe zu Ehren des Patrons, an der beide Fakultäten teilnahmen. Im 17. Jahrhundert hielt jeweils ein Fakultätsmitglied eine lateinische Lobrede zu Ehren Ivos. Die Ausstrahlung der Leuvener universitären Ivo-Verehrung war beträchtlich. Ehemalige Leuvener Studenten waren vermutlich die treibenden Kräfte bei der Gründung der IvoBruderschaften in Gent und Antwerpen im 17. Jahrhundert, vielleicht auch der Aachener Gelehrten-Gesellschaft. An den Gerichtshöfen von Mecheln, Brüssel und Gent unterbrach man am 19. Mai den Arbeitsalltag und feierte mit Messe und Festmahl den Heiligen der Juristen. In Rom wurde 1642–1650 eine zweite Ivo geweihte Kirche neben der bretonischen Nationalkirche Sant’ Ivo dei Bretoni (S. 72 f.) errichtet. Sie erhielt den Namen „S. Ivo alla Sapienza/ Heiliger Ivo an der Sapienza“, weil sie als Universitätskapelle im Innenhof der römischen Hauptuniversität „Sapienza“ liegt. Eine Darstellung Ivos schmückte den Hochaltar. Hier feierte die gesamte römische Universität Ivo als ihren Patron. Spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde Ivo an der spanischen Universität Zaragoza (gegr. 1474) von den Juristen verehrt. Dort gab es auch eine „Cofradia de San Ivo, patrono de los abogados/Bruderschaft des heiligen Ivo, des Patrons der Rechtsanwälte“.

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Im Heiligen Römischen Reich beschränkte sich die Ivo-Verehrung auf die juristischen Fakultäten. Hier gehörte sie namentlich im 15. und 16. Jahrhundert zu den charakteristischen Erscheinungen des Universitätslebens. Auch die nach der Reformation im katholischen Deutschland entstandenen juristischen Fachbereiche übernahmen das Patrozinium. Eine Ausnahme war die Grazer juristische Fakultät. Sie wurde erst im Jahr 1779 von dem Aufklärer Kaiser Joseph II. (reg. 1765– 1790) errichtet. In der deutschen Rechtspraxis dagegen spielte Ivo, anders als in Frankreich, Italien, Spanien und Belgien, keine Rolle. Kein deutsches Gericht, keine Behörde feierte den 19. Mai, wie man dies in Rennes, Gent oder Brüssel tat. Ivo war in Deutschland nie ein „Volksheiliger“. Deshalb erstaunt es, dass er hier ausgerechnet von den Fakultäten verehrt wurde. Man kann sich schon vom Äußeren her keinen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen einem „sorgsam gescheitelten Assessor unserer Tage“ (Gustav Radbruch [1878–1949] 1916 in seinem Beitrag „Sankt Ivo-Helori“) und einem Heiligen, der sich, wie die Legende weiß, dagegen gewehrt haben soll, dass man die Flöhe aus seinen abgetragenen Kleidern entfernte.

Ivos Weg nach Deutschland Die heute bekannten Quellen erlauben noch keine Aussage über den Ursprung des Ivo-Kultes an den deutschen Universitäten. Er könnte von Paris aus in das Heilige Römische Reich gekommen sein. Nach dem Kalender der Deutschen Nation an der Pariser Universität war der 19. Mai seit den siebziger Jahren des 14. Jahrhunderts dort Feststag des Heiligen. Ob man daraus schließen darf, dass allein die deutsche Nation Ivo verehrte, ist fraglich. Eher ist anzunehmen, dass ihr der Kult der Bretonen Vorbild war. Eventuell haben von Paris kommende Professoren der Deutschen Nation den 83

Ivo-Kult an die neugegründeten Universitäten des Reiches mitgebracht. Grund ihres Weggangs von Paris war das Große Abendländische Schisma (1378–1417), die Spaltung der Christenheit mit zwei Päpsten, der eine in Rom, der andere in Avignon. Die Pariser Universität schlug sich auf die Seite des in Avignon residierenden Clemens VII. (1378–1394) und verdrängte die Parteigänger des römischen Papstes Urban VI. (1378–1389) aus dem Lehrkörper. Diese Erklärung liegt für die nach Pariser Vorbild gegründete Universität Köln nahe, wo die Pflege des Ivo-Kults besonders intensiv war. Gemäß der Bestätigungsbulle für Köln von Papst Urban VI. vom 21. Mai 1388 sollte die Universität in den Genuss der für Paris geltenden Privilegien kommen. Man beging dort den 19. Mai schon in den Jahren unmittelbar nach der Gründung im Jahr 1388. Am 27. Oktober feierte die gesamte Universität seine Messe. Die Kölner Universität stand auch nach ihrer Gründung in enger Verbindung mit der Sorbonne. Die 1389 nach Köln berufenen Professoren kamen zum Teil direkt aus Paris oder hatten dort zumindest die Artes studiert. Manches spricht auch für die Prager Universität als (einer weiteren) Keimzelle des Ivo-Kults. Als erste im Reich wurde sie 1348 gegründet, ein Jahr nach Ivos Heiligsprechung durch Papst Clemens VI. Dieser hatte der Hochschule das Gründungsprivileg verliehen, so dass man ihm mit der Wahl Ivos zum Patron Dank und Anerkennung und Dankbarkeit gezollt haben mag. Die Ivo-Verehrung setzte in Prag unmittelbar nach der Universitätsgründung ein. Erstmals gab es nun einen Heiligen, der das geistliche und weltliche Recht studiert, den Beruf des Juristen ausgeübt hatte und zudem in einem geordneten Rechtsverfahren kanonisiert worden war. Die universitäre Verehrung ließ Ivo zu europäischem Rang heranwachsen. Von Paris, Prag und Köln aus verbreitete sie sich an die drei weiteren im 14. Jahrhundert gegründeten 84

Universitäten Wien (vor 1365), Heidelberg (1385) und Erfurt (1392). In Erfurt wurde der Dekan der juristischen Fakultät nach den Statuten von 1398 am 19. Mai gewählt und in sein Amt eingesetzt. Den Ablauf der Feierlichkeiten an diesem Tag regelten die Statuten von 1425. Statuten und Ivo-Patrozinium wanderten von Erfurt an die Universitäten Basel (gegründet 1460), Trier (1473), Tübingen und Mainz (1477) und später von Tübingen nach Wittenberg (1502). An den Universitäten des 15. Jahrhunderts entwickelte sich der Kult meist mit einer Verzögerung von einigen Jahrzehnten nach der Gründung: So ist das Ivo-Fest für Ingolstadt (1472) und Mainz erstmals im Jahr 1502 nachzuweisen, für Freiburg im Breisgau (1460) im Jahr 1506. An den jüngeren Universitäten war der Zeitraum kürzer, weil sich diese Feierlichkeiten zu universitären Gewohnheiten verfestigt hatten. In Innsbruck begann die IvoVerehrung schon viereinhalb Jahre nach der Aufnahme der Lehrtätigkeit an der Juristenfakultät (1671/72) am 19. Mai 1676. Der Ivo-Kult lässt sich außerdem in Leipzig (1409), an der 1625/29 eingerichteten juristischen Fakultät der Universität Dillingen an der Donau (1549), an der 1622 eröffneten Universität Salzburg und der Adolphs-Universität zu Fulda (1734) nachweisen. Auch die juristische Fakultät der Jesuiten-Universität zu Tyrnau/Trnava in der Slowakei, 1777 nach Budapest verlegt, verehrte Ivo als ihren Patron. Jenseits des Heiligen Reiches gelangte der Ivo-Kult bis nach Krakau (1364) und ins ungarische Pécs/Fünfkirchen (1367). Im Ostseeraum dagegen finden sich keine Spuren Ivos. Warum sich die Universitäten Rostock (1419), Greifswald (1456) oder Kopenhagen (1479) dem Ivo-Kult nicht angeschlossen haben, wissen wir nicht.

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Die Ivo-Feier Der Ablauf der Fakultätsfeiern am Ivo-Tag war an allen juristischen Fakultäten ähnlich. In Köln begann der 19. Mai, der Tag „Yvonis Confessoris/des Bekenners Ivo“, nach Mitteilung des Kalendariums der Universität (1392/1398) mit Bezug auf den heiligen Priester, mit einem Hochamt in der Dominikanerkirche. In Festkleidung erschienen auch der Rektor und der Dekan der Artisten. Sie erhielten ebenso wie die anwesenden Doktoren, Lizentiaten, Bakkalaren und Pedelle Präsenzgelder. Köln war bereits vor Eröffnung der Universität am Dreikönigstag 1389 durch Kirche und Stadt – die Universität war eine kommunale Einrichtung – eine hochgelehrte Stadt gewesen. Es hatte dort längst schon angesehene Ordenshochschulen gegeben. Köln war die Wahlheimat des Naturforschers, Philosophen und Theologen Albertus Magnus (um 1200–1280). Ihn begleitete im Jahr 1248 aus Paris sein Schüler Thomas von Aquin in die Stadt, um sich am Generalstudium des Dominikanerordens, dem Vorläufer der Kölner Universität, für das akademische Lehramt zu qualifizieren. Hier lehrte nach den Stationen Oxford und Paris seit 1307 der Schotte Duns (um 1265/66–1308), Philosoph und Theologe, wegen seiner scharfsinnigen Kritik „Doctor subtilis“ genannt. Die Pariser Universität war hier zwar Vorbild, doch kopierte man sie nicht sklavisch. Studentische nationes gab es nicht, nur noch Fakultäten. Die Rechtswissenschaften hatten davon sogar zwei. Anders als in Paris und erstmals im Reich wurde in Köln von Anfang an sowohl kanonisches als auch römisches Recht gelehrt. Beide juristischen Fakultäten führten im 14. Jahrhundert ein gemeinsames Siegel ein, was sie als eine einzige Fakultät im modernen Sinne ausweist. Das heute noch gebräuchliche Siegel von 1425 zeigt den kaiserlichen Doppeladler als Symbol des weltlichen Rechts und die 86

gekreuzten Schlüssel des Papstes für das kirchliche. Die Siegelumschrift lautet: „facultates utriusque iuris studii/Die Fakultäten des Studiums beider Rechte“. Das Bild des Siegels zeigt eine auch sonst auf Siegeln gebräuchliche Szene des akademischen Unterrichts: Ein Professor in Talar und mit Gelehrtenbarett sitzt auf einem erhöhten kunstvoll verzierten Sessel. Auf einem Lesepult vor ihm liegt ein offenes Buch. Zu seinen Füßen sitzen zwei Köln 1425 Studenten, auf ihren Knien ebenfalls ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie mitlesen oder -schreiben. Es ist trotz der frühen Verehrung des Heiligen Ivo in Köln nicht zweifelsfrei zu klären, ob der Professor ihn darstellen soll. Nichts deutet auf Ivos Person hin, selbst ein Heiligenschein fehlt. Es mag sich daher eher um eine abstrakte „Lehrszene“ handeln, eine Allegorie auf die Universität. Nach der Ivo-Messe am 19. Mai wurde der Dekan der juristischen Fakultät gewählt und die „Jahresrechnung“ übergeben. Der Wahlakt war in den Kult des Heiligen eingebunden: Man wählte im Haus des scheidenden Dekans vor einer mit Kerzen geschmückten silbernen Büste Ivos. Ein „prandium lautissimum/prunkvolles Festmahl“ schloss den Festtag ab. Dieses „convivium Ivonisticum/Kränzl-Mahl“ erinnert an die Festessen in den Ivo-Bruderschaften, die ihre Vorsteher und Amtsträger ebenfalls am 19. Mai zu wählen pflegten. Finanziert wurde das Festmahl in Köln durch eine Stiftung des Loppo von Zieriksee (gest. 1479) aus dem 15. Jahrhundert. An anderen Orten übernahm der Dekan oder wie in Wien der sogenannte Ivonista, ein alljährlich eigens dazu gewähltes Fakultätsmitglied, die Kosten. 87

Die Festrede An manchen Universitäten war dieser Ablauf durch weitere Elemente ergänzt. So wurden die Fakultätsstatuten öffentlich verlesen und der verstorbenen Fakultätsmitglieder in einer Totenmesse gedacht. Die Mitglieder der Fakultät besuchten mancherorts eine Frühmesse in der Ivo-Kapelle und nahmen dann an der Prozession teil, die zum Hochamt in die Hauptkirche zog. In der Messe folgte auf das Evangelium eine Lobrede auf den Patron. Redner waren überwiegend ausgesuchte Studenten, die hierfür ein Honorar erhielten. Die Preisrede wurde meist in lateinischer Sprache gehalten. Trotz der Zeremonien am Ivo-Festtag waren viele Fakultätsmitglieder, gerade die Studenten, über ihren Patron schlecht unterrichtet. Ein Festredner aus dem 16. Jahrhundert bemerkte, er selbst habe vor seinen Vorbereitungen auf die Rede über den Patron nichts gewusst. Dekan und Kollegium der Tübinger Rechtsfakultät gaben daher aus gegebenem Anlass im Fakultätsprogramm von 1670 den Professoren und Studenten bekannt, dass „ ... Peter Meyderlin aus Stuttgart, beider Rechte allereifrigster Anhänger, beschlossen [hat], seine Geisteskräfte an diesem Stoff [sc. der Klugheit des Gesetzgebers, Anm. der Verfasser], der einer besonderen Zuwendung höchst würdig ist, zu erproben. Als ihm nämlich jüngst durch einstimmigen Beschluss unseres Kollegiums das Amt übertragen wurde, die Jahrfeier für Ivo auszurichten, wollte er keineswegs eine so hervorragende Gelegenheit verstreichen lassen, den Verstand zu üben und zu zeigen; deshalb nahm er sich, um ein angemessenes Thema für die Festrede auszuwählen, ,den klugen Gesetzgeber‘ als Gegenstand. Wir tun daher Fürbitte für denselben, dass alle Patrone und Zöglinge der Wissenschaft und besonders der geheiligten Themis [altgriechisch für: Begriff und göttliche Verkörperung des Rechts, Anm. der Verfasser] welche das berühmte Tübingen hat, bei diesem akademischen Fest, das insbesondere unserer Fakultät von alters her heilig ist, sich diesem lobenswerten Vorhaben geneigt zeigen und durch ihre verehrte Gegenwart die Feierlichkeit der zur gewohnten Stunde um neun Uhr morgens zu haltenden Rede zu erhöhen ... für würdig halten ...“

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Die Juristenfakultäten haben die Preisreden zu Ehren ihres Patrons besonders ernst genommen. Ohne ihre inhaltliche Aussagekraft und Bedeutung überschätzen zu wollen, sind sie der eigentliche Nachlass der Ivo-Verehrung im Heiligen Römischen Reich. Ihre Zahl geht in die Tausende: „Ivoneae laudes sunt immensus quidam Oceanus/Die Ivo-Lobreden füllen ein unermesslich großes Meer“, bemerkte ein Prager Redner im Jahr 1734. Nur ein Bruchteil ist in den Druck und in die Archive gelangt. Dieser Darstellung liegen 51 Reden aus Basel, Budapest, Freiburg im Breisgau, Ingolstadt, Innsbruck, Leuven, Mainz, Prag, Salzburg, Trnava/Tyrnau (Slowakei), Tübingen und Wien zugrunde. Sie stellen den Heiligen als idealen Juristen dar. Um ihr Leitbild plastisch herauszuarbeiten, zeigten die Redner an der Person Ivos den Tugendkatalog eines christlichen Juristen, insbesondere Advokaten, und zeichneten ein Sittenbild des Juristenstandes ihrer Zeit.

Ivo, der ideale Advokat Eine besonders klare inhaltliche wie zeremonielle Konzeption des idealen Juristen bringen zwei Hymnen auf den Heiligen Ivo zum Ausdruck. Sie entstammen der Feder des Sebastian Brant (1457 oder 1458–1521), Basler Professors Beider Rechte und der Poesie, des gefeiertsten deutschen Dichters seiner Zeit, und erschienen noch vor 1498 in Basel als Einblattdruck. Das Einblatt wurde im Festgottesdienst der juristischen Fakultät Basel verteilt. Ein Holzschnitt füllt das obere Drittel des Blattes und zeigt Ivo in seinem Arbeitszimmer im Talar des Rechtsgelehrten. Er ist als „S. Ivo advocatus pauperum/Der Heilige Ivo, Anwalt der Armen“ bezeichnet Der Heilige blickt nach rechts wie von einer Arbeit auf. Von dort überreicht ihm ein Bauer, der demütig seinen Hut zieht, eine mit einem Siegel versehene Urkunde. Er will auf die Knie sinken, während Ivo ihm die Urkunde abnimmt. Links, ganz am 89

Rand des hallenartigen Raumes stehen vier Personen hintereinander in einer Reihe, wohl Zuschauer oder weitere Bittsteller. Spruchbänder erklären die Darstellung. Über dem Bauern liest man: „Oh verehrungswürdiger Ivo, der du Macht hast in der Gerechtigkeit, auch nach dem Tod im Jenseits, übernimm, Göttlicher, meine Sache, erlange für mich armen Angeklagten Nachsicht und Milde des ewigen Richters: Zeig, ich bitte dich, dass es einen Gott gibt.“

Über den Bittstellern heißt es: „Dieser Mann wusste, was Gerechtigkeit ist, und sah große Wunder.“

Der erste Hymnus „De sancto Ivone advocato pauperum/ Über den Heiligen Ivo, den Anwalt der Armen“ sollte im ersten Teil des Gottesdienstes auf die Melodie eines der bekanntesten katholischen Kirchenlieder „Ut queant laxis“ gesungen werden. Der zweite Hymnus „Ad divum Ivonem Advocatum Pauperum/An den Heiligen Ivo, den Anwalt der Armen“ wurde von Sebastian Brant als Festrede/Oratio panegyrica vorgetragen. Sie ist die älteste im Reich bekannte dieser Art. Brant wandte sich darin direkt an die Professoren, Dozenten, Doktoren, Lizentiaten und Studenten der Rechte seiner Fakultät. Durch die Veröffentlichung in seinen „Varia Carmina/ Verschiedene Gedichte“ erreichte er eine noch wesentlich größere Verbreitung seiner Hymnen. Brant stellte seinen Zuhörern den Armenanwalt Ivo als das Ideal eines christlichen Juristen vor: „... Die Armen erhielten die Möglichkeit, vor Gericht zu gehen: du hast den Hilfsbedürftigen, die die goldgierigen Hände der Richter fürchteten, Wohltaten erwiesen. Wer mit dir als Beistand einen Prozess um eine gerechte Sache bis zu Ende führte, der erfuhr unter deiner Leitung Gerechtigkeit ... Einer Sache, die dem Recht oder der Ehre zuwiderlief, nahmst du dich grundsätzlich niemals an. Auch nicht ein einziges Mal hat jemand es gewagt, sich an dich zu wenden, dem es um eine Rechtsverdrehung oder Betrug ging ... Vor dir fürchteten sich der Richter, der habgierige Rechtsschreiber und auch der Anwalt mit seiner beredten Zunge ... Oh, wie oft hättest du in Fülle Geld von einem Reichen nehmen können: Aber die

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Bitten des Hilfsbedürftigen hatten größeres Gewicht. So oft sah sich der Reiche verschmäht: Er verwünschte seine nutzlosen Gaben und nahm sie unverrichteter Dinge wieder mit nach Hause...“

Die studentischen Universitätsredner fanden andere Wege, ihren Patron zu preisen. Der Rechtsstudent Bernhard Zahorzansky von Worlik verarbeitete in seiner Rede in der Prager Teyn-Kirche im Jahr 1756 den Prozess (S. 44), in dem Ivo Richard Le Roux in einem Streit um Grund und Boden anwaltlich vertreten hatte. Von Worlik nutzte die Geschichte zu einer Schwarz-Weiß-Darstellung, die Ivos Anwaltstugenden strahlend hervortreten ließ. Bei ihm kam Le Roux (hier mit Namen Richard Prusius) erst nach einer verlorenen ersten Instanz zu Ivo. Die Anwälte, die Le Roux erstinstanzlich vertreten hätten, seien bestochen gewesen. Sie hätten offenkundige Tatsachen bestritten und die Richter von Abwegigem zu überzeugen versucht. Nachdem der Prozess auf diese Weise verloren gegangen sei, hätten sie Le Roux verhöhnt und so die Niederlage noch unerträglicher gemacht. Die gerechte Sache wäre fast verloren gewesen, hätte sich Le Roux nicht zu Ivo geflüchtet und ihn zusammen mit Frau und Kindern auf Knien um Hilfe gebeten. Ivo habe erkannt, dass jener im Recht gewesen sei, der Fall aber nur von einem äußerst scharfsinnigen Kopf zum Guten gewendet werden könne. Der Gegner, ein Abt, sei mächtig und angesehen gewesen und gierig auf Le Roux’ Eigentum. Weil dieser sich aber immer fromm und Ivo gegenüber zutiefst demütig verhalten habe, habe der Heilige es erreicht, dass die Sache neu verhandelt worden sei und die Richter mit seinem gründlichen und geordneten Vortrag überzeugt. So habe die Wahrheit über die Lüge gesiegt und die Vernunft über die Macht. Danach sei der Heilige auf den Schultern des Volkes nach Hause getragen worden. Zahorzansky von Worlik nahm dies zum Anlass, Ivos Rechtskenntnis, seine taktisch kluge Prozessführung und seinen Mut zu preisen, eine als gerecht erkannte

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Sache auch gegen mächtige Personen durchzufechten. So hatte bisher noch niemand die Überlieferung interpretiert. Zahlreiche Reden wurden schon auf dem Titelblatt unter ein Schlagwort gestellt, das der Redner fugenartig durchführte und zum Schluss seiner Ausführungen den Zuhörern einschärfte. Bei dem Wiener Kandidaten der Rechte Paul Franz Anton Puschmann war 1713 im Stephansdom die Formulierung „causa(s) absque causa (dicere)/sine causa advocatus/ Rechtsfälle ohne Grund übernehmen – ein Anwalt ohne Hintergedanken“ Leitmotiv: Ivo sei der Prototyp des Anwalts gewesen, der „ohne Grund“ die Vertretung in Rechtsstreitigkeiten übernommen habe: „ohne Grund“, also weder aus Hass noch Liebe, nicht aus Egoismus, Eitelkeit oder einem anderen menschlichen Motiv. Puschmann schloss mit der Bitte, Ivo möge vor dem Himmelsgericht „ohne Grund“ Anwalt der gesamten Wiener juristischen Fakultät sein. Doch nicht immer wurde unser Heiliger so hehr dargestellt. Im Jahr 1698 fand in Ingolstadt anlässlich der Wahl des Rechtsstudenten Wenzel Ferdinand Kustosch zum Präfekten der „Akademischen Kongregation der Seligen Jungfrau Maria“ eine „kurze szenische Aufführung“ in lateinischer Sprache statt. Sie trug den Titel: „Der Heilige Ivo, Anwalt der Unschuldigen“. Der Verfasser des Stücks verarbeitete eine Legende um den Heiligen, die nicht in den „Monuments“ erzählt wird. Sie dürfte erst etwa zweihundert Jahre nach Ivos Tod in Umlauf gekommen sein: Ivo habe eine seiner regelmäßigen Reisen nach Tours unternommen. Vor dem Gericht des Erzbischofs von Tours konnten seine Urteile als Offizial angefochten werden. Geschah dies, so pflegte Ivo sein Urteil persönlich zu verteidigen. In Tours habe er die Wirtin, bei der er zu übernachten pflegte, in heller Verzweiflung angetroffen. Zwei Reisende hätten ihr einen schweren, mit einem Schloss gesicherten Ranzen mit dem Auftrag zur Verwahrung übergeben, ihn nur an beide gemeinsam herauszugeben. Dann 92

seien sie aus der Stadt gezogen und hätten ihr dabei noch winkend ein Lebewohl zugerufen. Wenig später sei der eine zurückgekommen und habe von ihr den Ranzen erbeten, den sie ihm, nicht Böses ahnend, ausgehändigt habe. Am Abend sei der andere erschienen und habe gleichfalls den Ranzen verlangt. Dieser habe, wie er nun angab, 1200 Golddukaten enthalten. Auf ihre Erklärung, der Ranzen sei bereits zurückgegeben, habe er sie auf Herausgabe an sich verklagt. Ivo übernahm die Vertretung der Witwe, die für den folgenden Tag ihre Verurteilung zum Schadenersatz erwartete. In der Verhandlung trug er vor, seine Mandantin sei jetzt, nachdem sie den Ranzen wiedergefunden habe, zur Herausgabe an beide Hinterleger gemeinsam bereit. Der Kläger solle also seinen Gefährten herbeiholen. Da erbleichte dieser, verwickelte sich in Widersprüche und gab die betrügerische Tat schließlich zu. Es stellte sich heraus, dass der Ranzen nur wertloses Eisen enthalten hatte. In keiner Fassung dieser Legende wird zu berichten vergessen, dass die Schuldigen zuletzt am Galgen geendet hätten. Die Legende nimmt keinen Anstoß daran, dass Ivo den Rechtsstreit durch einen Advokatenkniff gewann. Wichtig war allein, dass er einer gerechten Sache zum Sieg verhalf. Ivo verkörperte hier nicht eine höhere Juristenethik, sondern stand für das Verlangen einfacher Leute nach Schutz und Sühne für die gutgläubig-naiven Opfer gerissener Betrüger. An den Preisreden lässt sich der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts fortschreitende Ansehensverlust des Anwaltsberufs ablesen. Von elf bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gehaltenen Reden übten nur drei Kritik an den Advokaten. Die übrigen beschäftigten sich mit dem Juristenstand im Allgemeinen. Danach kehrte sich dieses Verhältnis um. Von den beiden juristischen Tätigkeiten Ivos wurde nun weit mehr Gewicht auf seine vorbildliche Tätigkeit als Advocatus pauperum gelegt als auf sein Richteramt. Wie ein roter Faden 93

zieht sich der immer gleiche Vorwurf gegen den Anwaltsstand durch die Festreden: finanzielle Ausbeutung der Klienten aus purer Geldgier, insbesondere mittels Prozessverschleppung war die stereotype Kritik, die die Advokaten sich gefallen lassen mussten. „Was ist schöners als ein Rechts-Gelehrter zu seyn/ und ein Advocaten abgeben/ ob schon manche bissige Wott gebrauchen/ und sich in die Schneider-Zunfft eindringen/ verstehe Ehrabschneider/ welche den Advocaten mit so wohl heßlichen als hassenden Schimpff diesen wahrlosen Nachklang auffbringen/ daß sie nemlich ihre Satzungen und Leges können ziehen/ wie die Schuster das Leder/ und verhalten sich zwey Advocaten/ wie die Wascher Diern mit der nassen Leinwaht/ eine reibt hin/ die ander her/ biß daß kein Tropffen mehr darinn bleibt/ also jene mit ihren widrigen Argumenten und Documenten manchen dergestalten ausreiben/ daß ihm der Sackel staubt...“,

schmähte der Augustinermönch, Wiener Hofprediger und volkstümlich-humoristische Schriftsteller Abraham à Santa Clara (1644–1709) im Jahr 1680. Der französische König Karl IV. (1322–1328) stellte im Jahr 1325 in einem Mandement, einem offenen Brief fest, die Anwälte überschritten bei ihren Honorarforderungen allzu oft die Grenze des Angemessenen, und rief sie zur Ordnung. Zwei Jahre später erließ er eine Ordonnance, einen Erlass, um der „desordonnance des ... notaires ..., advocats, procureurs .../der Verwilderung unter den ... Notaren ..., Anwälten, Prokuratoren“ abzuhelfen, unter der seine Untertanen schwer zu leiden hätten. Darin legte er für Advokaten und Notare feste Gebührensätze fest. Seit dem 15. Jahrhundert galten ähnliche Grundsätze zur Berechnung der Gebühren für anwaltliche Tätigkeiten, etwa die Zahl der Termine oder die Bogenzahl der Schriften – Letztere erklärt die Papiermassen, die zu Bagatellsachen beschrieben worden sind –, auch im Heiligen Römischen Reich. Die Wirklichkeit bestand in Honorarabsprachen und Gebührenüberschreitungen auf der einen Seite

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und häufig willkürlichen und allzu rigorosen Gebührenherabsetzungen durch die Gerichte auf der anderen. Tatsächlich waren die durchschnittlichen Einnahmen eines deutschen Anwalts im 16. und 17. Jahrhundert nicht besonders hoch und gewährten ihm kaum sein Auskommen. Trotzdem beherrschte das Bild des geldgierigen Advokaten die Köpfe. Noch im Jahre 1796/97 beschrieb Jean Paul (1763– 1825) in seinem Buch vom „Armenadvokaten F. St. Siebenkäs“ die „Löschanstalt des Gelddurstes“, in der sich die Klienten mit leeren Eimern abwärts reihen, während auf der anderen Seite die Anwälte einander die vollen hinaufreichen. Ein typisches Anwaltsvergehen war die Prävarikation, der Parteiverrat. Das lateinische Verb praevaricari war schon bei Cicero (106–43 v. Chr.) ein juristischer Fachausdruck. Es bedeutete „mit ausgespreizten Beinen, grätschend in die Quere gehen, Winkelzüge machen“. Dahinter stand das Bild eines Advokaten, der nach beiden Seiten hinkt, indem er hinter dem Rücken seiner Partei zugleich den Gegner berät. Der Volksmund bezeichnete solche Verstöße gegen die Treuepflicht als „zweyächseln“, der untreue Anwalt hieß „Mummer“. Parteiverrat wurde früher zwar in weiterem Umfang als heute für erlaubt gehalten, doch immerhin wurde der bedeutende Nürnberger Anwalt Nikolaus von Gülchen wegen Betrugs, Unzucht und Prävarikation nach einem Sensationsprozess im Jahr 1605 mit dem Schwert hingerichtet. Weitere Munition gegen die Anwälte lieferten die trickreiche Anwendung von prozessualen Formalitäten und Wortklauberei. Im Jahr 1688 erschien eine Abhandlung mit dem Titel „Rabulist oder Zungendrescher, das ist, Beschreibung schlimmer und böser Advocaten“, geschrieben von einem „Anonymus“. Die Zunge des rabulistischen Anwalts, so hieß es dort, sei wie das Zünglein an einer Waage, das sich immer

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nach der schwerer mit Gold gefüllten Schale neige. Seine zehn Gebote seien die zehn Buchstaben Da pecuniam, Gib Geld! Eine Grundfrage der Anwaltsethik war auch nach dem Ausgang des Mittelalters und auch im weltlichen Rechtskreis das Verbot, als „ungerecht“ erkannte Rechtssachen zu übernehmen. Diesen Grundsatz hatten Johannes von Rupella und Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert für das Kirchenrecht statuiert, da der Anwalt allein dem Recht dienen dürfe (S. 27 f.). Er wurde in den zahlreichen Arbeiten zur anwaltlichen Pflichtenlehre seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts in allen Einzelheiten und Varianten erörtert. Der Jurist Ahasver Fritsch aus Schwarzburg verfasste ein System der Anwaltsethik unter dem Titel „Advocatus peccans/Der sündige Anwalt“ (Frankfurt/Leipzig 1678). Dort heißt es: „Peccat Advocatus, qui Clienti caussam omnino injustam foventi, patrocinium praestat/Ein Advokat versündigt sich, wenn er einem Klienten, der eine gänzlich ungerechte Sache verficht, seinen Beistand gewährt“. Fritsch schalt die Anwaltsweisheit, „es sey keine Kunst eine gute Sache zu retten/sondern eine böse zu gewinnen“ als „Rabularum proverbium/Wortverdreherspruch“. Fritschs Thesen setzte der Marburger Professor Arnold Mauritius Holtermann 1679 mit seiner Schrift „De nequitia Advocatorum/Von der Schlechtigkeit der Anwälte“ fort. Diese Abhandlung erregte mehr durch ihren Titel als durch ihren Inhalt großes Aufsehen. Sie stimmte mit Fritschs anwaltlicher Sittenlehre überein und verstand sich keineswegs als Schmähschrift. Trotzdem erschien im folgenden Jahr eine Gegenschrift unter dem Pseudonym „Franciscus Cliens/Klient Franz“, eine Chiffre für den Mandanten, der seinen Anwalt in Schutz nimmt. In gekränktem Ton wies sie die Angriffe gegen die Advokatur zurück und griff ihrerseits die Lehrmethode und Vetternwirtschaft der Rechtsfakultäten an.

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Die anwaltliche Berufsehre wurde in ganz Europa diskutiert. Im Jahr 1687 veröffentlichte Valentijn de Roose, Anwalt am Gerichtshof von Flandern, im spanisch-niederländischen Gent eine Anwaltsethik unter dem Titel „Imago veri Advocati/Bild eines wahrhaftigen Anwalts“. In dem Kapitel „Welke Processen de Advocaat moet aanvaarden, welke weigeren“ kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie Fritsch und Holtermann. De Roose gehörte zu den Stiftern der Ivo-Bruderschaft in Gent. Seine Anwaltsethik beschrieb die Pflichten eines Advokaten auf der Basis der christlichen Haupttugenden und trug zur Verbreitung der in der Genter Bruderschaft herrschenden Gesinnung maßgeblich bei. Bei den Preisreden auf Ivo fällt auf, dass die Redner oft nicht zwischen den juristischen Berufen unterschieden. Der gesamte Juristenstand wurde im Eifer der Kritik über einen, den anwaltlichen, Kamm geschoren. Das Bild des Juristen war vornehmlich durch den Anwaltsberuf geprägt. Die alljährlichen Ivo-Reden sollten bei den Studenten dem Irrtum begegnen, das Rechtsstudium vermittele vor allem eine Technik, Geld, Macht und Einfluss zu erlangen. Ein solcher Tiefstand der Berufsehre gefährdete die Rechtswissenschaft und mit ihr die Rechtsordnung. Die juristischen Fakultäten wollten das Übel bereits an der Wurzel bekämpfen und stellten den jungen Leuten wie dem gesamten Berufsstand und der Öffentlichkeit alljährlich neu das Ideal Ivos vor die Augen.

Ivo an der Himmelspforte „Noster huc alios expectans Ivo sodales/ Ante fores coeli tempora longa stetit./ Stabit item: donec iustus/ pius/ atque fidelis/ Causidicus illi forsitan obveniat./Bis heute steht unser Ivo an der Himmelspforte/ und wartet auf andere Kollegen./ Und dabei wird es noch lange bleiben, bis sich womöglich doch noch ein gerechter, frommer und treuer Anwalt findet.“,

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pries Sebastian Brant in seiner Elegie „De natura & moribus advocatorum consistorialium/Über Art und Sitten der kirchlichen Anwälte“ den Heiligen. In der Tendenz ähnlich vernichtend für den Anwaltsstand setzte der römische Fremdenführer gegenüber William Carr im 18. Jahrhundert seine Ivo-Anekdote fort: „... Als Ivo sah, welch einen Patron er gewählt hatte, war seine Enttäuschung so übermächtig, dass er einige Monate später starb. Er gelangte an die Himmelspforte und klopfte energisch. Als der Heilige Petrus fragte, wer da so heftig anklopfe, antwortete Ivo: ,Ich bin St. Evona, der Anwalt!’ ,Weg, weg’, sagte Petrus, ,im Himmel gibt es keinen einzigen Anwalt, hier ist kein Platz für Euch Juristen!’ ,Oh’, sagte St. Evona, ,aber ich bin der ehrenhafte Jurist, der niemals Gebühren von beiden Seiten kassierte, der niemals eine ungerechte Sache vertrat, der weder seine Nachbarn gegeneinander aufhetzte noch Gewinn aus dem sündhaften Leben der Leute zog.’ ,Wenn das so ist, na gut’, sagte Petrus, ,komm’ herein!’ Als diese Neuigkeiten nach Rom gelangten, habe ein geistreicher Dichter auf das Grab St. Evonas den Sinnspruch geschrieben: „St. Evona un Briton, Avocat, non Larron, Hallelujah.“

Uns ist der von Carr zitierte Vers, dessen Herkunft ungeklärt ist, anfangs schon begegnet: „Sanctus Ivo erat Brito Advocatus et non latro Res miranda populo.

Der Heilige Ivo aus der Bretagne war Anwalt und doch kein Straßenräuber – eine Sache, die dem Volk wie ein Wunder vorkommt.“

Ivo, so die Botschaft des Dreizeilers, war anders. In Frankreich brachte man dieses Anderssein auf den Ehrentitel anargyre/der Unbestechliche. Die Frage, ob Ivo etwa der einzige heilige Jurist gewesen sei, ja ob außer ihm überhaupt je ein Jurist in den Himmel aufgenommen worden sei, hat seit Ivos Aufstieg zum Leitbild der Rechtsanwälte im Besonderen und der Juristen im Allgemeinen die Gemüter bewegt. 1632 veröffentlichte der Jesuit und Doktor der Theologie Johannes Roberti (1569–1651) seine „Sanctorum quinquaginta iurisperitorum Elogia. Contra populare commentum de solo 98

Ivone/Lobrede auf fünfzig heilige Rechtsgelehrte. Wider das volkstümliche Lügenmärchen vom einzigen Ivo“. Dort findet man die „abgedroschene Anekdote/ioco è trivio sumto“, Ivo habe die Leiter, auf der er den Himmel erstiegen hatte, zu sich hinaufgezogen, so dass nun kein Jurist mehr den Himmel erreichen konnte. Roberti zählte zum Gegenbeweis fünfzig Heilige auf, die auch Juristen gewesen seien, darunter Moses, Aaron, Hiob und Daniel als alttestamentliche „Juristen“ und Thomas Morus (1478–1535). Sie alle seien mit Sicherheit in den Himmel gekommen. Robertis Darstellung Ivos, „quem ... omnes Iurisconsultum, & Iurisconsultorum Patronum magno consensu agnoscunt/den alle in großer Einhelligkeit als Rechtsgelehrten und der Rechtsgelehrten Patron anerkennen“, legte den Hauptakzent nach einer kurzen Lebensbeschreibung auf Ivos asketische Tugenden, zu der Richter- und Anwaltsethik und dem Juristen Ivo äußerte sich Roberti dagegen nicht. Die Leiter-Anekdote war natürlich auch für die Preisredner der Fakultäten attraktiv. Augustin Fischer, Doktor beider Rechte und Angehöriger des Benediktinerordens, hielt in Wien in den Jahren 1724 und 1725 seine Preisrede in der Ivo-Kapelle der juristischen Fakultät. Empört wies er die Schmähung seines Berufsstandes durch die Leiter-Anekdote zurück: „... Daß aber denen Juristen Spott-weiß vorgeworfen werde: daß nur der H. Ivo allein den Juristen-Himmel ziere/ schicke ich solche in die Historien zurück/ und sie werden finden/ daß so viel Päbst/ Cardinäl/ Bischöff/ Kayser/ König/ Fürsten der Zahl der Heiligen einverleibet/ die Juridische Gesätze eint-weders selber gesetzet/ dictirt/ oder gelehret haben/ und sein folglich Juristen gewesen... ich sage/ daß der Himmel zehle so viel Juristen/ als er zehlet Innwohner/ und keiner dahin gelangen könne/ er seye dann in einen rechtschaffenen Juristen erwachsen/ alldieweilen der Heil. Ivo jene ... vorgesehene Layter..., umb denen Pfuscheren/ Teutschen Michlen/ und Recht-Verderbern allen Weeg zu dem Himmel abzuschneiden/ zu sich gezogen/ und nur denen rechten/ der Gerechtigkeit handhabenden Juristen jederzeit herunter lasse/ und ihnen nur allein ... freyen Pass- und Repass verstatte.“

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Der Jesuit Ignaz Weitenauer griff dieses Argument in seiner im Jahr 1756 gedruckten Preisrede auf, die er unter dem Titel „Sancti Jurisconsulti, Ivonis in Caelo Collegae Oratio/ Rede auf den heiligen Rechtsgelehrten Ivo, den Kollegen im Himmel“ hielt: „Diesen Tag eben, der durch das Gedenken an unseren unsterblichen Ivo voller Ruhm und Ehre ist, wagen gewisse Leute in Verruf zu bringen, und sie stören unseren gottesfürchtigen Beifall und heilige Freuden, indem sie mit Spott und Verachtung höhnen, dass unsere Verehrung einzig und allein auf einen einzigen gerichtet sei; nur durch den Namen Ivos werde sie getragen; ohne ihn verbliebe uns nichts Heiliges im Himmel. Ihrer Unverschämtheit will ich mich mit gerechterer Kühnheit entgegenstellen und unserem heiligen Ivo himmlische Gefährten zusammensuchen: damit deutlich wird, dass dieser im himmlischen Reich keineswegs verlassen und allein ist, noch unser Stand, wie man allgemein behauptet, ohne Schutz himmlischer Patrone dasteht. Es werden also von mir heute heilige Rechtsgelehrte, Ivos Kollegen im Himmel aufgezählt werden...“.

Dann hörte man in Freiburg wie bei Roberti von „Juristen“ wie Moses, Ulpian, Paulus oder Augustinus. Den heutigen Leser befremden die oft weit hergeholten Bilder, die die Redner für Ivo fanden: „Tridens Juridici Maris Seu Divus Ivo/Tribus praecipue virtutibus insignis/Dreizack des juristischen Meeres oder der Heilige Ivo, besonders durch drei Tugenden ausgezeichnet“, unter diesem Motto sprach Johann Georg von Ullersdorff 1697 in der Prager TeynKirche. Wie ein ungeheures und unermessliches, oft aufgewühltes Meer seien die Rechte und Gesetze in ihrer Masse. Strudel, Wogen und Stürme dieses Ozeans würden jedoch durch das Auftauchen des Heiligen Ivo als Richter und Rechtsgelehrter, durch Wahrheit, Urteilsfähigkeit und Gerechtigkeit strahlend, zur Ruhe gebracht und besänftigt. Der Rechtsstudent Ambrosius Anton Fischer (Prag 1699) sah in Ivo einen „Heliotrop, das ist eine Heilblüte der Gesetze“, Johann Gottfried Ignaz Schrott (Prag 1704) einen „Fürsten der Richter, purpurrot gefärbt durch den Rötel des Rechts“, 100

Carl Wenzel Parzizek (Prag 1708) nannte ihn einen „bewaffneten Ölbaumzweig, einen Triumph und Wundertäter des kriegerischen Friedens, einen im friedenschaffenden Krieg lorbeerbekränzten Erzstrategen“. Den Bruch in Ivos Leben, seine Abkehr von der juristischen Praxis, beschrieb der Studiosus iuris Joseph Azzo 1732 in Prag: „Verumenim vero quae inexpectata Metamorphosis percellit oculos? surgit de tribunali Ivo, lancem deponit, fasces abjicit, sedere ultra pro tribunali renuit, Judicis personam exuit./Aber welche unerwartete Verwandlung erschüttert die Augen? Ivo erhebt sich vom Richterstuhl, legt die Waagschale aus der Hand, wirft die Amtsabzeichen fort, weigert sich, dem Gericht weiterhin vorzusitzen und streift die Rolle des Richters ab.“

Der hunderthändige Richter Doch verstießen nicht nur die Anwälte gegen die Berufsethik, auch die Richter hatten ein Ideal bitter nötig. Bei den Ägyptern, so erzählte Johann Georg von Ullersdorff in der TeynKirche im Jahr 1697, habe der oberste Richter ein Medaillon aus Gold und Edelsteinen am Hals getragen, das man „Wahrheit“ genannt habe. Es habe symbolisiert, dass in Herz und Mund des Richters nur die reine Wahrheit wohnen dürfe. Der Richter habe das Medaillon am Hals getragen, um auszudrücken, dass nur durch die Wahrheit zur Gerechtigkeit zu gelangen sei. In der Mitte der Brust habe es gehangen, um die richterliche Unparteilichkeit zu bekräftigen. Ein solches Medaillon, das sie bei jedem Urteil konzentriert betrachteten, müsse den heutigen Richtern der Heilige Ivo sein. „Hem consummatam Judicis Ideam!/Hier ist das zur Vollkommenheit gebrachte Idealbild eines Richters!“, rief der Rechtsstudent Christopher Wawra im Jahr 1731 in Prag seinen Zuhörern zu und fuhr fort: 101

„Ivo kannte das Recht bis ins Letzte: ein Schlemmer in den Gesetzen; er kam von der Wahrheit nicht ab: ein Luchs unter den Doktoren; er verstrickte sich nicht in gewagte Gedankenspiele: ein einfacher und geradliniger Mann; er hielt die Parteien nicht durch unnötige Verzögerungen hin, Seufzer deswegen gab es bei ihm nicht; er achtete nicht auf die Person: ein Maezen der Witwen und Waisen; Geschenke blendeten ihn nicht, den großzügigen Spender der eigenen Güter; er war nicht auf unehrenhaften Gewinn aus, weil er Gottesfurcht für die größte Bereicherung hielt; man konnte ihn wegen seiner untadligen Lebensführung nicht mit Gunstbezeigungen bestechen; Drohungen schüchterten ihn nicht ein, weil er frei von jeglichem Verbrechen war; durch Verlockungen war er, ein Feind der Lustbarkeiten, nicht zu erweichen; er fällte keine überstürzten Urteile und schärfte die Strafen nicht mehr als nötig, ja, wenn er schließlich durch den unerbittlichen Befehl der Gerechtigkeit zu einem Urteil kommen musste, fiel dieses so milde aus, dass die Macht der Tränen die Gewalt der allzu gestrengen Worte brach – als wollte dieser gottesfürchtige Gerechte eine Schuld sühnen, entstanden durch die doch so unschuldige Pflicht, Recht zu sprechen, oder sich um den Preis einer gelungenen Streitschlichtung von ihr loskaufen.“

Für den Rechtsstudenten Johann Wenzel Dworzak von Boor war 1727 in Prag der hunderthändige Ivo das Ideal: Die Thebaner hätten den Richter mit verstümmelten Händen dargestellt, die Athener blind. Der an den Händen verstümmelte Richter sei aber nur ein Abbild richterlicher Habgier. Der blinde symbolisiere das Urteilen nach dem Ansehen der Person. Ivo aber sei mit zwei besonderen Augen ausgestattet gewesen: Mit dem einen habe er streng auf die Verbrechen geblickt, mit dem anderen gütig lächelnd oder unter Tränen die Angeklagten angeschaut, ohne auf äußerliche Unterschiede der Personen zu achten. Sein Blick dringe in Geist und Sinn der Gesetze ein. Vorbild sei aber auch nicht ein Richter mit verstümmelten Händen, sondern der hunderthändige Ivo, der freigebig die Hilfsbedürftigen beschenke und für die von ihm zuvor gesetzesgemäß zu einer Geldstrafe verurteilten Mittellosen aus eigenem Vermögen die Schuld bezahle.

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Aus den Festreden lassen sich fünf Eigenschaften eines idealen Richters herausfiltern: Richten ohne Ansehen der Person, Unbestechlichkeit, prompte Prozesserledigung, Schlichten vor Richten und Barmherzigkeit. Insbesondere die Barmherzigkeit/misericordia wird dem Richterideal von der christlichen Ethik vermittelt, während sich die anderen Eigenschaften auch in nichtchristlichen Richtertugendkatalogen finden. Das Richterbild der Ivo-Redner lässt die Entwicklung der Richterethik seit den Anfängen des Berufs erkennen. Noch im 16. und 17. Jahrhundert war man der Auffassung, der Richter habe die göttliche Weltordnung in seinem begrenzten Bereich aufrechtzuerhalten. Schon im Sachsenspiegel (um 1224–1231) hieß es: „Höre zu, der du Richter bist, und sieh zu, dass du ein gleicher und rechter Richter seist, und gedenke an das strenge Gericht unseres Herrn Jesu Christi; denn Gott ist als gestrenger Richter zur selben Zeit und Stunde an dem Ort, wo du richtest, und richtet über dich gleichermaßen wie du über andere richtest.“ (Landrecht III, Art. 30 § 2)

Im 18. Jahrhundert löste sich die richterliche Berufsethik aus der engen Verflochtenheit mit der christlichen Ethik. Man ging nun daran, eine säkularisierte Pflichtenlehre zu entwickeln, in der religiöse Ideen keinen prominenten Platz mehr hatten.

Ivo – Summa summarum Dass man auch außerhalb der Fakultätsreden Wege zum Preise des Heiligen Ivo fand, belegen die „Litaniae de S. Ivone/Litaneien über den Heiligen Ivo“, die in Wien im Jahr 1712 als Anhang zu einem „Catalogus Decanorum/Verzeichnis der Dekane“ und anderer berühmter und ausgezeichneter Persönlichkeiten der Wiener juristischen Fakultät in den Druck gelangten. Die Litanei der katholischen Liturgie ist ein Flehgebet, bei dem die Gemeinde auf die Anrufungen 103

eines Vorbeters mit einem gleichbleibenden Ruf antwortet. Sie wurde zu Beginn der Messe gebetet. Die „Litaneien über den Heiligen Ivo“ zählten im Wechsel mit der Bitte: „Ora pro nobis/bitte für uns“ sämtliche Verdienste des Heiligen auf: „Juristarum Dux gloriosae, Complementum Justitiae, Ornamentum Jurisprudentiae, Divinarum atque humanarum rerum notitia praedite, Justi atque injusti scientia perite, Divini atque humani Juris consulte, Orator facundissime, Arbiter aequissime, Judex justissime, Ex aequo & virtute lucidissime, In utroque Juris & virtutis foro versatissime, Sacro-Sanctae Justitae Sacerdos sancte, Utriusque Juris Doctor subtilissime, Sacrorum Canonum Splendor, Advocate Pauperum, Patrone Viduarum, Curator ad lites Pupillorum, Causidice Suppressorum, Umbraculum Afflictorum, Palma Jurisperitorum, Speculum Advocatorum, Exemplar Judicum, Curiarum fulcrum, Justorum Symbolum, Bonorum omnium Lampas & Asylum, Divini Consistorii Notarie accuratissime, Nationis Christianae procurator fidelissime, Juris & aequitatis Professor clarissime, Facultatis Juridicae caelestis Decane, Piarum Fundationum Superintendens Divine, Virtutum omnium Universitatis Cancellarie, Justorum Tribunalium Rector Magnifice, Ora pro nobis.

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Ruhmreicher Führer der Juristen, Vollender der Gerechtigkeit, Zierde der Rechtsgelehrsamkeit, Im Wissen um Göttliches und Menschliches Herausragender, In Recht und Unrecht Kenntnisreicher, In göttlichem und menschlichem Recht Gelehrter, Höchst geschliffener Redner, Schlichter von höherer Gerechtigkeit, Allergerechtester Richter, An Gerechtigkeit und Tugend Strahlender, Auf dem Forum des Rechts wie der Tugend äußerst Gewandter, Heiliger Priester der sakrosankten Gerechtigkeit, Feinsinnigster Doktor beider Rechte, Glanz der heiligen Kirchengesetze, Anwalt der Armen, Beschützer der Witwen, Vormund in den Rechtsstreitigkeiten der Unmündigen, Fürsprecher der Unterdrückten, Schirm der Bedrängten, Gipfel der Rechtsgelehrten, Idealbild der Anwälte, Vorbild der Richter, Stütze der Gerichte, Symbol für die Gerechten, Licht und Zuflucht aller Guten, Akribischer Schriftführer im himmlischen Rat, Allertreuester Fürsprecher der christlichen Gemeinschaft, Hochberühmter Professor des Rechts und der Gerechtigkeit, Himmlischer Dekan der juristischen Fakultät, Göttliche Aufsicht über die frommen Gründungen, Kanzler aller Tugenden der Universität, Großartiger Rektor der gerechten Gerichte, Bitte für uns.“

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Die Litanei schließt mit einem Gebet an den „Judex omnium Creaturarum Justissime/allergerechtesten Richter aller lebendigen Wesen“. Darin wird gebeten, „... ut per intercessionem S. Ivonis Pauperum olim in terris, nunc in coelis omnium Advocati aliena non appententes, ea, quae nobis debentur, sine magno litis sufflamine consequamur, nostrisque pacifice ac quiete fruamur, Magistratibus vero Christianis, Judicibus, Consiliariis, Jure-consultis, Advocatis & Officialibus spiritum Sapientiae, Intellectus, fortitudinis, pietatis, consilii, scientiae, & timoris Domini largiri digneris; ut septem donis sancti Spiritus illustrati justum ab injusto dignoscentes, ac DEUM prae oculis habentes, ita regant & judicent, prout in extremo DEI Judicio coram Divino Tribunali judicasse optabunt, dataque sibi a Deo scientia & potestate bene utentes a supremo Judice aeternam beatitudinem pro proemio consequi mereantur. ... / dass wir – durch die Vermittlung des Heiligen Ivo, einst auf Erden Anwalt der Armen, jetzt im Himmel der Anwalt aller Menschen, keine ungehörige Bitte – die Dinge, die uns zukommen, ohne den Umweg über einen Prozess erlangen und unseren Besitz in Ruhe und Frieden genießen mögen; dass du aber den christlichen Beamten, den Richtern, Ratgebern, Rechtsgelehrten, Anwälten und Offizialen den Geist der Weisheit, Einsicht, Stärke, Frömmigkeit, Bedachtsamkeit, Klugheit und Gottesfurcht schenken mögest, so dass sie, von den sieben Gaben des Heiligen Geistes erleuchtet, das Recht vom Unrecht zu unterscheiden vermögen und, Gott vor Augen, so lenken und urteilen, wie sie es im Angesicht des letzten Urteils Gottes vor dem himmlischen Gericht sich wünschen werden getan zu haben, und es verdienen, von dem höchsten Richter mit der ewigen Seligkeit belohnt zu werden, weil sie guten Gebrauch von dem Wissen und der Macht gemacht haben, die ihnen von Gott geschenkt wurde. ...“

Mit den „sieben Gaben des heiligen Geistes“ ist auf den Brief des Paulus an die Galater angespielt, wo es heißt (5,22): „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit.“

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Das Ende des Ivo-Kults an deutschen Fakultäten Martin Luther (1483–1546) hatte gegen den blühenden Heiligenkult der katholischen Kirche gewettert, und so brachen die protestantischen Universitätsneugründungen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts als erste und von Anfang an mit dem Ivo-Kult. Marburg (1527) etwa, Königsberg (1544), Jena (1557/1558), Helmstedt (1575/1576), Gießen (1607), Altdorf (1622/1623), Kassel (1633), Kiel (1652), Halle (1693/1694), Göttingen (1733/1737), Erlangen (1742/1743) und Stuttgart (1781) kennen den Patron nicht mehr. Ihnen folgten die alten katholischen Fakultäten nur zögernd. In allmählichem Absterben verlor sich die Verehrung des Heiligen dort erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Wirkungen der Aufklärung. Den Aufklärern war die Heiligenverehrung ein Erbe des „finsteren Mittelalters“. Die Theologen unter ihnen sahen es als eine Schmälerung der Allmacht Gottes an, den Himmel als einen Ständestaat zu deuten und dort gar Vielgötterei einzuführen. Am Ende dieser Entwicklung stand die Kirchenpolitik Kaiser Josephs II. (reg. 1765–1790), die auf vollständige Abschaffung des Heiligenkults, der Reliquien und Wallfahrten gerichtet war. Den juristischen Fakultäten verordnete der Kaiser für die Ausbildung der zukünftigen Beamten einen säkularisierten Pantheismus. Die „Religions-Polizey“ Josephs II. wollte eine einheitliche Durchformung des religiösen Lebens für alle Glaubensrichtungen einrichten und sie fiskalischen und ökonomischen Zwecken dienstbar machen. Dieser Politik mussten die Fakultäten auch die Verehrung Ivos opfern. Im Rheinland wurden die alten katholischen Universitäten Köln, Trier und Mainz in der französischen Zeit (1794–1812) geschlossen und das französische Spezialschulwesen eingeführt. Während Köln, das im 18. Jahrhundert unter den katholischen Universitäten des deutschen Westens als „Hort der Orthodoxie“ galt, am Ivo-Kult bis zum Jahr 1793, dem 107

Jahr vor dem Einmarsch der französischen Revolutionsarmee, festhielt, wurde in Trier die Preisrede auf den Heiligen bereits im Jahr 1758 abgeschafft. Angeblich geschah dies, weil sich in diesem Jahr kein Redner fand. Die Studenten sollen sich geweigert haben, einen solchen aus ihrer Mitte zu benennen, nachdem der Redner des Vorjahres einen Skandal verursacht hatte. Man hatte ihn als Bigamisten entlarvt. Der Fakultät war diese Gelegenheit nur allzu willkommen, den mittlerweile als lästig empfundenen Brauch stillschweigend und endgültig fallen zu lassen. Auch nach dem Ende der Fakultätspatrozinien brachte die Wandlungsfähigkeit unseres Heiligen neue Formen seiner Verehrung hervor. Bereits seit dem 18. Jahrhundert wanderte sein Kult aus der Standespflege der Fakultäten in die Seelsorge für Juristen ab. Aus Frankreich sind mehrere Panégyriques/Preisreden auf Ivo erhalten, die nun aber Geistliche vor Versammlungen von Richtern oder Anwälten hielten. Dort war weiter von Ivos juristischer Redlichkeit die Rede, seiner Geradheit und Furchtlosigkeit. Im 20. Jahrhundert schrieb der französische Rechtsanwalt Henri Fequet, im Jahr 1943 in einem deutschen Konzentrationslager ermordet, ein Gebet für Anwälte. In der Litanei heißt es im Wechsel mit der Bitte „Verschone uns, Saint Yves, mit ...“: „der Forderung nach Erfolgshonoraren/ Terminverschiebungen um vierzehn Tage/ der Beredsamkeit unserer Berufsgenossen/ ... dem Papierkrieg und dem Kauderwelsch der Anwälte/ der grausamen Klaue der Gerichtsvollzieher/ ... dem schweren Schlaf der Richter/ den Entscheidungen in letzter Instanz/ der Inkompetenz/ unfähigen Leuten/ Einwendungen/ ... Zeugen, die nichts gesehen haben/ Zeugen, die zuviel gesehen haben/ Zeugen, die schlecht gesehen haben/ anschwellenden Entscheidungssammlungen/ ... undurchsichtigen Schachzügen der Gegenpartei/ ... den Feinheiten des Rechts/ ... Beschlüssen, die nicht umgesetzt werden/ ... dem Argument e contrario/ dem Argument ad hominem/ dem

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Argument ,in Analogie’/ ... der Verjährung/ ... Geldstrafen, Kosten, Zehnten, Vorschüssen und anderem Unheil/ der Teilung der Kosten ...“.

Auch in Deutschland bewies die Person des Heiligen weiterhin ihre symbolische Kraft: Der Tübinger Professor Karl Joseph von Hefele (1809–1893), später Rottenburger Landesbischof, stellte seiner Universität im Jahr 1869 Mittel für eine „IvoStiftung“ zur Verfügung, die Stipendien an „würdige katholische Württemberger“, vorzugsweise zum Studium der Rechtsund Staatswissenschaft, vergab.

Ivo als Statussymbol Politische Macht und wirtschaftliche Kraft haben es leicht, sich selbst darzustellen, um anderen ihre Potenz zu beweisen. Schwerer fällt dies geistigen Mächten, wie sie von den Universitäten verkörpert werden. Für diese war Selbstdarstellung eine Existenzfrage. Zu den universitären Statussymbolen gehörten neben dem Zeremoniell die Titulaturen, Roben, Szepter und Siegel der Rektoren und Dekane. Szepter führten zwar sowohl die Universitäten wie die Fakultäten, doch wurden sie nur an den Hohen Tagen des Universitätsjahres präsentiert. Ivo als Patron der juristischen Fakultät war neben den Evangelisten Johannes (für die Theologie) und Lukas (für die Medizin) auf dem Fakultätsszepter der drei höheren Fakultäten (Theologie, Medizin, Jurisprudenz) von Ingolstadt (1642) zu sehen. Im Universitätsalltag allzeit gegenwärtig waren und sind dagegen die Siegel, die neben ihrem praktischen Zweck der Beurkundung immer auch statussymbolischer Selbstdarstellung dienten. Als „testis mutus/stummer Zeuge“ garantierte das Siegel, dass ein Dokument echt war. Die Universitäten und Fakultäten waren zur Führung öffentlicher Siegel (sigilla publica) berechtigt, die im Gegensatz zu Privat109

siegeln im Rechtsverkehr öffentlichen Glauben genossen. Mit öffentlichem Glauben versehen wurden Testate und Zeugnisse, die Verleihung von Graden und Titeln. In ihrem Doppelcharakter bestätigten die Siegel als Hoheitszeichen die Würde und Autorität der Universität oder Fakultät. Diese stellten ihre Besonderheiten darauf bildlich dar. Drei von siebzehn juristischen Fakultäten im Reich, an denen Ivo verehrt wurde, wählten ihren Patron als Siegelmotiv: Freiburg im Breisgau, Trier und Wittenberg. Auf dem wohl aus dem 15. Jahrhundert stammenden Trierer Siegel sieht man Ivo im Talar und Barett des Gelehrten. Seine vom Bild aus gesehen rechte Hand ist zu einem Buch vorgestreckt, das geöffnet auf einem Lesepult liegt. Im Hintergrund erblickt man einen Beichtstuhl, der Ivo einerseits als ordinierten Priester ausweist, andererseits die christliche Prägung seiner richterlichen und anwaltlichen Tätigkeit vor Augen rückt. Unter dem Bild ist sein Name genannt, weil dieser Heilige keine eindeutigen Attribute besaß. Die Universität Trier wurde 1798 geschlossen und erst im Trier 1473 Jahr 1970 wieder errichtet. Die juristische Fakultät beschloss 1983, das alte Siegel, unwesentlich abgeändert, zu übernehmen. Auf dem Wittenberger Siegel aus dem frühen 16. Jahrhundert erscheint Ivo stehend, ohne Buch, aber mit einer Schriftrolle in der Hand. Um sein Bild läuft die heute nur noch unvollkommen zu lesende Umschrift: „Ivo ... docet/Ivo ... unterrichtet“. Gerahmt ist das Siegel von den Worten: „S. Ivo. Facultatis juri[di]ce Witenbergiensis Patronus/Heiliger Ivo. 110

Patron der juristischen Fakultät Wittenberg.“ Die lutherische Lehre machte Wittenberg und dessen theologische Fakultät im 16. Jahrhundert zu einem „Neuen Rom“ der Protestanten, wohin die Verkündigung der neuen Konfession deren Theologen aus ganz Europa strömen ließ. Mit dem Einfluss des Protestantismus dürfte es daher zu erklären sein, dass die Wittenberger juristische Fakultät sich früher als andere, nämlich bereits im Jahr 1560, von Ivo und der Feier des IvoTages verabschiedete, ja geradezu distanzierte, den „saeculi sui errore maiores nostri/unsere Vorfahren im Wahn ihrer Zeit“ zu ihrem Patron gemacht hätten. Zuvor hatte jeder Bewerber um einen akademischen Grad vor dem Examen eine IvoMesse lesen lassen müssen. Nun gaben die Wittenberger allein Gott die Ehre als ihrem Schutzherrn. Auf den Siegeln leistete Ivo seinen Juristen einen anderen Dienst: nicht als Verkörperung christlicher Tugenden, auch nicht als idealer Richter und Anwalt der Armen, sondern als Gelehrter. Seine Biographie rechtfertigte diese Deutung allerdings nicht. Weder hat Ivo den Grad eines Doctor iuris utriusque erlangt, als Hochschullehrer gelehrt, ein wissenschaftliches Werk hinterlassen oder in der Praxis das Recht erkennbar fortgebildet.

Auf den Spuren der Ivo-Ikonographie Ein Kult braucht Bilder. An der geringen Zahl bildlicher und plastischer Darstellungen Ivos in Deutschland lässt sich ablesen, dass er hier niemals ein Volksheiliger war. Selbst das Rheinland, das so viele Heilige verehrt(e), hat Ivo weder eine Kirche noch einen Altar, nicht einmal ein Bild oder eine Statue geweiht. Ein einziges Zeugnis findet sich in der südlichen Eifel in der Nähe von Bitburg, nicht weit von der luxemburgischen Grenze. Auf dem Ferschweiler Plateau liegt dort 111

die Schankweiler Klause, eine Eremitage, die in ihrer jetzigen Gestalt aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt. Dazu gehört eine Straßenkapelle, wo neben hölzernen Figuren anderer Heiliger auch eine Ivos zu finden ist, als einfacher Priester dargestellt, in der einen Hand eine Geißel als Zeichen seiner Askese, in der anderen die Bibel. Wieso man Ivo dort verehrte, bleibt offen. Vielleicht hat ein Besucher der Klause, von denen einer stammte, aus der Normandie dem Klausner den Heiligen aus der Bretagne zur Verehrung empfohlen. Die Erzabtei Stift St. Peter in Salzburg, für die Mission in den Südostalpen im Jahr 696 als das älteste Kloster im deutschsprachigen Raum gegründet, beherbergt im vierten Klosterflügel im ersten Stock eine Zellenbibliothek. Ursprünglich für Novizen bestimmt, wurden sieben Zellen in den Jahren 1706/07 zur bereits seit der Gründung bestehenden Bibliothek hinzugenommen. Die Räume liegen in der Flucht und sind durch in der Achse ausgerichtete Türen mittig in den Trennwänden miteinander verbunden. Der Buchbestand jeder Zelle ist einem bestimmten Thema vorbehalten. In der Zelle V steht der Bestand „Recht“. In den Jahren 1765–1771 wurde die Zellenbibliothek im Rokokostil aus- und umgebaut, 1769–1770 von dem Maler Franz Xaver König (1711– 1782) malerisch ausgestaltet. Die Zelle V zeigt seitdem als Deckenbild den jungen Ivo im Priestergewand ohne Kopfbedeckung. Bettler, Kinder und Frauen umringen ihn und überreichen ihm Bittschriften, die er bereitwillig entgegennimmt. Der Raum ist an den Wänden mit hohen, vollen Bücherregalen gefüllt: die Bibliothek von Rechtsgelehrten. Die juristischen Fakultäten beschränkten sich bei der Abbildung ihres Schutzpatrons zumeist auf ihre Siegel und Szepter. Doch gab es auch Ausnahmen:

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Ingolstadt war im 16. Jahrhundert das Zentrum der Gegenformation. Seit 1556 reorganisierten die Jesuiten dort die alte Universität und führten ihre ratio studiorum/Studienplan, ein, der einerseits auf die Bekehrung Andersgläubiger, andererseits auf die Erziehung eines gebildeten, seinen modernen Aufgaben gewachsenen Priesterstandes abzielte. In den Jahren 1732–1736 errichtete die Societas Jesu eine Kapelle für ihre akademische Bruderschaft, die 1736 zur Kirche geweiht wurde und seit 1804 den Namen „Maria de Victoria“ führt. Man betritt die Kirche durch einen niedrigen, dunklen Vorraum. Der Hauptraum ist ein doppelseitig belichteter flachgedeckter Saal, der ohne Chorraum unmittelbar in den leicht erhöhten Altarbezirk mündet. Der Hochaltar wurde erst 1759, dem Stil nach von dem Holzschnitzer und Bildhauer Johann Michael Fischer aus Dillingen (1692–1766), geschaffen. Neben und zwischen schlanken Säulen stehend zeigen vier lebensgroße Figuren in Weiß und Gold die Repräsen- Altarfigur Ivos in Maria de Victoria, Ingolstadt 113

tanten der vier klassischen Fakultäten: Links außen sieht man den Arzt Cosmas (gest. um 303) für die medizinische Fakultät, dann den heiligen Thomas von Aquin für die Theologie, rechts vom Altarblatt Ivo als Patron der juristischen Fakultät und schließlich ganz außen die heilige Katharina von Alexandrien für die artistische Fakultät und als Beschützerin der Universitäten. Ivo ist als Gelehrter mit Heiligenschein dargestellt, in seiner rechten Hand ein dickes Buch, über das er souverän verfügt, in der linken eine Bittschrift oder Eingabe. Für die Universität Dillingen an der Donau im bayerischen Schwaben gilt Ähnliches wie für die Ingolstädter Hochschule. Seit 1563/64 übernahmen die Jesuiten sie im Rahmen der Gegenreformation und bauten sie zu einem stilbildenden Ort ihres Ordens aus. Seit 1625 gab es eine juristische Fakultät, an der kanonisches Recht unterrichtet wurde, 1629 kam das Zivilrecht dazu. In den Jahren 1610–1617 wurde nach einem Plan der Jesuiten die Studienkirche „Mariä Himmelfahrt“ im Renaissance-Stil errichtet und von 1750–1765 barock umgestaltet. Dort hängen im Chorraum über dem Gestühl die sogenannten Fakultätsbilder, Ivo zwischen Arm und Reich, Ölgemälde, Anfang vier Gemälde in Öl des 18. Jahrhunderts 114

auf Leinwand in Stuckrahmen, jeweils ca. 1,80 m hoch und 2,40 m breit. Johann Anwander (1715–1770) aus Lauingen (Donau) hat auf ihnen 1762 die Patrone der Fakultäten dargestellt. Vorn auf der Nordseite sieht man Ivo. Im schwarzen Talar des Rechtsgelehrten das Bild beherrschend, steht er an einem über und über mit Manuskripten und Büchern bedeckten Tisch, wendet sich aber von den juristischen Codices ab und einer Gruppe Hilfsbedürftiger zu: einer Frau mit Kind, einer Waise und einem alten Mann, die seine Hilfe vor dem allzu harten Zugriff des Rechts suchen. Unten links halten zwei Putten die Symbole für Recht und Gerechtigkeit: Waage, Schwert und Liktorenbündel, altrömisches Zeichen richterlicher Gewalt. Noch ein Mal findet sich Ivo in dieser Kirche: Christoph Thomas Scheffler (1699–1756) hat im Jahr 1751 in den Abseiten des Langhauses Deckenfresken geschaffen. Herausragende Vertreter einzelner universitärer Fächer sind dort als Marienverehrer dargestellt, jeweils paarweise von Ost nach West: Hieronymus (um 347–419/420) steht für die Bibelwissenschaft, Thomas von Aquin für die Dogmatik, Augustinus (354–430) für die Apologetik und Reinheit der Lehre und Antoninus von Florenz (1389–1459) für die Moraltheologie; über dem dritten Seitenaltar links sieht man die Patrone der Fakultäten: Cosmas mit seinem Zwillingsbruder Damian (Medizin), Albertus Magnus (Philosophie) und Cyprian von Karthago (200/210–258; Artes). Ivo steht für die Rechtswissenschaft. Er sitzt als junger Mann mit Heiligenschein, barhäuptig im Priestertalar an einem schweren Tisch, auf dem dicke Bücher aufgereiht sind. Darüber liest der Betrachter die Worte „De postulando/Über das Verklagen“; darunter hängt ein Spruchband mit der Aufschrift „Advocata nostra/Unsere Fürsprecherin“. Ein zerlumpt gekleideter Knabe, auf einen Stab gestützt, offensichtlich ist er von weither gekommen, schaut bittend zu dem Heiligen auf und hält ihm ein Papier entgegen, die andere Hand in flehender Gebärde. Ivo öffnet seine 115

Rechte dem Schriftstück entgegen, weist aber gleichzeitig mit dem Zeigefinger der linken Hand auf Maria, die in einem Ausblick in den Himmel als Fürbitterin vor Christus kniet. Links hinter Ivo thront Justitia mit einer Binde vor den Augen, in der Rechten das Schwert, in der Linken die Waage. Ivo ist hier wieder Advocatus pauperum, der sich der Hilfsbedürftigen in Nächstenliebe annimmt, sie aber in ihrem Begehren auf Vertretung vor dem irdischen Gericht gleichzeitig auf die höhere Gerechtigkeit und das himmlische Gericht Gottes verweist, vor dem ihm Maria die Fürsprecherin sein wird. Den Goldenen Saal des 1688/89 von den Jesuiten errichteten Universitäts- oder Akademiegebäudes, der Gebets- und Versammlungsraum für den Orden sowie Aula und Festsaal für die Universität war, hat wiederum Anwander im Jahr 1762 mit einem Deckenfresko geschmückt. Es setzt den in den Stuckreliefs bereits begonnenen Preis Marias, nach der lauretanischen Litanei „speculum iustitiae/Spiegel der Gerechtigkeit“ und Sitz der Weisheit, fort und zeigt die in Grautönen gemalten Fakultätspatrone auf einem balkonartigen Anbau vor den Säulen eines Tempels, in dem Maria als personifizierte Weisheit thront: den Heiligen Thomas von Aquin für die Theologie, den heiligen Arzt Pantaleon (gest. 305; oder Cosmas?) für die Medizin, Ivo für die Jurisprudenz und den Heiligen Franz Xaver (1506–1552) für die Philosophie und die Naturwissenschaften. Die Universität Freiburg im Breisgau hatte sich im Chor des Münsters auf eigene Kosten eine besondere Kapelle eingerichtet, die unter anderem ihren Professoren bis ins 18. Jahrhundert als Grabstätte diente. Die Fenster wurden nach Entwürfen der Universität zwischen 1524 und 1527 von einem unbekannten Künstler bemalt. In dem Fenster rechts unten stehen vor einer waldigen Gebirgslandschaft die Patrone der vier Fakultäten: ganz links der Evangelist Lukas, der Überlie116

ferung nach Arzt, als Patron der medizinischen Fakultät; dann die heilige Katharina von Alexandrien für die Artes-Fakultät; der Evangelist Johannes für die Theologie und schließlich, ganz rechts, der heilige Ivo als Schutzherr der juristischen Fakultät. Er ist wie auf den Siegeln in Robe und mit dem Barett der Rechtslehrer gekleidet, ein dickes Buch in der Hand. Die Patrone sind in kleinen Wappenschilden auf Konsolen über ihren Köpfen erneut dargestellt, Ivo hier in einem Buch lesend oder daraus vortragend. Die über allem schwebenden Engel halten die Embleme der vier Fakultäten in der Hand, der Engel über Ivo trägt eine Waage. Die Stadt Freiburg besitzt zwei in unmittelbarer Nachbarschaft stehende Rathäuser: das alte gegenüber der Martinskirche und das neue am Franziskanerplatz, ein Komplex, der ehemals aus zwei Bürgerhäusern bestanden hatte, dem „Haus zum Phönix“ und dem „Haus zum Rechen“. Die Universität erwarb beide Häuser in den Jahren 1559 und 1578, verband sie zu einem Gebäude und nutzte dieses über drei Jahrhunderte für den Vorlesungsbetrieb. Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an bis zum Jahr 1774 war der Komplex unter dem Namen Collegium Universitatis Hauptgebäude und Mittelpunkt der Universität. Dann siedelten Lehrkörper und Verwaltung in ein anderes Gebäude. Im Jahr 1891 verkaufte die Universität das Anwesen an die Stadt, die daraus das „neue“ Rathaus machte. In dessen zweitem Stock liegt einer der schönsten Barockräume der Stadt, der der Universität wohl von Anfang an als Aula gedient hat. Ein Wandfries zeigt in Kartuschen den Freiburg i. Br. 1530 Kirchenlehrer Hieronymus als Univer117

sitätspatron und die vier Fakultätspatrone, an der Südwand links für die Juristen Ivo Hélory. Er ist, ähnlich wie auf dem Freiburger Fakultätssiegel von 1530 (siehe S. 117), das bis heute in Gebrauch ist, als Rechtslehrer dargestellt, der aus einem aufgeschlagenen Buch vorträgt. Ein anderes Zeugnis der universitären Ivo-Verehrung, das hier nicht unerwähnt bleiben soll, findet sich auf der Karlsbrücke in Prag, die wegen des einzigartigen Ensembles von Skulpturen auf den Brüstungen berühmt ist. Als erste Plastik auf der Südseite der Brücke, nächst dem Altstädter Turm steht links an zentraler Stelle der Heilige Ivo. Matthias Bernhard Braun (1684–1738), ein aus dem Tiroler Oetztal stammender Bildhauer und -schnitzer, hat ihn 1711 im Auftrag der Prager Karls-Universität mit barocker Gestaltungskunst geschaffen. Auf dem niedrigsten Postament der gestaffelten Gruppe kauert die Klientel Ivos, eine Mutter mit Säugling, ein Kind und ein gebrechlicher Alter. Sie schauen hilfeflehend zu dem Heiligen empor. Auf der nächsten Stufe steht, halb verdeckt, die Gerechtigkeit. Von dort hebt sich der Blick zur herausgehobenen Mitte der Skulptur, zu St. Ivo selbst. Er beugt sich mit christlichem Erbarmen zu den Bedrängten nieder. Eine Ivo-Darstellung zwischen universitärer und innerkirchlicher Verehrung entdeckt man im Südtiroler Brixen. Dort wurde im Jahr 1764, als sich anderswo der Ivo-Kult an den juristischen Fakultäten bereits seinem Ende zuneigte, der Grundstein für den Neubau eines Priesterseminars gelegt. Wie in den barocken Stiften, so ist auch hier der Bibliothekssaal als Prunkraum angelegt. Im Jahr 1775 wurden seine Innenarbeiten abgeschlossen. Das Gewölbe, durch zwei Marmorsäulen auf der Mittellinie gestützt, die die Heilige Schrift und die Tradition als Fundamente der theologischen Wissenschaft symbolisieren, besteht aus sechs Flachkuppeln. In diesen stellen Gemälde allegorisch die theologischen Disziplinen dar: Rhetorik, Bibelwissenschaft, Jurisprudenz, Dogmatik 118

und Moraltheologie, Aszetik, Mystik sowie Apologetik. Jede Kuppel ist an ihren vier Seiten mit einer Rokoko-Kartusche geschmückt, in die je zwei einander zugewandte Brustbilder hervorragender Vertreter der Disziplin gemalt sind. Die Umschrift um die Kuppel der Jurisprudenz kommentiert die Rechtsunterweisung: „Debita sacrorum / Capiti / sacrisque / Ministris / Juraque sancta / gregis / Canonum / docuere Magistri/Das göttliche Recht und das evangelische sowie die heilige Schar der Canones unterrichteten die Lehrer.“ Hier wird auf die sieben Rechtsquellen angespielt: Das in der Schöpfung offenbarte ewige Gesetz (lex aeterna) steht ganz oben in der Hierarchie, dann folgen das daraus abgeleitete Naturrecht (lex naturalis), die von Mose vom Sinai gebrachten Gebote (lex Moysaica), das durch Christus offenbarte Gesetz des Evangeliums (lex evangelica), das Gewohnheitsrecht (consuetudo) als eine Marterie des menschlichen Rechts (lex humana), das Kirchenrecht (lex canonica) und das weltliche Recht (lex civilis vel politica). In der vom Mittelgang aus gesehen linken, zur Wand hin liegenden Kartusche wird ein „Advocatus egentium/Anwalt der Notleidenden“, ein Priester, gezeigt, mit dem sicher nur der Heilige Ivo gemeint sein kann. Er wird in Aufnahme der universitären Tradition auch hier als Rechtsgelehrter und -lehrer sowie idealer praktischer Jurist dargestellt. Im Privatbesitz des Kölner Rechtsanwalts Heinz Christian Esser befindet sich ein Bild unseres Heiligen aus dem Jahr 1759. Welcher Rheinische Meister es gemalt hat, ist unbekannt. In der Unterschrift direkt unter dem Bild ist Ivo als „Advocat.[us] paup.[erum]/Anwalt der Armen“ bezeichnet. In Anwaltsrobe und mit Barett sitzt er seitlich an einem über und über mit Büchern und Schriftrollen bedeckten Tisch. Ein zerlumpter Bettler mit einer Krücke im Arm hält ihm in demütiger Bittstellerhaltung ein Papier entgegen. Ivo weist mit dem Zeigefinger auf eine Buchseite, die wohl die Lösung des Rechtsproblems enthält, welches der Arme ihm vorträgt. 119

Eine Inschrift an der rechten unteren Seite des Bildes nennt als Auftraggeber den Doktor beider Rechte Alexander Bossard aus Trier. Dieser wirkte in den Jahren 1732–1768 dort als Kirchenrechtler, zunächst als Kapitularkanoniker, seit 1759 als Syndikus des Stiftes von St. Paulin. Er war als solcher selbst ein Advocatus pauperum und wird in der seitlichen Inschrift, die ihn als Stifter vorstellt, auch als ein solcher bezeichnet. Ivo scheint auf dieser Darstellung die Züge Bossards zu tragen, eine zu dieser Zeit übliche Anverwandlung.

Ivo als Advocatus pauperum, Ölgemälde

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Auf der Suche nach einem verlorenen Heiligen Dem modernen deutschen Juristen, der einem säkularisierten Universitätsbetrieb entstammt, ist zumeist unbekannt, dass ein Heiliger für seinen Berufsstand zuständig gewesen ist. In der Tat finden sich heute außer den universitären Insignien keine Spuren von Ivo in Universität oder juristischer Praxis. Eine Ausnahme macht der Anwaltverein in Freiburg im Breisgau. Dieser stiftete aus Anlass seines 90jährigen Bestehens am 12. Juni 1982 ein Glasfenster mit dem Motiv des Heiligen Ivo für die alte Gerichtslaube im Freiburger Rathaushof. Dort hatte der humanistische Jurist Ulrich Zasius (1461–1535) seit 1502 sein Amt als Gerichtsschreiber ausgeübt und das ältere Freiburger Stadtrecht überarbeitet. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs wurde die Freiburger Innenstadt durch Bomben zerstört, von der Gerichtslaube blieb nur eine Ruine übrig. Als in den 70er Jahren die Stadtverwaltung plante, die Gebäudereste abzuräumen und an der Stelle einen modernen Neubau zu errichten, setzte sich eine Bürgerinitiative unter der Leitung des Freiburger Rechtshistorikers Hans Thieme (1906–2000) erfolgreich für den Wiederaufbau der Gerichtslaube ein. Dem Spendenaufruf folgte auch der Freiburger Anwaltverein durch Stiftung des Ivo-Fensters. Spiritus rector war der damalige Vorsitzende des Freiburger Anwaltvereins, Rechtsanwalt Dr. Gerd Krieger, dem wir diese Informationen verdanken. Für das Fenster wurde ein gesonderter Entwurf gefertigt, Vorbild war die Abbildung Ivos auf dem Fenster der Universitätskapelle im Freiburger Münster. Das Motiv zeigt Ivo als „Fürsprech der kleinen Leute“ mit Heiligenschein und in Anwaltsrobe mit einem Buch unter dem linken Arm. Den rechten Arm hebt er segnend, darunter sieht man die Waage der Justitia. Zu seinem 100jährigen Jubiläum im Jahr 1992 brachte der Anwaltverein eines der im Breisgau üblichen Weingläschen heraus, auf denen das Motiv des Glasfensters zu sehen ist. 121

Heute tragen offizielle Anschreiben des Vereins das Ivo-Bild im Briefkopf. Doch erschöpften sich die Aktivitäten des Freiburger Anwaltvereins nicht in bloß anschauender Verehrung Ivos. Er richtete „Ivo-Dienste“ ein, die kostenlose Beratung von mittellosen Bürgern. Seit 1986 gibt es den anwaltlichen Notdienst, der auch außerhalb normaler Sprechzeiten besetzt ist. Schließlich wurde auch die Schuldnerberatung Ivo-Dienst, lange bevor es hierfür eine gesetzliche Regelung gab.

Ivo international Die Verehrung Ivos hat sich mittlerweile, auch dies eine res miranda, eine Sache wie ein Wunder, von einem kleinen Ort in der Bretagne ausgehend, auf die ganze Welt ausgebreitet. Im australischen Melbourne gründete man im Jahr 2001 die „Melbourne Catholic Lawyers Association“, eine Gesellschaft, die Juristen aller Sparten, auch Professoren und Studenten, offen steht. Eines ihrer Ziele ist es, Juristen ein Forum zur Erörterung rechtlicher, ethischer und berufspraktischer Fragen zur Verfügung zu stellen. Die Gesellschaft will ein Netz katholischer Juristen aufbauen. Ihr Patron ist Ivo, der „Patron saint of advocates, attorneys, barristers, judges, jurists, lawyers and notaries“, wie es im Briefkopf der Gesellschaft heißt. Den Ivo-Tag am 19. Mai begeht man mit einer Messe und „drinks“ und grüßt Ivos Heimatdiöszese Tréguier. Im mission statement, der Erklärung zu den Aufgaben der Gesellschaft, heißt es: „We, the Melbourne Catholic Lawyers’ Association, strive to serve God through our jobs and lives as legal professionals. We strive to build up the Church through our fidelity and witness. We strive to strengthen our society through our professional integrity, commitment to justice, community

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service and advocacy of the Gospel message. We commit ourselves to lives of faith, hope and love in the service of God and our neighbour. Wir, die Gesellschaft katholischer Juristen von Melbourne, sind bestrebt, in unserer Arbeit und unserer Lebensweise als professionell tätige Juristen Gott zu dienen. Unser Ziel ist, durch unseren Glauben und unser Zeugnis die Kirche aufzubauen. Wir erstreben, die Gesellschaft durch unsere berufliche Integrität, unsere Verpflichtung auf die Gerechtigkeit und unsere Anwaltschaft für die evangelische Botschaft zu stärken. Wir verpflichten uns selbst auf ein Leben in Glaube, Liebe und Hoffnung im Dienst an Gott und unserem Nachbarn.“

In den U.S.A. warb im Jahr 1932 Professor John Henry Wigmore (1863–1943) von der Northwestern University in Evanston/Chicago, Illinois, bei der amerikanischen Rechtsanwaltschaft für die Stiftung eines Glasfensters zu Ehren von Saint Yves als Schmuck der Kathedrale von Tréguier. Dem zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Komitee gehörten bedeutende Anwälte des Landes an. Die Resonanz war groß. Von den Spenden ließ man ein prachtvolles farbiges Fenster fertigen, gut siebeneinhalb Meter hoch, das Ivo als Richter zwischen Arm und Reich zeigt. Eine Tafel darunter mit dem amerikanischen Wappen trägt die Aufschrift: „presented by the bar of the United States in homage of Ives, patron saint of lawyers/gestiftet von der Anwaltschaft der Vereinigten Staaten zu Ehren Ivos, des heiligen Patrons der Juristen“. Das Fenster wurde am 19. Mai 1932 in der Kathedrale von Tréguier aufgestellt und in Anwesenheit von 40 000 Gläubigen gesegnet. Die „Loyola School of Law Alumni Association“, die Vereinigung ehemaliger Studenten der jesuitischen Loyola Hochschule für Rechtswissenschaft in New Orleans, U.S.A., verleiht alljährlich einen „St. Ives Award“ an besonders verdiente Juristen, im Jahr 2003 an den Anwalt Harry T. Lemmon, im Jahr 2004 an die emeritierte Rechtsprofessorin Janet Mary Riley. Der „St. Ives“, „named after the patron saint of lawyers“, wird juristischen Absolventen der Law School zuer123

kannt, die die höchsten Standards ihrer Profession verkörpern und sich für die Loyola Hochschule und die Ziele des Ehemaligenvereins besonders eingesetzt haben. In Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon, der Millionenmetropole im Süden Vietnams, steht im Stadtzentrum die Kathedrale Notre Dame. Sie wurde zwischen 1877 und 1883 als eines der ältesten Gebäude der französischen Kolonialzeit im neo-romanischen Stil errichtet. Das Material für den Bau schafften die Franzosen ausschließlich aus Frankreich heran, um auf diese Weise ihre Macht als Kolonialherren zu demonstrieren. Die Kirche ist eines der katholischen Zentren des Landes und Sitz des Erzbischofs. Nach unseren Informationen haben die Franzosen auch ihrem Ivo einen Platz in dem Bauwerk eingeräumt.

Le Grand Pardon Am 14. Juli 1789 soll in Paris nach dem Sturm auf die Bastille an einer Wand der Satz zu lesen gewesen sein: »Ici on danse!/Hier wird getanzt!« Nicht nur feiern die Franzosen seitdem ihren Nationalfeiertag vor allem tanzend, sie sind seit je Meister im Inszenieren von Feierlichkeiten. So bereiten die Bretonen Saint Yves alljährlich ein Fest größer als alle universitären Feiern zu Ehren Ivos im Heiligen Römischen Reich: Wie vor Jahrhunderten begeht man in Tréguier am dritten Sonntag im Mai „Le Grand Pardon de Saint-Yves/Den großen Ablass des Heiligen Ivo“. Der Name weist darauf hin, dass die Pardons ursprünglich Ablassfeste waren, den Kirchweihfesten vergleichbar. Der mittelalterliche Mensch sah sich tief verstrickt in Sünde, Schuld und Sinnlichkeit und fürchtete sich vor dem Tag des göttlichen Gerichts. Sein Bedürfnis nach Erlass seiner Sünden und Zuteilung einer Buße war entsprechend stark. Deshalb waren die Pardons Feste, an124

lässlich deren ein Heiliger Sündenerlass gewährte. Dies geschah mit beeindruckendem Zeremoniell um Gott und den Heiligen zu loben und die Pilger zu erbauen. Man kam auch zur Erfüllung von Gelübden oder mit Bitten um Heilung, eine gute Ernte und die Beilegung eines Konflikts. Man kam auch einfach, weil dies für die Einwohner der Gegend um Tréguier so üblich war. Heute kommen die Leute aus dem Trégor, weil sie ihren Ivo lieben und das Leben ihres heiligen Landsmannes kennen: Ihre Gesänge zu Ivos Ehren und ihre Treue zu den cérémonies de toujours/alten Zeremonien beeindrucken jeden Besucher. Der Heilige Stuhl entsendet zu Jubiläen des Heiligen einen Kardinal zum Pardon in Tréguier, so im Jahr 2003 zum 700jährigen Todestag Ivos als „besonderen Gesandten“ Papst Johannes Pauls II. (1920–2005) Seine Eminenz Mario Francesco Pompedda, den Vorsitzenden des obersten kirchlichen Gerichtshofes in Rom und damit ranghöchsten Juristen des Vatikans. Anwesend sind alle Bischöfe der Bretagne und viele aus dem übrigen Frankreich. Die Gläubigen drängen sich in Massen zum Gottesdienst in der Kathedrale St. Tugdual und auf dem Marktplatz davor. Es kommen aber auch die Juristen: hunderte von Anwälten, Richtern und Rechtslehrern aus ganz Frankreich und dem Ausland. Am dritten Maisonnabend treffen sie sich zu einem Kolloquium, im Jahr 2003 mit Vorträgen zu: „Saint Yves et la Bretagne/Sankt Ivo und die Bretagne“, „Le rayonnement de saint Yves en France et en Europe/Die Ausstrahlungswirkung des heiligen Ivo in Frankreich und Europa“, „L’esprit de saint Yves dans la pratique des gens de justice/Der Geist des heiligen Ivo in der Praxis der Juristen“. Rechtsuchenden wird von Anwälten oder Richtern kostenlose Rechtsberatung angeboten. Gegen Nachmittag finden sich die Menschen aus dem Trégor in Pilgergruppen zusammen und machen sich mit ihren farbenfrohen Bannern auf den Weg nach Tréguier, wo sie auf dem

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Marktplatz als Menschen- und Farbenmeer ihrem Nationalheiligen die Ehre erweisen. Dort folgt an der Kathedrale St. Tugdual die „veillée des jeunes/Nachtwache der jungen Leute“, wo Episoden aus Ivos Leben in Szene gesetzt werden. Am Sonntag des Grand Pardon tritt im Hochamt in der Kathedrale eine panégyrique/Preisrede an die Stelle der Predigt. Sie ist besonders an die Juristen unter den Zuhörern gerichtet und entwirft das Leitbild christlicher Juristen, die sie zum Gebet auffordert: „Heiliger Ivo, der du hier auf Erden der Freund und Wohltäter der Einfachen und Schwachen gewesen bist, in dessen Sinne es war, dass den Kleinen und Unterdrückten immer unbestechliche Gerechtigkeit zuteil werde, hilf uns in diesem Jahrhundert, wo der Kult der Massen und die Technik dazu verurteilen, den Menschen nicht mehr zu sehen und nicht in jedem Fall die geheiligten Rechte seiner Person zur Geltung zu bringen, hilf uns, nach dem Geist der Liebe zu leben und zu handeln und nach dem Geist einer Gerechtigkeit, die dich in der Not des Armen und in dem Elend unserer menschlichen Brüder hat die Gegenwart Jesu Christi erweisen lassen.“

So betete am 19. Mai 1953 der Bischof von Angers, Monsignore Chappoulie und erinnerte zugleich an ein Motiv im Ivo-Bild, das uns weniger bei den Fakultätsrednern des 15. bis 18. Jahrhunderts, wohl aber in der Ivo-Ikonographie begegnet ist: Was Ivo heute aus der Vielzahl der anderen Heiligen heraushebt, ist seine in der Rechtspraxis gezeigte nächstenliebende Haltung gegenüber den Menschen seiner Zeit. Als praktizierender Jurist Nächstenliebe zu zeigen, ist Ivos zeitlose Botschaft als Leitfigur der Juristen. Nach dem Hauptgottesdienst nimmt der Grand Pardon mit der procession du chef de Saint-Yves/Prozession des Schädels von Saint Yves, seinen Fortgang. Die Gläubigen, die Kirchenmänner und die Juristen in ihren Roben bewegen sich in langem Zug zu Ivos Geburtsort. Abwechselnd wird der Reliquienschrein aus vergoldeter Bronze mit dem Schädel des Heiligen von Kirchenleuten und Juristen in ihren 126

Roben getragen. Am Zug im Jahr 2003 nahmen 20000 Menschen teil. Er führt durch die ginstergeschmückten Straßen von Tréguier zur kleinen Kirche von Minihy-Tréguier, wo sich der Herrensitz der Adligen von Kermartin befand. Dort angekommen, kriechen die Gläubigen als Ausdruck besonderer Verehrung unter dem sogenannten „tombeau de Saint-Yves/dem Grab des Heiligen Ivo” hindurch, ursprünglich ein Altar aus dem 15. Jahrhundert, der gleichzeitig zum Abstellen Die Prozession am Grand Pardon, Tréguier 2003 des Reliquienschreins dient. Nach dem „Gruß der Banner“, mit denen die Träger sich vor dem „chef de Saint-Yves“ verneigen, wendet sich die Prozession zurück nach Tréguier. Dort folgt am Abend eine Messe in der Kathedrale, in deren Mittelpunkt das jeweilige Jahresthema des Grand Pardon steht. Diese und der gesamte „Pardon“ gehen zu Ende mit dem „Kantik Zant Erwan“, der schon die Prozession ständig begleitet hat:

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Le chef de Saint Yves „N‘an neus ket e Breizh, n‘an neus ket unan/ N‘an neus ket eur Zant evel Zant Erwan.../Es gibt in der Bretagne keinen, aber auch keinen einzigen, es gibt keinen einzigen Heiligen wie den Heiligen Ivo.“

Nach Abschluss der Feierlichkeiten in Tréguier pilgerten im Jahr 2003 Gläubige aus der Diöszese Saint Brieuc und Tréguier, an der Spitze ihr Bischof Lucien Fruchaud, nach Rom, um dort die Feiern zum Jubiläum fortzusetzen. Theologen, Juristen und Laien trafen sich dort zu einem Kolloquium, um sich mit St. Ivo und seiner Botschaft zu beschäftigen. Man versammelte sich in beiden römischen Ivo-Kirchen Sant' Ivo alla Sapienza und St. Yves des Bretons. In einem Grußwort an die Pilger aus der Bretagne vom 31. Mai 2003 betonte Papst Johannes Paul II., gerade diese beiden Kirchengebäude „legen Zeugnis ab von der außerordentlichen Verbreitung der Verehrung Ivos, in Europa seit langem praktiziert von allen, die in ihm ihr geistiges Vorbild erkennen, insbesondere von den Juristen, deren heiliger Patron er ist. ...“

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Confessor dulcissime, O Yvo Haelori, Adjutor cognomine, Tu nostro tempori Nunc fervorem imprime, Nostros hostes opprime, Succurre labori. Allergnädigster Bekenner, Ivo Hélory, Helfer genannt, gib unserer Zeit leidenschaftliches Engagement, halte unsere Feinde nieder, steh’ unserer Arbeit bei. (aus einem Stundengebet)

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Literaturauswahl

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