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German Pages 268 Year 1980
Schriften zum Strafrecht Band 35
Der Staatsanwalt Ein Richter vor dem Richter? Untersuchungen zum § 153 a StPO
Von
Erhard Kausch
Duncker & Humblot · Berlin
ERHARD KAUSCH
Der Staatsanwalt - Ein Richter vor dem Richter?
Schriften zum Strafrecht Band 35
Der Staa tsan wal t Ein Richter vor dem Richter? Untersuchungen zu § 153 a StPO
Von
Erhard Kausch
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
© 1980 Duncker & Humblot, BerUn 41
Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Prlnted In Germany ISBN 3 428 04709 5
Dem Andenken meines Vaters
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist im Dezember 1978 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen worden. Später erschienene Literatur ist bis März 1980 eingearbeitet, der Text selbst nur an wenigen Stellen geändert bzw. ergänzt worden. Herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Udo Ebert für die Betreuung der Arbeit, für seine ständige Gesprächsbereitschaft, für vielfältige Anregungen und für seine immer produktive Kritik, die mir in mancher Sackgasse weiterhalfen, aber auch für die von ihm erfahrene Ermutigung. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Otto Backes für die vielen anregenden und sowohl durch Kritik wie Bestätigung weiterführenden Gespräche während des Entstehens der Arbeit. Werther, im Juli 1980 Erhard Kausch
Inhaltsverzeichnis Einleitung § 1. § 153 a als Antwort auf das Problem der Bagatellkriminalität. Ab-
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grenzung des Themas ............................................
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1. Der kriminalpolitische Hintergrund: die Bewältigung der Bagatellkriminalität . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Der Begriff des Bagatelldelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Bagatellkriminalität als Massendelinquenz .................. c) Der grundsätzliche Lösungsansatz: Entkriminalisierung ......
18 18 19 23
2. Das Ungenügen des bis zum 31. 12. 1974 geltenden Rechts ...... 3. Die Konzeption des EGStGB ..................................
26 27
4. Zur Vorgeschichte des § 153 a. Die Einstellung aufgrund von Leistungen des Beschuldigten ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage 31 a) Modalitäten und Verbreitung der Einstellung aufgrund von Leistungen des Beschuldigten .............................. 31 b) Die Argumente für und gegen die Zulässigkeit dieser Einstellungspraxis ....................................... 0'........ 36 5. Die Einwände gegen § 153 a. Abgrenzung des Themas .......... a) Zum Stand der Diskussion .................................. b) überblick über den Gang der Untersuchung ................
39 39 41
1. Teil
Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt § 2. § 153 a -
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nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips? ....
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1. Die rechtliche Einordnung des § 153 a 'in den Regierungsentwürfen und in der Literatur ...................................... a) Entwürfe .................................................. b) Literatur ..................................................
45 45 48
2. Der Sanktionscharakter der Rechtsfolgen nach § 153 a .......... 50 a) Die Auffassung, § 153 a enthalte keine Sanktionsfolgen ...... 51 b) Der Zweck der Bewährungsauflagen ........................ 53 c) Der Zweck der Rechtsfolgen des § 153 a .................... 54 d) Die "Freiwilligkeit" der Bewährungsauflagen und der Auflagen nach § 153 a .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 56 3. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung ................ 58
10
Inhaltsverzeichnis a) Keine Verbindung von Einstellung und Sanktion nach bisherigen Recht .................................................. b) Die aus dem Opportunitätsprinzip ableitbaren Befugnisse.... c) § 153 a - keine rein prozessuale Lösung der Bagatellkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Zusammenfassung und Folgerungen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
63 65
§ 3. Richterliche Zustimmung als Rechtsprechung? ....................
66
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ..........
70
1. Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers über den Aufgabenbereich
59 61
der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der materielle Inhalt des Rechtsprechungsbegriffs: Definitionsversuche ...................................................... a) Die Stellung der rechtsprechenden Organe und die Modalitäten ihrer Entscheidungsfindung ............................ b) Die Aufgaben der Rechtsprechung .......................... c) Ergänzungen zu dieser Definition .......................... d) Die Rechtskraft der rechtsprechenden Entscheidungen ...... e) Gemeinsame Mängel der Definitionen ......................
70
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§ 5. Der Umfang der Strafgerichtsbarkeit ............................
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1. Der problemgeschichtliche Hintergrund ........................ 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ............ a) Die Lehre von einem qualitativen Unterschied zwischen dem Unrecht der Kriminaldelikte und dem der Ordnungswidrigkeiten .................................................... b) Die Schwere des Eingriffs als Kriterium.. . .. . . .. ... . .. .. . .. c) Die Anwendung dieses Maßstabes auf § 153 a ..............
84 93
74
94 96 100
2. Te i I Die Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
104
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a .............................. 104
1. Geringe Schuld .............................................. 2. Öffentliches Interesse 3. Die Anwendung des § 153 a in der Praxis ...................... a) Der Anteil der Einstellungen nach § 153 a an den erledigten Strafverfahren ............................................ b) Die erfaßten Delikte ........................................ c) Die voraussichtliche Entwicklung
104 109 115 115 123 127
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung ........................ 133
1. Die Bedeutung der richterlichen Strafzumessung .............. 135 a) Bildung von allgemeinen Regeln und Fallgruppen .......... 135
Inhaltsverzeichnis
11
b) Der Einfluß der Strafzumessung auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen .................................................. 137 2. § 153 a - Inhaltsbestimmung der Vergehenstatbestände durch Strafzumessung des Staatsanwalts ............................ 139 § 8. Das Verhältnis von Richter und Gesetz
.......................... 142
1. Die Ergebnisse der Methodendiskussion ........................ 143
2. Der Rückzug des Gesetzgebers ................................ 144 3. Verfassungsrechtliche Probleme aus der veränderten Stellung der Rechtsprechung ............ '" ........ '" ...... , ......... 148 § 9. Unbestimmte Normen im Strafrecht und der Bestimmtheitsgrund-
satz
...... , ............... , ............... , .. '" ............ , ... 149
1. Weite Strafrahmen als Folge unbestimmter Strafbarkeitsvoraussetzungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149
2. § 153 a - eine neue Qualität von Unbestimmtheit .............. 3. Zur Realisierbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes ............ a) Methodische Schwierigkeiten .............................. b) Schwierigkeiten aus der Regelungsmaterie .................. c) Unveränderte rechtsstaatliche Aktualität des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Prüfung von § 153 a an Art. 103 Abs. 2 GG ................ . . .. a) Die Anforderungen an die Bestimmtheit der Deliktsfolgen .. b) Geringere Anforderungen an die Bestimmtheit von Rechtsfolgen, die den Täter begünstigen? ..........................
152 153 154 155 156 157 159 162
§ 10. Anforderungen, die sich aus dem Bestimmtheitsgebot und dem Ge-
waltenteilungsprinzip an das Verfahren der Normkonkretisierung im Strafrecht ergeben ............................................ 165 1. Verfahren und Bestimmtheit .................................. a) Rechtssicherheit .......................................... b) Gewährleistung gleichmäßiger Rechtsanwendung ............ c) Schutz vor Willkür ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Schutz der Freiheit des Bürgers durch den "fragmentarischen Charakter" des Strafrechts ................................
2. Verfahren und Gewaltenteilung .............................. a) Freiheitssicherung durch Machthemmung .................. b) Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung ................ 3. Ergebnis 4. Einwände und Konsequenzen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Sinnverkehrung des Bestimmtheitsgebotes? ................ b) Idealisierung der Rechtsprechung? ........................
167 167 174 175 178 179 180 181 184 185 185 192
§ 11. Strafgesetzgebung durch Richtlinien .............................. 193
1. Die Verbreitung von Richtlinien .............................. 194 2. Der Regelungsgegenstand der Richtlinien 197 a) Ausgeschlossene Vergehenstatbestände 197
12
Inhaltsverzeichnis b) Ladendiebstahl ............................................ c) Schadensobergrenze für Vermögensdelikte .................. d) "Geringer Schaden" ........................................ e) Verkehrsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. f) Ersttäter .................................................. g) Beweisschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. h) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Zur Bewertung der Richtlinien ................................ a) Die Inhalte der Richtlinien als Elemente einer materiellrechtlichen Lösung .............................................. b) Richtlinien als Experimentierfeld für Gesetzgebung? ........ c) Die Aktualität der Rechtsprechung des BGH zur Bindung der Staatsanwaltschaft an die höchstrichterliche Rechtsprechung d) Kriminalpolitik durch Richtlinienerlaß ...................... e) Zusammenfassung .......................................... 4. Gesetzliche Richtlinien als Ausweg? ..........................
199 200 200 200 201 202 202 203 203 205 206 207 211 212
§ 12. Art. 92 GG als Garant für eine konsistente Strafrechtsanwendung 215
§ 13. Die Einstellung nach § 170 Abs.2 und nach § 153 -
ebenfalls ein Akt der Rechtsprechung? ........................................ 219 1. § 170 Abs.2 .................................................. 219 2. § 153 222
3. Te il
Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis der Staatsanwaltschaft
225
§ 14. Gestörte Aufgabenteilung zwischen Richter und Staatsanwalt durch
eigene Sanktionsbefugnisse der Staatsanwaltschaft ................ 225 1. Richterliche Aufgaben der Staatsanwaltschaft? ................ 225 2. Die Funktion der Staatsanwaltschaft im Anklageprozeß ........ 227 3. Partielle Wiederaufhebung der Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion durch § 153 a .................................... 235
§ 15. Das Beispiel Japan
236 Schluß
§ 16. Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick
240 ................ 240
1. Ergebnisse .................................................... 240
2. Vorschläge zur Reform
Literaturverzeichnis
...................................... 242
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 250
Abkürzungen AE,AT AE-BJG AE-GLD AöR AV BB BMJ BT-Drucks. DAR DE-Rechtsmittelgesetz DNotZ DJ DJT DJZ DÖV DRZ DVBl. EGStGB Festschr. FR GA GS JW KJ KrimJ LehrK LK Losebi. MSchrKrim NdsRpfl. ÖJZ PR
Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil Alternativentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz Alternativentwurf, Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl Archiv des öffentlichen Rechts Allgemeinverfügung bzw. Allgemeine Verfügung Der Betriebsberater Bundesministerium der Justiz Bundestagsdrucksache Deutsches Autorecht Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen Deutsche Notar-Zeitschrift Deutsche Justiz Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Die öffentliche Verwaltung Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Festschrift Frankfurter Rundschau Goltdammers Archiv Der Gerichtssaal Juristische Wochenschrift Kritische Justiz Kriminologisches Journal Lehrkommentar Leipziger Kommentar Loseblattausgabe Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Niedersächsische Rechtspflege Österreichische J uristenzei tung Parlamentarischer Rat
14
Prot. RdA RiStBV RiStV SA Strafrecht SchlHA SJZ StVO StVRG VerwArch VVDStRL Wahlp. ZHR ZJBl. Brit. Z. ZStW
Abkürzungen Protokolle Recht der Arbeit Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Richtlinien für das Strafverfahren Sonderausschuß für die Strafrechtsreform Schleswig-Holsteinische Anzeigen Süddeutsche Juristenzeitung Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung 1939 Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts Verwaltungsarchiv Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wahlperiode Zentralblatt für Handelsrecht Zentral-Justizblatt für die Britische Zone Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung § 1. § 153 a als Antwort auf das Problem der Bagatellkriminalität. Abgrenzung des Themas Der seit dem 1. 1. 1975 geltende § 153 an. F.t, 2 fügt dem Instrumentarium, das den Organen der Strafrechtspflege als Reaktion auf Zuwiderhandlungen gegen strafrechtliche Normen zur Verfügung steht, ein neues Mittel hinzu. Bisher bestand, wenigstens dem Wortlaut des Gesetzes nach, bei Bagatellstraftaten generelP nur die Alternative, entweder das Verfahren wegen Geringfügigkeit nach § 153 a. F. einzustellen, den Täter also gänzlich unbehelligt zu lassen oder sogleich mit dem vollen Gewicht des staatlichen Strafens, d. h. mit der Verurteilung zu einer Kriminalstrafe, zu reagieren. Das neue Recht gestattet nunmehr einzustellen, ohne damit ganz auf eine Sanktion zu verzichten. Gemäß § 153 a n. F. kann nämlich bei geringer Schuld die Einstellung des Verfahrens wegen eines Vergehens mit bestimmten Auflagen und Weisungen verbunden werden, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen. § 153 a bestimmt im einzelnen: (1) Mit Zustimmung des für die Eröffnungen des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts und des Beschuldigten kann die Staatsanwaltschaft bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und zugleich dem Beschuldigten auferlegen, 1. zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens eine bestimmte Leistung zu erbringen, 2. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen, 3. sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen oder 4. Unterhaltspflichten in einer bestimmten Höhe nachzukommen, wenn diese Auflagen und Weisungen geeignet sind, bei geringer Schuld das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen. Zur Erfüllung der Auflagen und Weisungen setzt die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten eine Frist, die in den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 bis 3 höchstens 6 Monate, in den Fällen des Satzes 1 Nr. 4 höchstens 1 Jahr beträgt. Die Staatsanwaltschaft kann Auflagen und Weisungen nachträglich aufheben und die Frist einmal für die Dauer von 3 Monaten verlängern; mit Zustimmung des Beschuldigten kann sie auch Auflagen und Weisungen nachträglich auferlegen und ändern. Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen, so kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden. Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen nicht, so werden Leistungen, die er zu ihrer Erfüllung erbracht hat, nicht erstattet. § 153 Abs. 1 Satz 2 gilt entsprechend.
Einleitung
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(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren bis zum Ende der Hauptverhandlung, in der die tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden können, vorläufig einstellen und zugleich dem Angeschuldigten die in Abs. 1 Satz 1 bezeichneten Auflagen und Weisungen erteilen. Abs. 1 Satz 2 bis 5 gilt entsprechend. Die Entscheidung nach Satz 1 ergeht durch Beschluß. Der Beschluß ist nicht anfechtbar. (3) Während des Laufes der für die Erfüllung der Auflagen und Weisungen gesetzten Frist ruht die Verjährung.
Nach der amtlichen Begründung verfolgt die Neuregelung hauptsächlich zwei Ziele: Sie soll im gesamten Bereich der kleineren Kriminalität dadurch, daß ein Strafverfahren ohne Hauptverhandlung und Schuldspruch erledigt werden kann, zu einer "Straffung und Beschleunigung des Verfahrens" und damit zu einer Entlastung der Strafverfolgungsorgane führen und diesen die Konzentration auf die mittlere und schwere Kriminalität ermöglichen'. Neben diesen mehr an Kapazitätsproblemen der Justiz orientierten Zweck tritt ein weiterer, der sich aus den Veränderungen des materiellen Rechts ergibt. Durch den Wegfall der Übertretungen als Deliktskategorie sind eine Reihe von Bagatelldelikten, insbesondere der vormalige Mundraub nach § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB, zu Vergehen aufgewertet worden. Außerdem sind die Privilegierungstatbestände im Bereich der Vermögensdelikte entfallen. Das bedeutet aber nicht, daß der Gesetzgeber die Strafwürdigkeit dieser Delikte jetzt höher einschätzt. Vielmehr soll durch die Anwendung des § 153 a auf diese Fälle ein Ausgleich geschaffen werden5 • Im übrigen soll die Vorschrift überall dort Anwendung finden, wo "eine Einstellung nach § 153 nur deshalb nicht in Betracht kommt, weil es nicht verantwortet werden kann, den Täter ohne jede Sanktion von einer Bestrafung freizustellen"G. §§ ohne Gesetzesangabe sind solche der StPO. In die StPO eingefügt durch Art. 21 Nr. 44 des EGStGB 1974 vom 2. März 1974, BGBl. I, 469 (508). 3 Bei einigen Vorschriften war (und ist) ein Absehen von Strafe möglich, dessen Rechtfertigung sich aus dem Bagatellcharakter der Tat ergibt, so etwa bei den §§ 139 Abs. 1, 157 Abs. 1, 175 Abs. 2 StGB. Öfter noch spielt beim Absehen von Strafe allerdings der Rücktritt vom Versuch und der Gedanke der tätigen Reue eine Rolle. Zum Ganzen vgl. Jescheck, AT, S. 690. Zum Verhältnis von Absehen von Strafe und Geringfügigkeit, insbesondere zum Absehen von Strafe als Mittel der Tatbestandskorrektur und zur geschichtlichen Entwicklung dieses Prinzips vgl. KriLmpelmann, Bagatelldelikte, S. 194 ff. 4 Entwurf EGStGB BT-Drucks. VI/3250, S. 283; 7/550, S. 287 f.; Entwurf 1. StvRG BT-Drucks. VI/3478, S. 43, 73; BT-Drucks. 7/551, S. 44, 69. 5 BT-Drucks. VI!3250, S. 236; 7/550, S. 189, 247; 7/551, S. 189 f., 247. 6 BT-Drucks. 7/550, S. 298. 1
2
§ 1. § 153 a als Antwort auf das Problem der BagatellkriminaIität
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§ 153 a ist also die Antwort des Gesetzgebers auf die Probleme, vor die sich die Strafverfolgungsorgane durch das massenhafte Auftreten von Bagatellkriminalität gestellt sehen. Der dazu gewählte Weg über das Prozeßrecht hat tief in das Gefüge der Strafprozeßordnung eingegriffen und unter der Hand einen neuen Verfahrenstyp geschaffen, in dem die Regeln für das Normalverfahren entweder überhaupt nicht mehr gelten oder abgewandelt sind7 • Nach Hanacks - kritischer Einschätzung hat es wahrscheinlich in den letzten 100 Jahren keine Neuregelung "von einer ähnlich grundsätzlichen Bedeutung für unser Strafverfahren gegeben"8. Diese Äußerung geschah vor den spektakulären Eingriffen, die sich formelles und materielles Strafrecht im Zuge der Terrorismusgesetzgebung haben gefallen lassen müssen. Obwohl diese Gesetzgebung in ihrer Gesamtheit durchaus Anlaß zu ähnlichen Feststellungen geben kann, wird die nachfolgende Arbeit zu zeigen versuchen, daß Hanacks Einschätzung des § 153 a auch heute noch ihre Berechtigung hat. Die neue Vorschrift hat bereits vor ihrem Inkrafttreten im Schrifttum eine vielfältige und heftige Kritik erfahren, die seither nicht mehr verstummt ist. Diese richtete sich hauptsächlich gegen eine Ausweitung des Opportunitätsprinzips und gegen die Unzuträglichkeiten und Mißbrauchsmöglichkeiten, die pointiert durch das Schlagwort vom "Freikauf von Strafe" zusammengefaßt werden. Vergleichsweise wenig Beachtung hat dagegen die Frage gefunden, inwieweit dem Staatsanwalt durch die Sanktionsmöglichkeiten, die ihm § 153 a eröffnet, und durch das damit verbundene Ermessen Aufgaben übertragen werden, die nur der Richter im Verfahren der Rechtsprechung wahrnehmen darf, ob also durch § 153 a Art. 92 GG und andere Verfassungsvorschriften verletzt werden. Das Hauptaugenmerk der folgenden Untersuchung wird daher darauf gerichtet sein, welche strukturellen Veränderungen des Strafverfahrens und des Verhältnisses von Richter und Staatsanwalt einerseits und von Rechtsprechung und Gesetzgebung andererseits die neue Vorschrift zur Folge hat. Diese Fragen lassen sich jedoch nicht isoliert von ihrem kriminalpolitischen Hintergrund erörtern. Will man ein zutreffendes Bild von der Bedeutung des § 153 a gewinnen, so genügt es nicht, sich um seine dogmatische Einordnung in das System des Straf- und Strafprozeßrechts zu bemühen, sondern man muß die Vorschrift auch verstehen als den Versuch zur Lösung eines sozialen Problems, hier also des Problems der Bagatellkriminalität. Jede strafrechtliche Problemlösung hat dabei zwei Kriterien gerecht zu werden: Sie soll effektiv sein und 7 Naucke, Gutachten, D 28 f.; vgl. auch Meyer-Goßner, in: Löwe I Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 1. 8 Hanack, Festschr. Gallas, S. 347.
2 Kausch
Einleitung
18
sie soll rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen, wobei oft nur ein Kompromiß zwischen beiden Erfordernissen möglich ist. Wie angemessen ein solcher Kompromiß ist, läßt sich nur beurteilen, wenn die Regelungsalternativen, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen, zu einem Vergleich herangezogen werden. Deshalb sollen zunächst die Probleme, die sich aus dem massenhaften Auftreten der Bagatellkriminalität ergeben, und die grundsätzlichen Lösungswege hierfür skizziert werden. Das ergibt einen ersten Bezugsrahmen für die Einordnung sowohl der Lösung des früheren Rechts als auch des Gesamtkonzepts, das das EGStGB für die Bagatellkriminalität vorsieht. Um das Thema abzugrenzen und die spezifische Blickrichtung der Arbeit deutlich zu machen, ist es weiterhin erforderlich, die bisher geäußerten Bedenken gegen die neue Vorschrüt zu referieren und, soweit möglich, in Bezug zu unserer Fragestellung zu setzen. Diese Bedenken werden allerdings erst aus der Vorgeschichte der Vorschrift wirklich verständlich, auf die daher ebenfalls einzugehen ist. 1. Der kriminalpolitische Hintergrund: die Bewältigung der Bagatellkriminalität a) Der Begriff des Bagatelldelikts
Der Begriff des "Bagatelldelikts" ist weder ein Begriff des positiven Rechts noch ein fest umrissener Begriff der Strafrechtsdogmatik9 • Er wird zusammenfassend gebraucht für alle Straftaten, bei denen eine geringe Strafwürdigkeit wegen geringen Unrechts und geringer Schuld vorliegt, und ist insoweit synonym mit dem ebenfalls unscharfen Begriff der Kleinkriminalität. Beide Begriffe dienen vor allem zur Kennzeichnung einer kriminalpolitischen Problematik10 , tauchen allerdings neuerdings öfter in den Richtlinien zur Anwendung der §§ 153, 153 a auf. Man kann die Bagatelldelikte mit Krümpelmann einteilen in selbständige und unselbständige. Selbständige sind solche Delikte, die nur als Bagatellen vorkommen, unselbständige sind solche, die eine bagatellarische Verwirklichungsform eines an sich schwerwiegenden Deliktes sindl l • Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen Klein- und Kleinstkriminalität. Naucke schlägt vor, dies zur Kennzeichnung von schon 9 Krümpelmann, Bagatelldelikte, s. 13; Zipf, Kriminalpolitik, S. 71; Maurach / Zipf, AT 1, S. 177; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 12; Kaiser, ZStW 90 (1978), 881; vgl. auch Naucke, Gutachten, D 12.; Driendl, ZStW 90, (1978), 1020 ff. 10 Zipf, S. 72; ihm folgend Kaiser, ZStW 90 (1978), 882. 11
Bagatelldelikte, S. 36 ff.
§ 1. § 153 a als Antwort auf das Problem der Bagatellkriminalität
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strafwürdigen (oder genauer: überhaupt ahndungswürdigen) und nicht mehr strafwürdigEm Delikten zu benutzen12 • b) BagatellkriminaZität als Massendelinquenz
Problematisch ist die Bagatellkriminalität vor allem dort, wo sie als Massenkriminalität auftritt. Hier sind hauptsächlich drei Bereiche zu nennen: 1. die Vermögensdelikte, darunter an erster Stelle der Diebstahl geringwertiger Sachen, insbesondere in Form des Ladendiebstahls, aber auch Bagatellbetrug, Unterschlagung und vor allem die Beförderungserschleichung, 2. die Verkehrsstraftaten, die oft mit Körperverletzungsdelikten zusammenfallen, und 3. die Verletzung von Tatbeständen des sogenannten Nebenstrafrechts oder Verwaltungsstrafrechts. Hinzu kommt die große Zahl der Tatbestände, die so weit gefaßt sind, daß begrüflich unter sie auch Verhaltensweisen fallen, die entweder gar nicht oder nur geringfügig strafwürdig sind13 • Zur lllustration des Massencharakters einige Zahlenbeispiele zum Ladendiebstahl, des für dieses Gebiet charakteristischsten und auch unter dem Aspekt des § 153 a bedeutsamsten Phänomens u . 1976 wurden 230371 Fälle von Ladendiebstahl "in/aus Warenhäusern, Verkaufsräumen und Selbstbedienungsläden ohne erschwerende Umstände" registriert, um die Terminologie der polizeilichen Kriminalstatistik für Ladendiebstahl zu verwenden. Das sind ein knappes Viertel aller Diebstähle "ohne erschwerende Umstände" und immer noch 13,4 0/0 der gesamten registrierten Diebstahlskriminalität. Diese betrug 1976 64,88 010 der gesamten registrierten Kriminalität überhaupt (ohne Verkehrsdelikte)15. Hinzu kommt noch ca. das Doppelte an Taten, die zwar entdeckt, aber nicht angezeigt werden18 . Beides, entdeckte und angezeigte wie entdeckte und nicht angezeigte Taten, bildet 1! Gutachten, D 13, wo dies mit dem Anwendungsbereich der §§ 153 und 153 a gleichgesetzt wird. 13 Vgl. dazu Vogler, ZStW 90 (1978),150 und u. § 9,1.
14 Zum Ladendiebstahl liegen noch die meisten Untersuchungen vor, so ungesichert gerade auch das Zahlenmaterial sein mag, vgl. die Zusammenfassung dieser Daten und die Nachw. bei Naucke, Gutachten, D 47 sowie neuestens Geerds, Festschr. Dreher, S. 533 ff.; Wagner, Ladendiebstahl Wohlstands oder Notstandskriminalität? Eine Zusammenfassung der Daten über den Gesamtumfang der Bagatellkriminalität und ihrer Erledigungsstruktur findet sich bei Kaiser, ZStW 90 (1978), 883 fi. 15 Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1976, in: Recht, Information des BMJ v. 23. Juni 1977, S. 57 ff. (73 ff.). Die Prozentzahlen sind eigene Berechnungen. 18 Arzt, JuS 1974, 693 m. w. Nachw.
2*
Einleitung
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aber nur die Spitze eines Eisbergs. Die Dunkelziffer wird auf 90 bis 95 °/. geschätzt17, so daß also nur jeder zehnte bis zwanzigste Ladendieb gefaßt wird. Alarmierend sind auch "die Zuwachsraten", die der Ladendiebstahl zu verzeichnen hat. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik stieg die gesamte Kriminalität zwischen 1963 und 1971 um 45 %, der Ladendiebstahl im gleichen Zeitraum um 300 %18. Dies mag allerdings auch mit dem stürmischen Ausbau der Vertriebsform Selbstbedienung in diesem Zeitraum zusammenhängen. Inzwischen haben sich die Verhältnisse "normalisiert"; während zwischen 1972 und 1976 die Gesamtkriminalität (ohne Verkehrsdelikte) um 19,1 % und der einfache Diebstahl um 17,3 % stieg, betrug die Steigerungsrate des Ladendiebstahls 23,9 %1'. Diese Zahlen sind allerdings unter drei Gesichtspunkten zu relativieren. Zum ersten ist nicht klar, inwieweit die Zunahme der entdeckten Ladendiebstähle nur eine Folge verstärkter Aufklärungstätigkeit und verbesserter Schutzmaßnahmen durch die Ladeninhaber ist, also nicht eine Zunahme der Delikte selbst, sondern nur eine der Aufklärungsquote oder auch nur der Anzeigebereitschaft wiederspiegelt!o. Sodann ist ungeklärt, wieviel von den Schäden, die als durch Ladendiebstähle verursacht gemeldet werden, in Wahrheit Diebstähle sind, die durch das Ladenpersonal selbst oder durch das Personal der Warenlieferanten begangen werden21 • Schließlich müßte man die Zahlen auch in Relation zu den gestiegenen Einkaufsflächen und damit zu der Zahl der getätigten Einkäufe setzen!!. Die Massenhaftigkeit der Bagatelldelikte stellt die staatliche Strafrechtspflege vor eine Reihe von Problemen, die sich grob in den folgenden fünf Gesichtspunkten zusammenfassen lassen: (1) Überlastung der Justiz
Das Strafverfahren der StPO ist auf einen relativ schwerwiegenden Durchschnittsfall zugeschnitten. Es ist langsam, aufwendig, von vornherein nicht für die Bewältigung von massenhaft auftretenden Delikten konzipiert23 • Die Justiz droht in der Flut der Bagatellfälle zu ersticken, die ihr die Kraft wegnehmen für die Verfolgung der mittleren und schweren Kriminalität, ohne daß sie dieser Flut indes wirklich Herr werden könnten!'. 17 Naucke, Gutachten, D 49 m. w. Nachw.; daneben gibt es Schätzungen bis zu einem Verhältnis von 1 : 300 zwischen entdeckten und nicht entdeckten Taten. 18 Schwarzbuch zum Ladendiebstahl, hrsg. v. Kuratorium zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, o. J. (1974), S. 12, zitiert nach Naucke, Gutachten,
D 50.
1. Wie Fn. 15.
20 Zum Verhältnis von begangenen und registrierten Straftaten vgl. Kerner, Verbrechenswirklichkeit und Strafverfolgung, S. 19 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 61 ff. und speziell zum Ladendiebstahl als Kontrolldelikt, Blankenburg I Steinert I Treiber, KJ 1977, 129 ff. !1 Vgl. Rössner, S. 66 f.
22 überlegungen zur Relation der Zahl von stehlenden zu der der nichtstehlenden Kunden bei Naucke, Gutachten, D 50. 23 N aucke, D 19.
§ 1. § 153 a als Antwort auf das Problem der Bagatellkriminalität
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(2) Unverhältnismäßigkeit der Kriminalstrafe Die auf den schwerwiegenden Durchschnittsfall bezogene Kriminalstrafe stellt in den meisten Fällen der Bagatellkriminalität eine Überreaktion dar und steht weder in einem Verhältnis zu der Schwere des begangenen Unrechts25 noch zu den Reaktionen, die auf besonders schwerwiegende gemeinschaftsschädliche Verhaltensweisen, etwa im Bereich der Wirtschaftskriminalität26, erfolgen. Dies gilt häufig schon für die Reaktion mit einer Kriminalstrafe überhaupt, da diese zumindest mit einer Diskriminierungswirkung verbunden ist. Hiervon ist sowohl das Schuldprinzip wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berührt. (3) Entwertung des Strafrechts
Bei der Massenhaftigkeit der Bagatellkriminalität droht durch die Anwendung der Kriminalstrafe auch auf Bagatelldelikte der Zustand, daß beinahe jedermann ein- oder mehrmals bestraft wird, (vor-) bestraft sein also normal und nicht mehr das Kennzeichen abweichenden Verhaltens ist. Dann verliert das Strafgesetz aber seine abschrekkende Wirkung und seine motivierende Kraft für die Rechtstreue der Bürger27 • Andererseits wird die Mehrzahl der Bagatelldelikte erst gar nicht entdeckt oder bleibt aus sonstigen Gründen unverfolgt, so daß auch von daher wegen der "Normalität" solcher Straftaten die strafrechtliche Drohung unglaubwürdig wird28 • (4) Rechtsgüterschutz
Andererseits verbietet es sich, auf Bagatellstraftaten überhaupt nicht zu reagieren. Zwar ist im Einzelfall der Schaden nur geringfügig. Aber Bagatellen, wenn sie massiert auftreten, sind keine mehr. So wird allein der jährlich durch den Ladendiebstahl angerichtete Schaden auf U Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 391; Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 20; Kramer, NJW 1976, 1613. Allgemein zur Überlastung der Strafrechtspflege, zu den daraus resultierenden informellen Selektionsverfahren und den Gefahren für die Qualität des Strafrechts Arzt, Ruf, S. 123 ff., 149 ff.; zu den Auswirkungen der Kapazitätsprobleme vgl. auch Schumann, Handel mit Gerechtigkeit; Sessar, Kriminologie und Strafverfahren, S. 156 ff. 25 Vgl. Baumann, JZ 1972, 3: "Die Wegnahme von wenigen Pfennigen kann nicht kriminelles Unrecht sein." Vgl. ferner Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 14 ff. u. ö.; Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 6 ff.; Zipf, Mangelnde Strafwürdigkeit, S. 8 ff. Bezüglich § 170 b StGB vgl. Seebade, JZ 1972, 389 ff. 26 Baumann, JZ 1972, 2; Rössner, a.a.O., S. 15. 27 Vgl. Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 391 ff.; Popitz, Präventivwirkung; Kaiser, Festschr. Maurach, S. 29 ff.; Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 372; Zipf, Festschr. Peters, S. 496 ff.; Mangelnde Strafwürdigkeit, S. 12 ff.; Rössner, ZRP 1976,142; Vogler, ZStW 90 (1978), 151 u. ö. 28 Kramer, NJW 1976, 1613; vgl. auch Kaiser, Festschr. Maurach, S. 31 f.
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Einleitung
60 Mill. bis hin zu 2,5 Mrd. D-Mark geschätzt29• Neben diesen materiellen Schäden besteht auch die Gefahr, daß große Teile der Bevölkerung durch die reaktionslose Hinnahme von Kleinkriminalität verunsichert werden, sei es, daß sie deren Opfer geworden sind, sei es durch die Enttäuschung des eigenen Rechtsgehorsams. Auch das kann das Potential für eine radikale law-and-order-Bewegung vermehren30 • (5) Selbstjustiz Da die Justiz durch die Massenkriminalität überfordert ist, bleiben die meisten Taten im Bagatellbereich unverfolgt. Das bringt den Tätern nicht nur Vorteile. Denn der Rückzug der staatlichen Rechtspflege hat meist Selbsthilfe, d. h. Selbstjustiz der Opfer zur Folge, jedenfalls dort, wo diese über genügend gesellschaftliche Macht verfügen. Im Bagatellbereich ist das am augenfälligsten in der sogenannten Warenhausjustiz. Die Warenhäuser versuchen heute schon, die größere Zahl der Ladendiebstähle in eigener Regie zu erledigen. Bedenklich sind dabei Art und Höhe der an den gefaßten Ladendieb gestellten Forderungen, mehr aber noch die Art und Weise, wie sie durchgesetzt werden, und das Vorgehen bei der Ermittlung von Ladendiebstählen31 • Hierher gehören aber auch die Selbsthilfepraktiken der Verkehrsbetriebe bei der Beförderungserschleichung und die sogenannte Betriebsjustiz32 • Aus diesem Problemkatalog lassen sich einige Forderungen ableiten, die der besseren Übersichtlichkeit wegen in einer Tabelle aufgeführt werden sollen: Problem
Forderung
(1) überlastung der Justiz (2) Entwertung des Strafrechts, überreaktion durch Kriminalstrafe (3) Rechtsgüterschutz, Selbstjustiz
abgekürztes Verfahren, evtl. sogar zunächst ohne Beteiligung des Richters Entkriminalisierung durch mildere Reaktionen unterhalb der Kriminalstrafe Gewährleistung des Rechtsgüterschutzes und damit Wegfall des Bedürfnisses nach Selbstjustiz durch möglichst umfassende Verfolgung
It Zu den Schätzungen über den jährlichen Gesamtschaden beim Ladendiebstahl vgl. Naucke, Gutachten, D 50 m. w. Nachw. 30 Arzt, Ruf, S. 19 ff., 143 ff. 31 Vgl. Kramer, NJW 1976, 1609, ZRP 1974, 62 ff.; über besonders rüde Praktiken in Frankfurt vgl. "Spiegel" Nr. 15 v. 10.4. 1978, S. 109. 3Z Dazu vor allem Kaiser I Metzger-Pregizer (Hrsg.), Betriebsjustiz. Im Falle der Betriebsjustiz (und auch der Vereinsgerichtsbarkeit) wird die staatliche Justiz nicht nur deshalb nicht eingeschaltet, weil man sie für ineffektiv und zu schwerfällig hält, sondern man will auch die nachteiligen Folgen der Kriminalstrafen für den Täter (und den Betrieb) vermeiden.
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153 a als Antwort auf das Problem der Bagatellkriminalität
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Diese Forderungen, so einleuchtend sie sind, müssen sich aber messen lassen an der Wahrung rechtsstaatlicher Garantien. So kann vor allem fraglich sein, ob ein abgekürztes Verfahren ohne Richter einen ausreichenden Schutz für den Beschuldigten bietet. Weiterhin kann zu prüfen sein, ob bei bestimmten Rechtsgütern der Einsatz des Kriminalstrafrechts zwingend geboten ist33 • Diese Forderungen können aber auch im Widerspruch zueinander stehen. So ist ein Zielkonflikt denkbar zwischen umfassender Verfolgung und Entlastung der Justiz. c) Der grundsätzliche Lösungsansatz:
Entkriminalisierung
Nahezu alle Lösungsversuche de lege ferenda setzen, um den dargestellten Anforderungen an eine adäquate Lösung der Bagatellkriminalität gerecht zu werden, an bei einer Entkriminalisierung. Das gilt faktisch auch für das geltende Recht, da sich die §§ 153 a und 153 als Formen von Entkriminalisierung verstehen lassen, und es gilt bis zu einem gewissen Grad sogar für das bisherige Recht, nämlich, soweit der Anwendungsbereich des § 153 reichte. Da eine Beurteilung des mit § 153 a eingeschlagenen Weges und der daran geübten Kritik sinnvoll nur vor dem Hintergrund der möglichen Alternativen erfolgen kann, ist es erforderlich, die Grundformen der Entkriminalisierung vorzuführen, ohne daß allerdings hier schon eine ins einzelne gehende Bewertung versucht werden soll. Entkriminalisierung kann entweder erfolgen durch Wegfall jeglicher Sanktion oder aber, indem die Kriminalstrafe durch eine mildere, nicht-kriminalstrafrechtliche Reaktion ersetzt wird. Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen individueller und genereller Entkriminalisierung. Individuell ist die Entkriminalisierung, wenn erst im konkreten Einzelfall entschieden wird, ob eine Tat nicht verfolgt bzw. nur mit nicht-kriminalstrafrechtlichen Sanktionen belegt wird, wenn also erst ein Strafverfolgungsorgan darüber befindet, ob ein Verhalten als nicht straf- bzw. nicht kriminalstrafwürdig anzusehen ist34 • Generell ist die Entkriminalisierung, wenn sie durch Gesetz erfolgt und dem Rechtsanwender kein Ermessen einräumt. Die Unterscheidung zwischen individueller und genereller Entkriminalisierung steht quer zu der zuerst getroffenen. Sowohl individuelle 33 Allerdings läßt sich zumindest die Forderung nach Entkriminalisierung, soweit sie die Unverhältnismäßigkeit der Kriminalstrafe abbauen soll, selbst als Ausfluß rechtsstaatlicher Prinzipien verstehen. Wenigstens mittelbar gilt dies auch für die anderen Forderungen, da eine effektive Strafrechtspflege auch ein rechtsstaatlicher Wert ist. Nur kann hier eine Güterabwägung mit anderen rechtsstaatlichen Erfordernissen notwendig werden. 34 Der Begriff einer "individuellen Entkriminalisierung" ist, soweit ersichtlich, von Rössner eingeführt worden, vgl. Bagatelldiebstahl, S. 60.
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wie generelle Entkriminalisierung können in der Form des gänzlichen Wegfalls oder in der bloßen Herabstufung der Sanktion bestehen. Ein Beispiel für individuelle Entkriminalisierung bei gänzlichem Wegfall von Sanktionen ist § 153, für individuelle Entkriminalisierung mit milderen Reaktionen als die Kriminalstrafe § 153 a. Ein Beispiel für eine generelle Entkriminalisierung durch Herabstufung der Sanktion ist das Ordnungswidrigkeitenrecht. Generelle Entkriminalisierung, bei der auch jegliche Sanktion entfällt, bedeutet ersatzlose Streichung der betreffenden Norm. Schließlich kann die Entkriminalisierung materiellrechtlich oder auf dem Weg über das Prozeßrecht erfolgen. Auch diese Begriffe sind nicht scharf umgrenzt. Materiellrechtlich sollen hier alle Lösungsversuche genannt werden, die auf die Bildung einer eigenen Deliktskategorie ahndungsbedürftiger Verhaltensweisen unterhalb der strafbaren Handlungen und auf eigene, unterhalb der Kriminalstrafe liegende Sanktionen hinauslaufen. Meist wird dies mit einem eigenen abgekürzten Verfahren verbunden. Obwohl es in diesen Fällen korrekter wäre, von einer materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Lösung zu sprechenS5, soll hier um der terminologischen Klarheit willen der Ausdruck einer verfahrensrechtlichen oder prozessualen Lösung nur auf die Konstruktionen angewandt werden, die allein über das Prozeßrecht vorgehen. In diesem Sinne materiellrechtlich sind zunächst einmal alle Lösungen, die das Bagetellunrecht durch Einzeltatbestände zu erfassen versuchen, die entweder im Besonderen Teil des StGB angesiedelt werden sollens6 oder aber gänzlich aus dem Strafrecht herausgenommen werden sollen (bzw. schon sind) und dann einen eigenen Rechtsbereich bilden (wie z. B. das Ordnungswidrigkeitenrecht) und die auf der Sanktionsseite über eigenständige Reaktionen unterhalb des Schweregrades der Kriminalstrafe verfügen. Materiellrechtlich ist aber auch der Weg über eine Vorschrift im Allgemeinen Teil des StGB, die anhand allgemeiner Kriterien für das Vorliegen bloßen Bagatellunrechts die Um qualifizierung einer an sich unter einen Straftatbestand fallenden Handlung in eine andere, nicht kriminalstrafrechtliche Deliktskategorie gestattet oder vorschreibt und damit die Eröffnung eines eigenen Sanktionsrahmens unterhalb der 35 So Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 826 für die von ihm dort vorgeschlagene Lösung. 38 So Baumann, ZRP 1976, 268; vgl. auch schon JZ 1972, 3. In dieser Richtung dürfte auch das Endziel der von Naucke vorgeschlagenen Lösung zur Schaffung eines eigenen Bagatellstrafrechts liegen, vgl. Gutachten, D 115 ff. Ähnlich auch Rössner für den Bereich des Bagatelldiebstahls, vgl. Bagatelldiebstahl, S. 214 ff.
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Kriminalstrafe verbindet37 • Dies kann noch ergänzt werden durch eine entsprechende Vorschrift, die ein gänzliches Absehen von Sanktionen ermöglich t 38 • Schließlich ist auch eine Lösung, wie sie der AE-GLD (Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl) vorschlägt, hier einzuordnen, da sie
ihren Ausgangspunkt von materiellrechtlichen Tatbeständen nimmt39 • Der AE-GLD ist freilich, und damit läßt sich ein weiterer wichtiger Begriff einführen, nur eine sogenannte sektorale Lösung, weil er nicht den gesamten Bereich des Bagatellunrechts, sondern nur den Ladendiebstahl und damit zusammenhängende Delikte erfaßt. Von einer prozessualen Lösung spricht man dann, wenn die Sonderbehandlung des Bagatellunrechts in erster Linie über Vorschriften des Prozeßrechts, konkret: über Einstellungsvorschriften, erreicht werden so1l40. So kann man, wie dies über § 153 geschieht, die Aussonderung des wegen Geringfügigkeit überhaupt nicht ahndungsbedürftigen Unrechts durch eine sanktionslose Einstellung des Verfahrens bewirken 37 Vorschläge in dieser Richtung bei Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 328 ff. und ebenso bei Naucke, Gutachten, D 114, wenn er als ersten Schritt die Übernahme der §§ 153, 153 a in das materielle Recht empfiehlt. Eine mittlere Position nimmt Hirsch ein, der einerseits eine tatbestandliche Ausgrenzung des Bagatellunrechts aus den Kriminalstrafbestimmungen nicht für möglich hält, andererseits einen Katalog von Straftatbeständen vorsieht, die nur dann nicht mit Bagatellsanktionen geahndet werden sollen, wenn der besondere Unrechtsgrad der Tat ein öffentliches Interesse an der Ahndung als Straftat zur Folge hat (Festschr. R. Lange, S. 831; ähnlich ZStW 83 (1971),
147,176).
38 Eine derartige gesetzliche Regelung im materiellen Recht stellt § 42 des österreichischen StGB dar, der die Nichtahndung von Bagatelldelikten mangels Strafwürdigkeit ermöglicht. Vgl. dazu Zipf, Mangelnde Strafwürdigkeit; Naucke, Gutachten, D 39; Vogler, ZStW 90 (1978), 163 ff.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), 909 f.; Driendl, ZStW 90 (1978), 1049 ff.; ÖJZ 1979, 337 ff. 3D Ar:t I Eser I Grünwald u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (AE-GLD). Auch wenn der AE-GLD vornehmlich mit zivilrechtlichen Mitteln arbeitet, gehört er als Lösung eines strafrechtlichen Problems, die bei tatbestandlich festgelegten Verhaltensweisen ansetzt, hierher. Die Nähe zum Strafrecht bleibt auch deshalb erhalten, weil über die Registrierung das betreffende Verhalten nach einer bestimmten Anzahl von Wiederholungen doch zum Anknüpfungspunkt für eine strafrechtliche Reaktion werden kann und weil zur Beweissicherung strafprozessuale Zwangsmittel zur Verfügung gestellt werden. 40 Grundsätzlich zur Möglichkeit, daß prozessuale Vorschriften in gewissem Umfang materiellrechtliche Funktionen mit erfüllen können, Peters, ZStW 68 (1956), 374 ff.; zum Verhältnis von materiellrechtlicher und prozessualer Lösung der Bagatellkriminalität, allerdings nur in bezug auf den Sanktionsverzicht, vgl. ders., a.a.O., S. 394 ff.; Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 7, 18 ff. und Festschr. Welzel, S. 417; Cramer, Festschr. Maurach, S. 496; Eser, Festschr. Maurach, S. 258 ff.; weiterhin, aber bereits unter Einbeziehung des § 153 a Baumann, Festschr. Peters, S. 1 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 229 ff. (für die vor Inkrafttreten des § 153 a geübte Auflagenpraxis); Zipf, Kriminalpolitik, S. 73 ff., 85 f.; Maurach I Zipf, AT 1, S. 177 f.; Jung, Kronzeuge, S. 50 ff.; Driendl, ZStW 90 (1978), 1035 ff.
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statt durch materiellrechtliche Strafausschließungsgründe, Absehen von Strafe oder ähnliches. Mit § 153 a ist darüber hinaus der Versuch unternommen worden, auch für materiellrechtliche Privilegierungen bzw. für ein eigenes Bagatellstrafrecht ein prozessuales Pendant zu schaffen. Es wird allerdings zu prüfen sein, wie weit die prozeßrechtliche Einstellung wirklich ein funktionales Äquivalent für eine Vorschrift des materiellen Rechts sein kann und ob man bei einer Vorschrift, die die Einstellung mit Sanktionen verbindet, überhaupt noch sinnvoll von einer "Einstellung" reden kann. 2. Das Ungenügen des bis zum 31.12.1974 geltenden Rechts
Die strafrechtliche Regelung, die für das Bagatellunrecht bis zum 31. 12. 1974 galt, war unter jedem der oben in dem Problemkatalog dargelegten Gesichtspunkten wenig befriedigend. Sie stellte eine Kombination aus prozeßrechtlichen und materiellrechtlichen Elementen dar. Ein prozessuales Filter war zunächst § 153, durch das nicht strafwürdiges bzw. den Aufwand eines Strafverfahrens nicht lohnendes Unrecht im Übertretungs- und - eingeschränkter - auch im Vergehensbereich durch sanktionslose Verfahrenseinstellung ausgeschieden werden sollte. Da gänzlicher Sanktionsverzicht für die Masse der Bagatellkriminalität nicht in Frage kommt, waren sein Anwendungsbereich und damit der Entlastungseffekt naturgemäß begrenzt41 • Ein weiteres Filter war (und ist) das in vielen Bagatellfällen gegebene Antragserfordernis und/oder die Verweisung auf den Privatklageweg. Das materielle Recht versuchte, durch eine eigene Deliktskategorie der übertretungen mit einem verringerten Sanktionsrahmen und durch privilegierende Vergehenstatbestände dem geminderten Unrecht von Bagatellstraftaten Rechnung zu tragen. Davon wurden jedoch bei weitem nicht alle Verhaltensweisen erfaßt, bei denen eine Sonderbehandlung angemessen gewesen wäre42 • Die in diesen Tatbeständen, insbesondere beim sogenannten Mundraub, zur Anwendung kommenden Kriterien für die Aussonderung des Bagatellunrechts waren wenig einleuchtend und führten zu krassen Ungerechtigkeiten. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, wer Zahnpasta wegnahm, nur als Mundräuber bestraft, wer eine Zahnbürste wegnahm, dagegen als Dieb, obwohl es für diese Differenzierung keine plausible Begründung gibt43 • Vgl. Sessar, Kriminologie und Strafverfahren, S. 159. Zu den Gründen dafür, daß das materielle Recht des StGB nur unzureichende Abschichtungen der Bagatellkriminalität vorsah (und -sieht) vgt Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 48 ff., Meyer-Goldau, Geringe Schuld, S. 18; Naucke, Gutachten, D 19 ff. 43 Allgemein zu dieser Problematik und weitere Beispiele bei Dreher, Festschr. Welzel, S. 922. 41
t!
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Auch die Rechtsfolgen der Übertretungstatbestände (und dementsprechend erst recht die der Vergehensprivilegierungen) genügten nicht den Anforderungen, die man an die Reaktionen auf Bagatelldelikte stellen muß. So waren die Übertretungsrechtsfolgen zwar milder als eine Vergehensstrafe,aber sie waren immer noch Kriminalstrafe. Es konnte etwa Freiheitsstrafe bis zu 6 Wochen verhängt werden, was mit den Intentionen zur Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe im Widerspruch stand. Ebenso blieb die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe erhalten. Da es für die Übertretungen kein eigenes, grundsätzlich abgekürztes Verfahren gab, konnte sich das Verfahren ebenso aufwendig gestalten wie bei schwerwiegenden Taten. Die Deliktskategorie der Übertretungen allein trug also zur Entlastung der Justiz nicht viel bei. Diese Entlastung erfolgte in erster Linie über das Strafbefehls- und das (auf Übertretungen beschränkte und daher mit deren Abschaffung entfallene) Strafverfügungsverfahren. Das Strafbefehlsverfahren war allerdings nicht weniger wichtig für den Vergehensbereich44 • Faktisch war daher die Ahndung im Strafbefehlsverfahren die eigentliche Scheidelinie zwischen der Kleinkriminalität und schwerwiegenden Delikten. Das macht deutlich, wie unzureichend und wenig aussagekräftig die gesetzgeberische Einstufung eines Verhaltens als Übertretung oder Vergehen war. Die durch das Strafbefehlsverfahren gezogene Grenze der Kleinkriminalität war allerdings nur sehr grob und weitgehend dem Ermessen der Staatsanwaltschaft überlassen. Auch das Strafbefehlsverfahren orientierte sich also in erster Linie an dem Bedürfnis der Justiz nach Entlastung, kaum aber an dem nach einer ang.emessenen, nicht übermäßigen Reaktion auf verringerte Strafwürdigkeit45 • 3. Die Konzeption des EGStGB
Der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland ist sich der Unzulänglichkeit des Übertretungsstrafrechts stets bewußt gewesen. Er hat daher seit dem Inkrafttreten des OWiG von 1952 keine neuen ÜberVgl. Naucke, D 20. Die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe wird im Strafbefehlsverfahren allerdings insofern abgeschwächt,als dem Betroffenen das "Degradationszeremoniell" (Garfinkel) und die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung erspart bleiben. Immerhin wiegt diese Besserstellung durch das Strafbefehlsverfahren doch so viel, daß das BVerfG nicht ganz zu Unrecht davon sprechen kann, das Strafbefehlsverfahren liege "nicht nur hn Interesse der staatlichen Strafgerichtsbarkeit, sondern auch im Interesse des Staatsbürgers, dem daran gelegen ist, einfachere Straffälle verhältnismäßig billig und auch diskret ohne Zeitverlust und Aufsehen erledigen zu können" (E 25, 158 ff. [165]). Allerdings bestehen gegen diese Verfahren gerade unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstellung des Beschuldigten eine Reihe schwerwiegender Bedenken, vgl. Eser, JZ 1966, 660 ff.; R. Schmitt, ZStW 89 (1977), 643; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), 923 ff. 44 4S
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tretungstatbestände mehr geschaffen (und ebensowenig Vergehenstatbestände, die nur mit Geldstrafe bedroht sind). Darüber hinaus ist das Ordnungswidrigkeitenrecht zum bevorzugten Mittel einer generellen Entkriminalisierung von übertretungstatbeständen geworden, soweit nicht auf eine Ahndung schlechthin verzichtet wurde. Der wichtigste Einzelschritt hierbei erfolgte im Jahre 1968 mit der Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten48 • Das 2. StrRG und das EGStGB haben diese Entwicklung zu ihrem Abschluß gebracht: das neue Strafrecht kennt die Deliktskategorie der übertretungen nicht mehr. Die meisten der noch verbliebenen übertretungstatbestände wurden in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt. Für den am meisten einer Entkriminalisierung bedürftigen, weil auch quantitativ wichtigsten Bereich, die bagatell arischen Vermögensdelikte, insbesondere für den Bagatelldiebstahl, konnte sich der Gesetzgeber jedoch nicht zu einem solchen Schritt entschließen. Hier ist es im Gegenteil sogar zu einer formellen Aufwertung gekommen. Durch die ersatzlose Streichung des § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB unterfallen die bisher als Mundraub bevorzugt behandelten Verhaltensweisen den §§ 242 und 246 StGB. Darüber hinaus sind sämtliche Vergehensprivilegierungen im Bereich der Vermögensdelikte entfallen. Dennoch soll die Bagatellkriminalität durch diese Regelung nicht einer strengeren Beurteilung zugeführt werden als bisher47 • Die Berücksichtigung der Geringfügigkeit erfolgt vielmehr erst über das Prozeßrecht. (1) § 248 a StGB So führt § 248 a StGB für Diebstahl und Unterschlagung und in entsprechender Anwendung auch für die meisten anderen Vermögensdelikte (§§ 257, 259, 263, 265 a, 266 StGB) bei Geringwertigkeit des Schadens ein Antragserfordernis ein. Der Staatsanwalt kann allerdings bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses auch ohne Antrag verfolgen. Die von dieser Vorschrift erhoffte Siebwirkung, durch die geringfügige Straftaten von den Strafverfolgungsbehörden ferngehaIten werden sollen, dürfte allerdings kaum eingetreten sein. Auch bisher sind die meisten der in Frage kommenden Straftaten erst durch Anzeige der Geschädigten zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt. Wer eine Strafanzeige auf sich nimmt, wird aber auch einen Strafantrag stellen48 • Für den Diebstahl ist das schon deshalb der Fall, weil die Diebstahlsversicherer ihren Versicherungsnehmern die Anzeigeerstattung und nunmehr auch den Strafantrag zur Pflicht machen4'. 41 47 48 49
Vgl. zu dieser Entwicklung Göhler, OWiG, Einl. Anm. 4 f. Wie Fn. 5. Dreher, Festschr. Welzel, S. 924; Arzt, BT LH 3, S. 21. Kaiser, Strategien, S. 83.
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Die Bedeutung des § 248 a StGB kann auch nicht in den auf ihn zugeschnittenen besonderen Einstellungsmöglichkeiten gesehen werden50 • Zwar mag der Bereich, in dem der Staatsanwalt ohne Zustimmung des Gerichts gern. §§ 153, 153 a einstellen kann, mit dem Anwendungsbereich des § 248 a StGB weitgehend identisch sein5!, aber die genannten Einstellungsmöglichkeiten haben eine Regelung wie § 248 a StGB nicht zur Voraussetzung. § 248 a StGB ist also im Grunde eine überflüssige Vorschrift, die nichts zur Lösung der eigentlichen Probleme der Bagatellkriminalität beiträgt und nur bei einem oberflächlichen Hinsehen den Eindruck erwecken kann, schon im materiellen Recht sei etwas zur Ausgrenzung der Bagatellkriminalität geschehen. Ihre Bedeutung mag man allenfalls mit Naucke darin sehen, daß "auf das Problem des kleinen Diebstahls und der kleinen Unterschlagung besonders aufmerksam gemacht" wird 52 , und vielleicht auch hoffen, daß es sich um eine Vorstufe der Abschichtung der Bagatelleigentums- und Vermögenskriminalität für eine spätere materiellrechtliche Lösung handeln könnte. (2) § 153 StPO Das nächste Filter ist § 153. Die Einstellungsmöglichkeiten sind im Verhältnis zur früheren Fassung in zwei Punkten für den Staatsanwalt erleichtert. Durch die geänderte Fassung: ... "wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre", soll zum Ausdruck gebracht werden, daß der Staatsanwalt zur Bejahung der geringen Schuld als Einstellungsvoraussetzung nicht mehr bis zur Anklagereife "durchermitteln" muß, sondern in jedem Stadium der Ermittlungen weitere Erhebungen unterlassen kann53 • Zum anderen ist die Zustimmung des Gerichts, die früher bei Vergehen grundsätzlich erforderlich war, nicht mehr notwendig, wenn es sich um Vergehen handelt, die "gegen fremdes Vermögen gerichtet und nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht" sind und "wenn der durch die Tat verursachte Schaden gering ist". Erfaßt wird damit in erster Linie der Anwendungsbereich des § 248 a StGB. Damit werden die vermögensrechtlichen Bagatelltaten verfahrensrechtlich den bisherigen Übertretungen gleichgestellt, bei denen der Staatsanwalt ebenfalls ohne Zustimmung des Gerichts einstellen konnte54• So aber Arzt, a.a.O. (Fn. 48). Vgl. Meyer-Goßner, in Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 45 f.; § 153 a Rdnr.43. 52 Gutachten, D 25. 53 BT-Drucks. 7/550, S. 298; Kleinknecht, StpO, § 153 Rdnr. 3; Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 12. Kritisch zu dieser Neuerung in bezug auf § 153 Abs. 2 Dencker, JZ 1973, 148; Bedenken gegenüber einer solchen Auffassung noch für das alte Recht bei Bruns, Festschr. Maurach, S. 476 ff., die der Sache nach auf das neue Recht ebenso zutreffen. 54 Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 58. 50
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(3) § 153 a StPO Der eigentliche Neuansatzfür die Behandlung der BagatellkriminalitäUst aber § 153 a. Er soll eingreifen, wenn eine Einstellungsmöglichkeit nach § 153 zwar nicht mehr gegeben, eine kriminalstrafrechtliche Reaktion und der Aufwand eines Strafverfahrens aber noch nicht angebracht ist. Entlastet· werden in erster Linie die Gerichte, da der Staatsanwalt die unter § 153 a fallenden Sachverhalte bereits im Vorverfahren selbständig erledigen kann55• Zwar kann auch noch das Gericht in der Hauptverhandlung gern. § 153 a Abs. 2 das Verfahren ein'" stellen, aber diese Möglichkeit ist gegenüber der Erledigung durch den Staatsanwalt nur subsidiär vorgesehen. Entsprechend soll in den Fällen, in denen .eine Verwarnung unter Strafvorbehalt gern. § 59 StGB i. V. In. der Auferlegung einer Buße nach den §§56 d, 59 a StGB iri Frage kommt, .die Sache möglichst schon iIll Vorverfahren durch den Staatsanwalt nach § 153 abehandelt werden. § 59 StGB soll also in der Rechtswirklichkeit .durch § 153 a verdrängtwerden56• Aber auch dem Staatsanwalt kann die neue Einstellungsart Arbeitsersparnisse bringen, da zumindest in schwierigeren Sachen weniger Ermittlungsaufwand erforderlich ist und die Vertretung der Anklage in der Hauptverhandlung entfällt. Als weitere Maßnahme zur Verfahrensb~schleunigung ist schließlich noch anzuführen, daß das Erfordernis einer gerichtlichen Zustimmung in gleichem Umfang wie bel § 153 weggefallen ist. Dank· der Allgemeinheit der Vorschrift können auch Bagatellfälle erfaßt werden, die nach dem bisherigen Recht nicht bevorzugt behandelt werden konnten. Vor allem steht für alle Bagatellfälle eine nichtkriminalstrafrechtliche Reaktion zur Verfügung. Die Ersetzung der nach dem Wortlaut des materiellen Rechts verwirkten Vergehensstrafe durch die Reaktion des § 153 a ist faktisch eine Form der EntkriIllinalisierung, allerdings nur. im Einzelfall. Der Staatsanwalt wird nach den Worten Rössners zur "Agentur der partiellen Entkriminalisierungim System der sozialen Kontrolle des Bagatelldiebstahls" und der anderen Bagatelldelikte57 • Wie zu zeigen sein wird, liegt allerdings gerade in der nur individuellen Entkriminalisierung eines der Hauptprobleme der Vorschrüt58• Jedenfalls scheint durch § 153 a den meisten der oben für die Lösung der Bagatellproblematik aufgestellten Forderungen einigermaßen Wie Fn. 4. BT-Drucks. VI/3250, S. 284; 7/550, S. 297; Dreher 1 Tröndle, StGB, Vor § 59 Rdnr. 4. Dazu, daß diese Verdrängung inzwischen weitgehend erfolgt ist, vgl. Horn, NJW 1980, 106; Baumann, Gedächtnisschrift Schröder, S. 527 f.; Driendl, ZStW 90 (1978), 1032. 57 Bagatelldiebstahl, S. 59. 58 Vgl. u. den 2. Teil der Arbeit. 55 58
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Rechnung getragen zu sein. Durch das abgekürzte Verfahren wird für Entlastung zumindest der Gerichte, bis zu einem gewissen Grad aber auch der Staatsanwaltschaft, gesorgt. Die Reaktion nach § 153 a ist einerseits für den angestrebten Rechtsgüterschutz ausreichend, andererseits milder als die Vergehensstrafe (keine Diskriminierungswirkung, keine Überreaktion). Der Entwertung des Strafrechts scheint dadurch und durch die faktische Entkriminalisierung vorgebeugt. Bei einer ausreichend häufigen Anwendung, für die die Vereinfachung des Ver-: fahrens möglicherweise hinreichende Kapazitäten freistellt, könnte auch das Bedürfnis nach Selbstjustiz eingedämmt werden. Trotz dieser scheinbaren oder wirklichen Angemessenheit an die Bagatellproblematik ist die Vorschrift im Schrifttum bisher überwiegend auf Kritik gestoßen, wenn auch neuerdings die Zahl der befürwortenden oder wenigstens neutralen Stimmen zunimmt. Die Kritik wird besser verständlich, wenn man die Vorgeschichte der Vorschrift kennt. Die Darstellung der Vorgeschichte kann aber auch zur Klärung beitragen, warum der Gesetzgeber sich gerade für diesen Weg entschlossen hat. 4. Zur Vorgeschidde des § 153 a. Die Einstellung aufgrund von Leistungen des Beschuldigten ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage
a) Modalitäten und Verbreitung der Einstellung
aufgrund von Leistungen des Beschuldigten
So neuartig die Regelung des § 153 a auf den ersten Blick auch erscheinen mag und so fremd sie, wie noch im einzelnen zu belegen sein wird, der Struktur unseres Strafverfahrensrechts ist, tatsächlich legalisiert die Vorschrift nur ein seit langem durch die Praxis geübtes Verfahren. Denn die Praxis versuchte, indem sie die Einstellung an Leistungen des Beschuldigten knüpfte, gewissermaßen auf eigene Faust eine zusätzliche, unterhalb der Kriminalstrafe einsetzende Sanktionsmöglichkeit für Bagatellstraftaten zu schaffen. Im einzelnen hatten sich folgende Verfahrensweisen herausgebildet58 : (1) Die Staatsanwaltschaft oder gegebenenfalls das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft verband die Einstellung mit der Auflage oder Bedingung, daß der Beschuldigte den Schaden wieder gutmache bzw. eine Geldbuße an eine gemeinnützige Organisation zahle. (2) Die Staatsanwaltschaft erklärte dem Beschuldigten, daß sie nach Zahlung einer Geldbuße an eine gemeinnützige Organisation bzw. nach Wiedergutmachung des angerichteten Schadens bereit sei, seine Schuld 68 VgI. Rahn, Kriminalpolitische Gegenwartsfragen, S. 231; KTÜmpelmann, Bagatelldelikte, S. 226; Bartsch, ZRP 1969, 128 f.; SchmidhäuseT, JZ 1973, 53l.
Einleitung
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als gering und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung als nicht gegeben anzusehen und dementsprechend das Verfahren einzustellen. Nach Zahlung der Buße bzw. nach Entschädigung des Opfers wurde von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen oder, falls die Klage schon erhoben war, das Verfahren durch das Gericht eingestellt. Befand sich das Verfahren bereits im Stadium der Hauptverhandlung, so setzte das Gericht diese aus, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, die von der Staatsanwaltschaft für erforderlich gehaltenen Leistungen zu erbringen und diese dem Gericht nachzuweisen. Entgegen der Darstellung von Kern 60 und Rahn6 1, wonach solche Verfahrensweisen erst unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, insbesondere seit 1939, aufgekommen sein sollen, setzte diese Praxis schon bald nach der Einführung des § 15362 ein. So berichtet Peters im Jahre 193283 : "Dagegen mehren sich in letzter Zeit die Fälle, in denen die Hauptverhandlung vertagt wird unter Inaussichtstellung der Einstellung des Verfahrens gern. § 153 StPO, wenn der Angeklagte binnen einer bestimmten Frist den Schaden wieder gut macht und die Gerichtskosten bezahlt." Eine erstmalige, wenn auch kurzfristige, Legalisierung fand dieses Verfahren allerdings unter dem Nationalsozialismus, und zwar 1944 durch die 4. Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13.12.194484 , deren Art. 2 § 8 Abs. 3 lautete: "Das Absehen von der Klage und die Einstellung des Verfahrens können von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig gemacht werden." Aufgehoben wurde diese Vorschrift erst durch Art. 8 Abs. 2 Nr. 40 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. 9. 195085 • Das genügte jedoch nicht, um Einstellungen unter Auflagen zu unterbinden. So sahen sich die erstmals 1953 bundeseinheitlich erlassenen "Richtlinien für das Strafverfahren" (RiStV)68 in Nr. 74 Abs. 4 gezwungen, kategorisch klarzustellen: "Die Einstellung darf nicht davon abhängig gemacht werden, daß der Beschuldigte die der Staatskasse erwachsenen Auslagen des Verfahrens übernimmt oder sich verpflichtet, eine Geldbuße an die Staatskasse zu zahlen."
Kern, Strafverfahrensrecht, 1. Aufl., S. 47; DRiZ 1953, 169. S.232. 82 Durch § 23 der sogenannten Emminger-Verordnung v. 4.1.1924 (RGBl. I 15), dann als § 153 in die StPO eingeordnet (RGBl. I 299). 13 Kriminalpolitische Stellung des Strafrichters, Anm. 7 auf S. 149 f. 14 RGBl. I 339. M BGBl. I 455. I' "Richtlinien für das Strafverfahren" v. 1. Aug. 1953, die auf Ländervereinbarungen beruhten und die die "Richtlinien RJust. Min. für das Strafverfahren" v. 13. April 1934 ablösten. 10
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Diese eindeutige Haltung wurde allerdings schon in Nr. 75 Abs. 3 wieder aufgegeben, wo es heißt: "Ein Verhalten des Beschuldigten nach der Tat, daß sie (sc. die Schuld) nachträglich als geringfügig erscheinen läßt, z. B. die Wiedergutmachung des Schadens, darf berücksichtigt werden. Auf diese Einstellungsmöglichkeit darf hingewiesen werden 87 , wenn Mißdeutungen ausgeschlossen sind und auch der Anschein eines unzulässigen Drucks auf den Beschuldigten vermieden wird." Auch die Neufassungen der Richtlinien vom 1. Dezember 1966 und vom 1. Dezember 1970 brachten hierfür unter Nr. 82 Abs. 4 und unter Nr. 83 Abs. 3 Satz 3 keine wesentlichen Veränderungen. Nachdem die Richtlinien Einstellungen unter Bußgeldauflagen oder Bedingungen für unzulässig erklärt hatten und dem sich auch das Schrifttum einhellig anschloß, dürften sie praktisch nicht mehr vorgekommen sein. Verbreitet blieb dagegen, ermuntert durch die angeführten Stellen der Richtlinien, das Verfahren, bei dem die Einstellung dem Beschuldigten in Aussicht gestellt wurde, wenn er eine Geldbuße bezahlt oder den angerichteten Schaden wieder gutgemacht habe. Das läßt sich allerdings nur pauschal oder an Einzelfällen belegen, da dieses Verfahren naturgemäß in den Justizstatistiken nicht gesondert ausgewiesen wurde und sich auch sonst eher hinter verschlossenen Türen abspielte 68 •
In das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit geriet dieses Verfahren erstmals 1972 durch die sogenannte Hamburger Bußgeldaffäre. Damals sah sich die Hamburger Bürgerschaft gezwungen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der die Vorwürfe prüfen sollte, daß es in Hamburg zu Einstellungen gegen Bußzahlungen auch bei Vergehen gekommen sei, die alles andere als geringfügig gewesen seien, und daß es dabei zumindest mittelbar zu Bereicherungen Hervorhebung vom Verf. In der Literatur finden sich meist nur Feststellungen wie die folgende: "Die Praxis arbeitet aber nach wie vor mit solchen Auflagen" (Kern, DRiZ 1953, 169). Bartsch führt eine Reihe von Presseberichten an (ZRP 1969, 129 Anm. 7 - 10). Seebode beschreibt eine entsprechende Praxis bei der Unterhaltspflichtverletzung (JZ 1971, 390, 393); vgl. BRAK, zit. bei Laufhütte, Prot. d. SA Strafrecht, 6. Wahlp., S. 1203 (33. Sitz. v. 11. 3. 1971). Die Rechtsprechung hatte, abgesehen von den Gerichten, die selbst auf diese Weise vorgingen, nur selten und dann auch meist nur mittelbar Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Soweit ersichtlich liegen dazu nur folgende Entscheidungen vor: KG VRS 8, 127; KG JR 1958, 389; LG Köln, NJW 1962, 1024; LG Braunschweig, Nds. Rpfl. 1964, 140; LG Stuttgart, MDR 1969, 598. Haddenhorst, der für seine Untersuchung über "Die Einwirkung der Verfahrensrüge auf die tatsächlichen Feststellungen im Strafverfahren" 80 Entscheidungen des BGH aus dem Jahre 1964 durchgesehen hat, berichtet von 2 Fällen, in denen nach Aufhebung des Urteils durch den BGH und Rückverweisung der Sache das Verfahren eingestellt wurde, weil die Staatsanwaltschaft nach Zahlung einer größeren Geldbuße die Voraussetzungen des § 153 für gegeben ansah (Fall 31, S. 25 f.; Fall 64, S. 56). 87
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3 Kausch
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Einleitung
von Angehörigen der Hamburger Justiz und zu Unkorrektheiten bei der Verteilung der Bußgelder an gemeinnützige Organisationen gekommen sei88• In der Tat hat der Ausschuß Mißstände dieser Art aufgedeckt. Es stellte sich heraus, daß Verfahren eingestellt wurden, in denen angesichts der Schwere der Verfehlungen, insbesondere der Höhe des angerichteten Schadens, eine geringe Schuld ausgeschlossen erscheinen mußte70 • So wurde 1971 (nur dieser Zeitraum wurde insoweit untersucht) von der Wirtschaftsabteilung der Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Abschöpfungshinterziehung mit einem Schaden von über 100000 DM nach Zahlung einer Buße von 15000 DM, ein Verfahren wegen Betrugs mit etwa derselben Schadenshöhe nach Zahlung von 35 000 DM und eines wegen Steuerhinterziehung von 1,36 Mill. DM nach Zahlung von 400 000 DM eingestellt71 • Eine Anzahl der beteiligten Richter und Staatsanwälte lenkte die Bußzahlungen an Vereine und Organisationen, bei denen sie selbst Mitglieder waren. Sie profitierten von diesen Geldern wenigstens mittelbar, indem sie entweder Entschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten in diesen Organisationen oder aber Vortragshonorare in außerordentlicher Höhe erhielten12 • Die Verteilung der Geldbußen insgesamt auf die bedachten Vereine erfolgte völlig uneinheitlich. Sie entsprach weder der Bedeutung der begünstigten Vereine oder Organisationen, noch bestand immer der aus kriminalpädagogischen Gründen erforderliche Zusammenhang zwischen den Zielen der begünstigten Vereine und Tat oder Täter18 • Bei vielen Vereinen machten die überwiesenen Geldbußen den überwiegenden Teil ihrer Einnahmen aus, in einem Fall bis zu 98 0/014• Inzwischen sind solche Mißbrauchsmöglichkeiten bei der Verteilung der Bußzahlungen beseitigt. Die Landesjustizverwaltungen haben über das Verfahren bei der Zuweisung von Geldbeträgen in Strafverfahren eine bundeseinheitliche Regelung getroffen, die am 1. 1. 1975 in Kraft getreten ist15• IV Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Überprüfung des Verfahrens bei der Erhebung und Verteilung von Geldbußen (Drucks. VII/2144) und Minderheitsbericht (Drucks. VII/2176). 70 Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 19. 71 Bericht, S. 6. 12 Bericht, S. 19, Einzelheiten, S. 12 f. und Minderheitsbericht, S. 1. 73 Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 19, 7 ff. 74 Bericht, S. 12 ff. 75 Kleinknecht, StPO, § 153 a Rdnr. 20 m. w. Nachw. Vgl. auch die Vorschläge des Untersuchungsausschusses, Bericht, S. 19 f., die Sachverständigenvorschläge, Bericht, S. 17 ff. und Schmidhäuser, JZ 1973, 529 f.
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Da sich der Ausschuß in erster Linie für die Mißstände bei der Verteilung der Gelder interessierte und die Rechtmäßigkeit des Verfahrens als solches nicht in Zweifel zog1', hat er sich über das Ausmaß und die Modalitäten der Einstellungspraxis im einzelnen nicht informiert, ist also etwa den Fragen, wie hoch die Zahl der Einstellungen nach Bußgeldzahlungen insgesamt war und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis sie zu den übrigen Einstellungen stand, bei welchen Delikten sie überhaupt und bei welchen sie besonders häufig vorkamen und nach welchen Kriterien die Höhe der Buße bemessen wurde, nicht nachgegangen. Er hat lediglich festgestellt, daß dieses Verfahren in Hamburg seit 1946 üblich geworden sei und daß von ihm in erheblichem Umfang Gebrauch gemacht werde. Einen allerdings nur sehr groben Anhaltspunkt dafür gibt die Höhe der angefallenen Bußzahlungen, die z. B. für 1971 2262794,69 DM betrugl1. über das Ausmaß der Einstellungen nach Bußzahlungen in anderen Bundesländern ist, wie bereits gesagt, wenig bekannt. Immerhin hat der Hamburger Ausschuß bei den Landesjustizverwaltungen der übrigen Bundesländer angefragt, ob und in welchem Ausmaß dort dieses Vorgehen üblich sei. Da genauere Angaben nicht vorliegen, seien die dem Ausschuß erteilten Auskünfte, die sich auf das Jahr 1971 beziehen, im folgenden in der Darstellung des Ausschusses wiedergegeben18 : Länder
Regelungen
Baden-Württemberg
Einstellungen gegen Geldbußen sehr selten. Bis vor kurzem bestand für die Staatsanwälte die Pflicht, solche an den Generalstaatsanwalt zu berichten. Es gibt keine Einstellungen gegen Bußgelder. Ansätzen der Praxis wird entgegengetreten. Grundsätzlich gibt es eine Einstellung gegen Bußen nicht. Die Gepflogenheiten entsprechen dem in Hamburg üblichen Verfahren. Einstellungen gegen Bußen sind noch die Ausnahme. Sie sind aber in steigender Zahl zu beobachten. Eine Einstellung gegen Bußen gibt es grundsätzlich nicht. Die Gepflogenheiten entsprechen dem Hamburger Verfahren. Einstellungen gegen Bußen gibt es grundsätzlich nicht. Es kommen aber Ausnahmen vor. Die Einstellung gegen Buße ist die seltene Ausnahme. Einstellungen gegen Bußen gibt es grundsätzlich nicht.
Bayern Berlin Bremen Hessen Niedersachsen N ordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein
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Bericht, S. 19; anders Minderheitsbericht, S. I, 2, der sich den Bedenken, die Schmidhäuser als Sachverständiger vor dem Untersuchungs ausschuß gegen die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens vortrug, angeschlossen hat. 11 Bericht, S. 7. 18 Bericht, S. 4. Wie eine Korrespondenz des Verfassers mit der Hamburger Bürgerschaft und den Landesjustizministerien ergab, wurden die Auskünfte an den Ausschuß telefonisch erteilt. Unterlagen über diese Verfahrenspraxis,
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Einleitung b) Die Argumente für und gegen die Zulässigkeit dieser Einstellungspraxis
Da sich dieses Verfahren praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit vollzog und auch keinen Niederschlag in schriftlich zu begründen~ den Entscheidungen fand, ist es nicht verwunderlich, daß es zu keiner breiten wissenschaftlichen Auseinandersetzung über seine Zulässigkeit gekommen ist79 • aa) Einig war man sich, und zwar in übereinstimmung mit den "Richtlinien für das Strafverfahren", daß eine Einstellung unter einer Bedingung oder Auflage unzulässig seiSO. bb) Für zulässig dagegen hielt ein nicht geringer Teil des Schrifttums (mit den Richtlinien Nr. 75 Abs. 3 bzw. Nr. 83 Abs. 3 Satz 3) die "Anregung" zur Zahlung einer Geldbuße an eine gemeinnützige Organisation oder zur Entschädigung des Opfers, da dies als freiwillige Leistung bei der Beurteilung der geringen Schuld oder des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung berücksichtigt werden könne. Dem Einwand, daß es hierzu an einer gesetzlichen Ermächtigung fehle und es zur Auferlegung von im Gesetz nicht vorgesehenen Rechtsfolgen kommest, wurde entgegengehalten, daß sich dieses Vorgehen mit dem Wortlaut des § 153 aus denen sich Genaueres hätte ergeben können, waren nicht vorhanden. Die Aussagen über die Berliner Verhältnisse stehen im Widerspruch zu dem, was Bartsch berichtet (ZRP 1969, 130). Daß es sich in Berlin nicht bloß um Ausnahmen gehandelt haben kann, ergibt sich schon aus dem Bericht des Berliner Senats "über das Verfahren bei der Erhebung und Verteilung von Geldbußen" v. 30.5.1972 (Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 6/511), wo unter den "rechtlichen Grundlagen für Geldleistungen an gemeinnützige Einrichtungen im Zusammenhang mit Strafverfahren" die Zahlung einer "Reuegeldbuße" als Voraussetzung für eine Einstellung nach § 153 ganz selbstverständlich aufgeführt wird (a.a.O., I, Nr. 1 b). 79 Die nachfolgende Darstellung kann insofern ein falsches Bild vermitteln, als in ihr die - meist nur beiläufigen - Stellungnahmen von nahezu 30 Jahren zusammengefaßt sind. Wenn Kleinknecht die Bedenken Bartschs, ohne sich näher auf sie einzulassen, als "übertrieben" abtut (StPO, 31. Aufl., § 153 Anm. 2 A), so zeigt das, wie wenig Bedeutung man diesem Problem beimaß. 80 Ganz allgemein gegen die Zulässigkeit, die Einstellung mit Leistungen des Beschuldigten zu verbinden, Kern, Strafverfahrensrecht, S. 47; DRiZ 1953, 169; Heinitz, Festschr. Rittler, S. 334; MüHer, Dtsch. Devisen-Rundschau 1957, 102 ff.; Schwarz, StPO, 22. Aufl., § 153 Anm. 6, ebenso Vorauflagen; Rahn, Kriminalpolitische Gegenwartsfragen, S. 233 f.; Trapp, NJW 1958, 292 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 228; Bartsch, ZRP 1969, 128 ff.; Bruns, Festschr. Maurach, S. 485. Nur gegen die Einstellung unter Auflagen und Bedingungen Kohlhaas, in: Löwe 1 Rosenberg, StPO, 22. Aufl., § 153 Anm. 17 und Vorauflagen; GA 1956, 251; MüHer, in: Müller 1 Sax, StPO, § 153 Anm. 2 c; Kleinknecht, StPO, 31. Aufl., § 153 Anm. 2 A; Cordier, NJW 1957, 1790; Vogel, Öffentliches Interesse, S. 208 ff.; LG Köln, NJW 1962, 1024. 81 Bartsch, ZRP 1969, 129; Schwarz, a.a.O.; Trapp, NJW 1958, 292; Rahn, S. 232; Krümpelmann, S. 228; Schmidhäuser als Sachverständiger vor dem Hamburger Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 3.
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StPO voll in Einklang bringen lasse. Denn eine solche freiwillige Leistung lasse auf eine schon zur Tatzeit vorhandene Einsicht schließen und setze daher die Schuld soweit herab, daß sie gering im Sinne dieser Vorschrift werde 82 bzw. sie lasse das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung entfallen, da sie der mit einem Strafverfahren angestrebten General- und Spezialprävention ebenso gut dienen könne 83 • Dem wurde allerdings entgegengehalten, daß das Verhalten nach der Tat unmöglich auf die Schuld oder das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zurückwirken könne. Die für § 153 maßgebliche Schuld sei Tatschuld und könne nur von Umständen beeinflußt werden, die schon zur Tatzeit vorgelegen hätten 84 • Entsprechendes gelte für das öffentliche Interesse85 • Bemerkenswert ist, daß die Argumente für die Übereinstimmung der Bußgeldpraxis mit § 153 a. F. der Sache nach in den Regierungsentwürfen bei der Begründung für die Einführung des § 153 a wieder auftauchen86 • Die wiedergegebenen Einwände hiergegen dürften allerdings durch die in § 153 a enthaltene gesetzliche Ermächtigung im wesentlichen gegenstandslos geworden sein.
ce) Die jetzt zu referierenden grundsätzlichen Bedenken sind jedoch durch die Legalisierung nicht hinfällig geworden und kehren in der gegen § 153 a vorgebrachten Kritik folgerichtig sämtlich wieder. Es wird nämlich geltend gemacht: (1) Es handele sich um Strafe ohne richterliche Schuldfeststellung und laufe auf eine Verdachtsstrafe hinaus87•
(2) Es fehle an den sonst im Strafverfahren gewährten verfahrensrechtlichen Garantien für den Beschuldigten88 • 82 Kohlhaas, in: Löwe / Rosenberg, StPO, 22. Auf!., § 153 Anm. 17; Müller, in: Kleinknecht / Müller, StPO, 5. Auf!., § 153 Anm. 8; Kleinknecht, StPO, 31. Aufl., § 153 Anm. 2 A; Vogel, a.a.O.; KG VRS 8, 127; LG Stuttgart, MDR 1969, 598; ähnlich Peters, Strafprozeß, S. 149, der darauf abstellt, daß erst der Zeitablauf eine Schuldbewertung möglich mache ("Bewährungsfrist vor dem Urteil"). 83 Cordier, NJW 1957, 1790; Schürner, Geldbußen, S. 21; LG Köln, NJW 1962, 1025; ähnlich Kohlhaas, a.a.O. (Fn. 80); Müller, in: Müller I Sax, stPO, § 153 Anm. 2 c; Kleinknecht, StPO, 31. Aufl., § 153 Anm. 2 A. 84 Heinitz, Festschr. Rittler, S. 334; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 215; Trapp, NJW 1958, 292 f.; Bartseh, ZRP 1969, 129. 85 Bartsch, ZRP 1969, 129; Trapp, NJW 1958, 292. 86 Vgl. u. S. 46 f. 87 Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 228; ähnlich Schmidhäuser, JZ 1973, 531; dagegen Cordier, NJW 1957, 1790 unter Berufung auf die Freiwilligkeit der Leistungen. 88 Trapp, NJW 1958, 293; Rahn, Kriminalpolitische Gegenwartsfragen, S. 232; Bartseh, ZRP 1969, 129.
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Einleitung
(3) Es handele sich um die Ausübung eines unzulässigen Drucks. Der Beschuldigte werde oft, selbst wenn er sich unschuldig fühle, lieber eine Buße zahlen als das Risiko des ungewissen Ausganges eines Strafverfahrens und die damit verbundenen Belastungen auf sich nehmen. Von Freiwilligkeit könne bei einer solchen Leistung keine Rede sein811 • Teilweise wurde angenommen, daß es sich um einen Verstoß gegen § 136 a handele". (4) Da die Einstellung des Verfahrens von finanziellen Leistungen abhängig sei, seien begüterte Täter eher in der Lage, diese zu erbringen, als wirtschaftlich schlechter gestellte. Das aber verstoße gegen den Gleichheitssatzll1• (5) Praktisch handele es sich um einen Freikauf von Strafe. Es könne der Eindruck entstehen, der Staat lasse sich seinen Strafanspruch eintauschen. Es komme zu einem regelrechten Handel zwischen Staatsanwaltschaft bzw. Gericht und dem Beschuldigten. Das sei mit der Würde des Gerichts unvereinbar und schade dem Ansehen der Strafrechtspflege9!. (6) Die Einstellungspraxis gegen Leistungen des Beschuldigten und die gesetzgeberischen Bestrebungen zu ihrer Legalisierung und Auswei~ tung bestätigten, daß es sich in diesen Fällen vielfach nicht um strafwürdiges Unrecht handele. Die Legalisierung verdecke die zuweilen gebotene Entkriminalisierung, die durch Einengung oder Aufhebung von Strafvorschriften erfolgen solle·3• Die Vorgeschichte des § 153 a zeigt also, daß schon sehr früh von der Praxis die Reaktionsmöglichkeiten am unteren Ende der Sanktionsskala als unzulänglich empfunden wurden. Das gilt vor allem für das Fehlen von Milderungsmöglichkeiten bei der Vielzahl von unselbständigen Bagatelldelikten, die als Vergehen zu hoch eingestuft waren". 8t Krilmpelmann, Bagatelldelikte, S. 228; Schwarz, StPO, 22. Aufl., § 153 Anm. 6 A; ebenso die Vorauflagen; Rahn, S. 233; Trapp, NJW 1958, 293; Bartsch, ZRP 1969, 130; Schmidhäuser als Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 3. to Schwarz, a.a.O.; Krilmpelmann, S. 228; Bartsch, ZRP 1969, 130; ähnlich, wenn auch vorsichtiger LG Köln, NJW 1962, 1025. 81 Schwarz, StPO, 22. Aufl., § 153 Anm. 6 B; Rahn, S. 233; SchmidhäuseT als Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 3. n Schwarz, StPO, 22. Aufl., § 153 Anm. 6 A; Rahn, S. 233; Bartsch, ZRP 1969, 130; Seebode, JZ 1971, 393, für § 170 b StGB . • 8 So See bode, JZ 1972, 389 f., für die Praxis der vorläufigen und nach Zahlung von Unterhaltsleistungen endgültigen Einstellung bei Straftaten nach § 170 b StGB und ihre Legalisierung durch § 153 a Abs. 1 Nr. 4. 84 Krümpelmann, S. 229, 240. Dazu, daß die Praxis auch in anderen Fällen Wege gefunden hat, um zu den von ihr gewünschten Rechtsfolgen zu kommen, vgl. u. Fn. 41 zu § 2.
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Die Folgerung Drehers, das Vorgehen der Praxis sei nicht nur ein Indiz für ein kriminalpolitisches Bedürfnis, sondern zeige auch den rechtsstaatlich angemessenen Weg", ist jedoch keineswegs zwingend und bedürfte zumindest näherer Begründung. Auch hier heiligt der Zweck nicht von vornherein alle Mittel. Die dargestellte Vorgeschichte erklärt zwar, woher der Gesetzgeber das Modell für § 153 a genommen hat, aber in ihrem Licht erscheint, insbesondere angesichts der Warnzeichen, die die Hamburger Bußgeldaffäre setzte, die Legalisierung dieses Verfahrens als eine Flucht nach vorn. Da die wesentlichen Kritikpunkte gegen § 153 a auch schon gegen das alte Verfahren, wenn vielleicht auch nicht besonders vernehmlich, vorgebracht worden sind, konnte der Gesetzgeber wissen, auf welch bedenklichen Weg er sich mit § 153 a begeben hat. Erklären läßt sich die Geringschätzung dieser Bedenken wohl nur aus der Notwendigkeit, schnell auf die durch den Wegfall der Übertretungen entstandene Situation zu reagieren, aus Vorbehalten gegen eine auch nach außen sichtbare (generelle) Entkriminalisierung insbesondere des kleinen Diebstahls und aus einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber dem Problem der Bagatellkriminalität überhaupt. Denn es ist nicht zu bestreiten, daß die wissenschaftliche Diskussion erst mit dem Bekanntwerden der gesetzgeberischen Absicht einer prozessualen Lösung einsetzte und auch bis heute noch viele Fragen kontrovers und offen geblieben sind. 5. Die Einwinde gegen § 153 a. Abgrenznng des Themas a) Zum Stand der Diskussion
Die Diskussion seither hat einige neue Ansatzpunkte für die Kritik ergeben, vor allem aber die schon gegen das alte Verfahren vorgebrachten Bedenken vertieft9s• Festschr. Welzel, S. 938. Ablehnend stehen der Vorschrift gegenüber: AE-GLD, S. 8 ff.; Arzt, JuS 1974, 695; JZ 1976, 55; Referat, N 46 f.; Baumann, ZRP 1972, 275; Festschr. Peters, S. 4 ff.; ZRP 1976, 269; Gedächtnisschrifift Schröder, S. 527, 530; Berckhauer, DRiZ 1976, 236; Burckhardt, JZ 1973, 117; Dencker, JZ 1973, 149; Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, § 248 a Rdnr. 2; Fezer, JZ 1976, 98 f.; Grünwald, Gutachten, C 18; Vorgänge 1975, 37; Hanack, Festschr. Gallas, S. 344 ff.; Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 823 ff.; Kaiser, Strategien, S. 82 ff.; (zustimmend aber jetzt in ZStW 90 (1978), 902); Kohlhaas, DAR 1975, 14; Kramer, ZRP 1974, 66; Lange, Festschr. Jahrreiß, S. 132 f.; Müller, ZRP 1975, 55; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 218 ff.; Roxin, Kriminologie und Strafverfahren, S. 19; Strafverfahrensrecht, S. 66; Rudolphi, ZRP 1976, 168; Samson, in: SK, § 248 a Rdnr. 8; Schmidhäuser, JZ 1973, 529 ff.; R. Schmitt, ZStW 89 (1977), 640; Vogler, ZStW 90 (1978), 153; Zipf, Kriminalpolitik, S. 85. Vorsichtige Distanz bei Naucke, Gutachten, D 114 ff., 121; Jung, Kronzeuge, S. 50 ff., 92 f.; Ahrens, Einstellung, S. 224 ff.; Meurer, Ladendiebstahl, S. 42. Vgl. zum folgenden auch die Zusammenfassung der Kritik an § 153 a bei Naucke, Gutachten, D 77 ff. 95
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Die Kritik setzt ein bei der weiteren Einschränkung des Legalitätsprinzips zugunsten des Opportunitätsprinzips, die in der Neufassung des § 153, vor allem aber in § 153 a gesehen wird und von der eine Einbuße der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts und ein Verlust an Glaubwürdigkeit der Strafverfolgungsorgane befürchtet wird97 • Unter diesem Aspekt wird auch überwiegend die Erweiterung der Machtbefugnisse der Staatsanwaltschaft und die Zurückdrängung der Gerichte kritisiert98 • Rudolphi spricht darüber hinaus von einer Rückkehr zum Inquisitionsverfahren durch die Vereinigung von Ermittlungs- und Sanktionskompetenz in der Hand des Staatsanwalts99 • Hanack hat die Gefahr der Ungleichbehandlung weiter konkretisiert. Diese sei nicht nur deshalb gegeben, weil finanziell besser gestellte Täter Auflagen leichter erfüllen könnten, sondern bestehe auch darin, daß die Arbeitsersparnis für den Staatsanwalt bei der Einstellung von komplizierten Wirtschaftsstrafsachen größer sei als etwa bei einem einfachen Diebstahl und er daher bei Wirtschaftsdelikten leichter zur Einstellung nach § 153 a neigen werde 10o• Außerdem sehe die Vorschrift keine Auflagen vor, die der Resozialisierung dienten, was zu einer Bevorzugung von sozial angepaßten und finanziell gutstehenden Tätern führe, während sozial gefährdete und resozialisierungsbedürftige Täter von der Anwendung des § 153 a praktisch ausgeschlossen seien. Damit sei neben dem Gleichheitssatz auch das Sozialstaatsprinzip betroffen101 •
Schmidhäuser hat subtil die psychologischen Auswirkungen eines solchen "Freikaufverfahrens" auf die Verfahrensbeteiligten, vor allem auf den Beschuldigten, und die Klimaveränderung im Strafverfahren beschrieben und die Gefahren verdeutlicht, die ein solcher Handel für das Ansehen der Justiz haben kann102 • Er hat weiter darauf hingewiesen, daß sich auch aus der Interessenlage von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger Bedenken ergeben, da diese sich dem Verdacht aussetzten, sie stimmten einem Vorgehen nach § 153 a nur zu, um anstelle eines zeitaufwendigen Verfahrens mit Hauptverhandlung, Urteilsabsetzung usw. zu einer schnellen und bequemen Erledigung der Angelegenheit t7 Kritik wegen einer Einschränkung des Legalitätsprinzips durch § 153 a bei Baumann, ZRP 1972, 275; Festschr. Peters, S. 4; ZRP 1976, 269; Dencker, JZ 1973, 147; Hanack, Festschr. Gallas, S. 343, 347; Schmidhäuser, JZ 1973, 530, 535 f.; Kaiser, Strategien, S. 83; Blankenburg, KrimJ 1973, 193; AE-GLD, S. 8; Arzt, JuS 1974, 694; Zipf, Kriminalpolitik, S. 85; Kohlhaas, DAR 1975, 14; Roxin, Kriminologie und Strafverfahren, S. 20; vgl. auch Jung, Kronzeuge, S. 50 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 216 ff. 98 Vgl. u. § 2, 1. b). 99 ZRP 1976, 168. 100 Festschr. Gallas, S. 349 f. 101 a.a.O., S. 357 f. 10! JZ 1973, 529 ff.
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zu gelangen103 • Weiter wird der Verlust der Werte der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung befürchtet: Das Verhandeln hinter verschlossenen Türen beeinträchtige das Vertrauen der Bevölkerung in eine einwandfreie Rechtsprechung. Beeinträchtigt werde dadurch aber auch "die Bedeutung des Vor-dem-Richter-Stehens im Hinblick auf die damit verbundenen general- und spezialpräventiven Wirkungen "lOt. Zum Problemkreis der Ausübung eines unzulässigen Drucks auf den Beschuldigten ist als neuer Gesichtspunkt der eines rechtsstaatlich bedenklichen Unterwerfungsverfahrens hinzugetreten105 • Dencker hat die Bedenken aus § 136 a präzisiert und ihren Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung gezeigt. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 MRK könne nur dann nicht angenommen werden, wenn man die Zustimmung des Beschuldigten als ein Geständnis werten könne, das den vollen Beweis erbringe. Das sei aber nicht der Fall, denn die Zustimmung besage nur, daß der Beschuldigte dem Druck der Staatsanwaltschaft nachgebe und die Auflage einem Strafverfahren mit ungewissem Ausgang vorziehe106• b) überblick über den Gang der Untersuchung
Soweit dieser tour d'horizon der mit § 153 a verbundenen Probleme. Die bisherige Kritik hat sich also vor allem auf die Verschlechterung der Stellung des Beschuldigten konzentriert, die sich aus dem Wegfall nahezu aller Verfahrensgarantien bei einer Sanktionsverhängung nach § 153 a ergibt, und auf die Gefahren für die Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege. Wie bereits angedeutet, ist die Frage, welche Folgen die neue Vorschrift auf das Verhältnis von Richter und Staatsanwalt hat, in der bisherigen Diskussion eher am Rande und meist unter dem Stichwort "Legalitätsprinzip" behandelt worden. Dieses Verhältnis ist jedoch prägend für den Charakter der Strafrechtspflege, und wesentliche Veränderungen in der Aufgabenteilung zwischen beiden "Organen der Rechtspflege" haben Auswirkungen auf das Ganze der Strafrechtsordnung. Wenn die folgende Arbeit hier ihren Schwerpunkt setzt, so versucht sie damit also eine Lücke zu füllen. Dies soll unter drei einander ergänzenden Perspektiven geschehen: JZ 1973, 531, 533. Hanack, Festschr. Gallas, S. 350 f. 105 AE-GLD, S. 9; Arzt, JuS 1974, 695; Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 19. Auf!., § 248 a Rdnr. 2; vgl. auch Dencker, JZ 1973, 149; Grünwald, Gutachten, C 18; R. Schmitt, ZStW 89 (1977), 640. 106 JZ 1973, 149 f.; zustimmend Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 824; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 66; Samson, in: SK, § 248 a Rdnr. 8. 103
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Einleitung
(1) § 153 a verleiht dem Staatsanwalt die Befugnis, Rechtsfolgen zu verhängen, die bisher allein vom Richter auferlegt werden durften. Im ersten Teil der Arbeit ist daher zu untersuchen, ob solche Kompetenzen der Staatsanwaltschaft mit dem Rechtsprechungsmonopol, das Art. 92 GG den Richtern zuweist, vereinbar sind. (2) Der Anwendungsbereich des § 153 a ist im Gesetz nur ungenau umschrieben und daher weitgehend in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt. Dadurch nimmt diese einen entscheidenden Einfluß auf die Auslegung der Vergehenstatbestände und auf die Bestimmung der Grenzen des Kriminalstrafrechts. In einem zweiten Teil wird daher der Frage nachgegangen, wieweit die Konkretisierung der Strafrechtsnormen, unabhängig von der Qualität der verhängten Rechtsfolgen, allein Sache der Rechtsprechung ist. (3) Der dritte Teil versucht, die Funktion der Rollenteilung zwischen Richter und Staatsanwalt im Anklageprozeß darzustellen und zu klären, ob sich daraus Aussagen über die Zulässigkeit eigener Sanktionsbefugnisse der Staatsanwaltschaft gewinnen lassen. Weiterhin soll am Beispiel des japanischen Strafverfahrens, in dem dem Staatsanwalt mit § 153 a vergleichbare, wenn auch viel weitergehende Befugnisse anvertraut sind, gezeigt werden, wohin eine Entwicklung tendiert, die dem Staatsanwalt Sanktionsbefugnisse überläßt.
1. Teil
Sanktion8verhängung und Richtervorbehalt Mit der Befugnis, Auflagen und Weisungen zu erteilen, räumt § 153 a dem Staatsanwalt Kompetenzen ein, die bisher ausschließlich dem Richter vorbehalten waren. Die in § 153 a Abs. 1 Nr. 1- 4 vorgesehenen Rechtsfolgen sind nur geringfügig modifizierte Übernahmen eines Teils der im Fall der Strafaussetzung zur Bewährung möglichen Auflagen und Weisungen. So stimmt § 153 a Abs. 1 Nr. 1- 3 weitgehend mit § 56 b Abs. 2 Nr. 1- 3 StGB übereini. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der Weisung nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 zu § 56 c Abs. 2 Nr. 5 StGB2,8. Zuständig für die Anwendung der §§ 56 bund 56 c StGB ist aber allein das Gericht. Auflagen sind weiterhin möglich bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB (vgl. § 59 a Abs. 2 StGB), für die ebenfalls nur der Richter zuständig ist. Auch dort, wo das Strafrecht sonst noch Auflagen und Weisungen kennt, nämlich im Jugendstrafrecht und zwar bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 21, 23, 10, 15 JGG), beim "Absehen von Verfolgung" gemäß § 45 JGG und schließlich bei der Einstellung nach § 47 JGG, ist es allein Sache des Richters, darüber zu entscheiden. Wenn nunmehr der Staatsanwalt bisher dem Richter vorbehaltene strafrechtliche Rechtsfolgen verhängen darf, drängt sich die Frage auf, 1 Ein Unterschied besteht nur insoweit, als nach § 56 b Abs. 2 Nr. 1 StGB der Täter den durch die Tat verursachten Schaden "nach besten Kräften", nach § 153 a Abs. 1 Nr. 1 aber durch eine "bestimmte Leistung" wiedergutmachen soll. t Auch hier ist die Regelung nur insoweit unterschiedlich, als nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 die Unterhaltsleistungen "bestimmt" sein müssen. 3 Die Begründung für diese Unterschiede ist allerdings nicht ganz einheitlich. Nach dem Regierungsentwurf zum EGStGB (BT-Drucks. 7/550, S. 298) soll "dadurch in Fällen mit bedeutender Schädigung die oft schwierige Feststellung vermieden" werden, "ob der Täter ,nach besten Kräften' zur Wiedergutmachung des Schadens beigetragen hat". Kleinknecht (StPO, §153 a Rdnr. 15) ist dagegen der Auffassung, daß nur so "nach Ablauf der Frist die Erfüllung oder Nichterfüllung und damit der Eintritt oder Nichteintritt des Verfahrenshindernisses klar auf der Hand" liegt. Ähnliche Probleme können allerdings auch bei § 56 b Abs. 2 Nr. 1 StGB auftauchen. Wichtiger dürfte daher der Aspekt sein, daß nur bei Festsetzung einer bestimmten Leistung für den Beschuldigten kalkulierbar ist, ob es sich lohnt, auf den "Handel" einzugehen, oder ob er sich stattdessen dem Risiko eines durchgeführten Strafverfahrens aussetzen will.
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
ob er damit "Strafgerichtsbarkeit" ausübt. In diesem Fall läge ein Verstoß gegen Art. 92 GG vor, gemäß dem die "rechtsprechende Gewalt" und damit auch die Strafgerichtsbarkeit "den Richtern anvertraut" ist. Zugleich wäre damit auch eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG gegeben. Denn das Verbot des Entzugs des gesetzlichen Richters beinhaltet auch, daß es dem Gesetzgeber untersagt ist, Kompetenzen, die von Verfassungs wegen den Richtern vorbehalten sind, auf nichtrichterliche Organe zu übertragen4 • Diese Frage ist in der Literatur, auch soweit sie sich kritisch zu der neuen Vorschrift verhält, bisher so gut wie nicht erörtert worden. Es ist vielmehr bei allgemein gehaltenen Bedenken "gegen die gravierende Verlagerung richterlicher Kompetenz auf den Staatsanwalt"5 geblieben. Das erklärt sich in erster Linie daraus, daß man nahezu einhellig § 153 aals Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips betrachtet, so daß die Ausdehnung der staatsanwaltlichen Zuständigkeit in erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Einschränkung des Legalitätsprinzips behandelt wird. Daher ist zunächst darauf einzugehen, ob hier tatsächlich ein Fall des Opportunitätsprinzips vorliegt. Das erscheint fraglich, da die Einstellung nach § 153 a mit der Auferlegung von Sanktionen verknüpft ist und man durchaus Zweifel haben kann, ob das Opportunitätsprinzip auch die Befugnis zur Sanktionsverhängung mit umfaßt (§ 2). Mit Ausnahme der in § 153 a Abs. 1 S. 2 aufgeführten Fälle kann der Staatsanwalt nur mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts nach § 153 a verfahren. Als nächstes soll daher geprüft werden, ob den Anforderungen des Art. 92 GG nicht durch diese Form der Beteiligung des Gerichts an den Entscheidungen nach § 153 a Rechnung getragen wird (§ 3). Die Frage, was unter "Rechtsprechung" i. S. des Art. 92 GG zu ver~ stehen und wieweit das Verhängen von Sanktionen mit Strafcharakter den Gerichten vorbehalten ist, hat zu einer intensiven literarischen Diskussion wie auch zu mehrfachen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts geführt. Weiter wird daher untersucht, wieweit die Ergebnisse dieser Diskussion und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer Lösung des hier behandelten Problems beitragen können (§§ 4, 5).
4 So für die übertragung richterlicher Zuständigkeiten auf Verwaltungsbehörden BVerfGE 22, 49 ff. (73); 20, 365 ff. (369 ff.); st. Rspr.; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 101 Rdnr. 19; ausdrücklich für das Problem der übertragung von Strafkompetenz Bettermann, 2. Dtsch. Verkehrsgerichtstag, S. 26. 5 Hanack, Festschr. Gallas, S. 363.
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips? 1. Die rechtliche Einordnung des § 153 a in den Regierungsentwürfen und in der Literatur
a) Entwürfe Das Problem einer verfassungsrechtlichen Legitimation der erweiterten Befugnisse der Staatsanwaltschaft scheint sich den Vätern des § 153 a nicht gestellt zu haben. Man sucht in den verschiedenen Regierungsentwürfen1 und in den Protokollen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform2 vergebens nach einer Begründung dafür, daß der Staatsanwalt auf einmal tun darf, was bislang dem Richter vorbehalten war. Um so bemerkenswerter sind allerdings die Ausführungen über die rechtliche Einordnung des § 153 a, aus denen sich mittelbar einiges über die gesuchte Begründung entnehmen läßt. Denn danach scheint § 153 a nur eine Art gesetzlicher Bestätigung und KlarsteIlung, allenfalls Ergänzung von schon in § 153 angelegten Möglichkeiten zu sein. So besagt der Gesetzestext der ersten Entwurfsfassung, daß eingestellt werden könne, wenn die Auflagen und Weisungen "geeignet" sind, "die Hindernisse zu beseitigen, die einer Einstellung des Verfahrens nach § 153 entgegenstehen"3. In der Begründung wird das dann so erläutert: Es sei im Grundsatz nicht möglich, die weitgefaßten Voraussetzungen der Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO (sc. a. F.) zu erweitern. "Gegenstand einer Änderung der §§ 153, 153 a StPO kann deshalb nur sein, bestehende verfahrensrechtliche Hindernisse, die verzichtbar sind, zu beseitigen, um damit eine weniger zurückhaltende Anwendung der Vorschriften ... zu ermöglichen4 ." Als solche "verfahrensrechtliche Beschränkungen, die eine großzügigere Anwendung, insbesondere des § 153 StPO hindern", werden zwei angeführt: das Erfordernis der jeweiligen Zustimmung von Gericht bzw. Staatsanwaltschaft und "der Verzicht des geltenden Rechts auf die Möglichkeit, das Verfahren unter Auflagen und Weisungen einzustellen"5. Auf Einspruch des Bundesrats hat § 153 a zwar die jetzt gültige, die Einstellungsvoraussetzungen konkretisierende und beschränkende 1 Vgl. Entwurf EGStGB, BT-Drucks. VI/3250, S. 283 ff.; 7/550, S. 189 f., 297 ff.; Entwurf 1. StvRG, BT-Drucks. VI/3478, S. 47 f., 73 f.; 7/551, S. 43 f., 69 f. 2 Vgl. SA Strafrecht, 7. Wahlp., Prot. der 9., 10., 11., 17. Sitzung und 1. Bericht, BT-Drucks. 7/1261. 3 BT-Drucks. VI/3250, Art. 18 Nr. 41, S. 39. 4 BT-Drucks. VI/3150, S. 284. Daß § 153 a a. F. hier ebenfalls angeführt wird, dient offenbar nur dekorativen Zwecken, denn tatsächlich bleibt §153 a n. F. ohne Auswirkungen auf den Anwendungsbereich des § 153 a a. F., jetzt § 153 b n. F., der auch folgerichtig im Wortlaut unverändert geblieben ist und in der weiteren Begründung nicht mehr erwähnt wird. 5 a.a.O.
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1. Teil:
Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
Form erhalten8 • An der Auffassung der Entwurfsverfasser über die Rechtsnatur und den Zweck der Vorschrift hat das aber nichts geändert, denn die hier wiedergegebene Begründung ist auch für die Neufassung unverändert beibehalten worden1• Die Entwürfe bestehen also darauf, daß, obwohl es erklärtes Ziel der neuen Vorschrift ist, die Einstellungsmöglichkeiten auf Fälle auszudehnen, die wegen ihres Schweregrades bisher dafür nicht in Frage kamen, dies doch nicht durch eine Erweiterung der Voraussetzungen bewirkt wird, von denen die Zulässigkeit einer Einstellung abhängt. Dies wird mit Formulierungen wie "verfahrensrechtliche Hindernisse ... zu beseitigen", "bestehende verfahrensrechtliche Beschränkungen zu verringern", um damit eine "großzügigere Anwendung" bzw. eine "weniger zurückhaltende Anwendung" zu ermöglichen, zu belegen versucht8 • Begriffe, die auf eine Erweiterung oder gar Neubegründung von Zuständigkeiten hindeuten könnten, werden auf eine allzu auffällige Weise vermieden und durch negative Umschreibungen ersetzt. Dieses Verfahren gerät zu offensichtlich in die Nähe eines verbalen Taschenspielerkunststückes, als daß darauf eingegangen werden müßte, ob der Unterschied zwischen der "Aufhebung einer Beschränkung" und einer "Erweiterung" in dem von den Entwürfen unterstellten Sinn aufrecht zu erhalten ist oder ob es sinnvoll ist, die Tatsache, daß das bisherige Recht eine Verfahrenseinstellung unter Auflagen und Weisungen nicht kannte, als "Verzicht" zu kennzeichnen, wenn nicht ersichtlich ist, welche nach dem geltenden Recht bislang unzulässige Verbindung einer Einstellung mit anderen Rechtsfolgen dann nicht als "Verzicht" aufzufassen istlI. Im übrigen ist diese Argumentation nur verständlich und in sich sinnvoll, wenn man davon ausgeht, daß Voraussetzung für die Einstellung nach wie vor lediglich die "geringe Schuld" und das Fehlen des "öffentlichen Interesses" ist, nicht aber die Erteilung der Auflagen oder Weisungen, sondern die letzteren nur dazu dienen, diese Voraussetzungen, wo nicht vorhanden, erst einmal zu schaffen und folglich "Hindernisse" zu beseitigen. Die Auflagen oder Weisungen werden dadurch in eine Art rechtsfreien Raum verwiesen und können so für die Erörterung der Rechtsnatur des § 153 a außer Betracht bleiben10• o Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. VI/3250, S. 457 und die Entgegnung der Bundesregierung, a.a.O., S. 481. 7 Vgl. BT-Drucks. 7/550, S. 297. 8 BT-Drucks. VI/3250, S. 284; 7/550, S. 297. SI Bemerkenswert ist auch, daß mit solchen Formulierungen eine Umkehrung des Regel-Ausnahmeverhältnisses von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip suggeriert wird. Denn es wird so getan, als sei das Opportunitätsprinzip die Regel, die durch § 153 in seiner bisherigen Fassung bestimmte Einschränkungen und eigentlich nicht begründete Ausnahmen erfahre, welche Ausnahmen es jetzt zu beseitigen gelte.
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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Damit übernehmen und rechtfertigen die Entwurfsverfasser noch nachträglich die Auffassung derer, die die oben dargestellte Praxis der Einstellung nach einer "Anregung" zu einer Leistung oder zur Schadenswiedergutmachung auch ohne gesetzliche Ermächtigung für zulässig hielten mit der Begründung, daß solche Leistungen ja nur die Einstellungsvoraussetzungen herstelltenl l. Es ist dann nur konsequent, wenn Vertreter des Bundesjustizministeriums und Mitglieder des Sonderausschusses ein solches Vorgehen der Staatsanwaltschaft auch weiterhin neben § 153 a für zulässig halten. Ein Unterschied bestehe nur insoweit, als bei § 153 a der Beschuldigte sicher sein könne, daß es auch tatsächlich zur Einstellung komme, wenn die Leistung erbracht seP!. Weshalb diese verschleiernden und sich windenden Formulierungen, weshalb die Bagatellisierung der Auflagen und Weisungen, die Betonung, daß zu ihrer Zulässigkeit § 153 a eigentlich nicht erforderlich sei, wodurch die Legalisierung jenes Verfahrens zu einer rechtsstaatlichen Floskel degradiert wird? Nun, die Absicht tritt deutlich genug zutage. Es soll der Eindruck hervorgerufen werden, daß die Einstellung unter Auflagen oder Weisungen nichts grundsätzlich Neues darstellt, das eigens gerechtfertigt werden müßte, sondern daß § 153 a lediglich eine unverkürzte Anwendung des § 153 ermögliche, diesem gewissermaßen erst zu seiner eigentlichen Wirkung verhelfe und damit seinem wahren, von Hindernissen unverstellten Sinn Geltung verschaffe. Eine ähnliche Tendenz zur Verharmlosung zeigt sich, wenn die Bedeutung der Sanktionsbefugnisse des § 153 a mit dem Wegfall des gerichtlichen Zustimmungserfordernisses bei den geringfügigen Vermögensdelikten auf eine Stufe gestellt wird13• Für unsere Fragestellung ergibt sich daraus folgendes: Die Regierungsentwürfe und der Sonderausschuß gehen davon aus, daß bei Anwendung des § 153 a keine weitergehenden Befugnisse ausgeübt wer10 In diesem Sinne heißt es in BT-Drucks. VI/3250, S. 284: "Das sind zunächst die Fälle, in denen die Voraussetzungen des § 153 StPO anzunehmen wären, wenn der Täter sich Auflagen und Weisungen unterwerfen und diese erfüllen würde." Ähnlich spricht Dreher von "freiwilligen Leistungen, die das Interesse an weiterer Strafverfolgung entfallen lassen" (Festschr. Welzel,
S.939).
Nimmt man die durch die Einwände des Bundesrates veränderte Fassung des § 153 a ernst, dann haben die Auflagen und Weisungen auf das Maß der Schuld allerdings keinen Einfluß mehr. Zu den Schwierigkeiten einer Trennung von öffentlichem Interesse und geringer Schuld vgl. jedoch Hanack, Festschr. Gallas, S. 353 f. 11 Vgl. o. § 1, 4. b) bb). 12 Sturm, SA Strafrecht, 7. Wahlp., Prot., S. 405; Schoreit, Prot., S. 402, 406; Penner" Prot., S. 404; de With, Prot. S. 407. 13 BT-Drucks. VI/3250, S. 284.
1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
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den als im Falle einer Einstellung nach § 153. Ist das der Fall, so folgt daraus, und diese Konsequenz wird gar nicht erst ausdrücklich ausgesprochen, daß die durch § 153 a verliehenen Kompetenzen nicht eigens gerechtfertigt werden müssen oder jedenfalls die gesetzliche Ermächtigung dazu genügt. Letztlich liegt ihre Legitimation dann, nicht anders als die der Einstellungsmöglichkeit nach § 153, im Opportunitätsprinzip. Damit scheint aber eine Kollision mit Art. 92 GG ausgeschlossen. Denn die Anwendung des Opportunitätsprinzips gilt unbestritten als Domäne der Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus mögen sich die Entwurfsverfasser auch durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestärkt gefühlt haben, in der das Gericht für den Fall der gebührenpflichtigen Verwarnung entschieden hat, daß es keinen Verstoß gegen Art. 92 GG bedeute, wenn der Gesetzgeber bei mindergewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbeständen statt des Legalitätsprinzips das Opportunitätsprinzip anwende 14 • Denn daraus könnte man umgekehrt schließen: Wo das Opportunitätsprinzip bei der Strafverfolgung zur Anwendung kommt, besteht kein Monopol der Rechtsanwendung durch die Richter. b) Literatur
Die Kritik, die die neue Regelung durch einen Teil des Schrifttums erfahren hat, läßt sich auf die gerade dargestellten Versuche der Entwurfsbegründungen, die Auswirkungen des § 153 a herunterzuspielen, zwar nicht ein. Aber indem sie zum Ansatzpunkt ihrer Bedenken gegen die Ausweitung der staatsanwaltschaftlichen Zuständigkeit in erster Linie die Frage einer unzulässigen Einschränkung des Legalitätsprinzips nimmt, beurteilt sie die Rechtsnatur des § 153 a nicht grundsätzlich anders15 • Selbst dort, wo die neuen Kompetenzen des Staatsanwalts als übertragung richterlicher Befugnisse aufgefaßt werden, wird dies nicht BVerfGE 22, 125 ff. (133). Vgl. die Nachw. in § 1, Fn. 97. So steht z. B. für Dencker im Vordergrund seiner Kritik an der Zurückdrängung der Gerichte die Tatsache, daß die Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft im Anwendungsbereich des § 248 a StGB durch den Ausschluß des Klageerzwingungsverfahrens nicht gerichtlich überprüft werden kann und damit die Einhaltung der Grenzen des Legalitätsprinzips der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist. Daß dem Verletzten noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben werde, "auch nur einen Mitentscheid des Gerichts zur Sache einzuholen", werde zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Justiz führen (JZ 1973, 147). Die befürwortenden Stellungnahmen im Schrifttum zu § 153 a übernehmen allerdings meistens nicht die Sichtweise der Entwürfe, sondern begnügen sich mit der Feststellung einer weiteren Einschränkung des Legalitätsprinzips. So Blankenburg I Sessar I Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 7, 327 ff.; Blei, JA 1973, 672 und 689; Eckl, JR 1975, 101 f.; Geerds, Festschr. Dreher, S. 551; Herrmann, JuS 1976, 417; Hünerjeld, ZStW 90 (1978), 916, 921; Jescheck, AT, S. 691; 100 Jahre österreichischer Strafprozeß, S. 50; Festschr. R. Lange, S. 382; Meyer-Goßner, in: Löwe I Rosenberg, StPO, § 153 a, Rdnr. 1, der anderer14
15
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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unter dem Blickwinkel des Art. 92 GG diskutiert. So weist Hanack, wie schon zitiert, auf die "gravierende Verlagerung richterlicher Kompetenzen auf die Staatsanwaltschaft" hin18, aber schon der Titel seiner Abhandlung "Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform" macht deutlich, vor welchem Hintergrund er diese Feststellung trifft. Kaiser spricht davon, daß "auf diese Weise herkömmlich dem Strafrichter zugedachte Aufgaben ganz oder teilweise in die Hand der Staatsanwaltschaft übergehen" werden und führt zuvor § 153 a als Beispiel dafür an, daß Strafzumessungsfragen im Vorverfahren eine Rolle spielen. Er fährt jedoch fort: "Aber die Verlagerung vom Legalitätsprinzip zum Opportunitätsprinzip birgt doch ihre eigenen Schwierigkeiten17." Blankenburg urteilt ähnlich: "Auf diese Weise (sc. im Verfahren nach § 153 a) werden herkömmlich dem Strafrichter zugedachte Aufgaben der Sanktionszumessung in die Hand der Staatsanwaltschaft übergehen.... Hierin ist eine Verlagerung vom Legalitätsprinzip zum Opportunitätsprinzip zu sehen, die dogmatisch einige Schwierigkeiten bereitet18• " Die Sanktionskompetenz des Staatsanwaltes gemäß § 153 a wird also als Korrelat einer Ausweitung des Opportunitätsprinzips aufgefaßt, ihre Zulässigkeit mithin davon abhängig gemacht, ob der Gesetzgeber diese Ausweitung vornehmen durfte. seits aber auch die Charakterisierung Nauckes übernimmt; Peters, Der neue Strafprozeß, S. 100 f.; Strafprozeß und Reform, S. 95; Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 114, der aber auch von einer besonderen, dem materiellen Recht fremden Sanktionsform spricht; Schäfer, Strafprozeßrecht, Kap. 13 Rdnr. 29. Im Sinne der Entwürfe Weigend, Anklagepflicht, S. 182 f. Weigend verfolgt zwar teilweise eine ähnliche Fragestellung wie unsere Untersuchung (vgl. Anklagepflicht, S. 49 ff.; 78 ff.), aber für ihn besteht kein Zweifel, daß § 153 a als Verfahrenseinstellung nach dem Opportunitätsprinzip zutreffend charakterisiert ist (S. 14, 35, 80, 182 ff.), und er prüft daher, ob und in welcher Ausgestaltung das Opportunitätsprinzip mit Art. 92 GG kollidieren kann (S. 54 f., 80f.).
18 Festschr. Gallas, S. 363; vgl. aber auch seine dort getroffene Feststellung, daß die Vorschrift "im Grunde und in der Sache eine neuartige Form strafrechtlicher Sanktionen" einführt. 17 Strategien, S. 83. 18 KrimJ 1973, 193. Vgl. jetzt auch Blankenburg / Sessar / Steifen, Staatsanwaltschaft, S. 7, 327 ff. Dort wird zwar gesehen, daß § 153 a dem Staatsanwalt "quasi-richterliche Befugnisse" zur Sanktionsverhängung gibt (S. 7), die Autoren sprechen sogar von einer "Umverteilung der Sanktionsverantwortung" , durch die der Staatsanwalt im Bereich der unteren und mittleren Kriminalität "die Kriminalisierungsprozesse eigenverantwortlich gestaltet" (S. 331). Dies wird aber als Ausdruck einer vom "Gesetzgeber gestützten Reformulierung des Legalitätsprinzips" (S. 322), einer "Gesetzesreform des Verfolgungszwanges" (S. 330) und Ausweitung des Opportunitätsprinzips (S. 7, 332) verstanden. Die faktische übernahme richterlicher Aufgaben wird allenthalben konstatiert, aber nicht unter dem Aspekt des Art. 92 GG problematisiert.
• Kausch
1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
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Zwar wird bisweilen gesehen, daß die Einordnung unter das Legalitätsprinzip zu kurz greift. So schreibt Jung 19 : "Erkauft wurde die prozessuale Lösung (sc. des Problems der Bagatellkriminalität) mit einem Zuwachs an Befugnissen der Staatsanwaltschaft, die mit dem Stichwort Opportunitätsprinzip nicht hinreichend charakterisiert ist. Denn hier geht es darum, daß der Staatsanwalt damit in die Lage versetzt wird, Maßnahmen zu verhängen, was bislang allein dem Richter vorbehalten war." Und Naucke stellt fest20 : "Es trifft die Sache kaum, wenn man davon ausgeht, die §§ 153, 153 a schränkten das Legalitätsprinzip ein. Diese Bestimmungen setzen neben das vom Legalitätsprinzip abhängig bleibende Verfahren ein neues Verfahren, das anderen Regeln als dem Legalitätsprinzip folgt." Aber beide leiten aus ihren Einsichten keine expliziten Fragen an die verfassungsrechtliche Legitimation dieser Neuerung ab. Wenn schließlich R. Schmitt die Auffassung vertritt, die §§ 153, 153 a widersprächen "jedenfalls dem Geist von Art. 92 GG"21, so weist das zwar in die Richtung unserer Untersuchung, aber er bezieht diese Feststellung unterschiedslos auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren, das Strafbefehlsverfahren und auf § 153 a. 2. Der SanktionsdJ.arakter der RedJ.tsfolgen nadJ. § 153 a
In der Tat, bei näherer Betrachtung erweist sich die Auffassung, § 153 a sei eine weitere Ausprägung des Opportunitätsprinzips als höchst anfechtbar. Denn muß man nicht fragen, ob eine Sanktion der in § 153 a vorgesehenen Art überhaupt mit einer Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip vereinbar ist? Hat es überhaupt noch Sinn, in einem solchen Fall von "Einstellung" zu reden? Stehen die Auflagen und Weisungen nicht so sehr im Vordergrund, daß die Beendigung des Verfahrens nach § 153 a dadurch eine ganz neue Qualität erhält, die sie mit den herkömmlichen Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153 ff. nicht mehr vergleichbar macht? Mit anderen Worten: Beinhaltet eine Einstellung aufgrund des Opportunitätsprinzips nicht prinzipiell einen Verzicht auf Sanktionen jeglicher Art22 ? Kronzeuge, S. 50 f. Gutachten, D 28. 21 ZStW 89 (1977), 641. 22 Dabei sollen die faktische Beschwer, die die Einstellung gegenüber einem Freispruch darstellen kann, und die Tatsache, daß der Beschuldigte seine notwendigen Auslagen vor Klageerhebung selbst tragen muß und sie auch danach nur in dem durch die §§ 467 Abs. 4, 467 a Abs. 1 S. 2 bestimmten Rahmen ersetzt verlangen kann, nicht als Sanktion verstanden werden, da beides jedenfalls keine gezielte Reaktion auf eine Normverletzung ist. 19 20
§ 2. § 153 a -
nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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Solchen Fragen ließe sich entgegenhalten, daß die Auflagen und Weisungen nach § 153 a ihrem Wesen nach keine Sanktionen seien und im übrigen auch nicht weiter ins Gewicht fielen, so daß sie keinen Einfluß auf die Rechtsnatur der mit ihnen verbundenen Einstellung nehmen könnten. In dieser Richtung argumentiert denn auch eine Reihe von Befürwortern der Neuregelung, wenngleich im Bezug auf andere Bedenken. Darauf soll vorab eingegangen werden, einmal weil die Frage nach der Vereinbarkeit von Sanktionen mit dem Opportunitätsprinzip für unseren Zusammenhang nur relevant wird, wenn der bisher ohne weiteres unterstellte Sanktionscharakter der Maßnahmen nach § 153 a auch tatsächlich besteht, zum anderen weil sich nur sö Überschneidungen beider Fragenkomplexe vermeiden lassen.
a) Die Auffassung, § 153 a enthalte keine Sanktionsfolgen Dreher führt bei der Erörterung von Bedenken Denckers, § 153 a verstoße gegen die Unschuldsvermutung der MRK23, folgendes an, das auch auf unsere Fragestellung zugeschnitten sein könnte24 : "Die Auflagen sind auch keine Strafen. Das gilt bei richtigem Verständnis schon für die Auflagen nach § 24 a StGB; denn zum Wesen staatlicher Strafen gehört es, daß sie notfalls mit Zwangsmitteln vollstreckt werden können. Wie bei § 24 a StGB ist es auch bei § 153 a. Dencker spricht denn auch nicht von Strafen, sondern greift einen ,falschen Zungenschlag' der Entwurfsbegründung auf, wo von einer ,Sanktion' die Rede ist. Dieser Begriff wäre bei den Auflagen des § 24 a StGB möglich, der eine Schuldfeststellung voraussetzt und von ,Genugtuung für das begangene Unrecht' spricht. Doch so dürfen die Auflagen des § 153 a nicht verstanden werden. Sie sind keine Sanktionen, die für eine möglicherweise gar nicht begangene Tat verhängt werden, sondern freiwillige Leistungen, die das Interesse an weiterer Strafverfolgung entfallen lassen. Den Richter kann man dabei entbehren. Volenti non fit uniuria." Im gleichen Zusammenhang meint auch der Sonderausschuß25: "Die mit ihr (sc. der Einstellung nach § 153 a) verbundene Auflage oder Weisung steht einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion nicht gleich, da der Angeschuldigte sie freiwillig erfüllt." Etwas vorsichtiger, wenngleich in derselben Richtung, äußert sich Kleinknecht: § 153 a beinhalte ein Verfahren "ohne Verzicht auf Sanktionen, aber ohne Strafe und Vorbestraftsein"26. Und an anderer Stelle27 : 23
Dencker, JZ 1973, 149.
Festschr. Welzel, S. 938 f. 1. Bericht, BT-Drucks. 7/1261, S. 28; ihm folgend Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 7; ähnlich auch Hünerfeld, ZStW 90 24 25
(1978), 920. 26 27
••
StPO, § 153 a, Rdnr. 2. Rdnr. 12.
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
"Da der Beschuldigte aber zustimmen muß und die Erfüllung auch dann noch unterlassen kann, wenn er der vorläufigen Einstellung zugestimmt hatte, handelt es sich nicht um ,strafähnliche Sanktion' (Ber. EGStGB S.28). Es handelt sich um ein Beendigungsverfahren mit Selbstunterwerfung, wobei besonders die Auflagen Sanktionscharakter haben. Denn sie sind ,Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen', wie sich aus § 56 b III StGB und § 23 II JGG ergibt. ce Zur Auflage, einen Geldbetrag an die Staatskasse zu zahlen, erläutert Kleinknecht, daß "die Geldzahlung hier als Sanktion an die Stelle der Geldstrafe tritt"28. Schließlich heißt es zur Begründung, daß die Anwendung des § 153 a die Ahndung derselben Tat als Ordnungswidrigkeit ausschließe, § 153 a sei zwar "keine Strafverhängung" . Aber "es handelt sich bei der Anwendung des § 153 a um eine Art Sachentscheidung mit strafrechtlicher Sanktion. Diese ist zwar nicht ,Strafe'; dennoch kann sich die Kompensierung des öffentlichen Interesses an der Verfolgung durch die Auflagen und Weisungen nur auf die ganze Tat beziehen"29. Diese Erläuterungen versuchen zwar noch, den Standpunkt des Sonderausschusses zu übernehmen, lassen aber indirekt dessen Unhaltbarkeit erkennen. So ist zwar richtig, daß die Rechtsfolgen des § 153 a keine Kriminalstrafen sind und nicht zu einer Vorstrafe führen. Aber die Behauptung, diese Rechtsfolgen seien nicht "strafähnlich", kann nicht einleuchten, wenn zugleich von ihnen ausgesagt wird, sie seien "strafrechtliche Sanktionen", dienten "der Genugtuung für das begangene Unrecht" und die Auflage, einen Geldbetrag an die Staatskasse zu zahlen, trete "als Sanktion an die Stelle einer Geldstrafe". Der Hinweis auf § 56 b Abs. 3 StGB und § 23 Abs. 2 JGG80 vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil eine diesen Vorschriften entsprechende Möglichkeit, daß an die Stelle der vom Richter festgesetzten Auflagen das Anerbieten einer angemessenen Leistung durch den Beschuldigten tritt, in § 153 a gerade nicht vorgesehen ist. In der Praxis mag es allerdings in manchen Fällen nicht auf eine einseitige Festsetzung durch den Staatsanwalt, sondern auf einen "Handel" zwischen ihm und dem Beschuldigten hinauslaufen, aber diese Form der "Freiwilligkeit" dürfte kaum gemeint sein.
Drehers Unterscheidung zwischen Bewährungsauflagen, denen man den Titel "Sanktion" allenfalls zubilligen könne, und Auflagen nach § 153 a, bei denen dies nicht möglich sei, läßt sich nicht halten. Die Auflagen nach § 153 a sind - das wurde schon dargelegt - praktisch mit den Bewährungsauflagen identisch.
28 Rdnr.19. 28 Rdnr.35. 30 Vgl. das oben wiedergebene Zitat (Fn. 27).
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b) Der Zweck der Bewährungsauflagen
Zunächst zum Zweck der Bewährungsauflagen. Diese sollen "der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen" (§ 56 b Abs. 1 S. 1 StGB). Damit ist nicht in erster Linie, wie es dem ursprünglichen Wortsinn entspräche, die Genugtuung des durch die Straftat VerletztenSl gemeint. Vielmehr steht im Vordergrund die Übernahme der "Ausgleichsfunktion"32 bzw. "eines Teils der Sühnefunktion" der Strafe33, wodurch "in der Rechtsgemeinschaft ein Gefühl der Befriedigung" hervorgerufen wird34 : Formulierungen, die gewöhnlich dazu dienen, den Strafzweck der Vergeltung zu umschreiben35• Die Bewährungsauflagen verfolgen also Strafzwecke38 . Ganz besonders gilt das für die Auflage, einen Geldbetrag an die Staatskasse zu zahlen, die einer Geldstrafe für praktisch gleich erachtet wird37 • Damit ist das ursprünglich vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, mittels der Auflagen Hilfe bei der Resozialisierung zu bieten38, zugunsten der Aufgabe, Ersatz für die repressive Funktion 81 Zum ursprünglichen Inhalt des Begriffs "Genugtuung" vgl. Niemeyer, Genugtuung, S. 38 ff., m. w. Nachw. 3! Jescheck, AT, S. 679, der von der Verstärkung der Ausgleichsfunktion der Strafe spricht, die bei der Strafaussetzung zur Bewährung andernfalls nur auf Schuld- und Strafausspruch beschränkt sei. 33 Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, 18. Aufl., § 56 b Rdnr. 1; ähnlich 20. Aufl., Rdnr. 4 ("Ausgleich für begangenes Unrecht"; die Auflagen nach Abs. 2 Nr. 2, 3 seien "eine echte Reaktion auf die Straftat"). U Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, 19. Aufl., § 56 b Rdnr. 4; vgl. weiter Dreher / Tröndle, StGB, § 56 b Rdnr. 1 ("gewisser sühnender Charakter"); Koffka, in: LK, StGB, 9. Aufl., § 24 a Rdnr. 2 ("Wiederherstellung des Rechtsfriedens"); Maurach I Zipf, AT 2, S. 513 ("sühneartige Einwirkung"); vgl. weiter AE, AT, Begründung zu § 41 ("Wiederherstellung des Rechtsfriedens"). 35 Vgl. Jescheck, AT, S. 51 ff. Nach noch immer herrschender Meinung ist Vergeltung ein notwendiges Konstituens für jede Strafe (zum Meinungsstand, Jescheck, AT, S. 59 ff.), so daß dadurch der Strafcharakter am sichersten angezeigt wird. Dazu, daß damit zugleich general- und spezialpräventive Funktionen mit abgedeckt werden, vgl. Jescheck AT, S. 59 ff.; dazu, daß Vergeltung und Sühne nicht identisch sind, sich sogar ausschließen können, vgl. Stratenwerth, AT, Rdnr. 32. Die neuere Entwicklung tendiert allerdings dazu, den Vergeltungsgedanken zugunsten vor allem spezialpräventiver Ziele zurücktreten zu lassen; vgl. dazu Stree, in: Schönke I Schröder, StGB, 18. Aufl., Vorbem. § 38 Rdnr. 22. 38 Baumann, AT, S. 728 ("Pönalcharakter"); Horn, in: SK, StGB, § 56 b Rdnr. 2; Lackner, StGB, § 56 b Anm. 1 ("strafähnliche Maßnahmen"); Niemeyer, Genugtuung, S. 53 ("Ersatz für die Sühnefunktion der öffentlichen Strafe"); Schmidhäuser, AT, Rdnr. 21/10 ("verkappte Ersatzstrafen") und die in Anm. 32 - 34 Genannten. 37 Baumann, GA 1958, 198 ("Quasigeldstrafe"); Dreher, StGB, § 56 b Rdnr. 7 ("rückt die Zahlung in bedenkliche Nähe zur Geldstrafe"); Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, § 56 b Rdnr. 12 ("Funktion einer Geldstrafe"); Schmidhäuser, AT, Rdnr. 21/11 ("ein Unterschied zur Geldstrafe kaum mehr sichtbar"). 88 Entwurf eines 3. Strafrechtsänderungsgesetzes (Strafrechtsbereinigungsgesetz), BT-Drucks. 1/3713, S. 29; Pentz, NJW 1956, 1867 ff. Dabei ist allerdings
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der Kriminalstrafe zu sein, zurückgetreten39• Auslöser für diesen Funktionswandel ist das Bedürfnis der Praxis, beim betroffenen Täter wie in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermeiden, Strafaussetzung zur Bewährung bedeute praktisch Straffreiheit und sei gegenüber einer Geldstrafe die mildere Sanktion40 , dem sie durch einer Geldstrafe äuqivalente Auflagen Rechnung trägt. Das erklärt auch, warum die häufigste Auflage die zur Zahlung eines Geldbetrages ist41 •
c) Der Zweck der Rechtsfolgen des § 153 a Bei den Auflagen nach § 153 a liegt es nicht grundsätzlich anders. Daraus, daß § 153 a die "Genugtuung für das begangene Unrecht" nicht ausdrücklich erwähnt, läßt sich kein Unterschied herleiten42 • Denn, daß mit ihnen Strafzwecke verfolgt werden, ergibt sich schon daraus, daß sie geeignet sein müssen, "das öffentliche Interesse an der Strafverfolzu berücksichtigen, daß § 24 StGB a. F. noch nicht zwischen Auflagen und Weisungen trennte, während die Resozialisierung heute vor allem durch die Weisungen nach § 56 c StGB gefördert werden sollen. Dafür, daß die Auflagen immer noch Resozialisierung bewirken sollen, LG Bremen, NJW 1971, 153 f. 31
Vgl. auch SA Strafrecht, 5. Wahlp., Prot., S. 2153 und die Begründung zu
§ 41 AE, AT.
Händel, JR 1955, 377; NJW 1957,1019; Sydow, Strafaussetzung, S. 43. So die Ergebnisse der Untersuchung von Sydow, Strafaussetzung, S. 43. Darüber hinaus behalf sich die Rechtsprechung mit der Auflage einer Geldzahlung bei Tatbeständen, die nur Freiheitsstrafe zuließen, wenn eine solche im Einzelfall eine unangemessene Härte dargestellt hätte. Es handelte 'sich um die Fälle, bei denen die Straftat mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 3 Monaten bedroht war, so daß § 27 b StGB a. F. eine Umwandlung in eine Geldstrafe nicht mehr zuließ. Krümpelmann (Bagatelldelikte, S. 189) beschreibt das Vorgehen der Rechtsprechung folgendermaßen: "Die Praxis hat versucht, diese Konsequenz in gewissem Umfang zu vermeiden. Sie bedient sich dabei des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung. Die geringste zulässige Gefängnisstrafe wird ausgesprochen, zur Bewährung ausgesetzt und dem Täter nach § 24 StGB eine Geldbuße auferlegt, die dem wirklichen Unrechtsgehalt der Tat entspricht. Die Praxis macht von dieser Möglichseit sehr häufig Gebrauch." Deutlicher kann die strafgleiche Wirkung der Geldzahlungen nicht zum Ausdruck kommen. § 47 Abs. 2 StGB n. F. (und ebenso schon § 14 Abs. 2 StGB i. d. F. des 1. StrRG) hat die Notwendigkeit solcher Auswege beseitigt. 41 Darauf stellt Meyer-Goßner (in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 7) ab, wenn er betont, daß die Auflagen des § 153 a keine Sanktion strafähnlicher Art seien. Die "Genugtuung für das begangene Unrecht" in § 153 a ausdrücklich zu erwähnen, war deshalb nicht erforderlich, weil dieser Gesichtspunkt in dem öffentlichen Interesse, dem durch die Auflagen entsprochen werden soll, bereits enthalten ist. Denn das öffentliche Interesse ist hier ein Sammelbegriff für alle Strafzwecke. Gegen die Auffassung Meyer-Goßners läßt sich auch noch folgendes anführen: § 59 StGB verweist auf die Vorschriften über die Bewährungsauflagen (§ 59 a Abs. 2 StGB). Das Verfahren nach § 153 a Abs. 1 soll jedoch nach den Intentionen des Gesetzgebers das Vorgehen nach § 59 StGB verdrängen. Das setzt aber eine gleichwertige Funktion der Rechtsfolgen beider Vorschriften voraus. 40 41
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gung zu beseitigen". Dieses "öffentliche Interesse" ist ja zunächst identisch mit dem in § 153 Gemeinten43 , besteht also in Spezial- und Generalprävention wie auch in "allgemeinen Belangen des Rechtsfriedens"44. Daß es um Strafzwecke geht, ist im Grunde auch die Meinung der Entwürfe, wenn sie ausführen, § 153 a solle dann eingreifen, wenn nicht nach § 153 eingestellt werden könne, weil es "nicht zu verantworten ist, den Beschuldigten gänzlich ohne Reaktion auf die ihm vorgeworfene Tat davonkommen zu lassen"45, weil "das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung erst durch eine irgendwie geartete Sanktion wegfällt"48. Daß der Gesetzgeber mit § 153 a eine Sanktion schaffen wollte, zeigt sich deutlich auch an folgendem: Der Sonderausschuß hat die Frage diskutiert, ob man gemäß einem Vorschlag von Baumann die Bagatelldelikte im Bereich der Vermögenskriminalität in Ordnungswidrigkeiten umwandeln solle, und hat dies mit folgender Begründung abgelehnt47 : "Vor allem erreicht der Entwurf durch den Ausbau der strafprozessualen Möglichkeiten einen ähnlichen Effekt auf einem Wege, der geeigneter erscheint als die Schaffung von Ordnungswidrigkeitentatbeständen. Der Entwurf läßt nämlich durch das neue Institut des vorläufigen Absehens von der öffentlichen Klage unter einer Auflage in § 153 a StPO eine Sanktion ohne strafrechtliche Verurteilung zu, und zwar durch die Staatsanwaltschaft als der für die Aufklärung und Beurteilung solcher Fälle denkbar besten ,Bußgeldbehörde'. Demgegenüber erscheint es problematisch, die Funktion einer Bußgeldbehörde etwa den kommunalen Ordnungsbehörden zu übertragen." Die Auflagen nach § 153 a sollen also wenigstens die Sanktionswirkung haben, die den Geldbußen nach dem OWiG zugeschrieben werden, mit dem Staatsanwalt als der "denkbar besten Bußgeldbehörde" . Bedenkt man weiterhin, daß es in der Einleitung zum Entwurf des EGStGB heißt, daß "nach dem historischen Gesamtzusammenhang in der deutschen Gesetzgebung unter dem herkömmlichen Begriff ,Strafen' auch die ,Geldbußen' einzuordnen sind, die neuerdings bei bestimmten Verhaltensweisen anstelle der früher vorgesehene ,Strafen' angedroht sind"48 43 Kleinknecht, StPO, § 153 a Rdnr. 3; Meyer-Goßner, in: Löwe I Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 18; über die dabei vorzunehmenden Differenzierungen vgl. Hanack, Festschr. Gallas, S. 353 und u. § 6, 2. Cf Hanack, Festschr. Gallas, S. 354; h. M.; vgl. die Nachw. in Fn. 24, 25 zu
§ 6.
45 BT-Drucks. VI/3478, S. 47; 7/551, S. 44; ähnlich 7/550, S. 298; VI/3478, S. 73 ("wenn nicht von vornherein auf jede Sanktion verzichtet werden kann"); 7/551, S. 69. 48 BT-Drucks. VI/3250, S. 285; vgl. auch SA Strafrecht, 7. Wahlp., Prot., S. 404 f.; 1. Bericht, BT-Drucks. 7/1261, S. 36. 47 7. Wahlp., Prot., S. 281.
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dann kann an dem Sanktionscharakter der "Auflagen nach § 153 a eigentlich ke~n Zweifel bestehen"'II. d) Die nFreiwilligkeit" der Bewährungsauflagen und der Auflagen nach § 153 a
Die Tatsache, daß weder die Bewährungsauflagen noch die Auflagen nach § 153 a zwangsweise durchgesetzt werden können, hebt weder deren Sanktionscharakter auf, noch begründet sie die "Freiwilligkeit" der Auflagenerfüllung. Die jeweilige Alternative, Vollzug der Freiheitsstrafe bzw. Durchführung eines Strafverfahrens mit der Aussicht auf eine möglicherweise härtere Strafe als die Auflage, üben genug Druck aus, um die von Dreher apostrophierte "Freiwilligkeit" als Fiktion zu erweisenso. Dies zeigt schon ein Blick auf die Sachverhalte, in denen in bezug auf den Nötigungstatbestand eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch Drohung gesehen wird. Anders wäre auch die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Bewährungsauflagen nach § 24 StGB a. F. nicht zu verstehen. Die 48 BT-Drucks. 7/550, S. 194. Diese Ausführungen werden gemacht, um zu belegen, daß die Bundesrepublik durch die Umwandlungen mancher Straftatbestände in Ordnungswidrigkeiten nicht gegen die in internationalen Verträgen eingegangenen Verpflichtungen verstoße, bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen. Vgl. im übrigen auch Cramer, Unfallprophylaxe, S. 22, wo es zusammenfassend über die "Sanktionsziele der Geldbußen des OWiG" heißt: "So gewinnt heute auch die Ansicht an Boden, daß die Geldbuße im wesentlichen dieselben Zwecke verfolgt, wie die Strafe, wenn auch mit anderer Akzentuierung. Auch in der Begründung zum EOWiG wird der Geldbuße repressive und präventive Funktion zuerkannt." •• Für die Landesjustizverwaltungen und die Generalstaatsanwälte besteht an dem Sanktionscharakter der Auflagen offenbar kein Zweifel. So heißt es in einem Rundschreiben des Bayer. Staatsministeriums der Justiz vom 17. Mai 1976: "Wird als Auflage eine Geldzahlung vorgesehen (§ 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO),· so soll sie grundsätzlich der Höhe nach der Geldstrafe entsprechen, die im Falle einer Anklageerhebung beantragt würde." Ähnliche Anweisungen finden sich auch in anderen Richtlinien. Der Sanktionscharakter der Rechtsfolgen des § 153 a wird inzwischen auch von einigen Befürwortern der Vorschrift ohne Einschränkung konzediert. Vgl. Rieft, Strafprozeß und Reform, S. 114: " ... der Sache nach eine besondere, dem materiellen Strafrecht fremde Sanktionsform"; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 7: "faktisch handelt es sich hierbei um Sanktionen, ohne (einstweilen) das Stigma der Vorbelastung". fiO So für die Bewährungsauflagen Bruns, GA 1959, 212; Baumann, AT, 5. Aufl., S. 706 f. Für § 153 a der Sache nach praktisch alle Kritiker, die Bedenken wegen der Ausübung von unzulässigem Druck haben. Vgl. nur Dencker, JZ 1973, 149; Schmidhäuser, JZ 1973, 533; Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 824; Fezer, JR 1976, 98 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 66. Der Sanktionscharakter kann auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß der Beschuldigte den Auflagen und Weisungen zustimmen muß, denn sonst müßte man etwa beim Strafbefehl das Nichterheben des Einspruchs als Zeichen der Freiwilligkeit werten und die durch Strafbefehl verhängten Strafen nicht als Sanktionen ansehen. Entsprechendes gilt für jedes
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Generalklausel des § 24 StGB a. F., die den Inhalt der Bewährungsauflagen völlig in das Ermessen des Richters stellte, ist mit der Begründung angegriffen worden, sie verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG und könne auch zu unzulässigen Grundrechtseinschränkungen führen 51 • Handelte es sich wirklich um "freiwillige" Leistungen und nicht um staatlich auferlegte Rechtsfolgen, dann käme eine Kollision mit den erwähnten Verfassungsnormen nicht in Betracht. Der Gesetzgeber hat aber diese Bedenken so ernst genommen, daß er ihnen mit der nunmehr abschließenden Aufzählung der Auflagen in § 56 b StGB Rechnung zu tragen versuchteS!. Das Argument der Freiwilligkeit hat schon bei der Rechtfertigung der "Anregung" zu einer Leistung unter Inaussichtstellung einer Einstellung nach § 153 eine Rolle gespielt53 • Konnte schon damals von Freiwilligkeit im Ernst keine Rede sein, so ist dies bei § 153 a, gemäß dem die Staatsanwaltschaft die Auflage "auferlegt", erst recht nicht der Fall. Fassen wir zusammen: Mit den Auflagen nach § 153 a werden Strafzwecke verfolgt. Sie mögen zwar, für sich genommen, keine Strafen im Sinne echter Kriminalstrafen sein. Sie sind aber staatliche Reaktionen auf vorwerfbar begangenes strafbares Unrecht, mithin strafrechtliche Sanktionen und, da sie so reibungslos die Funktion von Kriminalstrafen übernehmen können, jedenfalls "strafähnlich". Eine Sonderstellung nimmt allerdings die auf § 170 b StGB zugeschnittenea& Weisung nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 ein, Unterhaltspflichten in einer bestimmten Höhe nachzukommen. Kann man schon an der Strafwürdigkeit des von § 170 b StGB erfaßten Verhaltens zweifeln55 , so gilt dies erst recht für die Eignung des Strafrechts, den Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten zu sichern. Kommt es zu einer Bestrafung, so wird nämlich die Situation derer, die die Vorschrift schützen soll, nur verschlechtert. Eine Freiheitsstrafe führt faktisch zum Verlust jeglicher Einkommensquelle des Unterhaltsverpflichteten, und eine Geldstrafe verringert die Mittel, die für die Unterhaltsleistungen zur Verfügung stehen5B• Die Praxis behilft sich vielfach damit, daß sie eine Freiheitsstrafe verhängt, um sie zur Bewährung aussetzen zu können, was mit einer Weisung nach § 56 c Abs. 2 Nr. 5 StGB verbunden wird in der Hoffnung, der drohende Widerruf der Strafaussetzung werde andere Unterwerfungsverfahren. Die Beispiele zeigen,· daß die Frage einer angeblichen "Freiwilligkeit" keine angemessene Kategorie zur Bestimmung des Sanktionscharakters ist. . 51 Baumann, AT, 5. Aufl., S. 706 m. w. Nachw.; Bruns, NJW 1959, 1395; Schönke I Schröder, StGB, 14. Aufl., § 24 Rdnr. 2. 51 VgI. dazu StTee, in: Schönke f Schröder, StGB, § 56 b Rdnr. 15; dort auch dazu, daß ähnliche Bedenken gegen § 56 b Abs. 2 Nr. 3 StGB fortbestehen. 53 VgI. o. § 1, 4. b) bb). 54 VgI. Dreher f Tröndle, StGB, § 56 c Rdnr. 9; Stree, in: Schönke f Schröder, StGB, § 56 c Rdnr. 22; Kleinknecht, StPO, § 153 a Rdnr. 22. 55 VgI. Seebode, JZ 1972, 389 f. m. w. Nachw. 5e Seebode, JZ 1972, 391 m. w. Nachw.
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zur Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen führen 57 • Dem sind aber richtiger Ansicht nach durch § 47 StGB Grenzen gesetzt58 Hier bietet sich als Ersatz § 153 a Abs. 1 Nr. 4 an, der insoweit ähnliche Möglichkeiten wie die ausgesetzte Freiheitsstrafe in Verbindung mit § 56 c Abs. 2 Nr. 5 StGB eröffnet59 • Mit den wegen einer Verletzung des § 170 b StGB verhängten Rechtsfolgen, insbesondere mit den am wenigsten bedenklichen Weisungen, sei es nach § 56 c Abs. 2 Nr. 5 StGB oder nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4, werden in der Tat keine Strafzwecke verfolgt, sondern es wird Druck zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ausgeübt; das Strafverfahren wird zum Mittel der Zwangsvollstreckung und soll darüber hinaus den Fiskus, der für den nichtzahlenden Unterhaltspflichtigen einzuspringen verpflichtet ist, schützen60 • Das Vorgehen nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 ist sicherlich den den Schutz des Unterhaltsberechtigten in sein Gegenteil verkehrenden echten Kriminalstrafen vorzuziehen. Es bleibt aber abzuwarten, ob die Anzahl der nichterfüllten Weisungen ähnlich hoch ist wie bei § 56 c Abs. 2 Nr. 5 StGB, wo die Widerrufsquote zwischen 50 - 80 % liegtst • Wenn durch § 153 a die krasse Ungeeignetheit der bisherigen strafrechtlichen Reaktionen, den Schutzzweck des § 170 b StGB zu erfüllen, mehr oder weniger verdeckt wird, so besteht Gefahr, daß man sich dabei beruhigt und die Frage, ob es sich bei § 170 b StGB überhaupt um ein strafwürdiges Verhalten handelt, zumindest aber der Tatbestand erheblich eingegrenzt werden müßte und ob nicht vielmehr andere Maßnahmen nichtstrafrechtlicher Art die sozial wie juristisch angemessenere Lösung wären, aus dem Blickfeld gerätS!. 3. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhingung
Mit dem Argument, die Rechtsfolgen des § 153 a enthielten keine Sanktionen, läßt sich also die Frage, ob eine Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip nicht grundsätzlich einen Sanktionsverzicht enthalte, nicht umgehen. Seebode, JZ 1972, 392. Vgl. die Auseinandersetzung Seebodes mit der gegenteiligen Ansicht von Horstkotte, JZ 1972, 392. Die Strafverfolgungsstatistik verzeichnet für § 170 b StGB zwischen 1974 und 1975 einen sprunghaften Rückgang sowohl der Aburteilungen wie der der Verurteilungen. So betrug die Zahl der Aburteilungen 1974: 16663, 1975: 14055. und 1978: 14695. Die entsprechenden Zahlen für die Verurteilungen lauten: 1974 13042 1976 10491 11 005 1978 10029 1975 (Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Strafverfolgungsstatistik 1974 ff.) Dieser Rückgang läßt sich am besten mit der Anwendung des § 153 a erklären, da ein entsprechender Rückgang im Bereich der registrierten Straftaten nicht vorliegt. Dafür spricht auch, daß nach der Untersuchung von Ahrens die Unterhaltspflichtverletzungen mit 13,5 % aller Einstellungen gern. § 153 a Abs. 2 (also durch das Gericht) nach der fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr die zweithäufigste Einstellungsquote haben (Einstellung S. 82 f.). Die Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft dürfte ähnlich sein. 88 Seebode, JZ 1972, 393 m. w. Nachw. It Seebode, JZ 1972, 392. 8! Vgl. Seebode, JZ 1972, 393 f. 57
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a) Keine Verbindung von Einstellung und Sanktionen nach bisherigem Recht
Ein erster Blick auf den bisherigen Rechtszustand scheint die Zweifel an der Zulässigkeit der Verbindung von Sanktionen mit einer auf das Opportunitätsprinzip gegründeten Einstellung zu bestätigen. Denn in nahezu allen Fällen, die nach bisherigem Recht als Anwendungsbereich des Opportunitätsprinzips gelten, enthält die Verfahrenseinstellung' immer zugleich einen SanktionsverzichtG3. Eine Ausnahme scheinen nur die gebührenpflichtige Verwarnung nach § 22 StVG a. F. und die Verfahrensbeendigung nach § 45 Abs. 1 JGG zu machen. Doch auch dies sind nur bei oberflächlicher Betrachtung Ausnahmen. aal § 22 StVG Nach § 22 StVG a. F.G4 konnten bei leichteren Verkehrsübertretungen hierzu ermächtigte Polizeibeamte den auf frischer Tat betroffenen Täter verwarnen und eine Gebühr bis zu 5,- DM erheben. Die Handlung konnte danach nicht mehr als Übertretung bestraft werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in der bereits angeführten Entscheidung85 eine Verletzung des Art. 92 GG durch § 22 StVG a. F. mit der Begründung verneint, die gebührenpflichtige Verwarnung stelle keine Kriminalstrafe dar, sondern sei als Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip zu bewerten88 • Bei näherem Zusehen erweist sich jedoch gerade diese Begründung als Bestätigung unserer These. Das Gericht hat nämlich der gebührenpflichtigen Verwarnung die Eigenschaft einer Kriminalstrafe aus Gründen abgesprochen, die ihren Sanktionscharak": ter schlechthin verneinen. Es stellt in erster Linie darauf ab, daß die gebührenpflichtige Verwarnung im Gegensatz zu einer Geldstrafe wirtschaftlich kaum ins Gewicht falle und daher für den Betroffenen so gut wie nicht fühlbar sei, da ihr Höchstbetrag nur 5,- DM betrage. Ihr stehe zudem eine Leistung der Verwaltung gegenüber, so daß sie eher einer Verwaltungsgebühr als einer Strafe gleichzusetzen sei87• Ob der gebührenpflichtigen Verwarnung wirklich jede Sanktionseigenschaft abgeht88, mag dahinstehen. In unserem Zusammenhang ist allein ent-
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§§ 153, 153 b - 154 d, 376; § 47 OWiG. § 22 StVG in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung des Straßenver-
87
E 22, 131 f.
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kehrs vom 19. Dez. 1952 (BGBl. I, S. 832) und des Gesetzes über die Maßnahmen auf dem Gebiet des Verkehrsrechts und des Verkehrshaftpflichtrechts vom 16. Juli 1957 (BGBl. I, S. 710). 85 BVerfGE 22,125 ff.; vgl. o. S. 48. 88 E 22, 131 ff. 88
Für Sanktionscharakter nach dem damaligen Rechtszustand Bode, DAR
1956, 174 ff.; Hagedorn, DÖV 1966, 409.
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scheidend, daß das Gericht gerade daraus die Qualifizierung als Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip ableitet89• Die Rechtsfolgen des § 153 a sind aber gerade keine solche "quantite negligeable". Sie sollen fühlbar sein, wie sich aus dem, was bereits über die mit ihnen verfolgten Strafzwecke ausgeführt wurde, ergibt, und sie sind es auch, wenn man bedenkt, daß der Höhe der Geldleistungen vom Gesetz keine Grenzen gesetzt sind 70 und die Praxis bei der Anwendung nicht gerade zurückhaltend verfährt71 • bb) §§ 45, 47 JGG Die §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG enthalten eine dem § 153 a in mancher Hinsicht vergleichbare Regelung72 • Sie gestattet, anstelle einer .. Inzwischen ist der Höchstbetrag des Verwarnungsgeldes auf 20,- DM
(§ 56 Abs. 1 OWiG) bzw. auf 40,- DM (§ 27 Abs. 1 StVG) heraufgesetzt
worden, so daß, folgt man dem Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts, eine Deklarierung als Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip nicht mehr in Betracht kommt, da kaum noch davon gesprochen werden kann, daß das Verwarnungsgeld wirtschaftlich nicht fühlbar sei. Da jedoch die gebührenpflichtige Verwarnung mittlerweile nur noch im Ordnungswidrigkeitenrecht zulässig ist, taucht das Problem einer möglichen Kollision mit dem Richtermonopol des Art. 92 GG nicht mehr auf. Das Gesetz selbst spricht nicht von einer Einstellung und gibt auch sonst keinen Hinweis für eine rechtliche Einordnung der gebührenpflichtigen Verwarnung. Da sowohl für die Einstellung wie für die Erhebung eines Verwarnungsgeldes wie auch für den Erlaß des Bußgeldbescheides zunächst die Verwaltungsbehörden zuständig sind und an dieser Zuständigkeit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Bedenken bestehen, wird die Frage nach der Rechtsnatur der gebührenpflichtigen Verwarnung unter dem hier erörterten Blickwinkel nicht relevant und ist daher auch so gut wie nicht erörtert worden. Unabhängig davon setzt sich jedoch allmählich die Einsicht durch, "daß das Verwarnungsgeld eine besondere Ahndungsmöglichkeit darstellt, wobei das Verwarnungsgeld als eine Art Geldbuße aufzufassen ist" (Cramer, Grundbegriffe des Ordnungswidrigkeitenrechts, Rdnr. 124, m. w. Nachw.). Das schließt, da die Geldbuße die Regelsanktion im Ordnungswidrigkeitenrecht darstellt, die Einschätzung der gebührenpflichtigen Verwarnung als Einstellung aus. Das ist aber auch das Ergebnis, zu dem man angesichts der Änderung der Höchstbeträge nach der hier vertretenen Auffassung kommen müßte. 70 Kleinknecht, StPO, § 153 a Rdnr. 19. 71 So berichtet Weinmann (Referat zu §§ 153, 153 aStPO, S. 5 f.): "Die Höhe der Buße wurde durchweg nach der Höhe der Geldstrafe bemessen, die im Falle eines Strafbefehls beantragt worden wäre. ... Die Geldbußauflagen durch die Gerichte liegen naturgemäß höher. Zum Teil wurden - insbesondere in Verfahren wegen Vergehens gegen das Wasserhaushaltsgesetz bzw. Steuerhinterziehung - ganz erhebliche Geldbußen (z. B. 50 000 bzw. 75 000,DM) verhängt, die willig bezahlt wurden." Vgl. auch den Einstellungsbeschluß des AG Bielefeld vom 7.7.1975 (nach einem Bericht in der "Neuen Westfälischen" vom 11.7.1975), in dem wegen eines (offenbar nicht ganz sicher erwiesenen) Verstoßes gegen das Lebensmittelrecht eine Geldzahlung von 20 000,- DM auferlegt wurde. 7Z SO sieht Kaiser, Strategien, S. 82, § 45 JGG als Vorbild für § 153 a an, was allerdings, wie sich aus der dargestellten Vorgeschichte ergibt, nicht der Fall ist.
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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"Ahndung durch Urteil" dem Jugendlichen Auflagen zu erteilen (allerdings nur durch den Richter!). Diese Möglichkeit wird zwar häufig ohne nähere Begründung dem Opportunitätsprinzip zugeordnet73• Brunner spricht dagegen zutreffend davon, daß hier nicht das Opportunitätsprinzip, sondern das "Subsidiaritätsprinzip" zur Anwendung komme7'. Die Gründe für die Richtigkeit dieser Auffassung können allerdings erst anhand der folgenden Erörterung dargelegt werden. Es zeigt sich also, daß dem bisherigen Recht eine Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip in Verbindung mit einer Sanktion unbekannt ist. Damit ist allerdings noch nicht der Beweis erbracht, daß dies notwendig so sein müsse. Endgültige Klarheit kann erst eine Analyse des Verhältnisses von Opportunitätsprinzip, Einstellung und Verfahrensbeendigung nach § 153 abringen. b) Die aus dem Opportunitätsprinzip ableitbaren Befugnisse
Das Gesetz gibt keine Definition des Opportunitätsprinzips. Es wird daher gewöhnlich als Ausnahme des in § 152 Abs. 2 verankerten Legalitätsprinzips bestimmt76 • § 152 Abs. 2 statuiert die grundsätzliche Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung aller strafbaren Handlungen, für die zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Daneben kennt das Gesetz eine Reihe von Fällen, in denen an die Stelle der Verfolgungspflicht das mehr oder weniger eingeschränkte Ermessen der Staatsanwaltschaft darüber tritt, ob sie die Strafverfolgung aufnimmt oder unterläßt. Diese Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft trotz an sich bestehender Verfolgungsvoraussetzungen über das "Ob" der Strafverfolgung eigens entscheiden muß, werden herkömmlich unter dem Begriff des Opportunitätsprinzips zusammengefaßt. Das Opportunitätsprinzip gestattet also ein Unterlassen, nämlich das Nichtverfolgen. Dieses Unterlassen muß einen formellen Ausdruck finden, um Klarheit auch für den Beschuldigten zu schaffen, und führt daher zur Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft bzw. zum Einstellungsbeschluß des Gerichts. Die Verfahrenseinstellung ist also die Bekundung des - möglicherweise nur vorläufigen78 - Verzichts auf 73
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So z. B. Kleinknecht, StPO, § 152 Rdnr. 8 f. BTunneT, JGG, § 45 Anm. 2 a, § 47 Anm. 1 c. Auch hier gilt, daß, da die
Erteilung der Auflagen nur durch den Richter erfolgen darf, die Frage nach dem Rechtscharakter der Verfahrensbeendigung nicht besonders relevant wird. 76 SchäfeT, Strafprozeßrecht, Kap. 13 Rdnr. 27; h. M. 78 Zum unterschiedlichen Strafklageverbrauch bei staatsanwaltschaftlicher Einstellungsverfügung und Gerichtsbeschluß vgl. Kleinknecht, StPO, § 153 Rdnr.38.
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1. Teil:
Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
(weitere) Verfolgung' und damit auf Sanktionen irgendwelcher Art77 • Das Opportunitätsprinzip gestattet nur eine solche Unterlassung und seine Bekundung, mehr nicht. Dies ist wenigstens so lange zwingend, wie man seine wesentliche formale Charakterisierung in der Ausnahme von der Verfolgungspflicht sieht. Denn Ausnahmen von einer Rechtspflicht können nur dazu berechtigen, die Handlungen, die den Inhalt der Pflicht ausmachen, zu unterlassen, geben aber nicht selbst die Kompetenz zu weiteren Handlungen. Von einer Erweiterung des Anwendungsbereichs des Opportunitätsprinzips kann daher nur gesprochen werden, wenn der Kreis der Fälle vermehrt wird, in denen die Staatsanwaltschaft trotz des Vorliegens der sonstigen Verfolgungsvoraussetzungen über das Ob der Strafverfolgung zu entscheiden hat. Genau das ist aber bei der Anwendung des § 153 a nicht der Fall. Hier bezieht sich das Ermessen der Staatsanwaltschaft darauf, ob sie anklagt oder eine Sankti~m nach § 153 a veJ;"hängt, nicht aber darauf, ob überhaupt jede Sanktion entfallen soll. Einstellung bedeutet hier nicht einfach ein Unterlassen der Strafverfolgung, sondern deren Beendigung durch und nach der Verhängung einer Sanktion. Der Titel "Einstellung" für ein Verfahren, das mit einer Sanktion endet, ist schlicht ein "Etikettenschwindel"78. Aber wie ist die Vorschrift dann zu qualifizieren? 77 Zutreffend bezeichnet daher eramer (Festschr. Maurach, S. 490) die Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip als "Verzicht auf eine Sanktion". 78 Es ließe sich natürlich argumentieren: Die StPO kennt nur zwei Arten, ein Strafverfahren zu beenden: durch Einstellung (die allerdings auch einmal die Form eines Urteils annehmen kann, § 260 Abs. 3) oder durch ein sachentscheidendes Urteil (bzw. durch den einem Urteil gleichstehenden Strafbefehl, § 410, der formell nur ein Beschluß ist). Da die Verfahrensbeendigung durch § 153 a nicht durch ein sachentscheidendes Urteil bzw. eine diesem gleichstehende Entscheidung erfolgt, kann sie nur eine Einstellung sein. Das wäre aber ein voreiliger Schluß, denn zuvor wäre zu klären, ob Rechtsfolgen, wie sie § 153 a vorsieht, nicht nur durch Urteil auferlegt werden dürfen. Wichtiger ist die Frage, ob mit § 153 a nicht eine Form der Verfahrensbeendigung geschaffen worden ist, die weder Urteil noch Einstellung, sondern ein Drittes ist, und ob damit nicht ein ganz neuer Verfahrenstypus eingeführt worden ist, dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung und den allgemeinen Prinzipien unseres Strafverfahrens eigens dargelegt werden müßte. Denkbar wäre auch die Behauptung: Entscheidendes Kriterium für das Opportunitätsprinzip ist nicht die Ausnahme vom Legalitätsprinzip - das ist eine zu formale Betrachtungsweise -, sondern, daß es Ermessensentscheidungen unter Berücksichtigung bestimmter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte zuläßt. Bei den bisherigen Fällen des Opportunitätsprinzips war Gegenstand der Ermessensentscheidung die Frage, ob überhaupt eine Strafverfolgung stattfinden soll. Jetzt hat der Gesetzgeber eine Ausweitung auf die Frage vorgenommen, ob Anklage erhoben oder nach § 153 a vorgegangen werden soll. Eine solche Argumentation wäre jedoch nicht haltbar. Denn das Ermessen, um das es in § 153 a geht, bezieht sich auf Art und Maß einer Sanktion. Es ist daher nicht grundsätzlich verschieden vom Strafzumessungsermessen des Richters. Mit gleichem Recht ließe sich daher behaupten, die Strafzumessung
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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keine rein prozessuale Lösung der BagatellkriminaHtät
c) § 153 a -
Es ist schon dargestellt worden, daß man zwischen einer materiellrechtlichen und einer prozessualen Lösung des Problems der Bagatellkriminalität unterscheidet79 • § 153 a gilt als die Weiterführung der bereits durch § 153 vorliegenden prozessualen Lösung. Dieser Einordnung liegt der vor allem von Peters herausgestellte Gedanke zugrunde, daß gewisse kriminalpolitische Ziele sowohl auf dem Wege des materiellen als auch des formellen Strafrechts zu erreichen seien, daß also prozeßrechtliche Vorschriften ein funktionales Äquivalent für materiellrechtliche Regelungen sein könnten. Sein wichtigster Beleg ist § 153, über den die Aussonderung von nichtstrafwürdigem Unrecht e~folge, eine Funktion, die im materiellen Recht entweder eine restriktive Fassung der Straftatbestände und/oder eine Vorschrift, die das Absehen von Strafe ermögliche, übernehme 80• Die prozessuale Lösung des § 153 habe dabei den Vorzug der größeren FlexibilitätS1 • Diese Flexibilität war jedoch nur in bezug auf die völlige Sanktionslosigkeit gegeben. Häufiger jedoch als Sanktionslosigkeit können Strafmilderungen in Form einer nicht-kriminalstrafrechtlichen Reaktion an~ gebracht sein, für die das bisherige Recht keine Möglichkeit bot. Hier nun soll durch § 153 a Abhilfe und zugleich Ersatz für die entfallenen materiellrechtlichen Milderungsmöglichkeiten geschaffen werden. Damit ist jedoch der Boden verlassen, auf dem sinnvoll von einer prozessualen Lösung in Form einer Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip gesprochen werden kann. Zwar ist die materiellrechtliche Aufwertung der kleinen Vermögenskriminalität eine klare Absage an eine explizite materiellrechtliche Lösung. Aber der zum Ausgleich geschaffene § 153 a ist kein rein prozessualer Weg. Es handelt sich vielmehr "im Grunde und in der Sache um eine neuartige Form der strafdurch den Richter sei ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips. Damit wäre dann nichts mehr ausgesagt. Außerdem wäre zu prüfen, ob die Zweckmäßigkeitserwägungen, die das Opportunitätsprinzip zuläßt, alle bei der Strafzumessung eine Rolle spielen dürfen. Vor allem ließen sich dann aus der bisherigen Zuständigkeit des Staatsanwaltes für die Verfahrenseinstellungen nach dem Opportunitätsprinzip keinerlei Schlüsse auf die Zulässigkeit der Kompetenzen für so völlig anders geartete Aufgaben wie die Verhängung einer Sanktion herleiten. Denn die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinstellung nach dem Opportunitätsprinzip, wie sie das bisherige Recht vorsieht, ist ja nur deshalb unbedenklich, weil der Staatsanwalt dabei keine Sanktionen verhängt. 78 Vgl. § 1, 1. c) und die in § 1 Fn. 40 gegebenen Nachw. 80 Peters, ZStW 68 (1956), 374 ff., 394 ff.; Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S, 18 ff.; Festschr. Welzel, S. 417. 81 Peters, ZStW 68 (1956), 394; Cramer, Festschr. Maurach, S. 496.
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1. Teil:
Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
rechtlichen Sanktion"82, um ein, wenn auch verkapptes, eigenständiges Reaktionssystem für den Bereich der Kleinkriminalität und um einen neuen, selbständigen Verfahrenstypus mit eigenen gerichtsverfassungsrechtlichen Zuständigkeiten83, in dem diese neuen Sanktionen durchgesetzt werden. Ein eigenständiges Reaktionssystem ist ein typischer Bestandteil der meisten materiellrechtlichen Lösungsversuche, und es gehört auch der Sache nach in das materielle Recht. Die Einstellung in das Prozeßrecht kann die sachliche Zugehörigkeit zum materiellen Recht nicht aufheben8'. Diese "prozessuale Lösung" enthält also entscheidende Elemente der materiellrechtlichen, ohne allerdings daraus Konsequenzen zu ziehen. Zwar ist damit das hauptsächliche Dilemma einer rein prozessualen Lösung, wie sie etwa in § 153 vorliegt, nämlich das Fehlen von Strafmilderungsmöglichkeiten, beseitigt. Aber es kann von einer Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip keine Rede mehr sein. Indirekt hat das Bundesverfassungsgericht die Richtigkeit dieser überlegungen in der bereits mehrfach herangezogenen Entscheidung zur Zulässigkeit der gebührenpflichtigen Verwarnung bestätigt. Es hat dort nämlich ausgeführt, der Gesetzgeber könne die "mindergewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbestände" ohne Verstoß gegen Art. 92 GG in Ordnungswidrigkeiten umwandeln oder, "solange sie zum Strafrecht gehören, statt des Legalitätsprinzips das Opportunitätsprinzip anwenden"85. Die Überführung in den Bereich einer minderschweren Sanktionsart und die Unterstellung unter das Opportunitätsprinzip sind also Alternativen. Derselbe Vorgang kann daher nicht zugleich Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung sein, auch dann nicht, wenn die Sanktion keine Kriminalstrafe ist88 . Jetzt wird auch klar, warum die §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht als Fall des Opportunitätsprinzips gelten können. Denn auch hier 8! Hanack, Festschr. Gallas, S. 363. Ähnlich Dencker, JZ 1973, 146, 150; Hirsch, Festschr. Lange, S. 828. 8a Naucke, Gutachten, D 28.
84 Zwar gibt es materiellrechtliche Vorschriften in verfahrensrechtlichen Gesetzen und umgekehrt oder die Zusammenfassung beider in einem Gesetz, wie es beim JGG der Fall ist. Die Trennung beider Rechtsgebiete ist rechtsgeschichtlich auch erst relativ jung. Aber mit der Bezeichnung "prozeßrechtliche Lösung" und der Einordnung als Einstellung soll ja gesagt werden, daß es sich dabei um ein genuin prozeßrechtliches Institut handelt. Auf diese Weise werden Zuständigkeiten legitimiert bzw. die Legitimationsfrage erst gar nicht gestellt, die so nicht zu begründen sind. 85 BVerfGE 22, 125 ff. (133). 88 Damit ist nicht gesagt, daß eine materiellrechtliche und eine prozessuale Lösung nicht nebeneinander bestehen könnten, wie es im bisherigen Recht mit § 153 einerseits und Privilegierungen und dem Deliktstypus "Übertretung" andererseits der Fall war und wie es im Ordnungswidrigkeitenrecht insgesamt weiter der Fall ist.
§ 2. § 153 a - nur ein Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips?
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wird ja nicht von Verfolgungsmaßnahmen gänzlich abgesehen, sondern an die Stelle einer für zu schwerwiegend befundenen Sanktionsform tritt eine weniger einschneidende. 4. Zusammenfassung und Folgerungen
Damit können wir eine erste Bilanz ziehen: Nach dem bisherigen Diskussionsstand mußte man zu der Auffassung gelangen, durch § 153 a werde lediglich der Anwendungsbereich des Opportunitätsprinzips erweitert. So versuchen die Regierungsentwürfe den Eindruck zu erwecken, es bestehe kein prinzipieller Unterschied zwischen einer VerfahrenseinsteIlung nach § 153 und einer Verfahrensbeendigung nach § 153 a. Auch das Schrifttum erörtert die erweiterten Kompetenzen des Staatsanwaltes in erster Linie unter dem Gesichtspunkt, ob damit eine unzulässige Einschränkung des Legalitätsprinzips verbunden sei. Diese Auffassung, die dazu führte, daß die Frage der Vereinbarkeit der neuen Vorschrift mit Art. 92 GG erst gar nicht ins Blickfeld geriet, hält jedoch, wie sich gezeigt hat, einer genaueren Prüfung nicht stand. Eigentliche Rechtsfolge des § 153 a ist nicht die Einstellung des Verfahrens, sondern das Verhängen von Strafzwecken dienenden Sanktionen in Gestalt der Auflagen und Weisungen 87 • Damit sind aber die Grenzen des durch das Opportunitätsprinzip eröffneten Handlungsspielraums überschritten. Denn dieses ermächtigt nur dazu, Ausnahmen vom Legalitätsprinzip zu machen, also unter bestimmten Voraussetzungen die Strafverfolgung zu unterlassen, nicht aber, an deren Stelle andere Sanktionen zu setzen. Die durch § 153 a der Staatsanwaltschaft verliehenen Kompetenzen sind also nicht schon dann legitimiert, wenn gezeigt wird, daß es zulässig wäre, die von dieser Vorschrift erfaßten strafbaren Handlungen dem Opportunitätsprinzip zu unterstellen. Die eingangs gestellte Frage, ob der Staatsanwalt bei einem Vorgehen nach § 153 a nicht "Strafgerichtsbarkeit" ausübt, läßt sich also nicht einfach damit abtun, daß er dabei ja nur eine Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip vornehme und somit nur ein weiteres Mal Befugnisse ausübe, die ihm in anderen vergleichbaren Fällen schon zuständen, denn eine solche Vergleichbarkeit ist hier nicht gegeben. Fragt man danach, wie es zu solchen Aussagen über die Rechtsnatur des § 153 a in den Entwurfsbegründungen kommen konnte, so scheint es zunächst, als hätten sich die Entwurfsverfasser durch die schiefe Perspektive der Begründungen, mit denen die Praxis die Zulässigkeit von Einstellungen unter Auflagen schon vor Erlaß des § 153 a zu rechtfertigen versuchte, auf eine falsche Fährte locken lassen. Aber es ist 87 Bezüglich der Besonderheiten für die Weisung nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 vgl. allerdings o. S. 57 f.
5 Kausch
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
genug gegen dieses Verfahren vorgetragen worden, das nicht lediglich das Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigung rügte, als daß die Entwurfsverfasser nicht hätten stutzig werden müssen. Die wenig geschickten Verschleierungsmanöver, deren sich die Entwurfsbegründungen bedienen, um die Auswirkungen der Neuregelung zu verharmlosen, lassen den Verdacht aufkommen, daß man durchaus einen Begriff von der Tragweite der Vorschrift hatte und lediglich durch eine falsche Etikettierung den Versuch unternahm, dem Problem des Art. 92 GG und den rechtsstaatlichen Anforderungen, die sich aus der faktischen Einführung einer neuen Sanktionsform für Kleinkriminalität ergeben, auszuweichen, um eine Auseinandersetzung zu umgehen, die immerhin die Unzulässigkeit der mit § 153 a gesetzten Regelung zum Ergebnis haben könnte. Aus dem Ergebnis dieses Abschnittes folgt jedoch nicht, daß die im Schrifttum unter dem Stichwort "Einschränkung des Legalitätsprinzips" erörterten Bedenken für die Beurteilung des § 153 a irrelevant sind, sondern nur, daß das Legalitätsprinzip nicht der entscheidende Gesichtspunkt für die Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der neuen staatsanwaltschaftlichen Kompetenz sein kann88 •
§ 3. Richterliche Zustimmung als Rechtsprechung? Will der Staatsanwalt nach § 153 a vorgehen, so ist mit Ausnahme der in § 153 Abs. 1 S. 2 aufgeführten Fälle die Zustimmung des Gerichts erforderlich. Damit ist eine gewisse Beteiligung des Gerichts an der staatsanwaltlichen Entscheidung gesichert. 88 Es ist allerdings bezeichnend, daß die Autoren, die in der erweiterten Kompetenz des Staatsanwaltes in erster Linie eine Einschränkung des Legalitätsprinzips erblicken, über die Formulierung von Bedenken und eines allgemeinen Unbehagens nicht hinausgelangt sind und die Frage der Zulässigkeit unter diesem Gesichtspunkt letztlich unentschieden lassen. Das ist im Grunde nicht weiter verwunderlich. Denn einmal ist umstritten, welches die letzten Endes nur aus der Verfassung zu begründenden Kriterien für die Grenzen sind, die dem Opportunitätsprinzip durch das Legalitätsprinzip gesetzt sind (vgl. einerseits Heyden, Opportunitätsprinzip, S. 13 ff., und andererseits Faller, Festgabe Maunz, S. 71 ff. sowie neuerdings Jung, Kronzeuge, S. 54 ff. und Weigand, Anklagepflicht, S. 70 ff.). Außerdem haben die kriminologischen Forschungen über die verborgene Delinquenz (Dunkelfeld) und über Selektionsmechanismen bei den Strafverfolgungsorganen, so unzulänglich sie derzeit noch sein mögen, gezeigt, daß von einer den Forderungen des Legalitätsprinzips gerecht werdenden umfassenden, lückenlosen und gleichmäßigen Verfolgung der Kriminalität nicht die Rede sein kann, so daß im Vordergrund der derzeitigen wissenschaftlichen Bemühungen eine Neubestimmung des Inhaltes des Legalitätsprinzips steht, die diesen Tatsachen Rechnung trägt, ohne vor ihnen gänzlich zu kapitulieren. Vgl. dazu nur Zipf, Festschr. Peters, S. 487 ff.; Roxin, Kriminologische Gegenwartsfragen, S. 16 ff.; Sessar, Kriminologische Gegenwartsfragen, S. 156 ff.; Weigend, Anklagepflicht, S. 40 ff., 167 ff.; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 320 ff.
§ 3. Richterliche Zustimmung als Rechtsprechung?
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Es fragt sich daher, ob den Anforderungen des Art. 92 GG nicht durch dieses "Vetorecht" Genüge getan ist, kann das Gericht dadurch ja jede in seinen Augen unzulässige Entscheidung verhindern und so stets das letzte Wort behalten. Trifft dies zu, braucht man die Frage nach der Rechtsnatur der Entscheidungen nach § 153 a nicht weiter zu verfolgen. Es muß dann lediglich geprüft werden, ob das Zustimmungserfordernis auf die bisher davon ausgenommenen Fälle auszudehnen ist. Mit dem Erfordernis einer richterlichen Zustimmung ist es jedoch im Anwendungsbereich des Art. 92 GG nicht getan. Diese Vorschrift verlangt vielmehr, daß eine "rechtsprechende" Entscheidung allein und in allen Punkten vom Richter getroffen wird. Das bedeutet im einzelnen folgendes: (1) Rechtsprechende Organe entsprechen Art. 92 GG nur, wenn ihre sämtlichen Mitglieder Richter1 im Sinne des IX. Abschnittes des Grundgesetzes sind2 • Art. 92 GG schließt daher solche Organe aus, in denen Richter nur zusammen mit Angehörigen der Legislative oder Exekutive oder zusammen mit Privatleuten entscheidungsbefugt sind'. Erst recht unzulässig ist dann ein Entscheidungsprozeß, bei dem der Richter schon gar nicht an der primären Entscheidungsfindung beteiligt ist, sondern lediglich zu deren Ergebnis durch Zustimmung oder Ablehnung Stellung nehmen kann. 1
Zu den Bestimmungsmerkmalen des Richterbegriffs nach dem GG vgl.
HeTzog, in: Maunz / DüTig, GG, Art. 92 Rdnr. 72 ff. 2 HeTzog, Art. 92 Rdnr. 100. 3 HeTzog, a.a.O.; vgl. auch Habscheid, MDR 1966, 2 und BVerfGE 12,
264 ff. (274). Das läßt sich auch nicht durch einen Hinweis auf § 153 Abs. 2 S. 1 n. F. (der dem § 153 Abs. 3 a. F. entspricht) widerlegen. Die dort unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft zu treffende Entscheidung ist nicht apriori ein Akt der Rechtsprechung, so daß sie gemäß Art. 92 GG nur vom Richter getroffen werden könnte. Dennoch ist die Zuweisung zu gemeinsamer Entscheidung durch Richter und Staatsanwalt verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Denn Art. 92 GG verlangt, daß der Gesetzgeber, wenn er den Gerichten Aufgaben überträgt, die zwar nicht Rechtsprechung im materiellen Sinn, aber auch nicht bloße Justizverwaltungsakte sind, das Verfahren in derselben Weise ausgestaltet wie bei genuiner Rechtsprechung (BVerfGE 22, 49 ff. (78); 25, 336 ff. (346); HeTzog, a.a.O., Rdnr. 60). Das legt sich hier schon deshalb nahe, weil der Entscheidung nach § 153 Abs. 2, anders als der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft, eine, wenn auch beschränkte Rechtskraft zukommt, was damit begründet wird, daß es sich um eine richterliche Sachentscheidung handele (Kleinknecht, StPO, § 153 Rdnr. 38). Über weitere, in dieselbe Richtung weisende Bedenken gegen das Zustimmungserfordernis vgl. Roesen, NJW 1958, 1814 ff.; CTameT, Festschr. MauTach, S. 487 ff.; DTiendl, ÖJZ 1979, 342. Vgl. aber auch Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 44 ff., der daraus die Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit für den Staatsanwalt ableitet. 5'
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv,orbehalt
(2) Unvereinbar mit Art. 92 GG ist auch, daß Grundlage für die Zustimmung des Gerichts immer nur die Prüfung sein kann, ob die Staatsanwaltschaft das Recht richtig auf den von ihr ermittelten Sachverhalt angewandt hat, d. h. ob das Ermittlungsergebnis die Annahme von "geringer Schuld" rechtfertigt und ob die von der Staatsanwaltschaft verhängten Sanktionen das "öffentliche Interesse an der Strafverfolgung" zu beseitigen vermögen4 • Die Richtigkeit des ihm unterbreiteten Sachverhalts dagegen kann das Gericht bei einer derart beiläufigen Beteiligung am Verfahren, die eigene Ermittlungsmöglichkeiten nicht vorsieht, nicht überprüfen. Die zutreffende Sachverhaltsermittlung ist aber eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine gerechte Entscheidung. Sie erfordert nicht weniger den unabhängigen Richter als die eigentliche Rechtsanwendung5 • Das ergibt sich schon aus der Sorgfalt, mit der die einzelnen Verfahrensordnungen, insbesondere aber die StPO, die Beweiserhebung geregelt haben. Im Strafverfahren kommt ihr aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes noch eine gesteigerte Bedeutung zu. Rechtsprechung ist immer zugleich (der Sachverhaltsfeststellung dienender) "Wahrspruch" und "Rechtspruch"8. Daher gehört zu den Garantien, die Art. 92 GG durch die Übertragung der "rechtsprechenden Gewalt" auf unabhängige Richter gewährleisten will, auch, daß der einer rechtsprechenden Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt durch ein unabhängiges Gericht festgestellt wird7 • So hat das Bundesverfassungsgericht für Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG entschieden, daß dem Erfordernis einer richterlichen "Entscheidung" bei Freiheitsentziehungen nur Genüge getan ist, wenn lIder Richter in vollem Umfang die Verantwortung für die Maßnahme übernimmt"8. Für Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gilt, daß der durch diese Vorschrift gewährleistete Rechtsweg "die vollständige Nachprüfung des Verwaltungsaktes in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ermöglichen" muß und daß "das Gericht an die von der Verwaltungsbehörde getroffenen Fest4 Dazu, daß auch das "öffentliche Interesse" Gegenstand der Zustimmung ist, vgl. Weber, NJW 1966, 1244. Weber bezieht sich zwar auf § 153 Abs. 2 a. F., seine überlegungen sind aber sinngemäß auf § 153 a Abs. 1 zu übertragen. 5 Dabei soll hier die von der neueren Methodologie herausgearbeitete Interdependenz von Sachverhaltsfeststellung und Normanwendung gar nicht einmal berücksichtigt werden. Vgl. dazu Esser, Vorverständnis, S. 43 ff. , Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 14; Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 14 ff. 7 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Rdnr. 67; JZ 1967, 286. 8 BVerfGE 10, 302 ff. (310, 329, 330); 22, 311 ff. (318); ähnlich Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 104 Rdnr. 28; Menger / Erichsen, VerwArch 59 (1968), 73 f.; für den Fall der Umwandlung einer nicht vom Richter verhängten Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe ebenso Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 92, S. 21 Fn. 3.
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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stellungen nicht gebunden ist"'. Entsprechendes muß aber für jeden anderen Akt erstinstanzlicher Rechtsprechung gelten, soweit er eine Tatsachenfeststellung voraussetztl°. Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, daß zumindest im Strafbefehlsverfahren Rechtsprechung ohne richterliche Tatsachenfeststellung stattfinde. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, im Strafbefehlsverfahren treffe "der Richter grundsätzlich keine eigenen Tatsachenund Schuldfeststellungen", sondern unterstelle den im Strafbefehlsantrag behaupteten Sachverhalt als wahr, und dies deshalb für zulässig gehalten, weil summarische Verfahren nun einmal mit Unzulänglichkeiten behaftet seien, man auf sie aber nicht verzichten könne 11 • Diese Auffassung ist unhaltbar. Soweit nach § 402 Abs. 2 a. F. Freiheitsstrafen verhängt werden durften, widerspricht sie schon der gerade dargelegten Auslegung des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG durch dasselbe Gericht. Darüber hinaus widerspricht sie dem Grundsatz, daß Strafe Schuld und Schuldfeststellung voraussetzt12, verstößt gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK13 und ist auch unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs äußerst bedenklich14. Das aber bedeutet: Soll des Strafbefehlsverfahren nicht dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit verfallen, dann muß es dem Richter die Möglichkeit zur eigenen Üherzeugungsbildung über die Tat- und Schuldfrage gewähren, wenngleich nicht notwendig auf dem für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Weg15. Dem versucht ein Teil des Schrifttums wenigstens dadurch Rechnung zu tragen, daß es dem Amtsrichter die Berechtigung zuspricht, in besonders gelagerten Fällen auch einmal eigene Ermittlungen anzustellenlB, und im übrigen darauf verweist, daß er ja bei dadurch nicht behobenen oder sonstigen Bedenken gemäß § 408 Abs. 2 Hauptverhandlung anzuberaumen habe17. Ob das allerdings ausreicht, bleibt durchaus zweifelhaft18. 9 BVerfGE 15, 275 ff. (282); 8, 203 ff. (212); Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 47; BFH NJW 1955, 967 ff. 10 Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 92 Rdnr. 67: " ... daß einer Rechtsweggarantie und erst recht einem Richtervorbehalt nur dann Rechnung getragen ist, wenn nicht nur die Rechtsanwendung durch die anderen Staatsorgane, sondern auch der von ihnen zugrunde gelegte Sachverhalt von einem unabhängigen Gericht überprüft werden kann". 11 BVerfGE 3, 248 ff. (253); ebenso E 25, 158 ff. (165). 12 BVerfGE 9, 167 ff. (169); 20, 323 ff. (331), wonach der Grundsatz "nulla poena sine culpa" den Rang eines Verfassungsrechtssatzes hat. 13 Vogler, ZStW 82 (1970), 767. 14 Eser, JZ 1966, 660 ff. 15 Vgl. dazu Schäfer, in: Löwe / Rosenberg, Stpo, 23. Aufl., § 407 Rdnr. 61; Schorn, Strafbefehlsverfahren, S. 45 ff. l' Schäfer, a.a.O., § 408 Rdnr. 25; Peters, Strafprozeß, S. 491; Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 325. 17 Koffka, JR 1969, 431; Müller, in: Müller-Sax, stPO, Vorb. I zu § 407; Schäfer, a.a.O., § 407 Anm. 12 c m. w. Nachw. 18 Vgl. dazu vor allem die Ausführungen Esers, JZ 1966, 660 ff., der allerdings in erster Linie auf das nicht oder unzureichend gewährte rechtliche Gehör abstellt. Vgl. weiter die generellen Einwände gegen das Strafbefehlsverfahren bei R. Schmitt, ZStW 89 (1977), 641 und bei Hünerfeld, ZStW 90 (1978), 923 ff. Beachtenswerte Reformvorschläge bei Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 132 f.
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv,orbehalt
Durch die Notwendigkeit der richterlichen Zustimmung ist also die Vereinbarkeit von § 153 a mit Art. 92 GG nicht gesichert1 9 • § 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, warum das Problem der Vereinbarkeit von § 153 a mit Art. 92 GG erst gar nicht oder nur andeutungsweise in das Blickfeld selbst der Kritiker der Vorschrift gelangt ist, aber auch, daß diese Fragestellung zu Unrecht ausgespart wird. Denn weder lassen sich die neuen Befugnisse der Staatsanwaltschaft aus dem Opportunitätsprinzip ableiten: die Rechtsfolgen des § 153 a sind vielmehr Sanktionsmittel, die Strafzwecken dienen sollen. Noch kann ein eventuelles Übergreifen der Staatsanwaltschaft in den Aufgabenbereich der Richter dadurch gerechtfertigt werden, daß sie nur mit gerichtlicher Zustimmung handeln darf. Damit sind wir wieder auf die Ausgangsfrage verwiesen: übt der Staatsanwalt, wenn er gemäß § 153 a bisher allein der Kompetenz des Richters vorbehaltene Rechtsfolgen verhängen darf, "Strafgerichtsbarkeit" und damit "Rechtsprechung" i. S. des Art. 92 GG aus? Dazu muß zunächst in den durch unser Thema gesteckten Grenzen auf die Auslegung, die der Begriff "rechtsprechende Gewalt" in Art. 92 GG in Schrifttum und Rechtsprechung erfahren hat, eingegangen werden. 1. Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers über den Aufgabenbereich der Rechtsprechung
Die erste grundlegende Weichenstellung erfolgt bei der Entscheidung für einen formellen oder einen materiellen Rechtsprechungsbegriff. Hinter diesen wenig aussagekräftigen Begriffen verbirgt sich eine für die Gewaltenteilung zentrale Frage: Sind die Aufgaben der Rechtsprechung, der Dritten Gewalt also, grundsätzlich durch die Verfassung festgelegt und damit unentziehbar oder unterliegen sie der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers? Eine rein formelle Auffassung des Begriffs Rechtsprechung liegt daher vor, wenn man als Rechtsprechung nur das ansieht, was den Gerichten durch Gesetz als Aufgabe zugewiesen ist. Art. 92 GG ist dann eine reine Organisationsnorm und die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers über die den Richtern zuzuweisenden Aufgaben nur durch die andernorts im Grundgesetz den Richtern vorbehaltenen Aufgaben beschränkt. In diesem Fall wäre die erweiterte Kompetenz der Staats18 Dazu, daß das Zustimmungserfordernis wenig geeignet ist, auch nur eine gewisse Kontrollwirkung zu entfalten, da in der Praxis die Richter so gut wie nie die Zustimmung verweigern, vgl. Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 113, 245, 316; Kunz, KrimJ 1979, 48 Anm. 16.
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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anwaltschaft kein Problem, § 153 a wäre allein durch seine Gesetzesform als verfassungsrechtlich zulässig ausgewiesen. Eine solche rein formelle Auslegung des Rechtsprechungsbegriffs, wie sie noch für den demArt. 92 GG entsprechenden Art. 103 WRV herrschend wart, läßt sich jedoch für das Grundgesetz nicht mehr vertreten2 • Das ergibt sich aus der Stellung, die die Rechtsprechung im System der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG statuierten Gewaltenteilung einnimmt. Sinn der Gewaltenteilung ist in erster Linie, durch Gewaltentrennung und ein System von Machthemmungen und Machtkontrollen dem Staatsbürger einen möglichst großen Schutz vor staatlicher Willkür zu gewährleisten3 • Das Grundgesetz hält die Gewaltentrennung allerdings 1 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, S. 479; RGZ 107, 323 ff. (324); a. A. wohl A. Arndt, AöR 60, 183 ff., der über die Auslegung des Art. 102 WRV zu einem materiellen Begriff des Richters und der Rechtspflege kommt. 2 Befürworter einer formellen Auslegung des Art. 92 GG finden sich nur vereinzelt. In der Rechtsprechung: BFH NJW 1954, 1422; schwankend BFH NJW 1955, 967 ff.; im Schrifttum: Gossrau, NJW 1959, 929 ff.; Niese, in: Schänke / Schräder / Niese, Zivilprozeßrecht, § 11 IV 3; anders aber ders., in: ZStW 70 (1958), 352; nicht dagegen Zinn, DöV 1949, 278 ff., der immer wieder als Vertreter eines formellen Rechtsprechungsbegriffs bezeichnet wird (so von Gossrau, NJW 1959, 930 Fn. 17; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 79; Mällinger, AöR 80, 279, 282 f.; Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 71). Zwar definiert er Rechtsprechung als "die gesamte durch gerichtliche Organe ausgeübte Tätigkeit, die der Erhaltung der Rechtsordnung dient" (a.a.O., S. 278), was einen formellen Begriff zumindest nicht ausschließt, aber er hebt andererseits immer wieder die Bedeutung der Rechtsprechung im Rahmen der Gewaltenteilung hervor (Schriftlicher Bericht, S. 43) und betont die Position des Richters, der durch das Grundgesetz auf die "Ebene eines verfassungsrechtlichen Organs emporgehoben" sei (DÖV 1949, 280). Diese Feststellung ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil Zinn immerhin Vorsitzender des Rechtspflegeausschusses im Parlamentarischen Rat war. Ausdrücklich für einen formellen Rechtsprechungsbegriff auch die Bundesregierung (d. h. der Bundesminister der Finanzen) in einer dem Bundesverfassungsgericht im Streit um die Zulässigkeit der Strafkompetenzen der Finanzämter vorgelegten Stellungnahme, zitiert in BVerfGE 22, 49 ff. (64 f.). Der Sache nach neuerdings wieder für einen formellen Rechtsprechungsbegriff Herzog (in: Maunz / Dürig, GG, Art. 92 Rdnr. 20 ff.), der zwar betont, daß der Begriff der rechtsprechenden Gewalt, "wenn er überhaupt Sinn haben soll, materiell ausgelegt werden muß" (Rdnr. 42), der aber dem Art. 92 GG jede eigenständige Bedeutung abspricht, indem er ihn als Zusammenfassung der "in anderen Vorschriften des Verfassungs- wie des einfachen Gesetzesrechts ausgesprochenen Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte" (Rdnr. 43) auffaßt. Nicht ganz eindeutig Lorenz, der von einem "formell-inhaltlichen" Begriff der Rechtsprechung spricht (Rechtsschutz des Bürgers, S. 193). Das Wiederaufleben des formellen Rechtsprechungsbegriffs läßt sich nur als Reaktion auf das Scheitern der vielfältigen Definitionsversuche eines übergreifenden materiellen Rechtsprechungsbegriffs verstehen. 3 BVerfGE 3, 225 ff. (247); 7, 183 ff. (188); 9, 268 ff. (279); 22, 106 ff. (110); A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 10 ff.; h. M. Im Schrifttum wird allerdings zum Teil bezweifelt, daß die überkommene Begründung für die Gewaltenteilung auf das Grundgesetz noch ?utrifft. So
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1. Teil:
Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
nicht überall streng ein. Gewaltenüberschneidungen sind zulässig, solange dadurch die "Machthemmung" und "Mäßigung" der Staatsherrschaft nicht beeinträchtigt wird'. Am striktesten ist die Gewaltenteilung jedoch zwischen den beiden ersten Gewalten auf der einen Seite und der Rechtsprechung andererseits durchgeführt5 • Denn die Zuweisung der Rechtsprechungsaufgaben an eine eigenständige Dritte Gewalt ist mehr als nur eine weitere Maßnahme, um durch Beschränkung von Befugnissen Machtzusammenballung zu verhindern. Die entscheidende Funktion der Rechtsprechung im Rahmen der Freiheitssicherung liegt vielmehr darin, daß sie zur Kontrolle von Legislative und Exekutive berufen ist8 • Soweit es um staatliche Eingriffe in die Rechtsstellung des Bürgers geht, geschieht diese Kontrolle dadurch, daß besonders schwerwiegende Eingriffe von vornherein nur durch den Richter vorgenommen werden dürfen (präventive RechtskontrolleF, alle andern aber wenigstens nachträglich auf Verlangen des Betroffenen durch die Gerichte überprüfbar sein müssen (repressive Rechtskontrolle). Das Grundgesetz hat dazu die Stellung der Judikative in einem in der deutschen Verfassungstradition bis dahin unbekannten Maß ausgebaut8 • Mit dieser Stellung und Aufgabe der Rechtsprechung wäre es unvereinbar, wenn die Legislative über den Aufgabenbereich der Dritten sind die vielfachen Gewaltenüberschneidungen für Hesse (Verfassungsrecht, S. 195 ff.) ein Beleg dafür, daß die Funktion der Gewaltenteilung anders interpretiert werden muß. Sie sei "positiv" zu sehen als "eine Ordnung menschlichen Zusammenwirkens ... zur Einheit - begrenzter - staatlicher Gewalt" (a.a.O.). Diese Auffassung und die h. M. können durchaus nebeneinander bestehen. Dennoch ist gegenüber solchen Versuchen, die Notwendigkeit von Kontrolle und Machtbegrenzung als zweitrangig hinzustellen, Skepsis angebracht, da sie die Verhältnisse, auch die in einer Demokratie, mit einem durch geschichtliche Erfahrungen kaum belegbaren Optimismus betrachten. Allerdings ist sicherlich richtig, daß in dem herkömmlichen Gewaltenteilungsdenken die "wichtigsten Faktoren politischer Macht, die sich heute nicht mehr in Legislative und Exekutive verkörpern, namentlich die politischen Parteien" keinen Ort haben (Hesse, a.a.O.). Ähnlich MengeT, der bezüglich der beiden ersten Gewalten das Verblassen "zu einer bloßen Funktionsunterscheidung" konstatiert (Moderner Staat, S. 24), um so nachdrücklicher aber die Kontrollfunktion der Rechtsprechung hervorhebt, ja sogar von einer "Souveränität des Rechts" spricht (a.a.O., S. 25). , BVerfGE 3, 225 ff. (247); 7, 183 ff. (188); 9, 268 ff. (280); vgl. auch die Bedenken von Hesse, S. 195. 5 BVerfGE 10, 200 ff. (216); Dernedde, ZJBl. Brit. Z. 1949, 102; FTiesenhahn, DVBl. 1949, 487 ff.; Hesse, § 14 !Ir; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 76, m. w. Nachw.; Zinnn, DÖV 1949, 278. 8 A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 10; MengeT, Moderner Staat, S. 25. 7 Vgl. etwa Art. 13 Abs. 2; 18; 21 Abs. 2; 104 Abs. 2, 3 GG. 8 Hesse, Verfassungsrecht, S. 201; StTauß, SJZ 1949, Sp. 523 ff. Vgl. auch PR, Schriftlicher Bericht, S. 43.
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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Gewalt zu befinden hätte. Die Kontrolle wäre weitgehend ihrer Wirksamkeit beraubt, wenn eine der kontrollierten Staatsgewalten den Bereich des zu Kontrollierenden festlegen dürfte. Die rechtsstaatlichen Sicherungen zum Schutz des Einzelnen liefen leer und wären vielerlei Manipulationen ausgesetzt, könnte der einfache Gesetzgeber ihre Überwachung der Rechtsprechung entziehen'. Die vom Grundgesetz intendierte Stellung der Rechtsprechung ist daher nur gesichert, wenn über die in zahlreichen Grundgesetznormen einzeln der Rechtsprechung zugewiesenen Zuständigkeiten hinaus ihr Aufgabenbereich insgesamt durch den einfachen Gesetzgeber im wesentlichen unentziehbar ist. Dem hat das Grundgesetz durch die Globalzuweisung des Art. 92 GG Rechnung getragen. Bei der Abfassung dieser Vorschrift ist der Parlamentarische Rat mit der Formulierung "rechtsprechende Gewalt" bewußt von dem in Art. 103 WRV verwendeten Begriff "Gerichtsbarkeit" abgegangen10 , um "gegenüber den nur formellen Kriterien des Art. 103 WRV ein Mehr an verfassungsrechtlichen Garantien"l1 zum Ausdruck zu bringen. Das aber bedeutet: Art. 92 GG hat einen selbständigen materiellen Gehalt1 2 • Andernfalls wäre • v. H eyden, Ordnungsunrecht, S. 80; Kern-Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 14; Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 70, 75. 10 Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 92 Anm. I mit eingehender Darstellung der verschiedenen Entwurfsfassungen; vgl. auch Dernedde, ZJBl. Brit. Z. 1949, 102; Strauß, SJZ 1949, Sp. 524 und die ausführliche Darstellung der entsprechenden Vorschriften in den Länderverfassungen bei MölZinger, AöR 80, 278 ff. 11 BVerfGE 22, 49 ff. (75). 12 h. M.; BVerfGE 22, 49 ff. (74 ff.); 25, 19 ff. (28); A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 9; Baur, DNotZ 1955,511; Bettermann, AöR 92,497; Dernedde, ZJBl. Brit. Z. 1949, 102; FTiesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 21; Hamann / Lenz, GG, Art. 92 Anm. BI; v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, Art. 92 Vorb. 3 a; Möllin\Jer, AöR 80, 285 ff.; Niese, ZStW 70 (1958), 352; Strauß, SJZ 1949, Sp. 525; vgl. ferner die ausführlichen Nachw. bei v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 80 Anm. 1; Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 75 Anm. 321. Damit ist die Stellung der Rechtsprechung im Grundgesetz ungleich stärker als in der WRV oder in der Reichsverfassung vom 16. April 1871. Vergleichbares findet sich erst wieder in der Paulskirchenverfassung von 1848/49. Denn, entgegen der wohl h. M. (Bender, Verfassungsmäßigkeit des Verwaltungsstrafverfahrens, S. 15; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 79 m. w.Nachw.; Möllinger, AöR 80, 277; Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 70; SchmidtBleibtreu / Klein, GG, Art. 92 Rdnr. 2) finden sich dort in den §§ 179, 181 und insbesondere 182 (Abs. 1: "Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte", Abs. 2: "Der Polizei steht keine Strafgewalt zu.") bereits ausgeprägte Ansätze für einen materiellen Rechtsprechungsbegriff, die dann auch Auswirkungen auf die Auslegung der Begriffe "Gerichtsbarkeit" und "Richterliche Gewalt" in den §§ 174, 175 haben müssen. Diese Parallele ist kein Zufall. Parlamentarischer Rat und das Paulskirchenparlament befanden sich in einer ähnlichen Ausgangslage. Sie wollten den negativen Erfahrungen ihrer jüngsten Vergangenheit Rechnung tragen und Vorkehrungen dafür treffen, daß sie sich nicht wiederholen konnten. Zu diesen Erfahrungen gehörten übergriffe in den Zuständigkeits-
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
die Vorschrift auch inhaltsleer, eine bloße Tautologie13, die überflüssige Deklaration der Selbstverständlichkeit, daß Richter ihrem Beruf nachgehen. Das Pathos des Wortes "anvertraut" in Art. 92 GG stünde in einem befremdlichen Gegensatz zu seiner Bedeutungslosigkeit. 2. Der materielle Inhalt des Rerhtsprerhungsbegriffs: Definitionsversuche Aus der Ablehnung des formellen Rechtsprechungsbegriffs ergibt sich demnach: Rechtsprechung wird eine Aufgabe nicht dadurch, daß sie vom Gesetzgeber den Richtern zugewiesen wird, sondern es gilt bereich der Justiz oder deren gänzliche Ausschaltung durch eine übermächtige Exekutive und willkürliche staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheit, aber auch Willkürjustiz durch obrigkeitshörige Richter. Beiden Verfassungsgebern erschien die Stärkung, ja Unangreifbarkeit der richterlichen Stellung als das beste Mittel, solche Erscheinung zu verhindern, was durch richterliche Unabhängigkeit, eindeutige Zuweisung von Kompetenzen und deren Unentziehbarkeit bewerkstelligt werden sollte. Das Grundgesetz geht dann allerdings noch um einiges weiter als die Paulskirchenverfassung durch Verfassungsgerichtsbarkeit, Rechtsweggarantie usw. Die Reichsverfassung von 1871 enthält nur marginale Bestimmungen über die Rechtsprechung. Das hängt in erster Linie damit zusammen, daß die Justizhoheit zunächst Sache der Länder blieb, spiegelt aber zugleich deutlich den gewandelten Zeitgeist wieder. Das Bürgertum hatte seinen Frieden mit den herrschenden Gewalten geschlossen bzw. war selbst zu ihnen aufgerückt und sah sich vom Staat nicht mehr bedroht. Die Garantie von Freiheitsrechten - und in diesen Fragenkreis gehört auch die Stellung der Justiz, denn es ist kein Zufall, daß die Bestimmungen über die Rechtspflege in der Paulskirchenverfassung als Teil der "Grundrechte des deutschen Volkes" auftreten - war nicht mehr das, was man in erster Linie von der Verfassung erwartete. Allerdings, so muß man gerechterweise hinzufügen, war der Rechtsstaat, wenn auch in einem gegenüber dem ursprünglichen Gehalt des Begriffes zurückgenommenen, bloß formellen Sinn (vgl. dazu Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 74, 75) weitgehend verwirklicht (Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 60; Menger, Moderner Staat, S. 19). Hinzu kam, daß dem herrschenden Gesetzespositivismus des späten 19. Jh. "der politische Machtwille einer ethisch verantwortungslosen Legislative" unvorstellbar war (Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 460), so daß man sich damit begnügen zu können glaubte, die Grundsätze der Rechtspflege in einfachen Gesetzen festzulegen. Die WRV schließlich hatte keine vergleichbar negativen Erfahrungen auf dem Gebiet der Rechtspflege zu verarbeiten wie Grundgesetz und Paulskirchenverfassung. Sie sah daher in der richterlichen Zuständigkeit kein so dringliches, durch verfassungsrechtliche Garantien zu lösendes Problem. Der Aufgabenkreis der Gerichte konnte daher durch einfaches Gesetz geändert werden, wodurch auch "die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit stark an Wert verloren" (Zitat Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 151). Unter dieser Perspektive ist ein materieller Rechtsprechungsbegriff, allio die Unentziehbarkeit der wesentlichen richterlichen Zuständigkeiten nichts anderes als die letzte Konsequenz aus der richterlichen Unabhängigkeit, die erst dadurch zu ihrer vollen Wirksamkeit gelangen kann. Man kann das auch als das Ende eines Emanzipationsprozesses der Judikative sehen, der im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Freiheitsrechte zu einer Verselbständigung der Rechtsprechung und ihres Aufgabenkreises führte. 13 A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 9; Bettermann, AöR 92, 497.
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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umgekehrt: Ist eine Tätigkeit inhaltlich Rechtsprechung, so hat das zur Folge, daß sie einzig und allein von Richtern ausgeübt werden darf. Aber wann ist eine Aufgabe ihrem Sachgehalt nach, also materiell Rechtsprechung? Zur Beantwortung dieser Frage halten die meisten Verfechter eines materiellen Rechtsprechungsbegriffs eine allgemeine inhaltliche Definition des Begriffs Rechtsprechung i. S. des Art. 92 GG für erforderlich, da nur so dieser Aufgabenbereich eindeutig bestimmt und gegenüber den anderen Staatsfunktionen abgegrenzt werden könne 14 • Das hat zu einem ausgedehnten Meinungsstreit und zu einer kaum mehr übersehbaren Flut von Definitionsversuchen geführt, von denen sich jedoch keiner hat durchsetzen können. Da wir hier nur der Frage nachgehen, ob die Anwendung des § 153 a durch den Staatsanwalt die Ausübung von Rechtsprechung i. S. des Art. 92 GG ist, sollen im folgenden die bisher in der Literatur entwickelten Definitionen für einen materiellen Begriff der Rechtsprechung nicht einzeln vorgestellt und auch nicht die Berechtigung der gegen sie vorgebrachten Einwände im einzelnen erörtert werden15 • Es erscheint vielmehr sinnvoll und ausreichend, die in diesen Definitionen verwendeten Merkmale systematisch zusammenzufassen unter dem Gesichtspunkt, ob sie normative Kriterien lG für Zuständigkeitsabgrenzungen überhaupt und insbesondere für die Frage, wann Sanktionen nur von Richtern verhängt werden dürfen, abgeben können. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich unterscheiden zwischen Bestimmungen, die sich beziehen auf -
die Stellung der rechtsprechenden Organe im Verhältnis zu anderen Staatsorganen
-
die Modalitäten des Vorgehens bei der Ausübung von Rechtsprechung
14 Eine explizite Erörterung der Notwendigkeit einer Definition findet sich bei Bettermann, Perspectivas, S. 377; Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 1 ff.; Friesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 22; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 77. 16 Eine mehr oder minder vollständige übersicht findet sich bei Eichenberger, S. 6 ff.; v. Heyden, S. 81 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 92 Rdnr. 28 ff.; Lefringhausen, Untersuchungen, S. 5 ff.; vgl. auch Dütz, Gerichtsschutz, S. 87 ff. 18 Wenn hier und im folgenden von normativen Kriterien die Rede ist, wo man nach den bisherigen Ausführungen vielleicht "materielle" Kriterien als Pendant zum "materiellen" Rechtsprechungsbegriff erwarten könnte, so ist damit nichts grundsätzlich Verschiedenes gemeint. Normativ wird ein Merkmal hier genannt im Gegensatz zu bloß deskriptiven, wenn es nicht lediglich die Aufgaben beschreibt, die gegenwärtig zur Rechtsprechung gehören, sondern geeignet ist, Angaben darüber zu machen, wann eine Aufgabe zwingend der Rechtsprechung vorbehalten bleiben muß und insofern zur inhaltlichen Ausfüllung des materiellen Rechtsprechungsbegriffs dienen kann.
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1. Teil:'Sanktiensverhängung und Richterv.orbehalt
die Aufgaben .oder Gegenstände der Rechtsprechung die Wirkung rechtsprechender Entscheidungen17 • 17 Die felgenden Ausführungen können den Verdacht erwecken, daß die dert geübte Kritik nur deshalb plausibel ist, weil keine der Definitienen im Zusammenhang behandelt wird. Um dem Leser die Prüfung zu ermöglichen, wieweit ein selcher Verwurf berechtigt sein könnte, seIlen die wichtigsten Definitienen im Wertlaut wiedergegeben werden. Sämtliche hier aufgeführten Definitienen werden ven ihren Urhebern ausdrücklich als die inhaltliche Ausfüllung eines materiellen Rechtsprechungsbegriffs verstanden. A. ATndt, NJW 1959, 607: "Rechtsprechung ist die verselbständigte und mittels Repräsentatien ausgeübte Staatstätigkeit, die für eine - in der Verwirklichung eines bestimmten Sachverhalts begründete - Berechtigung Rechtskraft wirkt, d. h. die Berechtigung als gültig (segar gesetzesfest) qualifiziert." ders., Festgabe C. Schmid, S. 15: "Rechtsprechende Gewalt heißt: Rechtskraftwirkende Entscheidung durch Wahrheits- und Rechtsprüfung um der Gewißheit willen." BetteTmann, Perspectivas, S. 380: "Rechtsprechung ist semit die petentiell verbindliche, alse rechtskraftfähige Entscheidung einer neutralen Instanz über das, was Rechtens ist." Dernedde, ZJBI. Brit. Z. 1949, 102: " ... die Tätigkeit ven Staatserganen, die der Wahrung und Verwirklichung der Rechtserdnung durch Entscheidung eines Rechtsstreites .oder einer Strafsache dient". FTiesenhahn, Festschr. R. Thema, S. 27: " ... und zwar übt Rechtsprechung jedes staatliche Organ, das als unbeteiligter Dritter mit .obrigkeitlicher Gewalt ausspricht, was bei Anwendung der allgemeinen Rechtsnermen auf den kenkreten Tatbestand rechtens ist, um einen Rechtsstreit zwischen zwei Parteien zu entscheiden". Hamann I Lenz, GG, Art. 92 B 1 b: " ... als verbindliche Feststellung bestrittenen, bezweifelten .oder gefährdeten Rechts im Einzelfall durch eine hierzu ven der Verfassung berufene, selbständige und neutrale Institutien, die - selbst nermgebunden - allein mit dem Maßstab ven Gesetz und Recht die Richtigkeit mißt". Hesse, Verfassungsrecht, S. 221: "Rechtsprechung ist vielmehr in ihrer Grundtypik charakterisiert durch die Aufgabe auteritativer und damit verbindlicher verselbständigter Entscheidung in Fällen bestrittenen .oder verletzten Rechts in einem besenderen Verfahren; sie dient ausschließlich der Wahrung und mit dieser der Kenkretisierung und Fertbildung des Rechts." v. Mangeldt, Grundgesetz, Verbern. 3 a ver Art. 92: "Rechtsprechung ist Gesetzesanwendung zur Entscheidung eines Rechtsstreites, d. h. eines Streites um geltend gemachtes und bestrittenes Recht, .oder einer Strafsache in einem gesetzlich geregelten Verfahren durch ein an dem Streit unbeteiligtes und unabhängiges Staatsergan. " Maunz, Staatsrecht, S. 268: " ... der selbständige Ausspruch irgendeiner staatlichen Behörde, was in Anwendung des geltenden Rechts auf einen Sachverhalt im Einzelfall Recht ist". MengeT, System, S. 49: " ... die Aufgabe und Tätigkeit des allen anderen Staatserganen gegenüber unabhängigen Staatsergans Richter, in Anwendung des geltenden Rechts auf einen kenkreten Sachverhalt auszusprechen, was Rechtens ist". R. Thoma. in: Thoma I Anschütz, Hdb. d. dtsch. Staatsrechts, Bd. 11, S. 129: "Unter Rechtsprechung im materiellen Sinn des Wertes hat man zu verstehen den verselbständigten Ausspruch dessen, was in Anwendung des geltenden Rechts auf einen kenkreten Tatbestand im Einzelfall Rechtens ist durch staatliche Auterität." Wolff I Bachof, Verwaltungsrecht I, § 19 I c: "Demnach ist Rechtsprechung im materiellen Sinn (Art. 92 GG) zu definieren als die in besenders geregel-
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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a) Die Stellung der rechtsprechenden Organe und die Modalitäten ihrer Entscheidungsfindung Die Definitionsmerkmale der beiden ersten Gruppen sind zur unmittelbaren Zuständigkeitsabgrenzung untauglich. Denn die Bestimmung, daß der Richter als unbeteiligter und uninteressierter Dritter über fremde Angelegenheiten entscheide, die handelnde Verwaltungsbehörde aber in eigener Sache 18, die Hervorhebung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der weisungsgebundenen Verwaltung", die Feststellung, daß Rechtsprechung in einem formellen, nach festen Regeln ablaufenden Verfahren vor sich gehen müsse20 , dessen wichtigstes Kennzeichen die Gewährung des rechtlichen Gehörs sei21 , all das und vergleichbare Angaben sind normativ nur dann, wenn es um die Frage geht, welche Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit Rechtsprechung stattfinden kann, nicht aber dafür, welche Entscheidungen als Rechtsprechung zu ergehen haben. In bezug auf Zuständigkeitsbestimmungen sind diese Merkmale letztlich formell, da sie den Charakter der Entscheidung danach bestimmen, von wem und wie sie vorgenommen wird, statt aus den Aufgaben auf die Zuständigkeit zu schließen. Denn die eigentlich entscheidende Frage für die Auslegung des Art. 92 GG ist ja, in welchen Fällen rechtsanwendende Entscheidungen nur von unbeteiligten, unabhängigen Dritten und in einem justizförmigen Verfahren getroffen werden dürfen22 • Deshalb führt auch die Definition Richard Thomas nicht weiter, daß Rechtsanwendung dann Rechtsprechung sei, wenn sie zu einem "verselbständigten Ausspruch" dessen führe, was im Einzelfall rechtens ist23 • Denn die Verselbständigung wird in einer "Abtrennung des Ausspruchs von vorhergehenden und nachfolgenden Vollzugsakten" gesehen, die durch eine "organisatorisch gesonderte Behörde" bewirkt wird24 , ist also nichts anderes als eine Zusammenfassung der gerade erörterten Merkmalsgruppen. ten Verfahren zu rechtskräftiger Entscheidung führende rechtliche Beurteilung von Sachverhalten in Anwendung des geltenden objektiven Rechts durch ein unbeteiligtes Staatsorgan." 18 Bettermann, Staatslexikon, Sp. 2021; Perspectivas, S. 380; Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 22; Friesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 27; Hamann / Lenz, GG, Art. 92 BI b; v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, Vorb. 3 a vor Art. 92; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, § 19 I c. 19 Bettermann, Staatslexikon, Sp. 2021; Eichenberger, S. 23 ff.; Habscheid, MDR 1966, 3; Hamann/ Lenz, a.a.O.; Menger, System, S. 46ff. 20 Hesse, Verfassungsrecht, S. 221; v. Mangoldt, a.a.O. (Fn. 18); Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 12; Wolff / Bachof, § 19 I c. 21 A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 28 ff. 22 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 92 Rdnr. 29. 23 In: Thoma / Anschütz, Hdb. d. dtsch. Staatsrechts, Bd. 11, S. 129; ähnlich noch heute Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 268.
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
b) Die Aufgaben der Rechtsprechung
Größeren Ertrag für unsere Fragestellung versprechen daher die Bestimmungen, die sich auf die Aufgaben der Rechtsprechung beziehen. Die verbreitetste besagt, Aufgabe der Rechtsprechung sei die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Parteien26 • Dagegen wird vor allem geltend gemacht, sie sei zu eng. So seien die abstrakte Normenkontrolle 26 , die freiwillige Gerichtsbarkeit21 und im Zivilprozeß die Verzichts-, Anerkenntnis- und Versäumnisurteile28 keine Streitentscheidungen. Vor allem aber gelte dies, und dem wollen wir alleine nachgehen, für die Strafrechtspflege, die in ihrem entscheidenden Teil "geradezu der Prototyp der rechtsprechenden Tätigkeit"!8 sei. Friesenhahn, auf den die Lehre von der Streitentscheidung jedenfalls in der Form, in der sie heute vertreten wird, zurückgeht, hat diesen Einwand in bezug auf das Strafverfahren selbst gesehen und durch die Unterscheidung zwischen einem "materiellen" und einem "prozessualen" Parteibegriff zu entkräften versucht. Auch wenn man den Staatsanwalt prozessual nicht als Partei ansehen wolle, so handele es sich doch materiell um einen Streit zwischen dem Staat und dem Delinquenten um die Befugnis zu dessen Bestrafung30 • !4 Thoma, a.a.O.; die Kritik von Dütz (Gerichtsschutz, S. 90), "die verselbständigte Feststellung dessen, was im konkreten Fall rechtens ist", obliege "weithin jeder staatlichen Stelle", beruht wohl auf einer Verkennung des Begriffs "Verselbständigung" bei Thoma, der sich gerade auch auf die Organisation der Rechtsprechungsorgane, also auf Neutralität und Unabhängigkeit, bezieht. Thoma hat jedoch selbst schon gesehen, daß seine Definition, soweit sie die organisatorischen Vorkehrungen für die Verselbständigung in das Ermessen des Gesetzgebers stellt, ein formelles Element enthält (a.a.O., S. 129; vgl. auch Friesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 29). 25 Achterberg, JZ 1969, 356 f.; Blomeyer, GA 1970, 163 Anm. 14; Dernedde, ZJBl. Brit. Z. 1949, 102; Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 10 ff.; Friesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 27; Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 92 Anm. II 1 b; Möllinger, AöR 80, 289; vgl. auch die weiteren Nachw. bei Dütz, Gerichtsschutz, S. 89 Anm. 369, der diese Meinung als herrschend bezeichnet. 28 Habscheid, MDR 1966, 2; Herzog, in: Maunz I Dürig, GG. Art. 92 Rdnr. 31; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 93; Menger, System, S. 40, 45; BVerfGE 22, 49 ff. (76). 27 BVerfG, a.a.O.; Habscheid, a.a.O.; die freiwillige Gerichtsbarkeit spielt allerdings eine Sonderrolle, da es sich bei ihr um Aufgaben handelt, die wohl nicht genuin Rechtsprechung sind, sondern bei denen es dem Gesetzgeber frei steht, ob er sie den Gerichten überträgt. Vgl. dazu Herzog, in: Maunz I Dürig, GG. Art. 92 Rdnr. 51 ff., insbesondere Rdnr. 58. 28 v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 94; Niese, ZStW 70 (1958), 352; Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 9. 28 Niese, ZStW 70 (1958), 353; ebenso A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 11; Habscheid, MDR 1966, 2; Herzog, Art. 92 Rdnr. 31; v. Heyden, S. 91; Eb. Schmidt, a.a.O.
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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Nun enthält zwar die Stellung des Staatsanwalts trotz aller Verpflichtung zur Objektivität durchaus Merkmale einer Partei, und das sollte man vor allem, wenn es um die Notwendigkeit von Schutz rechten für den Beschuldigten geht, nicht vergessen, aber der deutsche Strafprozeß setzt sich in vielerlei Hinsicht so ausdrücklich von einem Parteiverfahren ab, wie es etwa im anglo-amerikanischen Rechtskreis stattfindet, daß es wenig Sinn hat, ein strafendes oder freisprechendes Urteil als Streitentscheidung zu bezeichnen31 • Aber selbst wenn man Friesenhahn folgt und das Strafverfahren als Rechtsstreit ansieht, erweist sich das als wenig hilfreich. Denn die von ihm vorgenommene Kompetenzzuweisung, "daß Strafe nur aufgrund eines richterlichen Urteils verhängt werden" dürfe 32, kann er nicht als ein Implikat seiner Definition erweisen, was aber erforderlich wäre, sollte diese wirklich zur Auslegung des Art. 92 GG in dem geforderten Sinn tauglich sein, sondern er muß dazu auf eine "rechtsstaatliche Forderung", die sich "von selbst als Grundlage der Verfassung versteht"33, zurückgreifen. Das verweist auf einen grundsätzlicheren Einwand. Will man Streitentscheidung nicht auf den überlieferten Bestand der im Parteiverfahren von den Gerichten zu erledigenden Angelegenheiten festschreiben und so für die Auslegung des Art. 92 GG verbindlich machen, dann bietet dieser Begriff ebenfalls wieder nur eine deskriptive Bestimmung. Denn er kann nicht angeben, ob und warum eine Sanktion im einen Fall auch durch eine Verwaltungsbehörde, also streitlos, im andern Fall aber nur von einem Gericht, also nach Friesenhahn in einem Streitverfahren, verhängt werden darf, allgemeiner formuliert, ob eine vom einfachen Gesetzgeber zu regelnde Materie als streitloses oder als Streitverfahren auszugestalten ist 34. c) Ergänzungen zu dieser Definition
Die Versuche, Friesenhahns Definition zu ergänzen, mögen zwar den Vorwurf ausräumen, sie sei zu eng. Normative Kriterien haben sie ebensowenig erbringen können. 30 Friesenhahn, Festschr. R. Thoma, S. 44. Diese Auffassung findet allerdings eine Stütze in § 336 StGB, der nur die Rechtsbeugung mit Strafe bedroht, die eine "Partei" begünstigt oder benachteiligt, aber den Strafrichter keineswegs als tauglichen Täter ausschließt; vgl. näher Herdegen, LK, 9. Aufl., § 336 Rdnr. 1; Seebode, Rechtsbeugung, S. 69 f., 75. 31 Vgl. dazu Eb. Schmidt, a.a.O.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 17 ff.
Friesenhahn, S. 43. Friesenhahn, a.a.O. 34 v. Heyden, S. 97; Salzmann, Dütz, Gerichtsschutz, S. 90. 32 33
Beschleunigte Ahndung, S. 80; vgl. auch
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv.orbehalt
Die Probleme lösen sich nicht einfach dadurch, daß man die "Entscheidung von Strafsachen" als weitere richterliche Aufgabe anhängtS5 , denn jetzt muß man sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Sanktionen als Strafe anzusehen sind, was aber nicht geschieht. Die Aussage, neben der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten gehöre auch die Rechtskontrolle und die Gewährung von Rechtsschutz zu den Aufgaben der Rechtsprechung S8 , ist zwar differenzierter und scheint auch alle in Frage kommenden Tätigkeitsbereiche abzudecken, läßt aber offen, wann Rechtskontrolle stattzufinden hat und in welchen Fällen Rechtsschutz zu gewähren ist. Wenn andere Autoren die Aufgabe der Rechtsprechung in der "verbindlichen Feststellung bestrittenen, bezweifelten und gefährdeten Rechts" sehens7, so liegt darin inhaltlich kein Unterschied zu der zuletzt erörterten Definition. Denn in der Feststellung "bestrittenen Rechts" erkennt man unschwer die "Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten" und in der Feststellung "bezweifelten und gefährdeten Rechts" die Rechtsschutzgewährung wieder, so daß die hiergegen vorgetragenen Bedenken unvermindert gelten. d) Die Rechtskraft der rechtsprechenden Entscheidungen
Schließlich wird das maßgebliche Kriterium für Rechtsprechung in der zumindest potentiellen Rechtskraft ihrer Entscheidungen gesehens8 • Zwar gebe es auch eine Rechtskraft bei Verwaltungs akten, doch besäßen diese nicht denselben Grad von Verbindlichkeit wie richterliche Entscheidungen, die sogar "gesetzesfest" seiensu • Nur der Richterspruch "erkenne für Recht", enthalte also die Feststellung, daß die von ihm getroffene Entscheidung rechtens sei40 • Dies beruhe darauf, daß die "Kontrolle der Wahrheit und ihr objektives und darum endgültiges Erwiesensein der Rechtsprechung vorbehalten" sei41 • "Rechtsprechende 35 So aber Dernedde, ZJBl. Brit. Z. 1949, 102: " ... oder eine Strafsache"; ebenso v. MangoZdt, Grundgesetz Vorb. 3 a vor Art. 92; WoZjf, Verwaltungsrecht I, § 19 I c bis zur 6. Auflage. 38 Bettermann, Staatslexikon, Sp. 2025 ff.; AöR 92, 498 f.; Perspectivas, S. 380; WoZjf, Verwaltungsrecht I, §19 I c, ab 7. Auflage. 37 Hamann/Lenz, GG, Art. 92Blb; Hesse, Verfassungsrecht, S. 221; vgl. auch die Nachw. bei Dütz, Gerichtsschutz, S. 90 Anm. 371. 38 A. Arndt, NJW 1959, 606 ff.; Festgabe C. Schmid, S. 11 ff.; Bettermann, Verkehrsgerichtstag, S. 46; Staatslexikon, Sp. 2022 ff.; AöR 92, 498 ff.; Perspectivas, S. 379; Eb. Schmidt, LehrK I Rdnr. 12, 14; ähnlich Bender, Verwaltungsstrafverfahren, S. 28 f.; Nachw. für die Rechtsprechung bei Dütz, Gerichtsschutz, S. 91 Anm. 375. sv A. Arndt, NJW 1959, 606. co Bettermann, Verkehrsgerichtstag, S. 46; Staatslexikon, Sp. 2022 f. 41 A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 24. Man wird sich allerdings fragen müssen, ob das nicht um einiges zu optimistisch gesehen ist. Die Verfahrens-
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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Gewalt heißt: rechtskraftwirkende Entscheidung durch Wahrheits- und Rechtsprüfung um der Gewißheit willen42 ." Diese Feststellungen werden von A. Arndt ausdrücklich zur Kennzeichnung der Strafgerichtsbarkeit getroffen. Auch Bettermann sieht in der Verhängung von Strafen, wenn sie nicht unter Art. 104 Abs. 2 GG fallen, nur dann einen Akt der Rechtsprechung, wenn es sich um "rechtskraftfähige Verurteilungen durch einen unparteiischen Dritten" handelt. Nicht jegliches Strafen, sondern nur "rechtsprechendes Strafen" sei den Richtern vorbehalten43 • Nun mag die Rechtskraft durchaus der angemessene Ausdruck für die Dignität richterlicher Urteile sein, ein Kriterium dafür, welche Aufgaben nur von den Richtern wahrgenommen werden dürfen, kann sie nicht abgeben". Denn das würde entweder bedeuten, der Gesetzgeber brauchte für die Verhängung einer Rechtsfolge nur auf die Rechtskraft zu verzichten, um sie auch auf nicht-richterliche Organe übertragen zu können, was im Ergebnis auf einen formellen Rechtsprechungsbegriff hinausliefe, oder es müßte feststehen, in welchen Fällen der Gesetzgeber verpflichtet ist, eine Entscheidung nur als rechtskraftfähige, also richterliche zuzulassen45 • Dann wären aber die hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte die eigentlichen Kriterien für Rechtsprechung, nicht jedoch die Rechtskraft. e) Gemeinsame Mängel der Definitionen
Als Resümee dieser Kritik läßt sich festhalten: Die erörterten Definitionsversuche scheitern schon daran, daß sie sich nicht entschieden genug an ihrem Erkenntnisziel orientieren, nämlich Kriterien dafür aufzufinden, wann durch Art. 92 GG gefordert ist, daß eine Aufgabe nur durch den Richter wahrgenommen werden darf. Sie beschränken sich auf eine Beschreibung der derzeitigen Erscheinungsformen von Rechtsprechung, indem sie "auf der Grundlage des gegenwärtig geltenden Verfassungs- und Gesetzesrechts den aktuellen Funktionsordnungen können gewisse Schranken aufrichten gegen vorschnelles und einseitiges Urteilen, das Auffinden der Wahrheit garantieren können sie nicht. Im Bereich der Dispositionsmaxime zielt das Verfahrensrecht auch nur auf eine beschränkte Wahrheit ab. Die Rechtskraft hat ihren Grund daher wenigstens ebenso sehr in dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Gegen die Wahrheitsermittlung als Hauptaufgabe des richterlichen Verfahrens Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 16 ff., S. 55 ff.; dazu und zur Wahrheitsfrage im Strafprozeß, Krauß, Festschr. Schaffstein, S. 411 ff. U A. Arndt, Festgabe C. Schmid, S. 15. 48 Bettermann, Verkehrsgerichtstag, S. 45 ff.; Staatslexikon, Sp. 2028. 44 Vgl. zum folgenden Herzog, in: Maunz I Dürig, GG, Art. 92, Rdnr. 30; v. Heyden, Ordnungsunrecht, S. 87. 4S Vgl. BVerfGE 22, 49 ff. (75); Dütz, Gerichtsschutz, S. 91. 6 Kausch
1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv,orbehalt
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bereich der rechtsprechenden Gewalt ... ermitteln"46 und unterlassen es, die Kriterien herauszuarbeiten, die zur Zuweisung der gegenwärtigen Rechtsprechungsaufgaben an den Richter geführt haben. Daneben werden in dem Bestreben, die Eigentümlichkeiten der Rechtsprechung deutlich zu machen, Bestimmungen in die Definition aufgenommen, die zwar wesentliche Charakteristika dieser Staatstätigkeit wiedergeben, aber ihrer Natur nach unmittelbar keinerlei Aussagen über den Funktionsbereich der Dritten Gewalt enthalten, so daß sie darauf nur formell bezogen werden können. Das Scheitern der Definitionsversuche läßt sich also vor allem darauf zurückführen, daß sie das Problem nicht als das der Auslegung einer Verfassungsnorm ernst nehmen und daher auch nicht wirklich auf der Ebene des Verfassungsrechts, d. h. der Gewaltenteilung und der Gründe, die zur Schaffung des Art. 92 GG und der insgesamt verfassungsrechtlich so herausgehobenen Position der Rechtsprechung geführt haben, diskutieren. Eine Erklärung für dieses Zukurzgreifen mag sein, daß die wenigsten dieser Definitionen zur Lösung eines konkreten Abgrenzungsproblems entwickelt wurden, sondern meist im Zuge der systematischen Darstellung eines Stoffgebietes, gewissermaßen der Vollständigkeit halber, also keinerlei Bewährung am Einzelfall ausgesetzt waren47 • Es ist daher nicht verwunderlich, wenn eine Reihe von Autoren eine allgemeine Definition von Rechtsprechung, die den von Art. 92 GG her zu stellenden Anforderungen genügt, für schlechthin unmöglich halten48. Ob das zutrifft, braucht hier nicht entschieden zu werden; es spricht aber einiges dafür. Denn selbst wenn man der dargelegten Kritik Rechnung trägt, bleibt als Hauptschwierigkeit bestehen, daß die Aufgaben der einzelnen Rechtsprechungsorgane höchst unterschiedlich sind. Jede Definition läuft daher Gefahr, unvollständig zu bleiben oder einen so großen Allgemeinheitsgrad anzunehmen, daß sie klare Ab46
Herzog, Art. 92 Rdnr. 33.
Dazu, daß die Interpretation einer Norm grundsätzlich nur möglich ist, wenn diese auf ein konkretes Problem bezogen wird, vgl. Hesse, Verfassungsrecht, S. 26, und die philosophische Grundlegung dazu bei Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 290 ff.: Verstehen ist nur als Applikation möglich, als Anwendung, die geleitet wird von einer aus der gegenwärtigen Situation des Interpreten herrührenden Frage, die überhaupt erst eine Perspektive auf den Text ermöglicht. " ... daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet" (S. 291). Die "hermeneutische Situation" des Interpreten wird "definiert" durch sein "Vorverständnis" und das sich ihm stellende Problem. An einer solchen Problemstellung mangelt es' aber bei den meisten Definitionsversuchen bzw. sie wird nicht deutlich genug herausgearbeitet, um wirklich den Leitfaden für die Interpretation abzugeben. 48 Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 81 m. w. Nachw.; vgl. auch die Nachw. bei Dütz, Gerichtsschutz, S. 88, und Habscheid, MDR 1966, 3. 47
§ 4. Der Begriff der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG
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grenzungen und eindeutige Zuordnungen nicht mehr zu leisten vermag 49 und insbesondere bei Rand- und Zweifelsfragen versagtSo. Durch diese Einsicht werden die Argumente, die eine inhaltliche Bestimmung der Aufgaben der Dritten Gewalt fordern, nicht widerlegt. Sie gestattet weder den Rückzug auf einen formellen Rechtsprechungsbegriff noch die kaum weniger resignative Position, daß Art. 92 GG lediglich "den historisch gewachsenen Aufgabenkreis, der inhaltlich Rechtsprechung ist", "ausschließlich dem Richter vorbehält", so daß anhand dieser Auslegung zwar "die Korrektur von Zuständigkeitsfehlern, die in früheren Gesetzen enthalten sind", nicht aber die Zuordnung neuer Rechtsgebiete zu Verwaltung oder Rechtsprechung möglich seiSl • Mag also eine allgemeine Definition grundsätzlich nicht möglich sein, so schließt das nicht aus, daß für einen konkreten Aufgabenbereich mit hinreichender Sicherheit geklärt werden kann, ob er zur Recht~ sprechung zählt oder nicht. Ein allgemeingültiges Rezept, wie dabei vorzugehen ist, läßt sich freilich kaum geben. Am aussichtsreichsten erscheint noch der Weg einer teleologischen Auslegung. Denn soweit das Grundgesetz die richterlichen Zuständigkeiten nicht kasuistisch aufführt, sondern durch die Globalzuweisung des Art. 92 GG festlegt, können Zweifel über die Begrenzung dieses Zuständigkeitsbereichs noch am ehesten durch einen Rückgriff auf die Gründe geklärt werden, die zur Etablierung der Rechtsprechung als eigenständiger Gewalt mit einem autonomen Aufgabenbereich geführt haben52 • über die oben angestellten Erwägungen hinaus lassen sich solche Gründe aus den durch die Verfassung verbürgten Besonderheiten der richterlichen Stellung und den ebenfalls großenteils verfassungsmäßig abgesicherten oder als ungeschriebenes Verfassungsrecht anerkannten Garantien eines justizförmigen Verfahrens ableiten. Man muß also fragen, welchen Erfordernissen durch diese organisatorischen und prozessualen Vorkehrungen Rechnung getragen werden soll. Dabei können allerdings die in den gerade behandelten Definitionen erarbeiteten Merkmale und Gesichtspunkte wesentliche Anhaltspunkte geben. Wenn z. B. gesagt wird, das richterliche Verfahren führe zu einem größeren Gewißheitsgrad bei der Wahrheitsfindung und dies drücke sich in der Salzmann, a.a.O. so Nowakowski, Gutachten, S. 34 Anm. 130. 5! So aber Habscheid, MDR 1966, 3. 52 Ähnlich v. Heyden, S. 117 ff.; Salzmann, S. 83 ff.; BauT, DNotZ 1955, 511 ff. (519): "... alle die Aufgaben der Rechtspflege dem Richter zu übertragen, die wegen ihrer Bedeutung für den Lebensbereich des Einzelnen nach der Entscheidung eines sachlich und persönlich unabhängigen Organs verlangen"; vgl. auch die Zusammenstellung ähnlicher überlegungen bei Dütz, Gerichtsschutz, S. 93. 49
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1. Teil:
Sanktionsverhängung und Richterv,orbehalt
Verbindlichkeit der Rechtskraft aus, dann fragt es sich eben, wann die Wahrheitsermittlung so dringend, ihre Feststellung so schwierig, die von ihrer Feststellung abhängigen Folgen so schwerwiegend und das Bedürfnis nach Beständigkeit der Entscheidung so groß ist, daß dem nur durch ein justizförmiges Verfahren und eine rechtskraftfähige Entscheidung, getroffen von einem unabhängigen Staatsorgan, Genüge getan werden kann. Ebenso kann es in diesem Zusammenhang sehr hilfreich sein, "den historischen gewachsenen Aufgabenkreis, der inhaltlich Rechtsprechung ist", heranzuziehen. Für diese Prüfung der Erforderlichkeit einer richterlichen Alleinzuständigkeit sind zwei Gesichtspunkte leitend. Es kann gefragt werden, wann der Schutz des Einzelnen es erfordert, daß staatliche Eingriffe nur aufgrund von richterlichen Entscheidungen erfolgen dürfen. Auf diesen Aspekt stellt letztlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab bei ihrem Bemühen, den Bereich der Strafgerichtsbarkeit zu bestimmen. Es kann aber darüber hinaus auch zu prüfen sein, ob bestimmte Aufgaben nur vom Richter wahrgenommen werden dürfen, weil andernfalls übergreifende Funktionen der Rechtsprechung und ihr Verantwortungsbereich im System der Gewaltenteilung gefährdet sind, was allerdings mittelbar wiederum Auswirkungen auf die Schutzfunktion zugunsten des Einzelnen hat. Beide Gesichtspunkte werden uns im folgenden ständig gegenwärtig sein müssen. § 5. Der Umfang der Strafgerichtsbarkeit
Bei der Lösung der bisher im Bereich der Strafgerichtsbarkeit aufgetretenen Abgrenzungsprobleme haben denn auch allgemeine Definitionen der Rechtsprechung eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt. Es ging dabei vornehmlich um zwei Fälle, nämlich -
um die Kompetenz der Verwaltungsbehörden, Ordnungswidrigkeiten durch Geldbußen zu ahnden und
um die Befugnis der Finanzämter, bei leichteren Steuervergehen gemäß §§ 421, 445, 447 AO a. F. Kriminalstrafen zu verhängen, deren Vereinbarkeit mit Art. 92 GG zweifelhaft war.
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Beide Fragenkomplexe lassen sich nur dann befriedigend beantworten, wenn die Grenzen, die der Kompetenz nichtrichterlicher Organe zur Verhängung staatlicher Sanktionen mit Strafcharakter durch Art. 92 GG gesetzt sind, genau umschrieben werden, und stimmen insofern mit unserer AufgabensteIlung überein. Im folgenden soll daher untersucht werden, ob die dazu vorgeschlagenen Lösungen, insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sich auf die Problematik des § 153 a übertragen lassen.
§ 5. Der Umfang der Strafgerichtsbarkeit
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Die dabei auftauchenden Probleme lassen sich allerdings kaum ohne ihren historischen Kontext verstehen. Denn die Frage, wieweit die staatliche Sanktionsgewalt bei den Gerichten zu monopolisieren ist, ist nicht erst durch Art. 92 GG aktuell geworden. Sie gehört vielmehr als Forderung nach Abschaffung der Strafgerichtsbarkeit der Polizei zu den Themen, die im 19. Jh. in Deutschland den Kampf des Liberalismus um die Schaffung eines "Rechtsstaates" bestimmen. Die Tragweite des Art. 92 GG für den Umfang der Strafgerichtsbarkeit läßt sich daher nur richtig einschätzen, wenn man ihn im Rahmen der wechselvollen Geschichte rechtsstaatlicher Absicherungsversuche vor unkontrollierten Sanktionsbefugnissen der Exekutivgewalt sieht. Diese Geschichte steht in einer engen Wechselbeziehung zu der jeweiligen materiell- und verfahrensrechtlichen Behandlung der Bagatellkriminalität, so daß ein kurzer historischer Exkurs auch unter diesem Gesichtspunkt gerechtfertigt erscheint. 1. Der problemgeschichtliche Hintergrund
Im 18. Jh. trat neben die traditionelle Hoch- und Niedergerichtsbarkeit eine eigene Strafgewalt der Polizei1• Dieser oblag die Durchsetzung der zahllosen Vorschriften, mit denen der "Polizeistaat" des Absolutismus das wirtschaftliche und private Leben seiner Untertanen in die von ihm gewünschten Bahnen zu lenken versuchte!, und sie wurde zu diesem Zweck mit eigener Strafgewalt ausgestattet. Zugleich wurden den Niedergerichten zunehmend Zuständigkeiten zur Verfolgung der kleinen Kriminalität entzogen und auf die Polizeigerichtsbarkeit übertragen3• So war diese uferlose, keinen Bereich aussparende Polizeistrafgewalt für das allmählich auf politische Rechte und Freiheitsgarantien drängende Bürgertum der augenfälligste und bedrohlichste Ausdruck der Machtansprüche des absolutistischen Staates. In der Restaurationsepoche zwischen 1815 und 1848 griff die Polizei zudem unter Berufung auf ein "Recht zum ersten Zugriff" häufig in die Zuständigkeit der eigentlichen Strafjustiz über4• 1 über die Einzelheiten dieser Entwicklung vgl. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, S. 57 ff.; Mayer, GS 96, 399 ff.; GS 98, 330 ff.; GS 99, 33 ff.; Görgen, Organisatorische Stellung, S. 40 ff.; aber auch Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 117 ff. I Einzelheiten bei Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 22 ff. a Ursprünglich gehörte die kleinere Kriminalität zur Zuständigkeit der "Niedergerichte", die sich häufig noch in der Hand von Städten oder Adligen befanden und eigentlich Zivilgerichte waren und die daher auch nur sogenannte "bürgerliche Strafen" verhängen durften und meistens auch nicht in dem für Strafsachen vorgesehenen Verfahren prozedierten (Mayer, GS 98, 340). Gegen Ende des 18. Jh. werden Hoch- und Niedergerichtsbarkeit zwar in der Form vereinigt, daß sie in bezug auf Strafsachen nur noch Strafgerichte größerer oder geringerer Zuständigkeit bilden, aber ein Teil der Zuständigkeit für die kleinere Kriminalität ist inzwischen bei den Polizeigerichten angesiedelt (Mayer, a.a.O.; vgl. auch Mattes, S. 41, 60 ff., 69). So sind etwa nach dem ALR die Polizeigerichte zuständig für die privilegierten Fälle des Diebstahls (vgl. dazu die Darstellung bei Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 46; Naucke, Gutachten, D 16). 4 So nahm sie häufig willkürliche Verhaftungen vor und hielt die Verhaf-
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Der Kampf des Liberalismus um eine willkürfreie Justiz richtete sich daher nicht nur gegen die "Kabinettsjustiz", sondern auch gegen jede Strafbefugnis der Polizei5 • Voraussetzung für die Verhängung einer jeden Strafe sollte nicht nur ein die Strafbarkeit allgemein bestimmendes, unter Mitwirkung der Volksvertretung zustandegekommenes Gesetz sein - nullum crimen, nulla poena sine lege -, sondern die Aburteilung sollte auch nur durch einen Richter in einem justizförmigen Verfahren erfolgen dürfen - nulla poena sine iudicio _ I . SO heißt es in § 182 Abs. 1 der Paulskirchenverfassung von 1848/49: "Der Polizei steht keine Strafgerichtsbarkeit zu7 ." Die Forderung nach Abschaffung der Polizeigerichtsbarkeit konnte sich nach 1848 zwar weitgehend in den wichtigsten deutschen Staaten8 und mit den Reichsjustizgesetzen schließlich reichseinheitlich durchsetzen. Eine verfassungsrechtliche Absicherung entsprechend dem § 182 Abs. 2 der Paulskirchenverfassung fand sie allerdings nichtD. Dies erfolgte erstmals, jedenfalls bis zu einem gewissen, noch näher zu bestimmenden Grad durch Art. 92 GG. Zugleich wurden die Polizeidelikte als eigenständige Deliktskategorie unterhalb des Kriminalstrafrechts mit eigenen Rechtsfolgen, die nicht als ehrenrührige Kriminalstrafen angesehen wurden, abgeschafft und nach dem Vorbild des preußischen StGB von 1851 als "übertretungen" in das Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen10• Sie wurden damit als vom schweren Unrecht teten über längere Zeit fest, ohne die Angelegenheit an die zuständigen Gerichte weiterzugeben (Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 56 f.; Görgen, Organisatorische Stellung, S. 48; über das "Recht zum ersten Zugriff" ders., S. 41 ff.). 5 Kern, S. 57. I Kern, a.a.O.; Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 317 ff. In Preußen finden sich allerdings schon seit 1749 Bestrebungen, die Verhängung öffentlicher Strafen allein dem Richter vorzubehalten. In der Restaurationsepoche werden die dahingehenden Ansätze jedoch zugunsten einer erweiterten Strafgewalt der Polizei wieder zurückgedrängt. Vgl. dazu Mattes, Ordnungswidrigkeiten, S. 85 ff. 7 Diese Bestimmung findet sich noch nicht im 1. Entwurf des Verfassungsausschusses zum Grundrechtsteil, sondern geht auf einen Verbesserungsantrag des Abgeordneten Teichert zurück (vgl. Stenographischer Bericht, Bd. I, S. 698), der aber nach Beratung im Verfassungsausschuß (dazu Droysen / Hübner, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Nationalversammlung, S. 223) mit großer Mehrheit angenommen wird (vgl. Stenographischer Bericht, Bd. IV, S. 2579). 8 Kern, S. 74; Einzelheiten bei Goldschmidt, S. 317 ff.; Mattes, S. 99 ff. U Vgl. dazu Fn. 12 in § 4. Die dort angeführten Gründe, warum die Reichsverfassung von 1871 und die WRV nicht zu einem materiellen Rechtsprechungsbegriff gelangten, gelten mutatis mutandis auch hier. Zur Scheu des Rechtspositivismus, dem Gesetzgeber durch Verfassungsnormen Bindungen aufzuerlegen, vgl. auch Denninger, Staatsrecht 1, S. 98 ff. 10 Den Gründen für diese Entwicklung kann hier nicht nachgegangen werden. Amelung sieht in der Aufnahme der Übertretungen in das StGB "eine Auswirkung konservativen Denkens" (Rechtsgüterschutz, S. 55), meint allerdings: "Einschränkend ist anzumerken, daß ... es auch rechtsstaatlichen Erwägungen entgegenkam, wenn diese Delikte der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen wurden." (a.a.O., Fn. 20). Die Motive zum StGB berufen sich darauf, daß es unmöglich sei, "die Grenzlinien zwischen dem kriminellen und dem polizeilich Strafbaren zu finden" (Zitat nach Göhler, OWiG, Einl. 2; ähnlich schon die Motive zum "Zweiten Teil: Polizei-
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nicht mehr wesensmäßig l1 , sondern nur noch graduell unterschieden angesehen, die Rechtsfolge galt als Kriminalstrafe. Dies und der Wegfall zahlreicher als Polizeidelikte ausgestalteter Privilegierungen führte zu einer Aufwertung der Bagatelltatbeständel2 • Dem entsprach das Verschwinden von Sonderformen des Verfahrens für Kleinkriminalität, für die das Strafbefehls- und Strafverfügungsverfahren nur ein unzulänglicher Ersatz waren. Das auf den schwerwiegenderen Normalfall zugeschnittene, "aufwendige, die Prozeßrollen, auch die des Angeklagten scharfzeichnende ... Verfahren" (Naucke) der RStPO machte das "Vor-dem-Richter-Stehen" auch wegen einer Bagatelle zu einer ernsten Angelegenheit, so daß auch das Verfahrensrecht die Tendenz des materiellen Rechts verstärktel3 • Hinzu kommt etwa seit Beginn des 1. Weltkriegs eine immense Ausdehnung des Strafrechts im Bereich des sogenannten Nebenstrafrechts. Zunächst strafgesetze" des Entwurfs des "Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten", erschienen 1833, und die Motive des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, vgl. Mattes, S. 94 f.) RösSner führt an, daß für den Gesetzgeber eine möglichst große dogmatische und systematische Perfektion des Gesetzes im Vordergrund gestanden habe, die nur durch ein hohes Abstraktionsniveau und unter Verzicht auf die im Bereich der kleinen Kriminalität notwendigen Differenzierungen zu erreichen gewesen sei (Bagatelldiebstahl, S. 49). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Naucke, wenn er feststellt, daß Rechtswissenschaft wie Gesetzgeber Fragen des Besonderen Teils, die sich nicht aus Ableitungen des Allgemeinen Teils entscheiden ließen, kein besonderes Interesse entgegenbrachten und daß sich Straftheorie und Prozeßrecht auf den Durchschnittsfall konzentrierten und Fragen der Kleinkriminalität weiter keine Beachtung schenkten (Gutachten, D 20 ff.). Diese Erklärungen schließen einander zumindest nicht aus. Auch wenn es einen qualitativen Unterschied nicht gibt, hindert das nicht, quantitative Unterschiede zum Anlaß für eine Sonderbehandlung zu nehmen. 11 Zu den Begründungen für die Sondernatur der Polizeidelikte vgl. Amelung, S. 20 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 167 Fn. 9; H. Mayer, GS 96, 399; GS 98, 333; am ausführlichsten, aber einseitig Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 117 ff. . Nach Mattes ist diese Sondernatur immer nur eine Sache der vom Naturrecht ausgehenden Theorie gewesen, die die Gesetzgebung nicht sehr nachhaltig beeinflußt habe. In der Polizeistrafgesetzgebung seien die Polizeidelikte schon immer nur als Delikte geringe(re)n Unrechtsgehaltes aufgefaßt worden (S. 39, 58, 94 f., 105 ff. u. ö.; vgl. aber auch die etwas relativierende Rezension der Mattesschen Untersuchung von Tiedemann, ZStW 91 (1979), 145, 147). In der Tat laufen die Grenzlinien für das Polizeistrafrecht nicht parallel zu denen, die von den Verfechtern einer Sondernatur des Ordnungswidrigkeitenrechts für dieses angegeben werden. 12 Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 47 ff.; Naucke, Gutachten, D. 20 ff. Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß die Anerkennung eines Wesensunterschiedes zwischen dem Unrecht der schweren Kriminalität und dem der Bagatelldelikte die Voraussetzung für die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Sonderbehandlung der Bagatelldelikte darstellt (wenngleich man zugeben muß, daß es häufig dieser Gedanke war, der zum Ausgangspunkt für Reformen geworden ist); ebensowenig, daß eine solche Sonderbehandlung nur in der Form erfolgen könne, daß die Ahndungskompetenz dafür dem Richter entzogen und auf die Verwaltung oder ein sonstiges nichtrichterliches Organ übertragen wird. 13 Naucke, D 19 f.; vgl. auch Rössner, S. 50.
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unter dem Druck des Krieges, später im Zuge wachsender Ansprüche an die "Daseinsvorsorge" und als Folge der immer komplizierter werdenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Verflechtungen griff (und greift) der Staat in immer mehr Lebensbereiche steuernd und ordnend ein und versuchte, seinen Geboten durch die Bewehrung mit Sanktionen Nachdruck zu verleihenu. Da dem Gesetzgeber kein angemesseneres Reaktionsmittel zur Verfügung stand, setzte er auch in vom Unrechtsgehalt her geringfügigen Fällen die Kriminalstrafe ein, die in solchen Fällen auch als Übertretungsstrafe eine Überreaktion sein konnte15• So kam es zu einer oft beklagten "Hypertrophie" des Strafrechts mit entsprechenden Folgen: neben der Unangemessenheit der Reaktionen zur Überlastung der Justiz mit Bagatelldelikten und der, jedenfalls oft beschworenen, Gefahr einer allgemeinen Entwertung des Strafrechts u1• Dagegen waren die verstärkte Anwendung von Strafbefehls- und Strafverfügungsverfahren und die Einführung des § 153 im Jahre 1924 nur behelfsmäßige Auswege. Da diese Entwicklung erst zu einem Zeitpunkt einsetzte, als die Bemühungen um die Zuständigkeit der Richter auch für die Bagatellkriminalität wenigstens teilweise Erfolg hatten, ist häufig der Eindruck entstanden, die unangemessene Behandlung dieser Delikte sei jedenfalls auch eine Folge der richterlichen Zuständigkeit für sie. Dagegen ist festzuhalten, daß diese Probleme ihren Grund in erster Linie in der skizzierten rigiden Flurbereinigung des materiellen und Verfahrensrechts haben, durch die der Reichsstrafgesetzgeber zugunsten einfacher und übersichtlicher Lösungen alle Differenzierungen des früheren Rechts beseitigte und die man erst neuerdings durch das Ordnungswidrigkeitenrecht in Teilbereichen wieder rückgängig zu machen versucht. Im übrigen war der Sieg des Liberalismus im Kampf um die Monopolisierung der Strafgewalt bei den Gerichten nicht vollständig und auch nur vorläufig. Nicht vollständig, weil auch nach der Rechtsvereinheitlichung durch die Reichsjustizgesetze noch Ausnahmen bestehen blieben. Die wichtigsten waren die Polizeistrafverfügung und die Strafbefugnis der Finanz- und Zollbehördenl7 • Nur vorläufig, weil der Gesetzgeber trotz der in der Schaffung der Übertretung liegenden theoretischen Absage an die Lehre von einem eigenständigen Polizei- bzw. Verwaltungsunrecht l8 schon bald den gerade erst verlassenen Weg eines verwaltungseigenen Ordnungs- und Verwaltungsstrafrechts von neuem beschritt, indem er Zuwiderhandlungen gegen 14 Göhler, OWiG, Einl., Anm. 2; Schäfer, in: Löwe / Rosenberg, 22. Aufl., Einl. Kap. 11 B 3; Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 391 ff. 15 Eb. Schmidt, a.a.O.; Festschr. Arndt, S. 415 ff.; vgl. auch Göhler, a.a.O. 18 Henkel, Strafverfahrensrecht, 1. Aufl., S. 352; Schäfer, a.a.O. (Fn. 14); Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 391 ff.; Tiedemann, ÖJZ 1972, 287. 17 Über weitere Ausnahmen durch die Strafbefugnisse der Oberpostdirektionen und der Seeämter vgl. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 100; Schäfer, Strafprozeßrecht, Kap. 3 Rdnr. 100. Die Polizeistrafverfügung wurde, nachdem sie schon die britische und die amerikanische Besatzungsmacht in ihren Besatzungszonen aufgehoben hatten, endgültig erst durch das Vereinheitlichungsgesetz vom 12.9.1950 (BGBl. 455) abgeschafft, und zwar im Hinblick auf Art. 92 GG. Das Ende der Strafbefugnis der Finanzämter brachte erst das Urteil des BVerfG vom 6. Juni 1967 (E 22, 49 ff.), das sie mit Art. 92 GG für unvereinbar erklärte. Vgl. dazu u. § 5, 2. b). 18 Tiedemann, öJZ 1972, 286.
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einzelne Wirtschaftsverwaltungsgesetze mit geldlichen Sanktionen bedrohte, die von der Verwaltung zu verhängen waren und die als "Ordnungsstrafen" deklariert wurden10• So kam es zu einem Gegeneinander von übertretungskriminalstrafrecht, dessen Verfolgung der Justiz oblag, und "Ordnungsstrafrecht", dessen Ahndung durch die Verwaltung erfolgte!O, ohne daß ein theoretisches Konzept erkennbar gewesen wäre, an dem der Gesetzgeber sich bei der Festlegung der Sanktionsart orientierte. Ziel der mit der Ordnungsstrafe operierenden Gesetzgebung war keineswegs, wie es nahegelegen hätte, die mit der Ausdehnung des Nebenstrafrechts und den Unzulänglichkeiten kriminalstrafrechtlicher Reaktionen aufgetretenen Probleme anzugehen. Vielmehr ging es darum, der Verwaltung ein schlagkräftiges und von der Kontrolle durch die Justiz möglichst unabhängiges Repressionsmittel in die Hand zu geben. Dies zeigt sich daran, daß die Höchstbeträge der geldlichen Sanktionen bei der Ordnungsstrafe die der bei übertretungen möglichen Geldstrafe weit überschreiten konnten. Vor allem aber war die Nachprüfbarkeit der Ordnungsstrafen teils völlig ausgeschlossen, teils besonderen Stellen übertragen21 • Dies gilt nicht erst für den Nationalsozialismus, sondern schon für die Weimarer Zeitu . Unter dem Nationalsozialismus erfuhr die Ordnungsstrafgewalt allerdings eine ungehemmte, allein aa den Bedürfnissen totalitärer Machtentfaltung ausgerichtete Ausdehnung mit geldlichen Sanktionen in teilweise unbeschränkter Höhe und einschneidenden Eingriffsmöglichkeiten in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Betroffenen. Die Justiz wurde praktisch auch dort ausgeschaltet, wo Wirtschaftsdelikte noch mit Kriminalstrafe bedroht waren, da die Verwaltungsbehörden auch in diesen Fällen mit Ordnungsstrafen reagieren konnten und die Angelegenheit nur an die Gerichte abgeben sollten, wenn sie das im "öffentlichen Interesse" für erforderlich hielten!l. Obwohl zu den ersten Rechtsreformen nach 1945 der Abbau dieser umfassenden Ordnungsstrafgewalt der Verwaltungsbehörden gehörte, kehrte der bundesrepublikanische Gesetzgeber nicht zu dem Grundsatz des Liberalismus zurück, Sanktionsbefugnisse allein in die Hand des Richters zu legen. Das Grundgesetz hatte mit Art. 92 GG zwar erstmals eine Verfassungsvorschrift eingeführt, die sich (auch) auf diese Problematik bezog, und es lag nahe, sie nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit im Sinne des Grundsatzes· des Liberalismus zu lesen. Der Gesetzgeber meinte aber, auf eine eigenständige Sanktionskompetenz der Verwaltung nicht verzichten zu können, und glaubte, es genüge, wenn deren Grenzen rechtsstaatlich einwandfrei festgelegt seienu . Einzelheiten bei Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht 1, S. 44 ff. Tiedemann, ÖJZ 1972, 286. 21 Tiedemann, ÖJZ 1972, 286 f.; GA 1969, 75. t! So jedenfalls Tiedemann, a.a.O., m. w. Nachw.; nach Eb. Schmidt, Festschr. Arndt, S. 416, treten solche rechtsstaatlich bedenklichen Zustände erst unter 18
tO
dem Nationalsozialismus auf. 23 Einzelheiten bei Eb. Schmidt, Festschr. Arndt, S. 417 ff.; Tiedemann, GA 1969, 75 ff. U Einen anschaulichen Bericht über den Beginn dieser Arbeit und die dabei maßgeblichen Überlegungen gibt Eb. Schmidt, S. 415 ff., der diese Entwicklung entscheidend beeinflußt hat. Vgl. auch Jescheck, JZ 1959,459.
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Dazu bot sich die von James Goldschmidt schon zu Beginn dieses Jahrhunderts begründete, von Erik Wolf u. a. weiter entwickelte 25 , vom Gesetzgeber aber bis dahin weitgehend ignorierte sogenannte Verwaltungsstrafrechtstheorie an mit ihrer Unterscheidung zwischen "echtem Kriminalunrecht" und dem davon wesensmäßig verschiedenen bloßen "Verwaltungsungehorsam". Diese nach dem Kriege vor allem durch Eb. Schmidt28 verfochtene Lehre besagt, daß nur die Kriminaldelikte eigentliche Rechtsgüter, nämlich solche des einzelnen, schützen27 , während Schutzgut des Verwaltungsstrafrechts die "Verwaltungsinteressen" des Staates, die Sorge um einen störungsfreien Ablauf der Verwaltungsgeschäfte sei 28 • Im Gegensatz zum Kriminalunrecht sei daher das Verwaltungsunrecht als bloßer Verwaltungsungehorsam ethisch indifferent; es fehle auf der Schuldseite an einer ethischen Vorwerfbarkeit, so daß die darauf erfolgende Sanktion keine ehrenrührige Strafe, sondern nur eine "scharfe Pflichtenmahnung" sein dürfe29 • Unterstellt man einen solchen Wesensunterschied, dann ist die These leicht plausibel zu machen, das Richtermonopol des Art. 92 GG beziehe sich nur auf das eigentliche, das Kriminalstrafrecht und stehe einer Sanktionsbefugnis der Verwaltung für nichtkriminelles Unrecht nicht entgegen30• Das Verwaltungsstrafrecht ist dann nur eine Art Annex zum Verwaltungsrecht31 • In Durchführung dieses Konzepts kommt es zur Schaffung eines eigenständigen Rechts der "Ordnungswidrigkeiten", das alle Fälle des nichtkriminellen bloßen Verwaltungsungehorsams erfassen sollte und mit der Geldbuße eine gegenüber der Kriminalstrafe mildere und vor allem nicht ehrenrührige Sanktion zur Verfügung stellt, deren Verhängung in erster Linie der Verwaltung obliegt32• Damit versuchte der Gesetzgeber, wenigstens einen Teil der Probleme zu lösen, die sich aus der Ausweitung des Nebenstrafrechts und der Sanktionierung oft geringfügiger Verstöße gegen Verwaltungsrechtsnormen mit Kriminalstrafe ergeben hatten. Ziel des Ordnungswidrigkeitenrechts ist demnach, ein gerechteres Sanktionssystem mit der Entlastung der Justiz zu verbinden 16 Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 529 ff.; Erik Wolf, Festgabe Frank, S. 516 ff.; weitere Nachw. bei Göhler, OWiG, Vor § 1 Anm. 2. 2& Vgl. dazu Eb. Schmidt, SJZ 1948, Sp. 225; SJZ 1949, Sp. 665 ff.; Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht; LehrK I, Rdnr. 391 ff. und den Bericht in Festschr. Arndt, S. 415 ff. 27 Goldschmidt, S. 539 ff.; Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht, S. 19 ff. 28 Goldschmidt, S. 544 ff.; Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht, S. 26/27. Bezeichnend die Auffassung, daß es dabei um eine Lässigkeit des Bürgers in der Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten beim ordnungsgemäßen Funktionieren der Verwaltung gehe. 28 Eb. Schmidt, S. 26 ff., 49 ff.; im übrigen kann diese Lehre bis zum Erlaß des OWiG 1968 als herrschend angesehen werden. über den Stand der Meinungen zum OWiG 1952 unterrichtet Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 158 ff.; vgl. aber auch Patzig, DVBl. 1967, 309 ff. und die bei Göhler, OWiG, Vor § 1 Anm. 2 A b, angegebenen Monographien; die dogmengeschichtlich aufschlußreichste Darstellung bei Mattes, Ordnungswidrigkeiten, S. 105 ff. und bei Amelung, Rechtsgüterschutz, §§ 6, 4 B; 7, 3 A und B b; 12 B. 30 Vgl. Jescheck, JZ 1959, 459. 31 Vgl. R. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 15 und dort Fn. 22. 32 BT-Drucks. I, 2100, S. 14 ff. Vgl. auch Eb. Schmidt, Festschr. Arndt, S. 418 ff.; Tiedemann, OJZ 1972, 287 ff.; Zwischenstation auf diesem Weg ist das Wirtschaftsstrafgesetz von 1949.
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und außerdem der Gefahr zu begegnen, daß die Kriminalstrafe durch zu häufige Anwendung einen Teil ihrer Abschreckungswirkung verliert33 • In der Folgezeit vermeidet es der Gesetzgeber daher, neue übertretungstatbestände zu schaffen. Die Umwandlung von übertretungen in Ordnungswidrigkeiten wird zum bevorzugten Mittel der "Entkriminalisierung" des aufgeblähten Nebenstrafrechts34 • Nachdem bereits 1968 durch die Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten (Art. 3 EGOWiG) der wichtigste Einzelkomplex herausgelöst worden war, erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen Abschluß mit der Abschaffung der übertretungen als Deliktskategorie durch das 2. StrRG. Damit sind jedoch nicht sämtliche geringfügigen Delikte aus dem Strafrecht entfernt und in Ordnungswidrigkeiten überführt worden. Vor allem für die Bagatelldelikte im Eigentums- und Vermögensbereich vermochte man sich zu dieser Form der Entkriminalisierung nicht zu entschließen35• Sie sind daher im StGB verblieben, formal sogar zu Vergehen aufgewertet worden und sollen durch die §§ 153 und vor allem 153 a eine angemessene Behandlung finden, wodurch mit der Staatsanwaltschaft neben dem Richter und den Verwaltungsbehörden eine weitere Stelle mit Sanktionsbefugnissen betraut worden ist. Daß der Gesetzgeber auf seinem Weg der Entkriminalisierung durch Überführung in das Ordnungswidrigkeitenrecht vor der kleinen Vermögenskriminalität Halt gemacht hat, läßt sich kaum damit erklären, daß man diese Delikte schlecht als Verwaltungsunrecht auffassen kann. Denn das Ordnungswidrigkeitenrecht hat sich in dieser Beziehung schon lange von seinem dogmatischen Ausgangspunkt entfernt und dient auch sonst dem Schutz von Individualrechtsgütern. Die eigentlichen Verwaltungswidrigkeiten bilden heute nur noch den geringsten Teil der Ordnungswidrigkeitentatbestände88 • Ebensowenig ist es bei einer Beschränkung auf geringfügige Rechtsgutsverletzungen geblieben, wie die Höhe der Bußgeldandrohungen, die nicht selten fünf- und sechsstellige Summen erreicht, belegt37•
Soweit der historische Exkurs, der den problemgeschichtlichen Hintergrund für eine systematische Auslegung des Art. 92 GG liefern sollte. Die geschilderte Entwicklung verläuft allerdings keineswegs gradlinig und läßt sich daher auch nur schwer auf einen einheitlichen Nenner bringen. Es sind höchst widersprüchliche Bestrebungen, die abwechselnd oder nebeneinander zur Geltung kommen, ein Spannungsfeld, das im wesentlichen bestimmt wird von vier Polen: -
dem Streben nach rechtsstaatlicher Absicherung gegen einen möglichen Machtmißbrauch durch eigene Sanktionskompetenzen der Verwaltung, das auf eine Monopolisierung aller Sanktionskompetenzen bei den Gerichten drängt,
33 BVerfGE 8, 197 ff. (207); 9, 167 ff. (172); Göhler, OWiG, Einl., Anm. 1ff.; Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 391 ff.; Tiedemann, ÖJZ 1972,287. 34 Göhler, OWiG, Einl., Anm. 4, 5; Erbs I Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Einführung II!. 35 Vgl. dazu o. § 1, 3. 38 Vgl. dazu u. § 5, 2. a). 37 Vgl. dazu u. Fn. 76.
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richtervorbehalt
dem Bedürfnis der Verwaltung nach einem in eigener Regie zu handhabenden Repressionsmittel, zu schneller und effektiver Durchsetzung der Verwaltungsziele bei Verstößen gegen Verwaltungsgesetze38, -
dem Bedürfnis der Justiz nach Entlastung von der Verfolgung der massenhaft auftretenden Bagatellkriminalität; dazu scheint sich eine begrenzte Verlagerung von Sanktionskompetenzen auf nichtrichterliche Organe, insbesondere auf die Verwaltung, anzubieten,
-
dem Bedürfnis nach einer Sanktionsform für Bagatelldelikte, die weniger einschneidend ist als die herkömmliche Kriminalstrafe, aber dennoch fühlbar bleibt.
So kann einmal die Konzentration der Sanktionszuständigkeiten bei der Justiz als höchstes rechtsstaatliches Ziel erscheinen, dann wieder der Abbau gerichtlicher Zuständigkeiten als "Entkriminalisierung" und rechtsstaatlicher Fortschritt gefeiert werden, obwohl damit Entwicklungen aus der vorrechtsstaatlichen Epoche wieder aufgegriffen werden, und beides mit einem relativen Recht. Dementsprechend reichen die Meinungen darüber, was Art. 92 GG an richterlichen Zuständigkeiten zwingend vorschreibt, von der Auffassung, jede Sanktion schlechthin, also auch die Geldbußen nach dem OWiG dürften nur vom Richter vorgenommen werden311, bis zu der Ansicht, abgesehen von den Fällen des Art. 104 Abs. 2 GG stehe es dem Gesetzgeber frei, wie er die Sanktionsgewalt auf Richter und Verwaltung aufteile, wenn nur Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen sei40 • Eine eindeutige Entscheidung dieses Meinungsstreites läßt sich aus historischen Argumenten nicht herleiten. Immerhin kann man anhand der dargestellten Entwicklung mit Sicherheit ausschließen, das Grund38 In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, daß die Befürworter der Strafkompetenz der Finanzverwaltung überwiegend dieser Verwaltung angehören und daß der Bundesminister der Finanzen als Vertreter der Bundesregierung in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht zu diesem Fragenkomplex sich auf einen formellen Rechtsprechungsbegriff beruft und damit weiter geht als die meisten anderen Stimmen, die für diese Strafkompetenz eintraten (vgl. BVerfGE 22, 49 ff. (64». 31 So z. B. Cordier, NJW 1967,214 ff.; Jescheck, JZ 1959, 462; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 177; Mattes, ZStW 82 (1970), 34; R. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 15; ZStw 89 (1977), 640; Schoreit, GA 1967, 237. fO Bundesminister der Finanzen, a.a.O. (Fn. 38); Bettermann, Verkehrsgerichtstag, S. 45 ff. u. ö., allerdings mit der Einschränkung, daß eine rechtskraftsfähige Verurteilung nur durch den Richter erfolgen dürfe; der Sache nach auch Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 92 GG, Rdnr. 42 ff., 49 ff.; alle Anhänger eines formellen Rechtsprechungsbegriffs, vgl. o. Fn. 2 in § 4. Ferner alle Autoren, die zwar Art. 92 GG materiell auslegen wollen, aber der Meinung sind, rechtsprechende Funktionen dürften auch von Verwaltungsbehörden ausgeübt werden, solange es sich hierbei um ein sogenanntes Vorverfahren handele. Einzelnachweise bei Salzmann, .Beschleunigte Ahndung, S. 93, Anm. 393; S. 94, Anm. 401.
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gesetz habe die Aufteilung der Sanktionsgewalt für nicht-freiheitsentziehende Sanktionen zwischen Richter und Verwaltung völlig in das Ermessen des Gesetzgebers stellen wollen. Denn das Grundgesetz ist vor allem als Reaktion auf die negativen Erfahrungen des Dritten Reichs zu verstehen. Zu diesen Erfahrungen gehörte aber auch das Ausufern der Ordnungsstrafgewalt der Verwaltungsbehörden und ihr Übergreifen in tra.ditionell der Rechtsprechung vorbehaltene Bereiche. In den Jahren 1947 -1949, also zeitweise parallel zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates, versuchte dieWirtschaftsstrafrechtskommission, das Wirtschaftsstrafrecht wieder in ein rechtsstaatliches Fahrwasser zu bringen, und dazu gehörte vor allem die Beschränkung der Strafgewalt der Verwaltungsbehörden41 • Diese Arbeiten hatte der Parlamentarische Rat also bei der Abfassung des Art. 92 GG vor Augen. Er hat dort, wie auch sonst an vielen Stellen, an die rechtsstaatlich-liberalen Grundsätze des 19. Jh. angeknüpft. Zu den Hauptanliegen des Liberalismus gehörte aber, wie wir gesehen haben, der Richtervorbehalt für alle strafrechtlichen Sanktionen. Demgemäß hat dann auch der Bundestag im Jahre 1950 die Wiedereinführung der Polizeistrafverfügung unter Hinweis auf Art. 92 GG abgelehnt42 • Ernsthaft kann daher eigentlich nur die Frage gestellt werden, ob es unter der Herrschaft des Grundgesetzes überhaupt Sanktionen geben darf, die nicht vom Richter verhängt werden. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat keinem der aufgezeigten Interessen einen eindeutigen Vorrang eingeräumt, sondern eine Art Ausgleich zwischen ihnen herzustellen versucht. So hat es einerseits die Strafkompetenz der Finanzämter für unvereinbar mit Art. 92 GG erklärt und mit der Kriminalstrafe eine eindeutige Grenzlinie für die Sanktionskompetenz nichtrichterlicher Organe markiert. Die Kompetenz der Verwaltungsbehörden, im Bereich der Ordnungswidrigkeiten Geldbußen zu verhängen, hat es dagegen, trotz der immer wieder geäußerten Bedenken und Einwände, für zulässig gehalten. Es hat damit den vom Gesetzgeber nach 1949 eingeschlagenen Weg im wesentlichen bestätigt, angetan von den dadurch eröffneten Möglichkeiten der Entkriminalisierung43 , aber sicherlich auch nicht ohne Seitenblick auf die Folgen, die ein Wegfall der Sanktionskompetenz der Verwaltungsbehörden in dem mittlerweile weit vorangetriebenen Ausbau der Ordnungswidrigkeitentatbestände für die Arbeitsbelastung 41 42
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VgI. Eh. Schmidt, Festschr. Arndt, S. 415 ff. VgI. o. Fn. 17. BVerfGE 8,197 ff. (207); 9,167 ff. (172).
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der Justiz und die Effektivität dieses Sanktionssystems mit sich bringen könnte. Ein Mittelweg also, dem nicht abzustreiten ist, daß er praktische Vorzüge mit rechtsstaatlichen Belangen zu vereinigen versucht; aber ist er deswegen schon mit Art. 92 GG konform? a) Die Lehre von einem qualitativen Unterschied zwischen dem Unrecht der Kriminaldelikte und dem der Ordnungswidrigkeiten
Das Bundesverfassungsgericht hat sich zunächst, darin dem Gesetzgeber folgend", die Lehre von einem qualitativen Unterschied zwischen dem Unrecht der eigentlichen Kriminaldelikte und dem der Ordnungswidrigkeiten zu eigen gemacht'5. Diese Auffassung ist jedoch heute nicht mehr haltbar. (1) Zum einen trifft schon ihr Ausgangspunkt, die Unterscheidung zwischen Rechtsgütern, die Interessen des einzelnen betreffen, und bloßen "Verwaltungsinteressen", für das heutige Verständnis vom Wesen staatlicher Aufgaben nicht mehr zu. So sind "Verwaltungsinteressen" in einer Zeit zunehmender Abhängigkeit des einzelnen von staatlicher "Daseinsvorsorge" mittelbar immer auch Interessen des einzelnen". überhaupt ist die Vorstellung staatlicher Interessen, die nicht auch wenigstens mittelbar Interessen der Bürger sind, nur aus dem Gedanken einer Trennung von Staat und Gesellschaft verständlich, eine Auffassung, die angesichts der in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG für die Staatsgewalt formulierten Zielsetzungen nicht mehr aufrecht zu halten ist'7. (2) Zum anderen ist das Ordnungswidrigkeitenrecht schon lange nicht mehr auf Fälle von Verwaltungszuwiderhandlungen beschränkt, sondern umfaßt inzwischen überwiegend Verhaltensweisen, die sich ihrer Struktur nach nicht grundsätzlich von Kriminaldelikten unterscheiden, wie "abstrakte Gefährdungsdelikte, z. T. zum Schutz individueller, z. T. zur Sicherung überindividueller Werte, ferner Erschleichungstatbestände im Vorfeld des Betruges, Auffangtatbestände für leichtfertige (grob fahrlässige) Begehung krimineller Delikte"'8, vor allem aber eheVgl. BT-Drucks. 1/2100, S. 14 f. (Entwurf OWiG 1952). E 9, 167 ff. (171). 40 Göhler, OWiG, Vor § 1, Anm. 2 A b; Jescheck, AT, S. 45; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 167; Stratenwerth, AT, Rdnr. 55; Tiedemann, ÖJZ 1972, 290; Wirtschaftsstrafrecht 1, S. 131 ff. 47 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 117 ff.; Tiedemann, a.a.O.; die Reihe der Einwendungen gegen die Lehre Goldschmidts, Erik Wolfs und ihrer Nachfolger ließe sich fortsetzen, vgl. dazu vor allem Amelung, §§ 6, 4 B; 7, 3 A und B b; 12 B; Krümpelmann, S. 166 ff.; Mattes, ZStW 82 (1970), 27 ff.; Tiedemann, a.a.O. 48 Tiedemann, ÖJZ 1972, 288; vgl. auch Göhler, OWiG, Vor § 1, Anm. 2 Ab; Jescheck, JZ 1959, 460 f.; AT, S. 45 ff.; Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S.14ff. 44
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malige Übertretungstatbestände, die das Gericht vor ihrer Umwandlung in Ordnungswidrigkeiten ohne weiteres dem Kriminalunrecht zurechnete" . So liegt hier kein "aliud" zum Unrecht der Kriminaldelikte vor 50 , sondern nur ein Unrecht minderen Grades, die aufweisbare Differenz ist lediglich quantitativ5!. Ebensowenig läßt sich daher die Behauptung von der ethischen Indifferenz des Ordnungswidrigkeitenrechts aufrecht erhalten52 •
BVerfGE 21, 378 ff. (384 f.); 22, 49 ff. (78 ff.); u .. ö. Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß beispielsweise zwischen einer Verkehrsordnungswidrigkeit und einem Mord i. S. des § 211 StGB kein qualitativer Unterschied besteht, aber dasselbe dürfte für das Verhältnis zwischen einem fahrlässigen Verhalten nach § 315 c StGB oder etwa einem Bagatelldiebstahl und einem Mord gelten. Die zur Unterscheidung von Ordnungswidrigkeiten und Kriminalstrafrecht entwickelten qualitativen Kriterien taugen offensichtlich nicht, solche ohne weiteres plausiblen Unterschiede zu fassen. Im übrigen ist eine solche Unterscheidung auch nicht so dringlich, da auch bloß quantitative Unterschiede in der Sozialschädlichkeit für den Gesetzgeber Anlaß sein können, nicht nur Differenzierungen in der Strafandrohung innerhalb derselben Sanktionsart vorzunehmen, sondern auch qualitativ unterschiedene Sanktionsarten einzuführen und so durch die Sanktionsart eine qualitative Grenzlinie zu ziehen, wie es bei der Unterscheidung zwischen Geldbuße nach dem OWiG und Kriminalstrafe bereits der Fall ist und wie es für ein eventuelles künftiges Bagatellstrafrecht anzustreben ist. Hinzuweisen ist auch noch auf den vielleicht interessantesten Versuch aus neuerer Zeit, doch noch zu einer qualitativen Abgrenzung zwischen Ordnungswidrigkeiten und (Kriminal-) Straftaten zu gelangen, nämlich die These von Amelung, Ansatzpunkte für eine solche Unterscheidung könne "nicht die ,objektive' Seite der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung (sein), sondern (man müsse von der) ,subjektiven' Seite der verbotswidrigen Tat" (ausgehen) (Rechtsgüterschutz, S. 295). Zu Strafrechtsnormen könnten nur solche Verbote werden, die bereits in der Phase der primären Sozialisation verinnerlicht würden, während Ordnungswidrigkeiten vom Gesetzgeber selbst institutionalisiert werden müßten (S. 292). Das ist zwar für den als Abwandlung des Dekalogs verstehbaren "Kernbereich" des Strafrechts eine zutreffende Beobachtung. Folgerungen für die Gesetzgebung lassen sich daraus jedoch nicht ziehen. Denn sonst hieße das: Eine Verhaltensweise kann noch so sozialschädlich sein, wenn sie nicht zum Komplex der bereits in der Kindheit und Jugend allgemein in einer Gesellschaft verinnerlichten Verbote gehört, dann darf sie nicht mit Kriminalstrafe bedroht werden, eine für den Bereich des Umweltschutzes, aber auch für den Schutz aller anderen überindividuellen oder sozialen Rechtsgüter - denn diese sind es ja meistens, die in der Gewissensbildung aus den verschiedensten Gründen nicht erfaßt werden unerträgliche Lösung. Aus Amelungs Ansatz lassen sich daher allenfalls Folgerungen für Unrechtsbewußtsein und Irrtumslehre oder die Intensität, mit der eine Norm vom Gesetzgeber in das Bewußtsein der Bevölkerung zu rücken ist, ziehen. über weitere Einwände und zum Ganzen vgl. Backes, Strafrechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 218 Anm. 52; S. 195 ff. 51 Seit dem OWiG 1968 wohl überwiegende Meinung; vgl. die Nachw. bei Göhler, OWiG, Vor § 1 Anm. 2 A b; Jescheck, AT, S. 46 Fn. 32. 52 Amelung, S. 296; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 170 ff. 49
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b) Die Schwere des Eingriffs als Kriterium
Ohne diesen Standpunkt ausdrücklich aufzugeben, hat das Gericht später doch das Schwergewicht seiner Argumentation verlagert. In der für unseren Zusammenhang wichtigsten Entscheidung, in der es um die Zulässigkeit der Strafkompetenz der Finanzämter ging 53 , ist es zu dem Ergebnis gekommen, ein aus Art. 92 GG ableitbares Sanktionsmonopol der Richter bestehe dann, wenn es um die Ausübung von Strafgerichtsbarkeit gehe. Strafgerichtsbarkeit aber liege vor, wenn die verhängte Sanktion eine Kriminalstrafe sei5'. aa) Grundgesetz und präventiver Rechtsschutz Zum Ausgangspunkt wird dabei die Feststellung, daß das Grundgesetz Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers von einer gewissen Schwere an dem Richter vorbehalte55 • Diese Schwelle sei mit der Kriminalstrafe überschritten, und zwar auch mit der "Geldstrafe als Sühne für kriminelle Straftaten"58, so daß die Möglichkeit nachträglicher Rechtskontrolle, wie sie Art. 19 Abs. 4 GG garantiert, nicht ausreiche57 . Denn "nach dem Grundgesetz stellt sich ... die Verhängung einer Kriminalstrafe als ein so schwerwiegender Eingriff in die Rechtssphäre des Staatsbürgers dar, daß sie unter allen Umständen nur durch den Richter vorgenommen werden darf"58. Entscheidendes Kriterium dafür, ob eine Sanktion gemäß Art. 92 GG dem Richter vorbehalten ist, ist demnach die mit ihr verbundene "Schwere des Eingriffs" und dessen "Bedeutung für die Rechtsstellung des Staatsbürgers"59. Dem wird man aufgrund der folgenden, ansatz~ weise auch schon in der Entscheidung anzutreffenden überlegung zustimmen können: Das Grundgesetz kennt zwei Typen von Rechtsschutz: einmal die sogenannte "repressive Rechtskontrolle" , in der ein Eingriff der Staats~ gewalt in die Rechtsstellung des Bürgers vom Richter erst überprüft werden kann, nachdem er stattgefunden hat, und auch dann nur auf Antrag des Betroffenen. Diese Form des Rechtsschutzes ist durch Art. 19 Abs. 4 GG für alle staatlichen Eingriffe gewissermaßen als Mindestschutz garantiert. Daneben gibt es die "präventive Rechtskontrolle" , E 22, 49 ff. E 22,80. 55 E 22, 77. 58 E 22, 80; streitig kann die Frage eines richterlichen Sanktionsmonopols ja nur für nichtfreiheitsentziehende Eingriffe sein, da gemäß Art. 104 Abs. 2 GG über jede Form der Freiheitsentziehung nur der Richter entscheiden 53 54
darf. 57 58
5t
E 22, 81. E 22, 80. E 22, 77.
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bei der der Richter nicht nur "das letzte Wort" hat, sondern bereits das erste, d. h. ein Eingriff nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung erfolgen darfso. Präventive Rechtskontrolle ist in einer Reihe von Einzelvorschriften des Grundgesetzes ausdrücklich vorgesehen61 • Es wird daher bisweilen die Auffassung vertreten, daß sich der verfassungsmäßig garantierte Bereich der präventiven Rechtskontrolle in den im Grundgesetz ausdrücklich normierten Richtervorbehalten erschöpfe8!. Für das Strafrecht wird das mit einem Umkehrschluß aus Art. 104 Abs. 2 GG begründet. Daraus, daß diese Vorschrift Entscheidungen über Freiheitsentziehungen "nur" durch den Richter zulasse, Art. 92 eine solche Einschränkung aber nicht enthalte, ergebe sich, daß in anderen Fällen der Strafgerichtsbarkeit eine richterliche Zuständigkeit nicht garantiert sei6s • Die Verwendung des Wortes "nur" in diesem Zusammenhang dient jedoch dazu, wie A. Arndt gezeigt hat 84, klarzustellen, daß auch solche Freiheitsentziehungen unter Art. 104 Abs. 2 GG fallen, die nach überkommener Auffassung nicht zu den Aufgaben der Rechtsprechung zählten. Man wird daher vielmehr umgekehrt argumentieren können: Diese Einzelvorschriften betreffen Fälle, in denen die Zuständigkeit der Richter einer besonderen Hervorhebung bedurften, sei es, weil sie dem Grundgesetzgeber besonders wichtig erschienen oder aber, weil sie nach dem überkommenen Bild von den Aufgaben der Rechtsprechung nicht so selbstverständlich waren, daß man sie in einer Globalnorm wie Art. 92 GG zusammenfassen wollte. Wenn aber Art. 92 GG materiell auszulegen ist und d. h., wenn er mehr sein soll als die Aussage, daß die von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Möglichkeit repressiver Rechtskontrolle durch Richter durchgeführt wird, wenn er also überhaupt einen über Art. 19 Abs. 4 GG hinausgehenden Inhalt haben soll, dann müssen sich auch aus ihm Garantien für präventive Rechtskontrollen herleiten lassen. Kriterium dafür, wann eine solche Garantie gegeben ist, ist die Erforderlichkeit der Schutzvorkehrungen, die das gerichtliche Verfahren durch Justizförmigkeit und die unabhängige, unbeteiligte Stellung des Richters zur Zu diesen beiden Arten von Rechtskontrolle vgl. A. Arndt, Festgabe Schmid, S. 13 ff.; 26 ff.; Bettermann, Verkehrsgerichtstag, S. 28 f~; Herzog, in: Maunz I DiLrig, GG, Art. 92 Rdnr. 35 ff., der allerdings die Termini "Rechtsweggarantie" und "Richtervorbehalt" benutzt; Welp, Zwangsbefugnisse, S. 10 f.
c.
8ll
VgI. die Aufzählung in BVerfGE 22, 49 ff. (77). So etwa Herzog, Art. 92 Rdnr. 46; w. Nachw. bei Salzmann, Beschleunigte Ahndung, S. 93 Anm. 393. 83 Bauerle, BB 1957, 707 f.; Bettermann, Staatslexikon, Sp. 2028; Verkehrsgerichtstag, S. 45; AöR 92, 500; Haver, NJW 1957, 89; Kern, MDR 1950, 587. 84 NJW 1957, 249. 81
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7 Kausch
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Sanktionsverhängung und Richterv,orbehalt
Verfügung stellt. Denn dieser Maßstab liegt offensichtlich allen im Grundgesetz einzeln aufgeführten Richtervorbehalten zugrunde 85 und muß daher auch für die Auslegung des Art. 92 GG gelten. Für den Bereich der Sanktionen ist also zu fragen, wann hinreichender Schutz vor voreiligen, ungerechtfertigten oder übermäßigen Maßnahmen und davor, daß es zu Folgen kommt, die im Wege einer nachträglichen überprüfung nicht mehr rückgängig gemacht werden können, nur durch Vorschaltung eines Gerichtsverfahrens gewährleistet ist88 . Daraus ergibt sich aber auch, daß für Sanktionen, bei denen diese Voraussetzungen nicht vorliegen, bei weniger schwerwiegenden Eingriffen also, kein Richtermonopol gemäß Art. 92 GG besteht. Eben dies nimmt das Bundesverfassungsgericht für die Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts an. Worin liegt nun die besondere "Schwere des Eingriffs" etwa einer Geldstrafe des Kriminalstrafrechts gegenüber einer gleich hohen oder gar größeren Geldbuße nach dem OWiG? bb) Die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe als Merkmal ihrer besonderen Schwere Entscheidendes Merkmal der Kriminalstrafe ist nach Auffassung des Gerichts Inhalt und Wirkung des mit ihr verbundenen Schuldvorwurfs. So enthalte die Kriminalstrafe einen "ethischen Schuldvorwurf"87. Sie beinhalte ein "ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil", in dem dem Täter "die Auflehnung gegen die Rechtsordnung in einem grundsätzlich mit fehlerhafter Persönlichkeitshaltung zusammenhängenden Sinn zur Last gelegt" wird 88 • Die Geldbuße nach dem OWiG sei dagegen eine "bloße Pflichtenmahnung"89. Ihr fehle "Ernst"70 und "Makel"71 der Strafe. Damit wird zwar auf das Vokabular zurückgegriffen, mit dem die Sondernatur der Ordnungswidrigkeiten begründet werden sollte; man mag diese Formulierungen auch als kaum konkretisierbare Leerformeln empfinden72, dennoch wird mit ihnen, wenn auch in verklausulierter Form, eine Wirkung der Kriminalstrafe angesprochen, aus der allerdings eine besondere "Schwere des Eingriffs" resultiert: gemeint BVerfGE 22, 49 ff. (77). Vgl. dazu A. ATndt, Festgabe C. Schmid, S. 14 f., 27 f. 87 BVerfGE 9,167 ff. (171); 22, 49 ff. (79). IS E 9, 167 ff. (171); 22, 49 ff. (80); 27, 19 ff. (33). 89 E 9, 167 ff. (171); 27, 19 ff. (33). 70 E 9, 167 ff. (171). 71 E 8, 197 ff. (207). 72 Vgl. MengeT I ETichsen, VerwArch 59 (1968), S. 72; zur Unbestimmtheit des Begriffs "Sozialethik" vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht 1, S. 142 f. 15
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ist ihre Diskriminierungswirkung. Denn darin unterscheiden sich Geldstrafe und Geldbuße noch immer wesentlich. Der Vorbestrafte gilt in den Augen seiner Umgebung als sozial minderwertig und muß daraus folgende Einbußen im privaten und beruflichen Leben hinnehmen. Er ist als "Abweichler" stigmatisiert und der sozialen Isolation ausgesetzt73 . Dies alles natürlich in unterschiedlichem Maße und bei der Geldstrafe nur begrenzt. Aber immerhin auch bei ihr noch so, daß der Gesetzgeber sich veranlaßt sah, für weniger sozialschädliche Verhaltensweisen eine eigene Sanktionsform einzuführen, eben die Geldbuße des Ordnungswidrigkeitenrechts. Denn ein erklärtes Ziel für deren Einführung war, wie bereits kurz dargelegt, daß die als bloße Ordnungswidrigkeiten typisierten Verstöße "von den typischen, meistens entehrenden Folgen eines Kriminaldeliktes freigestellt werden"74, und wenn "Entkriminalisierung" häufig durch Umwandlung von Straftatbeständen in Ordnungswidrigkeiten erfolgt, dann eben, weil gerade diese Wirkungen der Kriminalstrafe vermieden werden sollen75. Allerdings schließen diese Feststellungen nicht aus, daß im vielleicht gar nicht einmal seltenen Einzelfall ein Täter sich von dem Unterschied zwischen Geldstrafe als Kriminalstrafe und Geldbuße nicht berührt zeigt und lieber eine niedrige Geldstrafe als eine hohe Geldbuße in Kauf nimmt. Das legt ganz generell die Frage nahe, ob eine sehr hohe Geldbuße wirklich der leichtere Eingriff gegenüber einer geringeren Geldstrafe ist. Aber das führt eher zu der weiteren Frage, ob nicht von einer gewissen Höhe der Geldbuße an auch deren Verhängung dem Richter vorbehalten sein muß. Denn die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe ist ja nur ein Indiz für die "Schwere des Eingriffs", bei nichtdiskriminierenden Sanktionen kann dies durchaus in der Höhe der zu erbringenden Geldleistung zu sehen sein78. 73 Zu den Wirkungen der Strafe vgl. Müller-Dietz, Strafbegriff und Strafrechtspflege, S. 95 ff. aBT-Drucks. 1/2100, S. 14 (Entwurf OWiG 1952). 75 Motiv für diese Entkriminalisierung ist allerdings, wie bereits angedeutet, nicht nur, unangemessen harte Wirkungen der Strafe zu vermeiden, sondern auch, "die Waffen des Strafrechts durch Viel- und Allesstraferei nicht stumpf werden zu lassen", d. h. die Diskriminierungswirkung der Strafe für die anderen Fälle zu erhalten. Daraus ergibt sich auch, daß diese Stigmatisierung, so schädlich sie unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung ist, mit der Kriminalstrafe intendiert wird, da sie einen Teil der Abschreckungswirkung ausmacht, ein innerer Widerspruch im Strafzielkatalog des § 46 StGB, der nur schwer aufzulösen ist. 78 Darüber hinaus ist auch zu fragen, wie mit der inzwischen wohl allgemein anerkannten Charakteristik des Ordnungswidrigkeitenrechts als eines Sammelbeckens für Zuwiderhandlungen von geringer Sozialschädlichkeit fünf- bis sechsstellige Geldbußen zu vereinbaren sind (vgl. die übersicht bei Göhler, OWiG, Anhang B), ob nicht die Androhung einer Buße in
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv.orbehalt
Als Zwischenergebnis läßt sich als.o festhalten, daß "Kriminalstrafen nach Art. 92 erster Halbsatz GG nur v.om Richter verhängt werden (können) "77, während für Sankti.onen, die in der "Schwere des Eingriffs" unterhalb der Kriminalstrafe angesiedelt sind, auch nichtrichterliche Zuständigkeiten begründet werden dürfen78 • c) Die Anwendung dieses Maßstabes auf § 153 a
Was ergibt sich nun, wenn man diesen Maßstab an die Sankti.onen des § 153 a anlegt? Eines der mit § 153 a angestrebten Ziele ist, ein Reakti.onsmittel für die Fälle an die Hand zu geben, in denen eine Kriminalstrafe zu hart erscheint, man den Täter aber auch nicht gänzlich ungesch.oren dav.on dieser Höhe ein Indiz dafür ist, daß es sich bei der betreffenden Verhaltensweise bereits um Kriminalunrecht handelt (vgI. dazu Jescheck, JZ 1959, 462; Krümpelmann, S. 184 ff.; Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, 22. Aufl., EinI., Kap. 3, Anm. 6 g) bb); Tiedemann, ZStW 83 (1971), 766). Das Ordnungswidrigkeitenrecht entwickelt sich in eine Richtung, die. nicht unbedenklich ist und die von Naucke so beschrieben wird: Es "sollte ein Auffanggebiet für nicht vergeltungswürdige Taten geschaffen werden. Auf Nichtigkeiten an Unrecht sollte mit Nichtigkeiten an Sanktion in einem unaufwendigen Verfahren reagiert werden. Diese Tendenz führte zum OWiG von 1952. Mit den Neufassungen des OWiG 1968/75 setzt sich eindeutig eine andere Tendenz durch. Es werden jetzt auch schwerwiegende Taten in das Ordnungswidrigkeitenrecht verlegt. Das unaufwendige Verfahren wird beibehalten und erweist sich nun als schnelles, schlagkräftiges Verfahren. Das Ordnungswidrigkeitenrecht kann nun auch als hartes Repressionsmittel im Verwaltungsverfahren funktionieren. Diese Repression kann härter sein als im Strafrecht" (Gutachten, D 32). Das zeigt deutliche Parallelen zum früheren Ordnungsstrafrecht. Die Schwierigkeit, gegenüber juristischen Personen keine Strafen verhängen zu können, müßte sich auch auf andere Weise meistern lassen. Nur wenn man das Kriterium von der "Schwere des Eingriffs" wirklich ernst nimmt, lassen sich die Bedenken zerstreuen, der Gesetzgeber könne durch einfache Umetikettierung die in Art. 92 GG garantierten Zuständigkeiten manipulieren. 77 Leitsatz BVerfGE 22, 49 ff. 78 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings, nachdem es einmal die Kriminalstrafe als Grenzlinie gefunden hatte, in späteren Entscheidungen nicht mehr darauf abgestellt, ob die die Schwere des Eingriffs begründenden Merkmale der Kriminalstrafe vorliegen .oder solche, aus denen sich eine vergleichbare Schwere herleiten ließe, sondern andere, in seinen Augen ebenfalls konstitutive Merkmale der Kriminalstrafe herangezogen und kommt so bisweilen zu Ergebnissen, die sich mit dem Ausgangspunkt seiner Rechtsprechung kaum noch vereinbaren und nur damit erklären lassen, daß das Gericht bestehende Zuständigkeiten aus Effizienzgründen nicht verändern will, so bei der Frage der Zulässigkeit eines befristeten Fahrverbots als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit (E 27, 36 ff.). Zu den einzelnen Merkmalen der Strafe nach der Rspr. des BVerfG vgI. Volk, ZStW 83 (1971), 405 ff. Im übrigen ist natürlich nicht zu bestreiten, daß die Abgrenzung nach der Schwere des Eingriffs recht unbestimmt ist und in Grenzfällen keine sichere Zuordnung ermöglicht, etwa bei der Frage, von welcher Höhe an eine Geldbuße nur vom Richter verhängt werden dürfte bzw. das Verhalten in das Kriminalstrafrecht aufgenommen werden müßte.
§ 5. Der Umfang der Strafgerichtsbarkeit
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kommen lassen wilFIt. Die Sanktionen nach § 153 a müssen also milder wirken als eine Geldstrafe. Da in bezug auf die Vermögensbeeinträchtigung wenig Unterschiede bestehen - wie bereits gesagt, setzt das Gesetz der Höhe der Auflagen, einen Geldbetrag zu leisten, nach oben keine Grenze80 - kann die Milderung nur im Wegfall der Diskriminierungswirkung bestehen, darin also, daß der Betroffene durch eine solche Sanktion nicht "vorbestraft" ist. Deshalb hat auch der Sonderausschuß die im Entwurf des 1. StVRG noch vorgesehene Eintragung der Einstellung nach § 153 a in das Bundeszentralregister abgelehnt81 • Die Reaktionen des § 153 a stehen also ihrer Wirkung nach der Geldbuße des OWiG näher als der Kriminalstrafe, und der Sonderausschuß hat ja, weil er von einer gleichartigen Wirkung beider Sanktionen aus~ ging, der Lösung des § 153 a gegenüber einer Umwandlung der Vermögensdelikte mit Bagatellcharakter in Ordnungswidrigkeiten den Vorzug gegeben82 • Damit scheint unsere Fragestellung eine eindeutige Lösung zu finden. Stellt man nämlich allein auf die unter dem Gesichtspunkt der "Schwere des Eingriffs" sich ergebende Wirkung ab, dann zeigt sich, daß die Sanktionen des § 153 a nicht die Dimension der Kriminalstrafe erreichen und daher, jedenfalls unter diesem Aspekt, nicht unter dem Richtervorbehalt des Art. 92 GG stehen83• Sollte sich das Unbehagen an der staatsanwaltschaftlichen Zuständigkeit gemäß § 153 a wirklich auf eine so glatte Weise zerstreuen lassen? Ist man, wenn man die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten für zulässig hält, damit auch schon gezwungen, die Ahndungsbefugnisse des Staatsanwalts für verfassungsrechtlich unbedenklich zu halten? Bei näherem Zusehen zeigt sich: Auch wenn man die mit der Kriminalstrafe gesetzte Schwere des Eingriffs grundsätzlich als hinreichenden Gradmesser für die ErforderIichkeit eines Richtervorbehalts wird anerkennen müssen, in der durch § 153 a gegebenen Fallkonstellation ist dieses Kriterium allein nicht ausreichend. Das Bundesverfassungsgericht geht nämlich bei seinen Überlegungen von einer Situation aus, die sich von der durch § 153 a gesetzten grundsätzlich unterscheidet. Es hat mehrfach herausgestellt, daß der GesetzBT-Drucks. VI/3250, S. 285. Vgl. o. § 2, 3. a) aa) und Fn. 62, 63 zu § 2. 81 Vgl. SA Strafrecht, 7. Wahlp., Prot. S. 402 ff. 82 Vgl. o. S. 55. 83 So auch Weigend, Anklagepflicht, S. 80, der allerdings damit die möglichen Bedenken aus Art. 92 GG gegen die dem Staatsanwalt durch § 153 a verliehenen Zuständigkeiten für ausgeräumt hält. 79
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1. Teil: Sanktionsverhängung und Richterv.orbehalt
geber bei mindergewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbeständen, die nicht zum "Kernbereich" des Strafrechts gehören, den Bereich der Rechtsprechung verändern können, indem er "die Materie Strafrecht reduziert", also bisherige Straftatbestände von jeder Ahndung freistellt, oder "in einer rechtspolitisch anderen Wertung des Unrechtsgehalts bisherige Straftatbestände ersetzt durch Qualifizierung eines Verhaltens als bloße Ordnungswidrigkeit"84. Es setzt also voraus, daß, wenn der Gesetzgeber den Richtern Sanktionsgewalt entzieht und sie in geminderter Form auf nichtrichterliche Organe überträgt, auch die entsprechenden Tatbestände aus dem Kriminalstrafrecht herausgenommen werden. Hätte der Gesetzgeber einen Weg eingeschlagen, der dem von dem Gericht für die Umwandlung in Ordnungswidrigkeiten beschriebenen vergleichbar wäre, d. h. hätte er bestimmte, festumrissene Tatbestände aus dem Strafrecht herausgenommen und für sie als Ahndungsformen die Auflagen und Weisungen des § 153 a vorgesehen, hätte er also "Entkriminalisierung" schon beim Tatbestand angesetzt, dann könnte man vielleicht darüber streiten, ob das kriminalpolitisch sinnvoll sei, aber unter dem Gesichtspunkt des Art. 92 GG ließe sich dann gegen die Zuständigkeit nichtrichterlicher Organe nicht mehr viel einwenden. Um eine derartige Um qualifizierung handelt es sich aber im Falle des § 153 a gerade nicht. Die Tatbestände, um die es hier geht, sind solche des Kriminalstrafrechts geblieben. Unter den Anwendungsbereich des § 153 a können letzten Endes alle Vergehenstatbestände fallen, mithin der überwiegende Teil aller Straftatbestände überhaupt. Wann eine solche Verfahrenserledigung möglich ist, regelt nicht das Gesetz, sondern bestimmt der Staatsanwalt von Fall zu Fall nach seinem durch die wenig präzisen Voraussetzungen der Vorschrift kaum eingeschränkten Ermessen. Das aber bedeutet, er kann für einen Großteil der Kriminalität bestimmen, ob und was überhaupt noch dem Richter zur Erledigung vorgelegt wird. Damit zeichnet sich eine so einschneidende Veränderung in der herkömmlichen Aufgabenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter ab, daß sie den Richter aus seiner von der Verfassung geforderten grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Strafrechtspflege herauszudrängen droht. Daß auch unter diesem Gesichtspunkt eine Verletzung des Art. 92 GG und anderer, die Strafrechtspflege betreffender Verfassungsvorschriften möglich ist, liegt auf der Hand. Um den Auswirkungen, die diese Verdrängung des Richters durch den Staatsanwalt für die Strafrechtspflege zur Folge hat, nachgehen zu können, ist zunächst einmal erforderlich aufzuzeigen, welches Einflußgebiet dem Staatsanwalt durch 84
BVerfGE 22, 49 ff. (78); 22, 125 ff. (133); 27, 19 ff. (28).
§ 5. Der Umfang der Strafgerichtsbarkeit
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§ 153 a eröffnet ist, d. h. zu zeigen, in welchen Fällen er an die Stelle des Richters treten kann. Daher ist im folgenden der Anwendungsbereich des § 153 a zu klären. Erst die Weite und Unbestimmtheit dieses Anwendungsbereiches macht deutlich, welche Verschiebungen bei der Zuständigkeit für die Erledigung der Vergehenstatbestände durch § 153 a stattgefunden haben oder zumindest möglich sind.
2. Te i 1
Die Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe § 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
Voraussetzungen für die Möglichkeit eines Vorgehens nach § 153 a sind: - ein Vergehen -
geringe Schuld
-
die Eignung der Auflagen und Weisungen des § 153 a, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen.
Welche Vergehensverwirklichungen unter § 153 a fallen können, wird also nur durch zwei unbestimmte Gesetzesbegriffe, die geringe Schuld und das öffentliche Interesse, umrissen. Bei den folgenden Überlegungen geht es allerdings nicht um einen Beitrag zur Auslegung und Präzisierung dieser Begriffe; vielmehr wird auf ihren Inhalt nur soweit eingegangen, wie sich daraus Gesichtspunkte zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des § 153 a ergeben. 1. Geringe Sdluld
Nach h. M. deckt sich der Begriff der geringen Schuld in § 153 a mit dem entsprechenden Begriff in § 1531, so daß § 153 a von der Verschuldensseite her keinen größeren Anwendungsbereich eröffnen soll als § 1532 • Die Kommentierungen zu § 153 a begnügen sich daher in diesem Punkt mit einem Verweis auf die Erläuterungen zu § 153. Aber auch dort wird man nicht sehr fündig. Obwohl § 153 seit seiner Einführung im Jahre 1924 in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden von großer Bedeutung ist, hat sich noch keine Bestimmung des Merkmals der geringen Schuld herausgebildet, die eine auch nur einigermaßen sichere Grenzziehung zuließe3 • Wenn Hanack 1972 diagnostizierte, daß dieses 1 Eckl, JR 1975, 100; Kleinknecht, stPO, § 153 a Rdnr. 7; Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, § 153 a Rdnr. 17; Buchardi / Klempahn, Staatsanwalt, Rdnr. 158 b; ebenso die meisten der speziell zu §§ 153, 153 a erlassenen Richtlinien, Allgemeinverfügungen usw.; vgl. die Nachw. u. in Fn. 10. Z So expressis verbis Eckl, a.a.O.; Meyer-Goßner, a.a.O. S Vgl. Zipf, Mangelnde Strafwürdigkeit, S. 21.
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
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Merkmal bis heute keine klaren Konturen besitze, weil es an einer Interpretation durch die höchstrichterliche Rechtsprechung fehle, weil weiterhin die Meinungen in der Lehre weit auseinandergingen und "über meist blasse Umschreibungen widersprüchlichen Inhalts nicht" hinauskämen und weil schließlich die Richtlinien für das Strafverfahren "nur ein Gedankenwirrwarr, das alles oder nichts erlaubt", böten', so hat sich an dieser Situation seither wenig geändert. (1) Die überwiegende Meinung im Schrifttum sieht die Schuld als gering an, wenn sie unter delIl Durchschnitt vergleichbarer Verfehlungen liegts. Dies war auch die Auffassung der bundeseinheitlichen RiStBV in der bis zum 31. 12. 1976 geltenden Fassung (vgl. Nr. 83 Abs. 3 S.2)8. Dagegen fallen nach Hanacks Feststellungen gemäß der "wohl herrschenden Praxis" unter geringe Schuld alle Taten bis zur "durchschnittlichen" Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandes; "sie kann in diesem Umfang auch bei schwerwiegenden Vergehenstatbeständen, ja sogar bei Tatbeständen mit erhöhter· Mindeststrafe angewandt werden"7. Die angeführten RiStBV stellten daneben ab auf die Billigkeit, die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Härten auszugleichen gebiete , Hanack, Festschr. Gallas, S. 347 f.; zustimmend Boxdorfer, NJW 1976, 318. Kunz, KrimJ 1979, 36, kommt zu dem Ergebnis, daß sich "dem Gesetz keine
auch nur annähernd konkretisierbaren inhaltlichen Richtlinien für die Entscheidungsfindung entnehmen" ließen. Vgl. auch Naucke, Festschr. Maurach, S. 205, der feststellt, "daß der Begriff der geringen Schuld vieldeutig und daher eine sogenannte Subsumtion ausgeschlossen ist, so daß für die Festlegung des Begriffs ein Ermessen genutzt werden muß". Diese Aussagen sind zutreffend trotz der akribischen Arbeiten von KrümpeZmann (Bagatelldelikte, vor allem S. 207 ff.) und Meyer-GoZdau (Geringe Schuld), die allerdings, bezeichnend genug, in wichtigen Fragen zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen (vgl. die Auseinandersetzung von Meyer-GoZdau mit KrürnpeZmann, Geringe Schuld, S. 85 ff.), ganz abgesehen davon, daß beide von der Praxis kaum zur Kenntnis genommen worden sind. S Eb. Schmidt, LehrK Ir, § 153 Rdnr. 3; KZeinknecht, StPO, § 153 Rdnr. 4; EckZ, JR 1975, 100; Meyer-Goßner, in Löwe I Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 13. Gegen den Durchschnitt als Maßstab KrümpeZmann, Bagatelldelikte, S. 123 ff.; Zipf, Mangelnde Strafwürdigkeit, S. 21 f. 6 RiStBV vom 1. 12. 1970. Wenn im folgenden die bundes einheitlichen "Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" gemeint sind, wird nur deren Abkürzung (RiStBV) verwendet. Geht es um die regionalen Richtlinien, Allgemeinverfügungen usw., die speziell zur Anwendung der §§ 153, 153 a erlassen worden sind, so wird von "Richtlinien" gesprochen. 7 Hanack, Festschr. Gallas, S. 350; Hervorhebungen vom Verf. Daß der Trend zu einer Ausweitung der "geringen Schuld" auf vorher nicht unter sie subsumierbare Verhaltensweisen geht, ergibt sich auch daraus, daß gemäß den §§ 243 Abs. 2, 248 a StGB der Diebstahl geringwertiger Sachen, auch wenn er unter den erschwerenden Umständen des § 243 StGB erfolgt, nur bei besonderem öffentlichem Interesse verfolgt wird. Vgl. dazu Hanack, S. 350 Fn. 39.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
(Nr. 82 Abs. 2 S. 2), sowie auf die Vereinfachung und Beschleunigung der Strafrechtspflege (Nr. 82 Abs. 2 S. 1)8. Im übrigen hoben sie hervor, daß alle Umstände des Falles zur Beurteilung herangezogen werden müßten (Nr. 83 Abs. 3 S. 1). Wie diese verschiedenartigen Gesichtspunkte zu harmonisieren sind, welche Rangfolge sie untereinander einnehmen, wo unterhalb des Durchschnitts die Geringfügigkeit einsetzt und woran das zu messen ist, wurde allerdings nicht erläutert, ganz zu schweigen von einer Antwort auf die Frage, wieso Billigkeit und Verfahrensbeschleunigung bei der Bestimmung des Schuldmaßes eine Rolle spielen können. Die Neufassung der RiStBV, die am 1. 1. 1977 in Kraft getreten ist, trifft zur geringen Schuld keine Bestimmungen mehr. Darin liegt kein Zugeständnis gegenüber der Kritik an der alten Fassung, sondern es wird damit der Tatsache Rechnung getragen, daß nach Einführung des § 153 a die Landesjustizverwaltungen oder auf Bezirksebene die Generalstaatsanwälte bzw. die Leitenden Oberstaatsanwälte vielfach Richtlinien, Allgemeinverfügungen oder ähnliches erlassen haben, die die Anwendung der §§ 153, 153 a durch die Staatsanwaltschaft regeln'. Aber auch diese Richtlinien sind mit Aussagen über die geringe Schuld sehr zurückhaltend. So findet sich meist nur die Feststellung, daß der Begriff der geringen Schuld in § 153 a mit dem in § 153 inhaltlich übereinstimme1o, und gelegentlich eine Verweisung auf Nr. 83 Abs. 3 RiStBVll oder unmittelbar die entsprechende Aussage, daß das Ver~ schulden unter dem Durchschnitt liegen müsse12 • Darüber hinaus wer. den keine allgemeinen Begriffsbestimmungen der geringen Schuld gegeben, sondern in der Regel nur eine Aufzählung der Fälle, in denen 8 Zwar ordnen die RiStBV 1970 diese Gesichtspunkte nicht ausdrücklich der geringen Schuld unter, sondern geben sie als allgemeine Leitlinien für die Anwendung des § 153. Da aber über das öffentliche Interesse gesondert Aussagen gemacht werden, dürfte man sie wohl dort erwarten, wenn sie allein auf das öffentliche Interesse zu beziehen wären. Vgl. auch RiStBV Nr. 84 b Abs. 1 S. 2 (jetzt Nr. 95 Abs. 1 S. 2), wo die Billigkeit und das Nichtvorliegen eines öffentlichen Interesses alternativ aufgeführt werden, die Billigkeit also ebenfalls nicht als Unterfall des öffentlichen Interesses angesehen wird. Vgl. weiterhin Hanack, S. 348; Boxdorfer, NJW 1976, 318, die ohne nähere Begründung, aber wohl aus ähnlichen Erwägungen davon ausgehen, daß diese Gesichtspunkte in den Richtlinien als zur Bestimmung der geringen Schuld zugehörig angesehen werden. 9 Einzelheiten zu diesen Richtlinien und Nachweise u. in § 11. 10 Runderlaß Baden-Württemberg, H.1.; Gesprächsergebnisse Bayern, B 1.1.; Vorläufige Richtlinien Berlin, 3. a); Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, 11. 1.; Rundverfügung über Kleinkriminalität Koblenz, C. 1. 11 Gesprächsergebnisse Bayern, BI. 1.; Allgemeine Verfügung über Kleinkriminalität Bremen, 11. 3.; Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein, 2. 2. Gemeint sind die RiStBV 1970. 12 Runderlaß Baden-Württemberg, 11. 1.; Erlaß des Bay. Staatsministeriums der Justiz v. 17. 5. 76, 1.
§ 6.
Der Anwendungsbereich des § 153 a
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ein Vorgehen nach § 153 a ausgeschlossen sein soll. Dies geschieht entweder ohne Bezug auf geringe Schuld und öffentliches Interesse, oder es wird nur auf das öffentliche Interesse verwiesen13 • Auch die Anweisung, die in § 46 Abs. 2 StGB aufgeführten Gesichtspunkte bei der Bestimmung der geringen Schuld zu berücksichtigen14 , gibt keinen sicheren Maßstab an die Hand, sondern macht nur noch einmal deutlich, wie frei der Rechtsanwender bei der Auslegung dieses Begriffs gestellt ist. Wann ein Fall von geringer Schuld vorliegt, ist also unsicher. (2) Für § 153 a wird die Unsicherheit noch dadurch verstärkt, daß entgegen der h. M. und den angeführten Richtlinien die Auffassung nicht zu halten ist, wonach die geringe Schuld in § 153 a sich mit dem Inhalt dieses Begriffes in § 153 decke. Die geringe Schuld gem. § 153 a ist weniger "gering" als die nach § 153. Das ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Mit § 153 asolIen Vergehensverwirklichungen erfaßt werden, bei denen es, anders als bei § 153, "nicht verantwortet werden kann, den Täter ohne jede Sanktion von einer Bestrafung freizustellen" 16. Die Fälle des § 153 a sind also offensichtlich gewichtiger als die des § 153. Diesen Sachverhalt kennzeichnet Naucke mit der Unterscheidung zwischen schon strafwürdiger Kleinkriminalität, die § 153 a zugeordnet ist, und nicht mehr strafwürdige Kleinstkriminalität, die unter § 153 fälW 8 • Wenn aber dieser Unterschied nicht in der Schwere der Schuld liegen kann, wie dies die h. M. behauptet, dann muß er im Ausmaß des Unrechts begründet sein. § 153 a erfaßt also Verhaltensweisen mit größerem Unrechtsgehalt als § 153. Das zeigt sich auch daran, daß einzelne Richtlinien bzw. Hausverfügungen die Grenze zwischen § 153 a und § 153 im Bereich der kleinen Vermögenskriminalität durch eine Schadenssumme festlegen, bis zu der noch nach § 153 vorgegangen werden kann, bei deren Überschreitung aber - wiederum bis zu einem bestimmten Höchstbetrag - § 153 a zur Anwendung kommen soll17. Zu den Einzelheiten vgl. u. § 11, 2. KZeinknecht, StPO, § 153 Rdnr. 4; Meyer-Goßner, in: Löwe 1 Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 12; Boxdorfer, NJW 1976, 318; HünerfeZd, ZStW 90 (1978), 919 f.; Runderlaß Baden-Württemberg, II.I.; vgl. auch Zipf, Mangelnde Strafwürdigkeit, S. 23 f.; Hanack, S. 348 Fn. 36, S. 353 Fn. 49. Entsprechend 13
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zum alten Recht, wenn angeführt wird, es seien alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für die Strafzumessung relevant seien: Heinitz, Festschr. RittZer, S. 332; KohZhaas, GA 1956, 247; a. A. KrümpeZmann, Bagatelldelikte, S. 212 ff. m. w. Nachw.; zum Streitstand vgl. auch Hanack, a.a.O. und S. 354 Anm.52. 16 BT-Drucks. 7/550, S. 298. 18 Gutachten, D 13, ähnlich D 26, 84; eine parallel Unterscheidung ist die zwischen unbedingten und bedingten Bagatellen (D 13). 17 So Runderlaß Baden-Württemberg, II. 3. (bei Ladendiebstahl bis zur
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Nun ist aber der Grad des verwirklichten Unrechts ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für den Grad der Schuld. Zwar muß das Maß beider nicht notwendig übereinstimmen; so kann es im Verhältnis zum Unrecht schuldmindernde Momente geben, und deren Feststellung ist ja ein Teil der Strafzumessungsarbeitl8 • Träfe die h. M. zu, dann könnten unter § 153 a nur Verhaltensweisen fallen, bei denen zwar die Unrechtsgehalt größer ist als in § 153, nicht aber die Schuld; es müßten also im Verhältnis zum Unrecht immer schuldmindernde Momente vorliegen. Das ist selbstverständlich möglich, kann aber nach den Intentionen des Gesetzgebers nicht als die Regel aufgefaßt werden. § 153 a soll der Entlastung der Gerichte von Massendelikten dienen, von typischen, in gleichartiger Form vorkommenden Verstößen also, und dafür ist Schuldminderung im Verhältnis zum Unrecht nun einmal nicht der Normalfall. Vielmehr liegt hier meist eine gewisse Proportionalität von Unrecht und Schuld vor. Die Fälle des § 153 a sind also auch im Schuldgehalt höher als die des § 153 19 • Das schließt nicht aus, daß § 153 a daneben zu einem bevorzugten Mittel wird, den zweifellos selteneren Fällen gerecht zu werden, in denen einem nicht ganz geringen Unrecht eine im Verhältnis dazu geringe Schuld gegenübersteht, aber es ist nicht anzunehmen (und auch kaum plausibel zu begründen), daß die Anwendung des § 153 a dann nur bis zu dem Punkt geht, wo die geringe Schuld noch unter den Bereich dieses Begriffes i. S. des § 153 fällt, wenn ihr im normalen Anwendungsbereich des §153 a solche Grenzen nicht gesetzt sind. Schadenshöhe von 20,- DM Einstellung nach § 153 möglich, bis 100,- DM Schadenshöhe nach § 153 a); Hausverfügung Saarbrücken (bei Ersttätern bis zur Schadenshöhe von 50,- DM Einstellung nach § 153 möglich, bis zur Schadenshöhe von 300,- DM nach § 153 a). Dieses Verfahren, die Anwendungsbereiche beider Vorschriften durch eine Wertgrenze zu trennen, dürfte auch dort, wo es nicht eigens in Richtlinien festgelegt ist, üblich sein. Vgl. auch Meyer-Goßner, in: Löwe 1 Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 22, der ebenfalls auf die Schadenshöhe abstellt. 18 Zum Verhältnis von Unrecht und Schuld in diesem Zusammenhang vgl. Jescheck, AT, S. 709 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 24 ff.; Zipf, Strafzumessung, S. 28 ff.; Horn, in: SK, § 46 Rdnr. 36 ff. 19 Auch Boxdorfer, der den bisher einzigen Versuch unternommen hat, die "geringe Schuld" i. S. des § 153 a für die Praxis zu konkretisieren, geht ohne weiteres davon aus, daß bei § 153 a das Schuldrnaß gegenüber § 153 erhöht ist, wenn er die geringe Schuld i. S. des § 153 a dadurch zu bestimmen versucht, daß ihr eine Geldstrafe bis zum Höchstmaß von 30 Tagessätzen adäquat wäre (NJW 1976, 318). Er gewinnt diesen Maßstab dadurch, daß er § 153 a in die Skala der möglichen Reaktionsmittel auf Straftaten, gestaffelt nach ihrer Schwere, zwischen der Einstellung nach § 153 und der Verwarnung unter Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB ansiedelt. So einleuchtend dieser Ansatz ist, die über das Verhältnis von § 59 StGB und § 153 a gemachten Annahmen treffen nicht zu. Denn § 153 a soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das Vorgehen nach § 59 StGB möglichst verdrängen, und zwar über dessen gesamten Anwendungsbereich (BTDrucks. VI/3250, S. 284; VI/3478, S. 48; 7/550, S. 297; 7/551, S. 44; ebenso Dreher 1 Tröndle, StGB, Vor § 59 Rdnr. 4). Im übrigen ergibt sich aus den Materialien auch kein Anhaltspunkt dafür, daß § 153 a auf den Anwendungsbereich des § 59 StGB beschränkt bleiben soll (vgl. dazu Hanack, S. 360).
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Der in § 153 schon schwer faßbare Begriff der geringen Schuld ist also in § 153 a noch unbestimmter geworden, weil zwar nach dem Gesagten feststeht, daß sein Anwendungsbereich weiter sein muß als in § 153, aber nicht, um wieviel weiter20 • 2. öffentliches Interesse
Gegen diese Unbestimmtheit bietet auch der Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses kein wirksames Korrektiv. Ausgangspunkt für die Auslegung dieses Begriffes ist auch hier die Bedeutung, die ihm in § 153 zukommt. Allerdings liegen die Dinge hier wieder ähnlich ungesichert wie für die geringe Schuld. Da nach der h. M. die Entscheidung über das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung in § 153 als unüberprüfbare Ermessensentscheidung gilt, fehlt es an einer Stellungnahme der Rechtsprechung21 • Die RiStBV 1977 geben in Nr. 86 Abs. 2 lediglich für § 376 eine Umschreibung des öffentlichen Interesses. Danach gebietet das öffentliche Interesse bei Privatklagedelikten dann eine Strafverfolgung, "wenn der Rechtsfriede über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist". Auch wenn man der Meinung folgt, daß der Begriff des öffentlichen Interesses für § 376 und die §§ 153, 153 a gleich auszulegen ist22 , ist mit dieser Definition wenig Klarheit gewonnen23 • 20 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Frage, ob die Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a "als Verhalten nach der Tat" i. S. des § 46 StGB bei der Beurteilung der geringen Schuld berücksichtigt werden können oder sogar müssen. Der Gesetzestext der ersten Entwurfsfassung verlangte nur ganz generell, daß die Auflagen und Weisungen geeignet seien, die "Hindernisse zu beseitigen, die der Einstellung des Verfahrens nach § 153 entgegenstehen" (BT-Drucks. VI!3250, S. 39). Danach war also auch an die Möglichkeit gedacht, daß die Schuld durch die Auflagenerfüllung verringert werden könne. Auf die Bedenken des Bundesrates hin (BT-Drucks. VI!3250, S. 457) hat die Vorschrift ihre jetzige Fassung erhalten, wonach die Auflagen und Weisungen nur auf das öffentliche Interesse Einfluß nehmen können. Dennoch ist Hanack unter Hinweis auf § 13 Abs. 2 StGB a. F. (dem heutigen § 46 Abs. 2 StGB) der Meinung, daß die gemäß § 153 a auferlegten Leistungen als "Verhalten nach der Tat" für die Beurteilung des Schuldgrades relevant sein müßten (S. 346). Das läßt sich jedoch nur vertreten, wenn man die Fiktion einer freiwilligen Leistung des Beschuldigten mitmacht. Was der Beschuldigte tut, um sich einer in seinen und auch in des Gesetzgebers Augen unangenehmeren Maßnahme, der Hauptverhandlung mit einem möglichen Strafausspruch nämlich, zu entziehen, kann aber aus den schon dargelegten Gründen nicht als freiwillige Leistung angesehen werden. 21 Vgl. Homann, Öffentliches Interesse, S. 25, 119 ff. mit ausführlichen Nachw. 22 So Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 18 m. w. Nachw. 23 Die sich daran anschließenden Beispiele, wie Ausmaß der Rechtsverletzung, Roheit oder Gefährlichkeit der Tat und niedrige Beweggründe des Tä-
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Die jeweiligen Richtlinien über die Behandlung der Kleinkriminalität machen keine allgemeinen Aussagen zum öffentlichen Interesse, sondern begnügen sich, wie bereits erwähnt, mit einer Aufzählung von Fällen, in denen ein Vorgehen nach § 153 a ausgeschlossen sein soll, wobei dies bisweilen mit dem öffentlichen Interesse begründet wird. Immerhin besteht im Schrifttum heute soweit Einigkeit, daß das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung in erster Linie durch die allgemeinen Strafzwecke bestimmt wird24 , also durch "alle spezial- und generalpräventiven Strafzwecke und alle heute in § 46 StGB zu findenden Strafzielerwägungen "26. Wieweit daneben auch aus Gesichtspunkten, die in keinem Zusammenhang mit den Strafzwecken stehen, das öffentliche Interesse zu bejahen ist, wie die Klärung einer Rechtsfrage28 , die Tatsache, daß eine Behörde Strafanzeige erstattet hat oder sich sonst an dem Verfahren interessiert zeigt27 , die Tatsache, daß die Verurteilung Voraussetzung für verwaltungsrechtliche Maßnahmen gegen den Beschuldigten ist28 und ähnliches, ist umstritten, kann aber hier dahingestellt bleiben. Es ist allerdings kaum ersichtlich, wie eine Strafverfolgung, deren Notwendigkeit sich nicht aus einem der anerkannten Strafzwecke ergibt, durch solche Gesichtspunkte legitimiert werden soll. Nun besteht freilich ein entscheidender Unterschied zwischen der Prüfung des "öffentlichen Interesses" in § 153 und § 153 a. Für § 153 ist allein festzustellen, ob überhaupt ein öffentliches Interesse vorliegt, ob also die Strafzwecke, die ja nach dem Gesagten für das öffentliche Interesse maßgeblich sind, überhaupt eine Reaktion erforderlich machen. Es geht um die Fälle absoluter Geringfügigkeit, in denen eine Strafe unangebracht ist29 • Bei § 153 a ist die Prüfung damit, daß gefragt ters zeigen zudem, daß hier an Verhaltensweisen gedacht ist, bei denen es meistens schon an der geringen Schuld fehlen wird. 24 Boxdorfer, NJW 1976, 319 f.; Eckl, JR 1975, 100; Hanack, Festschr. Gallas, S. 347; Homann, Öffentliches Interesse, S. 48 ff.; Kleinknecht, StPO, § 153 Rdnr. 7; Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 Rdnr. 19; Naucke, Gutachten, D 120; Fr. Chr. Schroeder, Festschr. Peters, S. 417; Vogel, Öffentliches Interesse, S. 165 ff. (188, 191, 201 u. ö.). Vgl. auch Heinitz, Festschr. Rittler, S. 327 ff. und Kohlhaas, GA 1956, 249, wo sich das zumindest implizit aus dem Kontext oder den angeführten Beispielen ergibt. 25
Naucke, D 120.
So Kohlhaas, GA 1956, 249; Fr. Chr. Schroeder, a.a.O.; Meyer-Goßner, a.a.O., § 153 Rdnr. 22; a. A. Homann, s. 104; Vogel, S. 186. !7 Nr. 75 Abs. 2 RiStV 1962; vgl. aber auch Nr. 93 Abs. 1 RiStBV 1977. 28 Nr. 82 Abs. 3 RiStBV 1970; Rietzsch, DJ 1940, 534; a. A. Homann, S. 105 ff.; Vogel, S. 193. 28 Darauf laufen mittlerweile fast alle Bestimmungen der ratio des § 153 hinaus, und zwar auch dort, wo man die Vorschrift nicht "materiellrechtlich" interpretiert. So Baumann, Festschr. Peters, S. 11; Cramer, Festschr. Maurach, S. 489, 494; Es er, Festschr. Maurach, S. 258 u. ö.; Geerds, SchlHA 1964, 28
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
111
wird, ob überhaupt Strafwürdigkeit vorliegt, nicht beendet. Denn, wenn dies bejaht wird, ist weiterhin zu prüfen, ob den Strafzwecken auch durch eine der Rechtsfolgen des § 153 a Genüge getan werden kann, ob man also mit den vergleichsweise milderen Reaktionen des § 153 a auskommen kann. Bei § 153 ist also unter "öffentlichem Interesse" zu prüfen, ob überhaupt irgend eine staatliche Reaktion erforderlich ist, bei § 153 a in welchem Maße sie es ist. Mag der Begriff des öffentlichen Interesses in § 153 im einzelnen noch so ungeklärt sein, durch den Gedanken, daß es die Fälle auszusondern gilt, die eigentlich nicht strafwürdig sind, wird er einigermaßen handhabbar; von daher fällt sogar etwas Licht auf den Begriff der geringen Schuld. Darüber, was im Grunde nicht bestraft werden soll, weil es eine echte Bagatelle ist, läßt sich eher Einigkeit erzielen30 als darüber, in welchen Grenzen etwas noch mit den Reaktionen des § 153 a abgegolten werden kann. Denn damit sind wir der Sache nach mitten in der Strafzumessung mit all ihren Unsicherheiten. Natürlich könnte man unter dieser Perspektive die Anwendung des § 153 ebenfalls als Strafzumessung auffassen, als Grenzfall gewissermaßen31 • Aber gerade, wenn man das tut, werden die Unterschiede zu § 153 a besonders deutlich. Bei § 153 steht die Rechtsfolge von vornherein fest und ist absolut bestimmt: Sie ist, im Strafmaß gesprochen, gleich Null. Es gibt nur diese eine Rechtsfolge, und es ist zu prüfen, ob deren Voraussetzungen vorliegen. Bei § 153 a sind die Rechtsfolgen relativ unbestimmt und bilden gewissermaßen einen "Strafrahmen", der zudem noch ziemlich weit ist. So ist schon erwähnt worden, daß der Auflage zur Zahlung eines Geldbetrages (§ 153 a Abs. 1 Nr. 2), der praktisch wichtigsten Rechtsfolge des § 153 a also, vom Gesetz nach oben keine Grenze gesetzt ist32 • Gegen die Auflage, "sonst gemein63; Heinitz, Festschr. Rittler, S. 327; Kerbel, Staatsanwaltschaft, S. 72; H. Mayer, JZ 1955, 603 Anm. 11; Naucke, Festschr. Maurach, S. 202; Gutachten, D 13, 26, 84; Peters, ZStW 68 (1956), 396; Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 18 f.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 57, 60; Schmidhäuser, AT, Nr. 20/79; Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 394; H, § 153 Rdnr. 11; Fr. Chr. Schroeder, Festschr. Peters, S. 417. Damit ist nicht gesagt, daß alle genannten Autoren den § 153 für eine angemessene Lösung solcher Bagatellfälle halten. 30 Dazu, daß auch bei § 153 die Einstellung unterschiedlich gehandhabt wird, vgl. Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 99 ff. Zu anderen Ergebnissen, die für eine gleichmäßige Handhabung sprechen, kommt die Freiburger Staatsanwaltschaftsuntersuchung; vgI. Sessar, ZStW 87 (1975), 1038 ff. und Blankenburg / Sessar / Steifen, Staatsanwaltschaft, S. 47, 59, 306, wonach unterschiedliche Einstellungsquoten deliktspezifische Ursachen haben. 31 VgI. dazu Kaiser, Stationen, S. 78 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 232; Schmidhäuser, AT, 2. Aufl., Nr. 20/79; Fr. Chr. Schroeder, Festschr. Peters, S. 417; Sessar, ZStW 87 (1975), 1035 Anm. 7; Weigend, Anklagepflicht, S. 78 f., 183. 32 Kleinknecht, Stpo, § 153 a Rdnr. 19; zu der entsprechenden Auflage nach
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
nützige Leistungen zu erbringen" (§ 153 a Abs. 1 Nr. 3) wird sogar, jedenfalls bezüglich des gleichlautenden § 56 b Abs. 2 Nr. 3 StGB, vorgebracht, sie verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG, weil "hier die Rechtsfolge einer Tat nach Qualität und Quantität vom Richter bestimmt wird"33. Da das öffentliche Interesse i. S. des § 153 a nun nichts anderen beinhaltet als die Frage, ob dieser "Strafrahmen" für die zur Ahndung anstehenden Sachverhalte ausreicht, ist für seine Interpretation von den allgemeinen Strafzumessungslehren auszugehen. Es ist daher so bestimmt, wie diese verbindliche Kriterien an die Hand geben können. In welch geringem Umfang das der Fall ist, braucht nicht dargestellt zu werden. Denn in der Strafzumessungswissenschaft sind selbst die Grundfragen noch heftig umstritten, während in der Praxis die Strafzumessung weitgehend Sache des richterlichen Ermessens ist3'. Dem weiten Strafrahmen des § 153 a entspricht eine weite Skala von Verhaltensweisen, die ihm unterfallen können. Denn auf der Voraussetzungsseite dieses Strafrahmens stehen nicht nur ein oder vielleicht mehrere, sondern aUe Vergehenstatbestände. Eine Einschränkung erfolgt lediglich durch den in der beschriebenen Weise erweiterten Begriff der geringen Schuld und durch ein öffentliches Interesse, das, wie sich gezeigt hat, anhand von Strafzumessungserwägungen zu konkretisieren ist, die sich auf eben diesen weiten Strafrahmen beziehen. In diesen Grenzen kann demnach § 153 a den Strafrahmen sämtlicher Vergehen ersetzen. Damit scheint § 153 a auf prozessualem Weg die Funktion eines schon lange für das materielle Recht geforderten allgemeinen Strafmilderungsgrundes für geringfügige Begehensweisen von Delikten, die die Möglichkeit solcher Geringfügigkeit im Tatbestand und dementsprechend auch in ihren Strafdrohungen nicht eigens berücksichtigen, zu übernehmen 35 . Denn auch hierfür ist das Charakteristikum, "daß der § 56 b
Abs. 2 Nr. 2 StGB vgl. Dreher I Tröndle, StGB, § 56 b Rdnr. 7 ("keine formelle Höchstgrenze") m. w. Nachw.; anders Horn, in: SK, § 56 b Rdnr. 9. 38 Stree, in: Schänke I Schräder, StGB, § 56 b Rdnr. 15; ebenso Horn, in: SK, § 56 b Rdnr. 12. 84 Zum Stand der Strafzumessungslehre vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 1 ff.; Stratenwerth, Tatschuld, S. 3 ff.; Lackner, Festschr. GaUas, S. 117 ff. Die gesetzliche Fixierung, die § 46 StGB versucht, hat daran wenig geändert. Kennzeichnend hierfür ist, daß Lackner den Vorwurf Stratenwerths, § 13 StGB a. F. (heute § 46 StGB) habe die unerträgliche Unsicherheit im Bereich der Strafzumessung nicht beseitigt (Tatschuld, S. 4), zwar für zutreffend hält, die Vorschrift aber mit der Begründung verteidigt, sie sei mit allen wichtigen hierzulande vertretenen Strafzumessungslehren vereinbar und überlasse damit den künftigen Weg der Strafzumessung Rechtsprechung und Lehre. Dies sei beim gegenwärtigen Stand der Diskussion der einzig mögliche Weg, wolle man nicht durch einseitige Festlegung einen Schritt ins Dunkle tun und unvorhersehbare Folgen heraufbeschwören (S. 128 f.). 35 Für einen solchen Strafmilderungsgrund im materiellen Recht Krümpel-
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
113
ordentliche Strafrahmen des Tatbestandes wegfällt, wenn das im Tatbestand beschriebene Unrecht und die Schuld in Wirklichkeit unbedeutend sind"s8. Allerdings, und damit stoßen wir auf einen entscheidenden Unterschied, wird dabei vorausgesetzt, daß diese Geringfügigkeit aufgrund einer allgemeinen Lehre vom Bagatelldelikt eindeutig und d. h. kognitiv bestimmbar ist und nicht dem Ermessen überlassen bleibt, so daß sie zwingend berücksichtigt werden müßte3T • § 153 a schlägt demgegenüber eine Art umgekehrten Weg ein. Es wird nicht von einem vorher einigermaßen sicher festgelegten Verhaltensbereich auf die Anwendbarkeit eines geringeren Strafrahmens geschlossen, sondern umgekehrt das Ausreichen des durch § 153 a gesetzten Strafrahmens zur Voraussetzung seiner Anwendbarkeit gemacht. Der Weg führt also, vereinfacht gesagt, vom Strafrahmen zum Delikt und nicht vom Delikt zum Strafrahmen38•
. Die geschilderte Sachlage macht verständlich, warum die - bisher allerdings nicht sehr zahlreichen - Versuche, das öffentliche Interesse i. S. des § 153 a näher einzugrenzen, nicht sehr erfolgreich sein können. Die angeführten Gesichtspunkte sind denn meist auch nur mehr oder weniger abstrakte Umschreibungen der allgemeinen Strafzwecke. So soll nach Boxdorjer, von dem die bisher einzige systematische Abhandlung zu diesem Problem stammt, von einer Einstellung nach § 153 a zunächst einmal abgesehen werden, wenn generalpräventive Gründe dies erforderlich machen. Das sei der Fall, wenn "der rechtstreue Bürger im Vertrauen auf die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung nachdrücklich gestärkt werden muß und zum andern präsumtive Täter von der Begehung von Straftaten abgehalten und an den Rechtsgehorsam erinnert werden" müssen3U • Unter Generalprävention wird man auch einzuordnen haben, wenn § 153 a nicht angewandt werden mann, Bagatelldelikte, S. 240 f.; NoZI, ZStW 68 (1956), 196; Naucke, Gutachten, D 115 f., 121 f. Vgl. auch den Vorschlag C I 3 der (ausnahmslos abgelehnten) "Empfehlungen zur strafrechtlichen Seite" des 51. DJT 1976: ,. ... durch Ausformulierung der Bagatellvoraussetzungen im Allgemeinen Teil des StGB (materiellrechtliche Lösung)", NJW 1976, 2009. Eine solche mehr oder weniger weit gefaßte Vorschrift taucht bereits in verschiedenen Entwürfen für ein StGB auf, zuerst in § 83 des Vorentwurfs 1909. Vgl. dazu KrümpeZmann, S. 198 ff.; Müller-Dietz, Festschr. R. Lange, S. 303 f. Ansätze dafür finden sich im geltenden Recht in § 59 StGB. 31 Krümpel mann, S. 241. 37 So insbesondere Krümpelmann, a.a.O. 38 Auf diese Umkehrung des Verhältnisses von Tatbestand und Rechtsfolge werden neuerdings sogar Versuche zur Definition der Bagatellkriminalität gestützt: "Diejenigen Delikte werden als Bagatelldelikte definiert, die in verfahrensrechtlicher Sicht bagatellmäßig behandelt werden und auf die bagatellartig reagiert wird" (Driendl, ZStW 90 (1978), 1021; ähnlich Kaiser, ZStW 90 (1978), 899). 3' NJW 1976, 319. 8 Kausch
114
2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
soll, um "die Einbürgerung gewisser Ungesetzlichkeiten im Sozialleben" zu verhindern40 • Weiterhin komme aus "spezialpräventiven Zwecküberlegungen" § 153a nicht in Betracht, wenn der Täter wegen U,nbelehrbarkeit oder etwaiger Vorstrafen nur durch eine Strafe von künftigen Verfehlungen abgehalten werden könne41 • Schließlich sei auch dort von einer Einstellung nach § 153 a abzusehen, wo wegen des "Ausmaßes" der Straftat der ."Vergeltungs- und Sühnegedanke" im Vordergrund stehe4!. . . Boxdorjer führt nun zwar eine Reihe von Beispielen an, in denen die Strafzwecke seiner Meinung nach die Anwendung des § 153 a nicht mehr zulassen, aber es fehlt jede nähere Begründung dafür, warum ihnen in den genannten Fällen nicht schon durch die Auflagen und Weisungen des § 153 a Rechnung getragen werden kann43 • Auch hier wird nicht deutlich genug zwischen § 153 und § 153 a unterschieden. Die von Boxdorjer herangezogenen Kriterien werden so oder ähnlich auch schon zur Umschreibung des öffentlichen Interesses in § 153 verwandt44 • Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß das öffentliche Interesse in beiden Vorschriften identisch sei46 • Auf einer allgemeinsten Ebene ist das natürlich richtig, weil Ausgangspunkt für beide Vorschriften die Erfordernisse der Strafzwecke sind. Aber Aussagen auf dieser Ebene helfen bei § 153 a nicht weiter, weil es ja darauf ankommt zu klären, wo zwar nicht mehr nach § 153, wohl aber noch nach § 153 a vorgegangen werden kann und wann eine Kriminalstrafe unumgänglich ist. Dazu genügt aber nicht ein allgemeiner Rekurs auf die Strafzwecke,
a.a.O. NJW 1976, 319 f. 42 NJW 1976, 320. Als weiteren Gesichtspunkt führt Boxdorfer noch an, daß auch dort nicht nach § 153 a eingestellt werden dürfe, wo zur Verbrechensvorbeugung eine zentralregistermäßige Erfassung des Täters erforderlich sei (NJW 1976, 320). 43 An manchen dieser Beispiele zeigt sich vielmehr, wie das öffentliche Interesse zum Einfallstor für gewisse Voreingenommenheiten werden kann. So will Boxdorfer vor allem "Demonstranten" und "politische Gesinnungstäter", die "andersdenkende Mitbürger terrorisieren oder zu Duldungen nötigen, etwa durch Boykottieren des öffentlichen Verkehrs, um Fahrpreiserhöhungen zu verhindern" (NJW 1976, 319), oder die "in ihren Handlungszielen oftmals entgegen der geltenden Rechts- und Verfassungsordnung zweifelhafte Werte verwirklichen wollen" (NJW 1976, 320), von der Behandlung nach § 153 a ausschließen, Wenn sich diese Handlungsweisen noch im Bereich der geringen Schuld halten, dann ist jedoch nicht einzusehen, warum die Strafzwecke hier ein härteres Zugreifen als in anderen Fällen der Geringfügigkeit erfordern sollten. 44 Vgl. Homann, Öffentliches Interesse, S. 72 ff., m. eingehenden Nachw. 45 So ausdrücklich Boxdorfer, NJW 1976, 319; Meyer-Goßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 18; anders Hanack, Festschr. Gallas, S. 353, der für § 153 a das öffentliche Interesse als das Interesse an einer "gerichtlichen Bestrafung" definiert und damit eine ähnliche Unterscheidung wie die hier vorgenommene trifft. 40
41
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
115
vielmehr müßten diese durch Strafzumessungserwägungen, die sich an den Besonderheiten der Rechtsfolgen des § 153 a orientieren, konkretisiert werden48 • Wir können also zusammenfassen: Der Anwendungsbereich des § 153 a ist weit. Der Strafrahmen sämtlicher Vergehen kann durch § 153 a unterlaufen und in gewissen Grenzen durch den dieser Vorschrift ersetzt werden. Diese Grenzen sind jedoch höchst unbestimmt, da die Voraussetzungen für die Anwendung des § 153 a nicht verbindlich festzulegen sind. Denn von dem Begriff der "geringen Schuld" i. S. des § 153 a läßt sich mit Gewißheit nur sagen, daß er über den Inhalt des entsprechenden Begriffes in § 153 hinausgeht, wobei aber nicht feststeht, in welchem Ausmaß das der Fall ist. Die Annahme einer geringen Schuld i. S. des § 153 a kann also nur in eindeutig schwerwiegenden Vergehensverwirklichungen mit Sicherheit ausgeschlossen werden, hängt im übrigen aber vom Ermessen des Staatsanwaltes (bzw. in den Fällen des § 153 a Abs. 2 auch einmal des Richters) ab. Die weitere Voraussetzung, daß das "öffentliche Interesse" keine Kriminalstrafe erforderlich machen darf, besagt nur, daß § 153 a unter diesem Gesichtspunkt überall dort anwendbar ist, wo sein "Strafrahmen" zur Durchsetzung der Strafzwecke ausreicht. Da dieser Strafrahmen sehr weit und unbestimmt ist, bedeutet das in letzter Konsequenz eine totale Auslieferung aller nicht eindeutig schwerwiegenden Vergehensverwirklichungen an das Ermessen des Staatsanwalts. Damit werden aber die gesamte kleinere und große Teile der mittleren Kriminalität zum möglichen Anwendungsfall des § 153 a. 3. Die Anwendung des § 153 a in der Praxis
a) Der Anteil der Einstellungen nach § 153 a an den erledigten Strafverfahren In der Praxis haben die Staatsanwaltschaften § 153 a zunächst nur zurückhaltend angewandt47 • So betrug 1975, also im Jahr der Einführung der Vorschrüt, in Hessen die Quote der Einstellungen nach § 153 a 48 Eine etwas eingehendere Darstellung des öffentlichen Interesses 1. S. des § 153 a findet sich nur noch bei Meyer-Goßner (in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 18 ff.), der aber nicht grundsätzlich anders vorgeht als 8oxdorjer und gegen den daher die vorgetragenen Einwände gleichermaßen geltend zu machen sind. 47 Das Zahlenmaterial, das in den folgenden Ausführungen herangezogen wird, ist höchst uneinheitlich. Daher sind einige Erläuterungen erforderlich. Für 1975, dem Jahr des Inkrafttretens der Vorschrift, stehen dem Verf. nur Zahlen aus Hessen und aus dem Bezirk des OLG Stuttgart zur Verfügung. Als Vergleichszahl ist in der betreffenden hessischen Erhebung nur die Zahl der Eingänge ohne unbekannte Täter angegeben. Diese dürfte sich allerdings nicht wesentlich von der Zahl der tatsächlichen Erledigungen (ohne unbekannte Täter) unterscheiden (in Bayern 1976: 326443 Eingänge
so
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Abs. 1, bezogen auf die Zahl der Eingänge ohne unbekannte Täter, im Landesdurchschnitt ca. 0,65 %, wobei die Einstellungsquoten je nach Staatsanwaltschaft zwischen 0,29 % und 1,75 % schwankten48 • Im Bezirk des OLG Stuttgart waren es im gleichen Zeitraum ca. 1,3 % 49 • Kramer berichtet von einer Umfrage unter verschiedenen Staatsanwaltschaften, aus der sich eine nur sehr zögernde Anwendung des § 153 a zumindest in bezug auf den Ladendiebstahl ergibt50. Die Landesjustizverwaltungen sahen sich daher veranlaßt, die Staatsanwaltschaften zu einer verstärkten Anwendung der Vorschrift zu drängen. So wies das Bayer. Staatsministerium der Justiz in einem Erlaß vom 17.5.1976 darauf hin, daß die Fälle, auf die § 153 a Anwendung finden könne, "keineswegs selten sind", so daß "das Verfahren nach § 153 a StPO nicht nur ganz ausnahmsweise zur Anwendung kommen (kann), wie es der bisherigen Handhabung in einigen Dienstbezirkenentspricht"51. Und die Generalstaatsanwälte beschlossen auf ihrer ohne unbekannte Täter versus 321438 Erledigungen, 1977: 335169 Eingänge versus 334 102 Erledigungen). Auf der. 42. Konferenz der Landesjustizminister und -senatoren am 29. - 30. 10. 1973 in Saarbrücken wurde die Einführung der Zählkartenerhebung bei den Staatsanwaltschaften beschlossen (vgl. die Notiz in DRiZ 1973, 431). Die Zählkartenerhebung sieht eine genaueAufschlüsselung der bearbeiteten Sachen nach Erledigungsarten vor und ermöglicht daher erst zutreffende Vergleiche. Ausgangspunkt ist hier die Zahl der Erledigungen ohne unbekannte Täter (zu den Einzelheiten vgl. Heinz, Statistik über Ermittlungsverfahren). Die für 1976 geplante bundeseinheiUiche Einführung der Zählkartenstatistik ist in manchen Bundesländern erst 1977, in vielen aber überhaupt noch nicht erfolgt. Für die nachfolgenden Überlegungen standen die Ergebnisse der Zählkartenerhebung in Bayern (1976, 1977) und in Nordrhein-Westfalen (1977, 1. Vierteljahr 1978) vollständig und die Ergebnisse in Rheinland-Pfalz (1976, 1977) und im Saarland (1976, 1977) auszugsweise zur Verfügung. Außerdem liegen dem Verf. für 1976 und 1977 noch einige Daten aus Hessen und für den Bezirk des OLG Stuttgart vor, die aber nicht auf der Zählkartenerhebung basieren. Die Vergleichbarkeit der im folgenden Text herangezogenen Zahlen ist also begrenzt. Das kann jedoch deshalb in Kauf genommen werden, weil es hier nur darum geht, ein ungefähres Bild von der quantitativen Bedeutung des § 153 a zu gewinnen, um einschätzen zu können, wie die Vorschrift von der Praxis aufgenommen wurde. 48 Die Grunddaten stammen aus einer Erhebung, die gem. einem Erlaß des Hessischen Ministers der Justiz v. 25. 5. 1976 (4100 - III/2 - 805176) bei allen Staatsanwaltschaften in Hessen durchgeführt wurde und deren Ergebnisse das hessische Justizministerium dem Verf. freundlicherweise zur Verfügung stellte. Der Landesdurchschnitt wurde berechnet aus den Zahlen von 8 der 9 Landgerichtsbezirke, wobei in einem Fall die Halbjahresdaten auf das ganze Jahr hochgerechnet wurden. 40 Berechnet aufgrund der Daten, die der Generalstaatsanwalt bei dem OLG Stuttgart dem Verfasser in einem Schreiben vom 2l. 8. 1978 mitgeteilt hat. 50 NJW 1976, 1610, insbesondere Fn. 49. 51 Erlaß des Bayer. Staatsministeriums der Justiz v. 17.5.1976 (4100 - II 874174). Vgl. auch Naucke, Gutachten, D 79 Anm. 235 a, der sich auf eine Mitteilung von Prof. Odersky/Bayer. Staatsministerium der Justiz bezieht,
334.104 48.541 79.966 9.976 15.033 6.603 6.494 1.987 82.748 9.551 72.803 18.849 25.177
100,0 14,2 26,7 3,2 2,6 1,9 2,1 0,6 24,7 3,1 20,9 5,4 7,0
45.545 85.853 10.165 8.349 6.180 6.790 2.010 79.365 10.043 67.138 17.442 _2~~2
N
321.438
%
1977
7,5
5,6
14,5 23,9 3,0 4,5 2,0 1,9 0,6 24,8 2,9 21,8
100,0
%
27,5 21,4
32.113 25.046
10.651
9,11
3,63
5,81
6.793 c )
4.238
16,7 23,1 1,6 2,1
100,0
%
19.488 26.956 1.829 2.465b )
116.906
N
1976
13.163
4.879
28.078
34.823
7.340 c )
21.165 28.516 2.378 4.183b )
129.156
N
1977
Rheinland-Pfalz
10,2
3,9
21,7
27,0
5,7
16,4 22,1 1,8 3,2
100,0
%
Quelle: Ergebnisse der Zählkartenerhebung (vgl. Fn. 47), wobei einige Rubriken zusammengefaßt wurden. a) Ohne unbekannte Täter b) Nur EinstellUngen nach § 15a. Abs. 1 Nr. 2 (Zahlung eines Geldbetrages). Die Zahl der Einstellungen nach § 153a Abs. 1 und nach § 45 Abs. 1 JGG insgesamt betrug 1976 3.779 (3,2%) und 1977 6.071 (4,7%). c) Gesamtzahl der Einstellungen ohne Auflagen nach §§ 153 Abs. 1, 153b Abs. 1, 153c. 154 Abs. 1, 154b Abs. 1- 3, 154c, d und e sowie nach § 45 Abs. 2 JGG. lfier machen den überwiegenden Teil die Einstellungen nach § 153 Abs. 1 und § 45 Abs. 2 JGG aus.
Erledigte Ermittlungsverfahren insgesamta) davon wurden erledigt durch: Anklagen Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls Antrag auf sonstiges Verfahren Einstellung nach § 153a Abs. 1 Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG Einstellung nach § 153 Abs. 1 Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG Einstellung nach § 170 Abs. 2 Einstellung aus sonstigen Gründen Sonstige Art der Erledigung davon: Verweisung auf den Weg der Privatklage Abgabe an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit
N
1976
Bayern
TabeUe 1 Anteil der Einstellungen nach § 153a Abs. I an den durch die Staatsanwaltschaft erledigten Ermittlungsverfahren in Bayern und Rheinland-Pfalz
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Quelle:
Ergebnisse der ZähJkartenerhebung (vgl. Fn. 47) a) Ohne unbekannte Täter
Erledigte Ermittlungsverfahren insgesamta) davon wurden erledigt durch: Anklagen Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls Antrag auf sonstige Verfahren Einstellung nach § 153a Abs. 1 Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG Einstellung nach § 153 Abs. 1 Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG Einstellung nach § 170 Abs. 2 Einstellung aus sonstigen Gründen Sonstige Art der Erledigung davon: Verweisung auf den Weg der Privatklage Abgabe an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit 167.621 40.508 25.104 3.536 2.061 551 3.795 1.494 58.295 5.613 26.662 2.519 7.621
100,0 24,1 15,0 2,5 1,0 0,4 2,3 1,0 34,5 3,5 15,6 1,6 4,4
694.502 167.205 104.183 17.105 6.954 2.938 16.225 7.108 239.735 24.444 108.598 11.134 30.671
N
N
4,6
1,5
1.201 1.246 9.423
3,1 27,0
1.071 9.274
36.115
N
1977
3,6
100,0
%
Saarland
1.247
34.189
100,0 24,4 15,0 2,1 1,2 0,3 2,3 0,9 34,8 3.3 15.9
N
1976
%
1. Vierteljahr 1978 %
1977
Nordrhein-Westfalen
26,0
3,4
3,3
100,0
%
Tabelle 2 Anteil der Einstellungen nach § 153a Abs. 1 an den durch die Staatsanwaltschaft erledigten Ermittlungsverfahren in Nordrhein-Westfalen und im Saarland
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§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
119
Jahrestagung im Juni 1976, "den Staatsanwaltschaften zu empfehlen, in den Ermittlungsverfahren in größerem Umfang als bisher von der Bestimmung des § 153 a StPO Gebrauch zu machen"52. Inzwischen zeichnet sich jedoch eine Veränderung ab, wie die Zahlen in Tabelle 1 und 2 belegen53 . So haben sich in Bayern 1977 die Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 gegenüber 1976 in absoluten Zahlen fast verdoppelt; prozentual sind sie von 2,6 % auf 4,5 Ofo aller erledigten Ermittlungsverfahren gestiegen. Schon 1976 war damit die Zahl der Erledigungen nach § 153 a Abs. 1 größer als die der Einstellungen nach § 153 Abs. 1; inzwischen ist sie fast 21/2 mal so hoch. In Rheinland-Pfalz ist von 1976 zu 1977 immerhin eine prozentuale Zunahme um die Hälfte, nämlich von 2,1 Ofo auf 3,2 Ofo, zu verzeichnen. In Hessen (nicht in den Tabellen aufgeführt) hat sich im 1. Halbjahr 1976 der für 1975 angegebene Prozentsatz fast verdoppelt (auf 1,16 0f0)54. Im Bezirk des OLG Stuttgart (nicht in den Tabellen aufgeführt) stieg die Zahl der Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 von ca. 2600 im Jahre 1975 über 3526 im Jahre 1976 auf 5112 im Jahre 1977 (1,3 Ofo, 1,9 Ofo und 2,7 Ofo der Eingänge ohne unbekannte Täter)55. In Nordrhein-Westfalen (Tabelle 2) liegen die Einstellungsquoten allerdings vergleichsweise niedrig, und es ist auch keineswegs ein nennenswerter Anstieg zu vermerken. Jedoch ist die Zahl der Eingänge bzw. der Erledigungen insgesamt keine angemessene Vergleichsbasis. Die Einstellung nach § 153 a ist eine Form der Sanktionsverhängung. Ein zutreffenderes Bild von der quantitativen Bedeutung der Vorschrift ergibt sich daher, wenn man die Zahl der Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 in ein Verhältnis setzt zur Gesamtzahl der Anklagen, der Strafbefehlsanträge und der Anträge auf Durchführung eines vereinfachten Verfahrens (§ 212 StPO und § 76 JGG). Denn in diesem Bereich entscheidet sich, ob die Vorschrift die angestrebte Entlastung bewirken kann. Dieses Verhältnis ergibt sich aus Tabelle 3 auf S. 120. Die in Tabelle 3 wiedergegebenen Relationen lassen das sprunghafte Anwachsen der Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 deutlicher hervortreten. Sie zeigen aber auch, daß die Erledigungen nach § 153 aAbs. 1 im Bereich der eigentlich arbeitsintensiven Fälle eine größere Rolle wonach 1975 "von § 153 a StPO in vorsichtiger Form und keinesfalls in extensivem Umfang Gebrauch gemacht" worden sei. 62 Weinmann, DRiZ 1976, 279. 53 Vgl. dazu auch Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 120. 54 Wie Fn. 48. 55 Wie Fn. 49. Die Zahl für 1975 beruht auf einer Hochrechnung der Zahl für das 2. Halbjahr 1975.
120
2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe Tabelle 3
Anteil der Einstellungen nach § 153a Abs. 1 an den durch Anklage, Strafbefehlsantrag, Antrag auf beschleunigtes Verfahren (§ 212) und Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren (§ 76 JGG) von der Staatsanwaltschaft erledigten Ermittlungsverfahrena) 1976
1977
Bayern
5,9 %
9,8 %
Rheinland-Pfalz
4,85 %
7,4 %
1975
2,35%
Nordrhein-Westfalen Hessen (Anklagen einsehl. Strafbefehle)
3,6 %c)
1978
2,8 %b)
6,5 %
a) Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gesamtzahl der angeführten Erledigungen zuzüglich der Zahl der Einstellungen nach § 153a Abs. l. b) Im 1. Vierteljahr 1978. c) Zugrundegelegt wurden die Zahlen von 8 der 9 hessischen Landgerichtsbezirke.
spielen, als man bisher annahm und als es auf den ersten Blick bei einem Vergleich mit der Gesamtzahl der Erledigungen augenfällig wird. Konnte das Zögern der Staatsanwaltschaften im ersten Jahr der Einführung der neuen Vorschrift Naucke noch zu der Vermutung veranlassen, § 153 a sei "vielleicht ohnehin nur für wenige, gesondert gelagerte Fälle wichtig "56, so muß man jetzt zu ganz anderen Schlüssen kommen, wenn man sich vor Augen hält, daß in Bayern 1977 bereits nahezu 10 Ufo aller von der Staatsanwaltschaft durch Anklage, Strafbefehl usw. erledigten Fälle gemäß § 153 a Abs. 1 eingestellt wurden. In Hessen wurden 1976 von manchen Staatsanwaltschaften bereits zwischen 15 und 20 Ufo der betreffenden Sachen über § 153 a Abs. 1 erledigt57• Berücksichtigt man ferner, daß § 153 a nach h. M. im Jugendstrafverfahren keine Anwendung finden kann58 und läßt man demSI Gutachten, D 79. Vgl. auch Kramer, NJW 1976, 1611, den die anfängliche Zurückhaltung der Staatsanwälte zu der Einschätzung kommen ließ, hierbei handele es sich "schwerlich nur (um) bloße Anlaufschwierigkeiten". 57 Nach den Ergebnissen einer im April 1977 durchgeführten Erhebung, bezogen auf die Zahl der Anklagen und Strafbefehle (einschließlich der der vereinfachten Verfahren nach §§ 212 StPO, 76 JGG?), denen der Verf. die Zahl der Einstellung nach § 153 a Abs. 1 hinzugerechnet hat. Die genannten Einstellungsquoten kamen in 3 von 9 Landgerichtsbezirken vor. Daß der Landesdurchschnitt wesentlich niedriger liegt, erklärt sich in erster Linie damit, daß bei der Amtsanwaltschaft in Frankfurt, der Behörde mit der weitaus größten Zahl der Eingänge also, die betreffende Quote unter 2 % liegt. Das ist um so erstaunlicher, als dort der Anteil der Bagatellsachen größer ist als bei anderen Staatsanwaltschaften, so daß man auch einen größeren Anteil an Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 erwarten würde. n Brunner, JGG, § 45 Anm. 1 b; Kleinknecht, StPO, § 153 a Rdnr. 4; MeyerGoßner, in: Löwe / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 14. Allerdings erlaubt Nr. 5 RiJGG dem Staatsanwalt die Anwendung des § 153 a.
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
121
entsprechend die Jugendsachen außer Betracht, so kommt man zu noch eindrucksvolleren Zahlen. Für Bayern beträgt dann z. B. der entsprechende Anteil der Einstellungen nach. § 153 a an allen Anklagesachen usw. 1977 sogar 14,5 Ofo statt 9,8 Ofo. So ist das Bild zwar noch uneinheitlich, aber die Tatsache, daß schon jetzt in einigen Bundesländern ein nicht unbeträchtlicher Teil der Verfahren, die überhaupt einer Sanktionsverhängung zugeführt werden, über § 153 a erledigt werden, macht die Tendenz deutlich. Deutlich wird aber auch eine in den einzelnen Bundesländern außerordentlich unterschiedliche Einstellungspraxis. So betrug der prozentuale Anteil der Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 1977 in Bayern ungefähr das Vierfache des Prozentsatzes in Nordrhein-Westfalen59 • Auch innerhalb eines Bundeslandes finden sich vergleichbare Unterschiede80 • Die Zahl der Einstellung nach § 153 a Abs. 2 durch die Gerichte nimmt ebenfalls rasch zu, wie die aus Tabelle 481 ersichtlichen Steigerungsquoten erkennen lassen. Zusammenhänge zwischen der Einstellungsquote der Gerichte und der der Staatsanwaltschaften lassen sich nur vermuten. So könnte etwa die relativ hohe gerichtliche Einstellungsquote in Nordrhein-Westfalen eine Folge der eher zurückhaltenden Anwendung durch die Staatsanwaltschaft sein. Erstaunlich ist der hohe Anteil der Einstellungen nach § 153 a im Berufungsverfahren, obwohl z. B. die Richtlinien für Nordrhein-Westfalen bestimmen, der Staatsanwalt solle im Berufungsrechtszug einer Einstellung nach § 153 a Abs. 2 nur zustimmen, wenn sich wesentliche neue Gesichtspunkte ergeben hätten (11. 3). Daß die Gerichte überhaupt so häufig und in zunehmendem Maße auf § 153 a Abs. 2 zurückgreifen, ist dagegen nicht verwunderlich. Zwar sind die nach § 59 StGB möglichen Auflagen und Weisungen so gut wie identisch mit denen des § 153 a. Aber die Voraussetzungen des § 59 StGB sind enger; nach h. M. handelt es sich sogar um eine ausgesprochene Ausnahmeregelung82 • Zudem muß eine Entscheidung nach § 59 Vgl. auch Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 120, 134. Vgl. für Hessen die Angaben in Fn. 57. Für die anderen Bundesländer fehlt eine Aufschlüsselung nach Landgerichtsbezirken bzw. Staatsanwaltschaften. Vgl. aber für Niedersachsen bezüglich der Einstellung nach § 153 a Abs. 2 Ahrens, Einstellung, S. 73. 11 Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafgerichtsbarkeit, 1975, Tabelle 4 - 6; Strafgerichte, 1976, Tabelle 2 - 4; die Angaben für 1977 für das Saarland beruhen auf einer Mitteilung des saarländischen Justizministeriums (Schreiben v. 31. 7. 1978). Die Zahlen in Klammern geben den Anteil an den von den jeweiligen Gerichten bzw. Instanzen insgesamt erledigten Verfahren, bei den Amtsgerichten allerdings ohne Bußgeldverfahren (lf. Nr. 17) und ohne Anträge auf Erzwingungshaft (lf. Nr. 18), wieder. 82 Dreher / Tröndle, StGB, Vor § 59 Rdnr. 2 m. w. Nachw. insbesondere zur Entstehungsgeschichte; § 59 Rdnr. 5 m. w. Nachw.; Stree, in: Schönke / Schrö60 80
1.029 (2,20) 1.069 (1,46)
Hessen
87 (1,06)
507 (2,26)
11.478 (1,96)
Saarland
Schleswig-Holstein
Bundesgebiet
Rheinland-Pfalz
4.091 (2,16) 512 (1,75)
Nordrhein-Westfalen
Niedersachsen
278 (1,15)
Hamburg
Bremen
Berlin
872 (3,42) 200 (2,24)
1.301 (1,52) 1.530 (2,11)
Bayern
Baden-Württemberg
1975
Bundesland
23.793 (3,74)
861 (3,58)
158 (1,70)
2.250 (4,19) 2.257 (2,86) 8.195 (4,00) 1.000 (3,20)
3.378 (3,59) 3.045 (3,86) 1.886 (6,56) 382 (3,85) 381 (1,62)
1976
Amtsgerichte
131
1977
52 (0,49)
3 (1,69)
8 (0,74) 22 (0,60) 5 (0,84)
8 (0,71)
3 (0,54) 1 (0,67)
1 (0,1) 1 (0,1)
1975
73 (0,67)
4 (2,47) 2 (0,6)
12 (0,95) 4 (0,39) 34 (0,93) 3 (0,47)
5 (0,32) 9 (0,91)
1976
Landgerichte 1. Instanz
4
1977
Tabelle 4 Häufigkeit der Anwendung des § 153a Abs. 2 durch die Gerichte 61l •
1.355 (2,28)
8 (0,30)
13 (1,79)
531 (3,12) 86 (2,21)
2.322 (3,62)
785 (4,39) 132 (3,64) 35 (4,03) 20 (0,76)
205 (2,65)
200 (3,79) 120 (2,52) 118 (1,70)
39 (1,31) 10 (1,72) 23 (0,91)
417 (3,73) 456 (5,09)
223 (2,22) 123 (1,93) 22 (0,76) 13 (2,15) 9 (0,43)
1976
1975
Landgerichte Ber. Instanz
79
1977
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§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
123
StGB als Urteil ergehen und das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift im einzelnen darlegen (§ 267 Abs.3 S.4, 2. Halbs.). Schließlich ist gemäß § 59 a Abs. 1 StGB eine Bewährungszeit zu bestimmen; die Sache ist also nicht, wie bei § 153 a, mit der Erfüllung der Auflagen endgültig erledigt83 • b) Die erfaßten Delikte
Schwieriger ist es, sich ein Bild davon zu machen, bei welchen Delikten überhaupt, in welchem Umfang und bis zu welchem Schweregrad nach § 153 a eingestellt wird. Das Zählkartenverfahren sieht keine Aufschlüsselung nach Delikten vor. So lassen sich derzeit nur Einzelaspekte darstellen. Nach der ersten hessischen Untersuchung 64 wurde in diesem Bundesland 1975 und im 1. Halbjahr 1976 § 153 a Abs. 1 auf folgende Delikte häufiger angewandt: im StGB auf die §§ 113, 130, 142, 170 b, 230, 242, 248 a, letzterer auch in Verbindung mit §§ 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3, weiter auf die §§ 263, 266 und auf Privatklagedelikte gemäß § 374 Zf. 8 StPO; außerhalb des StGB auf Vergehen gegen das Straßenverkehrsgesetz, insbesondere gegen § 21 StVG, auf Vergehen gegen das Haftpflichtversicherungsgesetz, das Waffengesetz, das Lebensmittelgesetz und das Ausländergesetz, schließlich bei Pornosachen. Einige der berichtenden Staatsanwälte heben noch hervor, daß im Einzelfall kein Vergehenstatbestand von einer Behandlung nach § 153 a ausgeschlossen werde. Diese Angaben beziehen sich auf die erstel'\ P/2 Jahre. Man wird annehmen dürfen, daß die Bereitschaft, § 153 a vermehrt anzuwenden, mittlerweile auch dazu geführt hat, daß mehr Delikte und schwerwiegendere Begehungsweisen einbezogen werden. Die insgesamt 5112 Einstellungen nach § 153 a Abs. 1, die im Jahre 1977 im Bezirk des OLG Stuttgart erfolgten, teilen sich auf wie folgt65 : 2340 Fälle von Vermögensdelikten mit einem Schaden bis zu 50,- DM; 360 Vermögensdelikte mit einem Schaden bis zu 100,- DM; 174 Vermö· gensdelikte mit einem Schaden über 100,- DM; 11 Umweltschutzdelikte; 55 Lebensmitteldelikte; 1497 Verkehrsdelikte und 785 andere Delikte. der, StGB, § 59 Rdnr. 1; a. A. mit beachtlichen Gründen Horn, in: SK, § 59 Rdnr.9ff. U Registerrechtlich bestehen allerdings keine großen Unterschiede. Zwar ist nach § 4 Nr. 3 BZRG eine Entscheidung nach § 59 StGB in das BZR einzutragen. Da sie aber nach § 30 Abs. 2 Nr. 1 BZRG nicht in das Führungszeugnis aufgenommen wird, darf sich gemäß § 51 Abs. 1 Zf. 1 BZRG der nach § 59 StGB Verurteilte als unbestraft bezeichnen. Vgl. dazu Dreher, Festschr. Maurach, S. 286 ff. M Vgl. Fn. 48. 65 Quelle: Wie in Fn. 49.
124
2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Ein besonders wichtiges potentielles Anwendungsgebiet des § 153 a ist der Ladendiebstahl. Dessen Behandlung ist jedoch sehr unterschiedlich. So kommen etwa im Saarland bei Ladendiebstahl Einstellungen nach § 153 a noch bei einer Schadenshöhe von 300,- DM voree. Viele Richtlinien ziehen eine Grenze bei einem Schaden von 100,- DM, andere bei einem Schaden von 50,- DM67. In Niedersachsen hatte dagegen die Allgemeinverfügung des Ministers der Justiz vom 3.12.1974 zunächst den Ladendiebstahl von der Einstellungsmöglichkeit nach § 153 a grundsätzlich ausgenommenes. Zwar ist diese Verfügung inzwischen geändert811 , aber nach den Angaben von Kramer stellt von den elf niedersächsischen Staatsanwaltschaften weiterhin nur eine im Regelfall (Wert der Beute unter 50,- DM; Ersttäter) nach § 153 a ein70 . In Bremen gilt nach einer Allgemeinen Verfügung des Generalstaatsanwalts noch heute, daß bei Ladendiebstahl nicht nach § 153 a vorgegangen werden soll71, und der Berliner Justizsenator hat erst kürzlich ausdrücklich angeordnet, "daß die öffentliche Klage auch bei geringfügigen Ladendiebstählen mit einer Schadenssumme von 10,- DM selbst wenn die Täter noch nicht deliktisch in Erscheinung getreten sind - erhoben wird"7!. Keinerlei Beschränkungen gibt es dagegen bei Wirtschaftsstraftaten. Die Richtlinien schweigen dazu. Auf einer Referentenbesprechung der Landesjustizverwaltungen bestand Einigkeit darüber, daß § 153 a auch auf Wirtschaftsstraftaten anwendbar seF3. Dort soll die Höhe des verursachten Schadens keine Rolle spielen, wenn die Schuld gering ist. 88 Hausverfügung des Ltd. Oberstaatsanwaltes bei dem Landgericht Saarbrücken, mitgeteilt mit Schreiben vom 1. Juni 1977 an den Verf. 87 Zu den Einzelheiten vgl. u. § 11, 2. b). 88 Richtlinien für die Behandlung der Kleinkriminalität, H.2., Nds. Rpfl. 1974, 298; vgl. auch Kramer, NJW 1976, 1610; Ahrens, Einstellung, S. 17 f.;
85f.
AV v. 18. 2. 1976, Nds. Rpfl. 1976, 48. NJW 1976, 1610 Fn. 49. Die Praxis der niedersächsischen Gerichte ist nicht anders. Nach den Untersuchungen von Ahrens wird der Ladendiebstahl ausgesprochen unterschiedlich behandelt. § 153 a habe auch in der gerichtlichen Handhabung keineswegs die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Rolle eines Ersatzes für § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB übernommen (Einstellung, S. 85 f.). 71 AV v. 27. 12. 1974 - 4111 - 725/74 - V - , H. 2. 7! Anordnung v. 15.6.1977 - 4600/1 - IV/A. 3 -. Noch mit Schreiben v. 13.5. 1977 hatte dagegen der Generalstaatsanwalt bei dem LG Berlin auf Anfrage des Verf. folgendes mitgeteilt: ,,§ 153 a StPO findet auch auf Ladendiebstahl Anwendung. Eine feste Wertgrenze, deren Überschreitung im Einzelfall seine Anwendung ausschließt, besteht nicht. Die Anwendbarkeit der genannten Vorschrift wird unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles geprüft." Daten und Einzelheiten über die Berliner Praxis vor und nach dieser Anordnung bei Baumann, Gedächtnisschrift Schröder, S. 530 f. 73 Kramer, NJW 1976, 1610 Anm. 46. 111
70
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
125
Nach den Untersuchungen von Berckhauer74 , die sich auf einen Zeitraum vor Erlaß des § 153 a beziehen76 , kommen Einstellungen nach § 153 (l) selbst bei Schäden über 250000,- DM vor. Die Schadenshöhe setzt keine absoluten Grenzen, sondern schlägt sich lediglich in der Häufigkeit der Einstellungen nieder. So werden Verfahren mit einem Schaden über 250000,- DM neunmal seltener eingestellt als Verfahren mit einem Schaden bis zu 250000,- DM. Verfahren mit einem Schaden bis zu 50 000,- DM werden dreimal häufiger eingestellt als solche mit einem Schaden über dieser Summe. Die Einstellungsquote nach § 153 insgesamt beträgt bei den Wirtschaftsdelikten der "Bundesweiten Erfassung", in die Verfahren erst bei einem Mindestschaden von 1000,DM aufgenommen werden, 6,3 % 76 . Man hat diese erstaunlichen Werte, bei denen die Staatsanwaltschaft noch zu einer Einstellung nach § 153 bereit ist, damit zu erklären versucht, daß die Praxis - entgegen ihrer eigenen Einschätzung - mit einem relativen Begriff der geringen Schuld arbeite 77 . Wenn die Staatsanwaltschaft zwar bei einem Diebstahl mit einem Schaden über 500,DM nicht mehr7s, wohl aber noch bei Wirtschaftsdelikten mit einem Schaden von 50 000,- DM und mehr zur Einstellung (nach § 153) bereit sei, so zeige das, daß man nicht von einer bestimmten Schadensgrenze ausgehe, sondern sich nach dem Schaden richte, der durch ein bestimmtes Delikt erfahrungsgemäß verursacht werde. Danach wächst der durchschnittliche Schaden, der eine Einstellung noch gestattet, mit dem Schaden, der durch das Delikt im allgemeinen verursacht wird711. Nach Sessars Berechnungen liegt dieser durchschnittliche Schaden, der noch (nach § 153) einstellungsfähig ist, beim Ladendiebstahl bei 24,- DM und steigt bis zu 1224,- DM bei der UnterschlagungSo. Dieses Vorgehen lasse sich sogar mit den strafprozessualen Vorschriften in Einklang bringen, weil das geringe Verschulden an den Durchschnittsverstößen gegen dieselbe Strafbestimmung gemessen werden müssest. 74 Wirtschaftskriminalität; ZStW 89 (1977), 1016 ff. über Verhältnis von Schadenshöhe und Einstellungsbereitschaft vgl. auch Kunz, KrimJ 1979, 41 f. 75 Zugrundegelegt sind die Daten der "Bundesweiten Erfassung von Wirtschaftsstrafsachen nach einheitlichen Gesichtspunkten" für das Jahr 1974, vgl. Wirtschaftskriminalität, S. 119.
Berckhauer, zstw 89 (1977), 1033. Sessar, nach Albrecht, ZStW 89 (1977), 1095; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 148 ff.; Kunz, KrimJ 1979, 41; vgl. auch Berckauer, ZStW 89 (1977), 1034. 78
77
78 So das Ergebnis der Freiburger Untersuchung über die Staatsanwaltschaft. Vgl. Berckhauer, ZStW 89 (1977), 1033; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 149 Tab. 14. 79 Sessar, nach Albrecht, ZStW 89 (1977), 1095 f.; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 148. 80 a.a.O., 1096; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 150.
126
2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Eine entsprechende Untersuchung unter Einbeziehung des § 153 a liegt noch nicht vor. Man kann sich aber leicht vorstellen, daß die Möglichkeit, die Einstellung mit einer Sanktion zu verbinden, die Bereitschaft, auch bei hohen Schadenssummen einzustellen, noch weiter erhöht hat. Wahrscheinlich übersteigt auch hier die Einstellungsquote nach § 153 a bereits den Anteil der Einstellungen nach § 153. Erste Berichte aus der Praxis deuten jedenfalls darauf hin. Nach Hammerstein spielt § 153 a bei Wirtschaftsstraftaten eine ungeheure Rolle und ist von größerer Bedeutung als § 153. "Als Strafverteidiger erreiche man eine Einstellung des Verfahrens leicht, wenn man das Zwei- bis Dreifache der Schadenssumme als Geldauflage anbieten würde8!." Man müsse dem Staatsanwalt nur verdeutlichen, welchen Arbeitsaufwand es bedeute, bis ein Schuldnachweis erbracht worden sei, dann sei dieser zu einer Einstellung unter Auflagen leicht zu bewegen8s • Auch Wein mann berichtet, wie in anderem Zusammenhang bereits erwähnt, von Geldbußauflagen in Höhe von 50 000,- bzw. 75 000,- DM bei Vergehen gegen das Wasserhaushaltsgesetz und Steuerhinterziehungen, die allerdings von Gerichten gem. § 153 a Abs. 2 auferlegt wurden8'. Damit erscheinen die bei der Hamburger Bußgeldaffäre zutage getretenen Verfahrensweisen, jedenfalls in bezug auf die Höhe der Schadenssumme, die noch als einstellungsfähig galt, nicht mehr so ungewöhnlich. Vielmehr scheint eine so weitgehende Ausdehnung des Anwendungsbereichs in der Natur solcher Verfahren zu liegen, in denen das Gesetz keine klaren Grenzlinien zieht, sondern alles in ein kaum eingegrenztes und vor allem nicht überprüfbares Ermessen stellt. Über die Anwendung des § 153 a Abs. 2 durch die Gerichte liegt eine erste Untersuchung für Niedersachsen vor. Danach wird praktisch der gesamte Vergehensbereich berührt. Schwerpunkte sind Unterhaltspflichtverletzungen, die leichte und mittlere Eigentums- und Vermö81 Berckhauer, zstW 89 (1977), 1034, unter Berufung auf Kleinknecht; Fr. ehr. Schroeder, nach Albrecht, ZStW 89 (1977), 1097, der einen solchen
relativen Schadensbegriff als Ausfluß eines materiellen (!) Gleichheitsbegriffs gewertet wissen will. Berckhauer meldet allerdings den Verdacht der Ungleichbehandlung an. 8! NaCh Albrecht, ZStW 89 (1977), 1092. 8a a.a.O., 1096. Wie wenig solche Sachverhalte bekannt sind (oder zur Kenntnis genommen werden), zeigt die folgende Stellungnahme MeyerGoßners, in: Löse / Rosenberg, StPO, § 153 a Rdnr. 24: "Die von Müller (ZRP 1975, 55) geäußerte Befürchtung, die Vorschrift werde ,eine Oase des kapitalkräftigen Großkriminellen' sein, ist abwegig und dürfte schon durch die bisherige Praxis der Staatsanwaltschaften und Gerichte widerlegt sein."
(Hervorhebungen vom Verf.) 84 Vgl. o. § 2 Fn. 71.
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
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genskriminalität, fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr und leichtere Aggressionsdelikte85 • So heterogen und bruchstückhaft auch das Material ist, aus dem wir dieses Bild von der tatsächlichen Handhabung des § 153 a durch die Praxis zu gewinnen versuchten, es gestattet doch die folgende grobe Bilanz: Erstens: § 153 a wird nach anfänglichem Zögern bereits recht häufig angewandt; die Tendenz ist zunehmend. Zweitens: Der Gebrauch der Vorschrift ist uneinheitlich. Und drittens: Er ist nicht auf Bagatelltaten beschränkt. c) Die voraussichtliche Entwicklung
Aller Voraussicht nach wird die Bedeutung der Vorschrift noch erheblich zunehmen. Das ergibt sich zunächst aus einer Analyse der Grunde, die zu der anfänglichen und teilweise auch heute noch zu beobachtenden Zurückhaltung der Staatsanwaltschaften gegenüber § 153 a geführt haben. An erster Stelle ist hier zu nennen, daß das bisher bei einer Einstellung nach § 153 a einzuhaltende Verfahren nicht als Arbeitsentlastung gegenüber einem Strafbefehlsantrag oder selbst einer Anklageschrift empfunden wurde. So bestand oder besteht noch die Pflicht des Sachbearbeiters, die Abschlußverfügung nach § 153 a zur Gewährleistung einer einheitlichen Handhabung der Vorschrift dem Abteilungsleiter vorzulegen86 • Die vorgesehene schriftliche Belehrung des Beschuldigten, das Einholen seiner Zustimmung und der des Gerichts, die Mitteilung an den Anzeigeerstatter bzw. Verletzten von der vorläufigen und eventuell auch von der endgültigen Einstellung, die überwachung der Auflagen und Weisungen, die bei Verstößen gegen die Auflagen und Weisungen vorgesehene Mahnung des Beschuldigten und schließlich die bei solchen Verstößen eventuell erforderliche Fortsetzung des Verfahrens wurden und werden von vielen Staatsanwälten als zu zeitaufwendig empfunden87 • Hinzu kommt, daß eine Sache nicht schon mit der vorAhrens, Einstellung, S. 81 ff. Soweit ersichtlich, besteht die Vorlagepflicht noch in Baye.rn, Bremen, Niedersachsen, im Saarland und in Schleswig-Holstein. 87 Dies kommt in Erfahrungsberichten und selbst in der Einleitung zu einzelnen Richtlinien immer wieder zum Ausdruck. So sieht Weinmann den entscheidenden Grund für die zunächst nur geringe Bereitschaft der Staatsanwälte, § 153 a anzuwenden, "in der Scheu vor dem Bearbeitungsaufwand und der Folgebelastung durch die Auflagenüberwachung", Referat, S. 5. Bisweilen wir zum Ausdruck gebracht, daß die Staatsanwaltschaft das komplizierte Verfahren nach § 153 a, das ihr selber keine wesentliche Entlastung oder sogar Mehrarbeit bringe, auf sich nehmen müsse, damit für die Strafgerichtsbarkeit insgesamt eine Entlastung erzielt werde (vgl. etwa Punkt 11 1 (1) der Rundverfügung Rheinland-Pfalz; Staiger, Niederschrift Dienstbesprechung Saalgau, S. 24 f.). Zur Frage des Arbeitsaufwandes bei § 153 a vgl. auch Naucke, Gutachten, D 79; Kramer, NJW 1976, 1610. 85
88
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
läufigen Einstellungsverfügung nach § 153 a als erledigt gilt, sondern erst mit der Erfüllung der Auflagen und Weisungen, die Sache also bis zum endgültigen Eintritt des Verfahrenshindernisses die Statistik des Staatsanwalts als unerledigt belastet. Dies kann in den Fällen des § 170 b StGB (§ 153 a Abs. 1 Nr. 4) bis zu einem Jahr dauern (§ 153 a Abs. 1 S. 2). Darüber hinaus muß der Staatsanwalt, wenn der Beschuldigte die Auflagen nicht erfüllt, doch noch Anklage erheben. Hinzu kommt, daß bis 1977 die Einstellung nach § 153 a für das von dem einzelnen Staatsanwalt zu·erfüllende Pensum nicht so viel zählte wie ein Strafbefehl oder eine Anklageerhebung88 • So kann es durchaus sein, daß der Staatsanwalt eine Einstellung nach § 153 a Abs. 2 durch die Gerichte der eigenen Einstellung vorzieht, weil - bis auf die überwachung der Auflagen - alle für die Anwendung des § 153 a erforderlichen Schritte in der Hauptverhandlung auf einmal erledigt werden können und die Überwachung der Auflagen in die Zuständigkeit des Gerichts übergeht81 • Nach der vorläufigen Einstellung durch das Gericht gilt die Sache für den Arbeitsbereich der Staatsanwaltschaft als endgültig erledigt und belastet die Statistik des betreffenden Dezernenten nicht mehr. So mag denn oft schon bei der Erstellung einer Anklageschrift eine Einstellung nach § 153 a Abs. 2 durch das Gericht einkalkuliert oder sogar angezielt werden. Bei Verfahren wegen Unterhaltspflichtverletzung kommt es vor, daß der Staatsanwalt erst einmal Anklage erhebt, um dem Beschuldigten den Ernst der Lage klar zu machen. Erfahrungsgemäß beginnt dieser oft nach Mitteilung der Anklageschrift seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, so daß dies in der Hauptverhandlung als Indiz dafür. gewertet werden kann, daß eine Einstellung nach § 153 a angebracht ist, und mehr sollte die Anklageerhebung auch nicht bewirken. Auch in anderen Fällen läßt sich mit der Anklageerhebung eine ähnliche Wirkung erzielen, so daß sie bisweilen bewußt eingesetzt wird, damit der Beschuldigte bereitwillig auf eine Einstellung nach § 153 a eingeht". Die Justizverwaltungen unternehmen alles, um die bürokratischen Hindernisse zu beseitigen, die die durch § 153 a mögliche Zeitersparnis wieder zunichte machen. So ist die - von vornherein nur als übergangslösung geplantel1 - Pflicht zur Vorlage beim Abteilungsleiter im Auskunft eines Staatsanwaltes aus Nordrhein-Westfalen. So der leitende Beamte einer hessischen Staatsanwaltschaft in der 1. hessischen Befragung (Fn. 48). Ähnlich äußerten sich Praktiker in Gesprächen mit dem Verf. 90 Bericht eines Staatsanwalts aus Nordrhein~Westfalen gegenüber dem Verf. Diese Praxis entspricht der oben (§ 2, 2. e» gegebenen Charakterisierung des § 170b StGB als Druckmittel zur Durchsetzung von (auf das Sozialamt übergegangenen) zivilrechtlichen Ansprüchen. gl So ausdrücklich die Gesprächsergebnisse (Bayern) und die Berliner Richtlinien zur Kleinkriminalität. 88
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§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
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Abbau begriffen92 • Die Überwachung der Auflagen und Weisungen wird zunehmend den Rechtspflegern übertragenDa. Inzwischen gibt es auch Formulare, die den mit dem Schriftverkehr verbundenen Aufwand reduzieren und ein rationelles Arbeiten ermöglichen94 • Seit 1977 sieht der für die Staatsanwälte geltende Pensenschlüssel bei Verfahren mit bekannten Tätern keine unterschiedliche Gewichtung nach Erledigungsformen mehr vor, so daß eine Einstellung nach § 153 a ebenso viel zählt wie eine Anklageerhebung95 • Die dargestellten Grunde für die Zurückhaltung der Staatsanwälte zeigen, daß es sich dabei tatsächlich um bloße Anlaufschwierigkeiten und nicht um eine grundsätzliche Ablehnung der Vorschrift handelt. Die Maßnahmen der Landesjustizverwaltungen, die die Einstellung nach § 153 a attraktiver machen sollen, beginnen bereits, sich auszuwirken, wie die Statistiken belegen. Ist damit erst einmal gesichert, daß die Anwendung des § 153 a im Vorverfahren auch für den Staatsanwalt weniger arbeitsaufwendig ist als eine Erledigung über Strafbefehl oder Anklageerhebung, so läßt das eine weitere Zunahme der Einstellungen nach § 153 a Abs. 1 als der für die Staatsanwaltschaft ökonomischsten Erledigungsform erwarten. Für diese Erwartung spricht auch noch ein weiterer und vielleicht gewichtigerer Grund. Man muß nämlich das Drängen der Justizverwaltungen und der Generalstaatsanwälte auf verstärkte Anwendung des § 153 a durch die Staatsanwaltschaft auch vor dem Hintergrund der Personalsituation der Justiz sehen. Richter und Staatsanwälte sind der92 Soweit ersichtlich ist die Vorlagepflicht inzwischen aufgehoben in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland -Pfalz. 93 Dies ist, soweit ersichtlich, nur noch in Berlin, Bremen, Niedersachsen und im Saarland nicht der Fall. 94 Als besondere Verzögerung wird offenbar die Zweiteilung des Verfahrens in ein vorläufiges Absehen von der Erhebung der öffentlichen Klage und eine endgültige Einstellung empfunden. Um dies zu vermeiden, empfehlen beispielsweise die Justizverwaltungen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, im Regelfall den Beschuldigten zur sofortigen Erfüllung der Auflagen aufzufordern oder nur eine kurze Frist zu setzen, so daß er mit der Zustimmung zur Einstellung zugleich auch schon die Erfüllung der Auflagen nachweisen könne. Liege dieser Nachweis vor, so könne sofort endgültig eingestellt werden, so daß eine vorläufige Einstellung erst gar nicht erforderlich werde. Entsprechend ausgestaltete Formularsätze werden den Staatsanwaltschaften zur Verfügung gestellt. Dieses Verfahren ist bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart bereits sehr früh benutzt worden und hat dort zu wesentlich höheren Einstellungsquoten als bei den anderen Staatsanwaltschaften desselben OLG-Bezirks geführt (Weinmann, Referat, S. 6, für das 2. Halbjahr 1975). 95 Auskunft eines Staatsanwalts aus Nordrhein-Westfalen. Der neue Pensenschlüssel ist zumindest in Nordrhein-Westfalen eingeführt, dürfte aber, da er auf einer Vereinbarung der Landesjustizverwaltungen beruht, auch in den anderen Bundesländern gelten.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
zeit schon bedenklich überlastet. So stieg etwa in Hessen die Zahl der Strafsachen und Bußgeldverfahren zwischen 1970 und 1975 um die folgenden Prozentzahlen an: Amtsgerichte 49 0/0 Landgerichte I. Instanz .................................. 13 Ofo Landgerichte H. Instanz ................................ 30 Ofo Oberlandesger. Berufungsinstanz ........................ 53 Ofo. Demgegenüber hat die Zahl der Richter nur um 8,1 % zugenommen98 • Auch die am 1. 1. 1975 in Kraft getretenen Reformen (Wegfall der übertretungen und ihre teilweise Umwandlung in Ordnungswidrigkeiten) haben keine spürbare Entlastung gebracht. So ist etwa in Nordrhein-Westfalen der Geschäftsanfall der Amtsgerichte bei Strafsachen und Bußgeldsachen im Jahre 1975 immer noch um 7,7 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen97 • Besonders kritisch scheint die Situation bei der Staatsanwaltschaft zu sein. So ist beispielsweise in Baden-Württemberg von 1970 bis 1974 die Zahl der von der Staatsanwaltschaft zu bearbeitenden Fälle um 28 % (d. h. um 140000 auf 651 000) gestiegen, die Zahl der Staatsanwälte dagegen nur um 8,80/098. In Schleswig-Holstein ist gegen zwei Staatsanwälte, die mit ihrer Arbeit quantitativ nicht mehr fertig wurden, wegen Strafvereitelung Anklage erhoben worden". Das mag zwar Extremfälle betreffen, macht aber doch deutlich, welches Ausmaß die Überlastung der Staatsanwälte mancherorts erreicht hat10o • 98 Die Zahlen entstammen einer Petition der Richtervertretungen des Landes Hessen an den Hessischen Landtag, in der um eine Vermehrung der Planstellen nachgesucht wird, da der weiter steigende Arbeitsanfall bei den Gerichten durch erhöhte Leistung nicht auszugleichen sei (abgedruckt in der FR Nr. 271 v. 1. 12. 1976, S. 14). Die Steigerungsquote bei den Richterzahlen von 8,1 Ofo bezieht sich auf die Gesamtzahl aller Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Zur Situation in Hessen vgl. auch DRiZ, Information 12/76, I 50. Zur Situation in den anderen Bundesländern vgl. den in DRiZ, Information 2176, I 8 Wiedergegebenen Bericht des Berliner Tagesspiegel: "Das Recht gerät auf die lange Bank" v. 20. 12. 1975. Zur Lage in Niedersachsen und Hamburg vgl. DRiZ, Information 6176, I 24, zur Lade in Baden-Württemberg DRiZ, Information 12176, I 51. t7 Quelle: übersicht über den Geschäftsanfall bei den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und den Staatsanwaltschaften im Jahre 1975, JMBl. NW 1976, 122. 88 So die Angaben in dem in Fn. 96 zitierten Bericht des Berliner Tagesspiegel. 89 Vgl. dazu DRiZ, Informationen 7176, I 27 und die Stellungnahme des früheren BGH-Präsidenten Dr. Fischer in DRiZ 1977, 28, wo sich auch eine Mitteilung über den Freispruch des einen dieser Staatsanwälte durch den Berliner Strafsenat des BGH findet. 100 Vgl. dazu DRiZ, Informationen 7/76, I 27.
§ 6. Der Anwendungsbereich des § 153 a
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Diese Verhältnisse werden sich aller Voraussicht nach auf absehbare Zeit nicht bessern, im Gegenteil. So ist die Zahl der polizeilich registrierten Kriminalität im Bundesgebiet 1977 um 7,3 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen101 • Sie dürfte bei sich verschlechternder oder auch nur gleichbleibender Wirtschaftslage (Arbeitslosigkeit usw.) gerade auch im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität weiter ansteigen. Gleichzeitig sieht sich die öffentliche Hand gezwungen, ihre Personalausgaben in Grenzen zu halten, und die Justiz gehört zu den Bereichen, in denen Einsparungen politisch noch den wenigsten Widerstand hervorrufen. Denn eine Zunahme der Kriminalität führt zwar dazu, daß unverhältnismäßig große Mittel zur Verbesserung der personellen und sachlichen Ausstattung der Polizei bereitgestellt werden l '!, weil das in der Öffentlichkeit als effektive Maßnahme zur Bekämpfung der Kriminalität angesehen wird und sich daher politisch wirkungsvoll in Szene setzen läßtl°3 • Gerade in solchen Zeiten mit ihrer Tendenz zu "law-and-order"-Stimmungen gerät dagegen die Justiz leicht in den Verdacht, durch zu milde Urteile und durch Gewährung zu vieler prozessualer Rechte des Beschuldigten für den Anstieg der Kriminalität nicht unerheblich mitverantwortlich zu sein104• Mittel für die Justiz lassen sich daher schlecht als Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität darstellen 105 • So kann es kaum verwundern, daß etwa in BadenWürttemberg trotz prekärer Personalsituation der Justiz für 1977 und 1978 von den insgesamt vorgesehenen 5200 neuen Stellen im öffentlichen Dienst (hauptsächlich Polizeibeamte und Lehrer) nur 11 für Richter und Staatsanwälte vorgesehen sind10e • Für eine der Vermehrung der Kriminalität in ihrer personellen Ausstattung nicht gewachsene Justiz ist die vermehrte Anwendung des § 153 a das gegebene Ventil, zumindest bei Sachen mit bekannten Tätern. Ein Ventil zudem, auf das die Justizverwaltungen durch ihr Weisungsrecht unmittelbar Einfluß nehmen und das sie daher bei wachsendem Andrang immer ein wenig mehr aufdrehen können, indem immer mehr Vergehensverwirklichungen in den Anwendungsbereich des § 153 a einbezogen werden. 101 Polizeiliche Kriminalstatistik 1977, nach einem Bericht der FR Nr. 208 v. 20. 9. 1978. 102 Für die BRD vgl. die in dem zitierten Artikel des Tagesspiegel (Fn. 96) genannten Zahlen, für die USA vgl. Arzt, Ruf, S. 128. 103 Wie Fn. 102; Arzt, Ruf, S. 112 ff. 104 Arzt, Ruf, S. 66 ff., 70 ff., 75 ff. u. ö. 105 Vgl. dazu die Stellungnahme des Vertreters des deutschen Richterbundes Lademann in dem zitierten Artikel des Tagesspiegel (Fn. 96): "Die Bevölkerung drängt auf schnelle Aufklärung, und von diesem Druck profitiert die Polizei. Was hernach bei der Justiz geschieht oder eben lange Zeit nicht geschieht, steht nicht mehr so im Scheinwerferlicht." 108 DRiZ, Information 12176, I 51.
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Im übrigen wird § 153 a voraussichtlich schon deshalb ein bevorzugtes Mittel zur Bewältigung der Massenkriminalität werden, weil andere Möglichkeiten zur Entlastung der Justiz anscheinend an ihre Grenzen gelangt sind. Maßnahmen zur generellen Entkriminalisierung, die, wie etwa die Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten, noch den größten Entlastungseffekt versprechen, scheinen bei der "Tendenzwende" auch im Klima der Rechtspolitik auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar. Das haben die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des 51. Deutschen Juristentags deutlich gemacht, wo weder der AE-GLD mit seiner zivilrechtlichen Lösung für den Ladendiebstahl und eventuell noch andere Formen der Kleinkriminalität noch der Vorschlag, ein eigenes Bagatellstrafrecht zu schaffen, noch der einer Umwandlung der kleineren Vermögensdelikte in Ordnungswidrigkeiten eine Mehrheit finden konnte107 • Die Quote der Einstellungen nach § 170 Abs. 2, über die auch weiterhin der größte Teil der Verfahren bewältigt werden dürfte, läßt sich bei bekannten Tätern kaum noch steigern, will die Justiz nicht gänzlich unglaubwürdig werden und die Abschreckungswirkung des Strafrechts insgesamt gefährden. Auch läßt sich die sanktionslose Einstellung nach § 153 jetzt, wo sie sich nur noch auf Vergehen bezieht, kaum ausweiten. Ebenso sind dem Ausweichen auf den Strafbefehl Grenzen gesetzt. Soll er wirklich die erstrebte Verkürzung des Verfahrens ermöglichen, muß die Einspruchsquote möglichst klein gehalten werden. Es bietet sich daher an, in allen Fällen mit nicht ganz eindeutiger Beweislage, aber auch dort, wo wegen des Bagatellcharakters einer Tat die Kriminalstrafe nicht angemessen erscheint und bei dem Betroffenen Widerstand auslösen könnte, über § 153 a vorzugehen. Dessen mildere und gegenüber der Kriminalstrafe nicht stigmatisierende Sanktion dürfte in solchen Fällen von den Betroffenen eher ohne Gegenwehr hingenommen werden108 • Man wird daher wohl nicht zu weit gehen, wenn man aus diesen Erwägungen heraus dem Verfahren nach § 153 a für die Zukunft eine ähnliche Bedeutung zuspricht wie dem Strafbefehl. Auf die Ausgangsfrage für diese Überlegungen bezogen bedeutet dies, daß der durch die 107 Die Beschlüsse sind wiedergegeben in NJW 1976, 2009. Vgl. auch die Berichte von Arndt, DRiZ 1976, 363; Baumann, ZRP 1976, 268; Leonardy, DRiZ, Informationen 11176, I 42; Seebald, DRiZ 1977, 16. 108 Seit 1975 geht der Anteil der durch Strafbefehl ohne Hauptverfahren erledigten Strafsachen kontinuierlich zurück. Die Gründe dafür liegen in einer Steigerung der Einspruchsquote und in einem Rückgang der Strafbefehlsanträge. Das letztere mag, jedenfalls für den Rückgang von 1975 gegenüber 1974 mit dem Wegfall der übertretungen zusammenhängen, wird aber seither vor allem darauf beruhen, daß die Erledigung nach § 153 a in vielen Fällen an die Stelle des Strafbefehlverfahrens getreten ist. Vgl. dazu Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 120.
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung
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unbestimmte Fassung der Vorschrift gewährte weite Spielraum zur Anwendung des § 153 a auch und gerade durch die Staatsanwaltschaft voll ausgenützt werden dürfte. § 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung Damit sind der grundsätzliche Anwendungsbereich des § 153 a und sein Stellenwert für die Bewältigung der Massenkriminalität geklärt. Insbesondere hat sich gezeigt, daß § 153 a keinesfalls nur eine periphäre Erscheinung ist, die man zwar vom Prinzip her bedenklich finden mag, wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung aber vernachlässigen könnte. Welche Veränderungen ergeben sich daraus für die Arbeitsteilung zwischen Staatsanwalt und Richter? Welche Funktionen werden damit dem Staatsanwalt übertragen, und wie sind diese dogmatisch zu qualifizieren? Rufen wir uns in Erinnerung: Anlaß für verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 153 a war zunächst die Sanktionsgewalt des Staatsanwalts, die Tatsache, daß er Rechtsfolgen verhängen darf, die bisher allein in die richterliche Kompetenz fielen. Stellt man nur auf den Inhalt dieser Rechtsfolgen ab, so ist eine nichtrichterliche Kompetenz unter dem Gesichtspunkt des Art. 92 GG unbedenklich, weil sie ihrem Schweregrad nach unterhalb der Kriminalstrafe liegen. Der Gesetzgeber hat nun zwar mit den Rechtsfolgen des § 153 a eine neue Sanktionsart eingeführt. Er hat aber nur auf der Rechtsfolgenseite einen klaren Trennungsstrich zum Kriminalstrafrecht gezogen. Dagegen hat er die darunter fallenden Tatbestände nicht, wie beim Ordnungswidrigkeitenrecht, aus dem Kriminalstrafrecht herausgenommen und einen eigenen, fest abgegrenzten Deliktsbereich geschaffen, der dieser Sanktionsart unterstehen soll. Die unter § 153 a fallenden Tatbestände sind vielmehr nach wie vor solche des Kriminalstrafrechts. Durch die unbestimmte und weite Fassung der Vorschrift können ihr alle Vergehenstatbestände unterfallen, auch solche mit erhöhter Mindeststrafe. Die gesamte kleinere und weite Teile der mittleren Kriminalität werden daher zum möglichen Anwendungsfall des § 153 a. Dieser Sachverhalt erfordert einen Perspektivenwechsel der Untersuchung. Es geht nicht mehr um die Sanktionsmacht des Staatsanwalts als solche, nicht mehr um die Inhalte und die Wirkung der von ihm zu verhängenden Rechtsfolgen, sondern wir müssen uns jetzt der Voraussetzungsseite dieser Sanktionsmacht zuwenden. Wir müssen daher fragen, welche Folgen es hat, daß dem Staatsanwalt ein weitgehendes Ermessen darüber eingeräumt ist, in welchen Fällen er von seiner Sanktionsmacht Gebrauch machen will.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Diese Folgen lassen sich in einer ersten Annäherung so beschreiben: Es liegt jetzt im Ermessen des Staatsanwalts, ob eine Sache im Ver,.. gehensbereich überhaupt noch vor den Richter kommt. Bisher entschied der Staatsanwalt nur darüber, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorliegt und also Anklage zu erheben ist bzw. ob, wenn zwar formell die Strafbarkeit zu bejahen ist, die materielle Strafwürdigkeit wegen geringer Schuld und des Fehlens eines öffentlichen Interesses entfällt und daher nach § 153 eingestellt werden kann. Er entscheidet jetzt weiterhin, ob er, wenn er Strafwürdigkeit für gegeben erachtet denn daß überhaupt ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegt, ist ja Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 153 a - , selbst eine Sanktion verhängt oder ob er Anklage erhebt. Das heißt aber nichts anderes, als daß im unteren und mittleren Bereich der Kriminalität der Sache nach die Strafzumessung als Bewertung des Schweregrades eines strafbaren Verhaltens zunächst beim Staatsanwalt liegt. Damit ist eine grundlegende Funktionsverschiebung zwischen Richter und Staatsanwalt gesetzt. Das Gesetz hatte bisher dem Staatsanwalt nur eine vorläufige Entscheidung darüber anvertraut, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorliegt (wenn wir damit einmal die Entscheidungen nach §§ 170 und 153 zusammenfassen). Wurde der Verdacht der Strafbarkeit bejaht, dann war alles weitere, nämlich die endgültige Entscheidung über das Ob einer strafbaren Handlung und in welchem Maße Strafwürdigkeit vorlag, Sache des Richters. Es war daher allein Sache der Gerichte, durch die bei der Strafzumessung vorzunehmende Differenzierung und Bewertung einer Straftat die einzelnen einem Straftatbestand unterfallenden Handlungsweisen in dem durch das Gesetz vorgegebenen Strafrahmen zu gewichten. Damit lag die Kontrolle über alle strafrechtlich relevanten Handlungsweisen, wenn deren Strafwürdigkeit durch die Verneinung der Voraussetzungen der §§ 153, 170 Abs. 2 durch die Staatsanwaltschaft in einer vorläufigen Weise festgestellt worden war, allein bei den Gerichten, bestimmten sie in dem durch den Strafrahmen ihrer Bewertung überlassenen Bereich die Kriminalpolitik. Das ist jetzt anders geworden. Im Vergehensbereich sollen nunmehr nach den Vorstellungen des Gesetzgebers und der Justizverwaltungen dem Richter von vornherein nur noch relativ schwerwiegende Deliktsverwirklichungen zu Gesicht kommen. Die Entscheidung, was als schwerwiegend und was nicht als schwerwiegend zu beurteilen ist, liegt nicht mehr primär bei ihm. Sie ist ihm von Staatsanwalt zumindest in den Fällen abgenommen worden, in denen dieser zu dem Ergebnis kommt, daß die Voraussetzungen für die Anwendung des § 153 a vorliegen.
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung
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Bevor wir nach den verfassungsrechtlichen Auswirkungen fragen können, müssen wir diese hiermit ja nur grob skizzierte Funktionsverschiebung noch etwas genauer beschreiben. Dazu ist zunächst erforderlich, die Bedeutung der Strafzumessung innerhalb der richterlichen Strafrechtsanwendung darzustellen, um anschließend deutlicher zeigen zu können, in welcher Weise § 153 a in diesen Aufgabenbereich eingreift. 1. Die Bedeutung der richterlidlen Strafzumessung a) Bildung von allgemeinen Regeln und Fallgruppen
Das Gesetz sieht in aller Regel weite Strafrahmen vor, einmal um eine angemessene Individualisierung der Strafe zu ermöglichen, aber auch, und darauf wird noch einzugehen sein, weil weitgefaßte Tatbestände, die Handlungsweisen von stark differierendem Unrechtsgehalt erfassen, dies erforderlich machen. Neben dem Regelstrafrahmen stellt das Gesetz häufig noch Sonderstrafrahmen zur Verfügung, ohne allerdings genau festzulegen, wann diese für die Strafzumessung maßgeblich sind. Sie werden vielmehr nur ganz allgemein in "besonders schweren" oder "minder schweren" Fällen für anwendbar erklärtl. Für "besonders schwere" Fälle verwendet die neuere Gesetzgebung häufig die Technik der Regelbeispiele, die den Richter weniger festlegen als ein qualifizierter Tatbestand, andererseits eine größere Genauigkeit ermöglichen sollen als gänzlich unbenannte Strafschärfungsgründe!. Da die "Wertgruppen" der unbenannten Strafänderungsgründe in Wahrheit nur eine Erweiterung der Strafrahmen sind und auch die Regelbeispiele den Richter freier stellen als kasuistische Qualifikationen, an deren Stelle sie häufig treten3 , bleibt dem Richter in der Strafzumessung ein sehr weites, wenn auch "rechtlich gebundenes"4 Ermessen. Der durch die Strafrahmen gegebene Spielraum soll dem Richter ermöglichen, alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und den Besonderheiten in der Person des Täters wie der besonderen Situa1
Vgl. zu den "Wertgruppen" der unbenannten Strafänderungsgründe
BTuns, Strafzumessungsrecht, S. 103 ff.; Jescheck, AT, S. 217. Das frühere
Recht kannte über die genannten Strafänderungsgründe hinaus noch "mildernde Umstände", "besonders leichte", "leichte" und "schwere" Fälle. 2
Jescheck, AT, 2. Aufl., S. 642.
Die Regelbeispiele ersetzen entweder frühere Qualifikationstatbestände (z. B. in § 243 StGB n. F.) oder sie werden in neuen Strafvorschriften dort verwandt, wo der Gesetzgeber früher mit Qualifikationen gearbeitet oder wo er sich mit bloßen unbenannten Strafschärfungsgründen begnügt hätte. Zur Entstehungsgeschichte dieser Rechtsfigur vgl. Maiwald, Festschr. Gallas, S. 138 ff. 4 BGHSt. 1, 175 ff. (177). Zur Bedeutung und zum Umfang dieser rechtlichen Bindung vgl. BTuns, Strafzumessungsrecht, S. 87 ff.; Jescheck, AT, S. 699 f. 3
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
tion der jeweiligen Tat weitestgehend Rechnung zu tragen'. Damit ist Rechtsanwendung mehr als bloße Subsumtion: Der Richter muß eine Vielzahl von Strafzumessungsgesichtspunkten gegeneinander abwägen und eine für den konkreten Fall verbindliche Rangfolge der Strafzwecke festlegen. Strafzumessung verlangt somit ständig richterliche Wertentscheidungen6 • Gerade dadurch, daß der Gesetzgeber mittels weiter Strafrahmen Raum schafft für ein Höchstmaß an Individualisierung, zwingt er den Richter, auf mehr als nur auf eine gerechte Einzelfallentscheidung abzustellen. Soll die Individualisierung nicht zur Willkür werden, dann muß es Maßstäbe und Regeln geben, die die Sanktionsverteilung über die gesamte Breite des Strafrahmens für die einzelnen Verwirklichungsformen eines Delikts steuern und den Strafrahmen noch einmal in sich untergliedern. Da die in § 46 StGB für die Strafzumessung aufgestellten Grundsätze dies allein nicht leisten können, muß der Richter solche Regeln selbst aufstellen. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Strafzumessung als ein Vorgang auf zwei Stufen beschreiben. Der Richter konkretisiert auf einer ersten Stufe weite Regelstrafrahmen anhand der vom Gesetz vorgegebenen Wertung durch die Bildung von Fallgruppen für die einzelnen Spielarten eines Delikts, für seine mehr oder minder schwerwiegenden Ausführungen7 • Gleiches leistet er für die unbenannten Strafänderungsgründe durch Herausarbeiten von zwar abstrakten, aber handhabbaren Merkmalen, und, was damit zusammenfallen kann, wiederum durch Bildung von Fallgruppen. In einem zweiten Akt erfolgt die endgültige Individualisierung, indem alle dabei noch nicht erfaßten Strafzumessungstatsachen am Leitfaden der gesetzlichen oder ungeschriebenen Strafzumessungsgrundsätze abgewogen und für die Festlegung des Strafmaßes herangezogen werden. Das heißt aber, erst durch die in der Strafzumessung vorgenommenen Differenzierungen bekommen die materiellen Strafrechtsnormen ihre eigentliche Konturierung. Durch die Bildung von und die Orientierung an Fallgruppen und durch die Herausbildung von zwar abstrakten, aber im Verhältnis zum Gesetz konkreteren Merkmalen für benannte und unbenannte Strafänderungsgründe wird das Gesetz konkretisiert und aufgefächert in eine Reihe von Regeln unter6
Jescheck, AT, S. 698.
Zur Strafzumessung als Wertentscheidung vgl. Bruns, Strafzumessung, S. 17 ff.; Küper, Richteridee, S. 7 ff. 7 Zur Bildung von Fallgruppen durch Vergleich mit ähnlichen Fällen als wichtigstem Mittel der Praxis, um zu einer gewissen Gleichmäßigkeit des Strafens zu gelangen, zu den daraus resultierenden eigenen engeren Strafrahmen der Praxis, aber auch zu den damit verbundenen Gefahren einer Schematisierung vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 66 ff.; vgl. auch Grehing, ZStW 88 (1976), 1059 ff. zur Fallgruppenbildung bei der Geldstrafe. ft
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung
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halb seines Abstraktionsgrades. Erst dadurch wird eine gewisse Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung gewährleistet. b) Der Einfluß der Strafzumessung auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen
Die Strafzumessung nimmt damit zugleich auch Einfluß auf die Konkretisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen. Denn zwischen Strafzumessung und Strafbarkeitsvoraussetzungen besteht ein enges Wechselverhältnis8 • Einerseits laufen die Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB und das "ihnen zugrundeliegende Bewertungsschema letzten Endes auf einen vorweggenommenen großen Katalog von Strafzumessungsgründen hinaus"9. Umgekehrt konturieren die Kriterien, nach denen eine Tat in der Strafzumessung gewichtet wird, die Bedeutung der Strafbarkeitsvoraussetzungen und differenzieren diese noch einmal in sich. Gesetzestechnisch zeigt sich dieser Zusammenhang darin, daß solche Kriterien ohne weiteres zur Schaffung von Qualifikationen, Privilegierungen und Sondertatbeständen herangezogen werden können10 , wie andererseits der Gesetzgeber seit einiger Zeit dazu übergeht, ehemals qualifizierende Tatbestandsmerkmale mit Hilfe der Regelbeispieltechnik in bloße Strafzumessungsregeln zu überführenl l . Privilegierende und qualifizierende Tatbestandsmerkmale einerseits und Strafzumessungsregeln andererseits können daher vielfach dieselbe Funktion haben: Bewertungskriterien abzugeben für unterschiedliche Verwirklichungsformen von (Unrechts- und Schuld-)Merkmalen des Grundtatbestandes12 •
Naucke hat den Zusammenhang zwischen Strafbarkeitsvoraussetzungen und Strafzumessungskriterien allgemein zutreffend dahingehend charakterisiert, daß die Systemmerkmale "Tatbestandsmäßigkeit, Dazu allgemein Arzt, BT, LH 1, S. 7 f. Bruns, S. 70. Vgl. auch Maiwald, Festschr. Gallas, S. 143, 147, 149; Dreher, Festschr. Bruns, S. 145. 10 Vgl. dazu Peters, Gutachten, S. 11 ff., 16, 26 f. u. ö., der von einem "Ver8
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tauschungsvorgang" zwischen Tatbestand und Rechtsfolgen spricht (S. 27). Ferner Schröder, Festschr. Metzger, S. 426 f.; Gutachten, S. 82 ff.; Maiwald, Festschr. Gallas, S. 148 ff. A. A. wohl Geerds, Festschr. Engisch, S. 427, der wohl davon ausgeht, daß es eine zwingende Zuordnung zum Tatbestand bzw. zu den Strafzumessungskriterien gibt. 11 Zur Rechtsnatur der Regelbeispiele vgl. Arzt, JuS 1972, 385 ff., 515 ff.; WesseIs, Festschr. Maurach, S. 295 ff.; Maiwald, Festschr. Gallas, S. 137 ff.; Calliess, JZ 1975, 112 ff. Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs.2 GG bei Maiwald, S. 151, 158 f.; Calliess, JZ 1975, 117. 12 So ist z. B. das "Einbrechen" in § 243 StGB alte wie neue Fassung ein Bewertungskriterium für die Strafwürdigkeit der Wegnahmehandlung, gleichgültig, ob man es als Qualifikationsmerkmal oder als Strafzumessungsregel ausgestaltet.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Rechtswidrigkeit, Schuld" nicht nur das Ob der Strafbarkeit betreffen, sondern als "Tatbestandsschwere, Rechtswidrigkeitsschwere, Schuld... schwere" auch die maßgeblichen Gesichtspunkte für die Strafzumessung abgebenls . "Alle im § 46 StGB genannten Grundsätze der Strafzumessung lassen sich diesen Begriffen der Tatbestandsschwere, Rechtswidrigkeitsschwere und Schuldschwere zuordnen14 ." In der Strafzumessung kommt es daher zu einer Binnenstrukturierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen nach ihrer Schwere. Die Auslegung der Strafrechtsnormen geschieht demnach nicht nur auf der Ebene der Strafbarkeitsvoraussetzungen, sondern mindestens ebenso sehr in der Strafzumessung. Je weiter der Strafrahmen, je mehr die Vorstellungen des .Gesetzgebers über die Bewertungen der einzelnen Verwirklichungsformen eines Delikts zurücktreten, je mehr also dem Richter zu eigener Bewertung überlassen bleibt, desto mehr ist ihm auch die Bestimmung der Kriminalpolitik überantwortet. Gerade bei den gegenwärtigen weiten Strafrahmen kann diese richterliche Bewertung nicht bloß als Individualisierung für den Einzelfall geschehen, sondern macht, schon aus Gleichheitsgründen, das Bilden von Fallgruppen und das Aufstellen von allgemeinen Regeln unterhalb des Gesetzes erforderlich. Damit sind dem Richter, indem er durch die Strafzumessung die Kriminalpolitik mitgestaltet, faktisch Rechtssetzungsbefugnisse übertragen15 • Wenn J escheck die Strafzumessung "neben der Beweiswürdigung und der Anwendung der Strafgesetze auf den festgestellten Sachverhalt (als) die selbständige dritte Funktion des Strafrichters, die den Höhepunkt seiner Spruchtätigkeit darstellt", bezeichnetl6 , dann kann man das gemäß dem gerade Ausgeführten aus einem doppelten Grund für zutreffend erachten: Nirgends wird wohl so sehr das gesamte richterliche Können für das Eingehen auf den Einzelfall gefordert17, ist der Richter dabei so sehr auf sich gestellt. Zugleich aber muß er zur Binnendifferenzierung von weiten Strafrahmen und unbenannten Strafänderungsgründen allgemeine Regeln aufstellen und damit gesetzgebungsgleiche Funktionen wahrnehmen.
Strafrecht, S. 307. a.a.O., S. 308. IG Vgl. dazu auch u. § 9,1. 18 AT, S. 698 unter Berufung auf Spendel. 17 Treffend Jeschecks Formulierung: "Denn nirgends so sehr wie hier kann man sagen, daß sich die Gerechtigkeit ganz dem Einzelfall zuwendet" (a.a.O., Fn. 5). 13 14
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung
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2. § 153 a -Inhaltsbestimmung der Vergehenstatbestände durdl Strafzumessung des Staatsanwaltes
Durch § 153 a gehen die dem Richter in der Strafzumessung übertragenen Aufgaben der Normkonkretisierung zu erheblichen Teilen auf den Staatsanwalt über. Es hat sich bereits gezeigt, daß die Kriterien, die das Gesetz für die Anwendbarkeit des § 153 a aufstellt, Strafzumessungskriterien sind. So sind mit dem "öffentlichen Interesse", das durch die Rechtsfolgen des § 153 a kompensiert werden soll, die allgemeinen Strafzwecke gemeint18 • Das Maß der Schuld, das mit dem Abstellen auf "geringe Schuld" angesprochen ist, ist gern. § 46 Abs. 1 StGB "Grundlage" der Strafzumessung. Indem § 153 a den Strafrahmen der Vergehen ersetzen kann, erweitert er diesen nach unten. Die Vorschrift hat damit faktisch die Funktion eines (unbenannten)19 allgemeinen Strafmilderungsgrundes20 • Zugleich ermöglicht sie ein Absehen von Kriminalstrafe und setzt an deren Stelle eine neue, nicht-kriminalstrafrechtliche Sanktionsart.. Diese ist verbunden mit der Begründung einer neuen Zuständigkeit: der des Staatsanwalts, und mit einem eigenen, wenn auch wenig formalisierten, Verfahren. Der Sache nach wird damit ein neues Rechtsgebiet im unteren Bereich des Strafrechts geschaffen21 • § 153 a ist demnach von einer merkwürdigen Ambivalenz: Einerseits gehört er von der Voraussetzungsseite her noch dem Kriminalstrafrecht an und wirkt auf dieses ein, andererseits führt er in einen neuen Rechtsbereich. Die Abtrennung vom Kriminalstrafrecht wird also nicht wirklich vollzogen. Daraus ergibt sich die Problematik der Vorschrift, aber auch, daß diese Problematik so schwer faßbar ist. Das bedeutet zunächst, daß die in der Strafzumessung vorzunehmende Binnenstrukturierung der Strafrechtsnormen, wie sie gerade beschrieben wurde, für den unteren und mittleren Bereich der Vergehensverwirklichungen jetzt durch den Staatsanwalt erfolgt oder zumindest erfolgen kann und daß er innerhalb des Anwendungsbereichs des § 153 a damit auch die dem Richter durch die Strafzumessung übertragenen kriminalpolitischen Funktionen übernimmt. Die Differenzierungen, die das frühere Recht wenigstens für einige Bereiche durch Übertretungs- und Privilegierungstatbestände selbst vornahm und die ansonsten dem Richter anvertraut waren, leistet jetzt der Staatsanwalt, indem er die Kriterien für die Anwendung des § 153 a festlegt22 • Vgl. o. S. 110. Man kann in der Kompensation des öffentlichen Interesses und in der geringen Schuld schlecht eine Benennung sehen, weil dies ja die Kriterien sind, an denen jede Strafmilderung sich auszurichten hat. 20 Vgl. auch o. S. 112. 21 Vgl. Naucke, Gutachten, D 29. 18
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Das hat zugleich auch Einfluß auf die Bewertung der schwerwiegenden Fälle durch den Richter. Dem Richter werden überhaupt nur noch die Fälle zur Beurteilung vorgelegt, für die die Sanktionskompetenz des Staatsanwalts nicht genügt. Der Richter hat daher nur noch einen Ausschnitt und nicht mehr das ganze Spektrum der Vergehensverwirklichungen als Basis für seine Einordnung des Einzelfalles in eine Schwereskala zur Verfügung. Das führt notwendig zu einer Einengung und Verschiebung der Maßstäbe. Es gibt also zwei unterschiedliche Sanktions- und d. h. auch: Bewertungsinstanzen für ein Kontinuum von Verhaltensweisen, wobei die Abgrenzung der Zuständigkeiten ungenau und fließend ist, da sie im weit gefaßten Ermessen einer dieser Instanzen steht. Damit ist die innere Differenzierung der Vergehenstatbestände großen Spannungen ausgesetzt; Diskrepanzen bei der für die Sanktionierung erforderlichen Bewertung innerhalb dieses ganzen Bereichs sind die unausweichliche Folge; es droht ein Auseinanderfallen in zwei nach unterschiedlichen Maßstäben sich entwickelnde Gebiete. Über diesen Akt der Strafzumessung nach § 153 a legt der Staatsanwalt aber auch die Grenzen des strafbaren Kriminalunrechts fest. Denn, indem er entscheidet, ob ein Absehen von Kriminalstrafe und deren Ersatz durch die Sanktionen des § 153 a erfolgen soll, bestimmt er den Anwendungsbereich der Vergehenstatbestände als Voraussetzung für die Rechtsfolge Kriminalstrafe, legt also fest, wo das Kriminalunrecht beginnt. Nicht mehr das Vorliegen der Merkmale eines Tatbestandes und der übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen unterstellt jetzt im Vergehensbereich eine Verhaltensweise dem Kriminalstrafrecht, sondern erst ein zusätzlicher staatsanwaltschaftlicher Bewertungsakt. Die Grenzen dessen, was unter einen Vergehenstatbestand als (kriminal-)strafbare Handlung fällt, werden also nicht mehr (nur) durch die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen im Sinne ihres Vorliegens oder Nichtvorliegens ermittelt, sondern ergeben sich erst aus einer in der Weise der Strafzumessung vorzunehmenden Gewichtung der jeweiligen Tatbestandsverwirklichungen. An die Stelle von Gesetzgebung und Rechtsprechung tritt das Ermessen des Staatsanwalts im Einzelfall oder die generelle Regelung der Landesjustizverwaltungen bzw. Generalstaatsanwälte durch Richtlinien. An der Zwitterhaftigkeit des § 153 a, die sich auch schon in anderem Zusammenhang gezeigt hat (prozessuale Lösung oder nicht?), liegt also der kaum zu überschätzende Einfluß des Staatsanwalts auf die Konkretisierung des Vergehensbereichs. Einerseits verbleibt die Vorschrift von den Voraussetzungen her im Kriminalstrafrecht. Das ermöglicht, daß !! Zu der Frage, inwieweit dies für § 153 ebenfalls zutrifft, vgl. u. §§ 9, 2. u. 13,2.
§ 7. Strafzumessung als Normkonkretisierung
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der Staatsanwalt am richterlichen Aufgabenbereich teilhat und ihn mitgestaltet. Andererseits eröffnet sie ein neues Rechtsgebiet und überläßt dadurch, daß es in das Ermessen des Staatsanwalts gestellt ist, was diesem Rechtsgebiet unterfallen soll, dem Staatsanwalt auch, den Umfang des Kriminalstrafrechts im Vergehensbereich festzulegen23 • Damit weist der Staatsanwalt und nicht das Gesetz dem Richter die Aufgaben zu.
Dabei muß man sich stets vor Augen halten: Die durch § 153 a erweiterten Befugnisse der Staatsanwaltschaft sind auch eine Erweiterung der Befugnisse der Landesjustizverwaltungen, die durch ihr Weisungsrecht, insbesondere in Form von Richtlinien, den Entscheidungsspielraum des einzelnen Staatsanwalts weitgehend auf sich übertragen können. In welchem Ausmaß sich damit den Landesjustizverwaltungen und den Generalstaatsanwälten die Möglichkeit eröffnet, durch ihre Richtlinienkompetenz selbständig Kriminalpolitik zu betreiben und eine Art eigener Rechtssetzung vorzunehmen, und wie weit davon schon Gebrauch gemacht wird, wird noch zu zeigen sein24 • Damit zeichnet sich aber ein Verstoß gegen mehrere Verfassungsbestimmungen ab: (1) Verletzt sein könnte einmal Art. 92 GG. Es fragt sich nämlich, ob damit, daß Art. 92 GG die Rechtsprechung den Richtern anvertraut, für das Strafrecht nur gemeint ist, daß Sanktionen von einem gewissen Schweregrad allein vom Richter verhängt werden dürfen. Oder ist damit nicht auch gesagt, daß die Handhabung und Konkretisierung der Normen insgesamt, die solche Sanktionen auslösen können, bei den Gerichten bleiben müssen, daß diesen also (mit Ausnahme der Fälle des § 153) die Kontrolle über alle Verhaltensweisen vorbehalten ist, die den Tatbestand strafrechtlicher Normen erfüllen. Zu prüfen ist daher, ob sich die Garantien des Art. 92 GG in der Schutzfunktion für den einzelnen, der von einer Sanktion betroffen ist, erschöpfen, oder ob Art. 92 GG nicht eine Verantwortlichkeit des Richters für das Ganze der Strafrechtsnormen, für die Strafrechtsordnung insgesamt statuiert, die zur Folge hat, daß die Auslegung der Strafrechtsnormen ausschließ23 Ähnliches gab es bisher nur bei den sogenannten "echten Mischtatbeständen", bei denen die für die Entscheidung zuständige Stelle im Einzelfall zu entscheiden hat, ob eine Tat - je nach Intensität der Begehungsweise - als Straftat oder als Ordnungswidrigkeit zu qualifizieren ist. Solche echten Mischtatbestände sind inzwischen jedoch entweder gänzlich abgeschafft oder weitgehend eingeschränkt, weil gegen sie verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsbestimmtheit und der Gewaltentrennung bestehen. Vgl. dazu EOWiG, BT-Drucks. V/1269, S. 27; Göhler, OWiG, Vor § 1 Anm. 5 A a; Raisch, ZHR 1966, 173 f.; Dähn, JZ 1975, 617 f. Bedenken auch gegen die Neufassung der §§ 1, 2 WiStG bei Dähn, a.a.O. U Dazu u. § 11.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
lich in seiner Hand bleiben muß. Diese Frage stellt sich schon deshalb, weil nicht von der Hand zu weisen ist, daß die Schutzfunktion überhaupt nur sinnvoll wahrgenommen werden kann, wenn sie sich mit der Verantwortung für das Ganze der Strafrechtsnormen verbindet. Es geht also darum, ob durch § 153 a, auch wenn der Rechtsschutz des einzelnen zunächst nicht eingeschränkt zu sein scheint, weil bei schwerwiegenden Sanktionen ja immer der Richter entscheiden muß, die übergreüende institutionelle Funktion der Rechtsprechung als Ganzes, ihr Verantwortungsbereich im System der Gewaltenteilung, ausgehöhlt wird. (2) Die Gewaltenteilung ist aber auch auf eine unmittelbarere Weise betroffen. Es hat sich gezeigt und wird noch eingehender darzustellen sein, daß der Gesetzgeber faktisch kriminalpolitische Aufgaben und Rechtssetzungsfunktionen auf den Richter delegiert hat, Funktionen also, die nach dem in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Gewaltenteilungsgrundsatz zunächst einmal beim Gesetzgeber selbst liegen. Mit § 153 a sind solche Befugnisse nunmehr in erheblichem Maße auch auf den Staatsanwalt übertragen worden. Es ist daher zu fragen, ob die Weitergabe dieser Befugnisse im Bereich des Strafrechts, wenn sie überhaupt zulässig ist, auf die Rechtsprechung beschränkt bleiben muß oder ob auch eine Delegation auf den Staatsanwalt erfolgen darf, ob es dem Gesetzgeber also freisteht, an wen er solche Delegationen vornimmt. (3) Indem dem Staatsanwalt für einen Teilbereich die Bestimmung des Inhalts der Strafrechtsnormen und der Grenzen des Kriminalstrafrechts gegenüber solchen Handlungen, die zwar unter Straftatbestände fallen, aber nur mit den Reaktionen des § 153 a belegt werden, überlassen bleibt, könnte schließlich auch Art. 103 Abs. 2 GG verletzt sein. Diese Fragestellungen sind eng miteinander verschränkt. Ausgangspunkt für ihre Beantwortung ist die Klärung des Verhältnisses von Richter und Gesetz bzw. von Richter und Gesetzgeber. Bevor auf die Besonderheiten eingegangen werden kann, die hier für das Strafrecht gelten, soll dieser Problemkreis erst einmal allgemein umrissen werden. § 8. Das Verhältnis von Richter und Gesetz Für Aufklärung und Liberalismus ist das allgemeine Gesetz der eigentliche Garant der bürgerlichen Freiheit. Rechtsanwendung soll sich daher nur in strikter Bindung an das Gesetz vollziehen. Dies soll einmal durch die sachliche und persönliche Unabhängigkeit des Richters gewährleistet werden, zum andern durch strenge methodische Vorgaben für die richterliche Urteilsfindung, durch die jede eigene richterliche
§ 8. Das Verhältnis von Richter und Gesetz
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Wertentscheidungausgeschlossen werden soll. Die Rechtsanwendung soll sich danach auf die Durchführung einer formal-logischen Operation, der Subsumtion eines Sachverhalts unter ein Gesetz, beschränken1 . Für das Strafrecht, das die schwersten Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers zuläßt, hat der Gedanke der Gesetzesbindung als Schutz vor willkürlichen Maßnahmen noch eine zusätzliche, besonders nachdrückliche Ausprägung in dem Bestimmtheitsgrundsatz (nullum crimen, nulla poena sine lege) erfahren!. 1. Die Ergebnisse der Methodendiskussion
Wir wissen heute, daß der Richter mehr ist als "la bouche dela loi", daß sich Rechtsanwendung nicht in einem einfachen Subsumtionsakt erschöpfen kann. Die Methodendiskussion etwa seit Beginn dieses J ahrhunderts, die als Reaktion auf die Begrüfsjurisprudenz einsetzte, beginnend mit der Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz bis hin zur heutigen Topik- und Vorverständnisdiskussion3, hat gezeigt, daß dem Richter notwendig ein Interpretationsspielraum verbleibt, den er mit eigenen' Wertungen füllen muß, oder in einer anderen Terminologie gesprochen, daß· Rechtsanwendung niemals nur ein reiner Erkenntnis-, sondern immer auch ein "volitiver Akt" istli• Die Gründe dafür, daß eine strikte Bindung des Richters an das Gesetz nur beschränkt möglich ist, liegen zunächst einmal in der Natur des Auslegungsvorganges selbst. Zu nennen sind hier vor allem die zwangsläufige Unbestimmtheit, die mit jeder abstrakt-generellen Regelung gegeben ist, und zwar auch dort, wo es sich nicht um normative 1 Dazu ausführlich insbesondere für das Strafrecht Küper, Richteridee, S. 34 ff. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Menger, Moderner Staat, S. 14 f.; Rinken, Einführung,S. 154 f.; Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 68 f.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 6. 2 Zur Entwicklung dieses Grundsatzes vgl. Schreiber, Gesetz und Richter; 8 Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der juristischen Methodenlehre seit Savigny findet sich bei Larenz, Methodenlehre, S. 11 ff. Eine knappe, pointierte, bisweilen einseitig polemische, aber eindrucksvoll souveräne Zusammenfassung, in der vor allem die Aporien juristischer Methodenlehre deutlich werden, gibt Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 68 ff.; dort auch ein instruktiver ,;bibliographischer Kommentar". Ein guter überblick auch bei Schwerdtner, Rechtstheorie 2 (1971), S. 67 ff. und Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 55 ff. 4 Eigene Wertung heißt allerdings nicht: privatsubjektive, sondern der Richter ist dabei an durch die Rechtsordnung vorgegebene oder auch an allgemeine gesellschaftlichen Wertungen gebunden. Zu dieser Bindung vgl. etwa Böcken!örde, Richterwahl, S. 94 f. (dort allerdings bezogen auf die Fragen der richterlichen Rechtsfortbildung). 5 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 6; zu den Wertentscheidungen im Strafrecht ausführlich Küper, Richteridee, S. 3 ff. und neuerdings Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 67 ff.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Begriffe oder Generalklauseln handelte, das Lückenproblem 7 , die Verschränkung von Sachverhaltsfeststellung und Normauslegung 8 , die Notwendigkeit eines nie vollkommen aufklärbaren Vorverständnisses, um überhaupt zum Normverstehen zu gelangenD, und schließlich das Scheitern aller Versuche, einen verbindlichen Auslegungsmethodenkanon oder auch nur eine verbindliche Rangfolge innerhalb der herkömmlichen Auslegungsmethoden zu erarbeiten!o. Ziel der auf diese Argumente gestützten Kritik am Subsumtionsschema ist nicht die gänzliche Aufhebung der Gesetzesbindung, sondern es geht darum, bewußt zu machen, welche Wertungen in jeder Gesetzesanwendung notwendig enthalten sind und immer schon vollzogen werden, so daß der Richter sich seiner Verantwortung, indem er von ihr weiß, auch stellen kannl l . 2. Der Rückzug des Gesetzgebers
Eine wohl noch entscheidendere Rolle bei der Auflockerung der Gesetzesbindung spielt aber der Gesetzgeber selbst, und zwar als Folge eines offenbar unaufhaltsamen Funktionswandels des Gesetzes, genauer des Verhältnisses von Richter und Gesetzgeber. Das Dogma von der bloß logisch-schematischen Ableitung einer Entscheidung aus dem Gesetz war eng verknüpft mit dem KodifikationsG Vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 108 ff.; Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 29 ff., wonach die Anwendung eines Gesetzes auf einen Sachverhalt im Bereich der natürlichen Sprache immer den Charakter einer Analogie hat, da eine exakte formale Gleichheit für natürliche Sprachen nicht zu erreichen ist; vgl. ferner Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 45 ff. m. ausführlichen Nachw. Zu den Spielräumen gesetzlicher Begriffe aus sprachanalytischer Sicht vgl. Koch, Juristische Methode, S. 29 ff. 7 Vgl. dazu statt aller Engisch, Einführung, S. 134 ff. m. ausführlichen Nachw. 8 Dazu Engisch, Einführung, Anm. 54 m. ausführlichen Nachw., der wohl als erster das Problem mit seiner viel zitierten Formel vom "Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Obersatz und Normsachverhalt aufgegriffen hat; Esser, Vorverständnis, S. 79 f.; Arthur Kaufmann, Festschr. Peters, S. 303 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 264 ff.; Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 75 ff. g Dazu, daß unsere Vorurteile als Bedingungen unseres Verstehens nie durch Reflexion völlig einholbar und damit nie völlig durchschaubar sind, grundlegend Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 261, 343 u. Ö. Nachweise über die juristische Rezeption der neueren philosophischen Hermeneutik bei Kaufmann, JZ 1975, 339 ff.; Rinken, Einführung, S. 224 f.; Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 75 ff., 95. 10 Dazu Engisch, Einführung, S. 82 f.; ferner Anm. 82 C, d m. w. Nachw.; Esser, Vorverständnis, S. 124 ff.; Hassemer, Rechtsphilosophie, S. 84 f. 11 Ähnlich Hassemer, S. 88. Dazu, daß die Gerichte immer noch dazu neigen, eigene Wertentscheidungen als das Ergebnis logisch zwingender Ableitungen darzustellen, vgl. Schmidhäuser, Festschr. Henkel, S. 229 ff.
§ 8. Das Verhältnis von Richter und Gesetz
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ideal: eine umfassende und abschließende Regelung sollte die Spielräume richterlicher Interpretation auf ein Minimum reduzieren12 . Dies mag für den Beginn des bürgerlichen Zeitalters mit einer homogenen und übersichtlichen bürgerlichen Gesellschaft sogar mehr als eine Utopie gewesen sein13 , der Dynamik des mit dem Industriezeitalter immer rascher einsetzenden wirtschaftlichen, technischen und sozialen Wandels konnte es nicht lange standhalten. Dieser Wandel führte und führt zu schneller "sozialer Alterung"14 der Kodifikationen und verlangt ständig neue Regelungen, die ihrerseits ebenso von Veraltung bedroht sind. Die Normen bleiben anwendbar überhaupt nur dadurch, daß der Richter sie mit neuen, zeitgemäßen Wertungen an die gewandelten Verhältnisse anpaßt. Trotz einer oft beklagten Gesetzesflut kann der Gesetzgeber den Regelungsbedürfnissen einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht mehr nachkommen und hat daher faktisch Teile seiner Rechtssetzungsbefugnisse an die Rechtsprechung abgegeben, der allein die erforderlichen Anpassungen an sich von Mal zu Mal verändernde Situationen noch zu gelingen scheinen. Dies einmal, weil es fraglich ist, "ob die aus dieser Entwicklung hervorgehenden und sich immer wieder ändernden fein gegliederten Zusammenhänge und Gebilde überhaupt noch legislatorisch fixiert werden können"15. Hinzu kommt, "daß die Ordnungsaufgabe einer alle möglichen Konflikte und Probleme frühzeitig erkennenden und ebenso lückenlos wie rechtzeitig lösenden Gesetzgebung im wachsenden Maße von den aktuellen Erhaltungs- und Befriedigungsbedürfnissen einer krisenanfälligen Industriegesellschaft verdrängt worden ist und weiterhin verdrängt werden wird", so daß die Rechtsprechung "sich der Regelung solcher Sachprobleme annimmt, die die parlamentarische Aktualitäts- und Relevanzschwelle nicht erreichen"18. Dieser Rückzug des Gesetzgebers schlägt sich zunächst einmal nieder in einer veränderten Gesetzestechnik, durch die dem Richter in vielen Fällen bewußt ein weiter Spielraum zur Ausgestaltung überlassen wird. So verwendet die Gesetzgebung der letzten 50 Jahre zunehmend Generalklauseln, unbestimmte und normative oder "wertausfüllungsbedürftige" Begriffe oder stellt die Rechtsfolgen in ein mehr oder minder umgrenztes Ermessen des Rechtsanwenders17 • Öfter überläßt der Kühler, DRiZ 1969, 380; Wieacker, Gesetz und Richter, S. 6. So stellt es jedenfalls Kübler (DRiZ 1969, 381) dar. 14 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 3. IS Kübler, DRiZ 1969, 382 f. 18 Kübler, DRiZ 1969, 383. 17 Zur Unterscheidung von Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen, normativen Begriffen und Ermessen und dazu, daß sich ein Rechts12
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Gesetzgeber ein Feld auch erst einmal gänzlich der Rechtsprechung und normiert später lediglich deren Ergebnisse. Ecker hat einen ganzen Katalog von Vorgehensweisen, in denen sich die Tendenz des Gesetzgebers ausdrückt, Rechtsetzung ganz oder teilweise auf den Richter zu delegieren, zusammengestellt, der wegen seiner Prägnanz hier wiedergegeben werden S01l18:
Der Gesetzgeber "unterläßt Kodifizierungen, begnügt sich mit der Aufstellung einer Generalklausel und läßt damit ein Stück seiner Aufgabe ungetan oder verzichtet auf Einzelregelungen, bahnt Entwicklungen lediglich an, setzt Tatbestände mit Entwicklungsfunktion, enthält sich wegen der Vielgestaltigkeit des Lebens einer scharfen Begriffsabgrenzung, gibt anstelle einer Definition oder neben ihr (bewußt unvollständig) Beispiele, ordnet neben einer kasuistischen Bestimmung bloß die "entsprechende Anwendung" an, knüpft an eine vorgefundene Rechtsprechung an, führt die notwendige Korrektur von Veraltetem fort, greift eine Normgewinnung erst nach Erreichen eines gewissen Reifegrades auf. Das Herausarbeiten von Grundsätzen und Richtlinien sowie Konkretisierung und Eingrenzung werden als legitime Aufgaben der Revisionsgerichte angesehen". Man hat diese "Flucht in die Generalklauseln" häufig als Versagen des Gesetzgebers gekennzeichnet19 • Man wird aber, wenn die dargestellten Gründe für diese Entwicklung zutreffen und die Gesetzgebung weder die Differenzierungs- noch die Anpassungsleistungen der Rechtsprechung erbringen kann, mit einem solchen Urteil etwas vorsichtiger sein müssen und zu unterscheiden haben zwischen Bereichen, in denen dies eine angemessene Reaktion auf eine für den Gesetzgeber (noch?) nicht faßbare Regelungsmaterie ist, und anderen, in denen eine eingehende gesetzliche Regelung möglich und sinnvoll wäre, der Gesetzgeber aber den für ihn bequemeren Weg über unbestimmte Vorschriften eingeschlagen hat20 • Rechtsprechung ist demnach immer zugleich ein "rechtschöpferischer Akt" des Richters, ein "Stück punktueller Rechtsfortbildung"21, und dies nicht nur für den Einzelfall, sondern im Zuge der Konkretisierung von begriff oft unter mehrere dieser Kategorien subsumieren läßt, vgl. Engisch, Einführung, S. 108 ff. und Lenckner, JuS 1968, 250 f. 18 JZ 1969, 479 Fn. 27. Die im Original jeweils angeführten Belege und Beispiele wurden ausgelassen. 11 Vgl. die Nachw. bei KübZer, JZ 1969, 650 und bei Baur, JZ 1957, 195. 20 Für eine differenzierende Betrachtungsweise KübZer, a.a.O.; Baur, a.a.O. Für das Strafrecht vgl. Lenckner, JuS 1968, 253 ff., wo eine vorsichtige Rechtfertigung der unbestimmten und wertausfüllungsbedürftigen Begriffe im Strafrecht unternommen wird. 21 So die prägnante Formulierung von Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 7. Ebenfalls auf diesen Sachverhalt stellt ab der bezeichnende Titel der Abhandlung von Ecker: "Das Recht wird mit und in der Auslegung", JZ 1969, 477. Vgl. auch Esser, Vorverständnis, S. 194 u. ö.; Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 97 ff.; Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, S. 460.
§ 8. Das Verhältnis von Richter und Gesetz
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Normen auch auf allgemeinen Ebenen unterhalb des Abstraktionsgrades der Normen. Wieacker spricht von einem "Zwischenbereich" zwischen Norm und Urteil, der ausgefüllt wird von richterlichen Grundsätzen, richterlichen Kunstregeln und "von der Kasuistik, die den Aktualisierungsprozeß steuert, und deren Gruppenbildung zu orientierenden Nestern von Leitentscheidungen"22; Kübler davon, daß "das vergleichsweise undifferenzierte Gefüge der kodifizierten Bestimmungen hinter einem sich verfeinernden Gespinst judizieller und doktrinärer Regelbildung mehr und mehr verschwindet"23. Das Gesetz erscheint also meist als zu generelle Regelung 24, die erst durch die richterliche Rechtsanwendung in eine Reihe von Regeln geringerer Allgemeinheit aufgefächert und damit handhabbar gemacht werden muß. Dies gilt besonders dort, wo der Gesetzgeber durch die Schaffung von offenen, unbestimmten Normen dem Richter bewußt deren Ausgestaltung übertragen hat. In diesem Zusammenhang gewinnt die Aufgabe der Revisionsgerichte, die Rechtseinheit zu wahren, nachdem diese nicht schon durch eine vollständige Kodifikation gewissermaßen von selbst gegeben ist, eine erhöhte Bedeutung25 • "Richterspruch und Gesetzesrecht zusammen machen ,das geltende Recht' aus26 ." Versuchen wir ein Fazit: Schon die Bedeutung der richterlichen Einzelfallentscheidung wird als bloß subsumierende Gesetzesanwendung nicht zutreffend erfaßt. Schon sie rückt dadurch, daß dem Richter Wertentscheidungen abverlangt werden und er gesetzliche Freiräume ausfüllen muß, in die Nähe (rechts-)politischer Gestaltung. Dies gilt erst recht dort, wo moderne Gesetze dem Rechtsanwender häufig nur noch eine Art Generallinie angeben und dadurch die Rechtsprechung zum Aufstellen von allgemeinen Regeln, d. h. zur Rechtsetzung zwingen. Will man das auf eine Formel bringen, so könnte sie vielleicht lauten: Rechtsprechung ist nicht bloß die Anwendung, sondern zugleich die Ausgestaltung von Normen27 . Hesse hat diese Nähe zur Gesetzgebung so beschrieben: Rechtsprechung "dient ausschließlich der Wahrung und mit dieser der Konkretisierung und Fortbildung des Rechts. In der Erfüllung dieser Aufgaben entfaltet Rechtsprechung ordnende, JZ 1957, 702. JZ 1969, 648. 24 So schreibt Kübler, a.a.O.: "Bezeichnend ist vielmehr, daß das Gesetz von Judikator und Literatur typischerweise nicht deshalb überspielt wird, weil es als generell falsche, sondern weil es als zu generelle Regelung erscheint, die den immer feineren Nuancen einer sich beständig weiter ausdifferenzierenden Sozialordnung nicht mehr gerecht zu werden vermag." 25 Hanack, Ausgleich divergierender Entscheidungen, S. 55 ff. 28 Hanack, S. 58. 27 Vgl. Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, S. 8, und die übersicht bei Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 116 ff. 22
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
rationalisierende und stabilisierende Wirkung. Sie hat daher vieles mit der Gesetzgebung gemein"!8. 3. Verfassungsrechtliche Probleme aus der verlnderten Stellung der Rechtsprechung
Zweifellos' ist mit der skizzierten Entwicklung ein beträchtlicher Machtzuwachs der Rechtsprechung verbunden. Auch wenn man der Rede vom "Versagen des Gesetzgebers" nicht folgen will, so wirft doch zumindest die Verlagerung gesetzgeberischer Funktionen auf den Richter verfassungsrechtliche Probleme auf. Sie scheint die Gesetzesbindung des Richters in Frage zu stellen und damit zugleich die durch das parlamentarische Gesetz vermittelte demokratische Legitimation richterlicher Entscheidungen wie auch die klassische Form der Lehre von der Gewaltenteilung. Nun findet sich allerdings bei denjenigen, die nicht in den Chor von der "Krise der Gesetzgebung" einstimmen, sondern diese Entwicklung ausdrücklich gutheißen, kaum eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage der verfassungsrechtlichen Legitimation der Rechtsprechung für solche Rechtssetzungsaufgaben2v • Dem mag die Vorstellung zugrundeliegen, es genüge zu zeigen, daß diese Aufgabenverlagerung unvermeidlich sei, gewissermaßen von der Natur der Sache bestimmt werde, aber auch, daß, wenn der Gesetzgeber solche Befugnisse schon nicht selbst wahrnehmen könne, ihre Delegation auf die Rechtsprechung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten noch am wenigsten bedenklich sei. Wenn es zutrifft, daß diese Entwicklung nur teilweise der Unzulänglichkeit des jeweiligen Gesetzgebers anzulasten ist, wenn also die Gründe dafür, daß das Ideal der Gewaltenteilung nicht mehr in seiner reinen Form durchführbar ist (und vielleicht nie war), sowohl in der Dynamik moderner Industriegesellschaften zu suchen sind wie in der Methodik der Rechtsanwendung selbst, dann kann allerdings das Problem nur noch sein, wie möglichst viele der mit Gesetzesbindung und Gewaltenteilung angestrebten Effekte auch bei einer Delegation solcher beschränkten Normsetzungsbefugnisse erhalten bleiben. Unter einem Verfassungsrecht, S. 222. So deutet etwa Kübler nur an, daß "die politische Gestaltung durch den Richter nach politischer Legitimation (verlange), die im demokratischen Rechtsstaat nur vom Volk kommen" könne (DRiZ 1969, 383). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Problem der Legitimation richterlicher Rechtssetzung findet sich nur dort, wo man deren Grenzen festzulegen versucht. Vgl. etwa Ipsen, Richterrecht, S. 59 f. u. ö.; Mayer-Maly, DRiZ 1971, 325 ff.; H. P. Schneider, DOV 1975, 443 ff. Eine Rolle spielt hierbei wohl, ob man von einer methodologischen oder einer verfassungsrechtlichen Problemstellung ausgeht, vgl. Ipsen, S. 27 f. 28 29
§ 9. Unbestimmte Normen im Strafrecht und der Bestimmtheitsgrundsatz 149
solchen Blickwinkel spricht in der Tat vieles dafür, wie noch im einzelnen zu belegen sein wird30, daß die Rechtsprechung den sich daraus ergebenden Anforderungen an den Delegationsadressaten noch am ehesten gerecht wird. Von der Anerkennung eines derart erweiterten Aufgabenkreises der Rechtsprechung fiele auch ein neues Licht darauf, warum der Ausbau der Stellung der Rechtsprechung zu einer wirklich eigenständigen Dritten Gewalt, den erst das Grundgesetz vorgenommen hat, so dringlich war. Man wird sicherlich davon ausgehen können, daß der Grundgesetzgeber diese sich ja schon seit langem abzeichnende Verlagerung der Gewaltenteilung gesehen hat, und es liegt daher nahe anzunehmen, daß er der Rechtsprechung auch deshalb ihre verfassungsrechtlich so hervorgehobene Position eingeräumt hat. Man hätte dann darin den Versuch zu sehen, der gewachsenen und auch weiterhin zunehmenden Verantwortlichkeit der Rechtsprechung für das Ganze der Rechtsordnung eine entsprechende institutionelle Absicherung zu geben. Trifft das zu, dann fragt sich allerdings, wie weit es zulässig ist, solche Funktionen auch auf andere Organe als die Rechtsprechung zu übertragen. Dieser Problemkreis kann hier jedoch nicht allgemeinS1 , sondern nur für das Strafrecht erörtert werden. Eine solche Beschränkung ist schon deshalb erforderlich, weil sich für das Strafrecht Besonderheiten aus dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG ergeben können. § 9. Unbestimmte Normen im Strafrecllt und der Bestimmtheitsgrundsatz 1. Weite Strafrahmen als Folge unbestimmter Strafbarkeitsvoraussetznngen
Die Tendenz zum partiellen Rückzug des Gesetzgebers durch unbestimmt gehaltene Normen hat auch vor dem Strafrecht nicht halt gemacht. Kennzeichnend dafür sind zunächst emmal weite Strafrahmen. Weite Strafrahmen beruhen, darauf wurde schon hingewiesen, nicht allein auf dem Bestreben des Gesetzgebers, dem Richter eine bessere Individualisierung der Strafe zu ermöglichen, sondern sind oft auch eine Folge (zu) weit gefaßter Straftatbestände, d. h. die Kehrseite davon, daß derselbe Straftatbestand häufig sowohl schwerwiegende Vgl. u. § 10. Hier wäre vor allem zu fragen, inwieweit die Delegation vergleichbarer Rechtssetzungsbefugnisse durch unbestimmte Gesetze auf die Verwaltung Probleme aufwirft. Besonders deutlich wird dies bei Verwaltungsvorschriften, die zur Konkretisierung von unbestimmten Gesetzen erlassen werden. Vgl. dazu Rupp, JuS 1975, 609 ff., insbes. 616 und die Nachw. bei FreIlesen, NJW 1977, 2050. 30
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Verhaltensweisen wie Handlungen an der Grenze der Strafwürdigkeit erfaßt. Fragt man nach den Gründen für solche Tatbestandsfassungen, so läßt sich keine einheitliche Antwort geben. Vielmehr konvergieren hier verschiedene Tendenzen der Strafgesetzgebung. Am Beginn dieser Entwicklung steht das StGB von 1871, das aus systematisch-dogmatischen Gründen alle Differenzierungen, die das ältere partikulare Recht für Bagetelldelikte in Form von Privilegierungen, Sondertatbeständen und der Unterscheidung von verschiedenen Klassen von Kleinkriminalität kannte, einebnete, indem es von der bis dahin vorherrschenden Kasuistik zu abstrakten Regelungen überging1 . Hinzu kommt eine extensive Interpretation der Tatbestände durch Wissenschaft und Rechtsprechung, um vermeintliche oder wirkliche Strafbarkeitslücken zu schließen2 • Weiterhin erfolgt in einigen Bereichen eine Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Tatbestände, die Handlungen im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung bereits miterfassen3 • Daneben die beschriebene Ausweitung des Strafrechts als "Nebenstrafrecht"4 in Gebiete, in denen, weil sie ethisch farbloser sind als das Kernstrafrecht, die Konturen zwischen Recht und Unrecht leicht verschwimmen können, die also besonderer Präzisierung bedürftig wären; dem steht entgegen, daß die Verletzungsmöglichkeiten der gerade durch das Nebenstrafrecht geschützten "kollektiven" Rechtsgüter so vielfältig sind und sich ständig wandeln, daß nur generalklauselartige Regelungen dem gerecht zu werden scheinen5 • Auch im Kernstrafrecht sind Generalklauseln und normative Begriffe im Vordringen6 • bas vorläufig letzte Stadium dieser Entwicklung ist die formale Aufwertung der Vermögensdelikte mit Bagatellcharakter, nämlich die Umwandlung des Mundraubs in ein Vergehen und der Wegfall der Privilegierungen im Bereich der Vermögensdelikte einerseits und als Ausgleich die Erweiterung der Vergehensstrafrahmen nach unten durch die nichtkriminalstrafrechtlichen Sanktionen des § 153 a andererseits. Die vom Gesetzgeber unterlassenen Differenzierungen und Wertungen auf der Seite der Strafbarkeitsvoraussetzungen müssen dann an 1 Meyer / Goldau, Geringe Schuld, S. 18 ff.; Naucke, Gutachten, D 21 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 49; vgl. auch o. § 5,1. 2 Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 19. 3 Baumann, Festschr. Peters, S. 6. Allgemein zur Tendenz der Gesetzgebung in diese Richtung Arzt, Ruf, S. 92, 162 mit Beispielen, wie durch For-
mulierungen des materiellen Rechts sogenannte "Auffangtatbestände" mit den Wirkungen einer Verdachtsstrafe geschaffen werden. 4 Vgl. o. § 5, 1. 5 Eine Auflistung der Generalklauseln im Nebenstrafrecht findet sich bei Petzold, Generalklauseln im Nebenstrafrecht. Zu den Gründen für diese Entwicklung vgl. Backes, Strafrecht als Sozialwissenschaft, S. 174 ff. • Vgl. dazu Naucke, Generalklauseln; Lenckner, JuS 1968, 249 ff., 304 ff.
§ 9. Unbestimmte Normen im Strafrecht und der Bestimmtheitsgrundsatz 151
anderer Stelle und von anderen Organen nachgeholt werden. Diesen Ausgleich leistete bisher die Rechtsprechung in der Strafzumessung 7 • Dabei geht es nicht nur um die Konkretisierung der Strafrahmen, der benannten und unbenannten Strafänderungsgründe und der allgemeinen Regeln der Strafzumessung. Da diese ja nur ein Spiegelbild der (zu) weit gefaßten Straftatbestände sind, bedeutet die Strafzumessung immer zugleich eine Konkretisierung der Straftatbestände selbst8 • Damit muß der Strafrichter die Arbeit leisten, die der Gesetzgeber nicht getan hat, ein Zustand, den Maurach so beschreibt9 : "So bedenklich absolut bestimmte Strafdrohungen sind, so wenig befriedigend ist auf der anderen Seite aber auch eine vom Gesetz verfügte- Abwälzung des weitaus größten Teils der gemeinsam zu tragenden Verantwortung für die gerechte Strafe allein auf den Richter. Es ist nicht zu verkennen, daß gerade die neuere Legislative eine gewisse Verantwortungsscheu des Gesetzgebers offenbart und dazu neigt, den Richter über menschliches Vermögen hinaus zu belasten. Hierher gehört die neuerdings zunehmend praktizierte Zurverfügungstellung letztlich unverbindlicher "Regelbeispiele" besonders schwerer Fälle ... , aber auch die Auflockerung der ordentlichen Strafrahmen durch die zahlreichen unbenannten Schärfungsund Milderungsgründe." Auch Bruns lO spricht davon, daß die "Auslegung" der "Fall-Differenzierungen" - d. h. der Abstufungen vom minder schweren bis zum besonders schweren Fall dem Richter "gesetzgeberische Aufgaben zumutet". Naucke schließlich konstatiert ganz allgemeinu : "Das Maß, in dem die Entscheidungszuständigkeiten der Strafgesetzgebung an die Strafrechtsanwendung abgegeben werden, ist in den letzten .Jahren vor allem durch die Strafrechtsreformgesetze ständig größer geworden." Wie die Rechtsprechung diese Aufgabe über die Strafzumessung bewältigt, ist bereits dargelegt worden1!. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß der oben zunächst nur allgemein beschriebene Vorgang einer Delegation gesetzgeberischer Befugnisse auf den Richter durch unbestimmte Normen im Strafrecht nicht allein lind vielleicht noch nicht einmal in erster Linie über unbestimmte Rechtsbegriffe usw. auf der Seite der Strafbarkeitsvoraussetzungen geschieht, sondern ebensosehr durch weite Strafrahmen, über die dann die Ausdifferenzierung extrem weit geratener Strafbarkeitsvoraussetzungen erfolgt. 7 Vgl. o. § 7, 1. a). Damit soll natürlich nicht bestritten werden, daß die Rechtsprechung auch schon bei der Auslegung unbestimmter Tatbestandsmerkmale eine ähnliche Arbeit zu leisten hat. 8 Vgl. o. § 7, 1. b). 8 Maurach, AT, S. 828. 10 Strafzumessungsrecht, S. 103. 11 Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, S. 51. 12 Vgl. o. § 7, 1.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe 2. § 153 a - eine neue Qualität von Unbestimmtheit
In § 153 a erreicht die Unbestimmtheit strafrechtlicher Normen einen neuen Höhepunkt. Wie wir gesehen haben, wird durch § 153 a in gewisser Weise ein neues Rechtsgebiet im unteren Bereich des Strafrechts begründet. Indem der Staatsanwalt im Einzelfall festlegt, ob eine Vergehensverwirklichung unter § 153 a und damit in dieses Rechtsgebiet fällt oder dem Kriminalstrafrecht zuzuordnen ist, ist die Bestimmung der Grenzen des Kriminalstrafrechts in sein Ermessen gestellt. Damit verschwimmen die Grenzen der Vergehenstatbestände und des Kriminalstrafrechts überhaupt ebenso wie die dieses neuen Rechtsgebietes. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. § 153 a stellt nämlich nicht nur eine gewissermaßen lineare Erweiterung bisheriger Trends dar, sondern führt in eine neue Dimension der Aufteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender. Während der Gesetzgeber bislang die aus der Anwendung unbestimmter Strafrechtsvorschriften resultierenden quasilegislatorischen Kompetenzen allein der Rechtsprechung anvertraut hatte, sind die mit § 153 a verbundenen entsprechenden Befugnisse nunmehr in erster Linie dem Staatsanwalt übertragen. Zwar hat auch bisher schon der Staatsanwalt Grenzfälle von zwar tatbestandsmäßigem, materiell aber nicht strafwürdigem Verhalten gern. § 153 auf "prozessualem Weg" ausgeschieden. Auch dagegen sind bisher schon Bedenken angemeldet worden. So schreibt Robert v. HippeZ 1941 in einer Kritik am Opportunitätsprinzip 13: "Für den Gesetzgeber ferner entsteht die Versuchung mangelhafter Durchdenkung und Fassung der Strafgesetze im Vertrauen darauf, daß die Staatsanwaltschaft nach Bedarf einschränken könne." Und Baumann, der dies zustimmend zitiert, fährt fort, allerdings schon mit einem Seitenblick auf § 153 a 14 : "Man will als Aufgabe an die Staatsanwaltschaft weiterschieben, was Aufgabe des Gesetzgebers des materiellen Rechts wäre." Aber § 153 umfaßt nur einen zwar zahlenmäßig nicht geringen, aber doch einigermaßen eingrenzbaren Randbereich. Die Sachverhalte, die trotz des Vorliegens der formellen Strafbarkeitsvoraussetzungen eigentlich nicht mehr strafwürdig sind, bei denen also keiner der anerkannten Strafzwecke eine Ahndung zwingend erforderlich macht16 , können immer nur Grenzfälle sein. Das in § 153 gewährte Ermessen Strafprozeß, S. 338. ZRP 1972, 275. Vgl. auch Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 215; Weigend, Anklagepflicht, S. 50 ff.; Driendl, ÖJZ, 1979, 344. 15 Vgl. o. Fn. 29 zu § 6. 18
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wird durch diese Kriterien in ausreichendem Maße eingeschränkt, so daß trotz der Gewichtigkeit der gegen § 153 vorgebrachten Argumente die Schwelle des verfassungsrechtlich Bedenklichen noch nicht erreicht sein dürfte. Darauf wird noch einzugehen sein1'. § 153 fällt also im Verhältnis zu dem, was § 153 a dem Staatsanwalt an Kompetenzen zuweist, nicht ernsthaft ins Gewicht. Über § 153 werden lediglich bestimmte Grenzfälle ausgeschieden. Mit § 153 a gehen dagegen die Konkretisierung und Ausdifferenzierung der Vergehenstatbestände in einem ganz beträchtlichen Umfang in das Ermessen des Staatsanwalts über. Er zieht innerhalb des Vergehensbereichs eine Scheidelinie und verteilt die ahndungsbedürftigen Vergehensverwirklichungen auf zwei Rechtsbereiche.
Nun könnte man sich damit begnügen, die dargestellte Entwicklung zu wenig differenzierten Tatbeständen und weiten Strafrahmen als einen weiteren Beleg für den oben ganz allgemein beschriebenen Rückzug des Gesetzgebers, als dessen strafrechtliche Variante sozusagen, zu konstatieren. § 153 a scheint dann nur eine letzte Konsequenz daraus zu sein, daß das materielle Recht und ebenso die bisherigen Straftatfolgen nicht genügend Differenzierungen für Verhaltensweisen am unteren Ende der Skala der Strafwürdigkeit enthalten und daher begrüßenswert schon deshalb, weil das Instrumentarium strafrechtlicher Reaktionen durch die neue Vorschrift um mildere, nicht diskriminierende Mittel erweitert wird. 3. Zur Realisierbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes
Im Strafrecht ist dieser gesetzgeberische Rückzug jedoch bedenklicher als in anderen Rechtsgebieten, sind doch dem Eindringen von Generalklausein und anderen Formen unbestimmter Regelungen durch Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Nach dieser Bestim"'" mung ist eine Bestrafung nur zulässig, "wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Das bedeutet nicht nur, daß eine Strafe nur auf ein Gesetz gestützt werden darf, sondern stellt auch Anforderungen an solche Gesetze. Strafgesetze müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit genau festlegen und die Folgen der Straftat genau umschreiben (Bestimmtheitsgebot)17. Was damit konkret verlangt ist, ist allerdings heftig umstritten. Der Gesetzgeber selbst scheint sich, mißt man die Strafrechtswirklichkeit an diesem Prinzip, durch Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr son18 17
Vgl. u. § 13, 2. Naucke, Strafrecht, S. 74 f.
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derlich gebunden zu fühlen. Eine Reihe von Symptomen dafür wurden bereits aufgeführt. Naucke spricht davon, daß als Folge einer Vielzahl unbestimmter Strafgesetze "das normale Ergreifungs- und überführungsrisiko des Straftäters vermehrt worden ist um ein gewichtiges Interpretationsrisiko" 18. Diese Entwicklung hat in Rechtsprechung und Lehre kaum Widerstand gefunden, wie sich an der immer restriktiveren Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG ablesen läßt. So ist es h. M., daß das Bestimmtheitsgebot nicht "übersteigert" werden18 und daß man keine "überspannten" Anforderungen stellen dürfe 20 • Weiter wird die Ansicht vertreten, Art. 103 Abs. 2 GG ziehe nur eine "äußere Grenze" und verbiete nur "völlig uferlose Tatbestände"21. Kielwein schließlich fordert auf, man solle sich eingestehen, daß der Bestimmtheitsgrundsatz heute nur noch als "politisches Bekenntnis" aufgefaßt werden könne und zu einem reinen, wenig sagenden Formalprinzip ausgehöhlt sei22 • In der Tat läßt sich kaum bestreiten, daß der Realisierbarkeit des Bestimmtheitsgebots heute eine Reihe von ernsthaften Hindernissen entgegenstehen. Diese liegen auf zwei Ebenen und spiegeln damit das beschriebene allgemein veränderte Verhältnis von Gesetz und Richter im Sonderfall des Strafrechts. Es geht einmal auf der Ebene der Rechtsanwendung um die Frage, in welchem Maße der Richter überhaupt durch das Gesetz determiniert werden kann. Fraglich kann aber auch sein, wie weit der Gesetzgeber entsprechend der veränderten sozialen Realität überhaupt noch in der Lage ist, genaue Gesetze zu formulieren.
a) Methodische Schwierigkeiten Dem Bestimmtheitsgrundsatz liegt ursprünglich die Vorstellung zugrunde, Rechtsanwendung könne und habe sich als reine Subsumtion ohne richterliche Wertung zu vollziehen2s, denn nur dann ist die strenge Bindung des Richters an das Gesetz, die der Bestimmtheitsgrundsatz erzielen will, überhaupt zu erreichen. Die Einsicht der neueren Methodenlehre, daß der Richter nahezu bei jeder Rechtsanwendung notwendig Interpretations- und Wertungsspielräume auszufüllen hat, eine Einsicht, aus der die Unmöglichkeit einer generellen strikten GesetzesGeneralklauseln, S. 21. u BVerfGE 14, 245 ff. (251); BGHSt. 18, 359 ff. (362); TröndZe, in: LK, § 1 Rdnr. 13. W. Nachw. bei PetzoZd, Generalklauseln im Nebenstrafrecht, S. 89 Fn. 92 ff. 20 Eser, in: Schönke / Schröder, § 1 Rdnr. 22. ft NoZZ, JZ 1963, 298; w. Nachw. bei Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 188 Fn. 46. 22 Zehn Jahre Grundgesetz, S. 135. U Schreiber, Gesetz und Richter, S. 221. 18
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bindung folgt, betrifft daher den Bestimmtheitsgrundsatz unmittelbar24 • Er kann also nur insofern Wirkung entfalten, als eine Bindung an das Gesetz methodologisch überhaupt durchführbar ist. Daraus resultiert allerdings keine Freizeichnung des Richters vom Gesetz, sondern zunächst einmal die Forderung nach ständiger methodologischer Vergewisserung und Offenlegung dessen, was tatsächlich unmittelbar auf das Gesetz gestützt werden kann und wo die "punktuelle Rechtsfortbildung" einsetzt25 • b) Schwierigkeiten aus der Regelungsmaterie
Einerseits sind also der Exaktheit der Strafgesetze aus methodologischen Gründen Grenzen gesetzt. Aber auch die bereits mehrfaCh belegte Tendenz der Strafgesetzgebung zum bewußten Verzicht auf genaue Tatbestandsumschreibungen durch die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln läßt sich nicht von vornherein gänzlich verwerfen, scheinen doch bei einer Reihe neuartiger Rechtsgüter in der Regelungsmaterie selbst liegende sachliche Widerstände sich dem Bestimmtheitsgebot zu widersetzen und unbestimmte Regelungen geradezu zu erzwingen. Zu denken ist hierbei etwa an die Umweltschutzbestimmungen, das Wirtschaftsstrafrecht und andere, vor allem im Nebenstrafrecht angesiedelte Vorschriften zum Schutze mehr kollektiver Rechtsgüter, bei denen sich wegen des Umfangs der Regelungsmaterie, des raschen sozialen Wandels in den betroffenen Lebensverhältnissen und der daraus resultierenden Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Verletzungsmöglichkeiten die strafwürdigen Sachverhalte der Umschreibung durch das klassische strafrechtliche Begriffsinstrumentarium weitgehend entziehen. Soll nicht die Folge ein "hoffnungsloses Hinterherlaufen des Strafgesetzgebers hinter den zu bekämpfenden Gefahren für die Rechtsgüter" sein, dann scheint die Verwendung von unbestimmten Straftatbeständen einstweilen unabweisbar28 • Auf derselben Linie liegt es, wenn Lencker zur Begründung für die Vermehrung unbestimmter Straftatbestände auch im Bereich des Kernstrafrechts darauf hinweist, "daß sich das Strafrecht in zunehmendem Maße auch solcher Rechtsgüter annehmen mußte, die nicht mehr, wie z. B. Leben, Körperintegrität usw., als festumrissene Größen von fragDazu Schreiber, S. 220 ff. Vgl. O. S. 143 ff. Vgl. auch Schreiber, S. 231 f. !8 Backes, Strafrecht als Sozialwissenschaft, S. 182 .. Dort (S. 179 ff.) findet sich auch eine eingehende Beschreibung dieser Entwicklung und ihrer Hintergründe sowie ein Lösungsvorschlag, wie man in einigen Bereichen des Nebenstrafrechts durch die Einführung eines Prüfstellensystems den Zielen des Bestimmtheitsgebots wieder Geltung verschaffen kann. U
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loser Eindeutigkeit vor uns stehen"27, wofür er als Beispiel § 330 c StGB und die Nötigung anführt28. Weitere Beispiele für kaum überwindbare Schwierigkeiten, die Verletzungshandlungen zulänglich durch bloße Umschreibung des äußeren Verletzungsvorganges zu erfassen, sind die unechten Unterlassungsdelikte und die Fahrlässigkeitstaten, in denen vom Gesetz letztlich nur der mißbilligte Erfolg vorgegeben wird2l • c) Unveränderte rechtsstaatliehe Aktualität des Bestimmtheitsgrundsatzes
Gegen diese Entwicklung lassen sich, so kann es scheinen, nur noch Rückzugsgefechte führen. Das Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG wird jedoch durch die Schwierigkeiten, die seiner Verwirklichung entgegenstehen, nicht obsolet. Die mit dem Bestimmtheitsgrundsatz verfolgten Ziele, nämlich Gewährleistung von Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Strafens30, Gewährleistung gleicher Rechtsanwendung 31 , Schutz vor willkürlichen Entscheidungen32 und Gewährleistung des "fragmentarischen Charakters" des Strafrechts33 und dadurch eine "Beschränkung der Zugriffsmöglichkeiten des Staates auf den Bürger"34, um nur die wichtigsten grob zusammenzufassen, haben ja nichts von ihrer rechtsstaatlichen Aktualität und Dignität verloren. Zwar ist Lenckners Feststellung nicht zu widerlegen, "der Verfassungs auftrag des Art. 103 Abs. 2 (könne) vernünftigerweise nicht weitergehen, als er überhaupt realisierbar ist"35, aber er ist sicherlich in größerem Umfange realisierbar, als dies gegenwärtig geschieht. Wie schon die kurze Skizze der Gründe für den Trend zur Ausweitung der Strafrahmen deutlich gemacht haben dürfte 38, lassen sich längst nicht alle unbestimmten strafrechtlichen Regelungen als Folgen solcher "Sachzwänge" rechtfertigen. Um so dringlicher ist die JuS 1968, 253. JuS 1968, 254. 28 Vgl. Stratenwerth, AT, Rdnr.74. 30 BVerfG NJW 1978, 933 f.; st. Rspr.; Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, § 1 Rdnr. 20; Lenckner, JuS 1968, 304; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 214 ff. m.w.Nachw. 31 Eser, a.a.O.; Geerds, Festschr. Engisch, S. 413 ff. m. w. Nachw.; Naucke, Strafrecht, S. 81; Schreiber, S. 218. 3t Maiwald, Festschr. GaHas, S. 141; Schreiber, S. 219; vgl. auch Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 76. 33 H. Mayer, Materialien I, S. 259, 273; Geerds, Festschr. Engisch, S. 412; ähnlich Maiwald, Festschr. GaHas, S. 152 f.; Naucke, Strafrecht, S. 81; Petzold, Generalklauseln im Nebenstrafrecht, S. 91. 34 Naucke, a.a.O. 35 JuS 1968, 304. 38 Vgl. o. § 9, 1. 27
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Forderung nach einer genauen Analyse, wo für den Gesetzgeber unbestimmte Regelungen nicht oder nur schwer vermeidbar waren und in welchen Fällen dies tatsächlich als sein "Versagen" zu qualifizieren ist. Die Grenzziehung zwischen zulässiger und nicht mehr zulässiger Unbestimmtheit ist allerdings oft kaum zu leisten. So läßt sich nicht allgemein und zugleich präzise formulieren, welchen Anforderungen eine Regelung genügen muß, damit sie "bestimmt" ist37 • Augenfällig wird das daran, "daß das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit selbst einen unbestimmten Gesetzesbegrüf zum Maßstab für andere unbestimmte Begriffe nimmt"38. Man wird daher nur im Einzelfall und in relativ extremen Fällen einigermaßen verläßlich sagen können, daß gegen das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit verstoßen worden ist. "Im übrigen bleibt keine andere Möglichkeit, als mit aller Entschiedenheit auf die Reform unbestimmter Strafdrohungen hinzuarbeiten"." Immerhin läßt sich vielleicht soviel sagen, daß eine unbestimmte Regelung im Strafrecht dann verfassungsrechtlich in Frage gestellt werden muß, wenn es eine Regelungsalternative gibt, die nicht oder weniger unbestimmt ist und die gleiche Funktion gewährleistet, wobei unter dem Gesichtspunkt des "fragmentarischen Charakters" des Strafrechts die Lückenlosigkeit der Strafdrohungen nicht der entscheidende Gesichtspunkt sein kann. Daß solche Regelungsalternativen gerade für den hier zur Diskussion stehenden Bereich möglich sind, hat zuletzt der "AE-GLD" bewiesen. Kein ernsthaftes Hindernis sollte dabei sein, daß es sich zunächst nur um "sektorale Lösungen" handeln kann40 , denn immerhin lassen sich solche Teillösungen gerade für jene Delikte finden, die die Masse der Bagatellkriminalität ausmachen, wie Ladendiebstahl, Diebstahl geringwertiger Gegenstände überhaupt und Beförderungserschleichung. 4. Prüfung von § 153 a an Art. 103 Abs. 2 GG
Dagegen fragt es sich, ob nicht eine Regelung wie § 153 a in die Zone des verfassungsrechtlich Bedenklichen gerät, auch wenn man die eingeschränkten Realisierungsmöglichkeiten des Bestimmtheitsgebotes und seine von daher reduzierten Anforderungen in Rechnung stellt. Bei der Untersuchung dieser Frage soll die durch § 153 a bewirkte Kompetenzverlagerung vom Richter auf den Staatsanwalt zunächst in den Hintergrund treten, wenngleich sich nicht gänzlich von ihr absehen läßt. 37 38 39
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Vgl. Lang-Hinnchsen\ Gutachten, S. 12. Tiedemann, Tatbestaridsfunktionen, S. 187 ff. m. w. Nachw. Stratenwerth, AT, Rdnr. 73. Gegen sektorale Lösungen Naucke, Gutachten, D 15.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Wie sich gezeigt hat, führt diese Form der "prozessualen Lösung" dazu, daß die Grenzen des durch Kriminalstrafrecht zu ahndenden Unrechts im Vergehensbereich nicht mehr durch die Strafgesetze selbst festgelegt werden, sondern durch das Ermessen des Staatsanwalts im Einzelfall oder durch das in Richtlinien generalisierte Ermessen der Generalstaatsanwälte bzw. der Landesjustizverwaltungen. Darin liegt ein globaler Determinationsverlust der Strafgesetze, der sich von anderen Formen der Unbestimmtheit zunächst einmal dadurch gravierend unterscheidet, daß er nicht nur eine einzelne Bestimmung, sondern eine ganze Deliktskategorie betrifft, und der sich kaum mit einem der angeführten Sachzwänge rechtfertigen läßt. Zugleich sind damit auch die Grenzen des von § 153 a angezielten gesonderten Bagatellstrafrechtsbereichs völlig ungewiß. Diese Unbestimmtheit hat vor allem zwei Folgen: Es ist zum einen für Bagatellstraftaten nicht sichergestellt, daß § 153 a wirklich auf sie Anwendung findet. Es ist andererseits aber auch nicht gewährleistet, daß nur Bagatelldelikte nach § 153 a behandelt werden; vielmehr können auch schwerwiegende Straftaten in einen unangemessenen Genuß der Vergünstigungen des § 153 a gelangen. Etwas konkreter besagt das: Der Unbestimmtheitsspielraum des § 153 a gestattet, z. B. beim Ladendiebstahl die Vergünstigungen dieser Vorschrift zu verweigern, und zwar nicht nur in besonders schweren Einzelfällen, sondern auch ganz generell: es gibt Richtlinien, die die Anwendung des § 153 a auf Ladendiebstahl grundsätzlich untersagen41 • Dieser Unbestimmtheitsspielraum gestattet aber auch, noch bei Wirtschaftsstraftaten mit sechsstelligen Schadenssummen nach § 153 a einzustellen42 • Die Unbestimmtheit des § 153 a im Bagatellbereich steigert sich noch durch das Hinzutreten anderer Ermessensvorschriften. So kann, um das Beispiel vom Ladendiebstahl fortzuführen, auf Ladendiebstahl mit einer Einstellung nach § 153, also gänzlich ohne Sanktion, mit einer Auflage nach § 153 a oder mit einer Vergehensstrafe gern. § 242 StGB reagiert werden. Entsprechend kann das Verfahren variieren zwischen der relativ formlosen Einstellung, einem Strafbefehlsverfahren, der Anklage vor dem Einzelrichter bis hin zu einem Verfahren vor dem Landgericht gern. § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG43. "Das Bagatellstrafrecht erweist sich als Gebiet kriminalpolitischer Unentschiedenheit: an sich strafbar, aber es ist alles offen44 ." Dieser Zustand bedeutet, um mit den Worten N auckes weiter fortzufahren, für den Täter das "Ausgeliefert41
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Vgl. die Nachw. in § 11, 2. b). Vgl. o. S. 124 ff. Vgl. Naucke, Gutachten, D 27. Naucke, Gutachten, D. 75.
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sein an eine eher verwaltende als rechtsprechende, kaum überprüfbare Justiz"45. Auf einer etwas allgemeineren Ebene läßt sich daraus für das Bestimmtheitsproblem noch folgendes ablesen: Verschiedentlich wird - zutreffend darauf hingewiesen, eine Einzelvorschrift dürfe hinsichtlich des Grades ihrer Unbestimmtheit nicht isoliert von den sie umgebenden Vorschriften gewürdigt werden46 , was heißen soll, eine Bestimmung, die für sich betrachtet unbestimmt sei, könne aus dem Normzusammenhang, in dem sie stehe, ihre Konkretisierung erfahren. Es gilt aber auch das Umgekehrte. DieUnbestimmtheit einer Vorschrift kann sich durch ihren Normkontext noch erheblich vergrößern. Das zeigt sich besonders deutlich an den Möglichkeiten der Reaktion auf Bagatelltaten, wie sie gerade für den Ladendiebstahl exemplarisch aufgeführt worden sind. Das Zusammenspiel der Einstellungsvorschriften (§§ 153, 153 a) mit den dem Staatsanwalt gegebenen Wahlmöglichkeiten des Verfahrensweges (Strafbefehl, bewegliche Zuständigkeit nach §§ 25 Abs. 1 Nr. 3, 24 Abs. 1, 24 Abs. 1 Nr. 3, 74 GVG) schafft einen nahtlos ineinander übergehenden, sich ergänzenden Ermessens- und d. h. Unbestimmtheitsbereich und erhöht damit die Unbestimmtheit, die von jeder dieser Normen schon einzeln ausgeht. Träte § 153 a dagegen lediglich als Ergänzung eigener Bagatelltatbestände auf, um von diesen nicht erfaßte Fälle geminderten Unrechts- und Schuldgehaltes aufzufangen, dann ergäbe sich aus dem Normzusammenhang eine Einschränkung seiner Unbestimmtheit. Denn dann umfaßte der Anwendungsbereich der Vorschrift nur noch eine vergleichsweise geringe Anzahl von Tatbeständen: § 153 a wäre faktisch eine Ausnahmeregelung. Das Maß der Unbestimmtheit einer allgemeinen Vorschrift hängt also auch davon ab, wieviel speziellerer Vorschriften von ihr modifiziert und damit unbestimmter gemacht werden können. Unbestimmte Ausnahmevorschriften, deren Ausnahmecharakter ihren Anwendungsbereich von vornherein eingrenzt, sind daher erträglicher als ganz generelle unbestimmte Normen. Je begrenzter der Anwendungsbereich, desto eher kann eine unbestimmte Norm auch durch Auslegung konkretisiert werden. Gegen die These, durch die Unbestimmtheit des § 153 a könne Art. 103 Abs. 2 GG betroffen sein, läßt sich allerdings einwenden, die Straftatbestände als solche seien durch § 153 a unmittelbar nicht berührt, die Vorschrift erweitere lediglich den Kreis der Deliktsfolgen und dies zudem noch auf eine für den betroffenen Täterkreis günstige Weise.
a) Die Anforderungen an die Bestimmtheit der Deliktsfolgen Die Anforderungen, die gemeinhin an die Bestimmtheit der Deliktsfolgen gestellt werden, sind in der Tat gering. Zwar wird nur noch vereinzelt vertreten, daß Art. 103 Abs. 2 GG auf die Deliktsfolgen überhaupt keine Anwendung finde 47 , aber die h. M. ist sich einig darin, 45 46 47
a.a.O. So z. B. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 173. Vgl. die Nachw. bei Stree, Deliktsfolgen, S. 22 Fn. 56.
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daß hier "weniger strenge Maßstäbe"48 anzulegen seien als bei der Tatbestandsbestimmtheit (die ja ihrerseits einer zunehmenden Relativierung unterworfen ist), daß die Straftatfolgen vielmehr nur "relativ bestimmt"49 zu sein hätten bzw. ,,(relativ) unbestimmt"50 sein dürften. Hält man sich vor Augen, welche Strafrahmen etwa von der Rechtsprechung noch für ausreichend bestimmt erachtet worden sind51 , dann wird deutlich, daß das Bestimmtheitsgebot für die Rechtsfolgen in der gegenwärtigen Rechtswirklichkeit so gut wie keine Bedeutung hat52 • Zu so unterschiedlich strengen Anforderungen an die Bestimmtheit von Deliktsvoraussetzungen und Deliktsfolgen kann man jedoch nur gelangen, wenn man davon ausgeht, daß sich beide unter diesem Aspekt isoliert betrachten lassen. Das ist aber eine unzulässige Vereinfachung, der Baumann mit Recht entgegenhält, daß "nur die Verbindung von Rechtsvoraussetzung und Rechtsfolge das Strafgesetz" ausmacht 53 . Wie eng diese Verbindung in der Tat ist, hat sich bereits mehrfach gezeigt. Einerseits ist jeder Tatbestand bereits ein Stück vorweggenommener Strafzumessung, andererseits werden die Strafbarkeitsvoraussetzungen durch die Strafzumessung gewichtet und in sich aufgegliedert54 • Weite Strafrahmen sind häufig ein Indiz für unbestimmt gehaltene Straftatbestände. Unterlassene Präzisierungen und Differenzierungen im Tatbestandsbereich müssen daher in der Strafzumessung nachgeholt werden 55• Die Kriterien, die hierfür in der Strafzumessung herangezogen werden, sind vielfach dieselben, an denen sich auch der Gesetzgeber bei der Schaffung differenzierter Tatbestände in Form von Privilegierung und Qualifikationen usw. auszurichten hätte56 • Derselbe Gesichtspunkt kann also als Strafzumessungsgrund und als Tatbestandsmerkmal auftauchen57 • 48 48
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Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, § 1 Rdnr. 25. Stree, Deliktsfolgen, S. 23 m. w. Nachw.; Geerds, Festschr. Engisch, S. 422. Vgl. Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 19. Aufi., § 1 Rdnr. 25.
So hat etwa BGHSt. 13, 190 (191) eine Norm des Besatzungsrechts, die eine Bestrafung "mit jeder gesetzlich zulässigen Strafe" außer der Todesstrafe zuließ, für noch "hinreichend bestimmt" erachtet (zustimmend Stree, Deliktsfolgen, S. 24). U Naucke, Strafrecht, S.84; Schünemann, Nulla poena sine lege? S.8. 53 AT, S. 116 f. 54 Vgl. o. §7, 1. b). 55 Vgl. o. § 9, 1. 51 Wie Fn. 54. 57 Vgl. auch Maiwald, Festschr. Gallas, S. 148: "Ist unter der Voraussetzung des Schuldprinzips jeder Tatbestand immer schon ein Stück vorweggenommener Strafzumessung, so ist offensichtlich, daß die beiden Begriffe (sc. Tatbestandsvoraussetzung oder Strafzumessungsregel) keine Gegensätze bezeichnen können" (Hervorhebung im Original). 51
§ 9. Unbestimmte Normen im Strafrecht und der Bestimmtheitsgrundsatz 161
Diese Austauschbarkeit wird im Falle des § 153 a vom Gesetzgeber selbst mittelbar dadurch zugegeben, daß diese Vorschrift erklärtermaßen u. a. als Ausgleich für entfallene Privilegierungstatbestände und zu Vergehen aufgewertete übertretungen dienen soll58. Extrem deutlich wird der Zusammenhang zwischen Tatbestand und Rechtsfolge durch das Faktum, das zum Ausgangspunkt aller dieser überlegungen wurde, daß nämlich über § 153 a Strafzumessungserwägungen, also Rechtsfolgeerwägungen, die Grenzen der Anwendbarkeit der Vergehenstatbestände als Voraussetzung für Kriminalstrafe festlegen. Besteht aber ein solches Wechselverhältnis zwischen Strafbarkeitsvoraussetzungen und Deliktsfolgen, dann muß dies auch Rückwirkungen auf die Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit der Rechtsfolge haben. Es geht nicht an, daß sich der Gesetzgeber den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes an die Tatbestandsfassungen dadurch entziehen kann, daß er mittels weiter Strafrahmen, unbenannter Strafänderungsgründe und schließlich auch "prozessualer Lösungen" auf die Rechtsfolgenseite ausweicht. So wird z. B. nur selten bestritten, daß Art. 103 Abs. 3 GG auch auf die Merkmale eines qualifizierenden Tatbestandes Anwendung findet. Führt der Gesetzgeber eine Erhöhung des Strafmaßes durch Schaffung eines Qualifikationstatbestandes ein, dann ist er bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Strafschärfung an das Bestimmtheitsgebot gebunden69 • Erweitert er dagegen den Regelstrafrahmen eines Delikts in genau demselben Maße durch Einführung eines "schweren" oder "besonders schweren Falles", dann soll dies dem Bestimmtheitsgebot nicht mehr unterfallen, weil es sich dabei ja nur um eine Strafzumessungsregel handele. Das kann nicht richtig sein und muß geradezu als Herausforderung verstanden werden, sich der Mühe genauer Tatbestandsformulierungen zu entziehen80 • Daraus läßt sich ableiten, daß straferhöhende Sonderstrafrahmen erst dann dem Gebot der Bestimmtheit der Rechtsfolgen genügen, wenn sie auf der Seite der Rechtsvoraussetzungen eine Entsprechung haben, wenn sie also mit Qualifikationen und Sondertatbeständen, möglicherweise auch mit BT-Drucks. VI/3250, S. 236; 7/550, S. 247. A. A. Schröder, Festschr. Mezger, S. 421, der gerade umgekehrt folgert, daß qualifizierende Merkmale nicht unter Art. 103 Abs. 2 GG fielen, da sie Strafzumessungsgründe enthielten. In diesem Sinne enthält aber bereits jeder Grundtatbestand Strafzumessungsgründe, vgl. dazu auch Maiwald, Festschr. Gallas, S. 147. 60 Bedenken gegen die unbenannten Strafschärfungsgründe wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot bei Baumann, AT, s. 668, 671. Aus diesem Grund verzichtet der AE AT gänzlich auf diese Rechtsfigur (Begründung, S. 119). Vgl. auch Maiwald, Festschr. Gallas, S. 140, 150, der, wenn auch vorsichtiger, ebenfalls zu einer Ablehnung kommt. 58
58
11 Kausch
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Regelbeispielen61 , verbunden sind. Ganz allgemein führen diese überlegungen zu der Forderung nach engeren Strafrahmen. Diese setzen entsprechend eng gefaßte und ausdifferenzierte Tatbestände voraus. Tatbestands- und Rechtsfolgenbestimmtheit bedingen also einander 62 • b) Geringere Anforderungen an die Bestimmtheit
von Rechtsfolgen, die den Täter begünstigen?
Mag dies für Strafschärfungen auch einleuchten, so fragt es sich doch, ob für Strafmilderungen, wie sie ja auch § 153 a ermöglicht, nicht etwas anderes gilt. So formuliert Schröder63 : "Das Verlangen nach Rechtssicherheit erstreckt sich stets nur auf die Regelung der Nachteile, die den einzelnen treffen. Die Anwendung einer vorteilhaften Regelung bleibt frei auszugestalten. Bedenken gegen die Verwendung nicht festgelegter mildernder Umstände konnten daher aus rechtsstaatlichen Gründen nicht auftauchen." Aber auch hier liegen die Dinge so einfach nicht. Lenckner hat darauf aufmerksam gemacht, daß man mit guten Gründen der Ansicht sein könne, der Gesetzgeber sei auch dann an das Bestimmtheitsgebot gebunden, wenn er Regeln selbst normiere, die, wie z. B. Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe, die Strafbarkeit ausschließen (also den Täter begünstigen!), denn andernfalls könne der Richter durch persönliche Wertung über die Reichweite eines Strafausschließungsgrundes die Grenzen der Strafbarkeit bestimmen64 • Das besagt folgendes: Hat der Richter bei einem gesetzlich normierten Strafausschließungsgrund einen weiten Interpretationsspielraum, so kann er durch restriktive Auslegung den Kreis der Verhaltensweisen, die die Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllen, erweitern, wie umgekehrt eine weite Ausle61 Da die Regelbeispiele nach wohl h. M. ebenfalls nur Strafzumessungsregeln sind, bestehen gegen sie die gleichen Bedenken wie gegen die "besonders schweren Fälle" (so überzeugend Maiwald, S. 151, 158 f.). Die Regelbeispiele fordern jedoch dem Richter ein ganz anderes Maß an Begründung ab, insbesondere, wenn er darlegen muß, warum ein Sachverhalt, der kein Regelbeispiel erfüllt, dennoch als besonders schwerer Fall einzustufen ist. Das erhöht die Nachprüfbarkeit und schränkt den Ermessensspielraum bei der Strafzumessung ein, so daß die Regelbeispiele immer noch den vollkommen unbenannten Strafschärfungsgründen vorzuziehen sind. 82 Die vorstehenden überlegungen verkennen nicht, daß u. U. ein großer Spielraum erforderlich ist, um die Strafe im Einzelfall angemessen zu individualisieren. Sie gehen aber davon aus, daß dies offensichtlich nicht der Hauptanlaß für das gegenwärtige Ausmaß an Unbestimmtheit der Straftatfolgen ist und daß eine größere Bestimmtheit sowohl aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich als auch möglich ist, ohne die Einzelfallgerechtigkeit zu gefährden. Zu dem hierbei nötigen Kompromiß zwischen "Bestimmtheitserfordernis" und "Spielraumerfordernis", der gegenwärtig einseitig zuungunsten des Bestimmtheitserfordernisses ausfällt, vgl. Baumann, AT,
S. 658 f. 83 G4
Festschr. Mezger, S. 417. JuS 1968, 252.
§ 9. Unbestimmte Normen im Strafrecht und der Bestimmtheitsgrundsatz 163
gung dazu führt, daß mehr Verhaltensweisen von der Strafbarkeit ausgeschlossen werden. Darin liegt eine indirekte Begründung der Strafbarkeit. An sich würde aber, so Lenckner, der Idee des Rechtsstaats nur ein Strafgesetz entsprechen, daß auch jede indirekte Strafbegründung durch den Richter unmöglich macht65 • Denkt man diesen von Lenckner nicht weiter verfolgten Gedanken zu Ende, dann muß, was für Strafausschließungsgründe gilt, auch für Strafmilderungsgründe gelten. Denn wie die Verfügung über die Reichweite eines Strafausschließungsgrundes eine indirekte Bestimmung der Grenzen der Strafbarkeit ist, so ist die Verfügung über die Reichweite einer Strafmilderung eine indirekte Festlegung der Reichweite einer Strafschärfung. Von der Strafmilderung aus gesehen ist schon die Normalstrafe eine Strafschärfung. Wer festlegen kann, wann eine Strafmilderung nicht zur Anwendung kommt, kann damit indirekt eine Strafschärfung bewirken. Für § 153 a kommt hinzu, daß hier die Strafmilderung mit einer Veränderung des Deliktscharakters verbunden ist, daß die Vorschrift in einem qualitativen Sprung von der Kriminalstrafe zu einer nicht-kriminalstrafrechtlichen Ahndung führt, daß also bezüglich der Grenzen der Strafbarkeit ein ähnlicher Effekt vorliegt wie bei einem Strafausschließungsgrund. Aufgrund ähnlicher überlegungen kommt auch Maiwald zu dem Ergebnis, daß Regelungen, die den Täter begünstigen, unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgebotes nicht anders zu behandeln sind als Strafschärfungen. Wenn zugunsten des Täters ein "minderschwerer Fall" angenommen werde und er deshalb eine milde Strafe erhalte, so erscheine im Verhältnis dazu die Strafe jenes Täters als die strengere, dem der Richter dies nicht zubillige. "Es ist also nur eine Frage des Standpunktes, ob man die ,minderschweren Fälle' als zugunsten oder zu ungunsten des Täters wirkend betrachtet"." Entsprechendes muß auch für alle anderen Strafmilderungsmöglichkeiten gelten. Im übrigen läßt sich schon in Zweifel ziehen, ob eine Regelung wie § 153 a überhaupt als Begünstigung angesehen werden kann. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß die Rechtsfolgen des § 153 a milder sind als eine Vergehensstrafe. Aber wir haben gesehen, daß kein Täter eines Bagatelldelikts sicher sein kann, ob er um die Vergehensstrafe herumkommt und auf ihn die Rechtsfolgen, die jetzt an sich nach dem Willen des Gesetzgebers an erster Stelle im Bagatellbereich anzuwenden wären, nämlich die des § 153 a, auch wirklich angewandt werden, denn die Entscheidung darüber liegt im Ermessen des Staatsanwaltes. Daher stand sich beispielsweise der Täter eines "Mundraubs" nach dem frü65 a.a.O. Hervorhebung vom Verf. 66 Maiwald, Festschrift GaUas, S. 151 unter Berufung auf Arthur Kaufmann.
164
2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
heren Recht insofern besser, als seine Strafe nur aus § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB entnommen werden durfte. Unter diesem Aspekt günstiger für den Täter ist auch jede der de lege ferenda vorgeschlagenen Regelungen, bei der die geringere Strafbarkeit im materiellen Recht verankert ist. Am eindeutigsten ist die Lage, wenn sich die Strafmilderungen wegen des Bagatellcharakters einer Tat bereits in den Tatbeständen als Privilegierungen usw. niederschlagen. Aber auch schon, wenn ein mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitender allgemeiner Strafmilderungsgrund für Bagatellstraftaten in das materielle Recht aufgenommen wird, ist dies eine für den Täter günstigere Regelung als das gegenwärtige Recht. Denn er kann sich dann im Verfahren darauf berufen und mit Rechtsmitteln geltend machen, daß dieser Strafmilderungsgrund auf ihn Anwendung zu finden habe 87 • Dagegen läßt sich einwenden, die Vergleichsbasis für die Frage, ob eine Regelung für den Täter günstig sei, könne nur die gleichzeitig geltende Rechtsordnung sein. Man müsse also darauf abstellen, was de lege lata bei Nichtanwendung der fraglichen Vorschrift die eintretende Rechtsfolge sei. Verschärfungen gegenüber früherem Recht oder Besserstellung durch mögliche Reformen seien in das kriminalpolitische Ermessen des Gesetzgebers gestellt und müßten daher außer Betracht bleiben. Das ist zunächst richtig. Wenn der Gesetzgeber aber § 153 a ausdrücklich als Ersatz für entfallene Privilegierungen deklariert, durch den Verschärfungen des materiellen Rechts ausgeglichen und dafür gesorgt werden solle, daß der Täter nicht schlechter als nach bisherigem Recht stehe, und wenn der Gesetzgeber weiter eine materiellrechtliche Lösung mit der Begründung ablehnt, durch § 153 a werde dasselbe auf einfachere Weise erreicht, dann muß sich die Vorschrift unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG, d. h. bei der Prüfung der These, aus dem Bestimmtheitsgebot ergäben sich an § 153 a keinerlei Anforderungen, weil er ja den Täter begünstige, auch an den nichtgewählten Alternativen messen lassen. Diese Überlegungen haben also ergeben: Die Bestimmtheitsanforderungen an die Rechtsfolgen einer Straftat sind wegen der engen Verzahnung von Tatbestands- und Rechtsfolgenseite einer Strafnorm strenger zu fassen, als es die h. M. tut. Dies gilt auch für solche Folgen, die den Täter begünstigen. Daher lassen sich verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Unbestimmtheit des § 153 a nicht einfach mit dem Hinweis ausräumen, die Vorschrift stelle ja nur eine für den Täter günstige Rechtsfolgenregelung dar. Darüber hinaus ist schon zweifel67
Vgl. dazu Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 232.
§ 10.
Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 165
haft, ob § 153 a überhaupt als Vorschrift angesehen werden kann, die in einer für Art. 103 Abs. 2 GG relevanten Weise den Täter begünstigt. Damit sind gewiß schwerwiegende Argumente für die Annahme einer Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG durch § 153 a aufgezeigt. Dennoch mögen angesichts der Schwierigkeiten, die Forderungen des Bestimmtheitsgebots zu präzisieren, letzte Zweifel bestehen, ob diese Argumente für sich genommen ausreichen, einen solchen Verfassungsverstoß zu begründen. Es müssen daher zusätzliche Kriterien gewonnen werden. Dazu soll die zunächst ja weitgehend ausgesparte Frage, welchen Einfluß die von § 153 a bewirkte Kompetenzverlagerung vom Richter zum Staatsanwalt auf die Bestimmtheit der Vorschrift hat, in die Untersuchung einbezogen werden. § 10. Anforderungen, die sich aus dem Bestimmtheitsgebot und dem Gewaltenteilungsprinzip an das Verfahren der Normkonkretisierung im Strafrecht ergeben Wenn auch eine differenzierte tatbestandliche Regelung der Bagatellkriminalität dem Bestimmtheitsgebot am ehesten gerecht wird, so hat sich doch bereits angedeutet, daß die Unbestimmtheit des § 153 a für den betroffenen Täterkreis schon dann weniger nachteilig ist, wenn die Vorschrift im materiellen Recht angesiedelt wird, d. h. ihre Konkretisierung im gerichtlichen Verfahren erfolgt. Damit scheint für die Frage, inwieweit die Unbestimmtheit eines Strafgesetzes verfassungsrechtlich bedenklich ist, auch bedeutsam, in welchem Verfahren diese Norm konkretisiert wird. Zwar stellt der Bestimmtheitsgrundsatz auf den ersten Blick nur Forderungen an die Ausformulierung der Inhalte von Strafvorschriften. Aber die genaueste Gesetzesfassung ist nur soviel wert, wie es verfahrensmäßige Vorkehrungen zur Gewährleistung und überprüfung einer gesetzestreuen Rechtsanwendung gibt, so daß sich eine Einbeziehung des Verfahrens schon deshalb nahelegt. Es fragt sich daher, ob nicht der Kern der Bedenken gegen die Unbestimmtheit des § 153 a in der Verlagerung der Entscheidungsbefugnis vom Richter auf den Staatsanwalt zu sehen ist. Denn alle überlegungen, mit denen die Herabsetzung der Bestimmtheitsanforderungen und damit die zunehmende Unbestimmtheit der Strafnormen gerechtfertigt werden, gehen als selbstverständlich davon aus, daß die Festlegung der Inhalte der fraglichen unbestimmten Normen durch den Richter geschieht, und dies, d. h. das Vertrauen in das Richteramt und in die rechtsstaatlichen Absicherungen für einen nur auf "Wahrheit" und "Gerechtigkeit" ausgerichteten gerichtlichen Verfahrensgang, mag einer der Grunde dafür sein, daß die Aufweichung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht mehr Widerstand gefunden hat und findet.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Mögen auch dem Bestimmtheitsgebot in vielen Bereichen für den heutigen Gesetzgeber kaum überwindbare Hindernisse entgegenstehen, so fragt es sich doch, ob Art. 103 Abs. 2 GG nicht jedenfalls die gesetzgeberischen Delegationsmöglichkeiten einschränkt, ob sich also aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht Anforderungen an das Organ ergeben, dem die Konkretisierung der unbestimmten Normen übertragen wird, und ob nicht das Verfahren der Konkretisierung gewisse funktionale Äquivalente dafür bieten muß, was an Präzisierung durch den Gesetzgeber selbst nicht mehr erreichbar ist. Wenn das Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG als Folge der beschriebenen Entwicklung nicht noch weiter ausgehöhlt werden soll, muß man dann nicht eine teilweise Verlagerung der Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes in das Verfahren der N ormkonkretisierung annehmen1 ? Eine ähnliche Fragestellung ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. Wenn es schon unumgänglich ist, daß der Gesetzgeber durch unbestimmte Strafrechtsnormen faktisch Normsetzungsbefugnisse delegiert, müssen dann nicht das Organ, auf das diese Befugnisse übertragen werden, und das Verfahren, in dem diese Quasigesetzgebung vorgenommen wird, gewisse Garantien dafür bieten, daß die vom Prinzip der Gewaltenteilung geforderte Hemmung, Mäßigung und Kontrolle von Machtausübung auf andere Weise gewährleistet wird? Um es noch einmal zu betonen: Die mit dem Bestimmtheitsgrundsatz angestrebten Ziele haben nichts von ihrer Aktualität verloren und können nicht ohne entscheidenden Substanzverlust für die Rechtsstaatlichkeit ad acta gelegt werden. Das gleiche gilt für die Gewaltenteilung. Die aufgeworfenen Fragen sind daher zu bejahen. Vergleicht man unter diesem Aspekt die strafrechtliche Normkonkretisierung durch Rechtsprechung und Staatsanwalt, so weist nur das 1
Ansätze für eine ähnliche Betrachtungsweise wie hier finden sich bei
Jung, wenn er feststellt, an der Grundrechtsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG
habe die gesamte Strafrechtspflege insoweit Anteil, "als Straftatbestand, Strafdrohung und Strajverhängung sich nicht gesondert betrachten lassen, sondern als Einheit begriffen werden müssen" (Kronzeuge, S. 62, Hervorhebung vom Verf. Vgl. auch Weigend, Anklagepflicht, S. 73 f.). Wenn hier § 153 a an Art. 103 Abs. 2 GG gemessen wird, so bedeutet das allerdings nicht eine generelle Ausweitung des Bestimmtheitsgebots auf das Verfahrensrecht. Denn, wie sich gezeigt hat, wird durch § 153 a unmittelbar sowohl auf die Unrechtsfolgen wie auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen Einfluß genommen. § 153 a dient als Ersatz für ausformulierte Bagatelltatbestände und die entsprechenden Bagatellrechtsfolgen im materiellen Recht, hat also eindeutig materiellrechtliche Funktionen. Die Einordnung der Norm in das Verfahrensrecht kann sie daher den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes nicht entziehen. Ebenso wollen die folgenden Überlegungen das Verfahrensrecht nicht dem Bestimmtheitsgebot unterwerfen, sondern gehen davon aus, daß der Grad der Unbestimmtheit einer dem Bestimmtheitsgebot unterstehenden Norm auch von dem Verfahren, in dem sie konkretisiert wird, abhängen kann.
§
10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 167
richterliche Verfahren Eigenschaften auf, die einen, wenn auch sehr eingeschränkten, Ersatz für bestimmtere Strafgesetze bieten, finden sich nur bei der Rechtsprechung institutionelle Vorkehrungen, die den in unbestimmten Strafgesetzen liegenden Verzicht des Gesetzgebers auf Teile seiner Normsetzungsbefugnisse rechtsstaatlich wenigstens in gewissem Maße erträglich erscheinen lassen. Zum Nachweis dieser These soll untersucht werden, wie weit das unterschiedliche Vorgehen von Rechtsprechung und Staatsanwaltschaft bei der Normkonkretisierung jeweils geeignet ist, zur Verwirklichung der Einzelziele beizutragen, die die h. M. dem Bestimmtheitsgebot und dem Gewaltenteilungsprinzip zuschreibt. Für das Bestimmtheitsgebot (1) ist dabei auf die Rechtssicherheit (a), die Gewährleistung gleicher Rechtsanwendung (b), den Schutz vor Willkür (c) und den Schutz der Freiheit des Bürgers durch Begrenzung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten in Gestalt des "fragmentarischen Charakters des Strafrechts" (d) einzugehen, für die Gewaltenteilung (2) auf Machthemmung und Kontrolle staatlicher Machtausübung (a) einerseits, aber auch auf die von der neueren Lehre herausgestellten Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung (b). 1. Verfahren und Bestimmtheit
a) Rechtssicherheit
Ein Hauptziel des Bestimmtheitsgrundsatzes ist die Gewährleistung von Rechtssicherheit durch Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der strafenden Eingriffe des Staates2 • Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, daß dieses Ziel angesichts einer ständig wachsenden Fülle von Strafvorschriften vor allem im Nebenstrafrecht durch genaue Gesetze allein nicht zu erreichen ist. Es kommt hinzu, daß sich der Inhalt eines Strafgesetzes in der Regel nicht aus dem Normtext allein erschließen läßt, sondern erst in Verbindung mit der dazugehörigen strafrechtlichen Dogmatik. Genaue Gesetze sind daher keine hinreichende, wohl aber immer noch eine notwendige Bedingung für Rechtssicherheits. HinzuVgl. die Nachw. in § 9 Anm. 30. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, wenn gesagt wird, für das Bestimmtheitsgebot komme es nicht so sehr auf individuelle Voraussehbarkeit an, sondern es sei abzustellen auf einen mehr objektiv gefaßten Vertrauensschutzgedanken "im Sinne einer durchgängigen Festlegung des Rechts, die es von wechselnder Willkür abhebt und damit einen Zustand schafft, in dem man das Vertrauen haben kann, nicht mit willkürlichen Strafeingriffen überzogen zu werden" (Schreiber, Gesetz und Richter, S. 215; vgl. auch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 185). Ein weiterer Gesichtspunkt ist der, daß die Entwicklung von angemessenen "Parallelwertungen in der Laiensphäre" durch unbestimmte Strafvorschriften zumindest erschwert, wenn nicht verhindert wird. 2
3
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
treten müssen z. B. angemessene Formen der Information des Bürgers durch den Staat'. Das gerichtliche Verfahren der Konkretisierung unbestimmter Strafgesetze ist zwar kein vollwertiger Ausgleich für bestimmt gefaßte Normen, aber es gewährt ein Vielfaches an Sicherungen vor überraschenden Entscheidungen gegenüber einer der Staatsanwaltschaft überlassenen Konkretisierungsbefugnis. Diese Sicherungen ergeben sich aus der Transparenz des gerichtlichen Verfahrens. Darunter soll hier folgendes verstanden werden: Gerichtliche Entscheidungen ergehen zwar autoritativ (und müssen es um ihrer friedensstiftenden Funktion willen auch), aber das Verfahrensrecht trifft Vorkehrungen dafür, daß sich die richterliche ÜberzeugungsbiIdung im Wege einer rationalen Diskussion mit weitgehenden Mitwirkungsrechten der von der Entscheidung Betroffenen vollzieht und auf diese Weise für die Betroffenen und für die Öffentlichkeit qua Rechtsgemeinschaft durchschaubar und die Entscheidung schließlich akzeptabel wird. Die meisten Institute des Verfahrensrechts lassen sich auf diese Zwecke beziehen. aa) Eine solche Diskussion findet auf 4 Ebenen statt. Die unterste Ebene ist das Hauptverfahren 1. Instanz. Hier sorgen der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, das Beweisantragsrecht und andere Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten sowie das Gegeneinander von Staatsanwalt und Verteidiger, das dem Strafverfahren, auch wenn es kein Parteiverfahren ist, einen kontradiktorischen Zug verleiht6 , in Ergänzung (und Konkretisierung) der Untersuchungspflicht des Gerichts für die Chance, daß die relevanten Gesichtspunkte aller Beteiligten zur Sprache kommen und alle Seiten der Sache ausgeleuchtet werden. Das Urteil ist die Stellungnahme des Richters zu dieser Diskussion. Indem der Angeklagte in den Rechtsmittelinstanzen vortragen kann, er sei mit relevanten Gesichtspunkten nicht zu Gehör gekommen, wird das erkennende Gericht gezwungen, sich mit allem, was er vorträgt, auseinanderzusetzen und zumindest darzulegen, warum eine Einlassung nicht relevant ist. Der Rationalität dieser Diskussion dienen einmal die Vorschriften über ein geordnetes procedere der Untersuchung, die als das Ergebnis der "im Laufe der Geschichte gemachten prozeßpsychologischen Erfahrungen"8 gelten können und die "der Ausmerzung vorhersehbarer Störungen der Wahrheitsfindung" dienen7 wie etwa die Vorschriften des 4 Zur Bedeutung staatlicher Informationen für die Verwirklichung desBestimmtheitsgebotes vgl. Backes, Strafrecht als Sozialwissenschaft, S. 195 ff. 5 Nowakowski, Gutachten, S. 18. S Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 329; vgl. auch Rdnr. 21 ff.
§ 10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 169
Beweisrechts. "Sie erhöhen die Chance, daß alle relevanten Gesichtspunkte zur Geltung kommen und daß die zeitliche und sachliche Prioritätenordnung so gut es geht, ausdiskutiert werden kann, und sie erhöhen deshalb die Chance, daß die Entscheidung rational gerechtfertigt ist8 ." Der Rationalität richterlicher Rechtsfindung dienen aber auch die Begründungsanforderungen an das Urteil, die sich aus § 267, vor allem aber aus dem Revisionsrecht ergeben. Durch die revisionsrichterliche Überprüfung wird die Einhaltung der von der Rechtswissenschaft und der höchstrichterlichen Rechtsprechung erarbeiteten juristischen Begründungsstandards gewährleistet. Durch die Grenzen, die der BGH der freien Beweiswürdigung in den "Denkgesetzen"9 und in naturwissenschaftlichen Erfahrungssätzen 10 gezogen hat, ist diese insoweit bloß subjektiver Gewißheit entzogen und ist darüber hinaus garantiert, daß auch die Rationalitätskriterien der Erfahrungswissenschaften herangezogen werden müssen. Vor allem Esser hat das Bemühen der Rechtsprechung herausgearbeitet, nicht allein zu dogmatisch richtig begründeten, sondern auch für die Betroffenen überzeugenden, plausiblen, "konsensfähigen" Entscheidungen zu gelangenl l . Dies geschehe durch einen Begründungsstil, der sich nicht allein auf dogmatische Ableitungen verlasse, sondern auf allgemein einsichtige Rechtfertigungen, auf das, was unter vernünftigen Leuten einsehbar sein müsse, abstelle12 • Das gehe so weit, daß man bereits restlos dogmatisierte sozialethische Vorstellungen im Einzelfall wieder auflöse, um den Verständnishorizont der Betroffenen zu erreichen13 • 7 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 12, allerdings nur als Paraphrasierung allgemeiner "Vorurteile" über das Verfahren. 8 Kriele, Staatslehre, S. 38. Daß daneben die Strafverfahrensvorschriften auch dem Schutze des Angeklagten und anderer Beteiligter (vgl. etwa die Aussageverweigerungsrechte) dienen, also Ausdruck dafür sind, daß das Strafverfahren nicht Wahrheitsermittlung um jeden Preis will, sondern andere Werte wie die Menschenwürde u. U. höher einstuft, steht dazu in keinem Widerspruch. 9 Vgl. etwa BGHSt. 6, 70 ff. (72). 10 Vgl. BGHSt. 10, 208 ff. (211). Bedenken wegen einer Beweisgewinnung und Beweiswürdigung, die derzeit noch zu wenig wissenschaftlichen Anforderungen genüge, bei Arzt, Ruf, S. 159 ff. 11 Dies ist eine der Hauptargumentationslinien in "Vorverständnis", vgl. nur S. 9, 25, 27, 118, 154 ff., 172. 12 a.a.O., S. 27. 13 a.a.O., S. 172. Im Gegensatz dazu stehen die für die praktische Ausbildung bestimmten Anleitungsbücher, in denen solche überlegungen zwar als zulässig und für die Kontrolle eines Ergebnisses als unerläßlich angesehen werden, die aber fordern, sie im Gutachten und Urteil nicht zur Sprache zu bringen, sondern das gefundene Ergebnis lediglich als Folge methodischer
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Nun sind die Bedingungen für einen solchen Konsens zwischen Rechtsanwender und Rechtsbetroffenen im zivilgerichtlichen Verfahren, auf das sich Essers Untersuchungen in erster Linie beziehen, sicherlich günstiger als im Strafverfahren14. Es leuchtet aber ein, daß eine Entscheidung, die das Ergebnis eines um Rationalität bemühten Verfahrens ist, das dem Angeklagten die Geltendmachung seiner Gesichtspunkte verbürgt und in der Entscheidungsbegründung auf diese eingeht, eher auf Konsens hoffen kann als eine hinter verschlossenen Türen dekretierte Entscheidung der Exekutive15. Auf jeden Fall ist das Ergebnis eines solchen auf Beteiligung des Betroffenen und Konsensfähigkeit der Entscheidung abstellenden Verfahrens für diesen weniger überraschend. Das aus den verfahrensrechtlichen Rationalitätsvorkehrungen und dem Bemühen um Konsensfähigkeit resultierende generelle Vertrauen in die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der getroffenen und zu treffenden Entscheidungen ist denn auch der eigentliche Grund für eine "Legitimation durch Verfahren"16. Nun wird unter Rechtssicherheit zwar herkömmlich verstanden, daß eine Entscheidung bereits vorhersehbar sein muß, bevor überhaupt ein Verfahren eingeleitet worden ist, und nicht erst aus dem Verfahrensgang, aber wenn die Begründung der Entscheidung auf Konsensfähigkeit abstellt, dann muß sie sich auf Gesichtspunkte beziehen, von denen angenommen werden kann, daß sie einem verständigen Angeklagten schon vorher bekannt gewesen sind17. Die nächste Ebene der Diskussion ist die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung im Instanzenzug. Einmal findet hier ebenfalls eine Ableitungen aus dem Gesetz darzustellen. Vgl. dazu die Beispiele und die Kritik bei Kriele, Rechtsgewinnung, S. 169 f. 14 Im Zivilverfahren wird die Rolle des Richters als eines unbeteiligten Dritten, als neutraler Instanz, deutlicher. Der Richter wird im Idealfall von beiden Parteien freiwillig als Schlichter angerufen; sein Spruch kann u. U. als erlösend empfunden werden. Im Strafrecht sieht ihn der Angeklagte eher als Repräsentanten der staatlichen Macht, die Strafe über ihn verhängen kann, wenn auch zur Vermeidung gerade dieses Effektes die Staatsanwaltschaft eingerichtet worden ist. 15 Zu den Konsensmöglichkeiten im Strafverfahren vgl. Schreiber, ZStW 87 (1975), 140 ff. 18 Kriele, Staatslehre, S. 39. 17 Dagegen ließe sich einwenden, daß viele derjenigen, die mit dem Strafgesetz in Berührung kommen, kaum den hier gezeichneten Diskussionspartner abgeben können, dem der Gang der Verhandlung durchsichtig ist, der von den Gründen angesprochen und überzeugt wird und der sogar einen Beitrag zur Rechtsbildung leistet. Möglicherweise kommt als ein solcher Diskussionspartner oft nur der Verteidiger als Interessenvertreter des Angeklagten in Betracht, und vielleicht muß man sich in einem sich ständig weiter ausdifferenzierenden Rechtssystem damit begnügen, daß Vorhersehbarkeit nur für alle Rechtskundigen, deren Hilfe der Bürger in Anspruch nehmen kann, gegeben ist. Andererseits fragt es sich, warum Transparenz für das Strafverfahren nicht doch und sogar relativ leicht zu erreichen sein sollte.
§ 10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 171
Diskussion mit den Verfahrensbeteiligten statt. Zum anderen kann eine Aufhebung oder Bestätigung des angefochtenen Urteils nicht einfach dekretiert werden, sondern das Rechtsmittelgericht muß sich mit den Gründen des vorinstanzlichen Urteils im einzelnen auseinandersetzen und diese Auseinandersetzung in seiner Urteilsbegründung wiederum schriftlich dokumentieren. Durch die Veröffentlichung der Entscheidung in Fachzeitschriften und Entscheidungssammlungen weitet sich die Diskussion aus, bildet sich eine juristische Fachöffentlichkeit. In der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung, in deren Sammlung, Systematisierung und Kritik wird die Rechtswissenschaft zu einer "informellen Rechtsprechungsinstanz"18. Das Bemühen der Rechtsprechung um Konsensfähigkeit beschränkt sich nicht auf die Entscheidungsbetroffenen; es zielt ebenso auf diese juristische Öffentlichkeit ab: Indem Urteile sich mit Lehrmeinungen und Präjudizien auseinandersetzen, führen sie einen antizipierten Dialog mit der Fachöffentlichkeit, auf den diese wiederum reagiert. Dieser Austausch von Argumenten mit dem Ziel wechselseitigen überzeugens führt dann zur Konsensbildung in Form von "herrschenden Meinungen"19. Stellen die bisher beschriebenen Diskussionsebenen jeweils eine Ausweitung und Weiterführung des auf der vorangegangenen Ebene eingeleiteten Gespräche dar, so werden sie auf allen drei Ebenen begleitet von einer allgemeinen öffentlichen Diskussion, in der die gesellschaftlichen Gruppen und auch einzelne, allerdings meist vermittelt über die Medien, Stellung nehmen zu den aufgeworfenen Rechtsproblemen. So werden Gesichtspunkte von außen, vor allem gesellschaftliche Wertvorstellungen, in die innerjuristische Diskussion hineingetragen. Die überzeugungsfähigkeit der Rechtsprechung hängt stark davon ab, daß sie diese Wertvorstellungen aufgreift und in einer plausiblen Weise verarbeitet, um auch in dieser Beziehung zu konsensfähigen Entscheidungen zu gelangen2o • Damit sind die vier Diskussionsebenen zugleich auch sich ausweitende Stufen der Öffentlichkeit des Verfahrens. Die Verfahrensöffentlichkeit hat demnach für seine Transparenz eine entscheidende. Bedeutung. Diese beruht nicht so sehr darauf, daß sich jedermann eine konkrete Anschauung von der Arbeit der Gerichte durch die freie Zugänglichkeit der Verhandlungen verschaffen kann, als auf der dadurch ermöglichten mittelbaren Öffentlichkeit durch die Berichterstattung der Medien, die 18 19
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Zitat: NoH, Gesetzgebungslehre, S. 47. Roth, JuS 1975, 519. Vgl. dazu Esser, Vorverständnis, S. 21 ff.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
zum Ansatzpunkt für die Bildung einer öffentlichen Meinung wird. Keine geringere Bedeutung für die Konstituierung von Öffentlichkeit hat die Pflicht zur schriftlichen Begründung der Urteile und deren Veröffentlichung, die Voraussetzung für eine intensivere Diskussion sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit wie in der juristischen Fachwelt ist. Für das Rechtssicherheitsproblem ergibt sich daraus: Die Transparenz der Normkonkretisierung im gerichtlichen Verfahren kann zwar nicht zu dem Maß an Rechtssicherheit führen, das sich aus genauen Strafgesetzen ergibt. Denn die Konkretisierung unbestimmter Strafgesetze geschieht nur langsam und schrittweise in einer Summe von Einzelfallentscheidungen, die anfangs auch einander widersprechen können und die sich erst allmählich in einem andauernden Diskussionsprozeß in der oben beschriebenen Weise zu einer "ständigen Rechtsprechung" verfestigen, die die wichtigsten Fallkonstellationen abdeckt. Aber die in diesem Diskussionsprozeß liegende Transparenz des Verfahrens, in der alle Schritte verfolgt werden können, bietet auch eine gewisse Gewähr dafür, daß es nicht zu völlig überraschenden Entscheidungen kommt. Hat sich erst einmal eine ständige Rechtsprechung herausgebildet, so ist das ein weiterer Garant für Rechtssicherheit. Zwar besteht keine normative Bindung an Präjudizien. Weicht der Richter aber von einer bisherigen Rechtsprechung ab, so muß er dies mit erheblichem Argumentationsaufwand begründen, weil er eine Vermutung für die Vernünftigkeit der bisherigen Rechtsprechung widerlegen muß 21 • Die ständige Rechtsprechung bewirkt also entweder eine Wahrscheinlichkeit für ihr Fortbestehen oder aber eine besondere Transparenz, wenn von ihr abgewichen wird22 • Da schon bei nicht mit unbestimmten Rechtsbegriffen und GeneralklauseIn arbeitenden Normen eine strikte Gesetzesbindung methodisch unmöglich und ein Auslegungsspielraum für den Rechtsanwender unvermeidlich ist, ist für die Rechtssicherheit schon hier entscheidend, daß sich die Konkretisierung im Lichte der Öffentlichkeit vollzieht, daß zur Publizität des Gesetzes die Publizität des Auslegungsprozesses hinzukommt. Dies gilt erst recht und in einem ungleich höheren Maße bei solchen Strafnormen, deren Unbestimmtheit der Rechtsanwendung nur geringe Grenzen setzt. Man wird einwenden, hier werde ein Idealbild des Rechtsprechungsvorgangs und der darin enthaltenen Diskussion entworfen, dem die Rechtswirklichkeit in vieler Beziehung nicht entspreche. Die möglichen 21 22
Kriele, Rechtsgewinnung, S. 243 ff.; Hassemer, Rechtsphilosophie, S. 85. Vgl. H. P. Schneider, Richterrecht, S. 40.
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Einwände gegen das hier gezeichnete und noch weiter auszuführende Bild der Rechtsprechung und ihre Relevanz werden noch darzustellen sein . . bb) Entscheidender ist zunächst folgendes: Mag die aus der (möglicherweise nur eingeschränkten) Transparenz des gerichtlichen Verfahrens sich ergebende Rechtssicherheit noch so begrenzt sein, sie entspricht in jedem Fall weitaus mehr den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots als eine hinter verschlossenen Türen ergehende Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Denn für die Entscheidungsbildung der Staatsanwaltschaft gibt es keinerlei vergleichbare verfahrensmäßigen Vorkehrungen. Es gibt keine Öffentlichkeit und kaum verfahrensrechtlich abgesicherte Beteiligungsrechte des Betroffenen2s ; es gibt keine Pflicht zur schriftlichen Begründung und keine Veröffentlichung der Entscheidungen; an die Stelle einer institutionalisierten Diskussion treten Weisungen der vorgesetzten Behörde. Kurz: es gibt überhaupt kein Verfahren. Damit gibt es aber auch keinerlei Einflußmöglichkeiten für die Rechtswissenschaft oder für eine kritische Öffentlichkeit. Für die Anwendung des § 153 a bedeutet das: sie wird nie in der Weise überprüft und diskutiert, wie das bei einem Durchlaufen durch den Instanzenzug geschieht. "Was - infolge der Einstellung (sc. nach § 153 a) - aus dem Gesichtsfeld des erkennenden Gerichts verschwindet, scheidet weitgehend auch aus dem Gesichtsfeld des wissenschaftlichen Forschers aus24 ." Daß es kein staatsanwaltschaftliches Verfahren gibt, ist im Normalfall kein sinnvoller Vorwurf, weil die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ja nur Teil des Gerichtsverfahrens ist, damit an dessen Garantien teilnimmt und im übrigen nur der Vorbereitung gerichtlicher Entscheidungen dienen so1l25. Als Mangel kann das erst empfunden werden, wenn Entscheidungen der Staatsanwaltschaft aus diesem Zusammenhang herausgenommen und verselbständigt werden, indem ihr so weitgehende Befugnisse wie die durch § 153 a vermittelten anvertraut werden26 . 23 Bezeichnend ist, daß die erst 1964 eingeführte Beteiligung des Beschuldigten an der staatsanwaltschaftlichen Entschließung über die Anklageerhebung in Form des Schlußgehörs (§§ 169 a - c StPO a. F.) durch das 1. StVRG "im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens" wieder abgeschafft worden ist. 24 Arzt, JuS 1974, 695. Vgl. auch Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 134, der, obwohl Befürworter des § 153 a, diesen Sachverhalt einräumt, allerdings als Ausweg nur auf eine "möglichst große Konkretisierung des Anwendungsbereichs des § 153 a StPO durch die bundeseinheitlichen Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren" verweist. 2S Vgl. u. § 14, 2. 26 Diese Aussagen stehen nicht im Widerspruch zu der oben getroffenen
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
b) Gewährleistung gleichmäßiger Rechtsanwendung
Als weiteres Ziel des Bestimmtheitsgrundsatzes wird die Gewährleistung gleicher Rechtsanwendung genannt 27 • Auch sie, die ja ebenfalls als ein Aspekt der Rechtssicherheit verstanden werden kann, ist nach liberal-rechtsstaatlichen Vorstellungen durch die Allgemeinheit des Gesetzes und strikte richterliche Gesetzesbindung am besten gesichert. Je allgemeiner das Gesetz, desto weniger ist aber eine solche Bindung möglich. Das Verfahrensrecht trägt dem durch die Rechtsmittelzüge, durch die Anrufungs- und Vorlagepflichten und durch das System der gemeinsamen Einrichtungen (Große Senate, Vereinigte Senate) Rechnung. Gerade den Vorlagepflichten bei abweichenden Entscheidungen (§§ 121 Abs. 2, 136 GVG) und dem Anrufungsrecht bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 137 GVG) sind als Folge der Lockerung der Gesetzesbindung eine erhöhte Bedeutung zugewachsen28 • "Die Gerichtsverfassung ist an dieser Stelle augenfällig eine Konsequenz aus dem Zustand des materiellen Rechts", die "die zu weit geratenen Entscheidungsmöglichkeiten aus dem materiellen Recht korrigiert"29. Naucke, von dem diese Zitate stammen, interpretiert diese Vorschriften des GVG also ausdrücklich als einen verfahrensrechtlichen Ersatz für das, was das Bestimmtheitsgebot nicht mehr zu leisten vermag. Es braucht allerdings Zeit, bis auf diese Weise eine einheitliche Rechtsprechung durchgesetzt ist. Auch hier gilt, daß genaue Strafgesetze vorzuziehen sind (ohne indes diese Vorschriften des GVG überflüssig machen zu können), daß aber jedenfalls ein beträchtliches Maß an gleichmäßiger Rechtsanwendung durch das gerichtliche Verfahren gewährleistet wird. Feststellung, § 153 a begründe in gewisser Weise ein neues Rechtsgebiet mit eigenen Zuständigkeiten und einem eigenen Verfahren. Denn die Eigenständigkeit dieses Verfahrens ist sein weitgehender Mangel an "schützenden Formen" und das völlige Verschwimmen der Rollen der Verfahrensbeteiligten (vgl. dazu Naucke, Gutachten, D 28, der allerdings zurückhaltender in der Bewertung ist). Das ist eine weitere Folge der Fiktion, bei § 153 a handele es sich nur um eine Einstellung. Faktisch bilden sich typische Verfahrenssituationen heraus, so vor allem der "Handel" zwischen dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger einerseits und dem Staatsanwalt auf der anderen Seite, so daß es zu ähnlichen Erscheinungsformen wie beim amerikanischen plea bargaining kommen dürfte (zu den typischen, aber nicht rechtlich geregelten Verfahrenssituationen beim plea bargaining vgl. Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, Teil 11). Bemerkenswert ist, daß in den USA derzeit alle Reformbemühungen dahin gehen, das plea bargaining, soweit man nicht auf seine gänzliche Abschaffung dringt, wenigstens in ein formalisiertes Verfahren zu überführen (vgl. dazu Rosett / Cressey, Justice by consent, S. 161 ff.; Rotenberg, The Progress of Plea Bargaining). 27 Vgl. die Nachw. in § 9 Anm. 31. 28 Naucke, Strafrecht, S. 153. Vgl. auch Art. 95 Abs. 3 GG und das dazu ergangene Gesetz v. 19.6. 1968 (BGBl. I, 661). 29 Naucke, a.a.O.
§
10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 175
Auch hier fehlen vergleichbare Vorkehrungen für staatsanwaltschaftliche Entscheidungen. Zwar gibt es die Möglichkeit, durch Richtlinien die Staatsanwaltschaft zu einer einheitlichen Normanwendung zu verpflichten. Diese Richtlinien ergehen aber auf unterschiedlichen Ebenen der staatsanwaltschaftlichen Hierarchie (Hausverfügungen des Leiters einer Amtsanwaltschaft oder einer Staatsanwaltschaft beim Landgericht; Richtlinien, Runderlasse usw. der Generalstaatsanwälte; Richtlinien, Runderlasse usw. der Landesjustizverwaltungen), und es steht nicht fest, auf welcher dieser Ebene es, wenn überhaupt, zu einheitlichen Richtlinien kommt. Bei rechtspolitisch kontroversen Fragen, und das sind praktisch alle, die sich nicht, wie etwa die Richtlinien für das Strafverfahren, in der Regelung mehr formeller und Verfahrensfragen erschöpfen, kommt es kaum zu einer Einigung über die Ländergrenzen hinweg. Von den weitergehenden Bedenken gegen die Qualität einer Rechtsvereinheitlichung, bei der Richtlinien der Exekutive an die Stelle der höchstrichterlichen Rechtsprechung treten (und von den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Problemen), soll an dieser Stelle noch nicht die Rede sein3o • c) Schutz vor Willkür Als nächstes ist auf das Bestimmtheitsgebot als Schutz vor Willkürund Opportunitätsentscheidungen31 einzugehen. Nach den dem Bestimmtheitsgebot zugrundeliegenden Vorstellungen war eine sachgerechte Entscheidung bereits mit einer gleichmäßigen Rechtsanwendung gegeben, denn diese sollte ja das Ergebnis strikter Gesetzesbindung des Richters sein. Strikte Gesetzesbindung hatte aber nach diesen Vorstellungen zur Folge, daß sich die dem allgemeinen Gesetz innewohnende Vernunft auf die Entscheidung des Einzelfalls übertrug. Die Garantie für die Vernünftigkeit des allgemeinen Gesetzes sollte in der Weise seines Entstehens liegen: im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, d. h. im parlamentarischen Diskussionsprozeß mit seinen Absicherungen, und in der Legitimation und Qualifikation der Parlamentsmitglieder32 • Dementsprechend sollten ursprünglich die Garantien für ein objektives gerichtliches Verfahren, insbesondere die richterliche Unabhängigkeit, neben der Ermöglichung einer einwandfreien TatsachenfestVgl. dazu u. § 11, 3. Vgl. die Nachw. in § 9 Anm. 32. 32 Zum ursprünglichen, auf Wahrheit und Vernunft zielenden Sinn des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens vgl. Kübler, Festschr. Raiser, S. 701; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 15, der diesen Anspruch des Gesetzgebungsverfahrens allerdings negiert, und Kriele, Staatslehre, S. 165 ff., der ihn relativiert und damit auf eine tragfähige Grundlage stellt. 30
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
stellung nur der Absicherung der Gesetzesbindung dienen, sollten also verhindern, daß der Richter aufgrund von äußeren Einflüssen vom Gesetz abwich 33 • Die entsprechende "innere" Absicherung war die Beschränkung der Rechtsfindung auf eine rein formallogische Subsumtion. Mit der zunehmenden Einsicht, daß eine vollständige Determination der richterlichen Entscheidung durch das Gesetz nicht möglich ist, und mit der zunehmenden Neigung des Gesetzgebers, selbst diese Möglichkeiten nicht voll auszuschöpfen, muß der Schutz vor Willkür mehr umfassen als die Sicherung eines ungestörten übertragungsvorganges vom Gesetz auf die Einzelentscheidung, dessen Richtigkeit sich allein der korrekten Anwendung einer Methode verdankt. Zugespitzt läßt sich das So darstellen: Die Diskussion im Gesetzgebungsverfahren bleibt zum einen notwendig unvollständig, weil eine adäquate Voraussicht aller möglichen Anwendungsfälle einer Regelung nicht möglich ist. Darüber hinaus wird diese Diskussion in vielen Fällen sogar bewußt nicht zu Ende geführt, sei es, weil man sich in den Gesetzgebungskörperschaften hierzu außerstande sieht, sei es, weil sich nur für unbestimmte KompromißformeIn Mehrheiten finden lassen. Wenn aber im Gesetzgebungsverfahren zwangsläufig oder, um Kompromisse zu ermöglichen, so vieles offen bleibt, dann muß die dort nicht zu Ende geführte Diskussion in der Rechtsanwendung fortgesetzt und die Vernunft des Gesetzes in jedem Einzelfall neu gefunden werden. Von allen rechtsstaatlichen Rechtsanwendungsverfahren ist aber, jedenfalls für das Strafrecht, letztlich nur das gerichtliche Verfahren in der Lage, auch unter solchen Umständen zu sachgerechten, nicht willkürlichen Entscheidungen zu führen. Die oben unter dem Aspekt der "Transparenz" zusammengefaßten Strukturmerkmale des gerichtlichen Verfahrens sind zugleich Faktoren, die Objektivität im Entscheidungsbereich zwar nicht gewährleisten können - das vermögen keinerlei institutionelle Vorkehrungen -, die aber doch grundlegende Voraussetzungen dafür schaffen. Soweit das gerichtliche Verfahren eine Diskussion eröffnet, eröffnet es im Falle unbestimmter Normen auch die Chance, die im Gesetzgebungsverfahren abgebrochene Diskussion weiterzuführen, und kanalisiert diese zugleich, d. h. hält sie in dem Rahmen, der auch bei unbestimmten Normen immer noch durch den Gesetzgeber abgesteckt ist, so daß sie nicht in eine völlig offene rechtspolitische Diskussion einmündet. Was sich als Vorkehrungen für die Rationalität dieser Diskussion gezeigt hat (die Verfahrensvorschriften über den Weg der Überzeugungsbildung, rechtliches Gehör usw. und die Begründungsanforde33 über den Zusammenhang von Gesetzesbindung und richterlicher Unabhängigkeit vgl. Eich enb erger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 95 ff.; Simon, Unabhängigkeit des Richters, S. 68; Rinken, Einführung, S. 155.
§ 10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 177
rungen), sind zugleich auch Vorkehrungen für die Rationalität der Entscheidung selbst. Hinzuweisen ist hier noch auf zwei Gesichtspunkte: Durch die Beweisführungspflicht, die sich im Strafprozeß zum Grundsatz in dubio pro reo verschärft, den Unmittelbarkeitsgrundsatz und den Begründungszwang hinsichtlich der Entscheidungen wird festgelegt, was als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden darf, und es werden informelle Einflußnahmen dadurch zumindest erschwertS'. Das Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verhindert ferner weitgehend, daß "das Mitglied eines Richterkollegiums einem Urteil zustimmt, ohne dessen Inhalt und Voraussetzungen zu kennen"36, wie dies bei einer bloßen Zustimmung des Richters ohne seine Verfahrensbeteiligung zu zuvor vom Staatsanwalt getroffenen Entscheidungen mehr als nahe liegt. Der Sicherung einer objektiven Entscheidung dient aber vor allem auch die richterliche Unabhängigkeit, die dafür Sorge trägt, daß nur aus dem Recht abgeleitete Gesichtspunkte und nicht administrative Zweckmäßigkeits- und Effektivitätserwägungen die Gesetzesauslegung steuern. Eine weitere Garantie für die Neutralität des Richters und zugleich ein Element, das die durch die Unabhängigkeit verliehene Macht begrenzt, ist seine Passivität: Der Richter hat kein Initiativrecht zur Einleitung eines Verfahrens, sondern darf im Falle des Strafrechts erst auf Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft tätig werden 36 . Ebenfalls der Gewährleistung richterlicher Neutralität dient die Möglichkeit, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Genaue Gesetze erreichen den Schutz vor Willkür, indem sie den Spielraum für richterliche Auslegung und damit die Möglichkeit des Einfließens von nicht sachgerechten Erwägungen möglichst gering halten37 • Läßt das Gesetz aber einen größeren Entscheidungsspielraum, so sind durch die Stellung des Richters und den Verfahrensgang eine beträchtliche Anzahl von Sicherungen für eine rechtstreue Entscheidung gegeben. Entsprechendes findet sich bei der Staatsanwaltschaft nicht. Deren Entscheidungsstrukturen sind nicht dazu angelegt, Diskussionsforen für ein Weiterdenken unbestimmter Normen abzugeben. Es gibt keinerlei verfahrensrechtliche Vorgaben über den Weg der Entscheidungsfindung. An die Stelle der richterlichen Unabhängigkeit tritt 34 Vgl. dazu NoH, Gesetzgebungslehre, S. 45 ff., der diese organisatorischen Maßnahmen den schrankenlosen informellen Einflußmöglichkeiten auf das Gesetzgebungsverfahren gegenüberstellt. 35 NoH, S. 49, der dies wiederum als Gegensatz zu den Zustimmungsmöglichkeiten von Mitgliedern gesetzgebender Gremien hervorhebt. 38 Zur Passivität des Richters vgl. Bettermann, Staatslexikon, Sp. 1715. 37 Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Genauigkeit, die sich häufig nur durch kasuistische Regelungen erreichen läßt, oft selbst als Willkür empfunden werden kann, weil sie zu ungereimten Besser- oder Schlechter-
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
WeisungsgebundenheitS8 • Bei Entscheidungen nach § 153 a fallen Initiativrecht und Entscheidungsbefugnis zusammen. Es fehlt an den Rechtsmittelzügen vergleichbaren Kontrollmöglichkeiten. Eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit findet nicht statt. Auch hier gilt, daß das nur so lange unbedenklich bleibt, wie die Staatsanwaltschaft lediglich innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens als ein Verfahrensbeteiligter tätig wird. d) Schutz der Freiheit des Bürgers durch den "fragmentarischen Charakter" des Strafrechts SD
Es ist schon deutlich geworden, daß die behandelten Ziele des Bestimmtheitsgebotes eng miteinander zusammenhängen, oft nur eine Aspektverschiebung sind. So ist auch der Schutz der Freiheit des Bürgers einerseits gewissermaßen das Generalthema des Bestimmtheitsgebots, zu dem auch die Unterziele Rechtssicherheit, gleichmäßige Rechtsanwendung und Schutz vor Willkür beisteuern, andererseits wird der Freiheitsschutz unter dem Gesichtspunkt des fragmentarischen Charakters des Strafrechts als Schutz vor ungehemmten staatlichem Zugriff noch einmal besonders akzentuiert und herausgehoben. Art. 103 Abs. 2 GG ist die strafrechtliche Variante des Gesetzesvorbehalts40 • Weil das Strafrecht die schärfsten Eingriffe in die RechtssteIlung des Bürgers ermöglicht, werden hier mit der Tatbestandsgebundenheit die strengsten Anforderungen gestellt, den staatlichen Eingriffsmöglichkeiten die engsten Grenzen gezogen41 • Das Bestimmtheitsgebot läßt sich daher als Magna Charta nicht so sehr des Verbrechens, als vielmehr des Bürgers vor den einschneidendsten Zugriffsmöglichkeiten des Staates verstehen 42 • Hier bietet auch das Rechtsprechungsverfahren wenig, was als Ersatz oder funktionales Äquivalent für genaue Tatbestände angesehen werden könnte. Denkbar. wäre dies nur in Form einer grundsätzlich stellungen führt (man erinnere sich nur an die unterschiedliche Behandlung des Diebstahls von und aus Kraftfahrzeugen nach § 243 StGB a. F.). Vgl. dazu Maiwald, Festschr. Gallas, S. 139 und die dort gegebenen Nachw. 38 Daß die praktische Bedeutung des Weisungsrechts nicht so gering ist, wie es manche Autoren hinstellen möchten (vgl. etwa Kissels, Zukunft der Justiz, S. 115), zeigt der Fall der Frankfurter Oberstaatsanwältin Adelheid Werner und ihrer Dezernatskollegen, deren angeblich nicht weisungsgemäßes Verhalten in einem Fall von politischer Brisanz immerhin zu ihrer Versetzung und zur Versetzung aller mit der Ermittlung des betreffenden Falles beschäftigter Dezernatsmitglieder geführt hat (Bericht der FR v. 29.6.1977). 3D Vgl. die Nachw. in § 9 Anm. 33. 40 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 193, m. w. Nachw.; Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 38 m. w. Nachw. 41 Schröder, Gesetz und Richter, S. 16 f.; Tiedemann, a.a.O. 42 Naucke, Strafrecht, S. 79, 81.
§ 10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 179
restriktiven Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen. In der Tat wird dies als eine Art Gegensteuern durch die Rechtsprechung zur Eindämmung der Generalklauseln im Strafrecht bisweilen empfohlen 4s • Die Tendenz in Rechtsprechung und Wissenschaft geht allerdings häufig eher auf "Lückenschließung" und damit auf extensive Auslegung44 • Entscheidend dabei ist, daß sich die Art und Weise, wie auszulegen sei, nicht mit Aussicht auf Erfolg institutionell und durch Verfahrensregeln absichern läßt. Denn dies könnte nur in Form der Normierung von Auslegungsregeln geschehen45 • Damit wäre aber wenig gewonnen, sondern nur der Methodenstreit noch zusätzlich auf die solche Regeln festsetzenden Normen konzentriert, so daß es bei unserem Problem nur zu einer Kontroverse um die Kriterien für restriktive Auslegung käme und im Schutze dieser Kontroverse der Auslegungsspielraum kaum verändert wäre. Trotz dieses Sachverhalts ist für die Wahrung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts das Rechtsprechungsverfahren der staatsanwaltschaftlichen Normkonkretisierung noch immer vorzuziehen, weil die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens wenigstens die Chance bietet, daß Stimmen, die auf eine restriktive Auslegung drängen, zu Gehör kommen können. 2. Verfahren und Gewaltenteilung
Indem der Bestimmtheitsgrundsatz durch strikte Gesetzesbindung richterliche Rechtssetzung abschneidet, verbürgt er zugleich die Einhaltung des Gewaltenteilungsprinzips, so daß er staatsrechtlich gesehen als Ausfluß des Gewaltenteilungsprinzips aufzufassen ist46 • Zur Legitimation der in unbestimmten Normen liegenden Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips genügt daher nicht der allgemeine Hinweis, daß das Grundgesetz die Gewaltentrennung nicht streng durchführe47 • Auch wenn dies zutrifft, so bleibt immer noch die Aufgabe nachzuweisen, warum im konkreten Fall die Durchbrechung der Gewaltenteilung unbedenklich ist. Dieser Nachweis ist nicht schon 43 So vor allem Naucke, Generalklauseln, S. 21 ff.; ähnlich Lenckner, JuS 1968, 308 ff.; für die Merkmale "verwerflich" in § 240 Abs. 2 StGB und "gute Sitten" in § 226 a StGB Roxin, JuS 1964, 373 ff. U Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 19 ff., mit einer Reihe von Beispielen. 4~ Zum Problem gesetzlicher Auslegungsregeln vgl. Engisch, Einführung, S. 93 f. 48 Geerds, Festschr. Engisch, S. 411; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S.183. 47 So aber MoTitz, RdA 1977, 201; Kruse, Richterrecht, S. 14 f.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
dann geführt, wenn man die unbestimmten Normen als bewußte gesetzgeberische Delegation auffaßt und daraus auf deren Zulässigkeit schließt48 ; denn darin mag vielleicht eine Legitimation für das Organ liegen, dem neue Kompetenzen auf diese Weise zugespielt werden, nicht aber für dasjenige, das Kompetenzen aufgibt. Auch die Kernbereichstheorie49 hilft zur Abgrenzung wenig, denn sie läßt die Frage offen, ob die Abgabe von Kompetenzen an bestimmte Voraussetzungen beim Empfänger dieser Kompetenzen geknüpft sein kann oder muß. Entscheidend kann daher nur sein, inwieweit die übertragung von Normsetzungsbefugnissen durch unbestimmte Normen die Ziele des Gewaltenteilungsprinzips in Frage stellt. a) Freiheitssicherung durch Machthemmung
Ziel der Gewaltenteilung ist nach herrschender Auffassung die Sicherung der individuellen Freiheit vor der Bedrohung durch die Staatsgewalt dadurch, daß diese auf verschiedene Funktionsträger verteilt wird, die sich gegenseitig hemmen und kontrollieren50• Auch hier kann die Rechtsprechung mit gewissen funktionalen Äquivalenten aufwarten. Die Kompetenzaufteilung zwischen Staatsanwalt und Richter: Initiativrecht des Staatsanwalts ohne Sanktionskompetenz versus richterliche Passivität stellt eine Art Gewaltenteilung innerhalb der Justiz dar. Die Kontrolle durch die Rechtsmittelzüge schränkt die richterliche Macht erheblich ein. Das letztinstanzliche Gericht unterliegt zwar seinerseits keiner direkten Kontrolle, kann aber nur in beschränktem Umfang in der Sache selbst entscheiden51 • Elemente der Machthemmung und Kontrolle stellen auch die im Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot beschriebenen Einbindungen richterlichen Handeins in die strengen Vorgaben des Verfahrensrechts mit seinen vielfältigen Garantien und Absicherungen dar, wovon hier nur noch einmal die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten, die ja auch Kontrollrechte enthalten, der vorgeschriebene Weg der 48 Anders Moritz, a.a.O.: "Solange die Legislative also bewußt Kompetenzen abgibt oder Kompetenzusurpationen duldet, läßt die Verfassung das zu." Ähnlich H. P. Schneider, DÖV 1975, 450: "Wählt er (sc. der Gesetzgeber) eine weite Formulierung (sc. des Gesetzes), so liegt darin zugleich ein Stück legitimer Delegation von Rechtserzeugungskompetenzen an den Richter. Ähnlich auch Ipsen, Richterrecht, S. 63 ff. m. w. Nachw. 49 Dazu Kruse, Richterrecht, S. 14, der den Kernbereich der Legislative durch Generalklauseln usw. unangetastet sieht, weil die dem Richter dadurch offen gelassenen Stücke der Gesetzgebung nicht sehr ins Gewicht fielen. 50 BVerfGE 3, 225 ff. (247); 9, 268 ff. (279); 22, 106 ff. (111), st. Rspr.; für die Literatur vgl. nur A. Arndt, Festgabe C. Schmidt, S. 10 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 Rdnr. 78 (Anm. 111). 51 Vgl. für das Strafverfahren § 354. U
§ 10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 181
Wahrheitsermittlung und die Begründungspflichten für die Entscheidungen erwähnt sein sollen52 . Als Instrument seiner (informellen) Kontrolle und Machthemmung sind aber auch die verschiedenen Formen der Öffentlichkeit des Rechtsprechungsverfahrens anzusehen. Schließlich ist Machtmißbrauch auch aus einem inneren Strukturmerkmal der Rechtsprechung bei dieser noch am wenigsten zu befürchten. Die Dritte Gewalt stellt als solche kein organisatorisch geschlossenes Machtzentrum dar wie etwa die Exekutive. Ihre politische Bedeutung beruht daher "auf der Teilhabe an der Autorität des Rechts"53. Löst sich die Rechtsprechung aus der Bindung an das Recht, so verliert sie an Bedeutung und Einflußmöglichkeiten, so daß also der Mißbrauch der Einwirkungsmöglichkeiten zum Verlust oder wenigstens zur Einschränkung eben dieser Einwirkungsmöglichkeiten führt 54 . Entsprechende Kontrollmechanismen innerhalb der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsstrukturen fehlen. Die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ist weder das Ergebnis eines Verfahrens, noch ist eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit möglich. Die justizinterne Gewaltenteilung ist durch die Zusammenfassung von Initiativrecht und Sanktionskompetenz beim Staatsanwalt aufgehoben. b) Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung
In der neueren Staatsrechtslehre setzt sich immer mehr die Auffassung durch, daß das Gewaltenteilungsprinzip nicht allein der Freiheitssicherung diene, sondern auch als Gewähr für sachgerechte Wahrnehmung der Staatsfunktionen zu verstehen sei. Aus Art. 20 Abs. 2 GG ergibt sich demnach auch das Verbot, einem Staatsorgan Funktionen. zuzuweisen, die es seiner Struktur nach nicht angemessen wahrnehmen kann55 • Daher ist zu prüfen, inwieweit sowohl das Rechtsprechungsverfahren wie auch der Vorgang der Normkonkretisierung durch die Staatsanwaltschaft sich für rechtserzeugende Funktionen, wie sie mit der Anwendung unbestimmter Normen verbunden sind, eignen. Es besteht kaum ein Zweifel, daß die Rechtsprechung generell nicht in gleicher Weise zur Rechtserzeugung in der Lage ist wie ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren. Dafür sind hauptsächlich zwei Gründe maßgeblich. 62
Zur Begrenzung richterlicher Macht durch das Verfahrensrecht vgl. auch
BaUT, Summum ius, summa iniuria, S. 97 ff., insbes. 105 ff. ss LOTenz, Rechtsschutz, S. 188.
a.a.O. Hesse, Verfassungsrecht, S. 199; lpsen, Richterrecht, S. 133 ff. m. w. Nachw. 54
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Die Rechtsprechung geht vom Einzelfall aus. Vom Einzelfall oder auch von einer Mehrzahl von Einzelfällen läßt sich nicht beliebig weit abstrahieren und d. h. auch, nicht in dem Maße, das erforderlich, um ganze Lebensbereiche durchzunormieren, wenn dort noch keine Normvorgaben bestehen58 • Dem Richter fehlen weiter die für generelle Normen erforderlichen Erkenntnismittel. Die für die Gesetzgebung zuständigen Organe können sich durch öffentliche Anhörungen, Einsetzen von Sachverständigenund Enquete-Kommissionen und durch die Vorarbeit der Referenten eine breite Informationsbasis über "generelle Tatsachen" (sogenannte legislative facts) verschaffen 57 • Das richterliche Beweisverfahren ist dagegen auf den Einzelfall zugeschnitten, d. h. in erster Linie auf die Feststellung von Einzeltatsachen. Im Revisionsverfahren, dem für die richterliche Rechtserzeugung wohl wichtigsten Verfahren, sind überhaupt keine prozessualen Möglichkeiten vorgesehen, Kenntnisse von generellen Tatsachen durch Beweisaufnahme zu erlangen58• Aus dieser Einzelfallbezogenheit und begrenzten Generalisierbarkeit, aber auch aus der Möglichkeit widersprüchlicher Entscheidungen und der oft beträchtlichen Zeitspanne bis zur Herstellung einer einheitlichen Rechtsprechung ergibt sich, daß die richterliche Rechtserzeugung nicht im selben Umfange rechtsstaatliche Kontinuität, Stabilität und Rationalität erreichen kann wie die Gesetzgebung mit generell-abstrakten Normen58 • Andererseits ist das Rechtsprechungsverfahren nicht generell ungeeignet zur Rechtserzeugung. Das ergibt sich schon daraus, daß der gerichtliche Prozeß das Vorbild für den politischen Prozeß der parlamentarischen Gesetzgebung war60• Das Gesetzgebungsverfahren bietet keine dem gerichtlichen Verfahren vergleichbare "Wahrheitsgarantien" für die Entscheidungsgrundlagen. So gibt es keine Beweisführungspflicht hinsichtlich bestrittener Tatsachen und keine Begründungspflicht hinsichtlich der gesetzgeberischen Entscheidung61 • NoH schlägt daher sogar vor, zur Versachlichung der Gesetzgebung vermehrt die Wahrheitsgarantien des richterlichen Verfahrens für das Gesetzgebungsverfahren zu übernehmen'2. 6&
57
Ipsen, S. 148.
Zu den Erkenntnismitteln im Gesetzgebungsverfahren vgl. Ipsen,
S. 144 f.
Ipsen, S. 150. Eine Ausnahme bildet das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGG. 59 NoH, Gesetzgebungslehre, S. 19, 57; Schneider, DÖV 1975, 447; Starck, VVDStRL 34, 69. 80 Kriele, Staatslehre, S. 106. 81 Noll, Gesetzgebungslehre, S. 46. 58
§ 26
§
10. Bestimmtheitsgebot, Gewaltenteilung und Normkonkretisierung 183
Die Bezogenheit auf den Einzelfall führt zu größerer Sachnähe. Was ganz generellen Regelungen durch die Rechtsprechung Grenzen setzt, ist für die Rechtsetzung geringerer Abstraktionshöhe ein Vorteil. Die Kenntnis der möglichen konkreten Auswirkungen einer Rechtsnorm, wie sie sich anhand von Einzelfällen darstellt, macht die Rechtsprechung besonders geeignet, dort, wo der Gesetzgeber nur allgemeine Grundlinien vorgezeichnet hat, Regeln aufzustellen, Grundsätze herauszubilden, zu differenzieren und zu präzisieren83 • Rechtsprechung ist also ein geeignetes Verfahren zur Rechtserzeugung geringerer Allgemeinheit, wenn Grundlinien für die Regelung vorgegeben sind. Sie ist damit das gegebene Verfahren zur Ausfüllung unbestimmter Normen". Da unbestimmte Normen, wie sich gezeigt hat, nicht von vornherein als unzulässig und als "Versagen des Gesetzgebers" qualifiziert werden können, liegt hier in vielen Fällen ein Feld legitimer Arbeitsteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung vor85 • Der Qualität solcher über die angemessene Lösung des Einzelfalls hinausgehenden Entscheidungen kommen die beschriebenen verfahrensmäßigen Vorkehrungen, die zu einem zutreffenden Erfassen der Einzelfallkonstellation führen, und die Transparenz des Verfahrens, seine Öffentlichkeit und seine Einbindung in einen Diskussionsprozeß zugute. Denn auch und erst recht die allgemeine Regeln beinhaltenden Teile von Rechtsprechungsentscheidungen müssen sich den Rationalitätsanforderungen stellen, sind diskussions- und kontrollbedürftig und bedürfen des Schutzes vor unzulässigen Einflußnahmen. Da bei dieser Form der Rechtserzeugung ständig rechtspolitische Entscheidungen zu treffen sind, wenn auch mit einem im Verhältnis zum Gesetzgeber' eingeschränkten Entscheidungsspielraum und mit mehr Vorgaben und Bindungen, da somit, wie bereits bei der Frage des Willkürschutzes dargestellt, die im Gesetzgebungsverfahren geführte Diskussion auf einer konkreteren Ebene wieder aufgegriffen werden muß, ist die Öffentlichkeit des Verfahrens für diese Rechtsprechungsaufgaben nicht weniger wesentlich als für das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren. Umgekehrt schließt das Fehlen eines vergleichbaren Verfahrens oder auch nur einzelner Elemente daraus und das Fehlen einer entsprechenden Stellung des Entscheidungsorgans die Eignung der Staatsanwaltschaft zur Rechtserzeugung auf dieser Ebene aus. 82 a.a.O., S. 54, 95. Gewisse Ansätze dazu sieht er bereits gegeben, vgl. a.a.O., S. 55. 83 Vgl. Ipsen, Richterrecht, S. 147 f.
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Ipsen, S. 147.
Zu diesem arbeitsteiligen Zusammenwirken vgl. auch o. § 8, 2. und NoH, Gesetzgebungslehre, S. 48; Schneider, DÖV 1975, 447, 452; Badura, Sozialgerichtstag, S. 54 f. 85
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
3. Ergebnis
Ein erstes Fazit ergibt: Das Rechtsprechungsverfahren bietet zwar keine vollwertigen funktionalen Äquivalente für genaue Strafgesetze. Es trifft aber durch die richterliche Unabhängigkeit und durch Vorschriften über den Ablauf des Verfahrens und der Entscheidungsfindung eine Reihe institutioneller Vorkehrungen, die eine gewisse Annäherung sowohl an die Ziele des Bestimmtheitsgebots wie des Gewaltenteilungsprinzips ermöglichen. Dagegen ist der Entscheidungsvorgang bei der Staatsanwaltschaft weder von der Organstruktur her noch verfahrensmäßig in gleicher Weise abgesichert. Staatsanwaltschaftliche Entscheidungen werden nicht in einem besonderen Verfahren getroffen; die Staatsanwaltschaft ist ihrer Konzeption nach dazu bestimmt, im gerichtlichen Verfahren mitzuwirken, nicht aber, dieses zu ersetzen. Daraus folgt: Wenn es bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich ist, daß sich der Gesetzgeber im Strafrecht durch unbestimmte Gesetze eines Teils seiner Rechtsetzungsbefugnisse begibt, so steht es ihm nicht frei, an wen er diese Befugnisse weitergibt. Aus welchen Gründen im einzelnen auch immer der Gesetzgeber zu so weiten Tatbestandsfassungen gelangt ist, daß unter denselben Tatbestand Handlungen an der Grenze der Strafwürdigkeit und schwerwiegende Verhaltensweisen fallen können, jedenfalls darf er sein Ermessen darüber, wie schwerwiegend ein Verhalten einzustufen ist, nur an eine Instanz weitergeben: an den Richter. Nur der Richter ist befugt, die Differenzierungen vorzunehmen, die der Gesetzgeber durch das Nichteinführen Von engen Fassungen, Privilegierungen, Qualifizierungen usw. unterlassen hat. Wenn wir heute aus den beschriebenen Gründen in dem Richter mehr sehen als "la bouche de la loi", dann ermöglicht das zwar dem Gesetzgeber eine solche Verhaltensweise, nämlich nach der Konzeption vom gewaltenteilenden Staat zunächst ihm zukommende Verantwortung teilweise an die Dritte Gewalt zu delegieren, aber er muß sich dabei auch auf die Dritte Gewalt beschränken. Denn nur bei der Rechtsprechung sind institutionelle Vorkehrungen getroffen, die die Einbuße an gesetzlicher Bestimmtheit bis zu einem bestimmten Grad ausgleichen und so den Bestimmtheitsgrundsatz nicht gänzlich zur Wirkungslosigkeit verurteilen. Nur bei der Rechtsprechung wird die im Rückzug des Gesetzgebers liegende Beeinträchtigung der Gewaltenteilung durch die rechtsprechungsinternen Kontrollmechanismen und Machthemmnisse einigermaßen aufgefangen. Die fehlenden Differenzierungen, Abstufungen, Fallgruppen usw. zu entwickeln ist dann allein Aufgabe der Rechtsprechung, nicht der Staatsanwaltschaft. Daraus folgt: Regelungsbefugnisse, wie sie sich aus der Unbestimmtheit des
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§ 153 a ergeben, dürfen nur auf die Rechtsprechung übertragen werden. Die von § 153 a begründete Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft verstößt daher sowohl gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG wie gegen das Gewaltenteilungsprinzip. 4. Einwände und Konsequenzen
a) Sinnverkehrung des Bestimmtheitsgebotes? Gegen die vorstehend begründete Möglichkeit einer, wenn auch nur partiellen Verlagerung der Anforderungen von Bestimmtheitsgebot und Gewaltenteilung auf das Verfahren der Normkonkretisierung lassen sich jedoch einige nicht leichtzunehmende Einwände vorbringen, Einwände, an denen sich zugleich das bisher gefundene Ergebnis weiter präzisieren läßt. Wird damit nicht der Sinn des Bestimmtheitsgebotes geradezu auf den Kopf gestellt? Das Bestimmtheitsgebot sollte ja neben der Selbstbeschränkung66 des Gesetzgebers gerade der Eindämmung der im Strafrecht besonders fühlbaren richterlichen Macht und der Möglichkeiten des Mißbrauchs bei der Rechtsanwendung dienen. Wie kann damit vereinbar sein, daß die Institution, die durch den Bestimmtheitsgrundsatz gebunden werden sollte, auf einmal selbst zumindest teilweise die Garantie für die Einhaltung der mit der Bindung verfolgten Ziele übernehmen soll? Wird damit nicht dem Gesetzgeber ein Freibriefausgestellt, sich seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Formulierung genauer Strafgesetze und zur Wahrung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts zu entziehen, vorausgesetzt, er hält sich nur an eine Grundregel, nämlich die Normkonkretisierung allein der Rechtsprechung zu überlassen. Die richterliche Unabhängigkeit soll ihrem ursprünglichen Sinne nach, indem sie den Richter frei von ungesetzlichen Einflüssen macht, die Herrschaft des Gesetzes sichern. Wird mit der Lockerung der Gesetzesbindung nicht auch der Sinn der Unabhängigkeit in Frage gestellt? Ist es nicht ein Widerspruch, einerseits auch für die Straftatfolgen auf eine strengere Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes zu 88 Damit ist folgendes gemeint: Indem der Gesetzgeber genaue Grenzen der Strafbarkeit festlegen muß, wird ihm immer der fragmentarische Charakter des Strafrechts vor Augen gehalten, sieht er sich ständig vor die Frage gesteIlt, ob er das Strafrecht wirklich nur als ultima ratio benutzt oder ob er schon zu weit gegangen ist. Im Grunde ist nur bei genauen Gesetzen feststellbar, ob der Gesetzgeber die ihm von der Verfassung vorgegebenen Grenzen für das Strafrecht, wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz usw. (vgl. dazu Ebert, JR 1978, 136 ff.) eingehalten hat. Daher zielt das Bestimmtheitsgebot also nicht nur auf eine Bindung des gesetzesanwendenden Richters, sondern auch des Gesetzgebers selbst.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
drängen, andererseits aber eine Konstruktion anzubieten, die unbestimmte Strafgesetze weitgehend zu rechtfertigen scheint? aal Das Rechtsprechungsverfahren als unübersteigbare Grenze für den Gesetzgeber Es wäre ein Mißverständnis, wenn aus den überlegungen zur Rolle des Verfahrens bei der Normkonkretisierung die generelle Unbedenklichkeit unbestimmter Strafnormen gefolgert wird. Es geht vor allem darum zu zeigen, was nicht sein darf, nämlich die übertragung von so weitgehenden Normkonkretisierungsbefugnissen, wie sie § 153 a verleiht, auf die Staatsanwaltschaft. Es geht nicht um eine Erweiterung der . Kompetenzen der Rechtsprechung, sondern um die Begrenzung derjenigen der Staatsanwaltschaft. Es geht darum, eine der letzten Bastionen, die dem Bestimmtheitsgebot noch geblieben sind und die der Gesetzgeber sich anschickt einzureißen, nämlich die Monopolisierung der Auslegung von Strafgesetzen bei der Rechtsprechung, zu verteidigen. Das Strafrecht ermöglicht die schärfsten Eingriffe des Staates in die Rechtsstellung des Bürgers. Hier sind daher die intensivsten Schutzvorkehrungen vor ungerechtfertigten staatlichen Zugriffen erforderlich. Das Grundgesetz trägt dem Rechnung, indem es vor jeden strafenden Eingriff zwei Barrieren gesetzt hat: den Gesetzesvorbehalt in der verschärften Form des Bestimmtheitsgebots und den Richtervorbehalt, der bei der Ahndung von Straftaten dem Richter nicht erst eine nachträgliche Kontrolle, sondern immer bereits das "erste Wort" zuweist. Die erste Barriere, der Bestimmtheitsgrundsatz, ist durch die Rechtsentwicklung weitgehend in Frage gestellt. Die Gründe dafür sind dargestellt worden. Sie sind teils vermeidbar, teils nicht. Soweit sie unvermeidbar sind, muß aber gelten: Wenn schon eine strikte Gesetzesbindung bei den Normen, die herkömmlich als hinreichend bestimmt angesehen werden, aus methodischen Gründen nicht möglich ist, wenn sich häufig die auftretenden Probleme bei der Fassung von Strafgesetzen nur durch die Anwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen lösen lassen und wenn es schließlich schon schwerfällt, auch nur die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots hinreichend klar festzulegen, wenn also sogar an der prinzipiellen Befolgbarkeit des Bestimmtheitsgebots Zweifel auftauchen können, dann läßt sich dem nicht allein mit der Forderung "Zurück zu bestimmten Gesetzen!" begegnen, dann wird die zweite Barriere, der Richtervorbehalt, um so wichtiger und muß Funktionen der ersten mit übernehmen. Die Konsequenz daraus müßte sein, nach Wegen zu suchen, wie die unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebotes relevanten Vorkehrungen des Rechtsprechungsverfahrens verbessert und ausgeweitet werden können,
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nicht aber, sie abzubauen und Kompetenzen zur inhaltlichen Ausfüllung von unbestimmten Strafnormen an dafür in keiner Weise ausgestattete Organe zu übertragen87 • Dieser Sachverhalt rechtfertigt Tiedemanns Feststellung: "Wohl aber ist das vom Grundgesetz neugeordnete Verhältnis von Richter, Gesetz und Gesetzesanwendung, wie es in Art. 19 Abs. 4, 92 GG zum Ausdruck kommt, auch für die Strafrechtspflege maßgeblich und führt mit der endgültigen Aufgabe eines Glaubens an die Allmacht und Mäßigung des Gesetzgebers zu einer gewissen Verlagerung der Rechtssicherheitsgarantie vom Gesetz auf den Richter8S ."
In eine ähnliche Richtung zielen die Argumente von Lang-Hinrichsen, wenn er für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Verwendung von unbestimmten Begriffen, Wertbegriffen und offenen Tatbeständen folgendes anführt": "Der Begriff der Gesetzesbestimmtheit hat eine gewisse Beweglichkeit erhalten und damit auch den Grundsatz der Gewaltenteilung modifiziert ... Die Gefahren, die hierdurch für die Rechtsstaatlichkeit erwachsen können, dürfen nicht überschätzt werden, wenn es sich darum handelt, daß der Richter an der Gestaltung des Gesetzeswillens mitwirkt. Nicht jeder Verschiebung der Trennungslinien zwischen den Gewalten kommt die gleiche Bedeutung für eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit zu. Werden die Schranken auf Kosten der Gesetllgebung oder Verwaltung zugunsten der unabhängigen Justiz erweitert, so ist das Risiko geringer, als wenn der Verwaltung auf Kosten der Gesetzgebung oder Justiz ein Machtzuwachs zuteil wird. Zutreffend hat Baur (JZ 1957, 196) darauf hingewiesen, daß dem Richteramt im Grundgesetz eine Monopolstellung einge-· räumt ist, wie es für die bei den anderen staatlichen Gewalten in dieser Prägnanz und Ausschließlichkeit nicht geschehen ist. Dann wird aber auch einer gewissen Kompetenzerweiterung der rechtsprechenden Gewalt kein grundsätzliches verfassungsrechtliches Bedenken im Wege stehen." 87 Für die Durchschlagskraft des Bestimmtheitsgebotes auf die Rechtsanwendung hätte das Verfahren selbst noch in einem den Idealvorstellungen der Aufklärung gemäßen Zustand absolut bestimmter Gesetze, die durch eine eigene Wertungen des Richters ausschließende Methodik in Einzelfallentscheidungen umgesetzt werden, Bedeutung, denn aus der Möglichkeit der strikten Gesetzesbindung ergibt sich noch nicht ihre Verwirklichung. Es bedürfte der Garantien für die Rechtstreue der Rechtsanwender. Dafür sind aber die institutionellen Vorkehrungen des gerichtlichen Verfahrens unerläßlich. Je weniger diesem Idealzustand völliger Determinierung des Richters durch das Gesetz entsprochen werden kann, desto wichtiger wird das Verfahren. Allgemein zur Sicherung der Rechtstreue der Richter Rheinstein, JuS 1974, 409 ff. 8S Tatbestandsfunktionen, S. 190 (Hervorhebung vom Verf.). Vgl. auch Schröder, Gutachten, S. 65: "Dieses nicht zu übersehende Minus an gesetzlicher Sicherheit und Zuverlässigkeit ist allerdings im Wege einer gegenläufigen Entwicklung zum Teil ausgeglichen worden durch ein Majus an Revisibilität, wie überhaupt der rechtsstaatliche Schutz des Individuums immer stärker von der Qualität der Revisionsgerichte abhängig wird." 69 Gutachten, S. 11 (Hervorhebung im Original).
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Wie weit die Rechtsprechung solchen Erwartungen zu entsprechen vermag, haben wir im einzelnen untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß zumindest bei keinem anderen Organ und in keinem anderen Verfahren der Normkonkretisierung eine vergleichbare Vorsorge für die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Willkürfreiheit getroffen wird. Das ist nicht weiter verwunderlich. "Auf die Normierung der richterlichen Instanz wurde in der ganzen Geschichte des Rechtsstaats größte rechtspolitische Sorgfalt verwendet, so daß man ohne Übertreibung sagen kann, daß der Rechtsstaat selbst mit dem Ausbau von Rechtsprechungsinstanzen sich entwickelte, wenn nicht sogar mit ihm identisch ist7°." Daraus folgt aber, daß nur bei der Rechtsprechung gesichert ist, daß aus der "gewissen Verlagerung der Rechtssicherheitsgarantien" nicht ihr gänzlicher Verlust wird. Die richterliche Unabhängigkeit wird dadurch nicht zum Hebel für unkontrollierbare Machtausübung, sondern ihre Bedeutung als Voraussetzung für die Neutralität des Richters ist dort, wo das Gesetz keine eindeutigen Anweisungen gibt, eher noch gewachsen. Denn diese Unabhängigkeit ist ja nicht identisch mit Ungebundenheit. Die vielfältigen Bindungen und Kontrollen durch das und im Verfahren sind ausführlich beschrieben worden. Bei der Ausfüllung unbestimmter Normen hat der Richter keine freie politische Gestaltungsbefugnis wie der Gesetzgeber, sondern ist gebunden an "Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 2 GG), was bei unbestimmten Gesetzen bedeutet, "an die im System des gesetzlichen und außergesetzlichen Rechts enthaltenen und getroffenen Entscheidungen und Interessenbewertungen"71. Die Ausfüllung unbestimmter Normen muß aus dem Systemzusammenhang des geltenden Rechts, insbesondere des Rechtsgebiets, dem die Norm angehört, erfolgen, und zwar im Wege einsehbarer und überprüfbarer Methoden juristischer Begründung, deren Einhaltung durch das Rechtsmittelverfahren kontrolliert wird72 . bb) Unterschiedliche Grade der Übereinstimmung mit Art. 103 Abs. 2 GG Als Folge der Schwierigkeiten, die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes genauer festzulegen, läßt sich in vielen Fällen von einer Strafrechtsnorm nur feststellen, ob sie dem Bestimmtheitsgebot mehr oder ob sie ihm weniger entspricht, ob sie als weitgehend bestimmt angesehen werden kann oder ob sie in die nicht geringe Zone des gerade noch mit Art. 103 Abs. 2 GG zu Vereinbarenden fällt, eine Situation, die dem Juristen allerdings auch in anderen Bereichen vertraut ist, 70
71
11
Noll, Gesetzgebungslehre, S. 54. Böckenförde, Richterwahl, S. 94. Böckenförde, S. 94 f. Vgl. auch Ipsen, Richterrecht, S. 55.
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wenngleich sie hier vielleicht besonders mißlich ist. Die Konkretisierung unbestimmter Normen durch das Rechtsprechungsverfahren führt zwar zu keiner vollen Einlösung der Anforderungen des Bestimmtheitsgebots; dieser Weg ist immer nur eine Lösung zweiter Wahl, und allein daraus, daß eine Norm durch die Rechtsprechung konkretisiert wird, wird noch nicht jeder Grad von Unbestimmtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Läßt der Gesetzgeber aber bei der Schaffung unbestimmter Normen auch noch die Garantien des Rechtsprechungsverfahrens, die Ersatzfunktionen für Bestimmtheit übernehmen können, entfallen, dann ist in jedem Falle die Grenze des Zulässigen überschritten und ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG gegeben. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Frage der Vereinbarkeit der unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten für die Bagatellkriminalität mit Art. 103 Abs. 2 GG, insbesondere für die Wahl einer materiellrechtlichen oder einer prozessualen Lösung. (1) Materiellrechtliche Lösung durch Einzeltatbestände So dürfte kein Zweifel bestehen, daß für den Bereich der massenhaften Bagatelldelikte eine materiellrechtliche Lösung in Form einer differenzierenden Vertatbestandlichung der einzelnen Delikte (mit Rechtsfolgen unterhalb der Kriminalstrafe) dem Bestimmtheitsgebot am besten entspricht. Wenn es sich um geringes Unrecht und geringe Schuld handelt, dann hat der Täter, soweit nicht auf eine Ahndung gänzlich verzichtet werden kann, Anspruch auf eine entsprechend geringe Sanktion. Das ergibt sich aus dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser Anspruch ist am besten abgesichert über differenzierende Tatbestände. Tatbestände geben (in Verbindung mit einem angemessenen Verfahren) die sicherste Gewähr für Gleichbehandlung und Schutz vor Willkür. Da es sich in Bagatellbereichen in erster Linie um typische, massenhaft auftretende Verstöße handelt, kann man die Forderungen nach Sicherungen einer angemessenen geringen Rechtsfolge über Tatbestände auch nicht mit der Begründung ablehnen, wegen zu unterschiedlicher, unvorhersehbarer Fallgestaltungen müßte durch weite Tatbestandsfassungen und weite Strafrahmen die Möglichkeit einer gerechten Individualisierung erhalten bleiben. Einem solchen Bedürfnis für die durch die einzelnen Bagatell~ tatbestände nicht zu erfassenden Fälle sollte Rechnung getragen wer· den durch einen zusätzlichen allgemeinen Strafmilderungsgrund, der etwa in einer übernahme des § 153 a in das materielle Recht bestehen könnte78 • Eine solche Lösung ist derzeit aber allem Anschein nach nicht 73 Dazu, daß wegen der entsprechend geringen Anzahl der in Frage kommenden Fälle auch die Unbestimmtheit einer solchen Vorschrift erheblich eingeschränkt wäre, vgI. o. S. 159.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
erreichbar, der "Problemdruck" wohl noch nicht groß genug. Außerdem ist sie vielleicht noch nicht genügend diskutiert. (2) Materiellrechtliche Lösung durch Übernahme des § 153 a in das materielle Recht Zwar weit weniger bestimmt, aber immer noch in der Zone des mit Art. 103 Abs. 2 GG zu Vereinbarenden liegt eine materiellrechtliche Lösung, die in einer Übernahme des § 153 a in das materielle Recht ohne zusätzliche Einzeltatbestände besteht74 • Damit das Rechtsprechungsverfahren wirklich zum Tragen kommen kann, sind allerdings gewisse Modifikationen erforderlich.. Der Schutz des Rechtsprechungsverfahrens für den Angeklagten und damit die beschriebenen Ersatzfunktionen für Bestimmtheit können nur dann voll wirksam werden, wenn der Angeklagte mit Rechtsmitteln die Nichtanwendung der Vorschrift rügen kann75 • Sind die Anwendungsvoraussetzungen der Vorschrift so umschrieben wie in § 153 a, könnte die Entscheidung über die Kompensation des öffentlichen Interesses, die ja allein auf die Strafzwecke abzustellen hat7 6, als. ein Fall von Strafzumessungsermessen angesehen und damit die Revisibilität auf die Möglichkeiten der Strafmaßrevision eingeschränkt werden. Um dieser Gefahr vorzubeugen, müßte an die Stelle der Kompensation des öffentlichen Interesses durch die Rechtsfolgen des § 153 aals Anwendungsvoraussetzung etwa das Merkmal des geringen Unrechts treten oder auf andere Weise die geringe Strafwürdigkeit umschrieben werden. Weiterhin müßte die Anwendung einer solchen Vorschrift obligatorisch sein, dürfte also, anders als § 153 a, keine Kann-Vorschrift sein; denn wenn sich aus dem Charakter der Tat und des Täters eine geringe Strafwürdigkeit ergibt, sind keine zusätzlichen Gesichtspunkte denkbar, die die Nichtanwendung der geringen Rechtsfolge rechtfertigen könnte. Der entscheidende Vorteil einer solchen Lösung wäre also, daß der Angeklagte sich im Verfahren darauf berufen könnte, daß die Vorschrift auf ihn Anwendung zu finden habe, und daß er die Möglichkeit hätte, mit Rechtsmitteln die Anerkennung seines Verhaltens als bagatellarisch im Sinne dieser Vorschrift durchzusetzen. Der Richter müßte im Urteil auf die Gründe für die Anwendung oder Nichtanwendung der Vorschrift eingehen. Somit würde jener Diskussionsprozeß in Gang gesetzt, der schließlich zu einer Ausdifferenzierung der Vorschrift und 74 Für die übernahme des § 153 a als ersten Schritt auf dem Weg zu einem eigenen, im Strafrecht verbleibenden Bagatellstrafrecht Naucke, Gutachten, D 115 ff. 75 Zur Notwendigkeit, dem Beschuldigten Rechtsmittel zur Geltendmachung der Geringfügigkeit in die Hand zu geben, vgl. Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 232 f. 78 Vgl. o. § 6, 2.
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zur Schaffung von einheitlichen Regeln für ihre Anwendung durch die Obergerichte führte und zwar unter Wahrung der aufgeführten Schutzfunktionen des Rechtsprechungsverfahrens für den Angeklagten77 • Es genügt also nicht, wenn die Zuständigkeit zur Anwendung des § 153 a, etwa entsprechend dem derzeitigen Abs. 2 der Vorschrift, allein auf den Richter beschränkt wird. Damit das Rechtsprechungsverfahren seine im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG relevanten Wirkungen entfalten kann, ist die Verankerung der Vorschrüt im materiellen Recht erforderlich. Es geht nicht allein um die Zuständigkeit eines Richters, sondern um die Konkretisierung der Vorschrift im Rechtsprechungsverfahren. (3) Die Lösung des geltenden Rechts Dagegen können sich die vielfältigen Unbestimmtheiten des § 153 a in der durch das geltende Recht gewählten Form der Normkonkretisierung voll auswirken. Sowohl der Vergleich des Rechtsprechungsverfahrens mit der staatsanwaltschaftlichen Rechtsanwendung wie auch konkret die Schilderung der Auswirkungen einer Übernahme des § 153 a in das materielle Strafrecht und damit in den Kompetenzbereich der Rechtsprechung haben gezeigt, wie das Rechtsprechungsverfahren die schwerwiegendsten Folgen der Unbestimmtheit des § 153 a weitgehend abmildern kann. (a) Unter dem Aspekt der Strafrechtsordnung insgesamt bedeutet eine Übernahme in das Rechtsprechungsverfahren: Die durch § 153a statt dem Gesetz der Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. des Richtliniengebers überantwortete Grenzziehung zwischen kriminalstrafrechtlich und durch andere Sanktionen zu ahndenden Vergehensverwirklichungen wird einer rationalen Auseinandersetzung und schließlich einer Festlegung durch ein nicht administrativen Zweckerwägungen ausgesetztes "Richterrecht" zugeführt. (b) Im konkreten Einzelfall wird für den Beschuldigten die Wahrscheinlichkeit einer ungerechtfertigten Verweigerung der günstigen Bagatellrechtsfolgen erheblich verringert, weil er einen Anspruch darauf geltend machen und durch Rechtsmittel überprüfen lassen kann. Da solche Kompensationsmöglichkeiten für die Unbestimmtheit im staatsanwaltschaftlichen Verfahren gänzlich fehlen, ist § 153 a in seiner derzeitigen Fassung den Extremfällen unbestimmter Strafrechtsnormen zuzurechnen, die eindeutig gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Damit hat sich auch gezeigt, daß die Forderung nach größerer gesetzlicher Bestimmtheit und die teilweise Reduktion dieser Forderung auf ein angemessenes Verfahren der Normkonkretisierung kein Wider77
Ebenso Naucke, Gutachten, D 116 f.
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spruch zu sein brauchen. Im einen Fall geht es um eine möglichst optimale Verwirklichung des Bestimmtheitsgebotes, im anderen um die Darlegung der vom Gesetzgeber nur um den Preis eines eindeutigen Verfassungsverstoßes zu überschreitenden Grenzen. b) Idealisierung der Rechtsprechung?
Einwände ganz anderer Art betreffen die Frage, ob hier nicht ein idealisiertes Bild der Rechtsprechung entworfen worden ist. Ist das Gerichtsverfahren wirklich so transparent für den Angeklagten und für die Allgemeinheit oder ist es das nicht vielmehr nur für die kleine Zahl der Eingeweihten, der Juristen also? Wird nicht in der Hauptverhandlung über den Kopf des Angeklagten hinweg verhandelt und alles nur zwischen den beteiligten Juristen, also zwischen Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger ausgemacht? Wird nicht der Angeklagte häufig schon durch die vielzitierte "Sprachbarriere" von einer angemessenen Beteiligung am Verfahren ausgeschlossen78 ? Kann aber dann noch von einer Durchschaubarkeit des Verfahrens gesprochen werden? Findet wirklich eine Diskussion zwischen den Gerichten 1. Instanz und den Rechtsmittelgerichten statt? Will der Tatrichter überhaupt in eine solche Diskussion eintreten oder geht es ihm nicht vielmehr nur darum, sein Urteil "revisionssicher" zu machen? Reduziert sich nicht das ganze Bemühen um Rationalität in den Urteilsgründen auf diese "Revisionsfestigkeit"? Führt das nicht häufig genug dazu, daß die Gründe, die tatsächlich für die Entscheidung maßgeblich geworden sind und die, die der Richter im Urteil anführt, nicht identisch sind, daß es sich im Urteil also um Scheinbegründungen handeln kann 79 . Ist die scharfe Abhebung der Position des Richters gegenüber der des Staatsanwalts in dieser Form überhaupt berechtigt? Kommt es nicht häufig genug zu einer mit der Neutralität des Richters nur schwer zu vereinbarenden Zusammenarbeit beider im Verfahren, "zu einer Verknüpfung der Rolle von Richter und Staatsanwalt, die zu einer handelnden Einheit werden können, so daß es bis zum faktischen Verlust der prozessualen Selbständigkeit kommen kann"80? Wie weit droht durch die Menge der anfallenden Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Gesetzesflut ja bereits zu dem Schlagwort von der "Informationskrise des Rechts"81 geführt hat, die Öffentlichkeit der Entscheidung als Informationsmittel wirkungslos zu werden 8!? 78 Zur Sprachbarriere im Strafverfahren vgl. Schreiber, ZStW 87 (1975), 143. 79 Vgl. dazu Lautmann, Justiz - die stille Gewalt, S. 166 ff., 175 ff. 80 Schreiber, ZStW 87 (1975), 135.
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Rechtssoziologische und andere justizkritische Arbeiten haben darüber hinaus eine ganze Reihe von Faktoren namhaft gemacht, die Zweifel an der tatsächlichen Unabhängigkeit der Richter ebenso wie an ihrer Fähigkeit, vorurteilsfrei und völlig neutral zu entscheiden, möglich erscheinen lassen83 • Der Berechtigung solcher Kritik an der Rechtsprechung und insbesondere am Strafverfahren im einzelnen nachzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es soll auch gar nicht bestritten werden, daß diese Kritik, wenn auch für die einzelnen Kritikpunkte in unterschiedlichem Maße und unterschiedlich häufig, oft genug zutrifft, daß in einer großen Zahl von Fällen· der Anspruch des Verfahrens und seine Wirklichkeit auseinanderklaffen. Damit wird aber die hier bezogene Position nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Daß kein Verfahren eine unbedingte Garantie für das Auffinden der Wahrheit und eine gerechte Entscheidung geben kann, wurde bereits gesagt. Verfahren können aber die Chance für die Verwirklichung solcher Ziele erhöhen, und das Rechtsprechungsverfahren ist nach allen Erfahrungen für die Durchsetzung solcher Ziele bei der Rechtsanwendung, auch wenn sie in dem beschriebenen Umfang Rechtsetzung mitumfaßt und sich den aus Bestimmtheitsgebot und Gewaltenteilung ergebenden Forderungen stellen muß, das bei weitem geeignetste. Vergleichbare Schutzvorkehrungen und damit vergleichbare Chancen für die Transparenz, Konsensfähigkeit und Freiheit von Willkür finden sich bei der Konkretisierung unbestimmter Normen durch die Exekutive qua Staatsanwaltschaft oder Landesjustizverwaltung nicht. Die Konsequenz solcher Kritik kann daher nur sein, nach Verbesserungsmöglichkeiten für das Rechtsprechungsverfahren zu suchen. § 11. Strafgesetzgebung durch Richtlinien
Daß die aus § 153 a abgeleiteten Rechtsetzungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft und ihrer vorgesetzten Behörden nicht bloß eine theoretische Spekulation, eine überpointierung des in unbestimmten Normen angelegten Freiraums ist, zeigen die bereits erlassenen allgemeinen Anordnungen über die Handhabung des § 153 a. Denn häufig ist das 81 Die Formulierung stammt von Simitis ("Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung") und ist wieder aufgenommen etwa bei Kramer, Informationskrise des Rechts und Veröffentlichungspraxis, ZRP 1976, 84 ff. 82 Zu den Informationsproblemen, die die Fülle der richterlichen Entscheidungen aufwerfen, vgl. Kramer, a.a.O. 8S Ein Nachweis von so gut wie allen wichtigen Arbeiten zu diesem Fragenkreis bis zum Jahre 1975 und darüber hinaus eine brillante und kritische, wenngleich bisweilen einseitig zugespitzte Aufarbeitung findet sich bei Simon, Unabhängigkeit des Richters.
13 Kausch
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Ermessen des einzelnen Staatsanwalts bei der Anwendung des § 153 a bereits ersetzt durch das des jeweiligen leitenden Oberstaatsanwalts, des Generalstaatsanwalts oder der Landesjustizverwaltung, das sich in mehr oder minder detaillierten Richtlinien, Runderlassen, Allgemeinverfügungen, Hausverfügungen oder ähnlichem niederschlägt. So ist bereits ein gesondertes Bagatellstrafrecht entstanden, das ein Eigenleben führt und dessen Kriterien weder von der Rechtsprechung noc4 von der Wissenschaft überprüft werden. Welches Ausmaß diese Regelungen erreichen und wie sehr damit die Landesjustizverwaltungen bzw. die Leiter der staatsanwaltschaftlichen Behörden in der Tat faktisch gesetzgeberische Funktionen übernommen haben, soll im folgenden dargestellt werden. 1. Die Verbreitung von Richtlinien
Bei der Neufassung der bundeseinheitlichen Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)l ist § 153 a allerdings im wesentlichen ausgespart worden2 , und zwar bewußt, weil man "der Rechtsentwicklung und der Praxis nicht vorgreifen wollte"S bzw. weil "dieser Paragraph ein ganz weites Spektrum hat, das weit hinaus geht, weit über den Ladendiebstahl, und weil sich die Landesjustizverwaltungen außerstande gesehen haben, eine Regelung zu finden, die für alle diese Fälle praktikabel wäre ... "'. Da man aber auf Landesebene bzw. auf der Ebene des Geschäftsbereichs eines Generalstaatsanwalts solche Probleme anscheinend nicht hat, können das wohl kaum die maßgeblichen Gründe gewesen sein. Näher liegt die Vermutung, daß der Verzicht auf eine bundeseinheit~ liche Regelung deshalb erfolgte, weil sich solche Richtlinien nicht so leicht und unauffällig ändern lassen wie auf Landes- oder Bezirksebene. Außerdem sind die kriminalpolitischen Vorstellungen der einzelnen Landesjustizverwaltungen bzw. Generalstaatsanwälte über die angemessene "Auslegung" des § 153 a zu unterschiedlich und stehen bisweilen in direktem Widerspruch zueinander, als daß sie sich durch eine noch so gedehnte Kompromißformel auf einen Nenner bringen ließen. 1
"Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" in der ab
1. Januar 1977 bundeseinheitlich geltenden Fassung. 2 Vgl. die Nr. 88 ff. RiStBV 1977 über die Einstellung des Verfahrens, in denen sich nichts zu § 153 a findet. Anders als früher machen die Richtlinien dort auch kaum noch Aussagen zu § 153. Vgl. dazu auch o. S. 106, 109. S So die Äußerung eines an den entsprechenden Konferenzen der Landesjustizverwaltungen beteiligten Ministerialbeamten in einem Gespräch mit dem Verf. am Rande des 51. Dtsch. Juristentages. 4 Grass (Hessisches Justizministerium), 51. DJT, Sitzungsbericht, N 131, (Diskussionsbeitrag).
§ 11. Strafgesetzgebung durch Richtlinien
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Zunächst ein Überblick, in welchen Bundesländern bzw. Geschäftsbereichen der Generalstaatsanwälte Richtlinien, Allgemeinverfügungen oder ähnliches bestehen5 • Baden-Württemberg:
Landeseinheitlich gilt: Runderlaß des Justizministeriums Baden-Württemberg betreffend die "Bewältigung der Kleinkriminalität" vom 1. September 1977 (Az: 4111-IV/36)8. Bayern:
Landeseinheitlich gilt: "Zusammenfassung des Gesprächsergebnisses der Landesjustizverwaltungen am 22. Oktober 1974 in Bonn und der Generalstaatsanwälte lInd Behördenleiter der Staatsanwaltschaften Bayerns am 5. November 1974 in Grafrath zur Behandlung der Kleinkriminalität nach §§ 153, 153 aStPO, § 248 a u. a. StGB in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB)", ergänzt durch einen Erlaß des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 17.5.1976 Gz. 4100 - II 847/74: "Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft unter Auflagen und Weisungen (§ 153 a StPO)1." Berlin:
Für den Geschäftsbereich des Generalstaatsanwalts beim LG Berlin gelten: "Hinweise, Anregungen und vorläufige Richtlinien für die Anwendung der §§ 153, 153 a StPO n. F. im Ermittlungsverfahren" des Generalstaatsanwaltes vom 27. 12. 1974 (411 gen 1), die für den Ladendiebstahl abgeändert worden sind durch eine Anordnung des Senators für Justiz vom 15. 7. 1977 - 4600/1 IV/A.3 -. Bremen:
Landeseinheitlich gelten: Die Allgemeine Verfügung des Generalstaatsanwalts beim OLG Bremen vom 27.12.1974 - 4111-725174 - V,;, betreffend: "Behandlung der Kleinkrimi5 Die im folgenden aufgelisteten Richtlinien hat der Verf. überwiegend auf seine Anfragen von den Landesjustizministerien bzw. Generalstaatsanwälten erhalten, wofür an dieser Stelle gedankt sei; teils sind sie ihm auch von Herrn Prof. Naucke oder von hilfsbereiten Praktikern überlassen worden, denen der Verf. ebenfalls danken möchte. Soweit ersichtlich, sind sie auf Landesebene vollständig. Inwieweit darüber hinaus in einzelnen Landgerichtsbezirken noch Hausverfügungen oder informelle Regelungen bestehen, konnte nur mehr oder weniger zufällig ermittelt werden, da der Verf. keine Befragung sämtlicher Staatsanwaltschaften durchführen konnte. 8 Bis zu diesem Zeitpunkt galten die Beschlüsse einer Dienstbesprechung der Strafrechtsabteilung des Justizministeriums mit den beiden Generalstaatsanwälten (Karlsruhe, Stuttgart) und den Leitern der Staatsanwaltschaften des Landes am 14./15. 10. 1976 in Saalgau. Der Runderlaß ist ausweislich seiner Einleitung eine Präzisierung und Ergänzung dieser Beschlüsse. 7 Für den Geschäftsbereich des Generalstaatsanwalts in Bamberg gilt· weiterhin eine innerdienstliche Anordnung über die Anwendung der §§ 153, 153 a bei Ladendiebstählen (Mitteilung des Generalstaatsanwalts bei dem OLG Bamberg mit Schreiben vom 6.4. 1977 auf Anfrage des Verf.). Diese Anordnung wurde dem Verf. allerdings nicht zugänglich gemacht mit der Begründung: "Die Anordnung eignet sich natlIrgemäß nicht zur Herausgabe an dritte Personen."
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nalität nach §§ 153, 153 aStPO, 248 a u. a. StGB in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch"S, sowie verschiedene, Einzelfragen betreffende Allgemeine Verfügungen des Generalstaatsanwaltes. Hamburg:
Landeseinheitlich gilt: Verfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts bei dem LG Hamburg betreffend die "Behandlung der "Kleinkriminalität" nach §§ 153, 153 a StPO sowie 248 a (§§ 257 IV Satz 2, 259 II, 263 IV, 265 III, 266 III) StGB" - 4001 - in - 4111 ain der Fassung vom 1. 10. 1976. Hessen:
Landeseinheitliche Richtlinien gibt es nicht und sind auch nicht vorgesehen. Es gibt, soweit ersichtlich, auch keine Richtlinien für den Bereich der Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten. Niedersachsen:
Landeseinheitlich gelten: "Richtlinien für die Behandlung der Kleinkriminalität", AV des Ministers der Justiz vom 3. 12. 1974 (4100 - 206.159) - Nds. Rpfl. S. 298 -, geändert durch die AV des Ministers der Justiz vom 11.2. 1976 (4100 - 302.159), Nds. Rpfl. S.488 • Nordrhein- Westfalen:
Landeseinheitlich gelten: "Richtlinien zur Anwendung der §§ 153, 153 aStPO" vom 1. 8. 1978, übereinstimmende Rundverfügung der Generalstaatsanwälte in Düsseldorf, Hamm und Köln 10• Rheinland-Pfalz:
Landeseinheitlich gilt: Rundverfügung des Ministers der Justiz vom 20. Juli 1978 (4111 - 4 - 8/78) "Bewältigung der Kleinkriminalität; hier: Einstellung des Ermittlungsverfahrens unter Auflagen und Weisungen durch die Staatsanwaltschaftl l ." Saarland:
Landeseinheitliche Richtlinien gibt es nicht. Bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, der einzigen im Saarland eingerichteten Staatsanwaltschaft, S Diese AV ist weitgehend eine übernahme der Niedersächsischen Richtlinien. 8 Für den Bereich der Staatsanwaltschaft beim LG Braunschweig gilt außerdem bezüglich der Anwendung des § 153 a auf Ladendiebstahl eine Hausverfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts vom 10. 3. 1976 - 411 E -. 10 Diese Richtlinien gehen auf einen Entwurf des Generalstaatsanwaltes in Hamm zurück und sind aufgrund einer Übereinkunft der drei Generalstaatsanwälte des Landes als übereinstimmende Rundverfügung ergangen. 11 Bis zum Erlaß dieser Rundverfügung galten: a) für den Geschäftsbereich des Generalstaatsanwaltes beim OLG Koblenz die Rundverfügung des Generalstaatsanwaltes vom 30. 12. 1974 4100 - 12/74 betreffend "Behandlung der Kleinkriminalität nach § 248 a u. a. StGB sowie nach den §§ 153, 153 aStPO"; b) für den Geschäftsbereich des Generalstaatsanwaltes beim OLG Zwei-
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gibt es jedoch eine informelle Regelung bzw. Hausverfügung über die Behandlung von Ladendiebstahl und Zechbetrügereien, die auch § 153 a betrifft.
Schleswig-Holstein: Landeseinheitlich gilt: Rundverfügung des Generalstaatsanwalts bei dem OLG Schleswig vom 20.8.1975 - 410 - 447 - betreffend die "Behandlung der Kleinkriminalität". 2. Der Regelungsgegenstand der RidltUnien
Absicht der folgenden Darstellung ist es nicht, eine Art von bundesdeutschem Richtlinienatlas zu erstellen, sondern es geht zunächst nur darum festzuhalten, welche Sachverhalte überhaupt durch Richtlinien geregelt werden und welcher Kategorien und Regelungstechniken die Richtlinien sich dabei bedienen12 • a) Ausgeschlossene Vergehenstatbestände
In der Entwurfsfassung der Bayerischen Richtlinien13 wird danach gefragt, "ob nicht bei bestimmten Fallgestaltungen, Delikten oder Fallgruppen das öffentliche Interesse von vornherein einer Sachbehandlung nach § 153 a StPO entgegensteht"14.
Es wird dann festgestellt: "Das Gesetz nimmt an sich kein Vergehen von der Anwendung der Vorschrift aus; es kann ihm aber nicht entnommen werden, in welchen Fällen das öffentliche Interesse so stark ist, daß eine Sachbehandlung nach § 153 a ausgeschlossen ist1 6 ."
Die Einsicht, daß das Gesetz keinen Vergehenstatbestand von vornherein von der Anwendung des § 153 a ausschließt, bleibt allerdings folgenlos, da die meisten Richtlinien Anweisungen geben, welche Vergehenstatbestände grundsätzlich nicht nach § 153 a geahndet werden dürfen. überhaupt sind die Richtlinien oft in erster Linie eine Auflistung der Fälle, in denen ein Vorgehen nach § 153 a ausgeschlossen sein soll. aal So wird in dem gerade zitierten Entwurf der Bayerischen Richtlinien bestimmt: brücken die Rundverfügungen des Generalstaatsanwaltes vom 23.12.74, vom 10. 1. 1975 (4111 - 2/74) sowie vom 24.1. 1977 (4111 - 1/76). U Dabei werden auch die dem Verf. bekannten informellen Regelungen herangezogen. 13 "Grundsätze für die Behandlung der Kleinkriminalität nach §§ 153, 153 a StPO, § 248 a u. a. StGB in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB)" (ohne Datum), wohl der Entwurf für die "Gesprächsergebnisse Bayern". 14 a.a.O., B. 1.2.2. (Hervorhebung im Original). IS a.a.O.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
"In der Regel wird das öffentliche Interesse einer Sachbehandlung nach § 153 a StPO entgegenstehen bei Vergehen nach den Abschnitten 1 bis 9, 13, 28, bei vorsätzlichen Vergehen nach Abschnitt 27 des Strafgesetzbuches sowie bei Straftaten nach den §§ 142, 221, 223 a, 223 b, 253 StGB1a." Die derzeit geltende Fassung (Gesprächsergebnisse) mildert zwar dahingehend ab,· daß in diesen Fällen "ein strenger· Maßstab bei der Prüfung anzulegen" sei, "ob nach § 153 a StPO verfahren werden kann" 17. Aber Eckl, der zuständige Sachbearbeiter im Bayerischen Ministerium der Justiz, interpretiert dies S018: "Bei den genannten Straftaten ist in der Regel nicht angemessen, von der Erhebung der öffentlichen Anklage abzusehen, da sie Rechtsgüter verletzen, an deren optimalem Schutz die Allgemeinheit vorrangig interessiert ist." Woraus sich ergibt, daß die konziliantere Formulierung in der Sache nichts geändert hat. bb) Ähnlich ordnen die Niedersächsischen und die Bremer Richtlinien, die insoweit gleich lauten, an 111 : "Bei Vergehen nach den Abschnitten 1 - 5, 8, 9, 13, 28, bei vorsätzlichen Vergehen nach Abschnitt 27 des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, bei Straftaten nach §§ 142, 223 a, 223 b, 253 StGB, bei Ladendiebstahl sowie bei fahrlässigen Straftaten nach §§ 315 a - c, 316 StGB wird nach § 153 a StPO nur verfahren, wenn besondere Gründe vorliegen." Die Ausschließung des Ladendiebstahls ist inzwischen allerdings für Niedersachsen wieder rückgängig gemacht worden20 •
ce) Eine teilweise übereinstimmende Ausgrenzung nehmen die Hamburger Richtlinien vor, wobei allerdings Ladendiebstahl und die genannten Verkehrsdelikte nicht aufgeführt werden. Die entsprechende Einleitungssequenz lautet: "In der Regel kann nicht nach §§ 153 a StPO verfahren werden, wenn. : . "21. dd) Der Runderlaß Baden-Württemberg will bei Vergehen gegen die Person oder die Rechtsgemeinschaft einen strengen Maßstab der Prüfung angelegt wissen, ob nach § 153 a eingestellt werden kann22 • ee) Nach einer Allgemeinverfügung des Generalstaatsanwalts in Bremen vom 17. Juli 1975 (- 4111 - 310175 -) ist bei Verfahren, die den Verkauf, den Erwerb oder die Verwendung von Abhörgeräten ("Mini18 a.a.O., B. 1.2.2.4. 17 Gesprächsergebnisse Bayern, B. 1.2.3. 18 JR 1975, 100. 18 Richtlinien über Kleinkriminalität Niedersachsen, Ir. 2; Allgemeine Verfügung über Kleinkriminalität Bremen, 11. 2. 20 AV v. 18.2.1976, Nds. Rpfl. 1976,48. 21 Verfügung über Kleinkriminalität, 11. 2. d. :z Runderlaß, 11. 3.
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spionen") zum Gegenstand haben, regelmäßig von Einstellungen nach §§ 153, 153 a StPO abzusehen.
b) Ladendiebstahl Regelungen über den Ladendiebstahl werden in den meisten Richtlinien getroffen. Regelmäßig von der Einstellung ausgeschlossen ist er nur noch in Bremen und neuerdings wieder in Berlin23 • Die anderen Richtlinien setzen Grenzen beim Wert der gestohlenen Sache und verlangen darüber hinaus, daß die Begehungsweise nicht vom Durchschnitt abweicht und daß auch sonst keine schulderhöhenden Gesichtspunkte vorliegen. Die Wertgrenzen schwanken allerdings erheblich. Am weitesten geht dabei die Staatsanwaltschaft in Saarbrücken, wo die Obergrenze des Wertes der gestohlenen Sache, bis zu der noch nach § 153 a verfahren wird, bei 300,- DM liegt. Bei Werten ab 200,- DM wird allerdings seltener von der Einstellung unter Auflagen Gebrauch gemacht24 • In Baden-Württemberg26 und Bayern28 liegt der Grenzwert bei 100,- DM27. Zum Teil wird die Grenze auch schon bei 50,- DM gezogen28 . Die Staatsanwaltschaft Regensburg stellt dagegen als Voraussetzung für eine Einstellung nach § 153 a bei Ladendiebstahl darauf ab, ob die Tat noch durch eine (fiktive) Geldstrafe von 5 Tagessätzen geahndet werden könnte2 9 • 23 Durch die bereits in Auszügen wiedergegebene Anordnung des Senators für Justiz v. 15.7.1977 - 4600/1 - !VIA. 3 -; vgl. o. S. 124 und § 6 Anm. 72. !4 Hausverfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts in Saarbrücken, deren wesentlicher Inhalt dem Verf. mit Schreiben vom 1. 6. 1977 mitgeteilt wurde. 25 Runderlaß Baden-Württemberg, I!. 3. 28 Erlaß des Bayer. Staats ministeriums der Justiz v. 17.5.1976 unter Punkt 3. 27 Ebenso früher Rundverfügung Zweibrücken v. 24. 1. 1977 unter Punkt 3 (vgl. Fn. 11). Dagegen ordnet die Rundverfügung Rheinland-Pfalz inzwischen nur noch an" daß bei Vermögensdelikten "eine Sachbehandlung nach § 153 a StPO auch bei hohen Schadenssummen in Betracht kommen (kann), wenn das Verschulden gleichwohl als gering anzusehen ist. Bei Ladendiebstahl ist zudem eine eventuell gezahlte "Bearbeitungsgebühr" von Bedeutung. Ist diese relativ hoch und der Schaden gering, kann sich in geeigneten Fällen eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO empfehlen" (I!. b). 28 Hausverfügung Braunschweig (vgl. Fn. 9). Nach einem vom Generalstaatsanwalt in Nürnberg erarbeiteten und dem Verf. freundlicherweise überlassenen Bericht über "Erfahrungen mit § 153 aStPO" (ohne Datum, übermittelt mit Schreiben v. 12.4.1977) besteht bei den Staatsanwaltschaften in Ansbach, Nürnberg und Weiden für Ladendiebstahl eine Schadensgrenze bei 50,- DM. Dabei ist nicht deutlich, ob es sich um die Handhabung vor Bekanntgabe des erwähnten Erlasses des Bayer. Staatsministeriums der Justiz v. 17.5. 1976, der die Grenze bei 100,- DM zieht, handelt oder auch um die Einstellungspraxis danach. Inzwischen ist allerdings in Nürnberg diese Wertgrenze auf 100,- DM angehoben (Auskunft des Leitenden Oberstaatsanwalts beim LG Nürnberg-Fürth mit Schreiben v. 18. 8. 1978). 29 Bericht des Generalstaatsanwalts in Nürnberg (vgl. Fn. 29) mit derselben Einschränkung wie für die in Fn. 29 mitgeteilte Wertgrenze.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
c) Schadensobergrenze für Vermögensdelikte
Teilweise wird für Vermögensdelikte eine Schadensobergrenze festgelegt, bei deren Überschreitung nicht mehr nach § 153 a vorgegangen werden soll. Nach dem Runderlaß Baden-Württemberg liegt diese Grenze bei 100,- DM30. Die Entwurfsfassung der Bayerischen Richtlinien sah sie bei 500,- DM31, während sie die Hamburger Richtlinien erst bei 800,- DM ziehen32, 33. Für Wirtschaftsstraftaten gelten solche Grenzen allerdings nicht. Unter den Landesjustizverwaltungen besteht vielmehr Einigkeit darüber, daß § 153 a auch auf Wirtschaftsstraftaten Anwendung finden und die Höhe des Schadens keine Rolle spielen soll, wenn die Schuld gering ist34 . d) "Geringer Schaden" Einig sind sich die Richtlinien, soweit sie darauf eingehen, daß der Umfang des "geringen Schadens" nach §§ 153 Abs. 1 S. 2, 153 a Abs. 1 S. 6 wertmäßig nicht über den Anwendungsbereich des § 248 a StGB und der ihm verwandten Vorschriften hinausgeht36 . Die Grenze für den "geringen Schaden" bzw. für "geringwertige Sachen" wird gesehen bei 30,- DM38 oder 50,- DM37 bzw. 50,- bis 70,-DM38. e) Verkehrsdelikte Auch auf die Verkehrsdelikte gehen die Richtlinien meistens ein. Am strengsten sind dabei Bremen und Niedersachsen, wonach fahrlässige Straftaten nach §§ 315 a - c, 316 StGB nur nach § 153 a eingestellt werden können, wenn besondere Gründe vorliegen39 . § 153 a wird dagegen Runderlaß, H. 3. Grundsätze für Kleinkriminalität (vgl. Fn. 13), B. 1.2.2.2. Die Gesprächsergebnisse Bayern gehen darauf nicht mehr ein. 32 Verfügung über Kleinkriminalität, H. 2. c. 33 Für Rheinland-Pfalz vgl. Fn. 27. 34 Vgl. o. S. 124. 35 Gesprächsergebnisse Bayern, A. 1.3; Allg. Verfügung über Kleinkriminalität Bremen, 1.4.; Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, I. 1.4.; Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein, 1.2.; ähnlich Rundverfügung Rheinland-Pfalz, I. 1. 38 Vorläufige Richtlinien Berlin, 1. c. 37 Runderlaß Baden-Württemberg, I. 1.; Gesprächsergebnisse Bayern, A.1.1. (30,- bis allenfalls 50,- DM); Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, I. 2.; Rundverfügung Rheinland-Pflaz, 1.1; Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein, 1.2. 38 Allg. Verfügung über Kleinkriminalität Bremen, 1.1. 39 Allg. Verfügung über Kleinkriminalität Bremen, 11. 2.; Richtlinien über Kleinkriminalität Niedersachsen, H. 2. 30 31
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grundsätzlich für Verkehrsstraftaten für anwendbar erklärt durch den Runderlaß Baden-Württemberg40 , die Gesprächsergebnisse Bayern41 und die Rundverfügung Rheinland-Pfalz42 , wobei allerdings unterschiedliche Einschränkungen vorgenommen werden. Bei Trunkenheit am Steuer kann es nach den Gesprächsergebnissen vertretbar sein, bis zu einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1 %0 nach § 153 a vorzugehen43 • Die Rundverfügung Rheinland-Pfalz will in diesen Fällen eine Sachbehandlung nach § 153 a auf seltene Ausnahmefälle beschränkt wissen44 • Der Runderlaß Baden-Württemberg nimmt dagegen keinerlei Einschränkungen vor4 6 •
f) Ersttäter aal Die Berliner Richtlinien setzen den Anwendungsbereich des § 153 a ganz allgemein fest auf Ersttäter, bei denen eine Geldstrafe bis zu 30 Tagessätzen zu erwarten ist46 • bb) Auch die anderen Richtlinien beschränken praktisch den Personenkreis, der in den Genuß der milderen Rechtsfolgen des § 153 a kommen soll, auf Ersttäter. Nach § 153 a darf daher nicht verfahren werden, wenn der Beschuldigte einschlägig oder erheblich47 vorbestraft ist oder wenn in nahe zurückliegender Zeit bereits in einem einschlägigen bzw. in einem anderen Verfahren48 nach dieser Vorschrift von der Strafverfolgung abgesehen worden ist.
41
11.4. B.1.2.4.
42
H. 2. (4).
40
B. 1.2.4.; vgl. auch Eckl, JR 1975, 100: " ... die Grenze von 0,8 %0 nicht zu erheblich übersteigenden Blutalkoholkonzentration ... ". 44 a.a.O. (Fn. 42). 45 Der Runderlaß trifft lediglich eine differenzierte Regelung, wann bei § 230 StGB ein besonderes öffentliches Interesse i S. des § 232 StGB zu bejahen ist, wobei Kriterien die Schwere des Verkehrsverstoßes und die Schwere der erlittenen Verletzungen sind, die jeweils in leichte, mittlere und grobe Verkehrsverstöße bzw. Verletzungen unterteilt werden (III.1.). Auch wenn nach diesen Kriterien das öffentliche Interesse zu bejahen ist, kann nach § 153 a vorgegangen werden (lII. 3.). 48 Vorläufige Richtlinien, 3. c. 47 Diese Ergänzung ("erheblich") macht die Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, II. 2. a. 48 Auf eine "einschlägige" Einstellung stellen die Gesprächsergebnisse Bayern (B. 1.2.1.), auf "dasselbe oder ein vom Unrechtsgehalt her vergleichbares Delikt" der Runderlaß Baden-Württemberg (II.2.) und die Rundverfügung Rheinland-Pfalz [II. 2. (2) b)] ab. Die anderen Richtlinien lassen schon die Einstellung nach § 153 a wegen irgendeines anderen Deliktes genügen. Dagegen hält die Begründung zum Regierungsentwurf eine mehrfache Einstellung nach § 153 a für möglich (BT-Druck:s. 7/550, S. 299). Vgl. dazu auch Hanack, Festschr. Gallas, S. 359. 43
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
cc) Weiterhin soll nach einigen Richtlinien nicht eingestellt werden, wenn es sich um einen überörtlichen49 oder um einen Serientäter50 handelt oder wenn die Tat sich als in Fortsetzungszusammenhang begangen darstellt51 •
g) Beweisschwierigkeiten Die meisten Richtlinien schließen ein Vorgehen nach § 153 a auch dann aus, wenn "zu erwarten ist, daß der Beschuldigte bei einer späteren Anklage, zu der es infolge der Nichterfüllung einer Auflage oder Weisung kommt, wegen der inzwischen vergangenen Zeit besonders schwer überführt werden kann"62.
h) Rechtsfolgen über die Rechtsfolgen werden verhältnismäßig wenig Anweisungen gegeben. Der Bayerische Erlaß vom 17.5.76 bestimmt: "Wird als Auflage eine Geldzahlung vorgesehen, so soll sie grundsätzlich der Höhe nach der Geldstrafe entsprechen, die im Falle einer Anklage beantragt werden würde63." In Nürnberg gilt als informelle Regelung, daß bei Anwendung des § 153 a auf Ladendiebstahl u. ä. dem Täter eine Geldbuße, zahlbar an die Staatskasse, auferlegt wird, und daß deren Höhe sich nach dem 4- bis 5fachen Wert des Entwendeten und den Vermögensverhältnissen des Beschuldigten richtet, wobei 20,- DM als Mindestsumme geltenll4 • Schließlich treffen alle Richtlinien ins einzelne gehende Anordnun. gen über die technische Abwicklung der Einstellung nach § 153 a, wie die Reihenfolge der Zustimmung von Beschuldigtem und Gericht, die Rechtsmittelbelehrung des Verletzten, die Verwendung von Formu49 Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, H. 2. e); Richtlinien Nordrhein-Westfalen, 11. 2. cl; Rundverfügung über Kleinkriminalität SchleswigHolstein, 2.1. cl. Der maßgebliche Gesichtspunkt hierfür dürfte sein, daß Wiederholungstaten solcher Täter nicht erkannt werden können, da die Einstellung nach § 153 a nicht in das Bundeszentralregister eingetragen wird und die Register der Staatsanwaltschaften nur den jeweiligen Geschäftsbereich erfassen. 60 Verfügung über Kleinkriminalität Hamburg, H. 2. e). 51 Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein, 2.1. d); Richtlinien Nordrhein-Westfalen, H. 2. d). 52 So die Formulierung der Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein, 2.1. e). Allein bei den Berliner und den Hamburger Richtlinien findet sich keine entsprechende Regelung. 53 Ähnlich Vorläufige Richtlinien Berlin, 3. cl; Runderlaß Baden-Württemberg, H. 7; Rundverfügung Rheinland-Pfalz, 11. 2. (7). Die Saarbrücker Hausverfügung (vgl. Fn. 24) sieht eine genaue Staffelung vor, die mit 5 Tagessätzen bei einem Wert des Stehlgutes zwischen 10,- bis 50,- DM beginnt und mit 20 Tagessätzen für 200,- bis 300,- DM Schadenshöhe endet. 5' Mitteilung des Leitenden Oberstaatsanwalts bei dem Landgericht Nürnberg-Fürth mit Schreiben v. 18.6.1976 und 18.8.1978.
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laren und ähnliches. Darauf ist in unserem Zusammenhang nicht weiter einzugehen. Soweit der Versuch, die wesentlichen Inhalte der Richtlinien wiederzugeben. Diese Art der Darstellung kann allerdings leicht ein falsches Bild vermitteln insofern, als nicht alle Richtlinien Bestimmungen über alle hier aufgeführten Regelungsgegenstände treffen. Es besteht eine große Variationsbreite in der inhaltlichen Detailliertheit der Richtlinien. Solchen, die nur einige Grundsätze markieren 55 , stehen ausführliche, eher kasuistische Regelungen gegenüber. Der nachfolgende Versuch einer Einordnung und Bewertung der mit solchen Richtlinien gesetzten Entwicklung bezieht sich daher mehr auf die ausführlicheren Regelungen und auf die generellen Einflußmöglichkeiten im Wege der Richtlinienkompetenz. 3. Zur Bewertung der Riclltlinien
a) Die Inhalte der Richtlinien als Elemente einer materiell rechtlichen Lösung aal Deutlich geworden ist dagegen, daß in bezug auf dieselben Regelungsgegenstände oft höchst unterschiedliche Regelungen getroffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich jedoch für die Richtlinien anführen, daß sie die Handhabung der Vorschrift für jeweils größere Regionen vereinheitlichen und damit der Forderung nach Gleichbehandlung jedenfalls besser Rechnung getragen wird, als wenn jeder Behördenleiter oder jeder einzelne Staatsanwalt oder Amtsanwalt nach eigenem Ermessen den Spielraum des § 153 a ausfüllt. So war es denn auch die Sorge um die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung, die schon bei der Beratung des § 153 a im Gesetzgebungsverfahren zum Ruf nach vereinheitlichenden, die Vorschrift konkretisierenden Richtlinien führte 56 , und auch die Richtlinien selbst greifen diesen Gesichtspunkt oft zu ihrer Legitimation ausdrücklich auf. Die Haltung des Gesetzgebers in diesem Zusammenhang ist zumindest widersprüchlich. Einerseits zieht er sich bei der Regelung des Bagatellstrafrechts weitgehend zurück, indem er eine gänzlich unbestimmte und damit Ungleichheiten geradezu provozierende Regelung wählt und dies damit begründet, die Zeit für eine materiellrechtliche detaillierte Regelung der Bagatellkriminalität sei noch nicht reif und man müsse daher zu der flexiblen, Spielraum gewährenden prozessualen Lösung greifen. Andererseits macht er sich im gleichen Atemzug 55 So etwa die Richtlinien Nordrhein-Westfalen und die Rundverfügung über Kleinkriminalität Schleswig-Holstein. 56 Vgl. SA Strafrecht, 7. Wahlp., Prot., S. 192 f.; 1. Bericht, BT-Drucks. 7/1261, S. 27; vgl. auch Naucke, Gutachten D 81.
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unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit die Forderung nach vereinheitlichenden Richtlinien zu eigen, die in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung praktisch eine Art materiellrechtlicher Lösung darstellen. Der Praxis sind die gegenwärtigen Richtlinien allerdings noch nicht weitgehend und detailliert genug. So werden tabellarische Richtlinien für den Bereich der Vermögenskriminalität gefordert57 • Auch wird an eine Art Bußgeldkatalog gedacht, nach dem die Höhe der zu verhängenden Geldbußen je nach Höhe des Schadens und nach sonstigen Umständen, Lebensalter u. a. gestaffelt werden kannis . Erforderlich seien die Angabe von detaillierten Fallgruppen und präzise "Vertatbestandlichungen". Andernfalls sei die Gefahr der Ungleichbehandlung gegeben. Im Mangel an Detailliertheit liege einer der Gründe für die Zurückhaltung der Staatsanwaltschaft bei der Anwendung der neuen Vorschrift" . Diese Einschätzung trifft sicherlich zu, und die Berechtigung solcher Forderungen ist vom Standpunkt eines Staatsanwaltes aus, der vor die Aufgabe gestellt ist, § 153 a zu konkretisieren, nicht zu bestreiten. Wenn aber die Staatsanwaltschaft selbst nach einer Umsetzung in Tatbestände ruft und erst mit ihrer Hilfe eine angemessene Anwendung des § 153 a für möglich hält, dann beweist das einmal mehr, daß die Unbestimmtheit des § 153 a nicht deshalb unumgänglich ist, weil anders die Vorschrift angesichts einer etwaigen Vielgestaltigkeit der zu erfassenden Lebenssachverhalte nicht praktikabel wäre und zu ungerechten, weil die Individualität des Einzelfalls nicht genügend berücksichtigenden Ergebnissen führte. Da mit § 153 atypische Massenverstöße erfaßt werden sollen, kann dies auch gar nicht anders sein. Um so fragwürdiger wird es, wenn solche "Vertatbestandlichungen" nicht vom Gesetzgeber, sondern von den Landesjustizverwaltungen vorgenommen werden. Es kann dann jedenfalls kaum zweifelhaft sein, daß dies eine auch vom Gesetzgeber zu bewältigende Aufgabe ist. 57 Oberstaatsanwalt Kutzer, Göttingen, auf einer Tagung der Deutschen Richterakademie im Frühjahr 1976 zum Thema "Probleme der Strafrechtsund Strafverfahrensreform" in einem Referat mit dem Titel "Die §§ 153, 153 a StPO in der Verfahrenswirklichkeit", nach der Mitteilung eines Teilnehmers an dieser Tagung gegenüber dem Verf. 58 So die Forderung einer hessischen Amtsanwaltschaft, mitgeteilt in der 1. Hessischen Untersuchung (vgl. § 6 Fn. 48). Vgl. auch den (abgelehnten) Antrag Düwel auf dem 51. DJT: "Die Landesjustizverwaltungen werden aufgefordert, von ihrer Richtlinienkompetenz in folgender Weise Gebrauch zu machen: ... d) Für Auflagen nach § 153 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO sind Regeltaxen zu entwickeln und als Empfehlungen an die Staatsanwaltschaften zu geben" (Sitzungsberichte, N. 179). In Saarbrücken gibt es solche Regeltaxen schon (vgl. Fn. 53), ebenso, wenn auch auf anderer Basis, in Nürnberg (vgl. o. § 11, 2. h». Entsprechende informelle Regelungen dürften auch bei anderen Staatsanwaltschaften bestehen. 59 Kutzer, a.a.O. (Fn. 58).
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bb) Es hat sich gezeigt, daß die Voraussetzungen für die Anwendung des § 153 a: geringe Schuld und Kompensation des öffentlichen Interesses - Strafzumessungsgesichtspunkte sind. Wir haben weiter gesehen, wie eng Strafbarkeitsvoraussetzungen und Strafzumessungskriterien miteinander verschränkt sind, so daß oftmals ein und derselbe Gesichtspunkt zur Ausdifferenzierung von Tatbeständen in Form von Qualifikationen, Privilegierungen usw. oder aber als Strafzumessungsregel dienen kann. So können auch die meisten der von den Richtlinien angegebenen Kriterien für die Anwendbarkeit des § 153 a genauso gut als Tatbestandsmerkmale für Privilegierungen, Sondertatbestände u. ä. oder für die Schaffung von eigenen, nicht dem Kriminalstrafrecht unterstellten Tatbeständen herangezogen werden, also für eine materiellrechtliche Lösung. Da die Richtlinien schon jetzt auf dem Weg zu der von den Praktikern geforderten Vertatbestandlichungen ein gutes Stück vorangekommen sind, ist es in einigen Fällen bereits zu einer gewissen Durchnormierung des Regelungsbereichs, auf den sich die Richtlinien beziehen, gekommen. Die Richtlinien tragen daher viel deutlicher den Charakter von allgemeinen Normen als etwa die grundsätzlichen Regelungen höchstrichterlicher Entscheidungen. So entsteht in Form der Richtlinien, Erlasse, Hausverfügungen und ähnlicher Anordnungen eine Art regionales Sonderstrafrecht der Staatsanwaltschaft für die kleine und mittlere Kriminalität, ein zweiter interner Kodex neben dem Strafrecht. Es gibt eigene tatbestandliche Regelungen, wie die Festsetzung der Schadensobergrenzen, des höchstzulässigen BAK, eigene Rückfallvorschriften, eigene Strafzumessungsregeln usw. Es ist zu erwarten, daß in Zukunft den Forderungen der Praxis nach Präzisierungen, die ja nicht unberechtigt sind, in noch größerem Ausmaß Rechnung getragen wird. Damit wird aber deutlich, daß die prozessuale Lösung keine wirkliche Alternative zu einer materiellrechtlichen ist, weil man ohne die Regelungsmechanismen, die für eine materiellrechtliche Lösung typisch sind, offenbar auch innerhalb der prozessualen Lösung nicht auskommt. An die Stelle gesetzlicher Regelungen treten dann hausgemachte Normen der Exekutive. b) Richtlinien als Experimentierfeld für Gesetzgebung?
Man kann das auch nicht damit rechtfertigen, daß eben hier, wie auf anderen Rechtsgebieten auch, die Gesetzgebung einen Bereich erst einmal der Praxis zur Erprobung einer vernünftigen Regelung überlasse6o , 60 Zum Vertrauen auf die Vernunft der Praxis vgl. Naucke, Gutachten, D 81 und die Diskussion auf dem 51. DJT, in der dieser Gesichtspunkt immer wieder angeführt wurde, so etwa von Ahrens, Sitzungsberichte, N 127.
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um dann vielleicht später aufgrund der so gewonnenen Erfahrungen mit einer gesetzlichen Regelung nachzuziehen. So fehlt es schon an den wichtigsten Voraussetzungen, um eine wirkliche Aufarbeitung der durch die staatsanwaltschaftliche Praxis gesammelten Erfahrungen zu gewährleisten und so dem Gesetzgeber eine auf solchen Erfahrungen beruhende Entscheidungsgrundlage zu vermitteln. Die Einstellung nach § 153 a spielt sich, jedenfalls wenn sie der Staatsanwalt vornimmt, unter Ausschluß der Öffentlichkeit ab. Anders als bei den in Urteilsform zu treffenden gerichtlichen Entscheidungen fehlt es an allen Vorkehrungen, auch die den § 153 a konkretisierenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft einer wirklichen Diskussion zuzuführen. Insbesondere ist die Rechtswissenschaft ausgeschlossen. Der Instanzenzug, der Begründungszwang auf allen Ebenen und die juristische Fachdiskussion machen gewissermaßen die Lernfähigkeit der Institution Rechtsprechung aus; denn dadurch wird überhaupt erst möglich, daß Erfahrungen nicht nur die der einzelnen Person des jeweils Entscheidenden bleiben, sondern gewissermaßen zu solchen der Institution werden können, die sich dann auch an den Gesetzgeber weitergeben lassen. Gerade an solchen institutionalisierten Formen, Erfahrungen zu kumulieren, aber auch zu korrigieren, fehlt es aber bei der hierarchisch strukturierten, der Befehlsgewalt einer Verwaltungsspitze unterstellten Staatsanwaltschaft81 • c) Die Aktualität der Rechtsprechung des BGH zur Bindung der Staatsanwaltschaft an die höchstrichterliche Rechtsprechung
Wie die oft stark differierenden Regelungen der Richtlinien zeigen, die sämtlich als Auslegung des § 153 a auftreten, bleibt dem Richtliniengeber ein weiter Spielraum, um die Grenzen der Kriminalstrafbarkeit im Vergehensbereich festzulegen und bei Bedarf auch zu verschieben. Damit wird zugleich auch die richterliche Zuständigkeit für Vergehen festgelegt bzw. verschoben. Unter diesem Aspekt gewinnt das viel geschmähte obiter dictum des BGH in BGHSt. 15, 155 ff. (160 f.) zu der Frage, ob die Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung an dia höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden sei, neue Aktualität. Der U Damit sollen die Bemühungen mancher Ministerien, systematische Erhebungen zu betreiben und Erfahrungsberichte zu sammeln (wie es etwa in der hier öfters herangezogenen 1. Hessischen Untersuchung geschehen ist) und die Bemühungen der Generalstaatsanwälte um Erfahrungsaustausch und um Erhebungen über die Handhabung des § 153 a in ihrem Bereich (wie es vor allem durch den Generalstaatsanwalt bei dem OLG Stuttgart erfolgt ist) nicht herabgesetzt werden. Aber einmal scheinen solche Aktionen eher die Ausnahme zu sein, wie meine Anfragen bei den Landesjustizverwaltungen und den Generalstaatsanwälten ergeben haben. Zum andern fehlt es an der für alle Bemühungen um eine systematische Rechtsfortbildung unerläßlichen (zumindest juristischen) Öffentlichkeit.
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BGH hat sich in dieser Entscheidung dezidiert für eine solche Bindung ausgesprochen. Die Gründe, die er für die Bindung der Staatsanwaltschaft an die höchstrichterliche Rechtsprechung anführt, muten heute wie Prophetie an und treffen mutatis mutandis für das durch § 153 a geschaffene Verhältnis von Rechtsprechung einerseits und Staatsanwaltschaft bzw. Justizverwaltung auf der anderen Seite eigentlich noch mehr zu als für die Konstellation, auf die sie sich unmittelbar beziehen. Sie sollen daher hier wiedergegeben werden: Der BGH führt zunächst aus, daß der Verfolgungszwang allein vom Inhalt der Gesetze abhänge. "Da diese jedoch kein Eigenleben führen, ist ihre Auslegung und ständige Anwendungspraxis durch die dazu berufenen Gerichte maßgebend, auf welche die Anklagevertretung durch Mitwirkung in der Hauptverhandlung öffentlich Einfluß nimmt und zu nehmen hat S2 ." Welche Folgen es hat, wenn die Staatsanwaltschaft in der Rechtsauslegung von den Gerichten unabhängig ist, schildert der BGH S083: "Die Verfolgung oder Nichtverfolgung hinge in hohem Maße und unvermeidbar vom Tat- oder Ergreifungsort und von der Rechtsansicht der zuständigen Anklagebehörde, u. U. auch, statt von den Gesetzen, von ministeriellen Weisungen oder Rechtsmeinungen ab ... Der Staatsanwalt ist nicht in dem Sinne Gesetzeswächter, daß ihm ein gesetzliches Recht zustünde, den Gang der Strafrechtspflege im Einzelfall oder gar in ganzen Fallgruppen gemäß eigener Gesetzesanschauung zu blockieren und dem Gericht die Prüfung von Rechtszweifeln durch Nichtverfolgung oder Ein~ stellung des Verfahrens vorzuenthalten. Damit würde er sich im Ergebnis, entgegen Artikel 92 GG, den Richtern überordnen. Da er außerdem wei'" sungsunterworfen ist, hätte dies die weitere ungesetzliche und auch unan:nehmbare Folge, daß Strafbarkeit und Strafverfolgung nicht mehr von der Gesetzesanwendung durch unabhängige Gerichte abhängen, sondern von der Ansicht der dafür unzuständigen Exekutive vom Inhalt der Strafgesetze. Die rechtsprechende Gewalt wäre im Ergebnis, entgegen Artikel 92 GG, nicht mehr den Richtern anvertraut . .. ".
Inzwischen ist der hier vom BGH mit so viel Verve angeprangerte, aber letztlich wohl kaum für möglich gehaltene Zustand durch die Schaffung des § 153 a für einen Teilbereich eingetreten: Die Exekutive verfügt kraft ihrer Richtlinienkompetenz über die Auslegung der Strafgesetze für jenen Bereich, der zum möglichen Anwendungsfall des § 153 a gehört. d) KriminaZpolitik durch RichtZinienerZaß
Das vom Gesetzgeber durch die Unbestimmtheit des § 153 a hinterlassene Vakuum füllen also nicht die Gerichte aus, sondern die Landesjustizverwaltungen mit Hilfe ihrer Richtlinien. aal Ungleichbehandlung 82
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BGHSt. 15, 155 ff. (158) (Hervorhebung vom Verf.). a.a.O., S. 159 f. (Hervorhebung vom Verf.).
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Das führt zum einen zur Ungleichbehandlung und zu einem strafrechtlichen Regionalismus, wie es etwa die unterschiedliche Regelung des Ladendiebstahls beweist. Auch hier hat der BGH die Folgen der Zuständigkeit von Staatsanwaltschaft und Landesjustizverwaltung bereits vorwegnehmend beschrieben84 : "Das zur Wahrung der Rechtseinheit geschaffene gesetzliche Vorlagesystem (§§ 120 Abs. 3, 121 Abs. 2, 136 GVG), das den Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte bindet, und der Beurteilungszwang gemäß § 358 Abs. 1 StPO wären durch bloße Entschließung der Anklagebehörde ausgeschaltet. " Diese Feststellungen beziehen sich darauf, daß die Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung nicht an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden ist. Aber sie haben auf die durch § 153 a geschaffene Situation nicht weniger Gültigkeit. Denn auch bei § 153 a laufen die Vorkehrungen des Gerichtsverfassungsrechts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung leer. bb) Durchsetzung von ordnungspolitischen Vorstellungen der Exekutive Es bedeutet aber auch, daß die kriminalpolitischen Vorstellungen der Exekutive an die Stelle von solchen der Legislative treten. Dabei scheuen sich die Richtliniengeber durchaus nicht, ihre Ansichten über die des Gesetzgebers zu stellen und auch erklärten Absichten des Gesetzgebers zuwider zu handeln. Das zeigt der Ausschluß des Ladendiebstahls von der Einstellung nach § 153 a durch die Berliner, die Bremer und die (inzwischen allerdings insoweit geänderten) Niedersächsischen Richtlinien. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Gesetzgeber im Ladendiebstahl einen Hauptanwendungsfall des § 153 a sieht8s • So betonen die Regierungsentwürfe und der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform mehrfach, die Einbeziehung der bisherigen Privilegierungen nach den §§ 370 Nr. 5, 248 a und 264 a StGB a. F., unter die ja Ladendiebstähle häufig gefallen sind, in die jeweiligen Grundtatbestände bedeute keineswegs eine strengere Beurteilung der bisher von diesen Vorschriften erfaßten Sachverhalte; vielmehr solle hier ein Ausgleich durch § 153 a geschaffen werden86 • Weiterhin wird in den Regierungsentwürfen als wichtigstes Anwendungsfeld des § 153 a die Masse der kleinen Vermögensdelikte angeführt 67 • Unter den kleinen Vermögens delikten spielt aber der Laden84
a.a.O., S. 160.
Kramer, NJW 1976, 1610; Ahrens, Einstellung, S. 17 f., 85 f.; vgl. auch Naucke, Gutachten, D 26 f. M
68 BT-Druck:s. VI/3250, S. 236; 7/550, S. 189, 247; 7/551, S. 189 f., 247; SA Strafrecht, 7. Wahlp., Synoptische Darstellung der Beschlüsse der Arbeitsgruppe "Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch mit Erläuterungen", Prot., S. 279; Erster Bericht, BT-Druck:s. 7/1261, S. 17. 87 BT-Druck:s. VI!3250, S. 283 ff.; 7/550, S. 297 ff.
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diebstahl eine quantitativ herausragende Rolle88 • Der Ladendiebstahl ist denn auch in den Erörterungen des Sonderausschusses das meistgenannte Beispiels9 • Ebensowenig dürfte es in der Intention des Gesetzgebers gelegen haben, ganze Abschnitte des Besonderen Teils von vornherein von der Behandlung nach § 153 a auszuschließen. Zum einen liefert dafür weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift einen Anhaltspunkt. Es lassen sich aber auch keinerlei sachliche Rechtfertigungsgründe für ein solches Vorgehen anführen. Denn es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Vergehenstatbestände, bei denen nicht auch Handlungen von geringer Schuld und geringer Strafwürdigkeit vorkommen können. Nach den Bayerischen Richtlinien gehört sogar Hausfriedensbruch zu den von der Anwendung des § 153 a ausgenommenen Tatbeständen (als Delikt nach dem 7. Abschnitt des BT). Hausfriedensbruch ist Antragsdelikt. Ein Grund für das Antragserfordernis kann die verhältnismäßig geringe Bedeutung des betreffenden Delikts für die Allgemeinheit sein7o• Zu diesen Fällen gehört auch § 123 StGB71. Hält man sich vor Augen, wie unterschiedlich schwerwiegende Verwirklichungsformen dieses V~rgehens vorkommen und daß die leichteren sogar überwiegen, dann wird klar, daß für diesen Tatbestand eine Milderungsmöglichkeit besonders angemessen ist. Ähnliches gilt für die ebenfalls ausgeschlossenen §§ 113, 114 StGB. Unter den ausgesparten Vergehenstatbeständen befinden sich einige, die in das Umfeld politischer Straftaten gehören und bei denen Handlungsweisen pönalisiert werden, die erst im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung liegen. Gerade hier sind solche Milderungsmöglichkeiten besonders erforderlich, solange nicht durch eine präzise Tatbestandsfassung dafür Sorge getragen wird, daß nur wirklich strafwürdige Verhaltensweisen erfaßt werden. Hier scheinen sich bestimmte, wohl für die Exekutive spezifische, politische Vorurteile über die besondere Gefährlichkeit von Straftaten niederzuschlagen72. Lösung von Kapazitätsproblemen Findet in solchen Regelungen ein bestimmtes politisches Ordnungsmodell der jeweiligen Exekutive seinen kriminalpolitischen Niederce)
Vgl. dazu o. § 1, 1. b). Vgl. SA Strafrecht, 7. Wahlp., 9. Sitzung, Prot., S. 186 ff., 191, 193 f. Vgl. auch Naucke, D 26 Fn. 42, Zur Kritik an dem Ausschluß des Ladendiebstahls vgl. Kramer, NJW 1976, 1610; Ahrens, Einstellung, S. 18; Böttcher, Recht und Politik 1979, 103. 70 Jescheck, AT, S. 722. 71 a.a.O. 72 Vgl. auch o. § 6 Fn. 43. 88
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schlag, so kann über § 153 a Kriminalpolitik auch im Sinne eines administrativen Zweckdenkens getrieben werden. Man hat die Offenheit und Unbestimmtheit des § 153 a als Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verteidigt, mit der den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden könne73 • Diese Flexibilität erweist sich aber bei näherem Zusehen nicht nur als ein Mittel, um schuld- und unrechtsmindernden oder -steigernden Umständen besonders Rechnung zu tragen. Sie dient häufig genug auch dazu, Kapazitäts- und Effektivitätsprobleme der Justiz bewältigen zu helfen. Die von der Forschungsgruppe Kriminologie des Freiburger MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht kürzlich durchgeführten Untersuchungen über die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft haben gezeigt, daß die Staatsanwälte angesichts der Massenkriminalität mit ständig steigenden Deliktszahlen die Straftaten im Grunde nur noch "verwalten" können74 • In einer solchen Situation, in der es nur noch darauf ankommt, mit den Massen an Eingängen überhaupt fertig zu werden, erweist sich der § 153 a als geradezu ideales Hilfsmittel. Seine Flexibilität bedeutet, daß man die kriminalpolitischen Leitlinien jederzeit an die durch Kapazitäts- und Personalprobleme bestimmten Bedürfnisse des Tages anpassen kann, indem man die Richtlinien ändert oder ergänzt, ohne die umständlichen Prozeduren eines Gesetzgebungsverfahrens auf sich nehmen zu müssen. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß § 153 a wahrscheinlich das Ventil sein wird, mit dessen Hilfe die Justizverwaltungen bei gleichbleibend schlechter Personallage die wachsenden Kriminalitätszahlen auffangen können, und daß die Regulierung dieses Ventils über die Richtlinien erfolgen wird76 • Daß es sich hierbei nicht nur um Spekulationen handelt, mag eine Verfügung des Generalstaatsanwaltes in Bremen vom 23. 9. 76 - 4310 - 565/76 - V - belegen. Dort wurde wegen "überbelegung der Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen" für den Winter 76/77 angeordnet, daß u. a. verstärkt Geldstrafen zu beantragen seien und bei der Verfolgung von Bagatellstraftaten in verstärktem Umfang von den §§ 153, 153 a Gebrauch zu machen sei (Zf. 1 u. 2 der Verfügung). Nun sind die Kapazitätsprobleme der Strafjustiz und die dabei auftretenden Schwierigkeiten gewiß nicht zu verkennen. 73 Vgl. die Darstellung bei Naucke, Gutachten, D 74 f., aber auch die Einwände gegen den AE-GLD, dem vorgehalten wird, er enthalte eine zu starre Regelung, die Differenzierungen nach Tatschwere, Täterpersönlichkeit und Vorwerfbarkeit nicht mehr zulasse (Naucke, Gutachten, D 102 ff., 121 m. w. Nachw.; Geerds, DRiZ 1976, 228; Wolter, JZ 1976, 473). 74 Vgl. Steffen, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 294 ff.; vgl. auch Sessar, ZStW 87 (1975), 1040 ff.; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 320 ff. 75 Vgl. o. S. 131 f.
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Es soll auch hier keinesfalls die Einschränkung von Freiheitsstrafen kritisiert werden, aber das Pathos von der Staatsanwaltschaft als einem nur der "Wahrheit und Gerechtigkeit" verpflichteten "Organ der Rechtspflege" klingt etwas hohl, wenn man erfährt, daß vom Belegungszustand der Strafanstalten das Strafmaß und die Verschonung von einer Freiheitsstrafe abhängen können?'. dd) Der Spielraum der Exekutive Wie bedenklich es ist, wenn die Kriminalpolitik in diesem Bereich dem Ermessen der Landesjustizverwaltungen überlassen bleibt, ergibt sich auch aus folgendem: Tritt ein bestimmtes Vergehen im Vergleich zu einer vorangegangenen Periode besonders häufig auf, so sind zweierlei Reaktionen denkbar. Die Justizverwaltungen können dem Druck nachgeben und ohne viel Aufhebens durch vermehrte Anwendung des § 153 a eine verstärkte Entkriminalisierung betreiben. Sie können sich aber auch umgekehrt zum "Durchgreifen" entschließen und Anweisungen geben, regelmäßig anzuklagen. Die Gründe für eine Entscheidung in der einen oder der anderen Richtung werden nicht offengelegt, die Entscheidung unterliegt keiner Kontrolle. Die Entscheidung über Entkriminalisierung oder verstärkte Kriminalisierung sollte aber nicht der Einschätzung der Justizverwaltungen vorbehalten bleiben, sondern gehört in die Zuständigkeit des Gesetzgebers, und zwar schon deshalb, weil eine angemessene Lösung oft nur in einem übergreifenden Kontext, z. B. in Verbindung mit flankierenden sozialpolitischen Maßnahmen, möglich ist. Es besteht Gefahr, daß durch ein lediglich " flexibles " Reagieren der Justizverwaltungen das gesellschaftliche Problem, für das das verstärkte Auftreten eines Delikts ein Indikator sein kann, nicht wirklich angegangen, sondern nur zugedeckt wird. e) Zusammenfassung
Daß die Möglichkeit, durch Richtlinien über die Anwendung des § 153 a im unteren Bereich der Kriminalität die Grenzen der Strafbarkeit ganz nach Bedarf zu verschieben und je nach Opportunität einmal einen harten, dann einen weichen Kurs zu steuern, einen enormen Zuwachs an Macht für die Justizverwaltungen bedeutet, dürften die Darlegungen dieses Abschnittes deutlich gemacht haben. Der Exekutive bietet sich damit die Möglichkeit, eigene kriminalpolitische Vorstellungen durchzusetzen bis hin zur Durchkreuzung gesetzgeberischer Absichten. Nicht weniger bedenklich ist es, wenn über § 153 a reine 7S Vgl. jetzt auch BGH NJW 1979, 1941: "So wäre es schlechthin gesetzwidrig, eine Freiheitsstrafe nur deshalb nicht zu verhängen, weil nach einer vom Gericht erholten AUSkunft die Vollzugsanstalten des Landes überbelegt sind."
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte im Sinne eines effektiven Verwaltungsablaufs das Ausmaß der über Bagatelldelikte verhängten Sanktionen steuern. über die Richtlinien wird aus der individuellen Entkriminalisierung, die § 153 a ermöglichen sollte, eine generelle, nicht anders als bei einer entsprechenden gesetzlichen Zurücknahme der Kriminalstrafbarkeit. Der Richtliniengeber ist aber bei einem Kurswechsel durch, Veränderung der Richtlinien keiner Kontrolle unterworfen und unterliegt keiner Begründungspflicht, was die Gefahren für die Rechtssicherheit, die ~ 153 a mit sich bringt, noch einmal besonders deutlich macht. Die Justizverwaltungen und insbesondere ihre politische Spitze sind in einer ganz anderen Weise informellen Einflüssen ausgesetzt als die Rechtsprechung77 • Man muß befürchten, daß im Laufe der Zeit zwei Arten von Strafrecht entstehen, eines, wie es die Rechtsprechung auslegt, und eines der Exekutive, orientiert an deren Bedürfnissen und Vorurteilen. Damit sollte an einigen Beispieln deutlich geworden sein, daß die Annahme eines Verstoßes gegen Artikel 103 Abs. 2 GG und gegen das Gewaltenteilungsprinzip durch § 153 a in seiner derzeitigen Fassung nicht nur das Ergebnis abstrakter Ableitungen und das Ausweiten von bloß theoretisch gegebenen Möglichkeiten ist, sondern reale Anlässe hat. 4. Gesetzlidle Ridltlinien als Ausweg? Neuerdings wird zur Lösung der Kapazitätsprobleme der Justiz und zur Angleichung des Legalitätsprinzips an die Rechtswirklichkeit, die die Durchführung des Legalitätsprinzips, wie es herkömmlich verstanden werde, nicht mehr zulasse, von einigen Autoren angeregt, vermehrt die Möglichkeit einer sanktionslosen Einstellung zu schaffen, zugleich aber den Entscheidungsspielraum des Staatsanwalts darüber durch gesetzliche Richtlinien einzuengen, um dadurch eine gleichmäßige Einstellungspraxis zu gewährleisten78 • Die Einstellungsgründe seien dabei als Verfahrenshindernisse auszugestalten7V • Zumindest Weigend, bei dem sich die bisher detailliertesten Vorstellungen finden, will auch § 153 a in ein solches Regelungssystem einbeziehen80 • Auf 77 So führt Sessar die Tatsache, daß der Ladendiebstahl innerhalb des von der Freiburger Untersuchung erfaßten Zeitraums wesentlich seltener nach § 153 (a. F.) eingestellt wurde als Einbruchsdiebstahl, Betrug oder ein Diebstahl mit gleicher Schadenshöhe außerhalb eines Ladens oder Warenhauses auf den "Versuch von Interessenverbänden, Kriminalpolitik zu betreiben", zurück (ZStW 87 [19751, 1050 f.) Vgl. auch Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 132 ff. 78 Zipf, Festschr. Peters, S. 499 ff.; Roxin, Kriminologie und Strafverfahren, S. 20 f.; Strafverfahrensrecht, S. 66; Weigend, Anklagepflicht, S. 167 ff. 79 Zipf, S. 501; Roxin, Kriminologie und Strafverfahren, S. 20; Strafverfahrensrecht, S. 66; der Sache nach wohl auch Weigend, Anklagepflicht, S.178.
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seine überlegungen ist daher näher einzugehen. Er schlägt vor, die Vergehenstatbestände insgesamt einem durch Ermessensrichtlinien strukturierten Opportunitätsprinzip zu unterstellen81 . Dazu solle ein Katalog von "einstellungsfreundlichen" und von "anklagefreundlichen" Umständen aufgestellt werden, der von abstrakten Merkmalen über Regelbeispiele bis "zur kasuistischen Typisierung bestimmter Begehungsweisen bei einzelnen Delikten" reichen könne8!. Die Entscheidung für Einstellung oder Anklage ergebe sich aus einem einfachen Abzählverfahren, bei dem jeder der in dem Katalog aufgezählten Umstände den gleichen Zählwert habe. Überwiege die Zahl der einstellungsfreundlichen Umstände, werde eingestellt; gebe es mehr anklagefreundliche Umstände, sei anzuklagen. Hält der Staatsanwalt das Ergebnis des Abzählverfahrens für falsch, so soll er zwar davon abweichen können, muß dies aber ausdrücklich begründen83 . Diese Ermessensrichtlinien könnten sowohl als behördenintern Richtlinien wie auch als Verordnung oder Gesetz ergehen. Um eine überregional gleichmäßige Rechtsanwendung zu sichern, seien Verordnungen bzw. Gesetze vorzuziehen 84 . Allerdings sei es aus "gesetzesästhetischen Gründen nicht erstrebenswert, die StPO mit einem umfangreichen, eventuell nach Straftatbeständen gegliederten Katalog von Ermessenserwägungen zu betrachten"85. Die Ermessensentscheidung über die Anklageerhebung oder Einstellung dürfe nicht ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen überprüfung bleiben. Dazu sei zunächst das Klageerzwingungsverfahren auszubauen. Komme es zu einer Anklageerhebung, so solle der Angeschuldigte im Zwischenverfahren die Mißachtung der gesetzlichen Ermessensstandards durch die Anklagebehörde rügen können. Das Gericht habe die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen, wenn der Staatsanwalt bei der Anklageerhebung von seinem Ermessen zu UnreCht Gebrauch gemacht habe8s. Ob eine solche kontrollierte Ausweitung des Opportunitätsprinzips in bezug auf die sanktionslose Einstellung verfassungsrechtlich zulässig und kriminalpolitisch wünschenswert ist, kann hier nicht diskutiert werden, zumal nicht deutlich wird, in welchem Ausmaß Weigend über die bisher schon durch § 153 gegebenen Möglichkeiten sanktionsloser Einstellungen hinausgehen will. Die Probleme der Bagatellkriminalität lassen sich mit einem solchen Modell jedoch kaum zureichend lösen. Denn sie bestehen ja nicht in erster Linie darin, daß nicht genügend Möglichkeiten gegeben sind, solche Delikte völlig ohne Sanktionen zu belassen, sondern daß angemessene Reaktionen unterhalb der Kriminalstrafe (oder auch völlig außerhalb des Strafrechts) bereit gestellt werden müssen, die einerseits eine milde, aber dennoch fühlbare Reaktion ermöglichen, andererseits dem Täter die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe ersparen87 . § 153 a ist der Versuch, diesem Weigend, S. 182 ff. 81 Weigend, S. 172 f. 82 Weigend, S. 173 ff., 179 ff., 188 ff. 83 Weigend, S. 175 f. 84 Weigend, S. 171. 85 Weigend, S. 172. Allerdings geht er davon aus, daß diese Ermessensrichtlinien so knapp gefaßt werden können, daß sie in die StPO eingefügt werden können (a.a.O.). 88 Weigend, S. 176 ff. 87 Die Richtigkeit dieser Feststellung zeigt sich schon daran, daß mittler80
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
schon im früheren Recht spürbaren und durch den Wegfall der übertretung verschärften Mangel zu begegnen. Nun ist allerdings Weigend der Auffassung, sein Vorschlag erfasse auch § 153 a 88 , da er keinen Unterschied zwischen einer sanktionslosen Einstellung und der Verfahrensbeendigung nach § 153 a sieht. Vielmehr geht er davon aus, daß die Erfüllung der Auflagen des § 153 a eine Manifestation der Sühnebereitschaft des Beschuldigten sei, und ordnet sie als "einstellungsfreundlichen Umstand" ein, der sich aus einem "Merkmal des Täters" ergebe8o • Damit wird die These von der freiwilligen Leistung des Täters, die die Voraussetzungen einer Einstellung schaffe, wie sie schon zur Rechtfertigung der Auflagenpraxis vor Einführung des § 153 a vertreten wurde90 , akzeptiert, wenngleich Weigend an anderer Stelle von Strafzumessung und von einer Sanktionierung des Täters aufgrund von § 153 a sprichtDl • Damit stellt auch Weigend nicht genügend in Rechnung, daß es sich bei
§ 153 a nicht um eine Ausweitung des Opportunitätsprinzips, sondern um
die Einführung einer "neuartigen Form der strafrechtlichen Sanktion"
(Hanack) mit einer Verlagerung der Saktionskompetenz und Ansätzen zur
Einführung eines neuen Rechtsgebietes im unteren Deliktsbereich handelt.
Akzeptiert man denn auch den §§ 153, 153 a zugrundeliegenden Gedanken, daß zwischen unbedingten Bagatellen, die völlig sanktionslos bleiben sollen, und bedingten Bagatellen, bei denen eine Bagatellreaktion erforderlich ist, unterschieden werden muß, dann kann die Bereitschaft des Beschuldigten zur Erfüllung von Auflagen und Weisungen, deren Freiwilligkeit eine Fiktion ist, nicht der entscheidende Gesichtspunkt für die Wahl zwischen Anklage und Sanktionierung durch § 153 a sein. Die Frage, ob der Beschuldigte den Auflagen und Weisungen zustimmt, steht vielmehr -logisch gesehenals zusätzliche Voraussetzung erst am Ende einer auf Unrechtsgehalt und Schuld sowie die Erfordernisse der Strafzweck:e ausgerichteten Prüfung der Anwendbarkeit des § 153 a. Wollte man § 153 a in einem Modell, wie es Weigend vorschlägt, belassen, dann müßten alle einstellungsfreundlichen Umstände noch einmal in sich differenziert und danach gewichtet werden, ob sie für eine reaktionslose Hinnahme oder für die Verhängung einer Bagatellsanktion sprechen. Entsprechend müßten die anklagefreundlichen Umstände noch einmal danach unterteilt werden, ob nicht eine Bagatellsanktion ausreicht. Dann läßt sich aber die Entscheidung kaum noch aufgrund eines einfachen Auszählverfahrens ermitteln. Sollen solche (dann allerdings vom Gesetzgeber zu erlassenden) Richtlinien den Anwendungsbereich der Bagatellsanktion des § 153 a trennscharf zu den Fällen einer notwendigen Anklageerhebung wie auch zu den sanktionslosen Einstellungen markieren, so müßten sie kasuistische Typisierungen bestimmter Begehensweisen der jeweiligen Grundtatbestände enthalten 'oder weile die Einstellungen nach § 153 a wesentlich häufiger sind als die Einstellungen gern. § 153, obwohl das EGStGB die Einstellungsmöglichkeiten nach § 153 erweitert hat, vgl. o. S. 119. 88 Zipf, (Fn. 78) bezieht seine Überlegungen wohl nur auf die sanktionslose Einstellung; anders Roxin, der die Einstellungsgründe des § 153 a präzisieren und zu Verfahrenshindernissen ausgestalten will (Strafverfahrensrecht, S.66). 80 Weigend, S. 182 ff. 00 Vgl. o. § 1, 4. b) aa) und § 2, 1. a). 01 Weigend, S. 80, 183.
§ 12. Art. 92 GG als Garant für konsistente Strafrechtsanwendung
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andere eindeutige Merkmale, wie Wertgrenzen, setzen. Faktisch wären dann die betreffenden Grunddelikte durch Privilegierungstatbestände ergänzt. Damit wäre so etwas wie eine Abschichtung vom Kriminalunrecht erreicht und ein eigenständiges, auch tatbestandlich abgegrenztes Bagatellstrafrecht mit dem Staatsanwalt als Sanktionsinstanz geschaffen, wobei noch zu klären wäre, welchen Verbindlichkeitsgrad diese "Ermessensrichtlinien" für den Staatsanwalt hätten. Die Bedenken aus dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Gewaltenteilungsprinzip müßten dann in der Tat zurücktreten9!, wenn ausreichende Möglichkeiten einer gerichtlichen Kontrolle geschaffen und das Verfahren in einer rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügenden Weise geregelt würde. Ist man aber erst einmal so weit in der Ausdifferenzierung der Bagatellvoraussetzungen gegangen, dann fragt es sich, ob der rechtsstaatlich angemessenere Weg nicht doch ein Bagatellstrafrecht in dem von Naucke vorgeschlagenen Sinne93 wäre. Beschränken sich solche Richtlinien aber auf die Formulierung allgemeiner Grundsätze, die eine eindeutige Abschichtung des Bagatellbereichs nicht ermöglichen, dann darf die Konkretisierung dieser Grundsätze aus den dargelegten Gründen nur durch die Rechtsprechung erfolgen. Sie sind daher in das materielle Recht zu übernehmen.
§ 12. Artikel 92 GG als Garant für eine konsistente Strafreclltsanwendung Ausgangspunkt unserer Untersuchung war ein möglicher Verstoß des § 153 a gegen Art. 92 GG. Ergebnis ist bisher eine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Gewaltenteilungsprinzips. Der Sachverhalt, der zur Annahme eines Verstoßes gegen diese beiden Verfassungsgebote nötigt, hat aber auch unter dem Aspekt des Art. 92 GG Bedeutung. (1) Der Gesetzgeber hat mit § 153 a Aufgaben, die er entweder selbst wahrzunehmen hat oder die er, wenn er sie weitergibt, nur auf die Rechtsprechung übertragen darf, auf ein nichtrichterliches Organ delegiert. Der Rechtsprechung werden durch die neue Kompetenz der Staatsanwaltschaft also Aufgaben entzogen, die im Bereich der Normauslegung allein ihr zustehen. Darin ist eine Verletzung des Art. 92 GG zu sehen. (2) Eine Verletzung des Art. 92 GG ergibt sich auch noch aus einem anderen Gesichtspunkt. Art. 92 GG verlangt, wie wir gesehen haben, für den Bereich des Strafrechts eine präventive richterliche RechtskonIZ Nicht dagegen die in § 14, 3. dargelegten Einwände gegen jegliche Sanktionsbefugnis der Staatsanwaltschaft. Zur Kritik dieses Modells vgl. weiterhin Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 218. 93 Vgl. dazu Naucke, Gutachten, D 36 f.; 112 ff. und o. § 16, 2. Allg. zur Kritik von gesetzlichen Ermessensrichtlinien vgl. Ahrens, Einstellung, S. 244 ff., der ihnen "von der Tendenz her eher materiellrechtlichen Charakter" zuschreibt, und Rieß, Strafprozeß und Reform, S. 217; befürwortend Blankenburg I Sessar I Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 333.
2162. Teil: KonkretiSierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
trolle, d. h. die alleinige richterliche Zuständigkeit schon für die Verhängung und nicht erst für die überprüfung strafrechtlicher Sanktionen. Der Grund dafür ist die besondere Schwere des Eingriffs in die Rechtsstellung des Bürgers, den jede Kriminalstrafe bewirkt. Damit scheint Art. 92 GG die richterliche Zuständigkeit zunächst nur dort zu garantieren, wo auch tatsächlich Kriminalstrafen verhängt werden. Da die Rechtsfolgen des § 153 a unterhalb der Schwelle liegen, die das Gebot der präventiven richterlichen Rechtskontrolle in Kraft treten lassen, scheint unter diesem Aspekt, stellt man nur auf den Einzelfall ab, Art. 92 GG nicht betroffen. Bis zu dieser Problemstellung waren wir im ersten Teil der Untersuchung gelangt. Inzwischen ist genug Material zusammengetragen um zu zeigen, daß eine Betrachtungsweise, die nur auf die Schwere des Eingriffs abstellt, zu kurz greift. Zwar ist Ziel der durch Art. 92 GG gewährten präventiven richterlichen Rechtskontrolle die gerechte Einzelfallentscheidung. Aber eine Einzelfallentscheidung wird nur dann als gerecht empfunden, wenn sie nicht in Widerspruch zu anderen Entscheidungen steht, wenn sie aus einer insgesamt konsistenten Handhabung der Strafrechtsordnung erwächst. Nach dem Ideal der Aufklärung sollte diese Konsistenz durch genaue Gesetze und eine vollständige Kodifikation in Verbindung mit einer juristischen Methode, die die unmittelbare übertragung des Inhalts dieser Kodifikation auf den Einzelfall bewerkstelligte, erreicht werden. Das wurde für die Strafzumessung von vornherein schon nur beschränkt erstrebt und hat sich, wie wir gesehen haben, insgesamt als undurchführbar und in manchen Fällen auch als gar nicht erstrebenswert erwiesen. Dann müssen aber andere Mechanismen für die konsistente Handhabung der Rechtsnormen sorgen. Die Gesetze führen, wie der BGH die Erkenntnisse der modernen Methodenlehre in der zitierten Entscheidung zusammenfaßt, kein Eigenleben; für ihren Inhalt ist "ihre Auslegung und ständige Anwendungspraxis durch die dazu berufenen Gerichte maßgebend"1. Wenn schon bei Strafrechtsnormen, die herkömmlich als bestimmt erachtet werden, ein Wertungsspielraum verbleibt, dann ist der Inhalt einer Norm die (allerdings nicht nur additiv zu verstehende) Summe ihrer Konkretionen, dann nimmt jede Einzelfallentscheidung Einfluß auf das Gesamtgebilde der Norm, prägt diese mit, gibt ihr eine bestimmte Richtung und trägt schließlich bei zur Fallgruppenbildung und zur Formulierung von allgemeinen Regeln unterhalb des Abstraktionsgrades der auszulegenden Norm. Das gilt in verstärktem Maße für die Strafzumessung, die, wie wir gesehen haben, auch eine Form der Aus1
BGHSt. 15, 155 ff. (158).
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differenzierung der Straftatbestände ist und nicht ohne Rückwirkung auf die Konturierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen !bleibt. Die Auslegung einer Norm beeinflußt aber auch zugleich die Aus...; legung aller anderen Normen eines Rechtsgebietes (und zufolge des Grundsatzes der Rechtseinheit u. U. auch noch weiterer Rechtsgebiete) in einem Prozeß gegenseitiger Durchdringung. Kriterien für eine ge"': rechte Einzelfallentscheidung ergeben sich nicht allein aus der anzuwendenden Norm selbst, können auch nicht "aus dem Stand" geschaffen werden, sondern nur unter Heranziehung der Normen und Prinzipien des gesamten Rechtsgebietes, dem die auszulegende Norm angehört. Die Einzelfallentscheidung nimmt aber auch ihrerseits Einfluß auf diese Prinzipien, modifiziert sie, konkretisiert sie und das in einem ständig fortschreitenden Prozeß von Entscheidungen. Dies ist ein geradezu klassischer Fall des hermeneutischen Zirkels. In diesem Prozeß einer behutsamen Modifikation liegt die allerdings ständig gefährdete Chance einer Balance zwischen der für die Rechtssicherheiterforderlichen Kontinuität der Rechtsanwendung und der von der Billigkeit geforderten fortwährenden Anpassung an veränderte Verhältnisse und an die Besonderheiten des Einzelfalls. Eine solche wechselseitige Einflußnahme ist aber nur möglich aufgrund eines ständigen Diskussionsprozesses, in dem der Rechtswissenschaft eine wesentliche Vermittlerrolle zukommt. Daß dieser Diskussionsprozeß schließlich zur Vereinheitlichung führt, dafür sorgen im gerichtlichen Verfahren die Instanzenzüge und das gesetzliche Vorlegungssystem der §§ 120 Abs. 3, 121 Abs. 2, 136 GVG, weshalb es gerechtfertigt ist, von der Rechtsprechung als einer Einheit zu sprechen. Daraus folgt: Wenn bestimmte Rechtsfolgen im Strafrecht nur vom Richter verhängt werden dürfen, dann kann die gewünschte Schutzwirkung des richterlichen Verfahrens, dann können seine Objektivität, die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung und eine angemessene, Schematisierungen vermeidende Individualisierung nur erreicht werden, wenn alle Verhaltensweisen, die potentiell solche Rechtsfolgen auslösen können, vom Richter beurteilt werden. Denn eine gerechte Einzelfallentscheidung ist nur denkbar aufgrund von Maßstäben, die aus dem Ganzen der Strafrechtsordnung gewonnen sind; sie setzt voraus, daß nach denselben Maßstäben festgelegt wird, ob eine Normverletzung als schwerwiegend oder als leicht zu gelten hat. Dann muß sich aber auch das Ausschließen der Kriminalstrafrechtsfolgen trotz Vorliegens eines Straftatbestandes und ihr Ersatz durch Sanktionen unterhalb der Kriminalstrafe nach denselben Gesichtspunkten richten wie das Verhängen eben dieser Rechtsfolgen. Wenn auf der Skala der einen Tatbestand unterfallenden Verhaltensweisen am unteren Ende je nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
und ihrer vorgesetzten Behörden ein jeweils unterschiedlicher Bereich einfach abgeschnitten und der richterlichen Beurteilung entzogen wii"d, dann können auch die für die richterliche Beurteilung verbleibenden Verhaltensweisen nicht mehr richtig eingestuft werden. Das hat sowohl Einfluß auf die Binnendifferenzierung der Vergehenstatbestände, d. h. auf die Relationen innerhalb. des Anwendungsbereichs einer Strafbestimmung, wie auch auf das Wertungsgefüge der Straftatbestände insgesamt, deren Zusammenhang und deren Verhältnis zueinander ein übergeordnetes Bewertungsschema für alle Straftaten ist!. Wird ein Teil der Strafrechtsordnung nach möglicherweise von Mal zu Mal verschiedenen Kriterien aus dem Diskussionszusammenhang und dem Prozeß der wechselseitigen Beeinflussung, dem gerade beschriebenen hermeneutischen Zirkel, der zur Erarbeitung einheitlicher Maßstäbe führt, herausgenommen, so wird die Konsistenz des Ganzen der Strafrechtsordnung in Frage gestellt3 • Das Erfordernis, die Strafrechtsnormen aus dem Ganzen der Strafrechtsordnung heraus zu konkretisieren, führt also dazu, daß die Konkretisierung letztlich bei einer Institution konzentriert sein muß und nicht auf zwei, in ihrem Kompetenzbereich sich überschneidende Organe verteilt werden darf. Da Art. 92 GG für das. Strafrecht einen präventiven richterlichen Rechtsschutz vorschreibt, darf die Konkretisierung der Strafrechtsnormen, die die Rechtsfolge Kriminalstrafe auslösen können, nur durch die Rechtsprechung erfolgen. Daraus, daß Einzelfallgerechtigkeit ohne Wahrung von Rechtseinheit nicht möglich ist, ergibt sich also, daß Art. 92 GG im Strafrecht der Rechtsprechung nicht nur Entscheidungen von einem gewissen Schweregrad anvertraut, sondern auch die Wahrung der Rechtseinheit. Daraus folgt, daß es ein Verstoß gegen Art. 92 GG ist, wenn die von der Staatsanwaltschaft nach § 153 a behandelten Fälle der Beurteilung der Rechtsprechung entzogen werden. Die Schwere der Sanktion ist also allein kein ausreichendes Kriterium für die Abgrenzung des Aufgabenbereichs der Rechtsprechung im
Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 70. Dafür, daß die isolierte Zuständigkeit für einzelne Deliktsbereiche zu einer Verschiebung der Maßstäbe führen kann, die Disparitäten in bezug auf die Relationen innerhalb der gesamten Strafrechtsordnung zur Folge hat, zwei Beispiele. Die Amtsanwälte, in deren Kompetenz die Behandlung der weniger schwerwiegenden Delikte fällt, sind offensichtlich zurückhaltender mit einer Einstellung nach § 153 a als ihre Kollegen bei den Landgerichten, die auch mit schweren Fällen vertraut sind,. obwohl der Anteil der Bagatellsachen bei den Amtsanwaltschaften erheblich größer ist als bei den Staatsanwaltschaften am Landgericht (vgl. o. § 6 Anm. 57). Andererseits sind die vornehmlich mit Wirtschaftsstraftaten befaßten Staatsanwälte noch bei Schadenssummen zu einem Vorgehen nach § 153 a bereit, die um ein Vielfaches über den bei "normalen" Vermögensdelikten üblichen Schadensobergrenzen liegen (vgl. o. S. 125 f.). 2
I
§ 13. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 und nach § 153
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Strafrecht. Zwar muß immer dann, wenn ein bestimmter Schweregrad erreicht ist, der Richter eingeschaltet werden. Es gilt aber nicht umgekehrt, daß immer schon dann, wenn dieser Schweregrad nicht erreicht ist, der Richter ohne Verletzung des Art. 92 GG aus dem Spiel bleiben könnte. Der Gesetzgeber kann zwar aus dem Strafrechtsbereich fest umrissene Komplexe herausnehmen und anderen Organen unterstellen, vorausgesetzt es handelt sich nicht um Sanktionen, die durch Art. 92 GG den Richtern vorbehalten sind. Er kann also eine Art vertikale Aufgabenverteilung vornehmen, wie dies für das Ordnungswidrigkeitenrecht geschehen ist. Er kann aber nicht Tatbestände grundsätzlich im Bereich der richterlichen Kontrolle dadurch belassen, daß sie weiterhin dem Strafrecht angehören, und dann einem nichtrichterlichen Organ durch weitgefaßtes Ermessen überlassen, ob es bestimmte Verhaltensweisen aus dem an sich richterlicher Kontrolle zugewiesenen Raum herausgreifen und selbst sanktionieren will, so daß innerhalb eines gewissen Bereichs für den Richter nur noch bleibt, was ihm überlassen wird. Die vertikale Aufgabenteilung muß der Gesetzgeber durch Beschränkung des Sanktionsmittels auf festumrissene Tatbestände, die dann dem Kriminalstrafrecht nicht mehr angehören, selbst vornehmen. Durch den Verstoß gegen Art. 92 GG wird, wie zu Beginn der Arbeit bereits dargelegt4, auch Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG verletzt. . § 13. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 und nach § 153 ebenfalls ein Akt der Rechtsprechung? Wenn die Entscheidung gemäß § 153 a ein Entzug von Rechtsprechung ist, ein übergreifen auf A~fgabengebiete, die den Richtern gemäß Art. 92 GG vorbehalten sind, muß man dann nicht auch die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 und nach § 153 als Ausübung von Rechtsprechung ansehen. Kann dann aber die Entscheidungsqefugnis des Staatsanwalts nach § 153 a noch als so schwerwiegende Verletzung des Art. 92 GG angesehen werden? Verbleibt dann § 153 a nicht doch grundsätzlich innerhalb eines Entscheidungsbereichs, der bisher schon staatsanwaltschaftliches Aufgabengebiet war. 1. § 170 Abs. 2
Für die Entscheidung nach § 170 Abs. 2 läßt sich das verneinen. Ihr fehlen die Merkmale, aus denen der Rechtsprechungscharakter des Vorgehens nach § 153 a abgeleitet wurde. 4
Vgl. o. S. 44.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
Gemäß §§ 152 Abs. 2, 160, 170 hat die Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines staatlichen Strafanspruchs vorliegen, genauer, ob eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür gegeben ist. Indem sie Anklage erhebt, gibt sie eine prozessuale Prognose darüber ab, daß nach ihrer Einschätzung die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung durch das. Gericht besteht!. Das Gericht ist in seiner Entscheidung an diese Prognose nicht gebunden. Sieht es ebenfalls die Voraussetzungen der Strafbarkeit als gegeben an, dann liegt darüber hinaus die Entscheidung, welche Folgen eine Straftat nach sich ziehen soll, allein in seiner Hand. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 ist demnach nichts anderes als die negative Prognose, daß es im Falle einer Anklageerhebung voraussichtlich nicht zu einer Verurteilung durch das Gericht kommen werde. "Es ist nicht die Aufgabe des Staatsanwalts, ein ,Vorrichter' zu sein. Sicherlich hat das Vorverfahren und die Entscheidung des Staatsanwalts eine ,Siebfunktion', die Aufgabe einer Auslese. Der Gesichtspunkt, der dabei maßgebend zu sein hat, wurde jedoch in den Materialien zur StPO richtig bezeichnet: ,Ergebnislose' gerichtliche Verfahren sollen vermieden werden. Das Gericht soll nicht mit Fällen befaßt werden, bei denen ein Schuldspruch als Ergebnis des Verfahrens nicht erwartet werden kann2." Ein direktes Übergreifen in die Aufgabe der Gerichte kann darin also nicht gesehen werden. Bedenklich wäre nur, wenn der Staatsanwalt durch seine Entscheidung, nicht anzuklagen, in einem Grenzbereich Kriminalpolitik betreiben könnte. Ein solches Problem taucht an zwei Stellen auf. Zum einen bei der viel diskutierten Frage, ob der Staatsanwalt berechtigt ist, über die Anklageerhebung nach seiner eigenen Rechtsauffassung zu entscheiden, oder ob er dabei an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden ist3 • Der BGH hat eine solche Bindung mit dem Hinweis auf Art. 92 GG bejaht4 • Soweit ihm das Schrifttum darin gefolgt ist, bildet die Berufung auf Art. 92 GG einen wesentlichen Bezugspunkt der Argumentations. In der Tat wird man als Folge der Erwägungen, mit denen jede Sanktionskompetenz der Staatsanwaltschaft im Bereich der an sich dem Kriminalstrafrecht zugehörigen Tatbestände abgelehnt 1
Lüttger, Abweichendes Verhalten, IH. 2., S. 122. Nowakowsi, Gutachten, S. 37 unter Berufung auf Hahn,
Materialien zur Strafprozeßordnung. 3 Vgl. dazu die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des 45. DJT 1964: "Ist die Staatsanwaltschaft an die ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden?", insbesondere das Gutachten von Nowakowski und die Referate von Schwalm und Hermann; vgl. ferner v. Koppenfels, Bindung der Staatsanwaltschaft m. ausführlichen Nachw. 4 BGHSt. 15, 155 ff. (160). 5 So z. B. Nowakowski, Gutachten, S. 31 ff.; Nüse, JR 1964, 282 f.; Schwalm, Referat, D 26 ff.; Traub, JuS 1961, 258. !
§ 13. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 und nach § 153
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wurde, eine solche Bindung bejahen müssen. Denn auch hier hätte es sonst der Staatsanwalt in der Hand, durch eine abweichende Auslegung Rechtspolitik zu betreiben und den Anwendungsbereich einer Vorschrift maßgeblich zu bestimmen. Diese Aufgabe ist aber durch Art. 92 GG in die Hand der Gerichte gelegt. Dabei muß hier nicht im einzelnen dargestellt werden, welchen Umfang diese Bindungswirkung hat und welche Schwierigkeiten ihre Verwirklichung mit sich bringen kann (Schwierigkeiten, die allerdings mehr theoretischer Art sein dürften). Etwas komplizierter liegen die Dinge, wenn wegen Nichtvorliegens eines genügenden Tatverdachts in tatsächlicher Hinsicht eingestellt wird. Die Frage, ob ein in tatsächlicher Hinsicht ausreichender Tatverdacht gegeben ist, hängt ja oft von der Intensität der Ermittlungen ab, und die steht im Ermessen der Staatsanwaltschaft. In der Praxis wird dieses Ermessen allerdings weitgehend bestimmt von ihrer Verfolgungskapazität bzw. von der Verfolgungskapazität der Polizei. Die bereits angeführte Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts hat ergeben, daß der Staatsanwalt die Ermittlungsarbeit im Sinne der Tataufklärung weitgehend der Polizei überläßt8 • Er greift allerdings dort ein, wo er ein Verhalten für besonders strafwürdig hält. Wenn er in anderen Fällen selbst nachermittelt bzw. nachermitteln läßt, dann nicht, wie man erwarten könnte, dort, wo ihm die Ermittlungen der Polizei ungenügend erscheinen, sondern dort, wo er die Verurteilungswahrscheinlichkeit schon nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis besonders hoch einschätzt und sich durch eigene Ermittlungen noch einmal besonders absichern wilF. Maßgeblich für die Verfolgung einer Tat durch die Staatsanwaltschaft ist demnach in erster Linie die Beweislage, wie sie sich aufgrund der polizeilichen Ermittlungen darstellt. So werden so gut wie alle UnbekannteTäter-Sachen eingestellt8• Beweisschwierigkeiten führen nur dann nicht zur Einstellung, wenn der Staatsanwalt eine Tat für besonders strafwürdig hält. Hier klagt er u. U. auch dann an, wenn er damit das Risiko eines Freispruchs eingeht8 •
Dieses Verhalten der Staatsanwaltschaft, das sich mit dem Legalitätsprinzip kaum noch in Einklang bringen läßt, ist eine Folge der Zwänge, die sich aus der Massenkriminalität und der ihr nicht gewachsenen Kapazität der Strafverfolgungsorgane ergeben und die zur Selektion zwingen10 • Daß es damit faktisch vom Ermessen der Staatsanwaltschaft abhängt, ebenso wie von dem der Polizei, was (weiter-)verfolgt wird, daß die Einschätzung der Staatsanwaltschaft über die Strafwürdigkeit 8 Sessar, ZStW 87 (1975), 1039 ff.; Steffen, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 267 ff.; Blankenburg / Sessar / Steifen, Staatsanwaltschaft, S. 90 ff., 303 f., 7 Sessar, ZStW 87 (1975), 1043 ff.; Blankenburg / Sessar / Steffen, S. 100. 8 Blankenburg / Sessar / Steifen, S. 81, 106, 307. 8 Blankenburg / Sessar / Steffen, S. 161 ff., 245, 316 f., 323, 326; Sessar, MSchrKrim 1979, 135. 10 Vgl. Blankenburg / Sessar / Steifen, Staatsanwaltschaft, S. 321 f.; Sessar, Kriminologie und Strafverfahren, S. 157 ff.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
eines Verhaltens wie über die Chance, zu gesicherten Ermittlungsergebnissen zu gelangen, faktisch darüber entscheidet, was vor die Gerichte kommt, und daß durch die auf diese Weise erfolgende Selektion in tatsächlicher Hinsicht die Durchsetzung der Normen und die Häufigkeit ihrer Anwendung gesteuert wird, ist kaum zu bestreiten. So bedenklich das Auseinanderklaffen von Strafverfolgungswirklichkeit und dem vom Gesetz geforderten Zustand einer gleichmäßigen Verfolgung aller Straftaten erscheinen mag, so handelt es sich hier doch um Probleme des Legalitätsprinzips, nicht um solche des Art. 92 GG. Zwar wird mittelbar durch die Einstellung nach § 170 Abs. 2 über den Anwendungsbereich der Normen verfügt, aber was man hieran bedenklich finden mag, läßt sich nicht durch einfache Kompetenzverlagerung auf den Richter aus der Welt schaffen, im Gegenteil, dadurch würde der Sinn der Arbeitsteilung zwischen Richter und Staatsanwalt empfindlich gestört. Soweit kritisiert wird, daß die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung nach § 170 die Strafwürdigkeit als Kriterium heranzieht und damit "Kriterien der Beweislage durch Kriterien des Strafanspruchs" ersetzt bzw. überlagert, also nicht "delikts- und täterneutral" vorgehtl l , so wird durch ein derartiges Vorgehen der Staatsanwaltschaft der durch § 170 Abs. 1 gegebene Entscheidungsspielraum überschritten, denn dieser bezieht sich nur auf die tatsächliche und rechtliche, nicht aber auf die kriminalpolitische Würdigung der Tat. Die Möglichkeiten der Abhilfe liegen hier in einer stärkeren Bindung des der Staatsanwaltschaft durch § 170 gewährten Ermessens bzw. "Beurteilungsspielraums". So kann man an das Aufstellen von gesetzlichen Selektionsregeln denken, verbunden mit einer Neudefinition des Legalitätsprinzips, die den Realitäten der Massenkriminalität Rechnung trägt1 2 , aber auch an Entkriminalisierung durch das Ausweichen auf andere als strafrechtliche Mittel der Sozialkontrolle. 2. § 153
§ 153 scheint dagegen dem Staatsanwalt Kompetenzen zuzuweisen, die denen des § 153 a zumindest angenähert sind. Mit der Entscheidung nach § 153 wird ebenfalls Einfluß auf die Grenzen und damit auf die inhaltliche Konkretisierung der Vergehenstatbestände genommen. Man kann die Straffreiheit, die sich aus der Anwendung des § 153 ergibt, als einen Grenzfall der Strafzumessung ansehen, so daß der Staatsanwalt auch hier in der oben allgemein beschriebenen Weise an der Ausdifferenzierung der Vergehenstatbestände teilhat und Kriminalpolitik betreibt. 11
BlankenbuTg / SessaT / Steffen, S. 317, 333.
Vgl. dazu Zipf, Festschr. PeteTs, S. 494 ff.; Steffen, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 291 ff.; Weigend, Anklagepflicht, S. 167 ff. 12
§ 13. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 und nach § 153
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Aber es handelt sich dabei, wie schon mehrfach gezeigt wurde 13 , lediglich um einen Grenzbereich, in dem dem Ermessen des Staatsanwalts nur ein relativ geringer Spielraum eingeräumt ist. Wir haben oben die unterschiedlichen Inhalte des "öffentlichen Interesses" in § 153 und § 153 a dargestellt1 4 • § 153 umfaßt nach inzwischen wohl h. M. die Fälle des eigentlich nicht mehr Strafwürdigen, der Bagatellen, die aufgrund der Unzulänglichkeiten des materiellen Rechts nicht von vornherein ausgeschieden sind16 • Der Staatsanwalt hat also zu fragen, wann die Strafzwecke keinerlei Reaktion erforderlich machen, in welchen Fällen gewissermaßen die Rechtsfolge "Null" angemessen ist. Das kann innerhalb der Verhaltensweisen, die formell die Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllen, immer nur ein sehr schmaler Sektor sein, auch wenn er zahlenmäßig nicht gering ist. Unter diesem Blickwinkel hat § 153 eine ähnliche Siebfunktion wie § 170 Abs. 2, nämlich eigentlich nicht strafbare Handlungen auszusondern. Die Entscheidung nach § 153 hält sich demnach noch innerhalb des der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren zugewiesenen Aufgabenbereichs, soweit er darin besteht, Verfahren auszuscheiden, "bei denen ein Schuldspruch als Ergebnis des Verfahrens nicht erwartet werden kann"18. Der Anwendungsbereich des § 153 a reicht dagegen so weit, wie die Rechtsfolgen dieser Vorschrift noch den Strafzwecken genügen können, und die Entscheidung darüber, ob das der Fall ist, liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaft17. Daß es sich dabei nicht nur um Randbereiche handelt und welchen Einfluß damit der Staatsanwalt auf die Ausdifferenzierung der Vergehenstatbestände und mittelbar auch auf die richterliche Strafzumessung nehmen kann, wurde ausführlich dargestellt. Zugleich bestimmt der Staatsanwalt mit der Entscheidung über die Anwendbarkeit des § 153 a den Umfang eines Rechtsgebietes, innerhalb dessen er die Sanktionsgewalt hat. Es bestehen also bezüglich der Möglichkeiten, auf Grenzen und Inhalt der Vergehenstatbestände Einfluß zu nehmen, gewisse Parallelen zwischen § 153 und § 153 a. Jedoch sind die durch § 153 verliehenen Befugnisse im Verhältnis zu denjenigen, die dem Staatsanwalt aus § 153 a erwachsen, so gering und eingegrenzt, daß sie sowohl den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers wie den des Richters nur am Rande tangieren und daher, mißt man sie an den zur Prüfung des § 153 a her13 Vgl. dazu o. S. 110 f. und § 9, 2. 14 Vgl. o. § 6, 2. 16 Vgl. die Nachw. in § 6 Fn. 29. Damit verträgt sich allerdings nicht die Auffassung, der Staatsanwalt dürfe bei § 153 nach Opportunität entscheiden. Entscheidungskriterien können vielmehr nur die Strafzwecke sein. 16 Zitat Nowakowski, Gutachten, S. 37. 17 Vgl. o. § 6, 2.
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2. Teil: Konkretisierung der Strafgesetze als richterliche Aufgabe
angezogenen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, nicht bedenklich oder zumindest erträglich erscheinen. Daß dies im Fall des § 153 a ganz anders gesehen werden muß, haben wir nachzuweisen versucht. Damit ist nicht gesagt, daß § 153 eine im Ganzen befriedigende Lösung darstellt. Wenn die Vorschrift tatsächlich das nichtstrafwürdige Unrecht aussondern soll, dann darf dies nicht im Ermessen der Staatsanwaltschaft stehen. Die Straflosigkeit solcher Fälle muß vielmehr obligatorisch sein. Dazu verhilft nur eine materiellrechtliche Lösung, weil nur dann der Betroffene sich darauf berufen und dies auch mit Rechtsmitteln geltend machen kann18•
18 Vgl. dazu Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 232 und vor allem Naucke, Festschr. Maurach, S. 208 ff. Zu den Möglichkeiten, auch über das Verfahrensrecht zu einer größeren Garantie der Gleichbehandlung bei der sanktionslosen Einstellung wegen Geringfügigkeit zu gelangen, vgl. einerseits Cramer, Festschr. Maurach, S. 487 ff., andererseits Zipf, Festschr. Peters, S. 50 ff. und zusammenfassend Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 217 f. Wenn man die inzwischen wohl h. M. teilt, daß § 153 das Ausscheiden von unbedingten Bagatellen, von Fällen des eigentlich nicht mehr Ahndungsbedürftigen also, ermöglichen soll, dann wird in den oben geschilderten Fällen der Einstellung von Wirtschaftsdelikten mit hohen Schadenssummen der Ermessensspielraum des § 153 eindeutig überschritten. Die beiden Reformalternativen: übernahme des § 153 in das materielle Recht oder verbesserte verfahrensrechtliche Lösung müßten sich daher auch daran messen lassen, wieweit sie in der Lage sind, solchen Ermessensfehlgebrauch zu verhindern.
3. Teil
Anklageprozeß und Sanktionshefugnis der Staatsanwaltschaft § 14. Gestörte Aufgabenteilung zwischen Richter und Staatsanwalt durch eigene Sanktionsbefugnisse der Staatsanwaltschaft
a
Die durch § 153 dem Staatsanwalt verliehenen Sanktionsbefugnisse sind aber auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt bedenklich. Eines der grundlegenden Strukturprinzipien unseres "reformierten" Strafprozesses ist die Trennung von Ermittlungs- und Urteilsfunktion durch die Aufgabenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter!. Sie ermöglicht erst eine unvoreingenommene, neutrale Haltung des Gerichts und stellt daher eine der wichtigsten Maßnahmen zum Schutze des Beschuldigten dar. Ist die staatsanwaltschaftliche Sanktionskompetenz des § 153 a mit dieser prinzipiellen Aufgabenteilung vereinbar? Wird hierdurch nicht die justizinterne Gewaltenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter auf eine unzulässige Weise einseitig zugunsten der Staatsanwaltschaft verschoben? Es wird allerdings immer wieder versucht, den Unterschied, ja Gegensatz von richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Aufgaben herunterzuspielen mit der Behauptung, der Staatsanwalt nehme der Sache nach richterliche Aufgaben wahr. Darauf wird zunächst einzugehen sein (unten 1.). Danach ist das Verhältnis Richter-8taatsanwalt im einzelnen zu beschreiben und darzulegen, wie weit das Grundgesetz zur Funktionsteilung zwischen beiden Organen der Strafrechtspflege Stellung nimmt (unten 2.). An dem so gewonnenen Bild des Verhältnisses von Richter und Staatsanwalt ist dann § 153 a zu messen (unten 3.). 1. Richterliche Aufgaben der Staatsanwaltschaft?
Zur Begründung ihrer Forderung nach Gleichstellung mit den Richtern wird von Staatsanwälten immer wieder das Argument angeführt, die Staatsanwaltschaft übe im Strafverfahren in vielen Fällen richter1
Eb. Schmidt,
15 Kausch
LehrK I, Rdnr. 93.
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3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
liche oder richtergleiche Funktionen aus2 • Das ergebe sich schon daraus, daß ihr diejenigen Ermittlungsaufgaben übertragen worden seien, die im Inquisitionsprozeß noch zur Zuständigkeit des Richters gehört hätten3• Die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung, durch die der überwiegende Teil aller Verfahren erledigt werde, komme einem vorweggenommenen richterlichen Freispruch gleich4 • Bei der Entscheidung über die Anklageerhebung leiste der Staatsanwalt "die gleiche geistige Arbeit unter den gleichen rechtlichen Voraussetzungen wie der Richter später bei der Urteilsfindung"5. Das staatsanwaltschaftliche Vorverfahren sei zum Schutze des Beschuldigten vor willkürlicher Strafverfolgung geschaffen worden, wobei der Staatsanwalt als eine Art Vorderrichter über die Berechtigung des staatlichen Strafanspruchs entscheide ("Zwillingsgericht"}6. Staatsanwaltschaft und Gericht arbeiteten in wechselseitiger Angewiesenheit aufeinander zur Herbeiführung eines gerechten Urteils zusammen und seien dabei an dieselben Grundsätze der Objektivität, der Unparteilichkeit und der Gerechtigkeit gebunden7 • In der Tat scheinen manche Elemente in der Stellung der Staatsanwaltschaft der des Richters angenähert zu sein. Sie ist nicht Partei i. S. des anglo-amerikanischen adversary-Systems, sondern muß die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände ebenso ermitteln und berücksichtigen wie die belastenden (§ 160 Abs. 2). Sie ist ebenfalls an "Wahrheit und Gerechtigkeit" gebunden8 • In diesem Zusammenhang wird das Wort von der "objektivsten Behörde der Welt" immer wieder gerne zitiert'. 2 Görcke, ZStW 73 (1961), 578 ff., 589 f.; Kaiser, NJW 1962, 201; Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 46 ff.; DRiZ 1964, 288 ff.; Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte, DRiZ 1968, 361; Wagner, NJW 1963, 8 ff.; DRiZ 1972, 167; vgl. auch Göbel, NJW 1961, 858. 3 Kaiser, NJW 1961, 201; Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 39; DRiZ 1964, 288, 290; Wagner, NJW 1963, 8; JZ 1974, 218; vgl. auch Jescheck, American Journal of Comparative Law 1970, 510, 512. 4 Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 41 ("unbeschadet der geringeren Rechtskraftwirkung und des Fehlens des Strafklageverbrauchs"); Görcke, zstw 73 (1961),578; Wagner, DRiZ 1972,167. 5 Görcke, ZStW 73 (1961), 576. e Kohlhaas, DRiZ 1964, 288 f. 7 Göbel, NJW 1961, 857; Görcke, ZStW 73 (1961), 578; Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte, DRiZ 1968, 358, 361. 8 Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 96. D Zur Herkunft dieses "stolze(n) uns allen so lieb gewordenen Wort(es) von der Staatsanwaltschaft als der "objektivsten Behörde der Welt" vgl. Günther, Staatsanwaltschaft, S. 8; zuletzt wieder als Argument gegen die Bedenken, die sich gegen die Erweiterung der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft durch § 153 a richten, angeführt von Leonardy, dem Vertreter des Deutschen Richterbundes auf dem 51. DJT, Sitzungsbericht, N 88. Zweifel an der Berechtigung dieses Selbstverständnisses bei Kohlmann, Festschr. Peters, S. 313 m. w. Nachw.
§ 14. Gestörte Aufgabenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter
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Nun ist die Staatsanwaltschaft allerdings weisungsgebunden. Aber gerade darin sehen die Vertreter der Auffassung von der richtergleichen Funktion der Staatsanwaltschaft eine Systemwidrigkeit. Sie fordern daher richterliche bzw. richtergleiche Unabhängigkeit für den Staatsanwalt bzw. gehen davon aus, daß, da die Staatsanwaltschaft bereits jetzt Rechtsprechungstätigkeit ausübe, sie auch schon jetzt zu den Rechtsprechungsorganen i. S. des Art. 92 GG zu zählen sei, so daß ihr jetzt schon qua Verfassung diese Unabhängigkeit zukomme10• Entgegenstehende Vorschriften des GVG seien verfassungswidrigl1 • Nun mag es gute Gründe für die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft geben12 , was hier dahinstehen kann. Dennoch kann von einer richtergleichen Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das würde die Dinge auf den Kopf stellen. Das läßt sich am besten deutlich machen, wenn man den Gründen nachgeht, die zur Einführung der Staatsanwaltschaft geführt haben. 2. Die Funktion der Staatsanwaltsmaft Im Anklageproze8
Staatsanwaltschaft und Anklageprozeß haben das Inquisitionsverfahren abgelöst und sind bewußt als Antwort auf dessen Unzulänglichkeiten konzipiert. Ermittlungs- und Urteilstätigkeit durch ein- und dieselbe Person, den Inquisitionsrichter, hatten sich als eine psychologische Überforderung herausgestellt. Der Richter, der auch die Untersuchungen geführt hat, kann in der Regel nicht genügend Distanz zum Ergebnis seiner Ermittlungen erlangen, um als Richtender diesen Ermittlun10 Vgl. die in Fn. 2 Genannten. Nach Kohlhaas (Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 46) hat die durch den Wortlaut des Art. 92 GG gegebene Beschränkung der "rechtsprechenden Gewalt" auf die "Richter" nichts zu besagen, denn wenn der Verfassungsgeber die Staatsanwaltschaft nicht zu den Organen der Rechtsprechung i. S. des Art. 92 GG hätte zählen wollen, hätte er das "mit einem kleinen Satz wie etwa ,Die Staatsanwälte zählen nicht zu den Richtern' in Art. 92 GG" zum Ausdruck bringen müssen. Diese Form der Argumentation ist zumindest ungewöhnlich und wäre nur dann methodisch vertretbar, wenn nach gängigem Verständnis oder dem für die Auslegung von Verfassungsvorschriften u. U. heranzuziehenden "vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild" unter den Begriff "Richter" auch einmal Staatsanwälte fallen könnten. Das behauptet aber nicht einmal Kohlhaas. 11 Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 46, 63; Wagner, NJW 1963,
8.
t! Vgl. dazu Roxin, DRiZ 1969, 386 ff. Zur Frage, wie weit eine sachliche Unabhängigkeit des Staatsanwalts schon nach geltendem Recht für die Entscheidung von Rechtsfragen besteht, vgl. Kleinknecht, StpO, § 146 GVG, Rdnr. 3 ff.; Eb. Schmidt, MDR 1964, 716 f.; Roxin, a.a.O. Gegen eine richtergleiche Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft z. B., Blomeyer, GA 1970 161 ff., und Günther, Staatsanwaltschaft, S. 47 ff. Bezeichnend ist im übrigen, daß Görcke, Kohlhaas und Wagner, jeder ehemals Staatsanwalt in hoher Position, das Weisungsrecht innerhalb der Staatsanwaltschaft (§§ 146, 147 Nr. 3 GVG) nicht angetastet wissen wollen. Zur Widersprüchlichkeit dieser Haltung vgl. Eb. Schmidt, MDR 1964, 715 und Bucher, JZ 1975, 106.
lS·
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3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
gen objektiv gegenüberzustehen und auch ihre Schwächen zu erkennen13. Ein mit dem Ermittlungsergebnis nicht übereinstimmendes Urteil desavouiert ihn immer zugleich selbst. Man braucht nicht erst moderne Theorien wie die Rollentheorie oder die Theorie der kognitiven Dissonanzen zu bemühen14, um plausibel zu machen, welche psychischen Mechanismen einsetzen, um sich den Ermittlungsergebnissen widersprechenden neuen Einsichten zu verschließen. Die Ermittlungstätigkeit ist also unvereinbar mit der Urteilstätigkeit. Es ist daher nicht zu halten, wenn immer wieder zur Begründung der richtergleichen Position des Staatsanwalts angeführt wird, die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft sei ursprünglich richterliche Tätigkeit gewesen, sie sei nur aus dem Aufgabenbereich des Richters herausgelöst worden, sei aber ihrer Natur nach richterliche Tätigkeit16. Das Gegenteil ist richtig. Die Ermittlungsaufgaben wurden dem Richter weggenommen, gerade weil sie sich als unvereinqar mit der Natur des Richtens erwiesen hatten. Daraus, daß im Inquisitionsverfahren der Richter einmal zugleich Untersuchungsführer war, läßt sich also nichts über die Qualifikation der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit herleiten oder jedenfalls nur, daß sie eben gerade keine richterliche Tätigkeit ist1'. Im übrigen ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaft rechtsstaatlich wichtig genug, um ohne Anleihe vom Glanz des Richteramtes auszukommen. Entscheidender Gesichtspunkt für die Einführung der Staatsanwaltschaft war also, um dieser Hauptschwäche des Inquisitionsprozesses zu begegnen, die "Verbesserung der richterlichen Lage durch Ermöglichung unparteiischer Prüfung eines von anderer Stelle, nämlich dem Staatsanwalt gesammelten Materials"17. Der Staatsanwalt sollte also nichts anderes als die Tätigkeiten übernehmen, die die Unbefangenheit des Richters beeinträchtigen; er dient, um es einseitig und pointiert zu formulieren, als Vehikel richterlicher Objektivität. Die weiteren Gründe für die Einführung der Staatsanwaltschaft faßt Eb. Schmidt so zusammen 1B : "Wahrung des öffentlichen Charakters der Strafe" (den sie 13 Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 347 f. m. w. Nachw.; Küper, Richteridee, S. 110 ff.; 179 ff.; Roxin, DRiZ 1969, 385. 14 Zur Rollentheorie, insbesondere zum Rollenkonflikt vgl. Dahrendorj, Homo-sociologicus; zur Theorie der kognitiven Dissonanzen vgl. Festinger, Theory of Cognitive Dissonance. 15 Vgl. die Nachw. in Fn. 3. Wenn Jescheck, a.a.O. (Fn. 3), S. 510, die Verpflichtung des Staatsanwalts zur Objektivität als Folge der Übernahme ehemals richterlicher Aufgaben darstellt, dann ist dies zumindest mißverständ11ch, denn die Staatsanwaltschaft wurde ja eingeführt, weil sich die Verfolgungsfunktion als unvereinbar mit dem Erfordernis richterlicher Unvoreingenommenheit erwiesen hatte. 18 Sarstedt, NJW 1964, 1753; vgl. auch Günther, Staatsanwaltschaft, S. 51 ff.; Nowakowski, Gutachten, S. 34. 17 Eb. Schmidt, Festschr. Kohlrausch, S. 281. 18 a.a.O.; vgl. auch Nowakowski, Gutachten, S. 46.
§ 14. Gestörte Aufgabenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter
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durch die von Amts wegen einsetzende Untersuchung des Inquisitionsrichters hatte im Gegensatz zu einer Abhängigkeit des Verfahrens von einer Klage des Verletzten), "sichere Gewähr dafür, daß vor Klageerhebung die Sache sorgfältig geprüft und von vornherein an dem für die Bewertung maßgebenden richtigen juristischen Gesichtspunkt orientiert wird, strenge thematische Begrenzung der richterlichen Untersuchungs- und Rechtsfindungstätigkeit durch die Anklage, deutlicher Hinweis des Angeschuldigten auf die für seine Verteidigung maßgebenden Gesichtspunkte", alles Gesichtspunkte, die unvermindert gelten. Wichtig für die Beurteilung der Funktion des Staatsanwalts ist auch der kontradiktorische Aufbau des Anklageprozesses. Gewiß, der Staatsanwalt ist keine Partei1 9• Der Richter führt in der Hauptverhandlung die Untersuchung und ist dadurch mehr als nur Zuschauer und Schiedsrichter eines Streites zwischen Angeklagtem und Staatsanwalt. Der Staatsanwalt ist seinerseits zur Objektivität verpflichtet. Aber sowenig, wie man aus psychologischen Gründen dies vom Inquisitionsrichter erwarten konnte, so wenig kann man vom Staatsanwalt erwarten, daß er immer zur Distanz zu dem von ihm gesammelten Verdachtsmaterial fähig ist. Insofern haftet ihm immer etwas von einer ParteisteIlung, einer Frontstellung gegen den Angeklagten an, und gerade weil das unvermeidlich ist, sollte er diese Aufgabe auf sich ziehen und dem Richter Unbefangenheit ermöglichen. "Die Einführung des Anklägers erleichtert dem Beschuldigten des weiteren psychologisch die Verteidigung. Seine prozessualen Rechte stehen denen des Anklägers gegenüber. Das Gericht ist der Diskussion entrückt. Der Angeklagte kann sich gegen den Antrag des Anklägers wenden, ohne gegen das Gericht und dessen Initiative zu polemisieren. Insoweit ist es auch unabhängig von den Vorstellungen und Zielen einer "liberalen Bewegung" richtig, daß dem Beschuldigten durch die Einsetzung eines Organs, das als Ankläger auftritt, ,sozusagen die Wohltat eines Gegners erwiesen' wird2o ." Das Wesentliche des Anklageprozesses im Gegensatz zum Inquisitionsprozeß ist also, daß die Ermittlungen des Staatsanwalts als "bloße Verdachtsbegründung"21, "als Beitrag einer zunächst einmal vom Verdacht her urteilenden Stelle anzusehen" sind22 und damit immer inbegriffen ist, daß die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Situation in eine Art Gegnerschaft zum Beschuldigten gerät, die völlige Objektivität aus 19 BGHSt. 15, 155 ff. (159); Eb. Schmidt, LehrK I, Rdnr. 105 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 105 ff.; Schäfer, Strafprozeßrecht, Kap. 9 Rdnr. 4;
h.M. 20 Nowakowski, Gutachten, S. 18 f.; unter Berufung auf Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 112. 21 Eb. Schmidt, Festschr. Kohlrausch, S. 303 f. %2 Eb. Schmidt, S. 293.
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3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
psychologischen Gründen ausschließt. Daher ist ihre Verpflichtung zur Objektivität eher als "regulative Idee" aufzufassen denn als ernsthafte Erwartung des Gesetzgebers, der Staatsanwalt könne ihr in vollem Umfang gerecht werden23, und daher ist die wichtigste Sicherung für den Beschuldigten die Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse durch das Gericht. Die Rolle des Staatsanwaltes ist also die eines Entscheidungsgehilfen für das Gericht24 , der diesem die Objektivität ermöglichen soll, bei dem sie aber nicht im gleichen Maße vorausgesetzt werden kann. Daraus resultierte von Anfang an das Bestreben, die staatsanwaltliche Tätigkeit durch das Gericht kontrollieren zu lassen, und das Mißtrauen gegen zu viele Machtbefugnisse des Staatsanwaltes25 • So kam es zwar durch die Einführung des Anklageprinzips nicht mehr in Frage, daß das Gericht von sich aus tätig wurde, aber es sollte nicht vom Ermessen des Staatsanwalts abhängen, ob eine Tat verfolgt wird oder nicht, sondern die Machtfülle, die das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft darstellt, schien nur erträglich, wenn sie jeglichem Ermessen entzogen war. Das führte zur Einführung des Legalitätsprinzips, das als Ergänzung des Anklagemonopols angesehen wurde (und wird)28. Das Mißtrauen vor eigenen Machtbefugnissen der Staatsanwaltschaft drückt sich weiter darin aus, daß sie zunächst und grundsätzlich zu keinerlei Zwangsmaßnahmen berechtigt sein sollte, sondern sich dazu immer an den Ermittlungsrichter wenden mußte 27 • Ebenfalls ein Ausfluß des Mißtrauens gegen die Staatsanwaltschaft, deren Tätigkeit man möglichst weitgehend unter richterlicher Kontrolle wissen wollte, war die Einrichtung der (jüngst wieder abgeschafften) Voruntersuchung 28 • Nach der ursprünglichen Konzeption der StpO sollten also alle wesentlichen Entscheidungen mit Ausnahme der Einstellung nach § 170 ~bs. 2 in der Hand des Gerichts liegen. Und auch für die Entscheidung Vgl. Eb. Schmidt, a.a.O. und neuerdings Rieß, Festschr. Schäfer, S. 195. Das steht nicht in Widerspruch zu der gemäß § 150 GVG statuierten Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft vom Gericht. Denn es kommt hierfür "nicht auf die institutionelle Selbständigkeit der Staatsanwaltschaft, sondern auf ihre Funktion im Zusammenwirken mit dem Gericht an" (Nowakowski, Gutachten, S. 10). 11 Zu dem in die Anlage der stpo eingegangenen Mißtrauen gegen die Staatsanwaltschaft vgl. Hermann, Referat, D 42; Hermann, JuS 1976, 414; Kaiser, Strategien, S. 72; Kern, Strafverfahrensrecht, 8. Aufl., S. 6; Moos, Strafrecht, Strafvergleichung, S. 42 ff.; Eb. Schmidt, Festschr. Kohlrausch, S. 310; Weigend, Anklagepflicht, S. 28. 20 Dencker, JZ 1973, 147; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 94; vgl. auch Kleinknecht, StPO, § 152 Rdnr. 2; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 63. n Welp, Zwangsbefugnisse, S. 6; vgl. auch Grünwald, Gutachten, C 30 f. und BT-Drucks. 7/551, S. 38. t8 Grünwald, Gutachten, C 30 ff., Hermann, JuS 1976, 414; BT-Drucks. 7/551, S. 38 ff., 71 ff. 28
U
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nach § 170 Abs. 2 gab und gibt es in Form des Klageerzwingungsverfahrens eine mittelbare richterliche Kontrolle29• Man mag der Meinung sein, in diesem System richterlicher Kontrollen und eingeschränkter Befugnisse der Staatsanwaltschaft komme nur die Vorliebe des Liberalismus für die Justiz zum Ausdruck und eine Überschätzung der Position des unabhängigen Richters aufgrund der Erfahrungen mit dem absolutistischen Polizeistaat. Gegenüber der Staatsanwaltschaft in einem modernen Rechtsstaat sei ein solches Mißtrauen nicht mehr angebracht. In der Tat werden die jüngst der Staatsanwaltschaft durch das 1. StVRG verliehenen Zwangsbefugnisse auch damit gerechtfertigt, daß die Staatsanwaltschaft als ein "der dritten Gewalt zugeordnetes Rechtspflegeorgan" Vertrauen verdiene, denn sie habe ihre Fähigkeit bewiesen, ihren Aufgaben "unter der gebotenen Wahrung der Rechte des Beschuldigten" nachzukommen3o • Das Grundgesetz dürfte jedoch die Einstellung des Liberalismus teilen. Es wurde schon dargestellt, welch starke Stellung der Dritten Gewalt insgesamt zugedacht ist. Die Stellung des Richters ist stärker ausgebaut als je in einer deutschen Verfassung. Ihr wie dem Aufbau der Gerichtsbarkeit sind eine große Anzahl von Einzelvorschriften gewidmet. Über den Staatsanwalt verliert das Grundgesetz dagegen kein Wort81 • Man muß sich dazu klarmachen, vor welchem Hintergrund das Grundgesetz das Rechtswesen neu ordnen wollte. Es ist eine unmittelbare Antwort auf die Erfahrungen der Weimarer Zeit und vor allem auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus hatte das Verfahren der StPO, in dem der Schutz des Unschuldigen und die Wahrung der Rechte auch des Schuldigen, sein Anspruch auf eine justizförmige Verurteilung, gleichrangige Verfahrensziele neben der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs sind, umfunktioniert in einen Prozeß, in dem die Effektivität der Strafverfolgung zur obersten Richtschnur, die Unschuldsvermutung als Leitprinzip prozessualen Vorgehens aufgehoben und die Rechte des Ben Es ist daher bezeichnend, daß das Klageerzwingungsverfahren im Dritten Reich durch Art. 9 § 2 Abs.3 der sogenannten 2. Vereinfachungsverordnung (VVO) v. 13.8. 1942 (RGBl. I, S. 508) beseitigt wurde. Das war keine rein kriegsbedingte Maßnahme, sondern gehörte zu den Forderungen des nationalsozialistisch beeinflußten strafprozessualen Schrifttums der Dreißigerjahre (Nachw. bei Koch, Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich, S. 11, Fn. 3) und war im StVO-Entwurf 1939,· der eine Gesamtreform des Strafverfahrens bringen sollte, vorgesehen (Koch, S. 242; Schäfer, Strafprozeßrecht, Kap. 4, Rdnr. 19). Zur Kritik an den jüngsten Einschränkungen des Klageerzwingungsverfahrens Ivgl. Dencker, JZ 1973, 147. 30 BT-Drucks. 7/551, S. 38; vgl. dazu auch Welp, Zwangsbefugnisse, S. 9 und die dort in Fn. 20 gegebenen Nachw. zu ähnlichen Begründungen in der Literatur. 31 Vgl. dazu Nowakowski, Gutachten, S. 32 f.; Schwalm, Referat, D 25; Lüttger, 45. DJT, Sitzungsbericht, D 72 (Diskussionsbeitrag).
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3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
schuldigten dementsprechend als unerwünschte Hindernisse auf dem Weg zur "materiellen Wahrheit" angesehen wurden32 • Einer der entscheidenden Hebel für diese "Auflockerung des Verfahrens"33, wie die Formel für den Abbau der prozessualen Rechte des Beschuldigten lautete, war die Stärkung der Stellung der Staatsanwaltschaft auf Kosten des Richters. So wurde die richterliche Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Maßnahmen eingeschränkt oder gänzlich beseitigt, dem Staatsanwalt eigene Zwangsmittel zur Verfügung gestellt bis hin zur Zuständigkeit für den Erlaß von Haftbefehlen34 und schließlich eine Sanktionsbefugnis, vergleichbar mit der des § 153 a, übertragen35 . Die durchaus erwünschte - Folge dieser Verschiebung des prozessualen Gleichgewichts zugunsten des Staatsanwalts charakterisiert Rohling, einer der damals führenden Prozeßtheoretiker, so: "Die erhebliche Stärkung der Stellung des Staatsanwalts, insbesondere die Beseitigung jeder richterlichen Kontrolle des Vorverfahrens, bringt es mit sich, daß der Beschuldigte wieder mehr oder weniger zum Objekt der Untersuchung wird36 ." Gerade damals wurden Bedenken gegen. eine solche Stärkung. der Staatsanwaltschaft hinweggewischt mit der Feststellung, das Mißtrauen gegen den Staatsanwalt sei ein typisches Zeichen einer liberalistischen Haltung, womit alles etikettiert und als überflüssig oder schädlich abgetan wurde, was rechtsstaatliche Garantien zum Inhalt hatte37• So wird die Einführung der Staatsanwaltschaft als Ausfluß des Gewaltenteilungsprinzips dargestellt38 • Da man daraus die Beschränkungen der staatsanwaltschaftlichen Machtbefugnisse herleitet, wer3! Zu den Veränderungen des Strafverfahrens durch den Nationalsozialismus vgl. Koch, Reform des Strafverfahrens im Dritten Reich; Müller, KJ 1977, 14 ff.; Schäfer, Strafprozeßrecht, Kap. 3 Rdnr. 2i ff., Kap. 4 Rdnr. 12 ff.; Wagner, in: Wagner I Weinkauff, Die Deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil I, S. 256 ff. 33 Vgl. dazu Schäfer, Kap. 4 Rdnr. 18. U So erhielt 1944 durch Art. 2 §§ 5, 6 der 4. VVO v. 13. 12. 1944 (RGBI. I, S. 339) der Staatsanwalt das Recht, einen Haftbefehl zu erlassen und Beschlagnahmen und Durchsuchungen anzuordnen, auch wenn keine Gefahr im Verzug war. Es bedurfte weder einer richterlichen Bestätigung dieser Anordnungen, noch konnte eine gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Auc:h dies waren keine kriegsbedingten Maßnahmen, sondern entsprach dem StVO-Entwurf (vgl. Koch, S. 243). 35 Art. 2 § 8 Abs.3 der 4. VVO v. 13. 12. 1944 (RGBl. I, S. 339), vgl. o. S. 32. 38 DJZ 1935, Sp. 1350. 37 Zur Abwertung der rechts staatlichen Prinzipien des Strafverfahrens als "liberalistisch" und "individualistisch" vgl. Koch, Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich, S. 44 ff.; Eb. Schmidt, Festschr. Kohlrausch, S. 269 ff.; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, bei dem allerdings der Aspekt des materiellen Strafrechts im Vordergrund steht. Speziell zum Staatsanwalt vgl. Koch, S. 112 ff. und Eb. Schmidt, a.a.O. 88 Vgl. Koch, S. 60 ff., 127 ff.; Eb. Schmidt, S. 270.
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den diese Beschränkungen im Zeichen des Führerprinzips für unnütz gehalten. Eb. Schmidt muß, um die Reform des Inquisitionsprozesses, also den Anklageprozeß und die Verbesserungen, die er für die RechtssteIlung des Beschuldigten gebracht hat, zu verteidigen, diese vor der (als Abwertung gedachten) Beurteilung in Schutz nehmen, es sei darum gegangen, "die staatliche Macht einzuschränken, ... um die Energie der Verbrechensverfolgung an verfassungsrechtlichen Schranken. zum Schutze staatsbürgerlicher Freiheit sich brechen zu lassen"39. Damit, wenngleich als Verketzerung des Liberalismus gedacht, ist aber die Haltung des Grundgesetzes gegenüber staatlicher Strafverfolgungsmacht ziemlich genau umschrieben. Der Ausbau der verfassungsrechtlichen Stellung des Richters durch das Grundgesetz ist daher auch zu verstehen als eine Reaktion auf die Denaturierung des Strafverfahrens unter dem Nationalsozialismus, zu der die Zurückdrängung des Richters und die überlassung ehemals richterlicher Kompetenzen an den Staatsanwalt nicht wenig beitrug. Es ist daher keine überinterpretation, wenn man davon ausgeht, daß das Grundgesetz ein Bild des Verhältnisses von Richter und Staatsanwalt rezipiert hat, das dem ursprünglichen Rechtszustand, bei dem alle wesentlichen Entscheidungen dem Richter vorbehalten sind und die Tätigkeit des Staatsanwalts richterlicher Kontrolle unterliegt, weitgehend entspricht und in dem das Mißtrauen gegenüber staatsanwaltschaftlichen Machtbefugnissen durchaus eine Rolle spielt. Zu lokaliSieren ist eine solche verfassungsrechtliche Festschreibung der Aufgaben., teilung zwischen Richter und Staatsanwalt in Art. 92 GG und in dem in Art. 20 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip. Damit soll die rechtsstaatliche Loyalität der Staatsanwaltschaft nicht in Frage gestellt werden, aber es heißt das Wesen des RechtsstaatS· verkennen, wenn man glaubt, man könne den Abbaurechtsstaatlicher Kontrollen damit rechtfertigen, "daß sich die bisher kontrollierte Instanz als vertrauenswürdig erwiesen habe"40. Mit den Worten Adolf Arndts41 : 38 S. 275. Der Sache nach laufen auch Eb. Schmidts Argumente für eine starke Stellung des Beschuldigten auf die Notwendigkeit der Beschränkung und Einbindung staatlicher Macht bei der Strafverfolgung hinaus. Er muß dies nur, um im Jahre 1944 (!) überhaupt solche Gedanken äußern zu können, sehr viel subtiler und versteckter ausdrücken. 40 Grünwald, Gutachten, C 3I. 41 Festgabe C. Schmid, S. 7; vgl. auch Günther, Staatsanwaltschaft, S. 47. Vgl. weiter Grünwald, Vorgänge 1975, 39: "Man hat den Rechtsstaat nicht verstanden, wenn man meint, Kontrollen unter Hinweis auf die Vertrauenswürdigkeit einer staatlichen Institution aufgeben zu können. Rechtsstaatlich unbedenklich wäre eine übertragung richterlicher Befugnisse auf die Staatsanwaltschaft nur dann, wenn die Sicherungen gegen fehlerhaftes Prozedieren bei den Staätsanwälten die gleichen wären wie bei den Richtern." .
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3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
"Hiergegen kann auch nicht eingewandt werden, daß demokratische Behörden einen Anspruch auf Vorleistung an Vertrauen hätten. Das ist nicht demokratisch, sondern obrigkeitsstaatlich gedacht. Demokratisch ist vielmehr ein vernünftiges Mißtrauen gegen den übermut der Ämter. Demokratisch wird eine Behörde nicht durch sich selbst, sondern durch die Kontrolle, der sie unterliegt, durch die Eingrenzung ihrer Zuständigkeit und durch das Gleichgewicht von Macht und Gegenmacht. "
Damit ist auch der eigentliche Sinn des angeführten Mißtrauens gegen die Staatsanwaltschaft benannt. Es richtet sich nicht gegen eine Berufsgruppe und die Personen, die ihr angehören, sondern ist der Ausdruck der rechtsstaatlichen Grundregel, staatliche Machtausübung in jedem Falle so abzusichern, daß sie in ein System von Hemmnissen und Kontrollen eingebettet ist. Das Verhältnis von Richter und Staatsanwalt ist demnach eine Form justizinterner Gewaltenteilung, ein genau ausbalanziertes System von Befugnissen und Hemmungen42 • Alle Eingriffsbefugnisse liegen beim unabhängigen Richter, der zum Zwecke eben dieser Unabhängigkeit passiv bleiben muß 43, also nicht von sich aus tätig werden darf. Alle Initiativen dagegen liegen beim Staatsanwalt, dem aber dem Prinzip nach keinerlei Eingriffsmöglichkeiten zustehen sollen. Nun ist allerdings zuzugeben, daß diesem idealtypischen Verhältnis von Richter und Staatsanwalt, in dem der Staatsanwalt nur als eine Art Entscheidungsgehilfe des Gerichts fungiert, die Rechtswirklichkeit nur bedingt entspricht. Faktisch übt die Staatsanwaltschaft einen weit größeren Einfluß auf den Gang des Strafverfahrens aus, als es gemäß diesen Vorstellungen sein dürfte. So hat sie im Widerspruch zu dem Grundgedanken des Legalitätsprinzips einen großen Entscheidungsspielraum bei der Frage, welche Straftaten tatsächlich verfolgt werden und welche nicht. Dies einmal durch die zunehmende Einschränkung des Legalitätsprinzips selbst, vor allem aber durch ihre Kompetenz, gemäß § 170 zu entscheiden, ob ein Verfahren wegen Fehlens eines hinreichenden Tatverdachts eingestellt oder ob weiter ermittelt wird. Da die Staatsanwaltschaft infolge ihrer beschränkten Verfolgungskapazität nur einen Bruchteil der zu ihrer Kenntnis gelangenden Straftaten wirklich verfolgen kann, muß sie eine Selektion vornehmen, und dies geschieht über die Entscheidung nach § 170 Abs. 244 • Der durch § 170 gewährte "Beurteilungsspielraum"45 wird 4Z Günther, Staatsanwaltschaft, S. 46 unter Berufung auf Schütz, 8. Tagg. d. Dtsch. Richterakademie 1969. Vgl. auch Welp, Zwangsbefugnisse, S. 7. 43 Zum Verhältnis von Unabhängigkeit und Passivität vgl. o. S. 177. u Vgl. Sess4r, ZStW 87 (1975), 1041 ff.; Kriminologie und Strafverfahren, S. 159 ff.; Steffen, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 175 ff.; Blankenburg I Sessar I Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 106 ff., 321 f. Vgl. auch o. § 13, 1. 45 So BGH, JZ 1970, 729 f., für den "hinreichenden Tatverdacht", der ja mit dem "genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage" angesprochen ist.
§ 14.
Gestörte Aufgabenteilung zwischen Staatsanwalt und Richter
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allerdings insofern mit der Polizei geteilt, als die Staatsanwaltschaft häufig die Einschätzung der Polizei übernimmt41 • Soweit es zur Strafverfolgung kommt, werden im Vorverfahren oft schon Weichen für die Strafzumessung gestellt. So kann der Staatsanwalt die schonende Form der Anklage durch Strafbefehl wählen oder sich für eine stärker stigmatisierende Hauptverhandlung entscheiden. Er hat weiterhin im Rahmen der sogenannten beweglichen Zuständigkeit die Wahl zwischen Spruchkörpern mit unterschiedlicher Strafgewalt. So kann er je nach seiner Einschätzung oft dieselbe Straftat sowohl vor dem Einzelrichter wie vor dem Schöffengericht oder vor dem Landgericht anklagen47 und übt dadurch einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das Strafmaß aus 48 , aber auch darauf, welche Rechtsmittel dem Beschuldigten nach dem Urteil zur Verfügung stehen4ll• 3. Partielle Wiederaufhebung der Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion durch § 153 a
Ist demnach der Einfluß der Staatsanwaltschaft auf den Gang des Verfahrens größer als es dem Gesetzgeber bei ihrer Einführung vor Augen stand, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß das auch vom Grundgesetz übernommene idealtypische Verhältnis von Richter und Staatsanwalt dem heutigen Gesetzgeber bei allen verfahrensrechtlichen Reformen als regulative Idee vor Augen stehen muß. Mit § 153 a ist aber nicht lediglich ein weiterer Schritt in die Richtung der gerade beschriebenen Entwicklung einer faktischen Zunahme staatsanwaltschaftlicher Einflußmöglichkeiten getan, sondern damit hat etwas qualitativ völlig Neues eingesetzt: eine eigene Sanktionszuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Bisher mögen die Vorstellungen der Staatsanwaltschaft . einen entscheidenden Einfluß auf die Gerichtsentscheidungen ausgeübt haben, aber es waren immer noch Entscheidungen des Gerichts. Jetzt liegen die Dinge gänzlich anders. Für einen bestimmten Bereich der Kriminalität stehen Staatsanwalt und Richter nebeneinander als gewissermaßen gleichberechtigte Instanzen zur Sanktionsverhängung: Richter neben Richter. Mit der Rolle eines bloßen Ermittlungs- und Entscheidungsgehilfen, "einer zunächst einmal vom Verdacht her urteilenden Stelle", die dem 48 Vgl. dazu vor allem Steffen, a.a.O. (Fn. 44); aber auch Sessar, ZStW 87 (1975), 1040 ff. und Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 303 f. 47 Bedenken gegen die bewegliche Zuständigkeit schon bei Eb. Schmidt, Festschr. Kohlrausch, S. 265 f.; zur Kritik vgl. ferner Grünwald, JuS 1968, 452 ff. m. w. Nachw. 48 Sessar, Die Staatsanwaltschaft als soziale Kontrollinstanz, S. 9 f.; allgemein zur Bedeutung des Vorverfahrens für die Strafzumessung Kaiser, Strategien, S. 78 ff.; Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 3. 49 Vgl. Grünwald, JuS 1968,454.
3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
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Gericht eine unbefangene Prüfung ermöglichen soll, verträgt sich aber keinerlei Sanktionskompetenz. Damit wird die Trennung von Anklageund Urteilsfunktion für einen Teilbereich wieder aufgehoben und der Inquisitionsprozeß insoweit wieder hergestellt50 • Das ausbalanzierte Verhältnis der Gewaltenteilung zwischen Richter und Staatsanwalt, das sich schon aus den gerade beschriebenen Gründen zugunsten der Staatsanwaltschaft verschoben hat, gerät damit endgültig aus den Fugen: der Richter wird auf weite Strecken zum Gehilfen der Staatsanwaltschaft und nicht umgekehrt. Nimmt man noch die erweiterten Kompetenzen der Staatsanwaltschaft auf anderen Gebieten hinzu, durch die der Staatsanwalt neuerdings eine Reihe von Zwangsbefugnissen und Rechten erhalten hat, die bisher dem Richter vorbehalten waren5 t, dann ergibt sich ein Machtzuwachs beim Staatsanwalt, der diesen immer mehr zur Hauptfigur im Strafverfahren werden läßt. Der Beschuldigte steht jetzt nicht nur einem mit vielen neuen (Zwangs-)Rechten ausgestatteten Staatsanwalt gegenüber, sondern dieser kann auch sein "Richter" sein. Die Stärkung, die die Stellung der Staatsanwaltschaft durch die partielle Übernahme ehemals richterlicher Befugnisse erfährt, ist auch deshalb bedenklich, weil die meisten Verfahrensgarantien und Schutzrechte des Beschuldigten auf die Hauptverhandlung zugeschnitten sind. Fallen Entscheidungen, die gemäß der Grundkonzeption der StPO Gegenstand der Hauptverhandlung sein sollen, schon im Vorverfahren, dann laufen diese Schutzrechte praktisch leer52 • Diese Argumente gegen eine Strafbefugnis der Staatsanwaltschaft gelten unabhängig davon, ob die betreffenden Sanktionen auch wegen der Schwere des mit ihr verbundenen Eingriffs dem Richter vorbehalten sind oder nicht. Aus ihnen ergibt sich also ein Verbot jeglicher Sanktionskompetenz für den Staatsanwalt. Soweit § 153 a eine Sanktionsverhängung durch den Staatsanwalt ermöglicht, erweist er sich demnach auch als unvereinbar mit der Grundstruktur des überkommenen und vom Grundgesetz rezipierten Anklageprozesses und d. h. wiederum mit Art. 92 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG. § 15. Das Beispiel Japan
In welche Richtung die durch § 153 a eingeleitete Entwicklung führen kann, zeigt sich am Beispiel des japanischen Strafverfahrens. In Japan hat die hier für einen Teilbereich der Kriminalität festgestellte Kompetenzverlagerung vom Richter auf den Staatsanwalt bereits für die 50 51 5!
ZRP 1976, 168. Vgl. dazu Welp, Zwangsbefugnisse; Grünwald, Vorgänge 1975, 36 ff. Jung, Kronzeuge, S. 92; vgl. auch Kühne, ZStW 85 (1973), 1097.
Rudolphi,
§ 15.
Das Beispiel Japan
237
Gesamtheit der Delikte stattgefunden. Der japanische Staatsanwalt ist aufgrund eines totalen Opportunitätsprinzips und weitreichender, kein Delikt von vornherein ausschließender Sanktionskompetenzen der eigentliche Herr nicht nur des Vor-, sondern des gesamten Strafverfahrens. Dem Richter bleibt kaum mehr als die Rolle eines verlängerten Armes der Staatsanwaltschaft. Neben einer dem § 170 Abs. 2 entsprechenden Einstellung kann der japanische Staatsanwalt gemäß Art. 248 Jap. StPO eine Anklage auch dann unterlassen, wenn er sie infolge "a) des Charakters, des Alters und der Umwelt des Beschuldigten oder b) der Schwere der Tat oder c) der Tatumstände oder d) den der Tat nachfolgenden Umständen" nicht für notwendig erachtet1• In Betracht kommen dabei ausnahmslos alle Delikte, also auch vorsätzliche Tötung, Raub oder ähnlich schwerwiegende Taten. Die "Schwere der Tat" ist erst auf Druck der damaligen amerikanischen Besatzungsmacht im Jahre 1948 überhaupt als Gesichtspunkt, der bei der Einstellung zu berücksichtigen ist, in das Gesetz aufgenommen worden2 • Die Tatschwere allein ist niemals Grund für einen japanischen Staatsanwalt, einen Täter von der "Außerverfolgungsetzung"S gemäß Art. 248 Jap. StPO auszuschließen4 • Darüber hinaus hat die Staatsanwaltschaft gemäß Art. 257 Jap. StPO das Recht, eine einmal erhobene Anklage jederzeit, auch noch in der Hauptverhandlung bis zur Urteilsverkündung, zurückzunehmens. Dies wird als Konsequenz des Opportunitätsprinzips interpretiert und damit begründet, der Staatsanwalt müsse dasselbe Ermessen "with regard to criminal policy" nach Anklageerhebung haben wie zuvor6 • Außerdem, und das ist der Ansatzpunkt für einen Vergleich mit § 153 a, kann der Staatsanwalt diejenigen, die er gemäß Art. 248 Jap. StPO außer Verfolgung gesetzt hat, für eine Zeitspanne bis zu 6 Monaten Rehabilitierungsmaßnahmen unterwerfen. Diese reichen von der Auferlegung von Meldepflichten bis zur Unterbringung in einem "half-way house" (Übergangs- oder ResozialisierungsheimF. Zwar muß der Betroffene zustimmen. Aber nach aller Erfahrung ziehen die Beschuldigten die Unterwerfung unter die staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen der Anklage in einem öffentlichen Strafverfahren immer vor. Zitiert nach Kühne, ZStW 85 (1973), 1087. Dando, American Journal of Comparative Law 1970, 521. 3 So der Ausdruck von Kühne (S. 1090). Dando spricht von "suspension of prosecution" (S. 521). 1
2
Dando, S. 525; Kühne, S. 1087. Dando, S. 521; Kühne, S. 1086. e Dando, a.a.O. 1 Art. 1 Nr. 5 Entlassenen-Hilfe-Gesetz Kühne, S. 1090; Dando, S. 527. 4
5
v. 25.5. 1950, Gesetz Nr. 203. Vgl.
238
3. Teil: Anklageprozeß und Sanktionsbefugnis
"Das gilt sogar auch regelmäßig für den wahrhaft unschuldigen Beschuldigten, weil ein öffentliches Strafverfahren, selbst wenn es mit einem Freispruch endet, zumeist mit sozialer Diskriminierung verbunden ist8." Während der Staatsanwalt zu diesen Maßnahmen durch Gesetz ermächtigt ist, hat sich daneben ohne gesetzliche Grundlage die Praxis herausgebildet, die Verfolgung "auf Bewährung" auszusetzen. "Die Beschuldigten werden hierbei vom Staatsanwalt zur Begutachtung in Klassifikationszentren gesandt und entsprechend den folgenden Beurteilungen werden dann die "Bewährungsauflagen" erteilt. All dieses geschieht nur mit der Zustimmung der Beschuldigten, welche aber hier ebenso "freiwillig" ist wie die im Falle des Entlassenen-HilfeGesetzes"'. 1971 wurden von allen anklagefähigen Fällen etwa 16 % gemäß Art. 248 Jap. StPO eingestelltl°. Berücksichtigt man, daß die Hälfte der Fälle Verkehrsdelikte umfaßt und daß diese aus kriminalpolitischen Erwägungen zu mehr als 95 % verfolgt werdenl1 , so kommt man nach Abzug der Verkehrssachen auf über 30 %12.1968 wurden 8,4 % der vorsätzlichen Tötungen, 6,3 % der Raubfälle und 26 % der Brandstiftungen auf diese Weise eingestellt. Beim Diebstahl betrug die Quote sogar 52,4 %13. Leider fehlen sowohl bei Kühne wie bei Dando, auf deren Darstellungen dieser Abschnitt fußt, Angaben darüber, wie groß der Anteil der Einstellungen unter Auferlegung von Rehabilitierungsmaßnahmen bzw. "Bewährungsauflagen" an allen Einstellungen gemäß Art. 248 Jap. StPO ist. Deutlicher noch als bei § 153 a zeigt sich hier, daß die Ausdehnung von Einstellungsmöglichkeiten kein rechtsstaatlich angemessener Weg zu genereller oder individueller Entkriminalisierung ist. Denn auch in Japan ist man nicht ohne Ergänzung der "Einstellung" durch Sanktionsmöglichkeiten ausgekommen. Dabei wird unter dem Etikett "Einstellung des Verfahrens" ein eigenständiger Verfahrenstypus etabliert, durch den dem Staatsanwalt Kompetenzen zugespielt werden, die ihn gänzlich zum Herrn des Verfahrens machen. Der Ausweitung des Anwendungsbereichs der "Einstellung" auf alle Straftatbestände entsprechen im Vergleich zu § 153 a weitergehende staatsanwaltliche Sanktionsrahmen. Die Tatsache, daß die Rechte des Beschuldigten überwiegend nicht zum Tragen kommen, weil sie auf die richterliche Haupt8 g 10
11
Kühne, S. 1090 f. Kühne, S. 1091.
Berechnet aufgrund der Zahlenangaben bei Kühne, S. 1088, Tabelle 2.
Kühne, S. 1088
u WieFn.10. 11 Dando, S. 524.
§ 15. Das Beispiel Japan
239
verhandlung zugeschnitten sind14, wiegt gegenüber der vergrößerten Machtfülle des japanischen Staatsanwalts entsprechend schwerer. Der Staatsanwalt kann bei allen Delikten selbst sanktionieren, ohne daß irgendein Tatbestand oder eine bestimmte Form der Deliktsverwirklichung von vornherein ausgenommen oder sonstige Grenzen gesetzt wären. Da die in Art. 248 J apo StPO aufgeführten Kriterien für sein Vorgehen nichts anderes sind als allgemeinste Formulierungen von spezialpräventiven Strafzumessungsrichtlinien und somit keinerlei konkrete Einschränkungen für sein Ermessen enthalten, legt der Staatsanwalt mit seiner Entscheidung, welche Taten von ihm zu erledigen und welche als einer richterlichen Sanktion bedürftig einzustufen sind, die Leitlinien der Kriminalpolitik fest. Er wählt für die Anklage nur noch solche Fälle aus, bei denen er sicher ist, daß es zu der von ihm gewünschten Form der Verurteilung kommt l5 • Kühne charakterisiert daher die dem Richter verbleibende Rolle SOI8; "Er ist nicht mehr die Instanz, die allein über Strafe oder Straflosigkeit entscheidet. Er ist vielmehr nurmehr - pointiert formuliert - ein die strafende Entscheidung des Staatsanwalts selbständig konkretisierendes Organ." Die im japanische~ Recht gegebenen Möglichkeiten, selbst auf schwere Delikte lediglich mit Rehabilitierungsmaßnahmen oder "Bewährungsauflagen" oder sogar mit einer gänzlich folgenlosen Einstellung zu reagieren, sind sicherlich ein Fortschritt im Sinne eines das Vergeltungsdenken überwindenden Strafrechts. Der dazu gewählte Weg, solche Entscheidungen dem Staatsanwalt zu übertragen, führt aber auf weite Strecken zur völligen Ausschaltung des Richters und damit zur Auflösung der "schützenden Formen" des Strafverfahrens. Die japanische Form der Erledigung von Kriminalität im Vorverfahren mag zwar durch einige Besonderheiten der japanischen Gesellschaftsstruktur mit bedingt sein17 ; sie ist aber kein fernliegendes, bloß exotisches Beispiel, das uns nichts zu sagen hätte. Vielmehr sind die japanischen Verhältnisse nur eine konsequente Weiterführung der § 153 a zugrunde liegenden Prinzipien.
14 16
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17
Kühne, S. 1097. Kühne, S. 1095.
a.a.O.
Kühne, S. 1099.
Schluß § 16. Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick 1. Ergebnisse
Die Untersuchung hat also gezeigt, daß § 153 a für einen nicht unbeträchtlichen Teilbereich der Strafrechtspflege das System der Aufgabenteilung zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Staatsanwaltschaft, das als Ausfluß rechtsstaatlicher Verfassungsgrundsätze verstanden werden muß, zu sprengen droht. Zusammengefaßt hat sich folgendes ergeben: Die Rechtsnatur des § 153 a ist weder als Einstellung des Verfahrens noch als Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips zutreffend erfaßt. Vielmehr wird dadurch nur das Problem verdeckt, wie weit der Staatsanwalt für die ihm durch § 153 a übertragenen Befugnisse legitimiert ist und ob er damit nicht richterliche Kompetenzen erhält. Denn in Wahrheit handelt es sich um die Einführung einer neuen strafrechtlichen Sanktionsart unterhalb der Kriminalstrafe, für die eine neue Zuständigkeit begründet wird und die in gewisser Weise ein neues Rechtsgebiet im unteren Bereich des Strafrechts eröffnet. Verfassungsrechtliche Bedenken können allerdings nicht darauf gestützt werden, daß hier einem nichtrichterlichen Organ Sanktionskompetenzen zugewiesen werden. Denn Art. 92 GG begründet eine Monopolstellung des Richters für strafende Sanktionen erst von einem gewissen Schweregrad an. Dieser Schweregrad wird durch die Rechtsfolgen des § 153 a nicht erreicht. Als Ausgangspunkt für verfassungsrechtliche Bedenken hat sich dagegen die Tatsache erwiesen, daß der Gesetzgeber die den Rechtsfolgen des § 153 a unterfallenden Verhaltensweisen nicht tatbestandlich ausgegrenzt und aus dem Kriminalstrafrecht herausgelöst hat, wie dies etwa beim Ordnungswidrigkeitenrecht geschehen ist. Vielmehr sind die Tatbestände, auf die § 153 a Anwendung finden kann, nach wie vor solche des Kriminalstrafrechts, und es liegt im weitgefaßten Ermessen der Staatsanwaltschaft, den Anwendungsbereich des § 153 a im Einz.elfall oder auch generell durch Richtlinien festzulegen. Dem Staatsanwalt obliegt es daher nunmehr, die Vergehenstatbestände in sich zu differenzieren und sie aufzuteilen in Begehungsweisen, die noch nach § 153 a
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erledigt werden können, und in solche, die dem Richter als kriminal· strafwürdig vorzulegen sind. Der Staatsanwalt legt dadurch zugleich die Grenzen des Kriminalstrafrechts im Vergehensbereich fest und zwar nicht nur, wie bisher schon durch § 153, für einen kleinen Rand· bereich. Die Unbestimmtheit des § 153 a weist damit der Staatsanwaltschaft und das heißt, zugleich auch den Landesjustizverwaltungen, quasi-legislatorische Befugnisse zu. Das aber bedeutet sowohl einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG wie gegen das Gewaltenteilungsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 2 GG. Zwar mag es auch im Bereich des Strafrechts unumgänglich sein, daß der Gesetzgeber sich durch unbestimmte Gesetzesfassungen eines Teiles seiner Rechtsetzungsbefugnisse begibt. Für das Strafrecht darf eine solche faktische Normsetzungsdelegation jedoch nur auf die Rechtsprechung erfolgen, weil nur dort durch das richterliche Verfahren gewisse funktionale Äquivalente für die von Bestimmtheitsgebot und Gewaltenteilungsprinzip geforderte Genauigkeit der Gesetze gegeben sind. Indem § 153 a der Staatsanwaltschaft Aufgaben überläßt, die der Gesetzgeber, sofern er sie nicht selbst wahrnimmt, nur dem Richter zuweisen darf, verletzt die Vorschrift zugleich Art. 92 GG. § 153 a verstößt weiterhin gegen Art. 92 GG, weil er die Rechtsprechung aus ihrer von dieser Verfassungsbestimmung geforderten Verantwortlichkeit für die Konkretisierung der Gesamtheit der Strafgesetze partiell verdrängt. Eine Einzelfallentscheidung kann nur dann als gerecht empfunden werden, wenn sie aus einer insgesamt konsistenten Anwendung der Strafrechtsnormen erwächst. Konsistenz bedeutet dabei nicht nur die gleichmäßige Rechtsanwendung in bezug auf gleich· gelagerte Fälle eines Tatbestandes, sondern auch eine gerechte Abstufung sowohl der unterschiedlichen Begehungsweisen innerhalb des Anwendungsbereiches eines Tatbestandes wie auch von Deliktsver· wirklichungen, die unter verschiedene Tatbestände fallen, da auch die Straftatbestände untereinander ein Wertungsgefüge bilden. Hierfür ist die Bildung einheitlicher Maßstäbe für die Konkretisierung aller Strafrechtsnormen erforderlich. Diese ist gefährdet, wenn die Auslegung der Strafrechtsnormen in einem Bereich von zwei verschiedenen Rechtsanwendungsorganen vorgenommen wird. Die Rechtsprechung kann daher die ihr von Art. 92 GG zugedachte Schutzfunktion nur dann erfüllen, wenn ihr nicht nur die Verhängung von Kriminalstrafen, sondern auch die Beurteilung aller Verhaltensweisen, die potentiell die Rechtsfolge Kriminalstrafe auslösen können, vorbehalten bleibt und damit auch die Beurteilung der Frage, ob die Kriminalstrafe durch die Rechtsfolgen des § 153 a ersetzt werden kann. § 153 a beeinträchtigt schließlich das zum Wesen des Anklageprozesses gehörende System justizinterner Gewaltenteilung zwischen Richter 16 Kausch
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Schluß
und Staatsanwalt, indem die Vorschrift für einen Teilbereich Ermittlungs- und Sanktionskompetenzen in der Hand des Staatsanwalts vereinigt. Dieser Machtzuwachs des Staatsanwalts unter Zurückdrängung des Richters ist ebenfalls als Verstoß gegen Art. 92 GG sowie als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip zu werten. Zu diesen Einwänden kommen noch die eingangs referierten Bedenken im Schrifttum hinzu, die sich hauptsächlich aus dem Charakter der Vorschrift als Unterwerfungs- und "Freikauf"-Verfahren ergeben!. Wie häufig und in welchem Ausmaß es zu dem befürchteten "Handel" um eine Einstellung nach § 153 a und um die Höhe der Auflagen kommt, ist bisher noch nicht untersucht worden und wird sich auch wegen der Nichtöffentlichkeit des Verfahrens nur schwer ermitteln lassen. Jedenfalls übernimmt § 153 a damit Züge des amerikanischen "plea bargaining"2, und es steht zu befürchten, daß es, wenn auch durch den beschränkteren Anwendungsbereich des § 153 a in gemäßigterer Form, zu vergleichbaren Mißständen kommt. Die in der Literatur geäußerten Bedenken gegen § 153 a finden so gut wie alle eine Entsprechung in der gegen das plea bargaining vorgebrachten und dort auch schon teilweise empirisch gut abgesicherten Kritik. Die Summe der Einwände, die gegen das Verfahren nach § 153 a zu erheben sind, lassen es also als berechtigt erscheinen, wenn Hirsch von der "juristischen und sozialen Unhaltbarkeit dieser Vorschrift" spricht3 ; die Forderung nach einer Neuregelung der Bagatelldelikte wird nach alledem unabweisbar. Allerdings ist nicht zu bestreiten, daß § 153 a in bezug auf die Rechtsfolgen einen Fortschritt darstellt. Dieser Fortschritt müßte auch bei der anzustrebenden Neuregelung erhalten bleiben. 2. Vorschläge zur Reform
Wie hätte eine solche Neuregelung auszusehen? Dazu kann im Rahmen dieser Arbeit nur mit einigen Anmerkungen Stellung genommen werden. Zwingend ergibt sich aus unserer Untersuchung nur folgendes: Wählt der Gesetzgeber eine so pauschale Lösung wie § 153 a, so kann dies in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise nur über eine allgemeine Bagatellvorschrift im materiellen Strafrecht geschehen, da nur dann die richterliche Zuständigkeit und die Garantien des RechtVgl. o. S. 39 ff. Arzt, JZ 1976, 55; Blankenburg, Kriminologie und Strafverfahren, S. 180; Berckhauer, DRiZ 1976, 236; Kaiser, Strategien, S. 82; Kerner, Kriminologie und Strafverfahren, S. 148; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 218 f.; Schumann, Handel mit Gerechtigkeit, S. 201 ff. Allgemein zum plea bargaining vgl. aus der kaum noch übersehbaren Literatur vor allem Newman, Conviction; Skolnick, Justice Without Trial, und Schumann, Handel mit Gerechtigkeit. 3 Festschr. R. Lange, S. 823. 1
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sprechungsverfahrens gesichert sind. Will der Gesetzgeber ein nichtrichterliches Organ mit der Ahndung von Bagatellstraftaten betrauen, so setzt das voraus, daß der Bereich dieser Ahndungskompetenz eindeutig tatbestandlich umgrenzt und aus dem Kriminalstrafrecht herausgelöst wird. Welcher der zahlreichen Reformvorschläge rechtsstaatlichen Erfordernissen und dem eingangs aufgestellten Forderungskatalog am besten entspricht bzw. den günstigten Kompromiß darstellt, läßt sich derzeit mit letzter Sicherheit nur schwer entscheiden. Eser hat 1970 als Voraussetzung eines "Gesamtkonzept(es) für die Bewältigung der Kleinkriminalität" gefordert, daß "die Dogmatik des Bagatelldelikts ergänzt und fundiert (wird) durch eine Kriminalsoziologie der Bagatelldelinquenz, eine Kriminalpsychologie des Bagatelldelinquenten und nicht zuletzt durch eine Art Pönologie tat- und tätergerechter Bagatellsanktionen und -verfahren"'. Zwar sind wir trotz vieler Einzelbeiträge von einer Einlösung dieser Forderung noch weit entfernt. Aber die Diskussion, die seither vor allem durch ein "wissenschaftliches Erschrecken über § 153 a"s und durch den AE-GLD ausgelöst worden ist, hat die grundlegenden Alternativen aufgezeigt. Dabei stehen die vorgeschlagenen Konzepte nicht so unverträglich nebeneinander, wie die wissenschaftlichen Kontroversen es bisweilen erscheinen lassen. So verläuft eine der Hauptfrontlinien zwischen den Befürwortern einer sogenannten sektoralen Lösung und denjenigen, die für ein allgemeines Bagatellstrajrecht eintreten. Mit einer sektoralen Lösung wird die gesonderte Behandlung entweder von besonders häufigen, gleichartigen Begehungsweisen eines Delikts (Ladendiebstahl)6 oder bestimmter Abstufungen eines Delikts, etwa des Bagatelldiebstahls insgesamt bis zu einer bestimmten Wertgrenze7, oder aller Bagatellfälle eines bestimmten Deliktsbereichs, so etwa der Vermögensdelikte im weiteren SinnS, oder eines bestimmten sozialen Umfeldes (Betriebsjustiz)9 angestrebt, weil in dem jeweiligen Sektor ein besonderer sozialer Brennpunkt gesehen wird. Verbunden ist damit meist der Vorschlag, auf die Einschaltung der Strafjustiz zu verzichten. Die vor allem von Naucke vertretene Gegenposition will eine für alle Bagatelldelikte dem Grundsatz nach gleiche Regelung innerhalb des Strafrechts durch Einführung von strafrechtlichen Bagatellrechtsfolgen Gesellschaftsgerichte, S. 10. Naucke, Gutachten, D 111. S So der AE-GLD. 7 So vor allem Rössner, Bagatelldiebstahl, insbes. S. 198 ff. 8 VgI. Baumann, JZ 1972, 1 ff. 9 VgI. den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz (AEBJG). 4
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Schluß
unterhalb der Kriminalstrafe und eines vereinfachten Bagatellverfahrens schaffen1o• Es fragt sich jedoch, ob beide Positionen wirklich einander so diametral entgegengesetzt sind, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Kann man nicht im Gegenteil sogar zu der Auffassung gelangen, daß sie zueinander im Verhältnis einer notwendigen Ergänzung stehen? Denn eine Kombination aus sektoraler Lösung und Bagatellstrafrechtl l hätte zumindest zwei Vorzüge: Ein richterliches Bagatellverfahren, auch wenn es gegenüber dem Normalverfahren vereinfacht ist, ist immer noch relativ aufwendig, jedenfalls dann, wenn es so ausgestaltet wird, daß die wesentlichen rechtsstaatlichen Garantien erhalten bleiben. Es fragt sich daher, ob in einer Gesellschaft, deren begrenzte Ressourcen die Entwicklung der letzten Jahre deutlich gemacht hat, auf die Dauer die Kapazität für eine justizielle Ahndung der gesamten Massendelinquenz im Bagatellbereich aufgebracht werden kann12 • Wenn aber etwa Ladendiebstahl und Beförderungserschleichung, um die beiden für eine sektorale Lösung geeignetesten Bagatelldelikte herauszugreifen, auf andere Weise erledigt werden, könnte das Kapazitätsproblem zu bewältigen sein. Andererseits könnte eine solche Kombination der beiden Grundpositionen den Einwand hinfällig machen, sektorale Lösungen würden bestimmte Bagatelldelikte ungerechtfertigt bevorzugen 1S • Eine sektorale Lösung, bei der der Richter jedenfalls zunächst ausgeschaltet ist, läßt sich allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen rechtfertigen: Die betreffenden Delikte müssen massenhaft auftreten und wirkliche Bagatellen sein 14 • Da es sich dabei in der Regel um be10 Gutachten, D 36 f., 114 ff. u. ö.; ihm folgend Ahrens, Einstellung, S. 247 ff. Auch diese Lösung läßt sich als eine Form der Entkriminalisierung auffassen, da die vorgesehenen Rechtsfolgen nicht mehr Kriminalstrafe sind, vor allem also nicht mehr mit dem Makel der Kriminalstrafe belasten. VgI. auch die in eine ähnliche Richtung zielenden Vorschläge von KTÜmpelmann, Bagatelldelikte, S. 240 f., Hirsch, ZStW 83 (1971), 145 ff.; Festschr. R. Lange, S. 826 ff. und Zipf, Kriminalpolitik, S. 74 f. 11 Vermittelnd z. B. Rössner, der der Meinung ist, "daß der Weg zu verschiedenen sektoralen Lösungen erst dann frei werden könnte, wenn es ein eigenes Bagatellstrafrecht gibt, das materiell abgegrenzt und prozessual eigenständig ist" (51. DJT, Sitzungsbericht, N 150). Man solle erst einmal allgemein ein gewisses Vorfeld des Strafrechts abstecken und könne dies dann u. U. sektoralen Lösungen zuführen. VgI. weiter Baumann (51. DJT, Sitzungsbericht, N 70, 73), der eine Kombination zumindest im Bereich der Vermögensdelikte für sinnvoll hält, allerdings zunächst eine sektorale Lösung des Ladendiebstahls fordert, um der Massenhaftigkeit dieses Delikts Herr zu werden. 12 Zu den Belastungen, denen die Strafrechtspflege durch die Massendelikte ausgesetzt ist, und zu den möglichen Folgen vgI. Arzt, Ruf, S. 149 ff. und Referat, N 46 f. 13 Diesen Einwand bezüglich des Verhältnisses von Ladendiebstahl und anderen Bagatelldiebstählen erheben vor allem Naucke (Gutachten, D 106) und Rössner (Bagatelldiebstahl, S. 223) gegen den AE-GLD. 14 Baumann, 51. DJT, Sitzungsbericht, N 72.
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stimmte Begehungsweisen allgemeiner Straftatbestände handelt, müssen diese Bagatellen ein deutlich anderes soziales Erscheinungsbild aufweisen als das Grunddelikt und sich diesem gegenüber so verselbständigt haben, daß eine Abschichtung berechtigt erscheint15 • Die massenhaften Verstöße müssen überwiegend typisiert und gleichartig begangen werden, so daß die Individualisierungsmöglichkeiten, die das Strafverfahren auch noch in Form eines vereinfachten Bagatellverfahrens bietet, nicht unbedingt erforderlich sind. Unter diesen Voraussetzungen kommen derzeit vor allem der Ladendiebstahl und die Beförderungserschleichung für eine sektor ale Lösung in Betracht. Die Faktoren, die zu einem besonderen "sozialen Erscheinungsbild" des Ladendiebstahls gegenüber dem im allgemeinen Diebstahlstatbestand des § 242 StGB vertypten Unrecht führen, lassen sich kurz so zusammenfassen: Weil das Opfer meist anonym bleibt, kommt es zu einem Abbau psychischer Hemmungen beim Täter18• Eben dies geschieht auch durch die bewußte Lockerung des Gewahrsams, die kennzeichnend für die Vertriebsform Selbstbedienung ist. Die Warenauslage wird psychologisch so geschickt vorgenommen, daß rationale Kaufhemmungen unterlaufen, damit zugleich aber auch andere Hemmungen wie die Achtung vor fremdem Eigentum, das sich als solches kaum noch zu erkennen gibt, beseitigt werden17• Hinzu kommt, daß der Ladendiebstahl dabei ist, den Charakter eines Eigentumsdelikts zu verlieren, und Züge eines Vermögensdeliktes annimmt. "Nicht der Zugriff auf die Ware, sondern die ausbleibende Gegenleistung begründen den eigentlichen Vorwurf18." Diese Feststellungen sollen das Schutzbedürfnis der Ladeninhaber nicht bagatellisieren, sondern nur den Sondercharakter des Ladendiebstahls, aus dem sich die Rechtfertigung für gesonderte Lösungen ergibt, deutlich machen. In bezug auf die Anonymität des Opfers und die leichte Zugänglichkeit der Leistung liegen die Dinge bei der Beförderungserschleichung ähnlich wie beim Ladendiebstahl und sind hier wie dort die Hauptursache für die Massenhaftigkeit der Delinquenz19 • Im AE-GLD liegt bereits ein ausgearbeiteter Entwurf für eine sektorale Lösung des Ladendiebstahls vor. Dieses Konzept wäre abzuwägen etwa gegen den Vorschlag Voglers, den Ladendiebstahl in eine Ordnungswidrigkeit umzuwandeln20 • In beiden Fällen müßte der Anwendungsbereich durch eine Wertgrenze festgelegt werden. Diese hätte wahrscheinlich deutlich niedriger zu liegen als die vom AE-GLD bisher vorgesehene21 und könnte dies auch, da mehr als Dreiviertel aller Vgl. Vogler, ZStW 90 (1978), 159 ff. Arzt, JuS 1974, 694; Vogler, ZStW 90 (1978), 160. 17 Vgl. Deutsch, Gutachten, E 16, 17. 18 Arzt, Referat, N 48. 19 Vgl. Deutsch, Gutachten, E 9 f. 20 ZStW 90 (1978), 161. Z1 Vgl. Arzt, These 3 zum Referat, 51. DJT, Sitzungsbericht, N 60; Baumann, 51. DJT, Sitzungsbericht, N 72. 15
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Schluß
Ladendiebstähle im Deliktsbetrag 50,- DM nicht übersteigen22 • Weiterhin wäre zu überlegen, ob Jugendliche nicht eine gesonderte Behandlung erfahren sollten 23 • Schließlich wäre zu überprüfen, inwieweit jede dieser Lösungen auf die Beförderungserschleichung übertragbar ist24 • Für die große Zahl jener Delikte, bei denen zwar bagatellarische Begehungsweisen vorkommen, die Voraussetzungen für eine sektorale Lösung aber nicht vorliegen, wäre ein allgemeines Bagatellstrafrecht i. S. N auckes anzustreben. Der Anwendungsbereich eines solchen Bagatellstrafrechts könnte durch eine Vorschrift im Allgemeinen Teil des StGB festgelegt werden, in der allgemeine Kriterien für den Bagatellcharakter einer Tat aufgeführt werden. Der Anwendungsbereich könnte sich aber auch, und das wäre vorzuziehen, aus einer Ergänzung derjenigen Tatbestände des Besonderen Teils und der strafrechtlichen Nebengesetze, bei denen geringfügige Deliktsverwirklichungen häufiger vorkommen, durch einen jeweils auf die Besonderheiten des betreffenden Delikts bezogenen Bagatelltatbestand ergeben26 • Um auch untypische Fallgestaltungen erfassen zu können, müßte eine allgemeine Bagetellvorschrift hinzutreten. Das Eingreifen der Bagatellrechtsfolgen könnte für einen Teil der in Frage kommenden Delikte auch auf die von Hirsch vorgeschlagene Weise festgelegt werden, daß nämlich grundsätzlich für diese Delikte die Bagatellrechtsfolgen vorgesehen werden und nur bei einem besonderen Unrechtsgrad Kriminalstrafen verhängt werden dürfen2'. Für die vorzusehenden Bagatellsanktionen läßt sich an den Rechtsfolgen des § 153 a anknüpfen. Die Auflagen und Weisungen des § 153 a wären einerseits zu begrenzen und zu präzisieren, so etwa durch Bemessungskriterien für die Höhe der Geldbußen und die Festsetzung eines Höchstbetrages; sie wären andererseits auszudifferenzieren und zu ergänzen27 • Hier wäre noch "aufgrund pönologischer Feldarbeit zu erforschen, inwieweit der Bagatelltäter nicht auch auf andere Weise (sc. als durch eine Geldbuße) person- und zweckgerichtet angesprochen werden könnte"28.
2!
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Rössner, ZRP 1976, 143. Vgl. Baumann, Gedächtnisschrift Schröder, S. 527.
Allgemein zur übertragbarkeit des AE-GLD vgl. Arzt, Referat, N 55 ff. Vgl. Naucke, Gutachten, D 115 ff. 26 Festschr. R. Lange, S. 831. !7 Vgl. dazu die Vorschläge von Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 50 f.; Rössner, Bagatelldelikte, S. 213 f.; Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 828. 28 Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 50. Für den Bereich der Verkehrsdelikte ist durch die Arbeit von eramer (Unfallprophylaxe) bereits ein entscheidender Schritt in diese Richtung getan worden. 24
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Die Möglichkeit der sanktionslosen Reaktion durch eine Unterscheidung zwischen "unbedingten Bagatellen" und "bedingten Bagatellen"29 müßte zumindest im Umfang des gegenwärtigen Rechts offengehalten werden, wobei eine Präzisierung und übernahme des § 153 in das materielle Recht anzustreben wäre. Dadurch soll nicht verhindert werden, daß die Staatsanwaltschaft schon im Vorverfahren die unbedingten Bagatellen ausscheidet. Die Staatsanwaltschaft hätte vielmehr beim Vorliegen der Voraussetzungen einer unbedingten Bagatelle aus Rechtsgründen einzustellen, ähnlich wie jetzt beim Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes oder Schuldausschließungsgrundes. Die überlegungen, wie ein vereinfachtes und beschleunigtes Bagatellverfahren zu erreichen sei, das dennoch die wichtigsten rechtsstaatlichen Sicherungen beibehält, könnten von den Vorschlägen des DERechtsmittelgesetses für ein sogenanntes Strafbescheidverfahren ausgehen30 • Rechtsmittel müßten in einem solchen Verfahren zumindest insoweit bereitgestellt werden, daß eine Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung durch die Obergerichte möglich wird und die juristische Fachöffentlichkeit an der Diskussion um die dabei auftauchenden Fragen beteiligt werden kann. Anzustreben wäre weiterhin, daß in dem Bagatellstrafverfahren möglichst alle durch den Bagatellverstoß aufgetretenen Konfliktstoffe, soweit sie rechtliche Relevanz haben, bereinigt werden. Daher müßte hier der Adhäsionsprozeß zur Regel gemacht werden 31 • Schon aus diesem Grund ist die Einführung eines Bagatellrechtspflegers, der an Stelle des Richters für die Ahndung von Bagatellverstößen zuständig wäre, abzulehnen32 • Der hier vorgeschlagene Weg, ein allgemeines Bagatellstrafrecht mit einer oder mehreren sektoralen Lösungen zu kombinieren, läßt sich sicherlich nicht auf einen Schlag verwirklichen. Dies ist auch nicht erforderlich. Vielmehr ist eine stufenweise Umsetzung denkbar, die auch die Möglichkeit von Korrekturen aufgrund bereits gewonnener Erfahrungen und die Verwertung dieser Erfahrungen für den jeweils nächVgl. Naucke, Gutachten, D 13, 26, 115. Vgl. dazu Naucke, Gutachten, D 112 ff. und den DE-Rechtsmittelgesetz, Art. 1, § 288 ff. sowie die Begründung S. 38 ff. Zu den Möglichkeiten der Verfahrensvereinfachung vgl. auch Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 51 f.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 225, und R. Schmitt, ZStW 89 (1977), 644 ff. 31 Vgl. Hirsch, Festschr. R. Lange, S. 832 f., insbes. S. 833, Fn. 58; ZStW 83 (1971), 147; Eser, Gesellscha.ftsgerichte, S. 51. 32 Anders Es er, Gesellschaftsgerichte, S. 53. Vgl. auch Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 226. Auf die Frage, in welcher Weise ein Bagatellstrafrecht, in dem nicht der Richter, sondern ein Bagatellrechtspfleger zuständig sein könnte, vom Kriminalstrafrecht abgesondert werden müßte, kann über das oben allgemein Festgestellte hinaus hier nicht eingegangen werden. 29
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Schluß
sten Schritt böte. So könnte man als ersten Schritt die §§ 153, 153 a in einer präzisierten Fassung in das materielle Recht übernehmen33 • Dem hätte eine allmähliche Anreicherung des Besonderen Teils mit Bagatelltatbeständen zu folgen 34, wobei die Rechtsprechung zu den materiellrechtlichen allgemeinen Bagatellvorschriften Anstöße für die Diskussion solcher besonderen Bagatelltatbestände liefern könnte. Erst wenn durch eine Reihe von Bagatelltatbeständen der Anwendungsbereich dieses Bagatellstrafrechts hinreichend deutlich umgrenzt ist, wird die Einführung eines vereinfachten Bagatellstrafverfahrens sinnvoll, da erst dann befriedigende Zuständigkeitsabgrenzungen möglich sind. Bei der oder den gleichzeitig anzustrebenden sektoralen Lösungen sollte die Entscheidung für diese oder jene Konzeption nicht auf ein bloßes Abwägen der Argumente gestützt werden. Vielmehr müßte die Stichhaltigkeit der jeweiligen Argumente empirisch überprüft werden, soweit jedenfalls, wie sie sich auf Folgewirkungen beziehen. Daher sollten die wichtigsten Alternativen erst einmal in Parallelversuchen "getestet" werden. Man könnte für den Ladendiebstahl den AE-GLD, die Ordnungswidrigkeitenlösung und eventuell noch andere Lösungsvorschläge für eine begrenzte Zeit in jeweils einem oder mehreren Bundesländern einführen und zugleich mit dem erforderlichen wissenschaftlichen Aufwand beobachten. Erst dann kann sich zeigen, wie weit Befürchtungen oder Hoffnungen berechtigt sind, erst dann kann man die Bedeutung eines Arguments, das auf Folgewirkungen abstellt, zuverlässig abschätzen31 • Bedenken wegen einer möglichen Verletzung des Gleichheitssatzes für die Zeit eines solchen Experiments lassen sich leicht ausräumen. Alle Reformvorschläge sehen Sanktionen unterhalb der Kriminalstrafe vor. Deren Unterschiede sind nicht so gravierend, daß sie zu ins Gewicht fallenden Ungleichbehandlungen führen könnten. In den nicht dem Versuch unterliegenden Bundesländern müßte für die entsprechenden Begehungsweisen des Ladendiebstahls die Anwendung der Bagatellrechtsfolgen des in das materielle Recht zu übernehmenden § 153 a gesichert sein. Die parallele Ahndung im Gerichtsverfahren mit dessen ausführlicheren Aufklärungsmöglichkeiten ergäbe zugleich noch eine zusätzliche Möglichkeit festzustellen, welchen Anteil die untypischen Begehungsweisen ausmachen, insbesondere in welchem Ausmaß die Umstände, deren Nichtberücksichtigung durch den AE gerügt wird, tatsächlich eine Rolle spielen.
33 U
Naucke, Gutachten, D 115. Vgl. Naucke, Gutachten, D 116.
3S Ein Beispiel dafür, wie sich die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit von Argumenten für oder gegen einen Reformvorschlag durch eine praktische Erprobung mit wissenschaftlicher Begleitforschung klären läßt, gibt die Erprobung eines informellen Schuldinterlokuts im Rahmen eines von Schöch und Schreiber durchgeführten Forschungsprojekts. Vgl dazu Schöch / Schreiber, ZRP 1978, 63 ff. und Schöch, Festschr. Bruns, S. 457 ff.
§ 16. Zusammenfassung und rechtspolitischer Ausblick
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Seit der ergebnislosen Diskussion des 51. Deutschen Juristentages ist das Problem einer angemessenen Behandlung der Kleinkriminalität wieder in den Hintergrund getreten. Es scheint gegenüber den im Brennpunkt stehenden Fragen der Terrorismusbekämpfung wenig bedeutsam. Langfristig enthält jedoch auch die Kleinkriminalität ein großes Potential an sozialem Zündstoff, kann sie das System der Strafrechtspflege vor bedrohliche Zerreißproben stellen38 • "Auch erscheint die Art, wie ein Staat mit seinen Verkehrssündern, Kleindieben und Gelegenheitsschmugglern umgeht, für die Struktur eines Gemeinwesens nicht weniger aufschlußreich als die Art, in der es seinen Mördern, Räubern und Großbetrugern Herr zu werden sucht37 ." Und man kann Eser nur zustimmen, wenn er fortfährt, daß sich die Behandlung des Kleinkriminellen als ein feinfühliges Barometer dafür erweist, "mit welchem Grad von Pedanterie oder Toleranz, helfendem Entgegenkommen oder selbstgerechter Gleichgültigkeit man den ,kleinen Versager' in der Gesellschaft zu dulden und mitzutragen bereit ist"3s.
38
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Vgl. dazu Arzt, Referat, N 45 ff.; Ruf, S. 18 ff., 134 ff., 143 ff., 149 ff. Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 6. a.a.O.
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