Sprachsensibler Religionsunterricht [1 ed.] 9783666703034, 9783525703038


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German Pages [287] Year 2021

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Sprachsensibler Religionsunterricht [1 ed.]
 9783666703034, 9783525703038

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Sprachsensibler Religionsunterricht

Jahrbuch der Religionspädagogik

Herausgegeben von Stefan Altmeyer / Bernhard Grümme / Helga Kohler-Spiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer

Sprachsensibler Religionsunterricht Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 37 (2021) herausgegeben von Stefan Altmeyer, Bernhard Grümme, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer

Mit 4 Tabellen und 10 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © aga7ta/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70303-4

Inhalt

Schlaglichter »Die Sprache, mit der ich Gott beschreiben könnte, gibt es nicht« – Gedanken von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Andreas Menne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Religionspädagogische Erschließungen Sprachsensibler Religionsunterricht – Grundlagen und konzeptionelle Klärungen (Stefan Altmeyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Zwischen Babel und Pfingsten: Übersetzen zwischen Sprachwelten als Kernaufgabe sprachsensibler Theologie (Martina Kumlehn) . . . . . . . . . . . . . . 30

Interdisziplinäre Perspektiven Was heißt »sprachsensibler Fachunterricht«? Stand der Diskussion (Ingrid Gogolin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Geschlechtergerechte Sprache im Religionsunterricht (Monika Jakobs) . . . . 53 Religiös sprachlos? Religiöse Sprache zwischen Tradition und moderner (Jugend-)Kultur (Ulrich Kropač) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts (Andrea Schulte)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Sprachliche Bildung und DaZ – auch ein Thema für den Religionsunterricht? (Yauheniya Danilovich)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Beziehungsweise … Überlegungen zum Kommunikationsverständnis sprachsensibler Religionspädagogik (Simone Ziermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Sinn und Sinnlichkeit. Leib und Körpersprache in Religion und religiösem Lernen (Michael Meyer-Blanck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die hebräische Sprache in ihrer Bedeutung für das Judentum und den Jüdischen Religionsunterricht (Mark Krasnov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Die arabische Sprache in ihrer Bedeutung für den Islam und den islamischen Religionsunterricht (Annett Abdel-Rahman) . . . . . . . . . . . . . . . . 132

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Inhalt

Didaktische Konkretionen Als Religionslehrkraft die eigene Sprache reflektieren (Stefanie Lorenzen)

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Wie plane ich Unterricht sprachsensibel und sprachbewusst? (Tanja Tajmel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus? (Oliver Reis, Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast) . . . . . . . 160 Scaffolding im Religionsunterricht. Lerngerüste als Hilfen zur Entwicklung religiöser Diskursfähigkeit (Jens-Peter Green) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Die Förderung der Lesekompetenz im sprachsensiblen Religionsunterricht (Benedikt Gilich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Unterrichtsgespräche im Religionsunterricht. Formen und Gelingens­ bedingungen (Annegret Reese-Schnitker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 »Sag’s doch einfach!« – Erklärungen im Religionsunterricht (Michael Fricke und Renate Murmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 »Das ist richtig, richtig geil!« – Gefühle zur Sprache bringen als Heraus­ forderung für religiöse Bildungsprozesse mit Jugendlichen (Elisabeth Naurath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Digitale Sprachbildung im Religionsunterricht (Anja Graf) . . . . . . . . . . . . . . 219 Leichte Sprache? Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht (David Faßbender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Sprachsensibler Religionsunterricht an Beruflichen Schulen in Klassen ohne Deutschkenntnisse (Matthias Gronover und Hanne Schnabel-Henke) 240 Sprachsensibler Religionsunterricht in der Grundschule. Grundannahmen – Erfahrungen – Schlussfolgerungen (Rainer Oberthür) 250 Wie erschließe ich die Sprache der Religion? Bewährtes und Innovatives (Medien-/Materialumschau Sek I+II) (Christian Hild) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Bilanz (Helga Kohler-Spiegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Schlaglichter

»Die Sprache, mit der ich Gott beschreiben könnte, gibt es nicht« – Gedanken von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Andreas Menne

Was ist Sprache? Schon bei dieser basalen Frage scheiden sich in der Theorie die Geister. Für manche ist Sprache ein Mittel zur Kommunikation, für andere ein regelhaftes Zeichensystem. Sie kann als Fähigkeit und Unterscheidungsmerkmal des Menschen verstanden werden, als ein Mechanismus zur Machtausübung oder ein Spiel. Aber auch im Alltag, und nicht zuletzt im Klassenzimmer, trifft jede Person Annahmen darüber, was Sprache bewirken soll. Im Religionsunterricht, so hört und liest man, dürfen Schüler:innen in Worte fassen, was sie existenziell betrifft. Sie können sprachliche Kompetenzen erwerben, die sie für ihr weiteres Leben benötigen, oder sollen reflektieren, mit welchen Sprechweisen sie sich und andere verletzen oder aufbauen. Noch schwieriger werden Antwortversuche allerdings, wenn zur Frage nach der Sprache die Frage nach Gott hinzutritt. Dann stehen theologische Grundsätze zur Debatte: Wie lässt sich überhaupt von Gott sprechen? Warum sollte uns gerade die menschliche Sprache Zugänge zur Transzendenz ebnen? Wie und warum würde sich Gott uns umgekehrt in und mit Sprache mitteilen? Und in welcher Sprache spricht Gott die Menschen an? Im Folgenden werden die Gedanken einiger Schüler:innen zu solchen Fragen präsentiert.1 Vielleicht spricht er nur eine andere Sprache Viele Menschen würden sich nichts sehnlicher wünschen, als dass Gott ihnen etwas sagen würde. Oder zu ihnen. Doch meistens sagt er leider überhaupt nichts. Nichts, was den Menschen helfen, sie trösten würde; er gibt keine Antwort auf ihre vielfältigen Fragen. Er sagt nicht, was gut ist und was böse, was der Sinn des Lebens ist oder wie man in seinem Sinne handeln soll. Er schweigt und sein Schweigen lässt 1

Die hier ausgewählten Ausschnitte gehen zurück auf eine Aktion der Zeitschrift Christ in der Gegenwart, in der unter dem Motto »Was sagt mir ›Gott‹?« Texte im Religionsunterricht gesammelt und im Internet veröffentlicht wurden. Weit über 2000 frei zugängliche Texte wurden von Stefan Altmeyer zu einem Textkorpus zusammengefasst und wissenschaftlich ausgewertet. Alle Zitate wurden dieser Sammlung entnommen; Namen wurden pseudonymisiert (vgl. Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung (Praktische Theologie heute 114), Stuttgart 2011).

»Die Sprache, mit der ich Gott beschreiben könnte, gibt es nicht«

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Menschen (ver-)zweifeln. Manchmal denke ich, er schweigt vielleicht ja gar nicht. Vielleicht spricht er nur eine andere Sprache als die Menschen oder er spricht sehr leise, sodass wir ihn unter unseren vielen Worten nicht raushören können. Oder er schweigt aus Protest. Jedenfalls liegt das Problem nicht bei ihm, sondern bei den Menschen. Wir sind nicht dafür geschaffen, seine Schöpfung zu verstehen. Vielleicht können wir manchmal Momente der Erkenntnis haben, in denen wir meinen, einen Teil der Ewigkeit verstanden zu haben, aber niemals werden wir sie in ihrer vollen Tragweite begreifen können. Warum das nicht akzeptieren? Warum nicht darauf verzichten, sich immer von allem ein Bild machen zu wollen? Vielleicht würden wir viel mehr sehen, wenn wir die Augen öffnen würden, vielleicht viel mehr hören, wenn wir alle unwichtigen Geräusche ausblendeten. Vielleicht müssen wir uns nur einfach von allen Bildern befreien, die wir uns vom Unbegreiflichen gemacht haben. Vielleicht würden wir dann endlich sehen, wie wundervoll Gottes Schöpfung ist. Aber wissen werden wir es nie. (Maria, Klasse 13, Gymnasium)

Kann Gott alle Sprachen sprechen? Ich stelle mir Gott wie einen sehr weisen Mann vor, weil er den Frieden auf die Welt bringt, Früchte und Korn wachsen lässt und sich mit allen Menschen auf der Welt in allen Sprachen unterhalten kann. Ich glaube nicht, dass er alle Sprachen kann, aber er versteht alle und er hört zu. Wieso weißt du, dass er dich versteht? Ich glaube auch, dass Gott alle Sprachen kann, aber unterhalten kann er sich mit uns Menschen nicht. Aber er vergibt uns, wenn wir etwas Schlechtes getan haben. Gott bedeutet für mich sehr viel, weil er wie ein guter Freund ist, dem ich alles sagen kann und er mir sozusagen zuhört. Wie kann ich ihm das sagen? Beten, sprechen? Du kannst es ihm immer sagen. Er hört dich jederzeit. Es reicht auch, nur zu denken. Ich finde, Gott hat Gefühle und Hoffnung und alles, was wir sagen und denken, hört Gott. Gott bedeutet für mich viel, weil ich ihm alles sagen kann und er mir »zuhört«. Er ist überall, er weiß auch, was wir jetzt schreiben. Er weiß, dass ich, wenn ich traurig bin, mein Gesicht im Fell meines Hundes vergrabe. Und wenn ich Probleme habe, hilft er mir immer. Er ist wirklich toll! Er ist nicht nur toll, er ist einfach alles Gute zusammen. Ich denke noch mehr über ihn, doch das ist etwas, das ich nicht in Worte packen kann, und ich will es auch nicht, denn das ist eine Angelegenheit zwischen mir und Gott!  (Zusammenstellung aus Texten einer 5. Klasse, Gymnasium)

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Schlaglichter

Tausend Namen in tausend Sprachen Die erste Frage, die ich mir stelle, ist wohl: Was ist Gott? Nicht nur ich, auch viele andere Menschen meines Alters suchen darauf eine Antwort. Doch jeder muss selbst seine individuelle Definition finden. Denn jeder Mensch ist einzigartig, und so ist auch jede Antwort einzigartig. […] Nun würden viele sagen: »Gott? Er existiert nicht! Wie kann es einen Gott geben, der ›gut‹ genannt wird und dabei doch all das Schlechte auf dieser Erde zulässt?!« Ich jedoch spreche nicht von dem gütigen, bärtigen Mann, der auf seiner Wolke sitzt. Ich spreche von der Macht, die kein menschliches Wesen leugnen kann. Die Kraft, die das Universum zusammenhält, die Schicksal und Zufall lenkt und die Entscheidungen von Menschen fundamental beeinflusst. Das ist Gott! Er hat tausend Namen in tausend Sprachen. Kriege werden seinetwegen geführt und Menschenleben ausgelöscht. Allein daran zeigt sich doch, dass es allein die Einfältigkeit der Menschen ist, die das Schlechte in diese Welt bringt: Dass sie um den wahren Namen dessen kämpfen, der keinen Namen hat und der jedem anders erscheint. (Paula, Klasse 11, Gesamtschule)

Kein Fremdwort Gott ist für uns kein Fremdwort. Wir halten es nicht für wichtig, jeden Sonntag bzw. Feiertag zur Kirche zu gehen, denn wir glauben zwar an Gott, benötigen dazu aber keinen Pfarrer und keine Kirche. Wir beten nicht jeden Tag, vor jedem Essen, vor dem Schlafengehen oder vor jeder Prüfung, sondern beten indirekt und unbewusst. Wir merken oft gar nicht, wie oft wir zu Gott sprechen. Gott ist für uns nicht der Erschaffer der Welt, aber ein Beschützer und ein Schutzengel in brenzligen Situationen. Gott ist für die Menschheit von großer Bedeutung, weil die Menschheit in irgendeiner Form jemanden braucht, an dem sie sich festhalten und an den sie glauben kann.  (ohne Namensangabe, Klasse 12, Fachoberschule)

Nicht wie in Filmen, sondern durch Menschen Gott spricht zu mir! Gott spricht zu jedem von uns! Aber nicht wie in Filmen, dass plötzlich aus dem Nichts eine Stimme auftaucht, die deutliche, klare Sätze spricht. Denn Gott spricht durch meine Mitmenschen zu mir, die es gut mit mir meinen. Durch ein nettes Kompliment, durch einen gut gemeinten Ratschlag, aber auch durch negative oder positive Taten und Gesten. Aber oft bemerkt man nicht, dass durch die Gegenüber oder durch ein Geschehnis Gott mit einem spricht. Aber mit Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und dem Willen, Gutes und Schlechtes zu sehen, lernt man Gott immer besser zu verstehen und zu deuten. Dies ist für das miteinander Leben in einer Gesellschaft sehr wichtig. Auch wenn Menschen sehr verzweifelt sind, sollten sie einfach zu einem Freund oder zu einem Familienmitglied

»Die Sprache, mit der ich Gott beschreiben könnte, gibt es nicht«

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gehen und mit diesem über die Probleme reden. Der Ratschlag von Gott wird dann durch diese Person sprechen. Ich denke, Gott spricht zu jedem von uns, man muss nur genau hinsehen und hinhören. Jeder von uns kann auch selbst durch Taten und Worte zum »Sprecher« Gottes werden. (Lena, Klasse 10, Gymnasium)

In meinem Herzen und meinen Gedanken Für mich ist Gott etwas Persönliches und Nichtmaterielles. Ich begegne ihm in meinem Herzen und in meinen Gedanken – nicht in der Kirche oder im Religionsunterricht. Ich begegne ihm privat, aber ich rede wirklich mit ihm. Er ist zwar unsichtbar, aber trotzdem immer für mich da. Er zeigt mir Wege in der Hoffnungslosigkeit auf oder ermahnt mich durch Zeichen, wenn etwas nicht gerade wie vorhergesehen läuft. Zu der Kirche habe ich persönlich auch keine Verbindung. Sie versucht zwar, zwischen mir und Gott zu vermitteln, aber ich glaube, dass dies nicht immer ohne Verfälschung abläuft. Zudem sind mir öfters schon Sachen begegnet, die mir nicht aus der Seele sprachen oder mich noch eher stutzig gemacht haben – seien es Reden oder Lieder. Deshalb habe ich beschlossen, zwar nicht an die Kirche zu glauben, trotzdem aber an Gott. (Patrik, Klasse 9, Gymnasium)

Diese Sprache gibt es nicht Obwohl ich an Gott glaube, könnte ich den Begriff »GOTT« nicht definieren, denn dazu fehlen mir einfach die Worte. Die Sprache, mit der ich Gott beschreiben könnte, gibt es nicht, und die kann ich auch nicht sprechen. Als Kind dachte ich, Gott macht alles, wenn man bloß nett genug darum bittet. Jedoch wird mir klar, dass ich Gott nur benutzt habe, um das zu bekommen, was ich wollte. Wenn man älter wird, versucht man, über das Thema näher nachzudenken. Mein Glaube an Gott ist so, als hätte ich eine Schutzwand um mich. Denn immer wenn ich an Gott denke oder mich an ihn wende, spüre ich den Schutz (die Bewahrung vor Fehlern). Aber immer wieder stellt man sich Fragen wie z. B.: Ist Gott ansprechbar, sieht er mein Leben? Kann Gott meine Gedanken, meine Taten lenken? Dazu denke ich, dass Gott Tag um Tag in meinem Leben wirkt, auch wenn ich es oftmals nicht merke. Manchmal fragt man sich auch, ob Gott ein Freund, ein Zuhörer, ein Vater oder doch nur ein Fremder ist, an den ich glaube. Ich denke, er ist ein bisschen von allem für mich. Wenn es mir gut geht, ist er ein Fremder, den ich grüße, aber wieder vergesse. Wenn ich Sorgen habe, ist er wie ein Freund, der mir zur Seite steht. Und wenn ich etwas falsch gemacht habe, ist er wie ein Vater, der mich ermahnt und mich durch seine Liebe auf den rechten Weg zurückbringt. Aber egal, was er ist, bin ich froh, dass ich an ihn glauben kann. Ich muss aber auf jeden Fall meinem Gott etwas anvertrauen können und nach meinem Gebet sagen können, dass ich mich erleichtert fühle. Und wenn ich dies sagen kann, dann

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Schlaglichter

weiß ich, dass Gott mir zugehört hat und mir nur durch seine Anwesenheit weitergeholfen hat. (Frieda, Klasse 13, Gymnasium)

Zeichen, die jeder verstehen kann Gott spricht nicht in irgendeiner Sprache zu mir. Vielmehr benutzt er Zeichen, die jeder verstehen kann, wenn er sie nur sehen will. Gott zeigt sich mir in der Natur; wenn durch den dichten Regen auf einmal die Sonne durchbricht und alles hell wird, vielleicht sogar noch ein Regenbogen entsteht. Außerdem schenkt er mir Freunde, mit denen ich viele glückliche Momente erlebe, die aber auch in schwierigen Zeiten für mich da sind. Bei diesen Dingen merke ich, dass es Gott gibt, auch wenn er nicht in Worten zu mir spricht. (Sarah, Klasse 11, Gymnasium)

Vielleicht habe ich als Kind seine Sprache besser verstanden Früher habe ich mich mehr bzw. zeitintensiver, aber ehrlich gesagt auch oberflächlicher mit Gott beschäftigt. Habe oft gebetet – allein und mit meinen Eltern – und war regelmäßig in der Kirche. Aber je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, mit ihm zu »sprechen«. Was mir daran so schwer fällt, kann ich nicht mit Worten sagen. Vielleicht ist es, weil sich eine gewisse Skepsis in mir entwickelt hat, dadurch dass ich alles hinterfrage – genauer hinterfrage. Es klingt vielleicht blöd, aber vielleicht habe ich als Kind seine Sprache besser verstanden und habe zurzeit einfach nicht die Kraft, genau hinzuhören. Dennoch glaube ich fest daran, dass Gott mich leitet und auf meinem Weg begleitet. Ebenso bin ich mir sicher, dass alles das, was mir so passiert, von ihm gewollt ist bzw. auf jeden Fall einen Sinn hat.  (ohne Namensangabe, Klasse 11, Gymnasium)

Andreas Menne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Fachdidaktik Religion an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Religionspädagogische Erschließungen

Sprachsensibler Religionsunterricht – Grundlagen und konzeptionelle Klärungen Stefan Altmeyer

1  Alles nur Methode? Schon seit geraumer Zeit ist das Schlagwort vom sprachsensiblen oder sprachbewussten Fachunterricht zu hören. Ausgehend von einzelnen Pilotprojekten und vorangetrieben von bildungspolitischen Initiativen wurde es in einigen Fachdidaktiken stark aufgegriffen und ist inzwischen in der Breite der schulischen Praxis angekommen.1 Es steht dabei in einer Reihe mit anderen Querschnittsthemen von Kompetenzorientierung, über Inklusion bis hin zur Digitalisierung, mit denen der Anspruch erhoben wird, den schulischen Unterricht fächerübergreifend weiterentwickeln zu wollen. Ohne dass hier dieser Anspruch im Einzelnen zu diskutieren oder Abstufungen hinsichtlich der Reichweite oder Dringlichkeit der unterschiedlichen Konzepte vorzunehmen wären, so ist doch klar: Auf Seiten der mit der jeweiligen Umsetzung adressierten Lehrkräfte und Fachverantwortlichen lassen die in hoher Schlagzahl angesagten Innovationen vielfach ein Gefühl der Überforderung zurück, das mitunter nur umso stärker ausfällt, je größer die Einsicht in die Notwendigkeit der jeweils angezielten Veränderungen ist. Wie soll es möglich sein, ein gerade erst kompetenzorientiert komplett neuformuliertes und inklusiv anfanghaft ausdifferenziertes Schulcurriculum nun auch noch sprachsensibel umzusetzen? Von daher scheint es nachvollziehbar, dass die Rezeption des Themas Sprachsensibilität im Kontext eines kleinen Faches wie des Religionsunterrichts bislang eher verhalten stattgefunden hat. Dabei ist das Anliegen des sprachsensiblen Fachunterrichts im Grunde sehr naheliegend und lässt sich erstaunlich einfach formulieren: »Immer wenn fachliche Phänomene erworben werden, findet zugleich auch sprachliches Lernen statt.«2 Wo ein neues Thema erschlossen wird, ist damit auch ein Zuwachs der sprachlichen Kompetenzen verbunden. Oder umgekehrt und als Problem formuliert: Dass Schüler:innen Schwierigkeiten mit der Erschließung eines Unter1 Zu Entwicklung und aktuellem Stand vgl. den Beitrag von Gogolin in diesem Band. 2 Magdalena Michalak/Valerie Lemke/Marius Goeke, Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprachbewussten Unterricht (Narr Studienbücher), Tübingen 2015, 135.

Sprachsensibler Religionsunterricht – Grundlagen und konzeptionelle Klärungen

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richtsthemas haben, kann in der Komplexität der Sache wie aber ebenso auch in den damit verbundenen sprachlichen Anforderungen begründet liegen – in der Entschlüsselung eines Sachtextes, dem Verständnis von Fach- und Fremdwörtern, der Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation der eigenen Gedanken. Das Anliegen des sprachsensiblen Unterrichts besteht daher im Kern darin, diese enge Verwobenheit von Fachlichkeit und Sprachlichkeit in allen Lernprozessen konsequent zu berücksichtigen.3 Das bedeutet zunächst, sich der sprachlichen Anforderungen und Hürden bewusst zu werden, die in jedem Unterrichtsgegenstand, den verwendeten Materialien und in den Unterrichtsformen verborgen liegen. Es erfordert aber darüber hinaus, sich die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden in ihrer Heterogenität zu vergegenwärtigen und diese mit den verfolgten Zielen abzugleichen. Spätestens hier werden die Dinge komplex, sind es doch gerade die sprachlichen Teilhabemöglichkeiten der Schüler:innen, die laut Bildungsforschung zunehmend weit auseinanderklaffen und massiv für die zu beobachtenden schulischen Leistungsunterschiede verantwortlich gemacht werden können.4 So plausibel und im Grunde einfach das Anliegen des sprachsensiblen Unterrichts also auch im Hinblick auf das religiöse Lernen zu sein scheint, so herausfordernd kann sich dessen unterrichtspraktische Realisierung darstellen. Wo es dennoch aufgegriffen wird, zeichnet sich nach meiner Wahrnehmung ein auf Methodenfragen enggeführter Zugriff ab: Wie können eine Textarbeit angeleitet, Lesestrategien entwickelt, kreative Schreibaufgaben angeregt oder differenzierend fördernde Wortschatzarbeit konsequent eingesetzt werden? Dieser enge Fokus mag sicher darin begründet liegen, dass die aktuell verbreitete Literatur vor allem in Form von Methodensammlungen aufgebaut ist und einen schnellen Zugriff ermöglicht.5 Auf der anderen Seite muss dies erstaunen, hat doch die religionspädagogische Aufmerksamkeit für Sprache eine jahrzehntelange Tradition, 3 Hilfreiche Überblicke liefern: Beate Lütke/Inger Petersen/Tanja Tajmel (Hg.), Fachintegrierte Sprachbildung. Forschung, Theoriebildung und Konzepte für die Unterrichtspraxis (DaZ-­ Forschung 8), Berlin 2017; Tanja Tajmel/Sara Hägi-Mead, Sprachbewusste Unterrichtsplanung. Prinzipien, Methoden und Beispiele für die Umsetzung (FörMig Material 9), Münster 2017; Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth (Hg.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (Sprachliche Bildung 1), Münster 2017; Ingrid Gogolin et al. (Hg.), Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert (FörMig Edition 9), Münster 2013. 4 Vgl. Bernt Ahrenholz, Sprache in der Wissensvermittlung und Wissensaneignung im schulischen Fachunterricht. Empirische Einblicke, in: Lütke/Petersen/Tajmel (Hg.), Fachintegrierte Sprachbildung, 1–31. 5 Vgl. insbes. die reich bestückten Methodenkoffer des Physikdidaktikers Josef Leisen, die unter http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de/ zugänglich sind (Zugriff am 18.1.2021); außerdem: Josef Leisen, Handbuch Fortbildung Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis, Stuttgart 2017.

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Religionspädagogische Erschließungen

für die nicht zuletzt hermeneutische, aber auch symboldidaktische Ansätze Pate stehen.6 Schon vor inzwischen 50 Jahren hat bspw. Hubertus Halbfas angesichts der Eigenheiten religiöser Sprache und ihrer Fremdheit gegenüber jugendlichen Sprachwelten gefordert, Religionsunterricht insgesamt als Sprachunterricht anzulegen, und diese Forderung auch in seinen Unterrichtswerken in beeindruckender und vielfach adaptierter Weise eingelöst.7 Ein Kapitel, besser noch der spiral­ curricular angelegte rote Faden »Sprachverständnis« gehört seither zum Standard aktueller Religionsbücher. Zu erwähnen wären auch kinder- und jugendtheologische Ansätze, die ihren sprachdidaktischen Schwerpunkt in der Anregung und Begleitung des selbständig-kreativen Theologisierens der Schüler:innen setzen. Weitere aktuelle wie auch historische Ansätze, die den Zusammenhang zwischen religiösem und sprachlichem Lernen auf je eigene Weise profilieren, ließen sich nennen.8 Offensichtlich ist der Anschluss dieser fruchtbaren Fachtradition an die aktuell geführte fächerübergreifende Debatte um den sprachsensiblen Unterricht theoretisch wie auch in der schulischen Praxis bislang kaum erfolgt.9 Von daher braucht es für den sprachsensiblen Religionsunterricht vor allen Methodenfragen zunächst eine fachdidaktische Profilierung. Dazu wäre zunächst das spezifische Verhältnis von religiösem und sprachlichem Lernen in den Blick zu nehmen und von dort aus zu fragen, auf welche Weise sich Aufgaben, Möglichkeiten und Wege eines sprachsensiblen Lernens fachspezifisch präsentieren. Dies möchte ich im Folgenden versuchen und dazu bei den Grundbegriffen des sprachsensiblen Unterrichts ansetzen, die es zunächst aus religionsunterrichtlicher Perspektive kritisch zu beleuchten und zu hinterfragen gilt, bevor anschließend eine religionsdidaktische Grundlegung in Form eines Modells vorgelegt werden kann. 6 Vgl. zum Überblick: Andrea Schulte, Art. Sprache, in: WiReLex (2020), http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200766/ (Zugriff am 15.1.21). – Noch grundsätzlicher lässt sich auf die theologiegeschichtlich omnipräsente Frage nach den Möglichkeiten und Wegen der Gottes­ rede in den Grenzen menschlicher Sprache verweisen (vgl. hierzu den Beitrag von Kumlehn in diesem Band sowie das inspirierende Panorama in Werner Schüßler (Hg.), Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgen­ steins, Darmstadt 2009). 7 Vgl. in gewisser Weise als »Summe« seines Ansatzes: Hubertus Halbfas, Religiöse Sprachlehre. Theorie und Praxis, Düsseldorf 2012. 8 Vgl. zur historischen Perspektive: Henrik Simojoki, Theologische Bildung und Sprachfähigkeit. Systematische und historische Annäherungen an ein Problembündel, in: Thomas Schlag/­ Jasmine Suhner (Hg.), Theologie als Herausforderung religiöser Bildung. Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik (Religionspädagogik innovativ 17), Stuttgart 2017, 57–68; Martina Kumlehn, Hermeneutik christlicher Kommunikationsformen. Theologische Bildung als Bildung zur Sprachfähigkeit, in: ebd., 69–84. 9 Vgl. Schulte, Sprache; Stefan Altmeyer, Sprachhürden erkennen und abbauen: Wege zu einem sprachsensiblen Religionsunterricht, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 35 (2019), 184–196.

Sprachsensibler Religionsunterricht – Grundlagen und konzeptionelle Klärungen

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2  Grundbegriffe des sprachsensiblen Unterrichts Der sprachsensible Unterricht will darauf aufmerksam machen, dass Sprache als ganz zentrales Werkzeug des Unterrichts anzusehen ist.10 So stellt sie nicht nur ein wesentliches Kommunikationsmittel dar, überwiegend über Sprache werden auch Inhalte vermittelt und angeeignet sowie Leistungen überprüft. Sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten stellen mithin einen großen Anteil der im Unterricht zu erwerbenden Bildungsgrundlagen dar, ganz unabhängig von der je nach Fach unterschiedlich starken direkten Thematisierung von Sprache als Lern- und Reflexionsgegenstand. Am Anfang des sprachsensiblen Unterrichts steht also ein Blick auf Sprache, der dem Grundsatz der funktionalen Linguistik folgt, dass nämlich sprachliche Formen nach Kommunikationssituationen variieren und entsprechende Kompetenzen erfordern.11 Von daher steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle Sprache im Unterricht spielt und welche Merkmale und Kompetenzen sich dabei unterscheiden lassen. Insbesondere drei leitende Unterscheidungen möchte ich hervorheben. 1. Die erste relevante Unterscheidung ist die zwischen Alltags- und Bildungssprache. Im Alltag ist Sprache durch unmittelbare Situationsbezüge und ein direktes kommunikatives Gegenüber gekennzeichnet und vollzieht sich daher meist dialogisch und spontan. Alltagssprache kommt vor allem in mündlicher, aber auch in schriftlicher Form vor. Zu ihren häufigen Merkmalen gehören Emotionalität und Subjektivität; kurz: Alltagssprache ist eine »Sprache der Nähe«12. In der Bildungssprache hingegen sind persönliche, kontextuelle und situative Bezüge durch Formalisierung und Verdichtung weitgehend eliminiert, sodass eine »Sprache der Distanz«13 entsteht. Grund dafür ist ihre besondere Funktion, die etwa nach Jürgen Habermas14 darin besteht, die Logik der unmittelbaren Kommunikation zu überschreiten und eine gesellschaftliche Öffentlichkeit zu ermöglichen, in der intersubjektiv Orientierung gewonnen werden kann. »Bil10 Vgl. Michalak/Lemke/Goeke, Sprache im Fachunterricht, 5–45. 11 Vgl. hierzu schulbildend: Michael A. K. Halliday, Explorations in the functions of language (Explorations in language study), London 1973; den aktuellen Stand diskutiert: Torsten Steinhoff, Konzeptualisierung bildungssprachlicher Kompetenzen. Anregungen aus der pragmatischen und funktionalen Linguistik und Sprachdidaktik, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 71 (2019), 327–352. 12 Peter Koch/Wulf Oesterreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36/1985, 15–43, hier 23. 13 Ebd. 14 Vgl. Jürgen Habermas, Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache, in: Kleine politische Schriften I-IV (Edition Suhrkamp 321), Frankfurt a. M. 1981, 340–363.

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dungssprache ist die Sprache, in der besonderes Wissen auf eine besondere Weise behandelt wird. Besonderes Wissen heißt: Wissen, das über das Alltagswissen hinausgeht – sowohl was die Herkunft des Wissens betrifft als auch im Hinblick auf die Breite und Tiefe der Verarbeitung.«15 Auch die Bildungssprache kennt mündliche wie schriftliche Erscheinungsformen, ist aber in beiden Weisen an der schriftlichen Sprache orientiert. Man spricht daher von einem konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch, während die Alltagssprache einem konzeptionell mündlichen Sprechen zugeordnet wird. Auch wenn Alltags- und Bildungssprache sich nicht in allen Belangen sauber voneinander trennen lassen, ist doch die Unterscheidung zwischen beiden grundlegend für das sprachsensible Verständnis schulischer Lernprozesse. Während die Kommunikation im Unterricht zu Beginn der Grundschulzeit noch weitgehend der Alltagssprache entspricht, geht die weitere schulische Entwicklung mit zunehmender Bildungssprachlichkeit einher. In dem Maße, wie der Zugang zu Orientierungswissen an die bildungssprachlichen Formen gebunden ist, in denen dieses kommuniziert wird, wird der Aufbau entsprechender Kompetenzen zu einer Kernaufgabe schulischer Bildung. Breite Rezeption hat in diesem Zusammenhang der Ansatz von Jim Cummins erfahren, der diese Aufgabe mit dem Konzept der sog. Sprachhandlungskompetenzen spezifiziert hat.16 Er unterscheidet zwischen grundlegenden Kommunikationsfähigkeiten (BICS: basic interpersonal communicative skills), mit denen alltägliche Kommunikationssituationen bewältigt werden, und komplexeren kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten (CALP: cognitive academic language proficiency), die im bildungssprachlichen Kontexten benötigt werden und gemeinsam mit der inhaltlichen Komplexität aufgebaut werden müssen. Die für den Unterricht typischen Kommunikationen stellen Schüler:innen also vor die Aufgabe, ausgehend von ihren alltagssprachlichen Fähigkeiten (BICS), diese weiterzuentwickeln und gleichzeitig sukzessive bildungssprachliche Kompetenzen (CALP) aufzubauen.17 2. Eine zweite hilfreiche Unterscheidung verläuft zwischen Fachsprache und Schulsprache. Fachsprache ist, ganz vereinfacht ausgedrückt, diejenige Sprach­ 15 Hanspeter Ortner, Art. Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache, in: Ulla Fix/ Andreas Gardt/Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31, 2), Berlin 2009, 2227–2240, hier 2227. 16 Vgl. Jim Cummins, Language, power, and pedagogy. Bilingual children in the crossfire (­Bilingual education and bilingualism 23), Clevedon 2000. 17 Zu den auch unter dem Stichwort Bildungsgerechtigkeit zu diskutierenden Implikationen vgl. den Beitrag von Danilovich in diesem Band.

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variante, die in einem Fachbereich Verwendung findet. Daher umfasst sie »sprachliche Mittel und Formen, mit denen sich Fachexperten über ein Fachgebiet optimal verständigen können«18. Entsprechend der Vielfalt und Diversität der Fachgebiete gibt es viele Fachsprachen, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden. Die Funktionen der Fachsprache leiten sich aus den kommunikativen Notwendigkeiten der Wissenschaft ab; für die Kommunikation zwischen spezialisierten Fachgebieten ist der Rückgriff auf die Bildungssprache als »innersprachliche Verkehrssprache zwischen den Fachsprachen«19 notwendig. Im Hinblick auf den Unterricht wird deutlich, dass mit fortschreitender fachlicher Vertiefung auch die fachsprachlichen Anteile entsprechend der den Unterrichtsfächern zugeordneten Disziplinen zunehmen und fachspezifisch erschlossen werden müssen.20 Gleichwohl ist Schule nicht gleich Wissenschaft und auch eine historische Quelle, ein systematischer Aufsatz oder ein physikalischer Versuch werden stets als speziell aufbereitetes, didaktisiertes Beispiel in den Unterricht eingespielt. Fachsprache kommt in der Schule daher letztlich vor allem in der Form der sogenannten Schulsprache vor. Unter Schulsprache versteht man entsprechend die an die Institution Schule gebundene Sprachform, die entweder zur Organisation des Unterrichts oder zu didaktischen Zwecken eingesetzt wird. So gibt es ganze Textsorten (wie die Erörterung oder die Erzählung einer Bildergeschichte), die außerhalb der Schule keine Bedeutung haben, oder sprachliche Konventionen, die sich mehr oder weniger ausschließlich der unterrichtlichen Logik verdanken (etwa die Erwartung, in ganzen Sätzen zu antworten). Am markantetesten und für das Anliegen des sprachsensiblen Unterrichts besonders bedeutsam tritt die Schulsprache in den vielen didaktischen Sprachformen zutage, die für die Gestaltung der Unterrichtsprozesse essenziell sind: dem Unterrichtsgespräch, den schriftlichen und mündlichen Aufgabenstellungen und Impulsen, den Lehrtexten und Produkten der Schüler:innen etc. Diesen gilt im Konzept des sprachsensiblen Unterrichts besondere Aufmerksamkeit. 3. Mit dem Blick auf Unterrichtsprozesse wird schließlich eine dritte Unterscheidung bedeutsam, nämlich diejenige zwischen der Sprache des Verstehens und der Sprache des Verstandenen.21 Denkt man Unterricht von den Bildungsinhalten her, ist der Blick auf Erkenntnisse gerichtet, die überwiegend fach- oder bildungs18 19 20 21

Michalak/Lemke/Goeke, Sprache im Fachunterricht, 55. Ortner, Bildungssprache, 2229. Vgl. Michalak/Lemke/Goeke, Sprache im Fachunterricht, 55–73. Vgl. ebd., 53 f. u. 160 mit Rückgriff auf: Peter Gallin/Urs Ruf, Von der Schüler- zur Fachsprache, in: Gabriele Fenkart/Anja Lembens/Edith Erlacher-Zeitlinger (Hg.), Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften (ide-extra 16), Innsbruck 2010, 21–25, hier 21 f.

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sprachlich, also in einer Sprache des Verstandenen, festgehalten sind. Diese Sprache ist ebenso verdichtet und effizient wie voraussetzungsstark; vor allem lässt sie nicht mehr erkennen, dass sie selbst Resultat eines oft langwierigen Verstehens- und Verständigungsprozesses ist. Für die (ausschließliche) Verwendung im Unterricht ist sie selbst in einer schulsprachlichen Elementarisierung daher ungeeignet und muss durch eine prozesshafte Sprache des Verstehens ergänzt werden. Damit ist die Forderung verbunden, den Schüler:innen die Möglichkeit zu geben, Lernschritte und Ergebnisse in einer den eigenen sprachlichen Ressourcen entsprechenden Sprache auszudrücken, und sie darin bewusst zu unterstützen. Im Kontext des sprachsensiblen Unterrichts wird daher gefordert, Lernwege so zu konzipieren, dass sie von der Sprache des Verstehens ausgehen und Schritt für Schritt in Richtung der Sprache des Verstandenen aufgebaut werden. Überwiegend ist damit dann ein Weg von der Alltagssprache als Sprache der Nähe hin zu einer zunehmend abstrahierenden Fach- oder Bildungssprache intendiert.

3  Religionspädagogische Verortung Die mit den genannten leitenden Unterscheidungen verbundenen Anliegen besitzen auch für den Religionsunterricht unmittelbare Relevanz, hat dieser doch auf ganz selbstverständliche Weise Anteil an der gesamtschulischen Bildungsaufgabe, die sprachliche Teilhabebefähigung der Schüler:innen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Zugleich ergibt sich aus seiner spezifischen Aufgabe, den religiösen Modus der Weltbegegnung im Kanon der schulischen Fächer zu repräsentieren, auch ein ganz eigener Umgang mit Sprache und eine eigene sprachdidaktische Tradition. Von daher verbinden sich mit jedem der genannten Unterscheidungspaare neben bestätigenden Beispielen auch kritische Anfragen, die sich aus den Spezifika religiöser Lernprozesse ergeben. 1. Selbstverständlich vollzieht sich auch im Religionsunterricht eine sukzessive Entwicklung von der Alltags- zur Bildungssprache: Es wird erwartet, mit Religion jenseits des spontanen, situativen und privaten Austauschs in einer reflektierten, abstrahierenden und diskursiven Weise umgehen zu können. Dementsprechende Sprachhandlungen wie beschreiben, erklären, analysieren, vergleichen oder interpretieren finden sich in allen Bildungsplänen und rücken im sprachsensiblen Religionsunterricht in den Vordergrund der bewusst zu entwickelnden Kompetenzen.22 Und dennoch wäre es von der Sache her einseitig, das sprach22 Vgl. hierzu den Beitrag von Schulte in diesem Band.

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liche Lernen im Religionsunterricht ausschließlich als einen Prozess ständig zunehmender Distanzierung zu konzeptualisieren. Selbstverständlich beinhaltet religiöses Lernen die Fähigkeit, sich in der »Sprache der Distanz« mit dem religiösen Weltzugang auseinanderzusetzen, zugleich kann dies aber nicht ohne bleibende Rückbindung an eine »Sprache der Nähe« geschehen. Ob man nun an Luthers Gottesformel »Worauf du dein Herz hängst und du dich verlässt« erinnert, an Paul Tillichs Religionsbegriff des »ultimate concern« oder an Bruno Latours »Austausch zwischen Liebenden« als Metapher religiösen Sprechens, immer wird deutlich, dass im religiösen Lernen auch der Bezug zu persönlichen und lebensweltlichen Perspektiven gesucht, bedacht und sprachlich artikuliert werden muss. In der religionsdidaktischen Theorie lässt sich dies vielleicht am besten in der Kategorie der Relevanzkonstruktion verorten. Religiöses Lernen berührt in diesem Sinne immer auch die Frage, ob und gegebenenfalls wie »in den religiösen Zeugnissen etwas angesprochen ist, was ›mich‹ bzw. was ›uns‹ betrifft«23. Mindestens hier hat der Alltag und die ihm zugeordnete Sprache der Nähe einen nicht verzichtbaren Ort im Religionsunterricht. »Sprachfähigkeit hat also immer auch mit Relevanz zu tun.«24 2. Die zweite Unterscheidung zwischen Fach- und Schulsprache wird bereits an der Stelle schwierig, wo – anders als vielleicht in Biologie oder Geschichte – überhaupt gar nicht so klar benannt werden kann, was die Fachsprache des Religionsunterrichts überhaupt ist.25 Religionsunterricht ist kein Theologieunterricht, wenngleich theologische Texte, Begriffe und Methoden natürlich eine wichtige Rolle spielen. Auf ebenso selbstverständliche Weise präsent sind jedoch auch literatur- und religionswissenschaftliche, historische, künstlerische oder politische Zugänge zum Gegenstandsbereich Religion. Zudem sind religiöse Zeugnisse und Traditionen von einer ganz eigenen Sprache geprägt, die nicht nur fachsprachlich thematisiert wird, sondern auch selbst im Unterricht präsent ist. Die für den Religionsunterricht typische Schulsprache ist von daher am ehesten als ein vielstimmiger Mix elementarisierter Formen der genannten Zugänge zu verstehen.26 Zu ihrem Verständnis bedarf es ganz ohne Zweifel fachsprachlicher Begriffe wie Monotheis23 Rudolf Englert/Elisabeth Hennecke/Markus Kämmerling, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014, 51. 24 Simojoki, Theologische Bildung, 59. 25 Vgl. Theresa Kohlmeyer, »Sie sind religiös sprachunfähig!«. Zur Fachsprachlichkeit des Christentums, in: Zeitschrift für Pastoraltheologie 38 (2018), 57–68 sowie den Beitrag von Reis u. a. in diesem Band. 26 Vgl. Schulte, Sprache; Guido Meyer, Die Sprachen des Religionsunterrichts, in: ders./Norbert Wichard (Hg.), Sprachen der Kirche. Über Vielfalt und Verständlichkeit kirchlichen Sprechens, München 2018, 34–50.

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mus, Schöpfung, Theodizee, Rechtfertigung oder Evangelium, um nur einige zu nennen. Entscheidend ist allerdings, dass der über Begriffe laufende erläuternde Zugriff auf Religion nur eine der vielen Varianten darstellt, mittels derer Religion im Religionsunterricht modelliert, d. h. sprachlich so elementarisiert wird, dass die Schüler:innen »sich überhaupt produktiv auf sie beziehen und sich mit [ihr] auseinandersetzen können«27. Neben dem erläuternden und damit am stärksten fachsprachlichen Zugang finden sich weitere Modellierungen, die sich nach Rudolf Englert und seinem Team mit Religion erfinden, entdecken, erörtern und erleben umschreiben lassen.28 Sprachsensibler Religionsunterricht muss den Blick auf die sprachlichen Anforderungen all dieser Modellierungen richten. 3. Für das religiöse Lernen besonders wichtig dürfte die Unterscheidung zwischen der Sprache des Verstehens und des Verstandenen sein, wohl aber mit einer erweiternden Modifizierung. Während im Kontext des sprachsensiblen Unterrichts beide Sprachen mitunter in einem hierarchischen Sinne aufeinander bezogen werden – die Sprache des Verstehens ist dann ein vorläufiges, wenngleich wichtiges Zwischenstadium auf dem Weg zur Aneignung der Sprache des Verstandenen –, ist dies für das religiöse Lernen nicht in gleicher Weise zutreffend. Diesem geht es ja nicht nur um die Erschließung einer vorgegebenen Sprache, sondern auch um die Entwicklung einer eigenen Ausdrucksfähigkeit im Umgang mit dem religiösen Weltzugang. Am Ende kann im Religionsunterricht die Sprache des Verstandenen auch diejenige sein, die von den Schüler:innen selbst entwickelt wird, bspw. im Rahmen eines konstruktivistischen Ansatzes oder im theologisierenden Unterrichtsgespräch. Die hier im Hintergrund stehende religionsdidaktische Einsicht besteht darin, dass Religion im Religionsunterricht ganz unterschiedlich repräsentiert sein kann: als Religion der Religionsgemeinschaft oder Religion der Kinder und Jugendlichen, als Schulreligion oder als im Unterricht artikulierte Religion der Schüler:innen, ohne dass zwischen diesen Repräsentationsformen eine prinzipielle Hierarchie anzunehmen wäre.29 Mit den unterschiedlichen Repräsentationsformen verbunden ist der für den sprachsensiblen Religionsunterricht bedeutsame Effekt, dass die Sprachen des Verstehens und des Verstandenen beide gleichermaßen relevant und dialogisch aufeinander zu beziehen sind. Am Ende dieser kurzen religionspädagogischen Verortung der leitenden Unterscheidungen hinter dem Konzept des sprachsensiblen Unterrichts steht die Einsicht, dass auch im Religionsunterricht fachliche und sprachliche Erwar27 Englert/Hennecke/Kämmerling, Innenansichten, 51. 28 Vgl. ebd., 58–61. 29 Vgl. ebd., 52–57.

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tungen und Anforderungen miteinander verwoben sind, zugleich aber auch markante Charakteristika zutage treten. Die auffälligste Eigenart liegt insgesamt wohl darin, dass nicht einfach von einer zunehmenden sprachlichen Abstraktionsbewegung auszugehen ist, der zufolge Lernfortschritte stets und alternativlos mit dem Aufbau bildungs- und fachsprachlicher Kompetenzen verknüpft sind.30 Sowohl die Art und Weise, wie Religion im Unterricht repräsentiert und didaktisch modelliert wird, als auch insbesondere das mit dem religiösen Lernen verbundene Anliegen der Relevanzkonstruktion machen deutlich, dass es neben der fachsprachlichen Distanzierung immer auch der alltagssprachlichen Konkretisierung bedarf. Oder weniger fachsprachlich, sondern konkret formuliert: Im Religionsunterricht darf auch eine Schüleräußerung wie die folgende als passendes Stundenfazit stehen bleiben: »Der Teufel kann Scheiß bauen, Gott kann nur lieben, nur Menschen können alles: Scheiß und Liebe.«31

4  Religionsdidaktische Modellierung Wie wären nun die Aufgaben eines sprachsensiblen Religionsunterrichts zu konkretisieren, aus denen sich didaktische und methodische Entscheidungen begründet treffen ließen? Ich möchte dazu die bislang in der kritischen Auseinandersetzung identifizierten Besonderheiten in ein religionsdidaktisches Modell fassen, das wesentliche sprachliche Dimensionen religiöser Lernprozesse aufzuschlüsseln versucht.32 Ich mache mir dabei den Ansatz der funktionalen Linguistik zu eigen und frage nach den Merkmalen, die sich für den religionsunterrichtlichen Umgang mit Sprache als typisch erweisen, sowie den sprachlichen Kompetenzen, die damit verbunden sind. Als didaktische Struktur orientiere ich mich erneut an den Leitfragen, wie Religion im Religionsunterricht repräsentiert, wie sie modelliert und wie Relevanz konstruiert werden kann. 30 Vgl. Altmeyer, Sprachhürden, 190 ff. In diesem Sinne auch mit Bezug auf theologische Bildung: Kumlehn, Hermeneutik. 31 Inger Hermann, Halt‹s Maul, jetzt kommt der Segen. Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott, Stuttgart 112016, 24. 32 Bei dem Modell handelt es sich um eine Weiterentwicklung eigener früherer Vorschläge (vgl. Stefan Altmeyer, Zum Umgang mit sprachlicher Fremdheit in religiösen Bildungsprozessen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige ­Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht (Studien zur Religiösen Bildung 15), Leipzig 2018, 191–205; ders., Sprache im Religionsunterricht, in: Magdalena Michalak (Hg.), Sprache als Lernmedium im Fachunterricht. Theorien und Modelle für das sprachbewusste Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 2014, 154–174).

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1. Die unterschiedlichen Repräsentationsformen der Religion der Religions­ gemeinschaft und der Kinder- und Jugendlichen einerseits sowie der Religion der Schüler:innen und der Schulreligion andererseits verweisen sprachlich auf zwei basale Unterscheidungen. Die erste verläuft zwischen »Sprache der Religion« und »Sprache für Religiöses« und reflektiert die Einsicht, dass Religion innerhalb eines objektivierenden oder subjektivierenden Zugangs zum Gegenstand des Lernens werden kann. Die zweite nimmt den Standpunkt der Sprechenden im Verhältnis zu Religion in den Blick und unterscheidet entlang einer Linie innen/außen zwischen »Religiösem Sprechen« und »Sprechen über Religion«.33 Insofern der Religionsunterricht das Ziel verfolgt, die Schüler:innen zu einem verantwortlichen und mündigen Umgang mit Religion zu befähigen, ergibt sich eben daraus auf sprachlicher Ebene, dass er elementare Formen religiöser Traditionen erschließt (Sprache der Religion), sich mit individuellen religiösen Ausdrucksformen beschäftigt (Sprache für Religiöses), die Frage lebensrelevanter Orientierung durch Religion thematisch macht (Religiös sprechen) und um eine Förderung der religiösen Urteils- und Dialogfähigkeit bemüht ist (Sprechen über Religion). Als weiteres Spezifikum tritt hinzu, dass neben dem Vertrautwerden mit diesen Sprachdimensionen auch die Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache, dem religiösen Gegenstandsbereich überhaupt gerecht zu werden, zum Aufgabenspektrum des Religionsunterrichts gehört. 2. Auf welche Weise genau mit repräsentierter Religion gearbeitet wird, lässt sich durch einen Verweis auf die beiden anderen didaktischen Entscheidungen konkretisieren. Wie nämlich Religion modelliert und wie Relevanz konstruiert wird, hat sprachliche Implikationen, die sich anhand des Sprachfeldes veranschaulichen lassen, das durch die Repräsentationsformen aufgespannt wird (vgl. Abb. 1). Die Art und Weise der Modellierung entspricht dabei unterschied­ lichen Orten auf diesem Feld. Ȥ Die Modellierungswege Religion erläutern und erörtern sind sprachlich mit einer stärkeren Distanznahme verbunden. Gegenstände des Unterrichts werden hier so eingebracht, dass sie entweder »sachkundlich-fachlichen Klärungsbedarf aufwerfen«34 oder die Schüler:innen »zu eigener Stellung33 Vgl. zu dieser Unterscheidung Bernhard Dressler, Religion verstehen. Beiträge zur Religionshermeneutik und zu religiöser Bildung (Praktische Theologie heute 170), Stuttgart 2020, 82–89, sowie bereits: Michael Meyer-Blanck, Zwischen religiöser Rede und der Rede über Religion. Die Praktische Theologie als Vermittlungstheorie zwischen Theologie, Kirche und Kultur, in: Evangelische Theologie 61 (2001), 414–424. 34 Englert/Hennecke/Kämmerling, Innenansichten, 5959.

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Abb. 1: Sprache in religiösen Lernprozessen (Modell)

nahme und zu kontroversen Positionierungen herausfordern«35. Sprachlich stehen damit hermeneutische und diskursorientierte Kompetenzen im Vordergrund; es geht darum, religiöse Sprache verstehen bzw. sich gegenüber religiösem Sprechen und den damit verbundenen Geltungsansprüchen positionieren zu können. Hierbei spielen auch fachsprachliche Begriffe eine wichtige Rolle.36 Ȥ Im Unterrichtsmodus Religion erleben liegt der Fokus auf der Innenperspektive religiösen Sprechens, etwa wenn originale Begegnungen an außerschulischen Lernorten oder im Gespräch mit Religionsvertreter:innen stattfinden. Auch beim performativen Vollzug religiöser Sprachformen wie bspw. in der Inszenierung eines Bibelverses liegt der didaktische Ausgangspunkt im eigenen Erleben. Mit Blick auf sprachliche Kompetenzen liegt hier der Fokus auf dem Kontakt mit bzw. auf dem Erproben von authentischer Sprache der Religionsgemeinschaft, mithin also auf der Ausdrucksdimension religiösen Sprechens. Ȥ Wo der Religionsunterricht seinen Gegenstand in erfindender bzw. entdeckender Weise modelliert, ist ein subjektivierender Zugang gewählt. Dies 35 Ebd., 60. 36 Für ein explizites Begriffslernen treten ein: Theresa Kohlmeyer et al., Wie meinst du das? – Begriffserwerb im Religionsunterricht, in: Theo-Web 19 (2020), 334–344.

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geschieht dann, wenn an Stelle der Bearbeitung einer vorgegebenen Gestalt von Religion »eine im weiten Sinne als ›religiös‹ zu bezeichnende Sinnkonstruktion«37 angezielt wird oder anhand von lebensweltlichen Phänomenen ein religiöser Weltzugang erkundet und auf seinen Mehrwert befragt wird. Die damit verbundenen sprachlichen Prozesse sind stark auf kommunikative Kompetenzen fokussiert, die mal mehr fachsprachlich (etwa beim Theologisieren und Philosophieren), mal mehr bildungssprachlich (z. B. innerhalb einer Symboldidaktik) orientiert sein können und die Fähigkeit beinhalten, angesichts religiöser Fragen und Phänomene angemessen kommunizieren zu können. 3. Die beiden bislang betrachteten religionsdidaktischen Fragen, wie konfigurierte inhaltliche Strukturen in den Religionsunterricht eingespielt (Repräsentation) und wie individuierte inhaltliche Strukturen aufgebaut werden (Modellierung), stehen nicht unverbunden nebeneinander. Unter der religionsdidaktisch leitenden Absicht, eine wechselseitig kritische und produktive Verknüpfung von elementaren inhaltlichen Strukturen und elementaren lebensweltlichen Erfahrungen zu ermöglichen, werden sie durch Strategien der Relevanzkonstruktion miteinander verknüpft. Die Forschungsgruppe um Rudolf Englert hat in diesem Zusammenhang zwischen einer Aneignung und Aktualisierung religiöser Zeugnisse sowie einer Übertragung bzw. Vertiefung lebensweltlicher Erfahrung unterschieden. In der damit verknüpften sprachlichen Dimension lassen sich diese Strategien als Bewegungen auf dem Feld religiöser Sprachbildung beschreiben. Ȥ Die Aneignung und Aktualisierung religiöser Zeugnisse nehmen beide ihren Ausgang beim Pol vorgegebener Sprache der Religion. Indem es bei der Aneignung um ein »persönliches Sich-Einlassen auf ein Element religiöser Tradition«38 geht, führt die angezielte Lernbewegung in Richtung des subjektiven Pols und tendenziell eines (evtl. probeweisen) Sprechens aus der religiösen Binnenperspektive. Die Aktualisierung als eine Strategie der ausdrücklichen »Übertragung religiöser Traditionselemente in die Gegenwart«39 impliziert stärker abstrahierende Erörterungen im Sinne der Frage, worin deren Bedeutung oder Aktualität heute bestehen könnten. Ȥ Unterrichtliche Inszenierungen nach den Mustern Übertragen bzw. Vertiefen lebensweltlicher Erfahrungen starten hingegen auf der gegenüberliegen37 Englert/Hennecke/Kämmerling, Innenansichten, 58. 38 Ebd., 62. 39 Ebd., 63.

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den, subjektbezogenen Seite des religiösen Sprachspektrums. Hier werden lebensweltliche Erfahrungen thematisiert und entweder übertragend auf ihre Bearbeitung im ausdrücklich religiösen Zusammenhang befragt (etwa »Wie steht die Bibel zum Umgang mit Flüchtlingen?«) oder aber vertiefend auf grundlegend religiöse Fragen bezogen (etwa Grenzerfahrungen). Eine solche vertiefende Beschäftigung mit der religiösen Dimension des Lebens (Religiosität) kann, muss aber nicht in jedem Fall in Auseinandersetzung mit ausdrücklicher Religion geschehen. Die Sprache des Verstehens kann in diesem Sinne mitunter auch die Sprache des Verstandenen vollständig substituieren. Mithilfe der getroffenen Verortungen religionsdidaktischer Entscheidungen auf dem Feld religiöser Sprache wird deutlich, wie fachliches und sprachliches Lernen im Religionsunterricht auf spezifische Weise miteinander verwoben sind. Das Modell zeigt, wie sowohl die Repräsentanz des Inhalts, dessen individuelle Adaption sowie die zu ermöglichende Relevanzkonstruktion an eine inhalts- und subjektadäquate Versprachlichung des Verstehens und des Verstandenen gebunden sind, die bestimmte sprachliche Kompetenzen impliziert. Hinzu tritt schließlich noch die Aufgabe, den sprachlichen Modus des Umgangs mit Religion selbst noch einmal kritisch zu reflektieren und das Wechseln bzw. Verschränken von Perspektiven einzuüben.40 Mit der folgenden Übersicht sollen die unterschiedlichen Kompetenzen noch einmal in gebündelter Weise zusammengefasst werden. Ein sprachsensibler Religionsunterricht hätte dann die didaktische Aufgabe, zu fragen, wie Strategien und Maßnahmen zur Förderung der hier ausdifferenzierten sprachlichen Lernziele (in der Tabelle kursiv) aussehen könnten.41

40 Vgl. Dressler, Religion, 29–46. 41 Hinweise für entsprechende Ausdifferenzierungen finden sich bspw. bei: Schulte, Sprache; Annegret Reese-Schnitker, Art. Sprache, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik (Studienbücher Theologie 25), Stuttgart 2021, 406–412 oder mit expliziter Praxisorientierung: Karin Kottenhoff, Sprachsensibles Lernen und Lehren im Religionsunterricht. Alter Wein in neuen Schläuchen?, in: Kontexte 2/2020, 12–17; Christian Münch, Sprachsensibler Fachunterricht und Bibeldidaktik. Lernwege in der »Fremdsprache Religion«, in: Notizblock 66/2019, 15–18; Marlies Berg, Meine Sprache als Religionslehrerin und die Sprache meiner Schülerinnen und Schüler, in: IRP-Impulse 1/2018, 28–31.

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Tabelle 1: Sprachliche Kompetenzen in religiösen Lernprozessen Religiöses Sprechen

Übergang innen/außen

Sprechen über Religion

Sprache für Religiöses

Sprechen lernen: angesichts relevanter religiöser Fragen kommunizieren können (Religion erfinden/ entdecken)

Sprachgebrauch reflektieren: Standpunkte religiöser Sprecher:innen unterscheiden und Perspektiven wechseln können

Auskunft geben lernen: Geltungsansprüche religiösen Sprechens erkennen, benennen und bewerten können (Religion erörtern)

Übergang subjektiv/objektiv

Relevanz prüfen: subjektivierte und tradierte Formen religiösen Sprechens aufeinander beziehen können (Aneignung, Vertiefung)

Sprache der Religion

Wahrnehmen und Ausdrücken lernen: Elemente der eigenen Religiosität durch Einstieg in das religiöse Sprachspiel entdecken und ausdrücken können (Religion erleben)

Perspektiven­ wechsel

Sprachgebrauch reflektieren: Standpunkte der Thematisierung von Religion unterscheiden und Perspektiven wechseln können

Relevanz prüfen: bewertende und verstehende Formen des Sprechens über Religion aufeinander beziehen können (Aktualisierung, Übertragung) Verstehen lernen: Sprachformen religiöser Traditionen verstehen können (Religion erläutern)

5  Das hat Methode Was bleibt am Ende dieses Versuchs, anhand der Grundlagen des sprachsensiblen Unterrichts einige konzeptionelle Klärungen für den sprachsensiblen Religionsunterricht vorzunehmen? Zunächst wohl die Erkenntnis, dass sich das Anliegen des sprachsensiblen Unterrichts sehr einfach formulieren lässt: Fachliches und sprachliches Lernen sind als eine Einheit zu betrachten und sowohl die Bedingungen, Ziele, Gegenstände und Kommunikationsformen des Unterrichts auf ihre sprachlichen Anforderungen hin zu befragen als auch den Schüler:innen entsprechend ihrer sprachlichen Fähigkeiten gezielt Unterstützung anzubieten. Als deutlich komplizierter erweist sich die Frage, auf welche Weise der Religionsunterricht zu diesem Anliegen beitragen kann, und zwar nicht nur in einem allgemeinen sprachbildenden und fördernden Sinne, sondern so, wie es sich aus seinem ganz eigenen fachlichen Profil ergibt. Die Prin-

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zipien der Sprachsensibilität bleiben dabei dieselben: die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden berücksichtigen und die eigene Sprache reflektieren, sprachliche Anforderungen in Planung und Gestaltung integrieren, Übergänge zwischen alltags- und fachsprachlicher Kommunikation unterstützen, vielfältige Anlässe zu sprachlichem Handeln schaffen. Sie sind jedoch einzutragen in ein Modell spezifisch religiöser Sprachbildung, das die religionsdidaktischen Entscheidungen transparent macht, auf deren Basis Methoden sprachsensiblen Unterrichtens begründet in den Religionsunterricht eingebracht werden können. Wohl nur auf diesem Wege wäre zu vermeiden, dass beim sprachsensiblen Religionsunterricht alles einfach nur Methode ist, und stattdessen zu gewährleisten, dass dieser in seiner didaktischen Fundierung durch und durch Methode hat.42 Zugleich wird auf dem Wege der didaktischen Reflexion deutlich, dass der Ansatz des sprachsensiblen Unterrichts bei aller Plausibilität doch auch charakteristische blinde Flecken aufweist. Hier wären etwa die Fokussierung auf verbale Sprache zu nennen, welche die vielfältigen Kommunikationsformen an den Rändern und jenseits der Sprache vernachlässigt43, oder eine mitunter zu beobachtende Engführung auf kognitive Sprachleistungen, wodurch die übrigen Dimensionen sprachlicher Kommunikation in den Hintergrund treten oder die Bedürfnisse von Schüler:innen mit sprachlich-kognitiven Beeinträchtigungen möglichweise zu wenig beachtet werden.44 Gerade der Religionsunterricht kann gegenüber solchen Einseitigkeiten sein ureigenes fachliches wie didaktisches Profil geltend machen, das sich »im Dienst der Ausbildung einer Sprache« versteht, die allen Schüler:innen »hilft, religiöse Mündigkeit auszubilden und eine gesunde Persönlichkeit zu entwickeln.«45 Daran ist mit Blick auf den sprachsensiblen Religionsunterricht zu erinnern – ebenso wie an seine eigene, sprachdidaktische Tradition, die es gleichermaßen selbstbewusst wie entwicklungsoffen in die laufenden Diskussionen einzubringen gilt. Vielleicht gäbe es hier nicht nur im, sondern auch vom Religionsunterricht einiges zu lernen.

Dr. Stefan Altmeyer ist Professor für Religionspädagogik, Katechetik und Fachdidaktik Religion an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

42 Zur didaktisch reflektierten Umsetzung vgl. die Beiträge unter didaktische Konkretionen in diesem Band. 43 Vgl. hierzu die Beiträge von Meyer-Blanck und Ziermann in diesem Band. 44 Vgl. hierzu die Beiträge von Naurath und Faßbender in diesem Band. 45 Reese-Schnitker, Sprache, 408 f.

Zwischen Babel und Pfingsten: Übersetzen zwischen Sprachwelten als Kernaufgabe sprachsensibler Theologie Martina Kumlehn

»Durch den Geist der Übersetzer verlaufen die Grenzen zwischen unterschiedlichen Welten, und ihre Gabe ermöglicht es ihnen, die Grenzen zu überschreiten.«1

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk singt ein Loblied auf das Übersetzen, das einander fremde Sprachen und Kulturen allererst so miteinander in Kontakt bringt, dass wechselseitiges Kennen und Verstehen möglich werden und im übersetzenden Verflechten der Welten potenziell Neues entstehen kann. Sie spricht diesbezüglich von »Weltrettung«, weil einerseits Sprach- und Kulturwelten durch Übersetzungen bewahrt und tradiert werden und andererseits die Welt auf übersetzungsgestützte Kommunikationsprozesse angewiesen ist, wenn Pluralität friedlich gestaltet werden soll. Es wird jedoch auch deutlich, dass der mögliche Anspruch des Übersetzens, »dasselbe in einer anderen Sprache zu sagen«2, in vielerlei Hinsicht komplex und mit Grenzerfahrungen unterschiedlichster Art verbunden ist. Denn im Gegenüber zum irreführenden Ausdruck »dasselbe« spiegelt der Begriff »Sprachwelt« bereits die Einsicht, dass mit einer Sprache eine kulturell geprägte komplexe Wahrnehmung von Welt und eine je eigene Modulierung von Wirklichkeitsdeutung und Lebenspraxis einhergeht, sodass Sprachen nicht einfach identisch ineinander zu überführen sind. Es geht um das »Paradox der Übersetzung«, das die »Idee einer Korrespondenz ohne Adäquatheit« verfolgt und dabei darum weiß, dass es neben den beiden zu übersetzenden Sprachwelten keine dritte neutrale Instanz gibt, die das Gelingen der Übersetzung garantieren könnte.3 Entsprechend sind vielfältige Formen der Grenzwahrnehmung, Grenzüberschreitung und Grenzaushandlung im Spiel, die sich in fluiden Prozessen zwischen Polen wie Wort und Sinn, Bedeutungs- und Wirkungsäquivalenz, Verfremdung und

1

Olga Tokarczuk, Wie Übersetzer die Welt retten, in: dies., Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, Zürich 2020, 63–97, hier 65. 2 Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, München 2009, 9. 3 Paul Ricœur, Vom Übersetzen, Berlin 2016, 11.

Übersetzen zwischen Sprachwelten als Kernaufgabe sprachsensibler Theologie

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Einbürgerung4 oder »Treue und Verrat«5 bewegen und Gewinne und Verluste6 im Prozess des Übersetzens austarieren müssen. Übersetzen ist von daher auch nicht konfliktfrei, sondern es gibt Grenzziehungen durch »Übersetzungstabus« und »Übersetzungsskandale konstruieren illegitime Grenzüberschreitungen.«7 Dieses spannungsreiche Feld des Übersetzens hat vor allem durch den Impuls von Jürgen Habermas, religiöse Überzeugungen in säkulare Sprache zu übersetzen, um gesellschaftsrelevante Diskurse zu befördern, auch theologisch wieder neue Beachtung gefunden, vor allem in Debatten um »öffentliche Theologie und Religionspädagogik«.8 Der vorliegende Beitrag behält diesen Horizont im Blick, versucht jedoch das Thema Übersetzen darüber hinaus als eine elementare Herausforderung für jegliche Form sprachsensibler und hermeneutisch versierter Theologie zu profilieren. Entfaltet wird folgende Doppelthese: Übersetzungsprozesse grundieren theologische Reflexion und theologische Reflexion spitzt Grundfragen des Übersetzens zu. In der gebotenen Kürze werden dies­bezüglich höchst selektiv und exemplarisch theologisch relevante Phänomene des Übersetzens vor allem am Beispiel von Bibelübersetzungen aufgerufen, um in einem zweiten Teil systematisch orientiert Grundbestimmungen des Übersetzens zwischen den narrativ vermittelten Motiven »Babel« (Sprachenvielfalt und -zerstreuung) und »Pfingsten« (Verheißung sprachübergreifenden Verstehens) genauer theologisch zu reflektieren und schließlich Chancen und Grenzen des Übersetzungsparadigmas in gegenwärtig herausfordernden Kommunikationszusammenhängen einer sprachsensiblen Praktischen Theologie knapp abzuwägen. 4 Vgl. Albrecht Buschmann, Von der Problemforschung zur Ermöglichungsforschung. Sieben Vorschläge für eine praxisorientierte Theorie des Übersetzens, in: ders. (Hg.), Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, Berlin/Boston 2015, 177–190, hier 179. 5 Paul Ricœur, Vom Übersetzen, 14. 6 Vgl. Michael DeJonge/Christiane Tietz (Hg.), Translating Religion. What is Lost and Gained?, London/New York 2015. 7 Martin Leutzsch, Übersetzungstabus als Indikatoren normativer Grenzen in der Geschichte der christlichen Bibelübersetzung, in: Katharina Heyden/Henrike Manuwald (Hg.), Übertragungen heiliger Texte in Judentum, Christentum und Islam. Fallstudien zu Formen und Grenzen der Transposition, Tübingen 2019, 33–62, hier 33. 8 Vgl. z. B. Christiane Tietz, Habermas’s Call for Translating Religion into Secular Language, in: DeJonge/dies., Translating Religion, 104–122; Frederike van Oorschot, Hermeneutische Grundfragen zur Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen. Übersetzung und gegenseitiges Vertrautwerden, in: dies./Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten, Leipzig 2019, 17–33; Manfred L. Pirner, Übersetzung. Zur Bedeutung einer fundamentaltheologischen Kategorie für kirchliche Bildungsverantwortung, in: Gernot Meier (Hg.), Reflexive Religionspädagogik. Impulse für die kirchliche Bildungsarbeit in Schule und Gemeinde, Stuttgart 2012, 70–88; Werner Haußmann u. a. (Hg.), EinFach Übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit, Stuttgart 2019.

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1 Exemplarische Übersetzungsphänomene am Beispiel von Bibelübersetzungen und ihrer Reflexion Im Kontext der biblischen Theologie werden sowohl Übersetzungen der biblischen Texte als Voraussetzung oder Resultat der verstehenden Auslegung angefertigt als auch Übersetzungsprozesse, die den biblischen Texten im Spannungsfeld verschiedener Sprachen und Kulturen selbst eingeschrieben sind, durch die Schritte der historisch-kritischen Exegese herausgearbeitet.9 Korrespondierend ist die historische Theologie bzw. die Kirchengeschichte bei der Erschließung und Edierung von Quellentexten inklusive der Verfolgung ihrer Verbreitung und Wirkungsgeschichte auf Übersetzungen und deren Reflexion angewiesen.10 Sehr zentral haben es zudem die missionswissenschaftliche und interkulturelle Theologie bzw. die Religionswissenschaft mit der Kenntnis und Übersetzung verschiedenster Sprachwelten zu tun und treffen in besonderer Weise auf Grenzen des Übersetzbaren, wenn sich (religions-)kulturelle Vorstellungshorizonte und ihre sprachlichen Repräsentationen in Ausgangs- und Zielsprache so sehr unterscheiden, dass äquivalente Ausdrucksformen nur schwer oder gar nicht gefunden werden können und Vergleiche von religiösen Phänomenen und kontextuellen Theologien von daher auch nur sehr grenzbewusst möglich sind.11 In diesen Feldern wird jedoch gerade angesichts der zu konstatierenden Schwierigkeiten folgender Zusammenhang sichtbar: »The study of religion und the study of translation belong together because much of the theory and practice of translation has developed in religious contexts concerned with the necessity and possibility of translating religious texts.«12 Entsprechend sind es die engen Verbindungen von Missions- und Bildungsanliegen, die von Beginn an Übersetzungen biblischer Texte angeregt bzw. notwendig gemacht haben und das Feld der Bibelübersetzungen geradezu idealtypisch als Paradigma des Austrags von Grund- und Streitfragen des Übersetzens   9 Vgl. exemplarisch Martin Rösel, »Du sollst die Götter nicht schmähen!« (LXX Ex 22,28[27]). Die Übersetzung Gottes und der Götter in der Septuaginta, in: Melanie Lange/ders. (Hg.), Der übersetzte Gott, Leipzig 2015, 54–68; Hanna Roose, Neues Testament (Module der Theologie 2), Berlin 2009, 13 f. und 91 f. 10 Vgl. z. B. Michael P. DeJonge, Historical Translation: Pseudo-Dionysius, Thomas Aquinas, and the Unknown God, in: ders./Tietz, Translating Religion, 29–44. 11 Vgl. z. B. Klaus Hock, Hegemonialität, Vernakularität, Transkulturation. Zur Historisierung der Übersetzung von Religionen, in: Lange/Rösel, Der übersetzte Gott, 165–186; Klaus von Stosch, Does Allah Translate ›God‹? Translating Concepts between Religions, in: DeJonge/ Tietz, Translating Religion, 123–136. 12 Michael P. DeJonge/Christiane Tietz, Introduction. Translating Religion, in: dies., Translating Religion, 1–14, hier 1.

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erscheinen lassen.13 Einige dieser Fragen seien genannt:14 Wie werden verschiedene Formen von Offenbarungsansprüchen und die Übersetzungstätigkeit miteinander vermittelt? Wie verhalten sich das Original und die Übersetzung zueinander bzw. wie wird ein Kompromiss zwischen intendierter Treue zum Ausgangstext und adressatenbezogener Aktualisierung und Adaption gefunden? Welchen Stellenwert behalten die Ausgangstexte, wenn nur wenige Expert:innen die Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch beherrschen und damit auch nur sie zum kritischen Abgleich von Übersetzungen in der Lage sind, sodass es in der Breite allein die Übersetzungen sind, die individuelle und konfessionelle Frömmigkeit bestimmen? Was geschieht, wenn eine Übersetzung durch hohes Identifikationspotenzial selbst zu einem Quasioriginal wird, wie es am Beispiel des Streits um Revisionen der Lutherbibel deutlich wird?15 Gerungen wird seit Beginn der Übersetzungstätigkeit um Popularisierungsansprüche, um Vorwürfe der Verfälschung, Glättung (z. B. von gewaltvollen Szenen), Banalisierung, Verfremdung, Moralisierung, Selektion (z. B. in Kinderbibeln), um textexterne ideologische oder hermeneutische Vorentscheidungen des Übersetzens, die das Ergebnis erheblich beeinflussen u. v. m. Dass das keine Debatten der Vergangenheit sind, zeigen die jüngsten Auseinandersetzungen in genderorientierter und befreiungstheologischer Perspektive um die »Bibel in gerechter Sprache«16, im Kontext der Inklusionsanliegen um Bibeltexte in »Leichter Sprache«17 und aktuell im Gefolge von Sprachanpassungen und damit einhergehender inhaltlicher

13 Vgl. im Überblick für den deutschsprachigen Raum Bertram Salzmann/Rolf Schäfer, Art. Bibelübersetzungen, christliche deutsche, in: WiBiLex (2009), https://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/15285/ (Zugriff am 30.3.2021) und zur Bedeutung von Bibelübersetzungen im Kontext der frühen Neuzeit Peter Burke, Übersetzungskulturen im frühneuzeitlichen Europa, in: Birgit Wagner/Christina Lutter/Helmut Lethen (Hg), Übersetzungen (ZfK 2/2012), 17–49. 14 Vgl. zum Folgenden Henrike Manuwald/Katharina Heyden, Einführung, in: dies. (Hg.), Übertragungen heiliger Texte in Judentum, Christentum und Islam. Fallstudien zu Formen und Grenzen der Transposition, Tübingen 2019, 1–18 und die Beiträge in diesem Band, die die Thematik vielfältig aufnehmen, insbesondere Martin Leutzsch, Übersetzungstabus als Indikatoren normativer Grenzen in der Geschichte der christlichen Bibelübersetzung, 33–62. 15 Vgl. Dieter Gutzen, »Denn wer dolmetzschen will, mus grosse vorrath von worten haben.« Von Luthers Bibelübersetzung zur Bibel in gerechter Sprache, in: Albrecht Buschmann (Hg.), Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, Berlin/Boston 2015, 243–282, hier 261–272. 16 Vgl. z. B. Helga Kuhlmann (Hg.), Die Bibel – übersetzt in gerechte Sprache? Grundlagen einer Übersetzung, Gütersloh 2005; Ingolf Dalferth/Jens Schröter (Hg.), Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs, Tübingen 2007. 17 Vgl. z. B. Monika E. Fuchs/Nils Neumann, Bibeltexte in leichter Sprache zwischen Unterkomplexität und Exklusivität, in: ZPT 71 (2019), 272–286.

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Verschiebungen um die »Basisbibel«18. D. h., die basalen Übersetzungsprozesse im biblisch-theologischen Kontext sind immer intensiv in Deutungsmachtkonflikte19 eingebunden. Es geht um Geltungsansprüche verschiedener Übersetzungen, um Fragen der Deutungshoheit, Reichweite und Hegemonie einzelner Übersetzungen, um Fragen einer »angemessenen« Deutung der Ausgangstexte und um eine entsprechende Übersetzung des eruierten Sinnpotenzials. Stets ist also kritisch und deutungsmachtsensibel zu fragen: Wer übersetzt mit welchem Anspruch vor dem Hintergrund welcher hermeneutischen Vorentscheidungen was für wen? Wer bestimmt die Kriterien »gelungener« Übersetzungen bzw. warum setzen sich bestimmte Übersetzungen durch und andere nicht? Nicht zufällig haben von daher Theologen wie Martin Luther und Friedrich Schleiermacher ihre eigene Übersetzungstätigkeit theoretisch reflektiert. So legt Martin Luther offen, wie seine theologische Grundentdeckung der Rechtfertigungsbotschaft die Übersetzung beeinflusst hat und betont diesbezüglich das Ringen im Spannungsfeld von Buchstabe und Geist, wörtlicher Übertragung und freierer Orientierung am Sinnpotenzial des Textes sowie vor allem die Notwendigkeit, in der Zielsprache das wirklich treffende und existenziell berührende Wort zu finden, »das dringe und klinge ins Herz durch alle Sinne«20. Friedrich Schleiermacher, der seine eigenen Übersetzungserfahrungen zunächst an der Übertragung der Schriften Platons gewonnen und dann in der Entwicklung seiner Hermeneutik auch intensiv auf die biblischen Schriften angewendet hat, hebt weitere Differenzierungen des Übersetzens hervor, die bleibende Impulse für moderne Translationswissenschaften innerhalb und außerhalb der Theologie gesetzt haben. So verweist er neben dem zwischensprachlichen Übersetzen bereits auf das ebenso verbreitete Phänomen des innersprachlichen Übersetzens. Denn Zeitgenoss:innen, die durch ihre Weltsichten, Bildungsverhältnisse sowie Sinnes- und Gemütsart getrennt sind, können sich oft nur durch Überset18 Vgl. z. B. Hannah Bethke, Entmündigung ist kein Seelentrost, 2021, https://www.faz.net/ aktuell/­feuilleton/debatten/verfehlt-die-basisbibel-der-deutschen-bibelgesellschaft-17176187. html (Zugriff am 30.3.21); Bernd Beuscher, Jäger des verlorenen Schatzes. Vom Wesen und Wandel bei allem, was einem lieb, teuer und heilig ist, 2021, https://theofy.de/ (Downloads) (Zugriff am 30.3.21). 19 Vgl. Martina Kumlehn, Art. Deutungsmacht, in: WiReLex (2019), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200577/ (Zugriff am 30.3.21). 20 Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen (1530), in: ders., An den Adel christlicher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen (Reclam UniversalBibliothek Nr. 1578 [2]), Ditzingen 1984, 151–173, hier 162. Dazu aus der Fülle der Literatur jüngst Johannes von Lübke, Das treffende Wort finden. Zur Aufgabe einer theologischen Übersetzung im Sinne Martin Luthers, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion, Leipzig 2018, 39–54.

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zungsprozesse im weiteren Sinne verständigen. Er treibt diesen Gedanken auf die Spitze, indem er auf das Fremdwerden unserer je eigenen Reden im Lauf der Zeit verweist, die wir uns übersetzen müssen, »wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen.«21 Darüber hinaus hebt er das unauflösbare Wechselverhältnis von Sprache, Übersetzen und Verstehen auf allen Stufen des Prozesses hervor, welches eine genuin hermeneutische Übersetzungswissenschaft aus sich heraus setzt.22 Übersetzen kann entsprechend nur, wer das semantische und pragmatische Sinnpotenzial im Horizont der kulturellen Prägekraft einer Sprache und ihrer je individuellen und originellen Aneignungs- und Gebrauchsformen im vorliegenden Textzeugnis hermeneutisch erschlossen und in ein spannungsvolles Verhältnis zur Zielsprache, ihrem Wirklichkeitsverständnis sowie ihren individuellen Ausprägungen bei potenziellen Adressat:innen gesetzt hat. Im Prozess des Übersetzens sind dann zwei Varianten denkbar: »Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.«23 In der Regel herrscht dort, wo (biblische) Traditionen für eine Gegenwart durch Übersetzungsprozesse mit unterschiedlichen Freiheitsgraden neu verständlich gemacht werden sollen, Variante zwei vor. Allerdings können in spezifischen Bildungsprozessen auch Übersetzungen Resonanz finden, die das Wesen der Ausgangssprache möglichst genau aufnehmen und nachzubilden suchen, um die Rezipierenden auf die vermuteten »Gefühlsregungen, die der Originaltext hervorrufen wollte«24 hin zu bewegen, wie es z. B. die BuberRosenzweig Übersetzungen des Alten Testaments intendiert haben.25

21 Friedrich D. E. Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813), in: ders., Akademievorträge (KGA 1. Abt./Bd. 11), hg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin/New York 2002, 67–93, hier 67. 22 Vgl. dazu Radegundis Stolze, Die Wurzeln der hermeneutischen Übersetzungswissenschaft bei Schleiermacher, in: Larisa Cercel/Adriane Şerban (Hg.), Friedrich Schleiermacher and the Question of Translation, Berlin/Boston 2015, 129–151; Larisa Cercel (Hg.), Übersetzung und Hermeneutik. Traduction et Herméneutique, Bucharest 2009. 23 Schleiermacher, Methoden des Übersetzens, 74. 24 Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten, 18. 25 Vgl. Die Schrift, die hebräische Bibel, das Alte Testament, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gerlingen 1992; Hans-Christoph Askani, Das Problem der Übersetzung – dargestellt an Franz Rosenzweig. Die Methoden und Prinzipien der Rosenzweigschen und Buber-Rosenzweigschen Übersetzungen, Tübingen 1997.

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2 Gott »zur Sprache bringen«26: Differenziertes Sprachbewusstsein als Grundlage theologischen Übersetzens »Verantwortliche Theologie kann nicht umhin, sich um eine möglichst genaue Kenntnis der Sprache zu bemühen.«27 Diese Einsicht fordert zu einer intensiven Auseinandersetzung mit verschiedenen sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Diskursen auf, die die Zusammenhänge von Sprache und Denken, Emotionen, Handlung, Weltwahrnehmung, Wirklichkeitsbezug/Referenz, Konventionen/Codes/Regeln, Sprachverwendung/Gebrauch und Sprachgemeinschaft vielperspektivisch erhellen.28 Diese Zusammenhänge konstituieren die verschiedenen Sprachwelten in ihrer Komplexität, sind allesamt auch für Übersetzungsprozesse relevant und bestimmen die Theologie so mit, dass sie »als Sprachlehre des Glaubens« aufgefasst werden kann, die zugleich »Sprachhilfe zum Leben« sein will.29 Für eine solche mehrschichtige Sprachlehre sind Übersetzungen der Tradition zwar elementar, aber noch nicht hinreichend, weil umfassende Interpretationen und Transformationen im Sinne eines übertragenen und erweiterten Übersetzungsverständnisses hinzukommen müssen, wenn eine eigene religiöse Sprachfähigkeit das Ziel sein soll. Um die unterschiedlichen Prozesse des Übersetzens in theologischer Perspektive adäquat in den Blick nehmen zu können, ist es notwendig, die Bedingungen zu reflektieren, wie Gott überhaupt zur Sprache gebracht werden kann oder wie in theologischer Deutung davon gesprochen werden kann, dass Gott sich selbst zur Sprache bringt. Religion als »eine sprachliche Selbstdeutung, die in der religiösen Kommunikation erst entsteht,« ist eine eigene kulturelle Form »aus dem Wechselverhältnis von religiöser Überlieferung, Sich-Verstehen und Selbstdarstellung.«30 Zur Grundstruktur religiöser Kommunikation im christlichen Sinne gehört die Einsicht, dass Gott als Wort unserer Sprache für die Erfahrung des Unverfügbaren und einer vorgängigen »Grundpassivität«31 und Empfänglichkeit mensch26 Martin Kumlehn, Gott zur Sprache bringen. Studien zum Predigtverständnis Johann Gottfried Herders im Kontext seiner philosophischen Anthropologie, Tübingen 2009. 27 Ingolf U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018, 194; so auch Wolfram Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, hier 378. 28 Vgl. zu klassischen und gegenwärtig aktuellen Ansätzen z. B. Albert Newen/Markus Schrenk, Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 32019. 29 Gerhard Ebeling, Einführung in die theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, hier 226 f. 30 Christian Danz, Sprache, Kommunikation, Religionsunterricht. Theologische Annäherungen, in: Schulte, Sprache, 21–36, hier 27. 31 Dalferth, Kunst des Verstehens, 434.

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lichen Lebens steht und dass im Aussprechen des Wortes Gott immer zugleich mitkommuniziert wird, dass Gott niemals in dem von ihm Gesagten aufgehen kann, d. h., dass Gott als geglaubter Grund des Lebens und unserer Sprachfähigkeit, als »Geheimnis der Wirklichkeit«32, der Sprache immer auch entzogen bleibt. Man könnte sagen, am Wort Gott wird die transzendierende Kraft der Sprache, eine Präsenz von Verborgenem möglich sein zu lassen, exemplarisch deutlich. In dieser Perspektive verbindet sich die Übersetzungsproblematik mit der Frage der Sagbarkeit und der erste Übersetzungs­prozess geschieht in der Überführung von religiöser Erfahrung in die Rede von Gott. Die Rede von Gott erscheint dann als eine solche, in der das »eigentlich Unsagbare […] auf uneigentliche Weise mit Hilfe einer Übertragung gesagt [wird].«33 Entsprechend steht die Rede von »Gottes Wort« nicht nur als »Schöpferwort« für die Macht der Sprache, Wirklichkeit zu setzen, sondern als »dynamische Wurzelmetapher des christlichen Glaubens«34 auch für die Grunderfahrung, durch die Vermittlung Jesu Christi liebend so angesprochen und angenommen zu werden, dass Über-Setzung in ganz elementarer Weise geschieht, indem diese Erfahrung an einen »anderen existentialen Ort zu versetzen vermag«35. Dabei wird unsere Wirklichkeitswahrnehmung durch radikale Perspektivenwechsel zugleich in einen anderen Deutungshorizont übersetzt. Diese Grunderfahrung wird mit allen Möglichkeiten der Sprache vielfältig und immer wieder neu zum Ausdruck gebracht und es braucht dazu keine Gruppenoder Sondersprache, auch wenn es bevorzugte Modi religiöser Kommunikation gibt. Etwas gewagt formuliert: Religiöse Sprache und theologische Rede befinden sich immer schon im Modus des stets unabgeschlossenen Übersetzens und von da aus können dann die innersprachlichen, zwischensprachlichen und interkulturellen konkreten Übersetzungen differenzbewusst und trennscharf unterschieden und je nach Kontext und Anspruchssituation in den Dienst genommen werden. Dass Sprachenvielfalt anthropologisch unbedingt zum Menschsein jenseits des Paradieses gehört, wird im Mythos des Turmbaus zu Babel schon inner­biblisch reflektiert. Die Zerstreuung der Sprachen kann dabei als Folge der Hybris des Menschen gedeutet werden, das eigene Maß, die eigene Reichweite zu überschreiten, um den Himmel zu berühren oder wie Gott zu sein. In dieser Perspektive würde die Sprachenvielfalt als Verlust einer imaginierten Einheits- oder Ursprache wahrgenommen und damit als Limitierung menschlicher Durchsetzungskraft verstanden werden, weil der permanente Übersetzungszwang und das stets 32 Ebeling, Sprachlehre, 54. 33 Eberhard Jüngel, Das Wunder der Übersetzung. Gedanken eines Theologen, in: Martin Meyer (Hg.), Vom Übersetzen, München/Wien 1990, 131–141, hier 134. 34 Dalferth, Kunst des Verstehens, 432. 35 Jüngel, Wunder der Übersetzung, 132. Vgl. Dalferth, Kunst des Verstehens, 446.

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fragmentarische und begrenzte Verstehen Reibeverluste in der Kommunikation erzeugen: Übersetzen wird dann »zum Kainszeichen, ein Zeugnis der Verbannung des Menschen aus der harmonia mundi«36. Im Zuge der Aufklärung ist jedoch bei Hamann, Herder und Humboldt diese Erzählung in eine Emanzipationserzählung umgedeutet worden. Die Vielfalt der Sprachen steht demnach für die Unhintergehbarkeit menschlicher »Individualität, Historizität und Sozialität«37 und die Vielfalt wird jetzt als Gewinn menschlicher Möglichkeiten wahrgenommen und als Spiegel der schöpferischen »Verschwendungssucht«38 des Lebens. »Jede Sprache ist eine ›Epiphanie‹, die ausdrückliche Offenbarung einer je spezifischen kulturgeschichtlichen Landschaft.«39 In christlicher Perspektive jedoch bleibt die Pfingsterzählung als Gegenpol zu Babel hermeneutisch bedeutsam, weil sie ein Verstehen im Geist durch die Sprachdifferenzen hindurch verheißt, ohne dass eine verloren geglaubte Universalsprache wiedergefunden werden müsste.40

3 Grenzbewusstes Übersetzen aus praktisch-theologischer Perspektive Im Kontext der Praktischen Theologie und Religionspädagogik wird die Übersetzungsthematik im Zusammenhang aller Vermittlungsprozesse unausweichlich und radikalisiert sich in denjenigen Kontexten, in denen religiöse Sprache und damit das, wovon sie spricht, als relativ oder vollkommen fremd und unverständlich wahrgenommen wird, sodass Übersetzungsprozesse unterschiedlicher Reichweite gefordert sind, um Kommunikation und Verstehen potenziell zu ermöglichen.41 Sprachsensible Religionspädagogik und ihre Modelle der Verschränkung unterschiedlicher individueller und traditionsbezogener Sprachebenen und Sprachvollzüge42 können nicht ohne eine intensive Integration von 36 Georg Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Frankfurt a. M. 22020, 60–82, hier 67. Vgl. dazu auch Georg Stenger, Übersetzen übersetzen. Zur Phänomenologie des Übersetzens, in: Joachim Renn/Jürgen Straub/Shingo Shimada (Hg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt a. M. 2002, 93–122, hier 96 f. 37 Dalferth, Kunst des Verstehens, 459 und Ebeling, Theologische Sprachlehre, 92. 38 Steiner, Nach Babel, 56. 39 Ebd., 86. 40 Vgl. Dalferth, Kunst des Verstehens, 459; Steiner, Nach Babel, 64. 41 Vgl. Martina Kumlehn, Religionspädagogik im konfessionslosen Kontext. Eine Kunst im Spannungsfeld von hermeneutischer Übersetzung und Transformation, in: Lange/Rösel, Der übersetzte Gott, 151–164. 42 Vgl. Stefan Altmeyer, Zum Umgang mit sprachlicher Fremdheit in religiösen Bildungsprozessen, in: Schulte, Sprache, 191–205; Andrea Schulte, Religion übersetzen im Kontext religiöser Sprachbildung und Kommunikation im Religionsunterricht, in: van Oorschot/Ziermann, Theologie in Übersetzung, 111–124.

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Überlegungen zur wechselseitigen Bedingtheit von Übersetzung, Hermeneutik und Transformation auskommen. Wenn der Begriff Übersetzen in diesem Zusammenhang trennscharf bleiben und nicht einfach mit Interpretieren, Erklären, Fortschreiben, Neusagen u. ä. gleichgesetzt werden soll, könnte seine Leistung vor allem darin liegen, dass er bei der Einsicht in bleibende Differenz und mögliche Fremdheit zwischen Sprachwelten immer wieder danach fragen muss, was übersetzt bzw. wie eine Verbindung zum Sinnpotenzial des zu Übersetzenden hergestellt werden soll. Denn Übersetzer:innen sind Virtuos:innen, die in »Ketten tanzen«43. Sie brauchen ein hohes Maß an hermeneutischer Kompetenz und performativer Energie, um sich im Spannungsfeld von Treue und Freiheit zu bewegen. Um es mit Walter Benjamin zu sagen: Die Aufgabe des Übersetzers besteht darin, »diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.«44 Dieses Grundelement des Übersetzens bleibt auch dann relevant, wenn das Konzept des Übersetzens im Kontext des »translational turns«45 in den Kulturwissenschaften geweitet und mit neuen Akzenten versehen wird und nicht von einer schlichten »repräsentationalistischen Vorstellung einer logisch äquivalenten Bedeutungsübertragung«46 ausgegangen wird, sondern Semantik, Praxen und Kontext gleichermaßen Berücksichtigung finden. Von daher kann das ernstgenommene Übersetzungsparadigma gerade nicht dazu dienen, Vermittlungsschwierigkeiten auf ein reines Darstellungs­pro­blem zu reduzieren,47 sondern es führt ins Zentrum der Fragen nach Relevanz und Resonanz des zu Übersetzenden. Stets sind die Gewinne und Verluste von Übersetzungsprozessen kritisch zu reflektieren und zu fragen: Bleibt der religiöse Weltzugang bzw. der religiöse Sprachgebrauch in der Übersetzung erkenn43 Vgl. Gabriele Leupold/Katharina Raabe, In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008. 44 Vgl. Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: Tillmann Rexroth (Hg.), Walter ­Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. IV/1, Frankfurt a. M. 1972, 9–21. Dazu Albrecht Buschmann, Die »Nachreife auch der festgelegten Worte«. Konzepte des Religiösen in Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Lange/Rösel, Der übersetzte Gott, 133–150. 45 Vgl. Doris Bachmann-Medick, Translation – A Concet and Model for the Study of Culture, in: Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.), Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin/ Boston 2012, 23–43. 46 Joachim Renn, Einleitung: Übersetzen, Verstehen, Erklären. Soziales und sozialwissenschaftliches Übersetzen zwischen Erkennen und Anerkennen, in: Renn/Straub/Shimada (Hg.), Übersetzung als Medium, 13–38, hier 14. 47 Vgl. Bernhard Dressler, Grenzen der Übersetzbarkeit. Oder: Worüber man nicht argumentieren kann, darüber muss man erzählen, in: Tobias Braune-Krickau/Katharina Scholl/Peter Schüz (Hg.), Das Christentum hat ein Darstellungsproblem. Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert, Freiburg 2016, 44–61, hier 46 und 61.

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bar oder wird er invisibilisiert? Das Misslingen einer Übersetzung bleibt eine Möglichkeit.48 Die Übersetzungsherausforderungen im Bereich religiöser Vermittlung und Bildung sollten dementsprechend nicht eindimensional, sondern kontextsensibel und offen für verschiedenste kulturelle Diskurse und »Zielsprachen« bestimmt werden; d. h., neben den vor allem ethisch konnotierten gesellschaftsrelevanten Diskursen sollten insbesondere auch verschiedene ästhetische Sprachspiele im Blick sein, die sich ihrerseits am Sagen des Unsagbaren abarbeiten und der theologischen Sprache von daher neue Übersetzungsmöglichkeiten zuspielen können.49 Und im Sinne einer deutungsmachtsensiblen Religionspädagogik wäre insbesondere darauf zu achten, nicht nur für Lernende zu übersetzen, sondern sie selbst zur Übersetzung im Rahmen ihres Sprachgebrauchs anzuregen und zu befähigen50 – in wechselseitiger differenz- und grenzbewusster hermeneutischer Erschließung der verschiedenen Sprachwelten und ihrer jeweiligen Weltsichten. Differenz- und sprachsensible Übersetzungskompetenz wäre dann ein integrativer Bestandteil religiöser Bildung.

Prof. Dr. Martina Kumlehn ist Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock und Sprecherin des DFG-GRK 1887 »Deutungsmacht. Religion und Belief Systems in Deutungsmachtkonflikten«.

48 Vgl. Simone Ziermann, »Hier stock ich schon!« Überlegungen zu den Bruch- und Leerstellen der Übersetzungsmetapher, in: van Oorschot/dies., Theologie in Übersetzung? 77–93. 49 Vgl. Thomas Wabel, Übersetzung als Einladung und Unterbrechung. Ein theologisch-ästhetischer Einwurf zur Übersetzungsmetapher und Georg Langenhorst, Das Wort Gott – ein »Wirkwort« (Andreas Knapp). Literatische Sprach-Schulungen für Theologie und Religionspädagogik, beide Texte in van Oorschot/Ziermann, Theologie in Übersetzung? 57–76 und 127–142. 50 Vgl. Friedrich Schweitzer, Über den Erfolg entscheiden die Schüler*innen! Übersetzen in elementarisierungstheoretischer Perspektive, in: Haußmann u. a., EinFach Übersetzen, 53–60.

Interdisziplinäre Perspektiven

Was heißt »sprachsensibler Fachunterricht«? Stand der Diskussion Ingrid Gogolin

1 Sprache Erfolgreiches Lehren und Lernen ist ein Anliegen jedes Unterrichts und das Verfügen über »Sprache« ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Lernen erfolgreich sein kann. Dabei ist im Verständnis dieses Beitrags unter »Sprache« mehr zu verstehen als ein Angebot von Wörtern, das nach bestehenden Regeln zu Sätzen und Texten zusammengefügt wird. Sprache liegt der Konstruktion sozialer Realität zugrunde; sie gibt uns die Möglichkeit zu intentionaler kooperativer Praxis.1 In Sprache als komplexes Zeichensystem sind Kunstwerke, Traditionen und Gebräuche, Institutionen und Wissenssysteme gefasst, die gesellschaftlich und durch die Gestaltungskraft von Individuen hervorgebracht wurden und werden.2 Sprache ist ein Mittel der Teilhabe an der Gesellschaft und zugleich ein Instrument der Macht.3 Nach diesem Verständnis ist Sprache immer schon vielfältig: nicht eine »feste« Entität, die zu beherrschen ist, sondern ein dynamisches Gefüge, auf dessen Elemente jede einzelne Person mehr oder weniger guten Zugriff hat. Diesen Zugriff ermöglichen Natur und Bildung. Von Natur aus ist jedes Kind, das zur Welt kommt, zur Sprache fähig – mit der Ausnahme von Schwersterkrankten. Was die Natur ermöglicht, ist indes begrenzt auf Unmittelbarkeit und Mündlichkeit. Für alles, was mit festgehaltenen Zeichen – Schrift im weiteren Sinne – und komplexen Zusammenhängen zu tun hat, bedarf es der Kultivierung, also der Bildung. Dieser Beitrag ist auf die schulische Etappe der Bildung konzentriert. Zu deren Aufgabe gehört es, die Heranwachsenden gründlich mit der Funktionalität der unendlichen Fülle von Ausdrucksformen vertraut zu machen, die potenziell zur Verfügung stehen; mit der Art und Weise, mit den Folgen ihres Gebrauchs. Sprachliche Grundbildung besteht darin, dass Kinder und Jugendliche lernen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, sich über etwas oder jemanden zu 1 Vgl. John R. Searle, Consciousness and Language, Cambridge 2010. 2 Vgl. Umberto Eco, Semiotik und die Philosophie der Sprache, München 2010. 3 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, Wien 1990.

Was heißt »sprachsensibler Fachunterricht«? Stand der Diskussion

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äußern – aber dass nicht jede dieser Möglichkeiten in jedem Augenblick angemessen ist. Sie müssen in die Lage versetzt werden, zu entscheiden, unter welchen Umständen, in welcher Personenkonstellation, bei welcher Zielstellung sie auf bestimmte Ausdrucksformen zugreifen können und sollten, oder eben besser nicht. Und sie müssen einen hinreichenden Grundstock an Mitteln zur Verfügung gestellt bekommen, um sach- und situationsadäquate Entscheidungen über die Auswahl treffen zu können. Nach diesem Verständnis ist Sprache immer vielfältig. Sprachliche Vielfalt besteht nicht allein dadurch, dass es unterschiedliche Einzelsprachen von Abasinisch bis Zulu gibt, sondern auch aufgrund des Variantenreichtums innerhalb dessen, was wir als »eine Sprache« zu bezeichnen gewohnt sind: soziale und regionale Varietäten, Jargons, Register oder Modalitäten, wie sie beispielsweise als Mündlichkeit, Schriftlichkeit oder Gebärde auftreten. Fachunterricht gehört nach diesem Verständnis zu den Bereichen, die eine »Zuständigkeit« dafür haben, ein spezifisches Register, also funktionsspezifische Ausdrucksweisen, zu vermitteln und nutzbar zu machen. Dazu gehört, dass die Lernenden den Sinn erkennen, der mit diesen Ausdrucksweisen verbunden ist; dass sie die Konzepte verstehen, die damit transportiert werden; dass sie den Nutzen des Gebrauchs dieser Redemittel anstelle anderer nachvollziehen und dass sie selbst imstande sind, diese Mittel sachgemäß einzusetzen. Schulfachliche Repertoires gehören aus dieser Sicht zu den Elementen von »Bildungssprache«, dem Teilsystem also, das für Bildungseinrichtungen spezifisch und funktional ist und zugleich in diesen vermittelt und angeeignet wird (bzw. werden sollte).4

2  Herausforderungen an sprachsensiblen Fachunterricht Sprachsensibler Fachunterricht hat die Aufgabe, die Lernenden mit dem schulfachlichen sprachlichen Repertoire vertraut zu machen, das nötig ist, um den Unterrichtsgegenstand zu begreifen. Eine besondere Herausforderung dabei ist, dass der Unterricht in der Regel in sprachlich heterogenen Lerngruppen erteilt wird. Das Ausmaß und die Art der Heterogenität variieren dabei; aber die Verschiedenheit der Spracherfahrungen, die Lernende aus ihrer Lebenswelt und

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Vgl. Ingrid Gogolin/Imke Lange, Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung, in: Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit, Wiesbaden 2010, 69–87; Miriam Morek/Vivien Heller, Bildungssprache – kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs, in: Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (2012), 67–101.

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Alltagserfahrung in den Unterricht mitbringen, gehört zu den Grundbedingungen, unter denen Schulen in modernen, komplexen Gesellschaften arbeiten. Dies war historisch schon immer so, seit es ein Schulsystem in unserem heutigen Verständnis gibt.5 Offenkundig ist aber, dass die sprachliche Heterogenität in der Bevölkerung und damit auch in der Schülerschaft durch Migration zugenommen hat. In Deutschland leben in den 2020er Jahren Personen aus ungefähr 190 Herkunftsstaaten, also beinahe aus allen Staaten der Welt. Nach Ethnologue – der verlässlichsten zu diesem Thema zur Verfügung stehenden Quelle – sind aktuell mehr als 7.000 Sprachen auf der Welt lebendig; davon sind etwa 4.000 »robust«, sie werden also von größeren Gruppen von Sprecher:innen benutzt, verfügen über ein Schrifttum und sind deshalb nicht in Gefahr, verloren zu gehen.6 Über die genauen Zahlen von Sprachen bzw. ihrer Sprecher:innen in Deutschland besitzen wir keine Informationen, denn es werden – anders als etwa in den USA, Kanada oder Australien – keine offiziellen Daten zu diesen Fragen erhoben. So sind wir auf Schätzungen und regionale Studien über die sprachliche Situation hierzulande angewiesen. Demnach werden weit mehr als 100 Herkunftssprachen von Kindern aus Migrantenfamilien alltäglich genutzt – neben der deutschen Sprache. Die Sprachenvielfalt hierzulande wächst aufgrund von Neuzuwanderung, etwa von Schutzsuchenden, mit der zyklisch wiederkehrend zu rechnen ist.7 Diese bringt Kinder und Jugendliche in hiesige Bildungseinrichtungen, die zuvor keinen Kontakt mit der deutschen Sprache hatten. Aber die Forschung über Zwei- und Mehrsprachigkeit in Migrantenfamilien zeigt auch, dass die Sprachen der Herkunft über Generationen hinweg Bedeutung behalten. Selbst wenn sie nicht mehr in allen Bereichen der Kommunikation eingesetzt werden und funktional sind, spielen sie für die alltägliche Praxis der Familienkommunikation eine bedeutende Rolle8 und sind damit eine einflussreiche Quelle der sprachlichen Grundlagen, die Kinder und Jugendliche für das Lernen mitbringen. Die Spracherfahrungen der Lernenden aus Migrantenfamilien, in denen neben dem Deutschen eine (oder oft auch mehrere) Herkunftssprachen benutzt werden, werden in der einschlägigen Forschung als »lebensweltliche« Zwei- (oder Mehr-) sprachigkeit bezeichnet. Damit wird darauf angespielt, dass sie im Prozess der 5 Vgl. Marianne Krüger-Potratz, Umgang mit Heterogenität, in: Sigrid Blömeke u. a. (Hg.), Handbuch Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2004, 558–566. 6 Die Informationsplattform »Ethnologue – Languages of the World« findet sich hier: https:// www.ethnologue.com/ (Zugriff am 20.2.2021). 7 Vgl. Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 22016. 8 Vgl. Vesna Ilić, Familiale Lernumwelt von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Eine empirische Studie zum Zusammenhang zwischen home-literacy-Aktivitäten und bildungssprachlichen Fähigkeiten, Opladen 2006.

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Sozialisation aus der alltäglichen Begegnung mit den entsprechenden Sprachen angeeignet werden.9 Die Erfahrungen in diesen Sprachen sind oft auf mündlichen Sprachgebrauch beschränkt, da es kein verbreitetes Angebot an herkunftssprachlichem Unterricht gibt. Weniger als 10 % der Schüler:innen aus Migrantenfamilien in Deutschland können solchen Unterricht wahrnehmen.10 Der Verweis auf lebensweltliche Spracherfahrungen beinhaltet daher keine Aussage über die Art oder den Grad der Beherrschung der beteiligten Sprachen. Vielmehr ist – je nach Lebenslage der Familien, den Möglichkeiten des lebendigen oder medialen Sprachkontakts, dem Interesse und der Herkunftsgruppe – mit einer Bandbreite an sprachlichen Fähigkeiten zu rechnen: von rudimentären mündlichen Verstehensoder Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur ausgebauten Lese- und Schreibfähigkeit. Aber Migration ist nicht die einzige Quelle der sprachlichen Heterogenität in der hiesigen Schüler:innenschaft. Nach dem oben dargestellten Sprachverständnis verfügen auch diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vordergründig in einer – der deutschen – Sprache leben, über ein Spektrum an heterogenen Spracherfahrungen. Sie haben an der Vielzahl der Ausdrucksformen in ihrem Umfeld teil: an Dialekten und sozialen Varianten, an Jargons Gleichaltriger und an Sprache in unterschiedlichen Modalitäten wie Laut- oder Gebärdensprachen, computergenerierten oder natürlichen Stimmen. Auch hier ist die Bandbreite an Erfahrungen unterschiedlich, je nach Lebenslage, Sprachkontaktmöglichkeiten (auch durch medialen Einfluss), Interesse an Verständigung. In einer radikal anmutenden, aber treffenden Weise hat der Romanist Mario Wandruszka argumentiert, dass es in komplexen Gesellschaften keinen einsprachigen Menschen gibt.11 Ein weiterer Motor für die Steigerung von sprachlicher Heterogenität sind die Bildungseinrichtungen, insbesondere die Schulen selbst. Von wenigen Ausnahmen abgesehen12, durchläuft keine Schülerin, kein Schüler das deutsche Schulsystem, ohne mindestens mit einer Fremdsprache Bekanntschaft zu machen; zumeist ist dies Englisch. Nicht ganz die Hälfte der Lernenden – all jene, die in einem zum Abitur führenden Bildungsgang unterrichtet werden – erhalten darüber hinaus Unterricht in einer zweiten Fremdsprache. Fast alle Schüler:innen in Deutschland machen daher mit »fremdsprachiger Zwei- oder Mehrspra  9 Vgl. Ingrid Gogolin, Streitfall Zweisprachigkeit – Les Préludes, in: dies./Ursula Neumann (Hg.), Streitfall Zweisprachigkeit. The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009, 15–22. 10 Umfrage des Mediendienst Integration bei den Kultusministerien der deutschen Bundesländer: https://mediendienst-integration.de/artikel/wie-verbreitet-ist-herkunftssprachlicherunterricht.html (Zugriff am 20.2.2021). 11 Vgl. Mario Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, München 1981. 12 Ausnahmen von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht mindestens einer Fremdsprache sind in besonderen Fällen vorgesehen, etwa für Kinder mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

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chigkeit« Erfahrungen. Unter ihnen sind selbstverständlich auch diejenigen, die »lebensweltlich« zwei- oder mehrsprachig sind. In der Schüler:innenschaft hierzulande ist also ein breites Spektrum an Spracherfahrungen versammelt – von Monolingualität in einer anderen Sprache als der deutschen als Eingangsvoraussetzung in die Schule bis hin zur entfalteten Literalität im Deutschen, einer oder mehreren Herkunftssprachen und einer oder mehreren schulischen Fremdsprachen. Die Forschung über sprachliche Entwicklung und ihren Einfluss auf das Lernen ebenso wie die allgemeine Lehr-/Lern- und Bildungsforschung weisen darauf hin, dass hiermit ein bedeutender Komplex an Einfluss auf sprachliches Lernen und das Lernen überhaupt gegeben ist. Jedes Lernen baut auf vorherige Erfahrung auf. Sprachliche Wahrnehmung und sprachliche Fähigkeiten bilden die Grundlage für Möglichkeiten, Lernangebote zu verstehen und zu verarbeiten. Angesprochen ist hierbei nicht nur die kognitive Dimension des Lernens. Erfolgreiches Lernen setzt voraus, dass zum Lernen motiviert wird; dass die Lernenden darin unterstützt werden, sich selbst als erfolgreich zu erfahren; dass ihre Bereitschaft zum Lernen gefördert und ihr Wille zum Lernen geweckt werden.13 Erfolgreiches fachliches Lehren setzt dementsprechend voraus, dass die heterogenen Spracherfahrungen der Lernenden wahrgenommen, anerkannt und als Ausgangspunkt für den nächsten Schritt der Aneignung von Können und Wissen genutzt werden.14

3  Sprachliches Lernen und Fachunterricht Zusammenhänge zwischen sprachlichem und fachlichem Lernen wurden und werden im didaktischen Feld viel diskutiert. Empirische Forschung zu diesem Thema jedoch ist insgesamt rar und steht vorwiegend aus dem Bereich des mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrens und Lernens zur Verfügung. In dieser Forschung wird immer wieder auf die Domänenspezifik der sprachlichen Anforderungen des Unterrichts hingewiesen, zugleich aber auch auf Grundlagen, die das fachliche Lernen gemeinsam habe.15 13 So, in vereinfachter Form, ein Modell erfolgreichen Lernens: Marcus Hasselhorn/Andreas Gold, Pädagogische Psychologie, Stuttgart 2006. 14 Hier beziehe ich mich auf die von Wygotski vorgestellte Theorie des Lernens, auf der auch didaktische Ansätze wie das »Scaffolding« beruhen: Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1964. 15 Meine Kenntnisse über Zusammenhänge zwischen sprachlichem Lernen und Fachunterricht verdanke ich der intensiven Zusammenarbeit mit Kolleg:innen aus der Fachdidaktik, beispielsweise Gabriele Kaiser (Didaktik der Mathematik) und Dietmar Höttecke (Didaktik der Physik) aus der Universität Hamburg sowie Mitgliedern des Forschungsschwerpunkts »Sprachliche

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Dazu gehört der Prozess der Begriffsbildung. Fachliche Bedeutungen werden sukzessive mit Termini verbunden, deren Bedeutungstiefe nach und nach erschlossen wird. Zu beachten ist dabei: Der Terminus enthält den Begriff, aber er ist es nicht. Zum Begriff wird ein Terminus erst durch die Erschließung des Bedeutungsfeldes, das ihm unterliegt. Zu den Schwierigkeiten beim Lehren und Lernen gehört dabei, dass viele fachliche Termini auch Teil der alltagssprachlichen Ausdrucksweise sind und somit vorunterrichtliche, vielfach konkrete Erfahrungen und Vorstellungen repräsentieren. Im fachlichen Kontext tragen sie abstrakte Bedeutungen, die historisch situiert und theoretisch hergeleitet sind. Ein Ziel des Unterrichts muss es daher sein, die alltagssprachlichen Auslegungen der Redemittel (die ja in ihren Kontexten adäquat sind) um die fachlichen zu ergänzen und die Funktionalität der Divergenz zwischen beiden für die Lernenden nachvollziehbar zu machen. Die Domänenspezifik der Ausdrucksweisen bildet dabei ein zusätzliches Problem. Die Lernenden müssen begreifen, dass ein Wort in einem Lernbereich oder Fach anders besetzt sein kann als in einem anderen. Ein Beispiel aus einer unserer früheren Untersuchungen ist »Strecke«: An diesem Ausdruck scheiterten Lernende, denen im Fach Mathematik eine textlich »verkleidete« Aufgabe zur Streckenberechnung vorgelegt wurde, denn sie kannten ihn aus dem Sachunterricht (Strecke im Bergbau) und aus dem Alltagsverständnis, in dem das Wort mit der Bedeutung verbunden sein kann, dass es verschiedene Wege gibt, zu einem Ziel zu gelangen.16 Schüler:innen bringen nur im Ausnahmefall bereits fachlich verstandene Redemittel in den Lernprozess mit; dies gilt für Lernende jedweder sprachlichen Herkunft. Es ist deshalb Aufgabe des Unterrichts, die Brücke zwischen den aus dem Alltag oder anderen Sachgebieten mitgebrachten und den für den jeweiligen fachlichen Kontext relevanten Konzepten zu schlagen. Im Falle lebensweltlich zwei- oder mehrsprachiger Lernender ist es zudem möglich, dass sie vorunterrichtliche Bedeutungen in ihren Herkunftssprachen entwickelt haben – vielleicht nicht im Deutschen, vielleicht aber auch zusätzlich zu ihren Vorstellungen in deutscher Sprache.17 Bildung und Mehrsprachigkeit«, der bis 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde (z. B. Susanne Prediger, Technische Universität Dortmund, und dem Team »ProDaZ« der Universität Duisburg-Essen). Für die Kooperation und Möglichkeit der Teilhabe möchte ich mich hiermit herzlich bedanken. 16 Vgl. Ingrid Gogolin/Gabriele Kaiser/Marcus Schütte, Mathematiklernen und sprachliche Bildung. Eine interaktionistische Perspektive auf dialogisch strukturierte Lernprozesse im GrundschulMathematikunterricht unter Berücksichtigung der sprachlich-kulturellen Diversität der Lernenden, in: Barbara Schenk (Hg.), Bausteine einer Bildungsgangtheorie, Wiesbaden 2005, 179–195. 17 Vgl. Irene Demidow, Fachlernen in der Zweitsprache Deutsch: Wie zweitsprachige Schüler(innen) Physik verstehen, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 5 (1999/2), 15–32.

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Nach einer in der Fachdidaktik verbreiteten Position, dem konstruktivistischen Ansatz, geht die Aneignung fachlicher Begriffe und Konzepte im Rahmen eines conceptual change vonstatten. Schülerinnen und Schüler bringen ihre im Alltag (oder in einem anderen Kontext) entwickelten, vielfach recht stabilen Vorstellungen über Phänomene mit, deren Kontrast zum fachlichen Verständnis sie nachvollziehen müssen. Im Unterricht sind daher zunächst Phasen der Orientierung, Erkundung und Reflexion von Schülervorstellungen vorgesehen. Die dabei gebrauchten sprachlichen Mittel werden anschließend nach und nach mit solchen kontrastiert, die aus unterrichtsfachlicher Sicht angemessen sind. Dieser Prozess wird mit der Anwendung und Reflexion fachlicher Vorstellungen verbunden. Die Aneignung der fachlichen Bedeutung erfolgt nach diesem Ansatz über den Unterrichtsprozess hinweg in einem Aufbau vom konkreten Objekt oder Phänomen zum abstrakten Konzept und Begriff.18 Zur Frage indes, wie solche Vorstellungen vom Aufbau fachlich-sprachlichen Könnens und Wissens in heterogenen Lernkonstellationen realisiert werden können und sollten, liegen noch weniger empirisch untermauerte Erkenntnisse vor als zur Frage nach sprachlichem Lernen im Fach überhaupt. Aus Studien wird deutlich, dass Lehrkräfte die Präsenz sprachlicher Diversität in ihrem Unterricht wenig wahrnehmen – beispielsweise, weil ihre lebensweltlich zweioder mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler von ihren Herkunftssprachen keinen für die Lehrkraft erkennbaren Gebrauch machen. Untersuchungen zur Nutzung dieser Sprachen beim Lernen zeigen jedoch, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Herkunftssprachen durchaus im Unterricht verwenden.19 Dies geschieht häufig in Phasen der Ko-Konstruktion von Wissen, etwa im Rahmen kollaborativen Lernens in Partner- oder Gruppenarbeiten. Das kann zu den Gründen gehören, dass Lehrkräfte eine solche Praxis wenig wahrnehmen: Die Schülerinnen und Schüler ›schalten um‹ auf Deutsch, wenn die Lehrerin oder der Lehrer sich nähert, denn alle gemeinsam orientieren sich an der ihnen vertrauten Konvention der Einsprachigkeit im Unterricht. Nach den vorliegenden Studien spielen die Herkunftssprachen insbesondere in kognitiv anforderungsreichen Momenten des Unterrichts eine Rolle. 18 Am Beispiel des Physiklernens ist dieser Prozess dargestellt in Dietmar Höttecke, Energietöpfchen – ein abstraktes gedankliches Modell zur Vermittlung von Phänomen und Abstraktion beim Lernen über Energie, in: Unterricht Physik 153–154/2016, 32–35. 19 Vgl. Joana Duarte/Ingrid Gogolin/Jens Siemon, Mehrsprachigkeit im Fachunterricht am Übergang in die Sekundarstufe II – erste Ergebnisse einer Pilotstudie, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 83/2013, 79–94; Joanna Duarte, Translanguaging in mainstream education: a sociocultural approach, in: International Journal of Bilingual Education and Bilingualism 22 (2019), 150–164.

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Schüler:innen nutzen ihre herkunftssprachlichen Ressourcen gerade dann, wenn sie mit neuen, komplexen Inhalten konfrontiert sind. Dabei geht es durchaus nicht darum, dass sie in den Herkunftssprachen über ein fachliches Repertoire verfügen; dies ist, wie oben schon angedeutet, eher unwahrscheinlich, da sie ja in diesen Sprachen keinen Unterricht erhalten, der ihnen solche Kenntnisse vermitteln würde. Vielmehr erfüllt der Gebrauch der Herkunftssprachen hier die Funktion der Entlastung im Prozess der Eroberung neuen Wissens oder der Lösung von Aufgaben: Es wird auf alle sprachlichen Möglichkeiten zugegriffen, die bereitstehen, ohne sich durch die »Doppelaufgabe« der Erschließung des Problems und der Nutzung adäquater Redemittel einzuschränken. Dieses Prinzip, dass sich Schüler:innen in der Phase des Erschließens und Verstehens von etwas Neuem ihrer mitgebrachten sprachlichen Kompetenzen bedienen sollen, ist im Übrigen eine traditionelle Praxis im Unterricht: In Phasen der Orientierung, Erkundung und Reflexion ihrer mitgebrachten Vorstellungen werden die Lernenden ausdrücklich ermuntert, ihre alltäglichen Redeweisen zu nutzen, um einem neuen Problem auf den Grund zu gehen. Es gilt, dieses didaktische Prinzip konsequent auf die Konstellation der sprachlichen Diversität in Lerngruppen zu übersetzen.20 Davon profitieren auch diejenigen Lernenden, die – vordergründig betrachtet – als Einsprachige am Unterricht teilnehmen.21

4  Praxis sprachsensiblen Fachunterrichts Interventionsstudien, in denen die innovative Praxis sprachsensiblen Fachunterrichts erprobt und in ihren Wirkungen kontrolliert wurde, sind bislang noch selten. Eine weitere Einschränkung ist es, dass sich Studien, die sprachliche Vielfalt berücksichtigen, überwiegend auf Konstellationen der Zweisprachigkeit richten. Dass in zweisprachigen Gruppen unterrichtet wird, gehört beispielsweise zu den Ausgangsannahmen des sogenannten »Content and Language Integrated Learning (CLIL)«22, in dem Fachunterricht in einer Schulfremdsprache erteilt wird. Hier

20 Ein anschauliches Beispiel hierfür, allerdings ebenfalls mit Bezug auf den naturwissenschaftlichen Lernbereich, bietet: Pauline Gibbons, Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in der Zweitsprache, in: Paul Mecheril/Thomas Quehl (Hg.), Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule, Münster 2006, 269–290. 21 Vgl. Susanne Prediger/Lena Wessel, Brauchen mehrsprachige Jugendliche eine andere fachund sprachintegrierte Förderung als einsprachige? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 21 (2018), 361–382. 22 Vgl. Ingrid Gogolin/Hanne Brandt, Zum Erwerb der CLIL-Fremdsprache durch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, in: Bernd Ruschoff/Julian Sudhoff/Dieter Wolff

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sowie in Modellen bilingualer Erziehung23 sind aber die unterrichteten Lerngruppen in der Regel nicht bilingual, sondern sprachlich heterogen zusammengesetzt. Immerhin kann der Forschung über bilinguale Ansätze entnommen werden, dass der sprachaufmerksame Unterricht schulische Lernprozesse erleichtern und Resultate verbessern kann. In ihrer methodisch gut abgesicherten Studie zeigen Möller und andere, dass Gewinne sich nicht nur bei Lernergebnissen im engeren Sinne einstellen, sondern auch auf der Ebene des Schulklimas und der Beziehungen zwischen den Schüler:innen.24 Die vielfach geäußerte Befürchtung jedenfalls, dass ein solches Vorgehen dem »eigentlichen« fachlichen Lernen Zeit raube, beruht auf dem Missverständnis, dass die tiefe Durchdringung der sprachlichen Seite der Sache ein Zusatzgeschehen sei. Tatsächlich sind die fachlichen Lernergebnisse im sprachbildenden Fachunterricht sowohl bei sprachlich schwächeren als auch bei stärkeren Lernenden höher als im »üblichen«, weniger sprachaufmerksamen Unterricht. Dies zeigt sich für Schüler:innen, die zwei- oder mehrsprachig am Unterricht teilnehmen, ebenso wie für solche, die einsprachig leben.25 Übertragungen aus den Erfahrungen, die in experimentellen Studien gewonnen wurden, auf den alltäglichen Unterricht zeigt z. B. Susanne Prediger in detailreichen Beispielen.26 Ein leitendes Prinzip des sprachsensiblen fachlichen Unterrichts ist das explizite Vergleichen zwischen Ausdrucksmitteln und ihren Funktionen. Grundlagen dafür bietet zum Beispiel die auf Michael A. K. Hallidays systemisch-funktionalem Ansatz der Sprachbeschreibung27 beruhende »Genredidaktik«, für die inzwischen sowohl sprachdidaktische28 als auch fachdidaktische Konzepte29 vorliegen. Hier geht es um die explizite Verdeutlichung der Funktion von Rede-

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(Hg.), CLIL Revisited. Eine kritische Analyse zum gegenwärtigen Stand des bilingualen Sachfachunterrichts, Frankfurt a. M. 2015, 127–150. Vgl. Ingrid Gogolin, Bilingual Education, in: James Simpson (Hg.), The Routledge Handbook of Applied Linguistics, London 2011, 229–242. Vgl. Jens Möller u. a. (Hg.), Erfolgreich integrieren – die Staatliche Europa-Schule Berlin, Münster 2017. Siehe auch den Überblick über entsprechende Forschung: Hans-Joachim Roth u. a., Stichwort: Implementationsforschung zwischen Intervention und Transfer im Kontext von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Bildung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (zur Publikation angenommen). Vgl. Susanne Prediger, Sprachbildender Mathematikunterricht in der Sekundarstufe – ein forschungsbasiertes Praxisbuch, Berlin 2020. Vgl. auch sprachbasiertes Unterrichtsmaterial, Open Educational Resources unter https://sima.dzlm.de/ (Zugriff am 28.04.2021). Vgl. Michael A. K. Halliday, An Introduction to Functional Grammar, London 1985. Vgl. Wolfgang Hallet, Genres im fremdsprachlichen und bilingualen Unterricht. Formen und Muster der sprachlichen Interaktion, Stuttgart 2015. Vgl. Heike Roll u. a. (Hg.), Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch, Münster 2019.

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mitteln durch den Vergleich ihrer textlichen Darstellungsformen (Genres). Die Schüler:innen werden in diesem Unterricht systematisch auf konventionalisierte Formen der Darbietung und Kommunikation von Sachverhalten aufmerksam gemacht. Durch die Anleitung zur Einnahme einer vergleichenden Perspektive, verbunden mit der Bereitstellung der nötigen differenzierten Ausdrucksweisen, soll ihnen der Weg zur Fähigkeit geebnet werden, angemessen zwischen zunehmend komplexeren Formen der fachlichen Kommunikation zu wählen. Auf den Halliday’schen Prinzipien beruhen auch Anregungen zum sprachaufmerksamen Unterrichten, die sich unmittelbar auf den Kontext der Mehrsprachigkeit der Lerngruppen beziehen. Beispiele dafür sind Handreichungen für sprachaufmerksames Unterrichten in jedem Lernbereich oder Fach, die aus dem von Bund und Ländern geförderten Modellprogramm »Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig« in Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis entwickelt wurden. Sie betreffen die Unterrichtsplanung und Gestaltung im Allgemeinen, aber auch spezielle Anregungen für den Fachunterricht.30 Auf der Nutzung von Mehrsprachigkeit als »Reflexionsmittel« im engeren Sinne beruht der Ansatz des »Translanguaging«, zuerst vorgestellt in den USA von Ofelia García und ihren Kolleg:innen.31 Diesem liegt das normative Prinzip zugrunde, dass ein wertschätzender Umgang mit der in der Schüler:innenschaft vorhandenen Mehrsprachigkeit zu pflegen sei. In theoretischer Hinsicht wird an die Erkenntnis angeknüpft, dass das sprachliche Vermögen einer Person – unabhängig davon, dass es aus unterschiedlichen Varianten und Sprachen zusammengesetzt ist – ein »sprachliches System« bildet. Dass man beim praktischen Sprachgebrauch auf spezielle Teile dieses Systems zugreift, ist ein Ergebnis von angeeignetem sprachlichen Können: bewusster Entscheidung bzw. – je besser eine Person mit ihren Möglichkeiten vertraut ist – routinierter Praxis. Im Unterricht werden auf dieser Grundlage die verschiedenen Sprachen, die Lernende in ein Klassenzimmer mitbringen, ausdrücklich in die Kommunikation hineingeholt. Die sprachlichen Erfahrungen der Lernenden in den verschiedenen Sprachen werden dem Vergleich von sprachlichen Strukturen und Bedeutungen zugrunde gelegt, was dem Aufbau sprachlicher Bewusstheit dient. Erste Studien, auch aus dem deutschsprachigen Raum, zeigen, dass der vergleichende Umgang mit den ihnen mehr oder weniger vertrauten Sprachen, also 30 Erschienen in der Reihe »FörMig Material«, z. B. Hanne Brandt/Ingrid Gogolin, Sprachförderlicher Fachunterricht, Münster 2016; Tanja Tajmel/Sara Hägi-Mead, Sprachbewusste Unterrichtsplanung, Münster 2017; Ingrid Gogolin u. a., Durchgängige Sprachbildung. Qualitätsmerkmale für den Unterricht, Münster 2020. 31 Vgl. Ofelia García/Li Wei, Translanguaging. Language, Bilingualism and Education, New York 2014.

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den Herkunftssprachen, Fremdsprachen und dem Deutschen, nicht nur beim Erschließen von Konzepten hilft, sondern auch zum Abbau von Vorurteilen und Skepsis gegenüber der Sprachenvielfalt beiträgt.32 Eine besonders erfolgversprechende Form des Einsatzes solcher Praktiken ist das »Peer Learning«: die Zusammenarbeit zwischen Schüler:innen in Phasen des Unterrichts, in denen sie sich in Paaren oder kleinen Gruppen mit kognitiv herausfordernden Aufgaben auseinandersetzen.33 An die Stelle einer nur im Privaten ausgeübten Praxis tritt eine von den Lehrkräften angeleitete Strategie der extensiven Nutzung aller vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten für die Erschließung der Sache. Da die Ergebnisse dieser Erschließung anschließend im Klassenunterricht vorgestellt und gesichert werden, muss nicht befürchtet werden, dass die Lernenden unbemerkt »falsche Konzepte« entwickeln – jedenfalls nicht mehr, als dies bei einsprachigem Unterricht auch der Fall wäre. Die bislang vorliegenden Untersuchungsergebnisse zeigen insgesamt, dass die entsprechenden Praktiken im Unterricht sehr vorteilhaft für die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten sein können – es sei denn, sie werden schlecht umgesetzt. Ein Hindernis dafür, dass solche Ansätze in breiterem Maße praktiziert werden, besteht darin, dass Lehrkräfte damit wenig vertraut sind. Damit verbunden sind Befürchtungen, wie etwa die, dass ihnen die Kontrolle über das Lernergebnis entgleite oder dass der Gebrauch von mehreren Sprachen im Unterricht Zeit koste, die für das »eigentliche Lernen« nicht mehr zur Verfügung stehe. Abhilfe kann hier nur eine angemessene Qualifizierung von Lehrkräften für sprachsensiblen Fachunterricht im Kontext der Mehrsprachigkeit schaffen – aber auch in dieser Hinsicht haben sich Arbeitsgruppen auf den Weg gemacht, unterstützende Ansätze zu entwickeln.34 Zu wünschen wäre, dass das geisteswissenschaftliche Fächerspektrum intensiver an den angedeuteten Entwicklungen beteiligt wäre. Dr. Dr. h. c. mult. Ingrid Gogolin ist Senior-Professorin für International Vergleichende und Interkulturelle Bildungsforschung an der Universität Hamburg. 32 Vgl. Christoph Gantefort/Ina-Maria Maahs, Translanguaging. Mehrsprachige Kompetenzen von Lernenden im Unterricht aktivieren und wertschätzen, 2020, https://www.uni-due.de/ imperia/md/content/prodaz/gantefort_maahs_translanguaging.pdf (Zugriff am 1.3.2021). 33 Vgl. Martin Schastak, Bilinguale Interaktion beim Peer-Learning in der Grundschule. Eine Mixed-Methods Studie mit bilingual türkisch-deutschsprachig aufwachsenden Schüler*innen, Leverkusen 2020. 34 Vgl. Julie Panagiotopoulou/Maria Hammel, ›What Shall We Sing Now, Amir?‹ Developing a Voice through Translanguaging Pedagogy. An Ethnographic Research and Professional Training Project in Day-Care Centers and Schools, in: Julie Panagiotopoulou/Lisa Rosen/Jenna Strzykala (Hg.), Inclusion, Education and Translanguaging. How to Promote Social Justice in (Teacher) Education? Wiesbaden 2020, 203–218.

Geschlechtergerechte Sprache im Religionsunterricht Monika Jakobs

1  Krise der religiösen Sprache – nicht bei Gender? In der heutigen Debatte um religiöse Sprache steht das Thema ihrer Verständlichkeit für den Menschen im Zentrum und es wird nach Möglichkeiten gesucht, Glauben angemessen und zeitgemäß zu formulieren. Das gilt auch für die Religionspädagogik. »Krise der Gottesrede«1 und »Fremdsprache Religion«2 lauten die Stichworte. Religiöse Sprache sei ein kleiner werdender »Theotop«3, in dem sich immer weniger Menschen bewegen wollen und können. Das klassische Thema religiöser Sprache ist jedoch, ob überhaupt und wie das Geheimnis des Glaubens, speziell aber Gott selbst, versprachlicht werden kann. »Diese Spannung von Greifbarkeit und Entzogenheit, von Inkarnation und Bilderverbot stellt Anforderungen an die Form der Rede.«4 Kritisiert wird religiöse Sprache, welche diese Spannung nicht mehr aufrechterhalten kann. So schreibt die Dichterin Silja Walter: »Ich kann das Absolute nicht beschreiben. […] Lieber nicht von Gott reden, als in der alten, verdreschten, verbrauchten Sprache.«5 Daneben sind gesellschaftliche und kirchliche Debatten um Gender entbrannt, die sich in hitzigen, vielfach polemisch geführten Auseinandersetzungen etwa in »Genderismus«-Vorwürfen6 und im Aufzeigen der angeblichen Absurdität, der Impraktikabilität, der mangelnden Ästhetik usw. bei der Umsetzung inklusiver Sprache durch Gendersternchen oder Ähnlichem zeigen. Die Diskussion ist zwar nicht neu, sie wird aber derzeit besonders heftig geführt. 1 Georg Langenhorst, Von guten Texten wunderbar geborgen?, in: KatBl 141 (2016), 86–93, hier 87. 2 Stefan Altmeyer, Zum Umgang mit sprachlicher Fremdheit in religiösen Bildungsprozessen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht, Leipzig 2018, 191– 205, hier 192 f. 3 Georg Langenhorst/Eva Willebrand, Hinführung, in: dies. (Hg.), Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts, Ostfildern 2017, 9–31, hier 11. 4 Bernhard Fresacher, Gottessemantik. Religion und Sprache aus christlicher Sicht, in: Meditation. Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung 36 (2010), 2–7, hier 4. 5 Zit. nach: Georg Langenhorst, Auferweckt ins Leben. Die Osterbotschaft neu entdeckt, Freiburg 2018, 19. 6 Vgl. Monika Jakobs, Gender und andere schwierige Wörter, in: SKZ 182 (2014), 83–86.

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Bis heute hat keine Zusammenführung der beiden Diskurse in der Theologie bzw. in der Religionspädagogik stattgefunden. Die folgenden Ausführungen versuchen, einige Spuren des Zusammendenkens von Gender und Sprache im Kontext des Religionsunterrichtes zu legen.

2  Wie funktioniert Sprache? Sprache ist das zentrale Medium menschlicher Kommunikation. Damit ist es soziales Handeln, das Zusammenleben erst ermöglicht. Bei der Kommunikation werden jedoch keine vollständigen, objektiven Informationen übermittelt, sondern Verkürzungen und Andeutungen. Sprache bildet Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vermag auch von ihr zu abstrahieren, sodass sowohl Produktion wie Rezeption eine komplexe Leistung des Gehirns erfordern. In welchem Maß Sprache Wahrnehmung prägt, ist nach wie vor Gegenstand der Diskussion; dass sie es tut, ist unbestritten. Sie ist ein wichtiger Faktor, »der unsere Kognitionen und unser Verhalten bestimmt.«7 Versprachlichung ist also nicht nur Abbildung, sondern selbst Verarbeitungsprozess.8 Sie ist Mittel des Weltverständnisses und des individuellen Selbstausdrucks. Durch ihre sozial-kommunikative Funktion wird Sprache zur wichtigen Trägerin von Kultur und Gemeinschaft.9 Wirkliches Sprachverständnis ist nur im Kontext kultureller und sprachlicher Codes möglich, die mit jedem Sprachhandeln verstärkt werden. Das erklärt, warum bereits kleine Veränderungen sprachlicher Konventionen und Gewohnheiten Aufmerksamkeit oder Widerstand hervorrufen können und warum Unverständnis geltender kultureller und sprachlicher Codes zu Ab- bzw. Ausgrenzung führen können. Schließlich bleibt festzuhalten, dass sich Sprache ständig wandelt, sei es durch neue Phänomene der Lebenswelt, durch den Einfluss anderer Sprachen, durch neue Kommunikationsmedien oder durch poltisch-kulturelle Entwicklungen, die zu Veränderungen in der Sprachbedeutung führen (»Weib«, »Neger«). Weil Sprache auf Verkürzung beruht, werden bei jedem Wort und jeder Aussage Denkmuster, assoziative Netzwerke oder kognitive Schemata aktiviert. Das macht sie anfällig für Manipulation. Sprachliche Leerstellen können genutzt

7 Joachim Funke, Denken und Sprache, in: Astrid Schütz/Mathias Brand/Stefan Lautenbacher (Hg.), Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Handlungsfelder, Stuttgart 42011, 120–138, hier 135. 8 Vgl. ebd., 129. 9 Vgl. ebd., 121.

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werden, um erwünschte Veränderungen auf den Weg zu bringen10, oder für gezielte Manipulation eingesetzt werden, z. B. in der Werbung oder in der Politik.11 Dabei versucht man Deutungsmuster, die zur Einordnung und Bewertung von neuen Informationen dienen, zu verändern, indem man sie neu »rahmt«. Man spricht von »Framing« als dem Versuch, mit Wortschöpfungen oder durch die Verbindung eines Themas mit einem anderen Inhalt Meinung zu steuern oder eine Reaktion wie z. B. Empörung zu provozieren.12 Der Ausdruck »Ausländerproblem« legt nahe, dass alle Ausländer:innen per se ein Problem darstellen. »Jungen als Bildungsverlierer« insinuiert, dass Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem benachteiligt werden (trotz der Tatsache, dass Mädchen weniger Statusvorteil aus ihrer Bildung ziehen). »Über sprachliche Mittel wird Zustimmung und Ablehnung, Zugehörigkeit und Abgrenzung hergestellt.«13

3  Sprache und Gender Mit der vermehrten Verwendung von Sprachformen, die weibliche und männliche Personen nennen, bis hin zu Verwaltungsvorschriften, die solche Sprachformen als verbindlich erklären, ist inklusive Sprache Gegenstand heftiger Diskussionen geworden. Gendersternchen, Unterstriche, großes Binnen-I oder die konsequente Nennung von weiblichen und männlichen Formen in Bezug auf Personen sind den einen Auswüchse einer aus dem Ruder gelaufenen politischen Korrektheit, welche die Sprache verschandelt, und gelten den anderen als unverzichtbare sprachliche Formen von Geschlechtergerechtigkeit. Das damit angesprochene generische Maskulinum ist neben der Kritik einer abwertenden und Stereotypen begünstigenden Ausdrucksweise sowie dem geschlechtsspezifischen Gesprächs- und Kommunikationsverhalten ein zentrales Thema feministischer Sprachkritik. Darüber hinaus ist Sprache bei der sozialen Konstruktion von Geschlecht ein gewichtiger Faktor.14 10 Vgl. Helmut Ebert/Edith Münch, Sprache als Instrument der Change- und Innovationskommunikation, Wiesbaden 2018. 11 Vgl. Benjamin Mikfeld/Jan Turowski, Sprache, Werte, Frames. Eine Einführung, in: Denkwerk Demokratie (Hg.), Sprache. Macht. Denken. Politische Diskurse verstehen und führen, Frankfurt/New York 2014, 15–48. 12 Vgl. Jörg Matthes, Framing, Baden-Baden 2014; Elisabeth Wehling, Politisches Framing, Berlin 2016. 13 Mikfeld/Turowski, Sprache, 18. 14 Es handelt sich dabei um eine Perspektive auf Geschlecht und meint nicht, dass Geschlecht ausschließlich eine soziale Konstruktion sei. Vgl. zum Folgenden: Regine Gildemeister/­Katja Hericks, Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, München 2012, 196–297.

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Das generische Maskulinum beansprucht Neutralität in Bezug auf Geschlecht, indem prinzipiell beide Geschlechter gemeint sein sollen: Schüler, Dirigent, Bauarbeiter usw. In der Sprachpraxis funktioniert dies jedoch nicht, weil gewohnte Bilder abgerufen werden. Bei der Bezeichnung von Gruppen ist das generische Maskulinum besonders ungenau, weil nicht klar ist, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind.15 Weil das generische Maskulinum vielfach nur männlich verstanden wird, macht es Frauen doppelt unsichtbar:16 als reale Direktorinnen, Schülerinnen, Ärztinnen usw. oder als denkbare Astronautinnen, Priesterinnen, Präsidentinnen usw. So verstärkt es Stereotype.17 Hier zeigt sich, dass Sprache ein Indikator für geltende Wertvorstellungen ist und der Sprachgebrauch diese zu festigen vermag.18 Auf der Ebene des Sprachverhaltens führt diskriminierender, unsachlicher und stereotyper Sprachgebrauch zur Abwertung von Frauen. Dazu gehören sprachliche Strategien wie Beleidigungen, jemanden lächerlich zu machen oder herabzuwürdigen, Demütigungen oder sexualisierte Angriffe auf Frauen, wie sie etwa in sozialen Netzwerken verbreitet sind.19 Schließlich betrifft die Sprachkritik geschlechtsspezifisches Gesprächs- und Kommunikationsverhalten. »Männer reden mehr, öfter und länger als Frauen. Männer unterbrechen Frauen mehr und ergreifen das Wort«20. Gegenwärtig scheinen diese Praktiken vor allem Thema der Ratgeberliteratur zu sein: Um sich durchsetzen zu können, sollen Frauen mehr, lauter und mit tieferer Stimme sprechen, sich nicht so oft entschuldigen etc. Mit der Migration des Themas aus der Wissenschaft hin zur Ratgeberliteratur wird der Sprachkritik der strukturelle Stachel gezogen, indem diskriminierendes Gesprächsverhalten zu einer individuellen Angelegenheit wird. Strukturelle Faktoren wie organisatorische Rahmenbedingungen, Gesprächsregeln, die Zusammensetzung von Gruppen und Gesprächsleitung und damit die Verantwortlichkeit von Institutionen und Organisationen, Rahmenbedingungen für eine faire Kommunikation zu schaffen, geraten dabei aus dem Blick. Unter sozialer Konstruktion versteht man den Prozess, bei welchem das eigene Handeln und das Handeln anderer permanent – meist unbewusst – nach den geltenden geschlechtlichen Normen bewertet werden. Wenn eine Person mit 15 16 17 18 19 20

Vgl. Luise F. Pusch, Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt a. M. 1984, 43 ff. Vgl. Funke, Denken, 128. Vgl. Hilke Elsen, Gender – Sprache – Stereotype, Tübingen 2020, 86. Vgl. Pusch, Männersprache, 35. Besonders Politikerinnen und andere Frauen, die öffentlich sichtbar sind, sind davon betroffen. Elsen, Gender, 151; vgl. Senta Trömel-Plötz, Feminismus und Linguistik, in: Luise F. Pusch (Hg.), Feminismus. Inspektion der Herrenkultur. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 1983, 33–51, hier 39.

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einem frauentypischen Aussehen sich also frauentypisch verhält (z. B. Stimmlage, Körpersprache), kann man davon ausgehen, dass sie selbst als Frau wahrgenommen werden will und dass sie als solche wahrgenommen wird. Durch dieses konventionelle Handeln wird die Konvention weiter gefestigt. Man spricht von »Doing Gender«.21 Doing Gender geht davon aus, dass Gender im täglichen Leben permanent konstruiert, d. h. verfestigt oder verändert wird und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass man ein Geschlecht nicht nur für sich selbst hat (Geschlechtsidentität), sondern auch für andere (Geschlechtsidentifikation).22 Diese konstruktivistische Perspektive auf Geschlecht verlagert das Erkenntnisinteresse weg von der Suche nach geschlechtsspezifischen Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten hin zu der Frage, wann und wie durch Interaktion Geschlecht konstruiert bzw. neutralisiert wird. Doing Gender ist ein hilfreicher Schlüssel zur Dechiffrierung von Kommunikation im Klassenzimmer. Wie gestalten Schüler:innen soziale Praktiken, mit denen Geschlecht konstruiert wird? Wann kann sprachliches und nichtsprachliches Handeln jenseits der Bedeutungsoberfläche als Dramatisierung bzw. Entdramatisierung von Geschlecht gedeutet werden? Das ist z. B. der Fall, wenn Jugendliche durch ihre Praxis hervorheben wollen, dass sie ein »richtiges« Mädchen oder ein »richtiger« Junge sind. Mit welchen Praktiken versuchen sie, die Kategorie Geschlecht in den Hintergrund zu stellen, zu neutralisieren? Das kann etwa der Fall sein, wenn ein spezifisches Talent präsentiert oder auf die unverwechselbare Identität jenseits von Konventionen und Rollen gepocht wird. Die Theorie der sozialen Konstruktion von Gender versteht geschlechtsbezogenes Handeln als Gestaltung der Interdependenz zwischen biologischen Gegebenheiten, dem kulturellen Rahmen und biografischen Aspekten in der Weise, dass der Raum innerhalb eines Geschlechts an Vielfalt gewinnen bzw. die zweigeschlechtliche Zuordnung sogar überschritten werden kann. Letzteres kompliziert die Frage nach den sprachlichen Strategien für Gendergerechtigkeit, ist aber keineswegs irrelevant. Mit der Doppelnennung (»Bürgerinnen und Bürger«) werden diejenigen ausgeschlossen, die sich in der Zweigeschlechtlichkeit nicht wiederfinden. »Sprachliche Benachteiligung ist oft gleichbedeutend mit tatsächlicher Benachteiligung. Findet eine intersexuelle Person auf amtlichen Dokumenten 21 Vgl. Hannelore Faulstich-Wieland/Martina Weber/Katharina Willems, Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen, Weinheim/München 2004, 15 f. 22 Vgl. Gildemeister/Hericks, Geschlechtersoziologie, 205.

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keine Bezeichnung für ihr Geschlecht, existieren beim Staat, der ihre Rechte schützen sollte, nicht einmal Kategorien, um die Person wahrzunehmen.«23 Das Gendersternchen will, indem es einen Freiraum anzeigt, in diesem Sinne inklusiv sein und eine Festlegung auf Anzahl oder Art von Geschlechtern vermeiden. Dahinter steht wieder die grundlegende Frage, wann Sprache Geschlecht sichtbar machen und wann sie es neutralisieren soll, eine Frage, die nicht generell, sondern situationsabhängig entschieden werden muss.

4  Gender in der religiösen Sprache Kritik an der androzentrischen religiösen Sprache wurde zuerst von der feministischen Theologie formuliert. Das erklärte Anliegen, den Androzentrismus der Theologie aufzudecken, die Lebenswelt von Frauen theologisch zu reflektieren und dem Beitrag von Frauen zur Glaubenstradition und für die Kirche zur Sichtbarkeit zu verhelfen, zieht in der Konsequenz Sprachkritik nach sich. Am deutlichsten wird dies in der Kritik an rein männlichen Gottesbildern. Selbstredend ist die Frage nach Vorstellungen von Gott nicht zuerst eine sprach­ liche, sondern eine theologische. Die Begründung wird durch Mary Dalys ­Diktum: »Wenn Gott männlich ist, muss […] das Männliche Gott sein«24 auf den Punkt gebracht. Die rein männliche Repräsentation des Göttlichen führt demnach dazu, dass das Weibliche abgewertet wird. Gestützt wird die Legitimation dieser Forderung durch die Vielfalt biblischer Bilder für Gott, die Herkunft der göttlichen Person des Heiligen Geistes aus der hebräischen Ruach, die frauenfreundliche Botschaft Jesu und die Vielfalt der Gottesbilder in der christlichen Tradition, etwa der Mystik.25 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass jegliche an­­ thro­pomorphe Gottesvorstellung, also auch »Vater und Mutter unser«, die Gefahr beinhaltet, das Göttliche mit menschliche Rollenvorstellungen zu identifizieren. Das Bestreben, Frauen theologisch sichtbar zu machen, wirkt sich ebenfalls sprachlich aus. Am Beispiel der Jünger Jesu lässt sich das gut zeigen. Handelt es sich um ein generisches Maskulinum oder sind Frauen mitgemeint? Die Berücksichtigung des textlichen Kontextes, insbesondere die namentliche 23 Philippe Wampfler/Manuel Bamert, Eine präzise Sprache ist eine gerechte Sprache, in: TagesAnzeiger (Zürich), 5.12.2017, 35; vgl. Dagmar Pauli, Respekt für Transmenschen umfasst auch die Sprache, in: Tages-Anzeiger (Zürich), 15.6.2020, 11. 24 Mary Daly, Jenseits von Gottvater, Sohn & Co., München 1980, 33. 25 Vgl. Monika Jakobs, Frauen auf der Suche nach dem Göttlichen. Die Gottesfrage in der feministischen Theologie, Münster 1993.

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Nennung von Jüngerinnen, hat ergeben, dass die biblischen Formulierungen tatsächlich inklusiv gemeint sind. Gleiches gilt analog für Propheten und für die »Brüder«, die Paulus in seinen Briefen anspricht.26 Weil die androzentrische Wirkungsgeschichte der biblischen Texte an der Benachteiligung von Frauen in den christlichen Kirchen entscheidenden Anteil hat, ist auch hier die Sprachwahl nicht unerheblich. Mit der »Bibel in gerechter Sprache«27 liegt nun eine Bibelübersetzung vor, welche die bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse sprachlich umsetzt. In der Einleitung heißt es: »Für das Profil dieser Bibelübersetzung ist es ferner zentral, dass durchgängig versucht wird, Gott nicht einseitig mit grammatisch männlichen Bezeichnungen zu benennen.«28 Es geht um das Sichtbarmachen der sprachlichen Vielfalt, die der Text enthält. Diese Überlegungen sind eng verbunden mit dem Bewusstsein des jüdischen Erbes mit seiner Betonung des Bilderverbots, der Unübersetzbarkeit des Gottesnamens j-h-w-h und dem Verbot, den Gottesnamen auszusprechen.29 Für die praktische Textlektüre werden verschiedene Gottesnamen vorgeschlagen, die abwechselnd benutzt werden sollen: »der Ewige, die Ewige, Schechina, Adonay, ha-schem, der Name, GOTT, die Lebendige, der Lebendige, Ich-bin-da, ha-Makom, DU, ER SIE, SIE ER, die eine, der eine, die Heilige, der Heilige.«30 Diese Vielfalt steht im Dienst der Einheit: »Es ist unumgänglich an dieser Stelle auf die theologische Grundfrage zu verweisen. Man muss sich wirklich klar machen, dass ein Glaube an Gott als Einheit, […] also der biblische Monotheismus in all seinen Formen und Gestalten […][,] erfordert, dass Gott jenseits der Geschlechterpolarität steht […]. Das gehört zentral zu der Differenz zur Vielfalt der männlichen und weiblichen Gottheiten der verschiedenen Polytheismen.«31 Auch die Berücksichtigung einer symbolischen Sprechweise führt zu neuen Erkenntnissen. Mit den »Zwölfen« im Neuen Testament sind eben nicht zwölf konkrete Männer gemeint, vielmehr soll die gemeinsame Glaubensgrundlage, welche die Jesusgemeinschaft mit den zwölf Stämmen Israels verbindet, aufge26 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, Mainz/München 1983. 27 Ulrike Bail/Frank Crüsemann/Marlene Crüsemann, Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006. 28 Ebd., 10. 29 Vgl. ebd., 16–21. 30 Ebd., 12. 31 Frank Crüsemann, Sexualisierung des Gottesbildes?, 2007, https://bibel-in-gerechter-sprache. de/wp-content/uploads/Sexualisierung_des_Gottesbildes.pdf (Zugriff am 10.11.2020).

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zeigt werden.32 Die zwölf Stämme selbst stehen symbolisch für das ganze Volk Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. »Diese Repräsentation des ganzen Volkes umschließt viel mehr: Frauen, Männer und Kinder, Tote und Lebende; er schließt Vergessene, die nur in Gottes Gedächtnis bewahrt sind, ein.«33 Die »Zwölf« dürfen nicht gleichgesetzt werden mit den »Jüngern«, die tatsächlich konkrete – teilweise namentlich genannte – Männer und Frauen bezeichnen, deren genaue Anzahl jedoch nicht bekannt ist. Das dritte Anliegen der Bibel in gerechter Sprache ist es, soziale Auseinandersetzungen und das Anliegen sozialer Gerechtigkeit deutlicher werden zu lassen. In der Bibel erzählte Gewalttaten (wie z. B. Vergewaltigungen) und Konflikte werden hier nicht sprachlich geglättet, sodass verschwiegene Geschichten von Frauen, Ohnmächtigen und sozial Minderbewerteten hörbar werden. Das Projekt »Die Bibel in gerechter Sprache« zeigt exemplarisch, dass Sprache mehr ist als Oberfläche und dass Texte im Kontext der Dekonstruktion von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zu situieren sind.

5  Religionsunterricht und Sprache Um die Ausgangsfrage nach Gender und Sprache im Religionsunterricht beantworten zu können, muss man auf die Grundfrage nach der Bedeutung von Sprache im Religionsunterricht zurückgehen. Im Folgenden einige Blitzlichter: Als Erster hat Hubertus Halbfas seine Didaktik ganz als religiöse Sprachlehre34 verstanden. Er setzt bei den uneigentlichen, bildlichen religiösen Ausdrucksformen an und entwickelt in seinem Unterrichtswerk ein aufbauendes Symbolverständnis als Schlüssel zum religiösen Verständnis insgesamt. Für Georg Langenhorst ist der Rückgriff auf die Sprache der modernen Literatur eine Chance, religiöser Sprachlosigkeit zu begegnen und religiöse Mündigkeit zu fördern.35 Rainer Oberthürs Didaktik der »großen Fragen« und des Theologisierens mit Kindern führt vor allem über sprachkreative Methoden zum theologischen Verständnis.36 32 Vgl. Luise Schottroff, Sind die »Zwölf« zwölf Männer?, 2007, https://bibel-in-gerechter-sprache.de/wp-content/uploads/Die_Zwoelf.pdf (Zugriff am 10.11.2020). 33 Ebd. 34 Seine seit 1997 und inzwischen neu aufgelegten im Patmos-Verlag erschienenen »Religionsbücher« für alle Schuljahre mit den entsprechenden Lehrerhandbüchern können als Umsetzung dieses Sprachlehreprojektes verstanden werden. 35 Vgl. Langenhorst, Literatur, bes. 24. 36 Vgl. Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1993.

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Der Umgang mit gesprochener Sprache und mit Texten in der Schule bzw. im Religionsunterricht ist ein Teil allgemeiner wie auch religiöser Sprachsozialisation. Für die Lehrperson ist Sprache das wichtigste Instrument der Vermittlung,37 welches erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Bietet man also eine Vielfalt von Gottesbezeichnungen an, bildet sich ein Sprach­repertoire und es entsteht Normalität im Sprachgebrauch. Das betrifft jedoch nicht nur die religiöse Sprache, sondern auch den Kommunikationsstil und die ihm zugrunde liegende Haltung. Wird jedoch religiöse Sprache als Sonderbereich, als »Fremdsprache« erlernt, die »exotisch« bleibt und mit dem Alltag kaum etwas zu tun hat, wird sie die Funktion der Sprachsozialisation nicht erfüllen können, sondern bleibt exotisch. Altmeyer zeigt auf, dass beim Sprachgebrauch heutiger Lernender das Religiöse kaum abgrenzbar ist, und es ist ihm zuzustimmen, wenn er sagt, allein durch Verstehen werde die Fremdsprache nicht zur eigenen.38 Dasselbe trifft für gendergerechte Sprache zu. Wie dargelegt, ist auch die Sichtbarmachung von Frauen in der christlichen Tradition sprachrelevant. Angesichts der Tatsache, dass die Lernenden außerhalb des Religionsunterrichts wenig mit der Bibel oder anderen religiösen Texten in Berührung kommen, ist es unverantwortlich, ihnen nur die androzentrische Variante zu präsentieren. Daran schließt sich die Frage an, wie Geschlechter in der Alltagskommunikation, aber auch in der Kommunikation im Religionsunterricht benannt werden sollen. Dass die sprachliche Suchbewegung derzeit noch in vollem Gange ist, ist eine Chance, Sprache und Gender im Religionsunterricht zu diskutieren. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die ethische Dimension von Sprache und die wichtige Rolle der Sprache bei der Förderung von Respekt und Toleranz kaum reflektiert werden.39 Tatsächlich spielt Sprache bei der Wertorientierung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Am ehesten wird sie in der interreligiösen Dimension sichtbar, indem die Sensibilität für die Grenzen anderer Religionen sprachlich zu fördern ist, z. B. bei der Bezeichnung »Muslim« statt »Mohammedaner«. Gerade aber der mit Blick auf die Kommunikation in den sozialen Medien und das Framing lohnt eine Analyse geschlechterspezifischer Themen unter ethischer Perspektive im Religionsunterricht.

37 Vgl. Elsen, Gender, 22. 38 Vgl. Altmeyer, Fremdheit, 192 f. 39 Vgl. Matthias Bahr/Anja Templer, Das Spiel mit den Geschlechtern!? (M)eine Sprache finden, in: KatBl 145 (2020), 40–44, hier 40.

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6  Geschlechtergerechtigkeit durch Sprache? Um Veränderungen nachhaltig zum Erfolg zu verhelfen, reicht die Praxis Einzelner nicht. Der »Index für Inklusion«40, ein Instrument der Schulentwicklung, unterscheidet nach Kulturen, Strukturen und Praktiken, um anzuzeigen, dass Inklusion sich nicht auf das Verhalten einer einzelnen Lehrperson beschränkt, sondern in einem breiten Rahmen schulpolitisch abgestützt sein muss. Dieses Instrument ist hilfreich, weil auch das Ziel »Gendergerechtigkeit durch Sprache« in den Gesamtrahmen heterogenitätssensibler, inklusiver Religionspädagogik einzuordnen ist. Die »Zehn Grundsätze für einen inklusiven Religionsunterricht« des Kooperationsprojektes INREV41 halten fest: Inklusiver Religionsunterricht zeichnet sich aus durch »wertschätzende[n] Umgang miteinander«, dadurch, dass »Barrieren für das Lernen und die Teilhabe aller am Unterricht Beteiligten erkannt und verringert« werden, sowie durch »Dialog« als »durchgängiges Strukturprinzip«. Es existiert eine Kultur des wertschätzenden Umgangs. Der Lernprozess soll so gestaltet werden, dass alle Schüler:innen »nachhaltig und erfolgreich« lernen können. Geschlecht ist darin ein, wenn auch zentraler, Aspekt von Heterogenität. Diskriminierung und Ausschluss können auch über andere Merkmale oder Kombinationen von Merkmalen wie körperlich-psychische Einschränkungen, Herkunft, sexuelle Orientierung, Aussehen etc. erfolgen. Die Leitlinien Gender42 beziehen sich darauf. »Im Gesamtzusammenhang einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt trägt ein gendersensibler Religionsunterricht als Teilbereich einer gender-reflektierenden Religionspädagogik zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in Schule und Gesellschaft bei.« Dabei wird der Aspekt der Dekonstruktion von geschlechterdiskriminierenden Äußerungen und Handlungen oder von geschlechterbezogener Benachteiligung in Schule und Unterricht hervorgehoben und nach den Möglichkeiten von Geschlechtergerechtigkeit gefragt. »Geschlechtersensibler Religionsunterricht setzt sich kritisch auseinander mit Sichtweisen über die Geschlechter und mit ihrem Verhältnis zueinan40 Tony Booth/Mel Ainscow, Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, Halle-Wittenberg 2003. 41 Projektgruppe Inklusive Religionslehrerbildung, Zehn Grundsätze für inklusiven Religionsunterricht, 2014, https://inrev.de/zehn-grundsaetze-fuer-inklusiven-Religionsunterricht/ (Zugriff am 1.12.2020); vgl. Thorsten Knauth/Rainer Möller/Annebelle Pithan (Hg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen, Münster 2020. 42 Leitlinien Gender, 2019, https://inrev.de/2019/06/18/leitlinien-gender/ (Zugriff am 1.12.2020). Die folgenden Zitate sind den Leitlinien entnommen.

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der – in Gesellschaft, Christentum, Bibel, Kirchen sowie in anderen religiösen Schriften und Traditionen. Geschlechtersensibler Religionsunterricht macht in seinen Interaktionen und Inhalten Geschlechtergerechtigkeit erfahrbar.« Es versteht sich von selbst, dass im geschlechtersensiblen Religionsunterricht geschlechtergerechte Sprache verwendet wird. Wenn sie zu einem selbstverständlichen Teil der sprachlichen Sozialisation wird, kann sie Gleichberechtigung fördern. Eine besondere Chance liegt dabei in der hohen N ­ ormativität, die der Schule, insbesondere den Lehrpersonen, zugebilligt wird. Sind die Lernprozesse außerdem noch motivierend und lustvoll, sind die Bedingungen gut dafür, dass gegenläufige Instanzen sprachlicher Sozialisation weniger wirksam werden können. Es sollte selbstverständlich sein, bei Themen des Glaubens und der religiösen Tradition Frauen sichtbar werden zu lassen. Mit der »Bibel in gerechter Sprache« steht ein gutes Hilfsmittel bereit. Bei der Frage nach Gott gibt es bereits viele Texte, die über die androzentrische Verengung hinausgehen; hierbei kann der Rückgriff auf moderne Literatur sehr fruchtbar sein, auch der Blick auf die feministische Literatur lohnt sich.43 Oberthür hat richtig darauf hingewiesen, dass wichtiger als die Antworten, welche im Religionsunterricht gegeben werden können, die bleibende Fragwürdigkeit seiner Themen ist, denn erst sie generiert die grundlegende Motivation, sich auf das Lerngeschehen einzulassen.44 Das gilt uneingeschränkt für das Thema Gender. Dennoch darf man den Wirkungsbereich des Religionsunterrichts nicht überschätzen. Schule und das in ihr stattfindende Unterrichtsgeschehen stehen in einem vielschichtigen reziproken Kausalgefüge mit Kultur und Gesellschaft und werden von individuellen psychologischen, kognitiven und sozialen Komponenten beeinflusst.45 Religionsunterricht steht im doppelten Kontext von Schule und Kirche(n). Dass Gendergerechtigkeit in der Kirche nicht zuoberst auf der Tagesordnung steht, kann zu gewissen Kontrasterfahrungen eines gendergerechten Religionsunterrichts führen. Wir kommen noch einmal darauf zurück, was Sprache vermag. Die Stärke sprachbezogener Ansätze im Religionsunterricht liegt im konstruktiven Potenzial, das der Umgang mit Sprache eröffnet. Um das Bewusstsein für die Problematik zu schärfen, aber auch um bessere, zutreffendere, schönere Ausdrücke zu finden, kann mit Sprache, ja auch mit Regelverletzungen kreativ experimentiert 43 Zum Beispiel Janet Morley, Preisen will ich Gott, meine Geliebte. Psalmen und Gebete, Freiburg 1989. 44 Vgl. Oberthür, Kinder, 20 f. 45 Vgl. Elsen, Gender, 22.

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werden. Luise Pusch etwa schlägt vor, alle Personen mit dem sächlichen Artikel zu versehen, um die Genderneutralität zu testen, oder grundsätzlich ein generisches Femininum zu verwenden.46 Die Begegnung mit moderner Literatur kann lehren, auch sprachlich an die Grenzen zu gehen. Jedoch kann Sprachgebrauch nicht erzwungen werden. Sprache spielt eine entscheidende Rolle im beständigen Suchprozess nach der Wahrheit und der eigenen Identität. Beide sind nicht starr, sondern beweglich. Geschlechtersensible Sprache im Religionsunterricht ist somit keine Angelegenheit aufgesetzter politischer Korrektheit, sondern ein Erfordernis der Geschlechtergerechtigkeit und eine Chance für die Lernenden, das Spektrum religiöser Sprache und des Selbstausdrucks zu erweitern.

Monika Jakobs ist seit 2020 emeritierte Professorin für Religionspädagogik an der Universität Luzern/Schweiz.

46 Vgl. Pusch, Männersprache, 46–66.

Religiös sprachlos? Religiöse Sprache zwischen Tradition und moderner (Jugend-)Kultur Ulrich Kropač

1 Religion und Sprache – Schlaglichter auf ein komplexes Verhältnis 1.1 Was ist Sprache? – zum Paradigmenwechsel im Verständnis von Sprache Sprache ist das fundamentale Medium der menschlichen Verständigung und Kommunikation, sie ist grundlegend für eine humane Kultur. Dabei ist sie »nie nur ein Instrument, um über die Welt zu sprechen, sondern unser Weltverständnis konstituiert sich immer schon im Raum der Sprache«.1 Diesem auf eine kurze Formel gebrachten Verständnis von Sprache liegt eine lange Geschichte der (philosophischen) Reflexion über Sprache zugrunde.2 Ihren Ursprung hat sie bei Aristoteles. Der Stagirit versteht Sprache als ein nichtnatürliches Werkzeug, dessen sich die Menschen zu eigenen Zwecken bedienen. Sprache ist mit anderen Worten ein Zeichensystem, das auf Konventionen beruht. Diese Interpretationslinie setzte sich unangefochten bis ins 18. Jahrhundert fort. Im 19. Jahrhundert beginnt sich das Blatt zu wenden. Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt kritisieren entschieden das überkommene Verständnis von Sprache. Für sie gehören Sprechen und Denken untrennbar zusammen. In klarer Absetzung von der aristotelisch-empiristischen Tradition, die Sprache auf ein »sekundäres Instrumentarium der Konservierung und Kommunikation zunächst sprachunabhängiger Begriffe und Gedanken«3 reduzierte, vertreten sie die Auffassung, dass die sprachliche Erschlossenheit der Welt ursprünglich und unhintergehbar ist. Ihre volle Wirksamkeit entfaltete diese These erst im 20. Jahrhundert. Sie läutete nicht weniger als einen Paradigmenwechsel im philosophischen Denken ein, für den ab den 1960er-Jahren die Bezeichnung linguistic turn eine weite 1 2

Albrecht Grözinger, Art. Sprache, in: LexRP 2 (2001), 2028–2031, hier 2028. Zum Folgenden vgl. Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 32013, 66–86. 3 Ebd., 74.

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Verbreitung erfuhr. Dabei spielten die Arbeiten Ludwig Wittgensteins eine Schlüsselrolle. Die Welt ist nach dem linguistic turn immer nur als sprachlich bzw. symbolisch erschlossene zugänglich: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«4 Dass Sprache eine unhintergehbare Erkenntnisbedingung ist, ist heute unbestritten. Umstritten ist hingegen die These, dass es keine Realität jenseits der Sprache gibt bzw. eine solche unerreichbar ist. Nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Religionen erheben hier Einspruch. 1.2  Religion im Horizont von Sprache Die These von der Unhintergehbarkeit der Sprache betrifft alle Wirklichkeitsbereiche – auch die Religion. Unzweifelhaft spielen in den Religionen vorsprachliche religiöse Erfahrungen, wie sie beispielsweise durch Musik, Liturgie oder Meditation evoziert werden, eine bedeutsame Rolle.5 Doch verharren solche Erfahrungen nicht im Namenlosen, sie suchen geradezu nach einem sprachlichen Ausdruck. Generell gilt: Nur indem Religion auf den Begriff gebracht wird, kann sie existenzielle Bedeutsamkeit erlangen und in einer pluralen Welt in den Diskurs mit den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen und Weltanschauungen treten. Christian Danz geht in seinen Überlegungen zu Religion und Sprache noch einen Schritt weiter.6 Er hebt zu Recht den Religionsbegriff als Fundament einer modernen Religionspädagogik bzw. Theologie hervor. Diesen fasst er kommunikationstheoretisch. Religion fußt demnach nicht auf einer Wesenseigenschaft des Menschen, sondern ist eine »geschichtlich gewordene Weise sprachlicher Selbstdeutung von Menschen«7. Diese entsteht erst in der religiösen Kommunikation. Dass Menschen ein religiöses Selbstverständnis ausbilden, ist möglich, aber nicht notwendig. Danz zufolge entsteht Religion als eine eigene Form in der Kultur aus dem Wechselverhältnis dreier Größen, nämlich religiöser Überlieferung, Sich-Verstehen und Selbstdarstellung. Im Einzelnen:8 4 5 6

7 8

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.6; vgl. auch 5.6.2 (Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 41988). Zum Folgenden vgl. Martin Breul, Die Versprachlichung des Religiösen, in: IRP-IMPULSE (1/2018), 4–9. Vgl. hierzu Christian Danz, Sprache, Kommunikation, Religionsunterricht. Theologische Annäherungen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 21–36. Ebd., 27. Vgl. ebd., 27–30.

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Ȥ Religiöse Überlieferung: Religion ist immer abhängig von geschichtlichen Überlieferungen. Dies können Riten, Ursprungsnarrative oder heilige Schriften sein. Religiöse Menschen haben an einer ihnen vorauslaufenden religiösen Kommunikation teil, die durch symbolische Formen und Ordnungen strukturiert ist. Individuelle Religiosität zehrt von einer vorgegebenen Welt symbolischer Formen und partizipiert so an einer geschichtlich gewordenen Sozialität und Kultur. Ȥ Sich-Verstehen: Religion beruht nicht allein auf einem sprachlichen Überlieferungskomplex, sondern auch auf der individuellen Aneignung religiöser Sprache in religiöser Kommunikation. Das bloße Hören religiöser Rede stiftet noch keinen Glauben. Es bedarf eines individuellen Vollzugs, der wiederum an religiöse Kommunikation gebunden ist. Ȥ Selbstdarstellung: Das Sich-Verstehen sucht nach einem Ausdruck. Dazu bedient es sich Deutungsschemata, Medien und symbolischer Formen, die von einer Kultur bereitgestellt werden. Indem das Sich-Verstehen religiös beschrieben wird, »bildet sich Religion als eine Sinnform in der Kultur heraus und setzt sich durch Kommunikation fort«9. Dadurch, dass religiöse Sprache individuell angeeignet wird, unterliegt sie einer permanenten Umformung, die allerdings nicht willkürlich geschieht, sondern im Rahmen einer Kultur und deren Ordnungen.10 Konnte im 19. Jahrhundert noch von einer kulturellen Einheit ausgegangen werden, die durch Religion gestützt wird, hat sich im 20. Jahrhundert Kultur hochgradig ausdifferenziert und pluralisiert. Dies hat Auswirkungen auf die religiöse Kommunikation: Die Vielfalt heutiger Kultur spiegelt sich in der Vielfalt religiöser Sprache, und umgekehrt verwendet kulturelle Kommunikation religiöse Sprache in mannigfaltiger Weise. Die vorangegangenen Überlegungen ergeben einen Leitfaden zur näheren Entfaltung der Thematik dieses Beitrags. Ausgehend von der Tatsache, dass jeder religiösen Rede ein tradiertes Zeichensystem vorausliegt, befasst sich der folgende Abschnitt mit dem Verhältnis von Jugendlichen und der überkommenen Sprache der Religion (2.). Ihm folgen Überlegungen, in denen nach dem religiösen Selbstverständnis junger Menschen und dessen sprachlicher Darstellung gefragt wird (3.). Daran schließt sich ein Part an, der den Wandel religiöser Sprache durch ihre Begegnung mit moderner (Jugend-)Kultur in den Blick nimmt (4.).   9 Ebd., 29. 10 Vgl. ebd., 30–32.

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2 ­Junge Menschen und religiöse Sprache als Sprache der Religion Klassische Orte, an denen Heranwachsende der Sprache der Religion begegnen, sind u. a. Gottesdienst, kirchliche Jugendarbeit, Jugendkirchen und Religionsunterricht, wobei die Bedeutung des Ersteren seit vielen Jahren einen rasanten Niedergang erfährt, während Letzterer nach wie vor hohe Akzeptanz genießt. Diesen Begegnungen haftet seit gut einem halben Jahrhundert das Odium des Versagens kirchlicher Sprachsetzungen an.11 Kirchliche Sprache gilt als schal, inhaltsleer, formelhaft, erstarrt, verknöchert – um nur einige der »kanonisch« gewordenen Negativattribuierungen zu nennen. Die Rede von Gott ist zur Fremdsprache geworden, so lautet die Diagnose. Sie inkludiert zwei Befunde: ein Versagen bzw. einen Sprachverlust seitens der kirchlich-religiösen Rede und ein Versagen bzw. religiöse Sprachlosigkeit auf Seiten der Subjekte.12 Verschiedene therapeutische Maßnahmen sind unternommen worden, um der Krise der Gottesrede entgegenzutreten. Zwei seien näher beleuchtet. 2.1  Das Youcat-Projekt Ausweislich des Vorworts von Papst Benedikt XVI. sollte der 2011 erschienene Youcat nicht weniger wagen, als »den Katechismus der Katholischen Kirche in die Sprache der Jugend zu übersetzen« und »seine großen Aussagen in die Welt der jungen Menschen von heute hineinzuholen«13. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden 65 Jugendliche aus verschiedenen Kontinenten zur Mitarbeit am Jugendkatechismus eingeladen. Das Youcat-Projekt fand ein geteiltes Echo: von begeisterter Zustimmung bis hin zu entschiedener Zurückweisung.14 Seitens der (katholischen) Religionspädagogik überwogen deutlich die ablehnenden Stimmen. Dem Youcat wurden zahlreiche Mängel in Bezug auf Konzeption und Inhalt attestiert. Seine Spra11 Schon zu Beginn der 1970er-Jahre verfasste Hans Zirker ein Buch mit dem Titel »Sprach­ probleme im Religionsunterricht« (Düsseldorf 1972). 12 Vgl. Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung, Stuttgart 2011, 15–24. In seiner Studie »Jugendliche Intensiverfahrungen. Qualitativempirischer Zugang und religionspädagogische Relevanz« (Graz 1999) konstatierte Burkard Porzelt ein völliges Auseinanderfallen von Sprechweisen, mit denen junge Menschen existenziell bedeutsame Erfahrungen ausformen, und der Sondersprache der kirchlichen Tradition. Beide verhielten sich zueinander wie »Fremdsprachen« (hier 252–260). 13 Youcat. Jugendkatechismus der katholischen Kirche, Königstein/Ts. 122015, 9. 14 Zur Diskussion vgl. etwa Christoph Schönborn/Michael Langer/Christine Mann (Hg.), Das YOUCAT-Projekt. Bedeutung – Chancen – Visionen, München u. a. 22011; Thementeil »Der Jugendkatechismus«, in: KatBl 136 (2011), H. 5.

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che wurde als »häufig abgehoben, weltfremd und antiquiert, nicht immer aus der Feder heutiger Jugendlicher«15 beurteilt. Eine solche Sprache »schreckt ab, grenzt aus und stellt bereits alles klar«16. Die folgenden beiden Beispiele zeigen exemplarisch, wie sehr das Bedürfnis nach theologischer Korrektheit und Rückbindung an die etablierte kirchliche Sprach- und Bilderwelt die Redeweise des Youcat prägt. Textbeispiele aus dem Youcat17

»14 Ist die Heilige Schrift wahr? Die Heiligen Schriften lehren ›sicher, getreu und ohne Irrtum‹ die Wahrheit, weil sie inspiriert sind, d. h. auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben wurden und deshalb ›Gott zum Urheber‹ haben (Zweites Vatikanisches Konzil, DV 11).« »194 Was ist die Taufe? Die Taufe ist der Weg aus dem Reich des Todes in das Leben; das Tor in die Kirche und der Beginn einer bleibenden Gemeinschaft mit Gott.« Im Grunde verbleibt der Youcat, was Zielgruppe, Inhalt und Sprache angeht, im kirchlichen Binnenraum. Nicht die Jugendlichen stellen ihre Fragen in der ihnen eigenen Sprache, sondern der Youcat katalogisiert Fragen, die Jugend­ liche stellen sollen. Nicht die persönlichen Glaubensbekenntnisse junger Menschen kommen zur Sprache, sondern nach Inhalt und Diktion genormte Antworten, die Jugendliche glauben sollen. Bei allem modernen Anstrich im Layout konnte der Youcat keinen weiterführenden Beitrag zur Bewältigung der Krise kirchlich-religiösen Sprechens leisten; im Gegenteil, er ist ein Dokument, das die »ganze Sprachlosigkeit«18 des kirchlichen Dialogs mit der Jugend offenbart. 2.2 Jugendkirchen Jugendkirchen verstehen sich, kurz gesagt, als ein Weg, die tiefe Kluft zwischen individueller Religiosität und institutioneller Religion zu überbrücken.19 Die15 Stephan Leimgruber, Pro und Kontra Youcat, in: KatBl 136 (2011), 362–365, hier 363. 16 Ebd. 17 14 bzw. 194 bezeichnen Fragenummern. Schriftattribute wurden bei der Zitation ignoriert. 18 Andrea Heim, Jugend braucht einen eigenen Katechismus, in: Schönborn/Langer/Mann, YOUCAT-Projekt, 118–122, hier 121. 19 Vgl. Hans Hobelsberger, Bridge the gap. Jugendkirchen als Ort der Vermittlung zwischen Religiosität und Religion, in: Ulrich Kropač/Uto Meier/Klaus König (Hg.), Zwischen Religion und Religiosität. Ungebundene Religionskulturen in Religionsunterricht und kirchlicher Jugendarbeit – Erkundungen und Praxis, Regensburg 2015, 185–196.

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ser Prozess umfasst zwei Bewegungen: Einerseits versuchen Jugendkirchen, das Evangelium so ins Spiel zu bringen, »dass deutlich wird, dass es sich lohnt, bei Lebensfragen auch das Evangelium und die Auslegungen seiner Traditionsund Erzählgemeinschaft in Betracht zu ziehen«20. Andererseits erfolgt, komplementär dazu, ein Ansatz bei jugendkulturellen Ausdrucksformen. In diesem Vermittlungsprozess spielt Sprache eine Schlüsselrolle, wiederum in einer Doppelbewegung: Auf der einen Seite hört Jugendkirchenarbeit auf die Sprache junger Menschen, in der diese ihre existenziellen Fragen thematisieren, auf der anderen Seite schlägt sie das Evangelium als ein Medium vor, mit solchen Fragen umzugehen, indem sie es in der Sprache junger Menschen ausdrückt.21 Die folgende Äußerung einer Jugendlichen belegt exemplarisch, dass es Jugendkirchen durchaus gelingen kann, einen für junge Menschen verstehbaren Ton religiöser Rede anzuschlagen. Äußerung einer Besucherin der Jugendkirche effata in Münster (Gymnasiastin, 18 Jahre)

»Wenn ich jetzt z. B. sonntags in die ›normale‹ Messe gehe, jetzt bei uns in der Kirche, dann kann ich mir so Sachen, die da erzählt werden, ganz schlecht vorstellen. Weil das sind Geschichten aus dem alten/neuen Testament, die aber jetzt nicht aus unserem Alltag gegriffen sind und da finde ich es irgendwie schwierig den Draht dazu zu finden. Hier in der Jugendkirche werden so Szenen […] total gut verdeutlicht an Sachen, die wir auch verstehen. Durch Film, Musik, Geschichten oder auch durch die Aktion, dass man sich bestimmte Begriffe aussucht und sich so damit identifizieren kann. Das Erlebnis ist ganz speziell. Da können sich, glaube ich, Jugendliche echt besser mit Kirche identifizieren, als wenn man jetzt in die Sonntagmorgenmesse um 09:00 Uhr geht.«22 Es ist typisch für Jugendkirchen, dass ihre Konzepte und Strukturen fluide sind – andernfalls würden sie zu dem aushärten, was sie gerade vermeiden wollen: institutionalisierten Gebilden. Bei aller Dynamik und Diversität jugendkirchlicher Ansätze bleibt als eine Konstante der konzeptionelle Anspruch, Religiöses in der Sprache junger Menschen anzubieten. Inwieweit er in der Praxis eingelöst wird, ist von außen nur schwer zu beurteilen.

20 Ebd., 191. 21 Vgl. ebd., 186. 22 Zitiert nach ebd., 186 f.

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3  Religiöse Sprache als Ausdruck jugendlicher Religiosität 3.1 Religiöser Sprachverlust oder religiöse Suchsprache bei jungen Menschen? Wiewohl häufig vorgetragen, ist die Doppelthese vom Sprachverlust der Religion und der religiösen Sprachlosigkeit des Menschen in Zweifel zu ziehen bzw. zu modifizieren. Stefan Altmeyer zufolge ist es angemessener, von einer »grundlegenden Transformation der Gottesrede zu sprechen: weg von der (christlichen) religiösen Sprache im Singular hin zu einem Plural je individueller religiöser Sprachen«23. Präzisierend könnte man sagen: Junge Menschen verwenden in rebus religionis eine »Suchsprache«24, d. h., sie verändern überlieferte Formen der Gottesrede. Der »eigensinnige« Umgang junger Menschen mit religiösem Vokabular sei an einem Beispiel veranschaulicht. Empirische Untersuchungen25 zeigen, dass Heran­wachsende die Begriffe »gläubig« und »religiös« zu unterscheiden wissen.26 Bei der Selbstbeschreibung ihrer Einstellung geben sie dem Prädikat »gläubig« ganz klar den Vorzug vor der Bezeichnung »religiös«. Für sie ist »gläubig« der offenere Begriff, während sie mit »religiös« häufig eine kirchlich gebundene Religionsausübung verbinden. Damit stellen sie die gängige religionstheoretische Semantik auf den Kopf: Hier ist Religion der weitere, Glaube der engere Begriff; mehr noch, Glaube ist eine Basisvokabel christlicher Theologie und kirchlichen Lebens. 3.2  Zur Signatur jugendlicher Religiosität Aus verschiedenen empirischen Studien lassen sich Merkmale jugendlicher Religiosität eruieren.27 Diese erweist sich »als vielfältig und individualisiert und folgt in vielerlei Hinsicht den Anforderungen eines stark säkularisierten Alltags«28. 23 Altmeyer, Fremdsprache, 313 f. 24 Paul K. Kurz, Unsere Rede von Gott. Sprache und Religion, Münster 2004, 2. 25 Zuletzt: Friedrich Schweitzer u. a. (Hg.), Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht, Münster u. a. 2018. 26 Vgl. Ulrich Kropač, Ungebundene Religiosität und Konfessionslosigkeit im Religions- und Ethikunterricht, in: Golde Wissner u. a. (Hg.), Jugend – Glaube – Religion II. Neue Befunde – vertiefende Analysen – didaktische Konsequenzen, Münster u. a. 2020, 129–137, hier 130 f. 27 Vgl. dazu Ulrich Riegel, Religiosität junger Menschen, in: Angela Kaupp/Patrik C. Höring (Hg.), Handbuch Kirchliche Jugendarbeit. Für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. u. a. 2019, 143–155; Ulrich Kropač, Art. Religiosität, Jugendliche, in: WiReLex (2015), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100087/ (Zugriff am 25.9.2020). 28 Riegel, Religiosität, 145.

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Ihre Rückbindung an religiöse Institutionen nimmt kontinuierlich ab. Für die Entwicklung ihrer Religiosität ist Religion ein Gegenstand, dem junge Menschen weder eindeutig positiv noch eindeutig negativ gegenüberstehen. Inhaltliche Geltungsansprüche treten in den Hintergrund, ebenso die Wahrheitsfrage als Herzstück der Theologie. Gesucht werden vielmehr die expressiven Seiten des Religiösen, Religion will erspürt und erlebt werden. Jugendliche Religiosität ist synkretistisch imprägniert, wobei der Synkretismus nicht zu einem »Religionscocktail« tendiert. Dies hängt damit zusammen, dass jugendliche Religiosität noch immer verhältnismäßig stark aus dem kulturellen Vorrat des Christentums schöpft, allerdings nur mehr im Modus fragmentarischer Aneignung und ohne Übernahme des inhärenten Wahrheitsanspruchs christlicher Aussagen, Symbole und Riten. Ähnliches zeigt sich in Bezug auf die religiöse Sprache Heranwachsender: Sie generieren keine eigene religiöse Jugendsprache, sondern sampeln nach eigenem Ermessen hergebrachte (christliche) Sprachmuster. 3.3  Religiöse Sprache junger Menschen – Beispiele Wie junge Menschen ihre Religiosität in Sprache kleiden, wird nachfolgend anhand einiger Beispiele gezeigt. Um es vorweg zu sagen: Diese sind nicht repräsentativ und können es auch gar nicht sein: Individualität ist nicht repräsentativ! Ausgewählt wurden drei Themenbereiche: der eigene Glaube, Vorstellungen von Gott und das persönliche Gebet.29 (1) Der eigene Glaube

Glaube ist für Jugendliche etwas sehr Individuelles.30 Er ist nicht an Religion und Kirche gebunden. Zur näheren Charakterisierung ihres Glaubens greifen junge Menschen immer wieder auf die Begrifflichkeit »höhere Macht« zurück. Glaube verheißt Sicherheit, Orientierung und Sinn, ohne dass er deswegen zu einer den Alltag oder das ganze Leben prägenden Größe würde. Dass Jugendliche zum Glauben gekommen sind, schreiben sie in erster Linie Erziehung und Sozialisation zu. Anderen Jugendlichen bedeutet der Glaube nichts, Gott spielt in ihrem Leben keine Rolle. Die folgenden Textbeispiele belegen dies: »Ich bin eigentlich davon überzeugt, dass es irgendwie eine höhere Macht gibt oder so, weil sonst wäre das ganze Leben hier auch vielleicht auch so, 29 Andere, wie z. B. eschatologische Fragen, die Einstellung zur Kirche und das Verhältnis zu anderen Religionen, mussten aus Platzgründen ausgespart werden. 30 Zum Folgenden inkl. der Beispiele vgl. Schweitzer u. a., Jugend, 202–206.

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vielleicht sinnlos, man kann sich dann ja dann auf nichts freuen, wenn’s vorbei ist oder so.« (Wolke, w, 22 Jahre) »Also ich glaub auch daran, aber teilweise liegt das, glaub ich, auch an der Erziehung, aber auch so vom Persönlichen kann ich mir nichts Anderes vorstellen.« (Hannah, w, 17 Jahre) »Also mein persönlicher Glaube hat sich teilweise verfestigt, teilweise mehr gelöst, weil ich viel mehr Leid sehe. Und Leid einfach in der Hinsicht, weil das einfach so ungerechtes Leid ist.« (Bernadette, w, 21 Jahre) »Ich glaube nicht. Weil ich kann mir das nicht vorstellen, dass da irgendwo was sein soll.« (Teddy, m, 18 Jahre) (2) Vorstellungen von Gott

Die Zahl junger Menschen, die ein persönliches Gottesbild pflegen, sinkt seit vielen Jahren.31 Im Gegenzug gewinnen Vorstellungen an Bedeutung, in denen Gott als höhere Macht aufgefasst wird. An diese kann geglaubt werden, ohne einer verfassten Religionsgemeinschaft anzugehören. Die höhere Macht kann Kraft geben und Schutz verleihen, was sie in die Nähe eines persönlichen Gottes rückt, ohne dass Jugendliche damit an biblische oder theologische Sprach- und Denkmuster anschließen wollen. Im Gegenteil, es ist sogar möglich, an diese Macht zu glauben, selbst wenn man nicht an Gott glaubt. Exemplarisch dafür sind die folgenden Äußerungen Heranwachsender: »Ich weiß jetzt nicht, ob man das Gott nennen könnte, aber irgendwie, so eine höhere Kraft oder etwas, wo man sich halt dran festhalten kann, ist schon ziemlich wichtig, finde ich.« (Merida, w, 17 Jahre) »Also für mich ist diese Kraft vor allem die Einheit, dies Verbindende.« (Sophia, w, 16 Jahre) »Also ich glaub nicht an Gott. Nicht an den Gott, den Kirche versucht uns zu beschreiben. Er wird durchaus immer männlich dargestellt, was für mich, also ich bin keine Feministin, aber was für mich … Gott kann auch genauso gut weiblich sein, Gott kann aber auch beides sein.« (Maja, w, 18 Jahre) (3) Das persönliche Gebet

Studien zeigen, dass die religiöse Praxis junger Menschen seit geraumer Zeit kontinuierlich nachlässt.32 Geblieben sind zwei Fixpunkte: kirchliche Feiertage mit der Familie und das persönliche Gebet. Letzteres hat häufig einen privaten, 31 Vgl. ebd., 214–216. 32 Vgl. ebd., 196–200.

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intimen Charakter. Meist findet das private Gebet nicht regelmäßig statt. Es lebt aber dann in besonderer Weise auf, wenn schwierige Situationen wie Prüfungen oder Leiderfahrungen zu bewältigen sind. Andere Jugendliche messen dem Gebet keine Bedeutung bei: Es hilft ihnen nicht und sie brauchen es nicht. Welchen Stellenwert das persönliche Gebet für Heranwachsende (nicht) hat, sei an einigen Beispielen illustriert: »Wenn ich schwierige Situationen habe oder wenn ich Angst habe vor irgendwas oder irgendwie eine Prüfung, eine größere, dann kann ich zu Gott beten und ich weiß, dass er bei mir ist und mir hilft und ich dann keine Angst habe und ich merke dann selbst, wie ich ruhiger werde und dann gut durchkomme.« (Alex, m, 17 Jahre) »Jetzt so überaus religiös würde ich mich selber nicht bezeichnen. Ich gehe nicht jeden Sonntag in die Kirche und auch nicht jedes Ostern und jedes Weihnachtsfest, aber ich glaube trotzdem an Gott und ich bete genauso.« (Vanessa, w, 24 Jahre) »Ich [bin] da nicht so, dass ich jetzt versuche, irgendwie zu Gott zu beten oder sowas, weil ich sowas auch schon mal hatte, und das einfach nichts gebracht hat.« (Henriette, w, 16 Jahre)

4 Religiöse Sprache im Wandel – zur Prägekraft moderner (Jugend-)Kultur Religiöse Sprache ist nicht unveränderlich. Selbst wenn ihr Wortlaut über die Zeit identisch bleiben würde, so doch nicht ihre Semantik: Worte, Sätze, Texte haben niemals eine Bedeutung »an sich«, sondern nehmen diese in Abhängigkeit von ihrer kulturellen Einbettung je neu an. Tatsächlich wandelt sich nicht nur die Semantik religiöser Sprache, sondern sie selbst verändert sich in Diktion und Inhalt, indem sie Anschluss an die sie umgebende Kultur sucht. Weil Kultur in der Moderne vielgestaltig ist, muss es auch religiöse Sprache sein. Für junge Menschen ist es heute immer weniger der kirchliche Binnenraum, wo sie auf religiöse Themen, Bilder, Symbole und Sprachformen treffen, sondern die profane Kultur, insbesondere die Popularkultur. Hier empfangen sie Anregungen für die Ausbildung ihrer religiösen Identität. Umgekehrt stellen (pop-)kulturelle Formate ein Medium dar, mit dessen Hilfe Jugendliche ihre Religiosität kommunizieren. Zwei ganz unterschiedliche kulturelle Orte für die Ausbildung religiöser Sprache bei Heranwachsenden werden im Folgenden näher betrachtet.

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4.1  Poetry Slams als Erfahrungsraum religiösen Sprechens 1986 erstmals in Chicago erprobt, verbreitete sich der Poetry Slam seit den 1990er-Jahren weltweit. Längst schon ist er kein Nischenformat mehr, sondern eine etablierte kulturelle Größe, die eine beachtliche Zahl von Menschen in den Bann zieht. In jüngster Zeit gibt es Versuche, Poetry Slam in der Jugendpastoral fruchtbar zu machen.33 Poetry Slams ermutigen junge Menschen, über ihren Glauben nachzudenken und ihn kreativ in Wort und Performance zur Sprache zu bringen. Individuelle Religiosität bekommt so öffentliche Gestalt. Zugleich weitet sich »religiöse Kommunikation über das Theotop hinaus«34. So spricht – um ein Beispiel zu geben – die Slammerin Luzie Kübler mit ihrer Aussage, was Glaube meint, gleichermaßen religiöse und nichtreligiöse Zuhörer:innen an: Slammerin Luzie Kübler (w, 15 Jahre)

»Jo Menschen, glaubt woran ihr wollt. Solang ihr damit keinem physisch oder psychisch schadet, ist es okay. Ich glaub ja selber auch an … Kram. Nur eines will ich euch noch sagen. Wir wissen nicht, was nach dem hier kommt. Deswegen heißt es auch Glauben. Wir wissen nur sicher, dass wir das hier momentan haben. Also macht was draus!«35 In ihrer Relevanz für religiöse Sprache sind Poetry Slams zu religiösen Themen weder unter- noch überzubewerten. Ihre Chance liegt darin, dass junge Menschen ihrer Religiosität vor einem größeren Publikum einen kreativen Ausdruck geben. Möglicherweise erhalten so manche der Zuhörenden Impulse für die eigene Religiosität. Anderen wiederum liegt es fern, in die Tiefen gläubiger Rede hinabzusteigen, sie freuen sich über eine geistreiche, unterhaltsame Vorstellung. 4.2  Religiöse Sprache im Internet Während kirchlich gebundene Religiosität immer weiter abnimmt, blüht in digitalen Lebenswelten eine eigenständige reiche Religionskultur. Dabei ist es nicht immer leicht, die religiösen Phänomene einzuordnen: Zu fragen ist nach der Grenze zwischen Religiösem und Quasireligiösem, was sogleich das Problem einer geeigneten Religionsdefinition aufwirft; zu klären ist, ob die Verwendung 33 Vgl. dazu Simone Birkel (Hg.), Spoken Words. Poetry Slam in der Jugendpastoral, München 2018. 34 Simone Birkel, Holy Shit! Warum Poetry Slams für die jugendpastorale Arbeit attraktiv sind, in: Birkel, Words, 108–124, hier 122. 35 Zitiert nach ebd., 121.

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religiöser Bilder, Symbole und Sprachformen im Dienst religiöser Kommunikation steht oder nichtreligiöse Zwecke verfolgt; zu unterscheiden ist zwischen Religion Online, was die Onlinepräsenz einer auch offline existierenden religiösen Gemeinschaft meint, und Online Religion, womit Gemeinschaften angesprochen sind, die nicht offline existieren, sondern ausschließlich im Netz religiöse Kommunikation pflegen und zu religiösen Vollzügen einladen. Vor allem junge Menschen erfahren ihre religiöse Sozialisation mehr und mehr abseits des kirchlichen Einflusses durch digitale Medien. Ihrer fluiden Religiosität entsprechen die offenen Kommunikations- und Gestaltungsräume des Internets. Dies hat Auswirkungen auf die religiöse Sprache. Sie wird vielfältiger: einmal, weil das Netz Raum für persönliche religiöse Artikulationen gibt, dann, weil in den unterschiedlichen Bereichen des religiösen Angebots im Netz – Blogs und Foren, Nachrichtenseiten und Kommentarspalten, religiöse Sinnangebote, soziale Medien – eine je eigene Sprache verwendet wird.36 Microinfluencerin Kea von Garnier (35 Jahre)

»›Gott‹ könnte eine Kraft in uns sein, die wir anzapfen können oder auch nicht. Etwas, das wirkt und das groß ist, das Halt geben kann. Vielleicht ist ›Gott‹ ein Synonym für Hoffnung, vielleicht ist ›Gott‹ die Fähigkeit des Menschen, zu hoffen.«37 In dem Blogbeitrag zeigt sich eine tastende religiöse Sprache. Gott könnte (!) eine Kraft sein, die immanent, nicht transzendent gedacht wird. Doch das ist nicht sicher. Die Bloggerin macht daher ein anderes Angebot, Gott zu verstehen: Er wird, erneut immanent, als eine menschliche Fähigkeit gedeutet: hoffen zu können. Hier zeigt sich eine Parallele zum christlichen Glauben, der die Hoffnung zu den theologalen Tugenden zählt.

5 Ausblick: Chancen religiöser Sprachbildung im Religionsunterricht Jungen Menschen religiöse Sprachkompetenz abzusprechen, weil sie die tradierte kirchliche Sprache nicht gebrauchen, ist verfehlt. Heranwachsende entwickeln ihre Religiosität selbstsozialisatorisch. Zu deren Versprachlichung greifen 36 Vgl. Jonas Müller, Religiöse Sprache im Netz, in: IRP-IMPULSE (1/2018), 46 f., hier 46. 37 Kea von Garnier, Blogbeitrag: Eine nicht abschließende Betrachtung von »Gott«, https://keaschreibt.de/eine-nicht-abschliessende-betrachtung-von-gott/ (Zugriff am 25.9.2020).

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sie auf den Sprachschatz der christlichen Tradition zurück, allerdings nur punktuell und selektiv. Wachsenden Einfluss auf die religiöse Sozialisation Jugendlicher haben die digitalen Medien, die Religiöses in transformierter Gestalt und in unterschiedlichen Sprachformen anbieten, häufig außerhalb kirchlicher Autorität. In dieser Situation sind die Chancen des Religionsunterrichts gut, zur Ausbildung der religiösen Sprachkompetenz junger Menschen beizutragen. Religionsunterricht ist seit der Würzburger Synode von 1974 kein verkündigender Unterricht mehr – mithin sind entsprechende Sprachformen obsolet. Ebenso wenig ist er eine theologische Vermittlungsinstanz, was die Bedeutung theologischer Begrifflichkeit zwar nicht aufhebt, aber deutlich relativiert. Aufgabe des Religionsunterrichts ist religiöse Bildung. Das aber bedeutet: Was Gegenstand religiöser Lehr-Lernprozesse werden soll, bedarf einer pädagogischen Transformation. Aus Religion wird, um in einer Kurzformel mit Burkard Porzelt zu sprechen, Religion der Schule.38 Daher greift Religionsunterricht zu kurz, wenn er sich in Bezug auf religiöse Sprachbildung primär als eine Art Fremdsprachenunterricht versteht, der die Schüler:innen in die ihnen fremde Sprache der (christlichen) Religion einführen will. Diese Aufgabe hat er auch. Aber ebenso wichtig ist es, die religiöse Rede junger Menschen als solche zu erkennen und wertzuschätzen sowie Impulse zu ihrer Weiterentwicklung zu geben. Dies kann nicht ohne Bezug auf sprachgenerierende Orte moderner Jugendkultur gehen, die heute vor allem in einer digitalisierten Welt und in den sozialen Medien lokalisiert sind. Entsprechend sind ganz unterschiedliche Wege religiöser Sprachbildung denkbar. So lohnt es, Schüler:innen einzuladen, ihre Vorstellungen über christliche Topoi wie z. B. »Himmel« oder »Hölle« zur Sprache zu bringen, um sie dann mit der traditionellen Semantik auf Divergenzen und Konvergenzen zu vergleichen. Ergänzend zu biblischen Texten können literarische gelesen und gedeutet werden. Gerade der Gegenwartsliteratur – hier speziell der Kinder- und Jugendliteratur – mangelt es nicht an religiösen Motiven, die sie in ihr eigenen Sprachspielen, fern vom theologischen Binnenverständigungsvokabular, verarbeitet. Schließlich erweist sich die Popkultur als Fundgrube. Nur ein Beispiel: Mehr als 64.000.000-mal (!) wurde der Song »Ist da jemand« von Adel Tawil auf YouTube aufgerufen. Offenbar interessiert diese Frage – und Tawils Antwort »Da ist jemand«. Schüler:innen können sich der Textstruktur bewusst werden, das Video kommentieren und ihre Kommentare mit denen anderer User:innen 38 Vgl. Burkard Porzelt, Die Religion (in) der Schule. Eine religionspädagogische und theologische Herausforderung, in: RpB 54/2005, 17–29.

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vergleichen. Nichtreligiöse und religiöse Deutungen können so gleichermaßen zur Sprache kommen.

Prof. Dr. theol. habil. Ulrich Kropač ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts Andrea Schulte

1  Im Fokus: Die Sprachlichkeit des Religionsunterrichts In der Praxis des Religionsunterrichts sind die folgenden beispielhaften Situationen nicht untypisch. Die Schüler:innen setzen sich wissensbasiert mit der Unterscheidung von historischem Jesus und verkündigtem Christus auseinander. Auf Bitten der Lehrperson erklären sie nach der Lektüre eines neutestamentlichen Textes den Begriff »Gleichnis« und beschreiben anschließend die Umwelt Jesu. Sie umreißen das Thema »Konsumverzicht« und legen ihre eigenen Erfahrungen dar. Sie diskutieren über die lebensgeschichtliche Bedeutung der Konfirmation. Sie geben Statements zur gegenwärtigen Bestattungskultur ab und formulieren kritische Einwände. Sie tauschen Argumente für ihre Haltung zum Abendmahl aus. Die Beispiele veranschaulichen, dass die Schüler:innen im Unterricht nicht einfach irgendwie miteinander reden sollen. Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Unterrichtsgegenständen hat bestimmten kommunikativen Erwartungen zu genügen, die Fachinhalte entsprechend vorgegebener (sprachlicher) Handlungsaufforderungen intersubjektiv und differenziert in Anschlag zu bringen. Mithin sind nicht allein fachlich-inhaltliche, sondern auch sprachliche Anforderungen zu erfüllen. Fachtypische Praktiken wie die genannten fordern die Lernenden heraus, ihr auf Religion bezogenes Wissen und Können gemäß bestimmter sprachlicher »Diskursauflagen« adäquat anzuwenden. Die gegebenen Beispiele verorten sich im Kontext der gegenwärtigen wissenschaftlichen Befassung mit der Sprachlichkeit schulischen Fachunterrichts. Einschlägige Untersuchungen verweisen auf den engen Zusammenhang von fachlichem und sprachlichem Lernen und plädieren nachdrücklich für einen sprachbewussten Fachunterricht.1 Diesem Konzept liegt die These zugrunde, 1 In Auswahl: Bernt Ahrenholz u. a. (Hg.), Fachunterricht, Sprachbildung und Sprachkompetenzen, Berlin/Boston 2019, 1–16; Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hg.), Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache, Münster/New York 2018; Gabriele Kniffka/Thorsten Roelcke, Fachsprachenvermittlung im Unterricht, Paderborn 2016; Magdalena Michalak/Valerie Lemke/Marius Goeke (Hg.), Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprach-

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dass für einen guten Unterricht parallel die fachliche und sprachliche Kompetenzentwicklung der Lernenden konstitutiv sind. Sprachbildung als grundlegende und durchgängige Aufgabe schulischer Bildung quer zu allen Unterrichtsfächern führt nicht allein zu einem besseren Fachverständnis. Jedes Fach leistet damit auch einen eigenen Beitrag zum schulischen Bildungsziel der gesellschaftlichen Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit.2 Denn die empirische Bildungsforschung hat längst auch die Sprache als einen entscheidenden inneren Faktor des Unterrichtsgeschehens identifiziert und diesbezügliche Forschungen initiiert, die die Bedeutung der Sprache für die Bildungsverläufe, Schulleistungen sowie eine gelingende bildungs- und unterrichtliche Teilhabe herausgearbeitet haben.3 Dementsprechend gewinnt die Sprache als Lernmedium im Fach(unterricht), sprich: im Kontext einer domänenspezifischen Bildung, an Bedeutung. An dem aktuellen Diskurs über die Bedeutung der Sprache im Fachunterricht beteiligt sich mittlerweile ein breites Spektrum geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher sowie mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer.4 Dabei führt die eigene wissenschaftstheoretische Verortung der jeweiligen Fächer zu unterschiedlichen Sichtweisen auf die Frage nach dem Verhältnis von Fachorientierung und Sprachorientierung, wie sie beispielsweise in der Frage »Fachunterricht gleich Sprachunterricht?« prononciert wird.5 Für den Fachunterricht Religion ist daran zu erinnern, dass Religion allgemein im Medium der Sprache kommuniziert wird. Einerseits liegt das religiöse Sprachspiel als tradierte Sprache in genuinen symbolischen, metaphorischen und narrativen Ausdrucksformen religiöser Erfahrung vor. Andererseits tritt es als religiöses Sprechen heutiger Sprachnutzer:innen in Erscheinung. Einerseits bringt sich die religiöse Kommunikation als Reden über Religion im interreligiösen Dialog zum Ausdruck. Andererseits ist sie Teil der öffentlichen Debatten einer pluralisierten Gesellschaft. Im bildenden Kontext der Institution Schule sind die Sprache und das Sprechen für das (religiöse) Lernen sowie die (religiöse)

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bewussten Unterricht, Tübingen 2015; Magdalena Michalak (Hg.), Sprache als Lernmedium im Fachunterricht. Theorien und Modelle für das sprachbewusste Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 2014; Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hg.), Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen, Münster 2013. Vgl. Kristina Peuschel/Anne Burkard, Sprachliche Heterogenität in der Schule, in: dies. (Hg.), Sprachliche Bildung und DaZ in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, Tübingen 2019, 15–51, hier 40. Vgl. Stefan Altmeyer, Sprachhürden erkennen und abbauen. Wege zu einem sprachsensiblen Religionsunterricht, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 35 (2019), 184–196, hier 184. Vgl. Fußnote 1; Angelika Redder u. a., Mehrsprachliches Handeln im Mathematikunterricht, Münster/New York 2018. Michalak, Sprache, 4.

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Kommunikation im Religionsunterricht substanziell. Der Religionsunterricht ist per se das Fach religiöser Sprachbildung. Es lenkt das Augenmerk auf die religiöse Sprach- und Ausdrucksfähigkeit seiner Schüler:innen in Sachen Religion, die in unterschiedlichen (religions)didaktischen Konstellationen geschult werden soll.6 Vor diesem Hintergrund kann ein enges Verhältnis von Fachlichkeit und Sprachlichkeit im Religionsunterricht konstatiert werden.

2 Religionsunterrichtliche Bildungsziele als sprachbezogene Kompetenzen religiöser Bildung Stefan Altmeyer hat darauf aufmerksam gemacht, dass die kirchlicherseits vorgelegten Bildungsstandards für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht vornehmlich indirekt auf den Aspekt der Sprachbildung eingehen. Nichtsdestotrotz verweisen sie auf verschiedene Aspekte sprachlichen Lernens im Religionsunterricht. Es lassen sich sprachliche Anteile in den Kompetenzformulierungen aufzeigen, sodass auch für den Religionsunterricht der enge Zusammenhang von fachlichen und sprachlichen Erwartungen und Anforderungen attestiert werden kann.7 Damit eröffnet sich ein neuer rezeptioneller Blick auf die kirchlichen Rahmenvorgaben, der die Sensibilität für die wechselseitige Bezogenheit von fachlichem und sprachlichem Lernen anzubahnen verhilft. Verständlicherweise sind die Kompetenzformulierungen allgemein gehalten und bieten in diesem Sinne Orientierung für die länder- und schulstufenspezifischen Lehrund Bildungspläne. In ihnen werden die Bildungsziele des Religionsunterrichts durch verbindlich erwartete Lernergebnisse konkretisiert und als Kompetenzen formuliert, die in konkreten inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzbereichen ausgewiesen sind und in allen Schuljahrgängen als fachliche Standards fungieren.8 Die folgenden Ausführungen lenken die Aufmerksamkeit auf die Bildungsziele des Faches Religion. In deren Anspruch, Schüler:innen zu befähigen, die eigene Religiosität bzw. Haltung zur Religion zum Ausdruck zu bringen, religiöse Sprache und Traditionen verstehen zu lernen, in eine religionsbezogene kommunikative Praxis hineinzuwachsen, am gesellschaftlichen und kulturellen 6 Vgl. Stefan Altmeyer, Zum Umgang mit sprachlicher Fremdheit in religiösen Bildungsprozessen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 191–205, hier 199 ff. 7 Vgl. Altmeyer, Sprachhürden, 190 ff. 8 Vgl. etwa Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1–4. Evangelische Religion, Hannover 2020, 10.

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Diskurs über Religion kritisch und selbstbestimmt teilzunehmen sowie partizipativ und kommunikativ zu handeln, tritt die Sprachlichkeit religiösen Lernens und Lehrens deutlich zutage.9 Der Aspekt eines sprachbewussten Religionsunterrichts akzentuiert die Bildungsziele auf ihr sprachbildendes Potenzial und erweitert das Bewusstsein für die Notwendigkeit religiöser Sprachbildung im Religionsunterricht vor dem Hintergrund der neueren bildungstheoretischen, schulpolitischen und religionsdidaktischen Entwicklungen. Folglich gilt es, im Kontext von Bildungsstandards stärker als bisher sprachbezogene Kompetenzen religiöser Bildung wahrzunehmen und bewusst zu machen. Dabei rückt die Frage nach den sprachlichen Anforderungen in den Bildungszielen in den Fokus, ist sie doch Teil der gegenwärtig religionspädagogisch und religionsdidaktisch anstehenden Aufgabe, »bei allen fachlichen stets die korrespondierenden sprachlichen Kompetenzerwartungen mitzudenken.«10 Die gegenwärtigen Kerncurricula, Lehr- und Bildungspläne der Länder für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht in allen Schuljahrgängen konkretisieren dessen Bildungsziele in sich gegenseitig bedingenden inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzen. Der Erwerb inhaltsbezogener Kompetenzen erfolgt durch die Nutzung prozessbezogener Kompetenzen und vice versa. Dabei gibt die Struktur religiöser Bildungsprozesse die folgenden Bereiche prozessbezogener Kompetenzen vor: Wahrnehmen und Darstellen, Deuten, Urteilen, Kommunizieren, Gestalten und Handeln. Jedem der Bereiche ist u. a. in Form von Verben ein breites Spektrum an Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen oder fachkommunikativen Kompetenzen zugeordnet, die als eine wichtige Voraussetzung für die Erschließung von Religion angesehen werden können. Diese sprachbezogenen Kompetenzen religiöser Bildung legen gleichzeitig auch die sprachlichen Anforderungen der Bildungsziele des Religionsunterrichts offen, Schüler:innen zu befähigen, im Alltag ausdrucks- und handlungsfähig in Sachen Religion zu werden.

  9 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2010, 17 ff. 10 Altmeyer, Sprachhürden, 189.

Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts

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3 Sprachlich-fachliche Anforderungswege und die Entwicklung von Sprachhandlungskompetenz als Bildungsziel des Religionsunterrichts Im Laufe der Bildungsbiografie von Kindern und Jugendlichen werden die sprachlichen Kompetenzerwartungen zunehmend komplexer. Dementsprechend werden auch die sprachlichen Anforderungen im Fachunterricht Religion auf einen systematischen Lernzuwachs hin zu entwickeln sein, um dem Prinzip eines fortschreitenden Könnens zu folgen und mit einer angemessenen Steigerung des fachlichen Anspruchsniveaus einherzugehen.11 Nachfolgend gilt es, diese formulierten Ansprüche anhand konkreter curricularer Vorgaben zu prüfen, an denen ein dementsprechender sprachlich-fachlicher Anforderungsweg von der Primarstufe in die Sekundarstufen abzulesen sein müsste. 3.1 Beispiel I: Die baden-württembergischen Bildungspläne für das Unterrichtsfach Katholische Religionslehre Die baden-württembergischen Bildungspläne für das Unterrichtsfach Katholische Religionslehre benennen im Kompetenzbereich Gott die folgenden Standards für übergeordnete inhaltsbezogene Kompetenzen, die immer auch mit den prozessbezogenen Kompetenzen korrelieren und die sprachlichen Anforderungen in den fachlichen Standards zu erkennen geben. Klassen 1/2: »Die Schülerinnen und Schüler beschreiben, welche Vorstellungen sie von Gott haben. Sie erzählen von Gotteserfahrungen und -vorstellungen von Menschen in der Bibel. Sie zeigen, wie Menschen ihren Glauben an Gott zum Ausdruck bringen.«12 Klassen 3/4: »Die Schülerinnen und Schüler vergleichen unterschiedliche Vorstellungen von Gott. Sie zeigen anhand biblischer Geschichten, wie Gott im Leben von Menschen wirkt. Sie setzen sich damit auseinander, wie Menschen ihren Glauben an Gott gestalten.«13 Klassen 5/6: »Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene Gottesvorstellungen beschreiben. Sie können grundlegende christliche Vorstellun-

11 Vgl. Eva Willebrand, Korrelativ – kritisch – kreativ. Konturen einer religiösen Sprachbildung im Religionsunterricht, in: Religionspädagogische Beiträge 80/2019, 70–81. 12 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Bildungsplan Grundschule. Katholische Religionslehre, Stuttgart 2016, 18. 13 Ebd., 31.

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Interdisziplinäre Perspektiven

gen und Bilder von Gott darstellen. Sie können untersuchen, wie Menschen ihre persönliche Gottesvorstellung zum Ausdruck bringen.«14 Klassen 7/8/9: »Die Schülerinnen und Schüler können beschreiben, wie sich Vorstellungen von Gott im Laufe des Lebens verändern. Sie können sich mit menschenfreundlichen und unterdrückenden Gottesvorstellungen auseinandersetzen. Sie können beschreiben, welche Bedeutung der Gottesglaube für die Lebensgestaltung haben kann.«15 Klasse 10: »Die Schülerinnen und Schüler können zeigen, dass die Frage nach Gott Menschen herausfordert. Sie können unter Berücksichtigung bi­bli­scher Texte Möglichkeiten und Grenzen des Redens von Gott aufzeigen. Sie können untersuchen, wie Menschen mit Glaubenskrisen umgehen.«16 Klasse 11/12 (zweistündiger/vierstündiger Kurs): »Die Schülerinnen und Schüler können sich mit Grundaussagen des christlichen Glaubens an Gott im Horizont philosophischen und theologischen Fragens auseinandersetzen.«17 Die in der Grundschule eingeschlagenen wahrnehmungs- und erfahrungsorientierten sowie bibelhermeneutischen Lernwege fokussieren die Frage nach Gott auf die persönlichen Vorstellungen der Lernenden sowie die Gotteserfahrungen der Menschen, von denen die Bibel erzählt. Darüber hinaus geht es um die menschlichen Ausdrucks- und Gestaltungsformen des Glaubens. Mit den Verben beschreiben, erzählen, zeigen, vergleichen, auseinandersetzen werden die sprachlichen Anforderungen angezeigt und die zu erwerbenden Sprachhandlungskompetenzen zum Ausdruck gebracht, die den fachlich-inhaltlichen Diskurs zur Gottesfrage in der Grundschule befördern sollen. Die in der Sekundarstufe I eingeschlagenen theologisch-hermeneutischen, biografischen und religionskritischen Lernwege fokussieren die Gottesfrage auf grundlegende christliche Vorstellungen und Bilder sowie auf die existenzielle Bedeutsamkeit des Gottesglaubens für die menschliche Lebensgestaltung. Mit Rückgriff auf biblische Texte geht es um die Tragweite religiöser Sprache. Die bereits in der Primarstufe grundgelegten fachkommunikativen Kompetenzen werden weiterhin gefördert, aber um solche des Untersuchens ergänzt. Die in der Sekundarstufe II eingeschlagenen analytischen und wissenschaftspropädeutischen Lernwege fokussieren die Gottesfrage auf Grundaussagen des christlichen Glaubens im philosophischen und theolo14 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Katholische Religionslehre, Stuttgart 2016, 18. 15 Ebd., 33. 16 Ebd., 50. 17 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Bildungsplan des Gymnasiums. Katholische Religionslehre, Stuttgart 2016, 45 u. 52.

Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts

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gischen Kontext. Das übergeordnete handlungsleitende Verb auseinandersetzen kann dem prozessbezogenen Kompetenzbereich Urteilen zugeordnet werden. In den Bildungsstandards ist ein integrativer Ansatz erkennbar: Gleichzeitig mit den fachlichen Inhalten sollen fachsprachliche Kompetenzen vermittelt werden. Die fachlich-inhaltliche Erschließung der Gottesfrage erfolgt progressiv ausgehend von den subjektiven Vorstellungen der Lernenden, deren Spiegelung in biblischen Geschichten sowie christlichen Bildern über die existenzielle Bedeutung des Glaubens bis hin zur wissenschaftsorientierten Auseinandersetzung. Parallel dazu erfolgt die Entwicklung von Sprachhandlungskompetenz. Die sprachlichen Anforderungen bringen sich in einer überschaubaren Anzahl von Diskursfunktionen in Form der Verben beschreiben, erzählen, vergleichen, auseinandersetzen, untersuchen, (auf)zeigen zum Ausdruck. Die Förderung und Festigung dieser Sprachhandlungen erfolgen kontinuierlich über die Schuljahrgänge hinweg. Im Umgang mit der Gottesfrage sollen die Schüler:innen einerseits einen persönlichen und individuellen Zugang finden und zu einem eigenen religiösen Sprechen befähigt werden, andererseits kontinuierlich über die wissensbasierte und intersubjektive Auseinandersetzung ein begründetes eigenes Urteil zur Gottesfrage entwickeln. Die Übersicht spiegelt die Erwartungen wider, dass ein progressiver Kompetenzaufbau durch allmähliche Entwicklung sowie Förderung und Festigung von Schuljahr zu Schuljahr zur fachlich-inhaltlichen Klarheit sowie zur differenzierten Kommunikation im Reden über Gott verhilft. Dabei wird die Fachkommunikation durch ein allmählich fortschreitendes Können u. a. mittels wiederholender Übung gefördert. 3.2 Beispiel II: Die niedersächsischen Kerncurricula für das Unterrichtsfach Evangelische Religion Für religiöse Bildungsprozesse gilt die folgende Struktur: Religion erschließt sich in den Dimensionen von Wahrnehmen und Darstellen, Deuten, Urteilen, Kommunizieren sowie Gestalten und Handeln. Dementsprechend sind diese prozessbezogenen Kompetenzbereiche als Sprachhandlungskompetenzen für alle Schuljahrgänge grundlegend. Die niedersächsischen Kerncurricula für das Unterrichtsfach Evangelische Religion benennen im Kompetenzbereich Gott die folgenden prozessbezogenen Kompetenzen.18 18 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Grundschule. Evangelische Religion, Hannover 2020, 18; dass. (Hg.), Kerncurriculum für die Realschule. Schuljahrgänge 5–10. Evangelische Religion, Hannover 2018, 20; dass. (Hg.), Kerncurriculum für das Gymnasium-gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule-gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Kolleg. Evangelische Religion, Hannover 2017, 21.

Dialogkompetenz

Urteilskompetenz

Deutungskompetenz

Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenz

identifizieren Fragen stellen zum Ausdruck bringen wahrnehmen und beschreiben wahrnehmen und wiedererkennen

– unterscheiden und beurteilen – einen eigenen Standpunkt einnehmen und argumentativ vertreten

kommunizieren und sich verständigen – bereit sein – benennen und kommunizieren – (Kriterien) berücksichtigen

– unterscheiden und beurteilen – begründen

auseinandersetzen und darüber sprechen

– mitteilen und austauschen – auseinandersetzen – berücksichtigen

kennen, unterscheiden und deuten identifizieren und deuten erschließen und deuten Auskunft geben erläutern

begründet urteilen und Position beziehen

– – – – –

– aufzeigen – erkennen und beschreiben – wahrnehmen und wiedererkennen

Realschule

begründet einen eigenen Standpunkt einnehmen

– im Gespräch deuten – benennen und erläutern – beschreiben und verstehen

verstehen und deuten

– – – – –

wahrnehmen und beschreiben

Grundschule

analysieren und verstehen identifizieren und erklären methodisch reflektiert auslegen sachgemäß erschließen in Beziehung setzen und (Bedeutung) aufweisen

– (Perspektive eines anderen) einnehmen und in Bezug setzen – benennen und kommunizieren – argumentativ auseinandersetzen – (Kriterien) in dialogischen Situationen berücksichtigen

am religiösen Dialog argumentierend teilnehmen

unterscheiden vergleichen und bewerten erklären und kriteriengeleitet bewerten kritisch beurteilen und beispielhaft anwenden – theologisch begründen und zur Geltung bringen – einen eigenen Standpunkt einnehmen und argumentativ vertreten

– – – –

begründet urteilen

– – – – –

– erfassen – aufdecken – wahrnehmen und wiedererkennen und einordnen – erkennen

Gymnasiale Oberstufe

86 Interdisziplinäre Perspektiven

Tabelle 1: Prozessbezogene Kompetenzen in der Zusammenschau

Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts

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Die Kompetenzen, die im Religionsunterricht der Grundschule angebahnt und aufgebaut werden, sind die Grundlagen für das Fach in den weiteren Schuljahrgängen. Wahrnehmen und Beschreiben werden durch die handlungsleitenden Verben wahrnehmen, (wieder)erkennen, beschreiben durchgängig in den Schuljahrgängen 1 bis 10 als Kernkompetenzen ausgewiesen. Mit der Sprachhandlung erfassen erfährt die kommunikative Kompetenz eine fachliche Ausdifferenzierung. Verstehen und Deuten erfahren über die Schullaufbahn hinweg eine erkennbare weitere fachliche und sprachliche Differenzierung hin zu Analyse und Reflexion. Das Urteilen in der gymnasialen Oberstufe ist grundlegend von einem differenzierten sprachlichen Handeln abhängig. Kriteriengeleitet bewerten, kritisch beurteilen, theologisch begründen sind Beispiele für die komplexen (fachlichen und) sprachlichen Handlungsanforderungen an Schüler:innen auf dem Weg zur allgemeinen Hochschulreife. Erneut wird deutlich, wie fachliche Lernziele und kompetentes sprachliches Handeln im Fachunterricht Religion miteinander zusammenhängen, vor allem weil das Fach Religion auf eine religiöse Bildung der Lernenden zielt, die sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Lebens auswirken soll. Kommunizieren erfordert ein kompetentes sprachliches Handeln im Sinne von auseinandersetzen, kommunizieren und verständigen. Es erfordert eine Dialogfähigkeit, die die Perspektive des anderen einzunehmen versteht und so zur Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs über Religion befähigt. In jedem Kompetenzbereich belegt der Befund eine Vielzahl sprachlicher Handlungen, mit denen variabel und differenziert im Fach Religion in Abhängigkeit von inhaltsbezogenen Kompetenzen die Dimensionen zur Erschließung von Religion zum Ausdruck gebracht werden können. Im Sinne einer fortschreitenden Kompetenzentwicklung erfolgt die fachliche und sprachliche Differenzierung von der Primarstufe über die Sekundarstufe I bis hin zur Sekundarstufe II, wobei allerdings durchgängig eine wiederkehrende Förderung konstitutiv ist.

4 Ausblick In Aufnahme der Impulse, die gegenwärtig von der Theorie und der Praxis eines sprachbewussten Unterrichts ausgehen, wird der religionspädagogisch und religionsdidaktisch orientierte Diskurs um Bildungsstandards und Kompetenzen fortzuschreiben sein und weiterführend Aspekte zu bearbeiten haben, die den Zusammenhang von fachlichem und sprachlichem Lernen im Religionsunterricht zu pointieren und damit das spezifische Verhältnis von Fachorientierung und Sprachorientierung dieses Unterrichts zu klären vermögen. Dazu zählt:

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Interdisziplinäre Perspektiven

Die sprachlichen Anforderungen sind fachspezifisch zu akzentuieren. Sofern sie sich auf Sprachhandlungen beziehen, sind sie in allen Schulfächern anzutreffen. »Gegenwärtig wird aber u. a. untersucht, in wieweit die Ausprägungen dieser diskursiven Einheiten sich zwischen den Fächern unterscheiden oder nicht.«19 Schon das konkrete Beispiel der baden-württembergischen Bildungspläne für den katholischen Religionsunterricht verweist auf eigene Traditionen sowie fachspezifische Bedeutungen und Verwendungen einzelner sprachleitender Verben. Dazu zählen beispielsweise zeigen, beziehen auf, charakterisieren, entwickeln, erklären. Der erstellte Befund lässt den religionspädagogischen Anspruch erkennen, dass die Bewältigung der sprachlichen Anforderungen zu einer ausgebauten Sprachhandlungskompetenz und mithin zu einer sprachlich untersetzten fachlichen Klarheit führt. Diese befördert eine den fachlich-inhaltlichen Bildungszielen entsprechende und angemessene progressive und differenzierte Unterrichtskommunikation. Die dargestellten sprachlich-fachlichen Anforderungswege von der Primarstufe bis hin zu den Sekundarstufen lassen den Schluss zu, dass schrittweise und kontinuierlich über die gesamte Schulzeit hinweg Schüler:innen zum selbstständigen religiösen Sprechen und Sprechen über Religion befähigt werden sollen und dabei ihrer eigenen Religiosität Ausdruck verleihen sowie am interreligiösen Dialog teilnehmen können. Ein Weiteres: Welche sprachlichen (Teil-)Kompetenzen zur Bewältigung der sprachlichen Anforderungen erforderlich sind, ist bislang (religions)didaktisch noch wenig geklärt. Die in den sprachlichen Anforderungen implizierten Diskursfunktionen sind um konkrete Merkmale zu ergänzen. In den vorgelegten Beispielen wird selten spezifiziert, durch welche sprachlichen Merkmale die im Fach Religion gebrauchten Sprachhandlungen gekennzeichnet sind. Einige Beispiele zur Veranschaulichung: Wenn die Kompetenzerwartung »Die Schüler:innen erzählen von Gotteserfahrungen und -vorstellungen von Menschen in der Bibel« formuliert wird, ist zu fragen: Was heißt es, fachangemessen biblische Texte auf ein bestimmtes Thema hin zu bündeln und in eine eigene Erzählung zu bringen? Wenn die Kompetenzerwartung »Die Schüler:innen können zeigen, dass die Frage nach Gott Menschen herausfordert« formuliert wird, ist zu fragen: An welchen sprachlichen Merkmalen ist die Sprachhandlung zeigen bzw. aufzeigen zu erkennen? In Folge werden religionsdidaktische Hilfestellungen zu konzipieren sein, wie sie beispielsweise im Scaffolding-Ansatz angelegt sind,

19 Bernt Ahrenholz u. a., Sprache im fachlichen Unterricht. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Fachunterricht, 1–16, hier 3.

Sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts

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einem Konzept sprachbewussten Unterrichts, das sprachliche Lernziele mit fachlichen Lernzielen verknüpft.20 Im Kontext sprachlicher Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts lassen sich weitere Kapitel zur Bearbeitung aufschlagen. Die in den Bildungszielen implizierten sprachlichen Kompetenzerwartungen bzw. Anforderungen betreffen beispielsweise auch den Fachwortschatz oder den Umgang mit fachspezifischen Textgattungen. Wenn beispielsweise die Kompetenzerwartung »Die Schüler:innen können unter Berücksichtigung biblischer Texte Möglichkeiten und Grenzen des Redens von Gott aufzeigen« formuliert wird, ist zu fragen: Welche Verstehensbarrieren und Sprachhürden enthalten biblische Texte und wie können diese überwunden werden? Etliche Bildungs- und Lehrpläne sowie Curricula geben Fachwortübersichten (z. B. theologisch-religiöse Grundbegriffe) sowie biblische Texte verbindlich vor, um Schüler:innen in ihrer Kompetenz­ entwicklung zu unterstützen; ein bedenkenswerter Vorstoß, der sowohl kritische Anfragen provoziert als auch konstruktive Impulse impliziert.21 Es zeigt sich: Der Diskurs über sprachliche Anforderungen in den Bildungszielen des Religionsunterrichts schärft das Profil eines sprachbewussten Religionsunterrichts, für dessen Selbstverständnis die Frage nach dem Verhältnis von Fach- und Sprachorientierung grundlegend ist.

Dr. Andrea Schulte ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität Erfurt.

20 Vgl. Andrea Schulte, Sprachliche Anforderungen im Religionsunterricht, in: Werner Haußmann u. a. (Hg.), EinFach übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit, Stuttgart 2019, 97–103. Vgl. auch den Beitrag von Green in diesem Band. 21 Vgl. Rainer Merkel/Kirsten Rabe, Grundbegriffe und Bibeltexte für den Religionsunterricht. Schuljahrgänge 5–10 (Loccumer Impulse 4), Loccum 2017.

Sprachliche Bildung und DaZ – auch ein Thema für den Religionsunterricht? Yauheniya Danilovich

Sprachliche Heterogenität kann sich sowohl in der Vielfalt der (Herkunfts-)Sprachen als auch durch unterschiedliche Kompetenzen in diesen Sprachen und nicht zuletzt im Deutschen zeigen. Die Besonderheit des Religionsunterrichts liegt darin, dass sich sprachliche Heterogenität auf verschiedenen Ebenen mit religiöser Pluralität überschneiden kann. Religionsunterricht kann durch seine Bildungs­inhalte als ein besonders sprachaffines Fach kategorisiert werden, was eine ­Reflexion in Bezug auf sprachliche Inhalte und Lernziele auf der Ebene der elementaren Strukturen erfordert. Wenn Religionsunterricht subjektorientiert sein soll, muss seine Planung und Gestaltung auch die Sprache(n) bzw. Sprach­entwicklung der Schüler:innen im Sinne der elementaren Zugänge und Erfahrungen berücksichtigen. Sprachbildungsprozesse im Religionsunterricht – fachspezifisch und allgemein – machen nicht zuletzt sprachsensible Lernformen erforderlich. In diesem Beitrag werden zunächst Entwicklungstendenzen bezogen auf Migration und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) auf der Basis der statistischen Erfassung erläutert. Im Hauptteil wird auf die Überschneidung von sprachlicher und religiöser Heterogenität im Religionsunterricht eingegangen. Abschließend werden verschiedene Dimensionen der sprachlichen Bildung im Religionsunterricht aufgezeigt.

1  Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit Nach Angaben aus dem Jahr 2018 hat ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Noch höher liegen die Anteile im Kindesund Jugendalter: zwischen 41 % bei den unter Sechsjährigen und 34 % bei den 15- bis unter 20-Jährigen. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gehören der zweiten Generation an, sie sind also in Deutschland geboren und aufgewachsen.1 1 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt, 2020, https:// www.bildungsbericht.de (Zugriff am 14.11.2020), 27.

Sprachliche Bildung und DaZ – auch ein Thema für den Religionsunterricht?

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Zu mehrsprachig aufwachsenden Kindern liegen bundesweit Daten für Dreibis unter Sechsjährige vor, die eine Kindertagesstätte besuchen. 2019 sprachen 22 % dieser Gruppe in der Familie vorrangig nicht Deutsch und kamen so meist erst in der Kindertagesbetreuung verstärkt mit der deutschen Sprache in Berührung.2 In Ballungsgebieten trifft dies manchmal auf jedes zweite Kind zu. Knapp die Hälfte der unter sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund wächst mit einer Zweitsprache auf.3 In der Schulstatistik Nordrhein-Westfalens (NRW) wird jedes Kind, bei dem einer oder mehrere der folgenden Aspekte zutreffen, der Gruppe »mit Zuwanderungsgeschichte« zugeordnet: »mit Zuzug«, »mit nicht deutscher Verkehrssprache«, »mit mind. einem nicht in Deutschl. geborenen Elternteil«.4 2019 wurden in der Gruppe »mit nicht deutscher Verkehrssprache« 22,8 % aller Schüler:innen erfasst,5 wobei sich zwischen den Schularten markante Unterschiede zeigten: Während etwa an den Grundschulen 29,1 % der Kinder in diese Gruppe fielen, waren es an den Hauptschulen 45,1 % und an den Gymnasien (Sek I) nur 15,9 % der Schüler:innen.6 Ein großer Teil der Kinder in Deutschland wächst demzufolge mehrsprachig auf. Dies bedeutet zum einen, dass Kinder neben den Kompetenzen im Deutschen eventuell über weitere sprachliche Ressourcen verfügen, wenn z. B. ein entsprechender sprachlicher Input von zu Hause durch den herkunftssprachlichen Unterricht oder durch weitere Formate der non-formalen Bildung gewährleistet ist. Zum anderen kommt den Bildungsinstitutionen insgesamt und dem Religionsunterricht im Einzelnen eine besondere Rolle in Bezug auf die Sprachbildung zu.

2  Schüler:innen als sprachlich heterogene Gruppe Die Bezeichnung »Deutsch als Zweitsprache« (DaZ) wird in der Diskussion u. a. vor dem Hintergrund sehr individueller sprachbiografischer Konstellationen als problematisch betrachtet, da dadurch noch keine Aussagen über die sprachli2 Vgl. ebd., 8. 3 Vgl. ebd., 97. 4 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Statistik-TELEGRAMM 2019/20. Schuleckdaten 2019/20. Zeitreihen 2010/11 bis 2019/20, 2020, https://www. schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/stattelegramm2019.pdf (Zugriff am 17.05.2021), 94. 5 Vgl. ebd., 99. 6 Vgl. ebd., 94, 96.

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Interdisziplinäre Perspektiven

chen Kompetenzen der Schüler:innen – weder im Deutschen noch in anderen Sprachen – gemacht werden können.7 Dabei erfolgt die Fokussierung nur auf einen Bereich der sprachlichen Kompetenzen mehrsprachiger Kinder – das Deutsche. Durch die Nutzung von Ausdrücken wie »Kinder mit DaZ« oder – noch schlimmer – »DaZ-Kinder« wird ein negativer Stereotyp von Schüler:innen transportiert, indem ihnen implizit eine Förderbedürftigkeit im Bereich des Deutschen zugeschrieben wird. Des Weiteren werden die Dauer der Anwendung des Begriffs »DaZ« in Bezug auf Schüler:innen sowie die Zielperspektive nicht definiert. Im muttersprachlichen Ergänzungsunterricht wird bereits seit Anfang der 1980er Jahre davon ausgegangen, dass »jedes Kind seine eigene sprachliche Geschichte hat«8. Die Tatsache, dass zu Hause eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird, gibt weder Auskunft über die tatsächlich vorhandenen Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Sprechen noch über das Beherrschen einzelner sprachlicher Register. So zeigen etwa die Ergebnisse aus der SPREEG-Untersuchung (Spracherhebung Essener Grundschulen), dass sowohl monolingual mit Deutsch als auch mehrsprachig aufwachsende Kinder ihre Kompetenzen im Schreiben, Lesen, Verstehen und Sprechen jeweils differenziert einschätzen.9 Bei verschiedenen Sprachstanderhebungsverfahren bleiben die Kompetenzen in den Herkunftssprachen meist unberücksichtigt. In den einzelnen Bundesländern werden Maßnahmen zur Sprachstanderhebung sowie zur Sprachförderung unterschiedlich geregelt. Mancherorts werden nur bestimmte Gruppen von Kindern getestet: »Wird nur der Sprachstand spezifischer Gruppen erhoben, bei denen ein erhöhter Förderbedarf angenommen wird, fallen die Anteile an sprachförderbedürftig diagnostizierten Kindern erwartungsgemäß höher aus als in den Ländern, die alle Kinder einbeziehen.«10 Die Statistiken bilden zwar allgemeine Entwicklungstrends in der Zuwanderungsgesellschaft ab. Jedoch muss grundsätzlich hinterfragt werden, inwiefern solche Rubriken wie Migrationshintergrund, Ausländersein oder DaZ für die konkrete Unterrichtsplanung und -gestaltung hilfreich sind und nicht eher ein negativ konnotiertes bzw. stereotypes Bild der Schüler:innenschaft vermit  7 Vgl. kritisch zum Begriff »DaZ« z. B. Dragan Miladinović, Bildungsgerechtigkeit – Der Begriff »Zweitsprache« als Barriere? In: Anke Wegner/İnci Dirim (Hg.), Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Erkundungen einer didaktischen Perspektive, Opladen u. a. 2016, 303–316.   8 Landesinstitut für Curriculumentwicklung, Lehrerbildung und Weiterbildung (Hg.), Unterricht für ausländische Schüler. Rahmenempfehlungen für den muttersprachlichen Ergänzungsunterricht für ausländische Schüler der Sekundarstufe I. Heft 2, Neuss 1983, 11.   9 Vgl. Melanie Beese u. a., Sprachbildung in allen Fächern (Deutsch lehren lernen 16), München 2014, 14. 10 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung, 98.

Sprachliche Bildung und DaZ – auch ein Thema für den Religionsunterricht?

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teln. Schüler:innen sowohl mit als auch ohne Zuwanderungsgeschichte bilden eine sprachlich heterogene Gruppe mit individuellen Bedürfnissen in Bezug auf die Sprachförderung. Das Erstellen eines Sprachporträts oder eines Sprachportfolios kann einen ersten Zugang zu den Sprachbiografien der Schüler:innen ermöglichen.

3  Wer gilt als mehrsprachig? Kinder und Jugendliche wachsen mehrsprachig auf, indem sie in unterschiedlicher Intensität Kontakt zu anderen Sprachen haben – im privaten Umfeld, in der Schule in Form von DaZ oder Fremdsprachen oder auf dem Schulhof in Gestalt von Soziolekten. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist Mehrsprachigkeit der Normalzustand. In der Forschung unterscheidet man allgemein zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit. Unter äußerer Mehrsprachigkeit wird das Beherrschen mindestens einer weiteren Sprache neben der Muttersprache verstanden. Rosemarie Tracy definiert Mehrsprachigkeit wie folgt: »Als mehrsprachig oder bilingual […] darf gelten, wer regelmäßig mehr als eine Sprache verwendet und in der Lage ist, in allen seinen Sprachen Alltagsgespräche zu führen.«11 Unter innerer Mehrsprachigkeit wird das Beherrschen von verschiedenen Varietäten einer Sprache – Dialekte, sprachliche Register, Jugendsprache o. ä. – verstanden. Weiter wird unterschieden zwischen gesellschaftlicher oder sozialer Mehrsprachigkeit und individueller Mehrsprachigkeit. Im ersten Fall wird die Mehrsprachigkeit auf einer Makroebene, z. B. in einem Staat, betrachtet.12 Deutschland ist ein Staat, der sich selbst zwar als einsprachig postuliert, aber in dem es zunehmend Bereiche gibt, in die die Mehrsprachigkeit Eingang gefunden hat (mehrsprachige Radiosender wie z. B. COSMO, bilinguale Schulen und Klassen, Informationen in verschiedenen Sprachen auf den Ämtern, Verwendung der Leichten Sprache usw.). Ob ein Staat einsprachig oder mehrsprachig ist, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Vor beinahe 100 Jahren beschäftigte sich Lev S. Vygotskij in seinem Aufsatz »Zur Frage nach der Mehrsprachigkeit im kindlichen Alter« [К вопросу о многоязычии в детском возрасте] mit dem bereits damals aktuellen und zugleich in der Forschung umstrittenen Thema des mehrsprachigen Aufwach11 Rosemarie Tracy, Mehrsprachigkeit: Vom Störfall zum Glücksfall, in: Manfred Krifka u. a. (Hg.), Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler, Berlin u. a. 2014, 13–33, hier 17. 12 Vgl. Jean-Jacques Weber/Kristine Horner, Indroducing Multilingualism. A social approach, London 2012, 70 f.

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sens.13 Für Vygotskij, der selbst mehrsprachig aufgewachsen war und in einer mehrsprachigen Umgebung lebte,14 hatte diese Frage eine besondere Relevanz.15 In Bezug auf Mehrsprachigkeit lehnte er es ab, diese kategorisch als einen hemmenden oder günstigen Faktor für die Sprachentwicklung des Kindes zu betrachten, sondern plädierte dafür, alle möglichen Einwirkungsfaktoren – wie etwa die biografische Situation, die Konstellation des sprachlichen Inputs (z. B. eine Person – eine Sprache) und das Alter des Kindes – zu berücksichtigen.16 Für ­Vygotskij war das Verhältnis zwischen dem Denken und der Sprache von besonderem Interesse. Er plädierte dafür, Mehrsprachigkeit sowohl im Kontext der Sprachentwicklung als auch als untrennbar mit der intellektuellen und der gesamten Entwicklung des Kindes verbunden zu sehen.17 Der Religionsunterricht mit seinem Bildungsauftrag kann die sprachliche Dimension nicht vernachlässigen. Darüber hinaus ist es wichtig, beim Ausbau der Kompetenzen im Deutschen bzw. im Register Bildungssprache gleichzeitig danach zu fragen, wie die anderen sprachlichen Ressourcen der Kinder in die Prozesse des religiösen Lernens eingeordnet werden können.

4  Religiöse und sprachliche Vielfalt im Religionsunterricht Es liegen keine statistischen Daten dazu vor, wie viele mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht teilnehmen. Dennoch ist seit Jahrzehnten die Tendenz erkennbar, dass die kulturelle und damit einhergehend auch die sprachliche Vielfalt innerhalb der beiden großen Konfessionen migrationsbedingt zunehmen. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion, deren Präsenz in Deutschland in Zusammenhang mit Migration steht, ist steigend. So ist die Zahl der muslimischen Schüler:innen in NRW in den letzten 13 Vgl. Lev S. Vygotskij, Zur Frage nach der Mehrsprachigkeit im kindlichen Alter, in: Katharina Meng/Jochen Rehbein (Hg.), Kindliche Kommunikation – einsprachig und mehrsprachig, Münster 2007, 41–73. 14 So schreibt der Art. 23 der Verfassung der damals Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, verabschiedet im Jahr 1927, vier offizielle Sprachen in Belarus vor: Belarussisch, Jiddisch, Russisch und Polnisch. 15 Vgl. Katharina Meng/Ekaterina Protassova/Eva Goldfuß-Siedl, Vygotskijs Text zur kindlichen Mehrsprachigkeit – Kommentare zu Entstehung, Publikation und Übersetzung, in: Katharina Meng/Jochen Rehbein (Hg.), Kindliche Kommunikation – einsprachig und mehrsprachig, Münster 2007, 75–90, hier 75. 16 Vgl. Vygotskij, Zur Frage, 69. 17 Vgl. ebd., 71.

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knapp zehn Jahren fast um ein Viertel von 328.107 auf 436.481 gestiegen. Somit sind 17,9 % aller Schüler:innen in diesem Bundesland muslimisch. Die Zahl der orthodoxen Schüler:innen in NRW hat sich in der gleichen Periode von 24.966 auf 52.269 mehr als verdoppelt.18 Zwar geht der Ausbau des Religionsunterrichts für unterschiedliche Religionsgemeinschaften voran, doch in vielen Fällen erreichen solche Angebote u. a. aus organisatorischen Gründen nicht alle Schüler:innen entsprechender Zielgruppen. Beispielsweise erhielten im Schuljahr 2018/2019 von insgesamt 49.034 orthodoxen Schüler:innen in NRW nur 388 (ca. 0,8 %) orthodoxen Religionsunterricht. Im gleichen Schuljahr nahmen von insgesamt 426.415 muslimischen Schüler:innen 16.390 an Islamischer Religionslehre und 4.767 am Modellversuch Islamkunde in deutscher Sprache19 (insgesamt ca. 5 %) teil.20 Laut der Schulstatistik in NRW sind nach wie vor der katholische und der evangelische Religionsunterricht die Angebote der religiösen Bildung in der Schule, an denen Schüler:innen am meisten teilnehmen. Bislang werden sprachliche Heterogenität und religiöse Pluralität in der Diskussion meistens getrennt thematisiert. Für den Religionsunterricht wäre jedoch die Berücksichtigung beider Aspekte gleichzeitig bzw. in ihrer Überschneidung interessant. Diese Intersektionalität kann aus dem oben Dargestellten vorerst zumindest angenommen werden. 4.1  Unterrichtssprache(n) im Religionsunterricht Im Bereich der katholischen und evangelischen Religionspädagogik lässt sich seit einigen Jahren Interesse am Thema Sprache bezogen auf die Diskurse Bildungssprache, sprachliche Bildung, DaZ etc. wahrnehmen. Dies wurde u. a. durch die weit fortgeschrittenen Diskussionen im Bereich der Erziehungswissenschaften sowie durch die irreguläre Migration nach Deutschland Mitte der 2010er Jahre angestoßen. Im Unterschied dazu scheint das Thema Deutsch als Unterrichtssprache von Anfang an eine andere Bedeutung im Religionsunterricht solcher Konfessionen und Religionen einzunehmen, deren Präsenz in Deutschland auf Migration insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun18 Vgl. Ministerium für Schule und Bildung (Hg.), Statistik-TELEGRAMM, 104. 19 Nach den Angaben von Mediendienst Integration 2018 ist die Zahl höher und betrug 2018 insgesamt 19.400 Schüler:innen. Vgl. Fahimah Ulfat, Religionsunterricht in muslimischer Perspektive, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 85–91, hier 87. 20 Vgl. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht. 2018/19. Statistische Übersicht Nr. 404, 2019, https://www.schulministerium.nrw/sites/default/files/documents/Quantita_2018.pdf (Zugriff am 18.05.2021), 25, 80.

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derts zurückgeht. Dazu gehören u. a. Formate des islamischen Religionsunterrichts sowie Religionsunterricht in der Verantwortung sog. Migrationskirchen (z. B. syrisch-orthodoxer und orthodoxer Religionsunterricht). In ihren Anfängen waren der islamische und der orthodoxe Religionsunterricht in NRW so gestaltet, dass die Inhalte des religiösen Lernens im Kontext des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts bzw. herkunftssprachlichen Unterrichts (Türkisch, Griechisch) vermittelt wurden.21 Diese Angebote wandten sich entsprechend an Schüler:innen einer bestimmten Sprachgruppe22 und später an alle Schüler:innen, die der entsprechenden Religionsgemeinschaft angehörten. Bezogen auf den Religionsunterricht der o. g. Religionsgemeinschaften finden sich mittlerweile diverse Regelungen, die Deutsch als Unterrichtssprache festlegen.23 Begründet wird dies manchmal mit Verweis auf einen integrativen Charakter des Deutschen in einer muttersprachlich heterogenen Gruppe. Eine andere Unterrichtsprache könnte die Teilnahme mancher Schüler:innen am (orthodoxen, islamischen) Religionsunterricht verhindern.24 4.2 Unterrichtssprache Deutsch vs. Sprache(n) der Religionsgemeinschaften Eine weitere Besonderheit des Religionsunterrichts kann sich in der Divergenz zwischen der Sprache bzw. den Sprachen der Religionsgemeinschaften (z. B. Türkisch, Arabisch, Griechisch, Syrisch) und der Unterrichtssprache Deutsch zeigen. Zwar ist die sprachliche Situation auch in den Gemeinden u. a. aufgrund des Zusammenkommens mehrerer Generationen und der weiterhin stattfindenden Zuwanderung alles andere als homogen, außerdem gibt es inzwischen vereinzelt deutschsprachige Gemeinden. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Deutsch keine primäre Kommunikationssprache darstellt, weder zwischen den Mitgliedern und unmittelbar in der religiösen Praxis noch in den 21 Hinter dem Ausbau des Angebotes an muttersprachlichem Unterricht stand die Erwartung bzw. die Vorstellung, dass nach einer gewissen Zeit Schüler:innen in das Herkunftsland ihrer Eltern zurückkehren. Die in Deutschland gepflegten Kompetenzen in der Herkunftssprache und erworbenes kulturelles Wissen, u. a. im Bereich der Religion, sollten ihnen bei der Rückkehr die Re-Integration erleichtern. 22 Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.), Unterricht für ausländische Schüler. Unterricht für ausländische Schüler in Regelklassen der Grundschule. Erfahrungen und Anregungen, Soest 1983, 13; Özcan Çelik, Islamischer Religionsunterricht (IRU) in Deutschland. Erwartungen der Muslime – Konzepte der Kooperation zwischen den Glaubensgemeinschaften und dem Staat, Münster 2017, 42. 23 Vgl. ebd., 36, 40 f. 24 Vgl. Nikolaus Thon, Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland – eine Bestandsaufnahme, 1998, http://kokid.w-srv.net/schule/schule03.htm (Zugriff am 12.11.2020).

Sprachliche Bildung und DaZ – auch ein Thema für den Religionsunterricht?

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Angeboten der religiösen Bildung. In dieser Hinsicht muss eine Übersetzung der Begriffe und Inhalte in die Unterrichtssprache Deutsch stattfinden, wobei es sich wesentlich um einen sprachschöpferischen Prozess handelt, da es verschiedene Fachbegriffe oft in der deutschen Sprache nicht gibt oder etwa Fachbegriffe ursprünglich nicht durch einen latein- oder deutschsprachigen Kontext geprägt sind. Dieser Prozess der »Inkulturalisierung« ist nicht nur auf die Unterrichtsinteraktion begrenzt, sondern geht in die Bereiche der Lehrplanentwicklung, Schulbücher und Unterrichtsmaterialien über.25 Somit ergibt sich ein Spagat hinsichtlich der sprachlichen Kompatibilität der Angebote der religiösen Bildung in Schule und Gemeinde. In diesem Kontext wäre auch die Frage relevant, in welcher Sprache bzw. in welchen Sprachen die religiöse Sozialisation der Kinder verläuft und in welchen Sprachen die religiöse Kommunikation im Alltag erfolgt.

5  Ansätze für einen sprachsensiblen Religionsunterricht In der Religionspädagogik sind insbesondere Veröffentlichungen von Andrea Schulte, Stefan Altmeyer und Manfred Pirner zu nennen, die sich mit religiöser Sprache und einem sprachsensiblen Religionsunterricht beschäftigen. Manfred Pirner macht den Vorschlag, stärker die Potenziale des bilingualen Religionsunterrichts zu berücksichtigen. Content and language integrated learning (CLIL) steht als Oberbegriff für bilinguale Unterrichtsansätze und für alle Arten von Unterricht, »in denen eine L2 (z. B. eine Fremd-, Regional- oder Minderheitensprache und/oder eine andere offizielle Staatssprache) verwendet wird, um lehrplanrelevante Themen in einer anderen Sprache als der/den Majoritätensprache eines Landes zu unterrichten«26. Die CLIL-Perspektive verfügt über viele Ansatzpunkte für einen sprachsensiblen Fachunterricht, indem die Sprache bewusst als Medium und Inhalt des Lernens wahrgenommen wird und somit Sprachlernprozesse im Fachunterricht gezielt und transparent eingeleitet werden können. Pirner legt den Schwerpunkt bei 25 Ausführlicheres dazu am Beispiel der Orthodoxie in Deutschland vgl. Yauheniya Danilovich, Pfingstereignis oder Turmbau zu Babel? Herausforderungen und Perspektiven der Übersetzung liturgischer Texte in der deutschsprachigen christlich-orthodoxen Diaspora, in: Review of Ecumenical Studies/Sibiu 10 (2018/1), 10–29. 26 Anja Steinlen/Thorsten Piske, Die Entwicklung des englischen und deutschen Lesens bei einund mehrsprachigen Kindern in Grundschulen mit bilingualen Angeboten, in: Sabine Kutzelmann/Ute Massler (Hg.), Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte, Tübingen 2018, 51–62, hier 53.

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seiner Argumentation für den bilingualen Religionsunterricht auf die Begründung der Potenziale aus fachdidaktischer Perspektive.27 In der Regel wird CLIL in einem bilingualen Unterricht angewendet, der an sich elitär bleibt. Diese Verengung bleibt auch bei dem Konzept des bilingualen Religionsunterrichts bestehen, der meistens in den gymnasialen Schulformen etabliert ist, wo jedoch Schüler:innen mit DaZ unterrepräsentiert sind. Darüber hinaus werden in einem bilingualen Unterricht hauptsächlich Sprachen aus dem gängigen Kanon des Fremdsprachenunterrichts genutzt (Englisch, Französisch, Spanisch, seltener Neugriechisch), sodass die Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen mit einer Zuwanderungsgeschichte etwa aus einem nicht EU-Land benachteiligt werden. Bei der Orientierung an CLIL-Ansätzen ist grundsätzlich zu bedenken, dass der Religionsunterricht bereits für viele Schüler:innen in einer anderen Sprache als der Erstsprache erfolgt. Inwiefern die sprachlichen Ressourcen der Schüler:innen für das Lernen produktiv genutzt werden können, wenn die Lehrkraft nicht über entsprechende Sprachkenntnisse verfügt, bleibt eine didaktische Herausforderung.

6 Sprachliche Bildung im Religionsunterricht als Zielperspektive: Sprache(n) als Gegenstand und Medium des religiösen Lernens Ein Blick in die Lehr- und Bildungspläne für den Religionsunterricht hilft, sich einen ersten Eindruck davon zu verschaffen, welche sprachlichen Lernziele neben den fachlichen oder in Verbindung mit diesen angestrebt werden. Zunächst gelten für alle Fächer allgemeine (1) sprachliche Anforderungen, die durch Operatoren konkretisiert werden (z. B. Erörtern) und alle Kompetenzdomänen betreffen (Hören/Verstehen, Lesen, Sprechen, Schreiben). In diesem Kontext kann auch die Förderung der konzeptionellen Schriftlichkeit mitbedacht werden. Des Weiteren ist der Religionsunterricht in vielen Aspekten dem Sprachunterricht in seiner Zielrichtung ähnlich, indem (2) darin Kompetenzen gestärkt werden, um sich in unterschiedlichen Kommunikationskontexten zu orientieren und aktiv situationsangemessen sprachlich handeln zu können. Auch im Sprachunterricht im Bereich der Idiomatik und Pragmatik wird gelernt, wie man etwa eine Beschwerde schreibt oder welche sprachlichen Mittel insbesondere 27 Vgl. Manfred L. Pirner, Religion, in: Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hg.), Handbuch ­Bilingualer Unterricht. Content and Language Integrated Learning, Seelze 2013, 324–331.

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bei Smalltalk passend eingesetzt werden können. Es geht dabei nicht um die Wertigkeit unterschiedlicher sprachlicher Register, sondern darum, unterschiedliche sprachliche Mittel je nach Situation in öffentlicher oder privater Kommunikation so einsetzen zu können, dass die Konventionen nicht verletzt werden.28 Schüler:innen haben oft nur im jeweiligen Fach Kontakt zu bestimmten sprachlichen Registern und Fachwörtern. In manchen Lehr- und Bildungsplänen wird explizit auf das besondere sprachliche Register, z. B. »religiöse Sprache«, hingewiesen. Dabei geht es u. a. um (3) die religiöse Sprache als Lerngegenstand, indem ihre Metaphorik und Ästhetik im Fokus stehen.29 Hinzu kommen Prozesse der fachbezogenen sprachlichen Bildung, bei denen Schüler:innen wichtige Begriffe für den Bereich der Religion lernen und einige davon aktiv verwenden (sollen).30 Im Religionsunterricht ist die Gruppe der Schüler:innen in Bezug auf eigene sprachliche Kompetenzen und sprachliche Biografien heterogen. Die Ebene der sprachlichen Bildung soll nicht in Konkurrenz zur religiösen Bildung gesehen werden, sondern als eine, die letztere signifikant beeinflusst und zugleich als Medium und Inhalt mitwirkt. Ein ressourcenorientierter Umgang mit Mehrsprachigkeit schließt dabei eine Orientierung an der Zielsprache Deutsch nicht aus. Der religionspädagogische Diskurs um die Sprache im Religionsunterricht kann noch stärker von Diskursen in den Erziehungswissenschaften, der Migrationsforschung sowie den Sprachwissenschaften profitieren.

Dr. Yauheniya Danilovich ist Akademische Rätin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

28 Vgl. Landesinstitut für Curriculumentwicklung (Hg.), Unterricht, 33. 29 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Islamischer Religionsunterricht, Düsseldorf 2013, 8. 30 Vgl. ebd., 11.

Beziehungsweise … Überlegungen zum Kommunikationsverständnis sprachsensibler Religionspädagogik Simone Ziermann

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie »Kommunikation« in der sprachsensiblen Religionspädagogik1 verstanden wird – und wie sie (über die bisherigen Schwerpunktsetzungen hinaus) verstanden werden könnte. Ich gehe dabei der Beobachtung nach, dass in der gegenwärtigen Theoriebildung vor allem der Sprachgebrauch und die Kompetenz des Einzelnen im Mittelpunkt stehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich dafür plädieren, auch die Frage, wie miteinander gesprochen wird, in die Debatte einzubeziehen. Der Bezugspunkt für diesen Gedankengang ist die kommunikationspsychologische Perspektive im Anschluss an Watzlawick und Schulz von Thun.2 Sie bietet m. E. eine plausible Möglichkeit, die religionspädagogischen Ansätze kommunikationstheoretisch einzuordnen und damit zugleich in der angedeuteten Weise weiterzudenken. In der gebotenen Kürze gehe ich so vor, dass ich zwei kommunikationspsychologische Kerngedanken skizziere, diese mit den religionspädagogischen Überlegungen abgleiche und so zu einer kritischen Würdigung komme (1. und 2.). Im Anschluss daran stelle ich dar, inwiefern die Frage nach dem »Wie« der Kommunikation eine Bereicherung für die religionspädagogische Debatte sein kann (3.). Ich skizziere weiterführende Perspektiven und konkretisiere den Gedankengang in Hinsicht auf Theorie und Praxis (4.).

1 Den Begriff »sprachsensible Religionspädagogik« verwende ich hier zusammenfassend für die religionspädagogische Debatte zur religiösen Sprachfähigkeit und damit im Anschluss an Andrea Schulte, Religion übersetzen im Kontext der Mehrsprachigkeit im Religionsunterricht und des sprachsensiblen Religionsunterrichts, in: Frederike van Oorschot/Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (Öffentliche Theologie 36), Leipzig 2019, 111–124, hier 118 FN 11. Um die entsprechenden Tendenzen aufzuzeigen, greife ich exemplarisch auf einschlägige Texte aus der religionspädagogischen Debatte der letzten Jahre zurück. 2 Im Einzelnen beziehe ich mich hier auf die »Klassiker«: Paul Watzlawick/Janet Beavin Bavelas/ Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 132017 und Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden: 3. Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Kommunikation, Person, Situation, Hamburg 282019. Zusammenfassend unter: https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle (Zugriff am 17.9.2020).

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1  Die »Innere Teamklärung« Das »Innere Team« gehört sicher zu den einflussreichsten Modellen Schulz von Thuns: Jeder Reaktion nach außen geht eine Klärung im Inneren voraus, stimmig mit anderen kommunizieren kann nur, wer sich selbst geklärt hat. Diese innere Klärung verläuft in der Regel standardisiert und blitzschnell, je bedeutsamer und/oder ungewöhnlicher jedoch die Anforderungen in der betreffenden Gesprächssituation sind, desto wichtiger ist die sprichwörtliche Bedenkzeit, um die eigene Position zu finden und dann plausibel kommunizieren zu können.3 Die Förderung religiöser Sprachfähigkeit im Religionsunterricht kann vor diesem Hintergrund als groß angelegte innere Teamklärung im Hinblick auf Religion verstanden werden: Denn das Ringen mit und um religiöse Sprache geschieht nicht um ihrer selbst willen, um bestimmte »Vokabeln« zu lernen4 oder religiöse Inhalte »an sich« zu vermitteln. Ausgangspunkt ist vielmehr die Beobachtung, dass Religion in der Lebenswelt der Schüler:innen zwar relevant ist bzw. werden kann, viele Kinder und Jugendliche aber gleichzeitig wenig Übung in der Wahrnehmung von und im Umgang mit Religion haben.5 Die Auseinandersetzung mit religiöser Sprache im Religionsunterricht ermöglicht vor diesem Hintergrund einen umfassenden Prozess der Orientierung und Klärung im Hinblick auf die je eigene Gottesbeziehung, den eigenen Glauben und die eigene Haltung zu religiösen Lebensformen. Schüler:innen sollen die Möglichkeit haben, ihre eigene »theologische Fragehaltung freizusetzen«6 und so überhaupt erst »ihre eigenen Erlebnisse, Gefühle oder Erfahrungen als religiöse zu identifizieren und zum Ausdruck zu bringen.«7 Ziel ist, eine kontinuierliche Reflexion und (Neu-)Justierung der eigenen (religiösen) Haltung8 zu ermöglichen und anzuregen.9 Religiöse Sprache ist in diesem Zusammenhang 3 Vgl. z. B. Schulz von Thun, Team, 107–117. 4 Martina Kumlehn, Religiöse »Suchsprache« und christliche Sprachschule im Spannungsfeld von Übersetzung und Transformation. Hermeneutisch-didaktische Perspektiven, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 3 (2014), 261–271, hier 270. 5 In dieser Beobachtung hat die Rede von »Religion als Fremdsprache« ihren Kern, vgl. vor allem Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung (Praktische Theologie heute 114), Stuttgart 2011, 313. 6 Stefan Altmeyer, Sprache im Religionsunterricht, in: Magdalena Michalak (Hg.), Sprache als Lernmedium im Fachunterricht: Theorien und Modelle für das sprachbewusste Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 2014, 154–174, hier 166. 7 Altmeyer, Fremdsprache, 17. 8 Vgl. Altmeyer, Sprache, 157. 9 Vgl. Hans-Peter Großhans, »Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse« (L. Wittgenstein). Transformation religiöser Sprache in die Gegenwart – Herausforderungen und Chance, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforde-

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»Suchsprache«10, mit der eine eigene authentische religiöse Sprache11 für die je eigene Haltung und die eigenen Erfahrungen gefunden werden kann. Mit einer solchen umfassenden Klärung werden Kinder und Jugendliche befähigt, als mündige und kritische Menschen am öffentlichen Diskurs teilzunehmen und das gesellschaftliche Leben verantwortlich mitzugestalten.12 Das Ringen um religiöse Sprachfähigkeit – innere Teamklärung im Hinblick auf Religion und Glaube, die ermöglicht, in entsprechenden Gesprächssituationen souverän mit anderen zu kommunizieren: Hier liegt die große Stärke der gegenwärtigen Theoriebildung zum sprachsensiblen Religionsunterricht! Denn in einem gesamtgesellschaftlichen Umfeld, in dem religiöse Kommunikation nicht (mehr?) selbstverständlich zum Alltag gehört, kann dieses Anliegen in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Religionsunterricht ist für viele Kinder und Jugendliche der einzige und damit entscheidende Ort, an dem sie sich selbst im Verhältnis zu Gott und zu religiösen Lebensformen klären können. Eine solche Selbstklärung, gleichsam eine erfolgreiche innere Teamkonferenz, ist die Voraussetzung dafür, die religiösen Dimensionen von Erlebnissen zu entschlüsseln und angemessen darauf reagieren zu können. Allerdings: Auch im Kontext der Schule gibt es keine innere Teamklärung »an sich«. Der Clou des Modells einer inneren Mannschaftsaufstellung besteht darin, dass diese je situativ auf das Gegenüber und die Situation hin variiert wird – auch im Religionsunterricht. Auch die Klärungen, die sich im Klassenzimmer vollziehen, sind immer schon situativ auf das Gegenüber ausgerichtet. Das sprichwörtlich gewordene Reli-Stunden-Ich fasst dies anschaulich zusammen: Kinder und Jugendliche (und Lehrer:innen) agieren im Unterricht niemals an sich, sondern immer in dieser Situation mit diesem Gegenüber. Damit aber verschiebt sich die Perspektive: von der Teamklärung des Einzelnen zu dem Miteinander, in dem sich eben diese Teamklärung vollzieht. Von der Frage, wie im Religionsunterricht sprachliche Kompetenz erworben werden kann, zu der Frage, was zwischen den Menschen vor sich geht, wenn Schüler:innen miteinander (und mit der Lehrkraft) religiöse Sprache erproben.

rungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 177–190, hier 188. 10 Altmeyer, Fremdsprache, 314. So auch aufgegriffen bei Kumlehn, Suchsprache, 270 f. 11 So insbes. das Anliegen kommunikationsorientierter Ansätze, vgl. Altmeyer, Sprache, 165 f. 12 Konzeptionell hat hier der diskursorientierte Ansatz seinen Ort, vgl. ebd., 168 f., aber auch die »religious literacy«, also die angestrebte »kognitive Fähigkeit, das nötige religiöse Basiswissen und Vokabular zur Verfügung zu haben, um am gesellschaftlichen Diskurs über Religion und Religionen teilzunehmen« (ebd., 168).

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2 Die Wechselseitigkeit von Kommunikation und die Bedeutung der Beziehungsebene Ein Kerngedanke der Kommunikationstheorie Watzlawicks ist, dass Kommunikation keine lineare »Einbahnstraße« ist13, sondern zirkulär verläuft und unter dem Vorzeichen permanenter, wechselseitiger Rückkopplung zwischen allen beteiligten Personen steht.14 Jede Äußerung wird immer schon auf das Gegenüber hin zur Sprache gebracht und dadurch wesentlich beeinflusst.15 Die Begriffe »Sender« und »Empfänger« sind vor diesem Hintergrund irreführend: Jede Aktion ist immer schon Reaktion, jede Reaktion bedingt die nächste Aktion und immer so weiter, sodass sich letzten Endes kaum noch sagen lässt, wer hier wen geprägt oder beeinflusst hat.16 Im direkten Zusammenhang damit steht die Beobachtung, dass sich zwischenmenschliche Kommunikation durch ein einzigartiges Ineinander von Inhalts- und Beziehungsebene auszeichnet.17 Über das Gelingen oder Scheitern von menschlicher Kommunikation entscheidet – jedenfalls aus dieser kommunikationspsychologischen Perspektive – die Beziehungsebene in einem sehr viel höheren Maß als alle inhaltliche Verständigung. Das »Was« der eigenen Klärung ist nicht zu trennen von dem »Wie« des Miteinanders; die Selbstpositionierung des Einzelnen geht immer untrennbar mit der Beziehung zu den beteiligten Personen einher.18 Im Hinblick auf diese Wechselseitigkeit von Kommunikation und die Bedeutung der Beziehungsebene sehe ich eine Schwäche der sprachsensiblen Religionspädagogik. Zwar wird auf vielfältige kommunikative »Methoden der Gesprächsführung«19 verwiesen, die vom dialogischen Austausch bis zu »Streitgespräch, Podiumsdiskussion«20 und »argumentative[n] Gesprächsmethoden«21 reichen und folglich von Interaktion leben. Diese Interaktion aber wird in den religionspädagogischen Texten vor allem auf ihre Funktion hin beschrieben: Es han13 Watzlawick, Kommunikation, 14. 14 Zum Prinzip der Rückkopplung vgl. z. B. ebd., 36 f. 15 Dies dürfte im schulischen Kontext auch dann gelten, wenn die Schüler:innen scheinbar »jede:r für sich« arbeiten, beispielsweise bei einem persönlich gehaltenen Hefteintrag o. ä. Denn im schulischen Rahmen ist jede Mitteilung an ein potenzielles Gegenüber gerichtet – und sei es die Lehrkraft, die ab und an die Hefte durchsieht. Ausnahmefälle dürften im Religionsunterricht höchstens (schriftlich und geheim gehaltene) Gebetsformulierungen sein. 16 Vgl. Watzlawick, Kommunikation, 54. 17 Vgl. ebd., 61–65. 18 Vgl. z. B. ebd., 60 und 151. Das gilt wohlgemerkt auch dann, wenn diese Prozesse weitgehend unbewusst ablaufen, vgl. ebd., 112. 19 Altmeyer, Sprache, 166. 20 Ebd., 169. 21 Ebd., 171.

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delt sich – im engsten Sinne des Wortes – um »Methoden«, die den einzelnen Schüler:innen den Weg zur Steigerung der eigenen Sprachfähigkeit ebnen. Zwar geht es um »Austausch«22, dieser Austausch aber scheint vor allem deshalb von Bedeutung zu sein, weil und insofern er den Einzelnen in seiner individuellen Suche nach authentischer religiöser Sprache unterstützt. Der Austausch und die Interaktion »an sich« werden nicht Gegenstand der Überlegungen. Dass die Art und Weise, wie Schüler:innen in Austausch miteinander treten, für die Klärung der Einzelperson eine wesentliche Bedeutung hat, spielt in der Debatte zur religiösen Sprachfähigkeit keine zentrale Rolle.

3 Die Beziehungsebene von Kommunikation als religionspädagogische Chance Diesem »Wie« der Kommunikation in seiner Bedeutung für religiöse Kommunikation nachzugehen, scheint mir lohnenswert. Denn um »Beziehung« geht es bei religiöser Sprache ja anerkanntermaßen: Religiöse Sprache zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die Gottesbeziehung des Menschen zum Ausdruck bringt.23 Und dass die Beziehung zu Gott wiederum nicht von der Beziehung zu den Menschen zu trennen ist, gehört unbestritten zu den Kerngedanken christlicher Tradition. In der Debatte zur religiösen Sprachfähigkeit zeichnet sich dieser Zusammenhang unter anderem dadurch ab, dass religiöse Sprache im Gesamtzusammenhang der »religiösen Lebensform« gesehen wird, die eben auch die Hinwendung zum Nächsten, diakonische Elemente u. ä. beinhaltet.24 Außerdem besteht Einigkeit darüber, dass religiöse Sprachfähigkeit einen wichtigen Beitrag zu einem friedlichen und demokratischen Zusammenleben leistet, also letztlich auf das gelingende Miteinander abzielt.25 Kommunikationstheoretisch fassbar wird der Zusammenhang zwischen Gottesbeziehung und Beziehung zu den Menschen vor allem, wenn Pirner von der pragmatischen Dimension von Übersetzung spricht:26 Religiöse Rationalitäten plausibilisieren sich immer auch im Verhalten der Menschen zueinander. Die Art 22 Ebd., 159. 23 Vgl. Altmeyer, Fremdsprache, 28. 24 Vgl. z. B. Manfred L. Pirner, Religiöse Bildung zwischen Sprachschulung und Übersetzung im Horizont einer öffentlichen Religionspädagogik, in: Schulte (Hg.), Sprache, 55–69, hier 63 f. 25 Das Ineinander von individueller und gemeinwohlorientierter religiöser Bildung wird z. B. betont bei Großhans, Gleichnisse, 178. 26 Vgl. Pirner, Bildung, 61 f.

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und Weise, wie Menschen anderen Menschen begegnen, steht in unmittelbarer Wechselwirkung zu ihrer Gottesbeziehung. Kommunikation an sich ist immer schon der Moment, in dem sich die Gottesbeziehung des Einzelnen bewährt (scheitert oder hinterfragt wird). Was liegt näher – so möchte ich hier fragen – als diese Beobachtung unmittelbar auf die Kommunikation im Religionsunterricht zu beziehen? Was liegt näher als die zwischenmenschliche Beziehung in das Nachdenken über religiöse Sprache und Kommunikation zu integrieren? Die christliche Gottesbeziehung, von der die Rede ist, steht durch das Miteinander im Klassenzimmer immer schon zur Debatte. Religionsunterricht ist immer schon der Ort, an dem eben jene pragmatische Dimension von Übersetzung erprobt wird, auf die es im Alltag ankommt – nämlich in der Art und Weise, wie miteinander gesprochen wird, wenn religiöse Sprache eingeübt wird. Kommunikation im Religionsunterricht ist nicht nur Gelegenheit, religiöse Sprache einzuüben, sondern immer auch religiöse Kommunikation »im Vollzug«, weil die Haltung der Schüler:innen zueinander mit der religiösen Positionierung des Einzelnen ins Gespräch gebracht werden kann. Das bedeutet auch: Im Religionsunterricht werden traditionelle Sprachformen und Begriffe in vielfältiger Weise erschlossen, sodass die Schüler:innen einen Zugang dazu finden können. Der Sinn dieser sprachlichen Formeln wird aber gleichzeitig erfahrbar in der Art, wie sich dieser gemeinsame Erschließungsprozess vollzieht: »Sünde« – wenn ich mir eingestehe, dass ich den anderen mit voller Absicht habe auflaufen lassen und dass ich das Gefühl von Überlegenheit in vollen Zügen genossen habe; »Gnade« und »Erlösung« – wenn Verständigung gegen alle Wahrscheinlichkeit gelingt; »gesegnete« Momente im Miteinander … Eine besondere Chance sehe ich in diesem Zusammenhang hinsichtlich des Umgangs mit (oder vielmehr der theoretischen Reflexion von) Konflikten. Denn wann immer Menschen miteinander in Kommunikation treten, bilden Konflikte eher die Regel als die Ausnahme, das dürfte insbesondere gelten, wenn die Menschen, die aufeinandertreffen, sehr unterschiedlich sind27 und wenn die Themen, um die es geht, existenzielle Dimension haben – beides ist im Religionsunterricht häufig der Fall. In einem theoretischen Setting jedoch, das – ich formuliere zugespitzt– fast ausschließlich von einzelnen Sprecher:innen her denkt, kommen Konflikte nicht vor und können und müssen folglich auch nicht reflektiert werden. Wenn dagegen die Beziehungsebene von Kommunikation ausdrücklich mitbedacht wird, schärft dies den Blick dafür, dass (auch im Religionsunterricht) nicht nur mit wechselseitiger kommentarloser Zustimmung zu rechnen 27 Zur Heterogenität der Lerngruppen vgl. z. B. Kumlehn, Suchsprache, 266 ff.

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ist, sondern auch mit Ablehnung28, ja sogar mit »Entwertung«29. Und es ruft in Erinnerung, dass solche Reaktionen wiederum die Selbstklärung der Einzelperson stark beeinflussen.30 Gerade in diesem Bereich dürfte es spannend sein, das unmittelbare Miteinander mit eben jener religiösen Perspektive ins Gespräch zu bringen, die im Zusammenhang mit religiöser Sprache Thema ist: Da wird vielleicht über altertümliche Worte wie »friedfertig« und »Seligkeit« gesprochen und gleichzeitig kommt es in der Klasse zu ausgrenzendem oder abwertendem Verhalten – vielleicht gerade dadurch, dass nichts gesagt, aber »lautstark« mit den Augen gerollt wird. Derartige Beobachtungen zu thematisieren, dürfte in die Suchbewegung, die im Religionsunterricht angeregt werden soll, immer wieder neuen Schwung bringen.

4  Ausblick und Konkretionen Auch neueste Entwürfe stellen unter dem Stichwort »Kommunikation« die kompetente Vermittlung von Inhalten in den Vordergrund und beschränken sich ansonsten auf die Minimalforderung, dass gegenseitige Abwertungen vermieden werden sollen.31 Sie bleiben damit hinter den Chancen sprachsensibler Religionspädagogik zurück. Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend skizzieren, wie die Frage nach dem »Wie« von Kommunikation in den religionspädagogischen Diskurs eingebunden und weiterentwickelt werden kann. Auf der Hand liegt erstens die Verbindung von sprachsensibler Religions­ päda­gogik mit kommunikativ-kooperativen32 und dialogisch-beziehungsorien-

28 Zur »Verwerfung« vgl. Watzlawick, Kommunikation, 99. 29 »[W]ährend eine Verwerfung letztlich auf die Mitteilung ›Du hast in deiner Ansicht über dich unrecht‹ hinausläuft, sagt die Entwertung de facto: ›Du existierst nicht.‹« (ebd., 100). 30 Vgl. z. B. ebd., 98 und Schulz von Thun, Team, 284. 31 Vgl. z. B. Manfred Riegger, Handlungsorientierte Religionsdidaktik. Teil 2: Unterrichtsmethoden (Religionspädagogik innovativ 28), Stuttgart 2019, dort z. B. 64 oder auch 84. Hier wird zwar auf die Bedeutung von bewusster Körpersprache und aktivem Zuhören eingegangen (vgl. ebd., 80–83). Letztlich geht es aber doch um Methoden, »um Gespräche effektiver führen zu können« (ebd., 84). 32 Vgl. Bernhard Grümme, Mit Eltern und Kollegen zusammenarbeiten – zur Kommunikationsund Kooperations-Kompetenz, in: Rita Burrichter u. a. (Hg.), Professionell Religion unterrichten. Ein Arbeitsbuch (Religionspädagogik innovativ 2), Stuttgart 2012, 204–218.

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tierten33 Ansätzen. Beides kann sich wechselseitig inspirieren und so immer wieder in Erinnerung rufen: Bildung ist vor allem auch eine Frage der Beziehung. Das Nachdenken über das »Wie« von Kommunikation bekräftigt zweitens ein performatives Gesamtverständnis des Religionsunterrichts: Performativ ist der Unterricht nicht nur, wenn er auf performative Elemente zurückgreift. Performativ ist Religionsunterricht auch, weil sich im Miteinander die christliche Rationalität, um die es geht, unmittelbar erproben lässt. Wird Kommunikation im umfassenden Sinne verstanden, bezieht sie insbesondere auch nonverbale Kommunikation mit ein, denn: »Eine Geste oder eine Miene sagt uns mehr darüber, wie ein anderer über uns denkt, als hundert Worte.«34 Die Aufmerksamkeit für die ganzheitliche und namentlich leibliche Dimension von zwischenmenschlichen Lernprozessen ist deshalb die dritte Stoßrichtung, die wegweisend sein könnte.35 Schließlich hat sich gezeigt, dass sich über die Beziehungsebene der Zusammenhang von religiöser Kommunikation und friedvollem Miteinander genauer bestimmen lässt. Dieser Zusammenhang ließe sich konzeptionell zu einer christlich profilierten Form gewaltfreier Kommunikation weiterentwickeln. Damit wiederum ließe sich einmal mehr verdeutlichen, dass der Religionsunterricht einen wichtigen, spezifischen Beitrag zur allgemeinen Sprachförderung leistet.36 Eine religionspädagogische Forschung, die dem Zusammenhang von Inhaltsund Beziehungsebene weiter auf die Spur kommen will, könnte auf bewährte Formen zurückgreifen. Anhand von detaillierten Verbatims und Videoaufzeichnungen wären neben den Sprachformen und Inhalten dann auch Mimik, Gestik, Tonfall, die unmittelbaren Reaktionen aufeinander usw. zu analysieren.37 Für die Praxis des Religionsunterrichts würden die bisherigen Überlegungen bedeuten, immer wieder Gelegenheit zu geben, sich über das Miteinander 33 Vgl. Reinhold Boschki, Dialogisch-beziehungsorientierte Religionsdidaktik, in: Bernhard Grümme/Hartmut Leonhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch (Religionspädagogik innovativ 1), Stuttgart 2012, 173–184. 34 Watzlawick, Kommunikation, 73. 35 Zur Bedeutung der Leiblichkeit für (performative) Lernprozesse vgl. z. B. den Beitrag von Meyer-Blanck in diesem Band oder Hans Mendl, Kosten und fühlen – Geschmack auf Religion. Performative Religionsdidaktik als Übersetzungsvorgang, in: Werner Haußmann u. a. (Hg.), EinFach Übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit (Religionspädagogik innovativ 33), Stuttgart 2019, 131–140, hier 133. 36 Zum Beitrag des Religionsunterrichts zur allgemeinen Sprachförderung vgl. z. B. Altmeyer, Sprache, 171 f. 37 Einen prägnanten Überblick über die Bedeutung nonverbaler Signale bieten Jessica Röhner/ Astrid Schütz, Psychologie der Kommunikation (Basiswissen Psychologie), Wiesbaden 22016, dort insbes. 65–84.

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auszutauschen, also auf die Ebene der Metakommunikation zu wechseln. Auch dabei könnte problemlos auf bewährte Sozialformen und Methoden zurückgegriffen werden. Ein Anwendungsbeispiel für Theorie und Praxis gleichermaßen wäre das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen. Hier wird – soweit ich dieses weite Feld überblicke – das Augenmerk bisher fast ausschließlich darauf gerichtet, was die Beteiligten sagen, welche Vorstellungen sie ausdrücken, welche Sprache sie verwenden u. ä. Die Interaktion, die sich dabei zwischen den Kindern oder Jugendlichen ereignet, steht demgegenüber nicht im Zentrum des Interesses. Dabei könnte es reizvoll sein, Zeit und Gelegenheit zu geben, sich nicht nur über bestimmte Inhalte, sondern sich auch über eben diesen Austausch auszutauschen.

5 Zusammenfassung Ich bin in diesem Text der Frage nachgegangen, wie Kommunikation im Zusammenhang mit religiöser Sprachfähigkeit verstanden werden kann. Dabei habe ich dafür plädiert, neben der »inneren Teamklärung« der Einzelperson auch die zwischenmenschliche Beziehungsebene in die Überlegungen miteinzubeziehen: Auch die Art und Weise, wie miteinander gesprochen wird, spielt für die (religiöse) Selbstklärung der Einzelperson eine wesentliche Rolle. Der Religionsunterricht ist damit immer auch ein Ort, an dem sich die religiösen Inhalte und Perspektiven, über die gesprochen wird, im konkreten Miteinander erproben, diskutieren und bewähren lassen. Im Ausblick habe ich skizziert, wie die bisherigen Gedanken weiterentwickelt werden können: Neben dem Augenmerk auf der Beziehungsebene sind hier u. a. die Bedeutung der Leiblichkeit für Bildungsprozesse und die spezifisch christliche Profilierung der gewaltfreien Kommunikation zu nennen. Die Konkretionen haben gezeigt, dass bei all dem das Rad nicht neu erfunden werden muss: Sowohl konzeptionell wie methodisch kann auf Bewährtes zurückgegriffen werden, wenn die Beziehungsebene von Kommunikation zur Sprache kommen soll.

Dr. Simone Ziermann ist wissenschaftliche Assistentin an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau im Fach Praktische Theologie.

Sinn und Sinnlichkeit. Leib und Körpersprache in Religion und religiösem Lernen Michael Meyer-Blanck

Wer sich »an den Rändern der Sprache« bewegt, hat zunächst zu bedenken, was die Sprache selbst ausmacht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Konzentration auf die verbale Sprache eine alltagskonventionelle Einschränkung bedeutet, die einer grundlegenden philosophischen Überlegung nicht standhält. Der Geist der Menschen betätigt sich in mehreren Sprachen. Versteht man unter »der Sprache« die geistige Fähigkeit, sich selbst und einer Sache Ausdruck zu geben, etwas darzustellen sowie Bedeutung1 zu entwickeln und diese mit anderen zu teilen, dann ist deutlich, dass Verbalsprache und Körpersprache eng zusammengehören. Beide sind Bestandteil der menschlichen Symbolfunktion, jener geistigen Tätigkeit, mit der aus sinnlichen Eindrücken individuelle wie gemeinsame Bedeutungen und Sinn generiert werden.2 Der Begriff des »Geistigen« bzw. des »Geistes« meint in diesem Zusammenhang die schlichte Tatsache, dass wir die Welt nicht nur betrachten, sondern uns auch einen Reim auf sie machen können. Diese Fähigkeit ist Bestandteil der conditio humana; sie gehört damit zum Menschsein – unabhängig von der jeweiligen psychischen und geistigen Entwicklung bzw. Kompetenz. Den Ausgangspunkt bildet dabei die fundamentale Einsicht, dass die Welt durch unsere Sprache keinesfalls nur abgebildet wird. Sie wird vielmehr zuallererst in ihrem Sosein und Zuhandensein symbolisch durch Sprache geschaffen. Das Menschsein besteht nicht nur aus Sinnesempfindungen und Emotionen, sondern auch aus dem Sinn, der diesen zugeschrieben wird. Altertümlich und

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Die Stufenfolge von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung geht zurück auf Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders. (Hg.), Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, 169–200, bes. 178–183. Zur Trias von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung in Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« siehe Anton Bucher, Symbol – Symbolbildung – Symbolerziehung. Philosophische und entwicklungspsychologische Grundlagen, St. Ottilien 1990, 75–107 (vgl. dort insbesondere das Cassirer-Zitat, 81). 2 Cassirer versteht unter einer symbolischen Form »jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« (Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, 175)

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zugleich aktuell formuliert: Der Mensch ist ein geistiges Wesen.3 Das zeigt sich in seiner Fähigkeit, Zeichen für Dinge und Sachverhalte zu gebrauchen und sich so ins Verhältnis zu sich selbst, zu seiner Welt und zu anderen zu setzen. Die Symbolfunktion setzt die Sinne und damit die Körperlichkeit voraus; aber auch der Körper selbst kann Zeichen geben, Symbol sein und Bedeutung generieren: Der Körper ist neben allem anderen auch Sprachzeichen und dient der Verständigung.

1  Sprechende Körper 1.1 Sahen es die Platoniker aller Zeiten als einen Mangel an, dass der Mensch in den Worten, Begriffen und Vorstellungen nur den Schein der Wirklichkeit und nicht das Sein selbst zur Anschauung bringen könne, so drehte die moderne Zeichen- und Sprachphilosophie diesen Gedanken de facto um: Die Wirklichkeit ist die Welt, wie sie vom Menschen symbolisierend erschaffen wird. Außerhalb der Zeichenfunktion ist die Wirklichkeit nicht, weil alle Gedanken zeichenvermittelt sind. »Every thought is a sign«4, oder zugespitzt: extra symbolum mundus non est. Erst die Sprache gibt der Welt Signifikanz, Wahrnehmbarkeit und Bedeutung, sowohl dem eigenen Selbst als auch der menschlichen und dinglichen Umwelt. Ich bin der, als der ich mich selbst artikuliere und zu einer Sache äußere. Dabei ist die Sprache nicht mein Besitz, sondern sie ist die Energie meiner in der Sozialisation erworbenen Symbolfunktion. Weiterhin ist die Sprache selbst ein lebendiges Geschehen und kein Artefakt – sie ist »Energeia« und nicht »Ergon«.5 Ernst Cassirer hat aus dieser Humboldt’schen Unterscheidung den Schluss gezogen, dass wir der Sprache »statt einer bloß reproduzierenden eine produktive und konstruktive Rolle«6 zuschreiben müssen. Die Sprache, 3 Vgl. Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018, 269: »Meine Wirklichkeit ist nicht mehr und nicht weniger als der Umstand, dass ich ein geistiges Lebewesen, das heißt ein Mensch bin.« 4 Charles Sanders Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1991, 31 = Collected Papers 5, 253. 5 Wilhelm von Humboldt, Einleitung zum Kawiwerk, Nr. 12. Schriften zur Sprache, Stuttgart 2007, 36: »Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes.« 6 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 22007, 203; vgl. ebd., 51: »Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren« (dort kursiv).

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die Zeichen- und Symbolfunktion machen das Spezifikum des Menschen aus. Auch er ist kein bloßes Produkt seiner Sozialisation (»Ergon«), sondern er verwirklicht sich in seiner Kraft der Symbolfunktion (»Energeia«). Benutzt man statt des Wortes »Sprache« den etwas umständlichen Ausdruck der »Zeichen- und Symbolfunktion«, dann lassen sich neben der verbalen auch andere Sprachen erfassen, die für die Rekonstruktion unserer Welt maßgeblich sind. Der Körper spricht. Schon das Sprechen ist qua Körperresonanz ein leiblicher Vorgang und das gilt erst recht für das Sprechen mit anderen. Ich komme darauf zurück (3.4). 1.2 Bisweilen werden in der Diskussion, vor allem in der theologischen, die Ausdrücke »Leib« und »Körper« unterschieden. Auf diese Weise kann man die rein physiologische bzw. medizinische Betrachtung des »Körpers« von der symbolisch gefüllten sowie psychologisch, philosophisch und religiös konnotierten Betrachtung des »Leibes« absetzen. Besonders in der Jugendbewegung der 1920er-Jahre und in den daraus hervorgehenden liturgischen Bewegungen bevorzugte man den Ausdruck »Leib«. Mit dem »Körper« verband man die Physiologie, mit dem »Leib« den Sinn.7 Da aber eine lediglich biologische Betrachtung des Menschen inzwischen auch medizinisch nicht mehr vertreten wird, kann man beide Kategorien synonym verwenden. Es ist selbstverständlich, dass im pädagogischen, philosophischen und theologischen Zusammenhang immer an das geistig-seelische Selbstverhältnis gedacht wird, egal, ob vom »Körper« oder vom »Leib« gesprochen wird. Auf jeden Fall wird man festhalten müssen, dass der Mensch seinen Körper nicht rein instrumentell »haben« kann, weil er auch in aller Geistigkeit immer sein Körper »ist«; andererseits ist es das Spezifikum des Menschen, dass er sich von seinem Körper symbolisierend unterscheiden kann und insofern sein Körper-­Sein der eigenen Denk- und damit auch Distanzierungsfähigkeit unterliegt. Ich bin mein Körper, indem ich mich zu ihm verhalte. Ist die platonische Entgegensetzung von Leib und Seele auch mit Recht scharf kritisiert worden, so enthält sie mit dem Verweis auf diese Differenzierungsmöglichkeit dennoch einen wahren Kern. Das Kleinkind »ist« Angst und Schmerz, Freude und Glück, aber der Jugendliche und Erwachsene »hat« diese Empfindungen bzw. versucht, das alles umfassende Seinsverhältnis in eines des beherrsch­baren und sozial verträglichen Habensverhältnisses zu überführen. Der Geist des Menschen impliziert, ein theoretisches Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit und Emotionalität

7 Vgl. Wilhelm Stählin, Vom Sinn des Leibes, Stuttgart 31952.

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einnehmen zu können. Nicht zuletzt gehen psychotherapeutische Verfahren davon aus (etwa durch die Methode der Selbstbeobachtung). 1.3 Das Sprechen mit anderen wird von Mimik und Gestik begleitet und es ist jedem pädagogisch Tätigen geläufig, dass der Körper neben der verbalen Sprache nicht nur seine eigene Sprache spricht, sondern dass die Körpersprache die verbale bisweilen überlagert oder konterkariert. Erst recht Jugendliche mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit für die körperliche Präsenz durchschauen oftmals die Befindlichkeit der Lehrkraft hinter der sorgfältigen verbalen Fassade. Thomas Mann schildert, wie der 15-jährige Hanno Buddenbrook seinen schwachen Lehrer, den Kandidaten Modersohn, hinter dessen verbal zur Schau gestellter Strenge wahrnimmt: Als aber Herr Modersohn ihn anherrschte, wurde er ruhig und blickte still und finster auf den Kandidaten. Er sah in diesem Augenblick alles an ihm, jedes jämmerliche Härchen seines Bartes, der überall die Haut durchscheinen ließ und seine braunen, blanken, hoffnungslosen Augen. […] Er sah auch in sein Inneres hinein. […] Er [Kandidat Modersohn] kannte den Schüler Buddenbrook nur deshalb, weil er sich durch stilles Verhalten von den anderen unterschieden hatte, und diese Sanftmut nützte er dazu aus, ihn unaufhörlich die Autorität fühlen zu lassen, die er den Lauten und Frechen gegenüber nicht geltend zu machen wagte. Selbst das Mitleid wird einem auf Erden durch die Gemeinheit unmöglich gemacht, dachte Hanno. […] Und dass ich Sie obendrein so widerlich deutlich durchschauen muss!8 Die Sprache des Körpers verrät leicht mehr, als es die wohlüberlegten Worte tun. Im Idealfall dagegen unterstützt die eigene Körpersprache das verbal zum Ausdruck Gebrachte. Auf jeden Fall kann der Körper nicht schweigen. Er ist immer auch ein sprachliches Zeichen, das Sinn und Bedeutung generiert, sowohl für das körperlich präsente Selbst als auch für die anderen Anwesenden. 1.4 Wie wichtig die Sprache der Mimik ist, merken Lehrer:innen und Schulklassen in diesen Wochen (im November 2020) an der Maskenpflicht im Unterricht. Nicht nur die Augen, sondern besonders auch die Mundpartie bringt Emotionen zum Ausdruck. Vor allem Ekel, Trauer und Wut – man denke an die charakteristischen »Smileys« – lassen wir in der Regel über den Mund erkennen; mit einer Maske können diese Gefühle leicht verwechselt werden. Trägt man 8 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a. M. 1986, 738 (Elfter Teil).

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eine Gesichtsmaske, muss man versuchen, die eingeschränkte Mimik durch Gestik zu ersetzen. Das aber fällt Kindern und auch Jugendlichen (wegen der gesteigerten Aufmerksamkeit für alles Körperliche) nicht leicht. Auch die Verbalsprache muss beim Tragen einer Maske gestisch unterstützt werden. Keinesfalls reicht es, einfach lauter zu sprechen. Von der Lehrkraft muss langsamer, deutlicher artikuliert und betont sowie in möglichst kurzen Sätzen und mit einfacher Syntax gesprochen werden. Sind manche Schüler:innen schon unter normalen Umständen nur schwer zu verstehen, so erfordert das Zuhören jetzt zusätzliche Konzentration. Hinzu kommt die Unsicherheit im Umgang, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat. Man kann die veränderten Bedingungen allerdings auch positiv sehen: Die Maskenpflicht nötigt dazu, die mimische und verbale Kommunikation bewusst durch die gestische zu ergänzen. Insbesondere der mimische Ausdruck von Emotionen kann durch Augen, Hände und Füße ergänzt bzw. ersetzt werden. Die emotionale Erkennbarkeit der Lehrkraft ist für Kinder und Jugendliche jedenfalls eine entscheidende Voraussetzung, um sich selbst öffnen und vor anderen äußern zu können. Daraus folgt: Lehrer:innen sind herausgefordert, bewusster mit der eigenen Körpersprache umzugehen.

2 Intentionalität 2.1 Man kann nicht nicht körperlich präsent sein und man kann die Zeichenfunktion seiner Körperlichkeit, die eigene Körpersprache, nicht stumm schalten. Man ist sich seiner selbst immer in der Form der eigenen Körperlichkeit bewusst und sendet immer eine Botschaft davon, wer man ist, wie einem zumute ist und was man von einer gerade verhandelten Sache hält. Wir sprechen mit unserem Körper und in der Regel greifen wir auch intentional auf körperliche Zeichen zurück. Eine aktuelle Besonderheit bilden die Online-Lernformate (bzw. die »ZoomKonferenzen«), wie sie in diesen Monaten des Jahres 2020/21 vor allem in der akademischen Lehre praktiziert werden. Dabei wird deutlich, dass die Sprache des Körpers in der Regel sehr viel mehr hilft als stört. Ihr fast kompletter Ausfall bei internetbasierten Lernformen macht die Lehre für die Lehrenden wie für die Lernenden unsicherer und damit anstrengender und lässt die Beteiligten schneller ermüden. Das trifft andererseits nicht immer zu. Einen großen Unterschied macht es, ob man sich vorher persönlich gekannt hat oder nicht. Im ersten Fall ist die Körpersprache auch im Online-Format appräsentiert, also im Hintergrund vorhanden und wirksam: Die Körperlichkeit einer persönlich

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bekannten Person auf dem Bildschirm wird vom Gegenüber aus der Sprache und Mimik erinnernd rekonstruiert und ergänzt. Man sieht das Gegenüber als diejenige Person, wie sie einem auch als leiblich präsente vertraut ist. Das trifft allerdings bei reinen Online-Seminaren nicht zu. Je besser man sich vorher kennt, desto leichter fallen Online-Formate. Betrachtet man – abgesehen von dieser Sondersituation der halbfiktionalen, appräsentierten Körperlichkeit – das Sprechen und Kommunizieren mit dem Körper, dann ist zuerst, ausgehend von dem Unterrichtsbeispiel aus den »Buddenbrooks«, die Intentionalität der Körpersprache in den Blick zu nehmen. Man kann den eigenen Körper mehr oder weniger willentlich sprechen lassen. Der Kandidat Modersohn sendet Signale aus, die erkennen lassen, dass er sich in einer »jämmerlichen« und »hoffnungslosen« Lage wähnt. Verbal und stimmlich dagegen versucht er die Autorität auszustrahlen, die er nicht zu gewinnen vermag. Den Schülern ist deutlich, dass er es nicht wagt, gegenüber den Starken streng zu sein. Es muss nicht geschildert werden, wie der junge Lehrer körperlich auftritt. Man sieht es auch so vor sich, wie alle Jungen in der Klasse ihn beobachten und durchschauen. 2.2 Die nicht intentionale Körpersprache in Situationen wie dieser ist der Gegenstand vielfacher Ängste bei Personen, die vor Gruppen oder öffentlich auftreten wollen bzw. müssen: Man könnte mir ansehen, wie unsicher ich mich fühle, man könnte meine Angst hinter der heiteren Fassade durchschauen und meine Schwäche ausnutzen, um mir zu schaden. Das trifft nicht nur beim Unterrichten zu, sondern besonders auch bei der öffentlichen Rede und in Leitungssituationen. Deshalb gibt es zahlreiche »Coachings«, die einem helfen sollen, Sicherheit, Freude an der Sache und Selbstbewusstsein auszustrahlen. Zunächst gilt es bei solchen Programmen, die eigene Körpersprache wahrzunehmen und zu verstehen. Dabei werden in der Regel drei Verhaltensweisen bzw. Lernphasen angenommen: erstens die nicht intentionale Körperpräsenz, zweitens die bewusst gemachte und bewusst modifizierte Körperpräsenz und drittens die automatisierte, habitualisierte modifizierte Körperpräsenz. Man hat sich dann ein verändertes Agieren etwa an der Tafel oder bei der Moderation des Unterrichtsgespräches angewöhnt, z. B. den offenen Blickkontakt zur Klasse oder die zugewandte Haltung beim Tafelanschrieb.9

9 Hilfreich und mit zahlreichen Abbildungen dazu Rudolf Heidemann, Körpersprache vor der Klasse. Ein praxisnahes Trainingsprogramm zum Lehrer- und Lehrerinnenverhalten, Heidelberg/Wiesbaden 41992.

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2.3 Damit ist die maßvoll intentionale Körpersprache als das Ideal des kommunikativen Berufes (Lehrer:in, Jurist:in, Pfarrer:in, Mediziner:in) erreicht. Das dabei vorauszusetzende rechte Maß ist deswegen wichtig, weil eine lediglich imitatorisch eingeübte und nicht persönlich angeeignete Körpersprache etwas Unechtes behält. Man erkennt daran, dass der Körper anders sprechen soll, als er eigentlich sprechen würde. Dies kann so wirken, wie wenn jemand durch eine übertrieben gelehrte Wortwahl eine besondere Wissenschaftlichkeit oder durch die Anlehnung an Jugendsprache eine erhöhte Nähe zur Lerngruppe nachweisen möchte. In solchen Fällen befremdet weniger die Sprache selbst, sondern stärker der Versuch des Nachweises und erst recht der Verdacht, hier solle um der besseren Wirkung willen etwas als persönlich angeeignet vorgetäuscht werden, was der Person aber tatsächlich fremd geblieben ist. In analoger Weise wird man auch bei der Arbeit an der eigenen Körpersprache vorsichtig, Schritt für Schritt und maßvoll, passend zur eigenen Person vorgehen. Treffend hat Schleiermacher über den Prediger gesagt: »Wenn dem Zuhörer sich aufdringt, dass der Redner auf die begleitende Bewegung einen großen Fleiß gewendet hat: so ist die Grenze überschritten«10. Oder, noch zugespitzter: »Kein evangelischer Christ würde es aushalten können zu wissen, dass ein Prediger beim Spiegel die mimischen Bewegungen ausgedacht habe; dies Bewusstsein könnte nur störend sein.«11 2.4 Die überwiegend oder auch gänzlich intentionale Körpersprache schließlich ist dort von Bedeutung, wo konventionalisierte Zeichen verabredet, gegeben und verstanden werden: Die Schüler:innen melden sich durch Handzeichen, die Lehrkraft legt den ausgestreckten Zeigefinger vor den Mund, um Ruhe zu erbitten, oder sie gibt den Einsatz beim Singen eines Kanons. Im Schulgottesdienst neigt man den Kopf und schließt die Augen beim Gebet oder faltet die Hände. Solche Zeichen sind wie Vokabeln, deren Gebrauch man erlernt und auf die man dann routiniert zurückgreifen kann. Religiöse Handlungen enthalten vielfach solche intentional körpersprachlichen Zeichen, um den Code des religiösen Verstehens zu markieren. Insbesondere Gebetshaltungen (Händefalten, erhobene Arme und Hände bei der sogenannten Orante-Haltung, Knien und Sich-Niederwerfen (Prostratio))12 10 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin/New York 1983, 321. 11 Ebd., 110. 12 Vgl. Thomas Ohm, Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum, Leiden 1948; Anselm Grün/Michael Reepen, Gebetsgebärden, Münsterschwarzach 1988; Michael Meyer-Blanck, Das Gebet, Tübingen 2019, 131–139 (§ 14, Die Leiblichkeit des Betens).

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sind Gesten, die das menschliche Existieren coram Deo als Konzentration und Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit oder als Unterwerfung zum Ausdruck bringen und so auch anderen zu diesem Welt- und Selbstverhältnis verhelfen sollen. Einfacher gesagt: Religiöse Gesten bringen Glauben zum Ausdruck, sollen Glauben ermöglichen und den Austausch über den Glauben fördern. Sie können besonders auch Glaubenserfahrungen performativ intensivieren. Das ist vor allem von Segenshandlungen (Kreuzeszeichen, Handauflegung) geläufig. Von professioneller Seite (von Liturg:innen) können diese körpersprachlichen Gesten nicht durch schnelle Imitation erworben werden; sie sind vielmehr mit dem gesamten liturgischen Habitus auf dem Wege eines langfristigen Bildungsprozesses persönlich anzueignen.13 Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich auch in der evangelischen Kirche die Einsicht durchgesetzt, dass die professionelle Gestik (durch Proben mit gezieltem Feedback) geübt werden muss. Denn auch körpersprachliche Zeichen müssen – wie verbalsprachliche Ausdrücke – deutlich artikuliert werden, um verstanden zu werden.14 Verschämte, undeutliche und nur halbherzig vollzogene Gesten sind wie genuschelte Wörter mit verschluckten Silben. Sie verweisen mehr auf die Benutzenden der Zeichen als auf die bezeichneten Inhalte, während man bei guten Liturg:innen die Aufmerksamkeit für die jeweils handelnde Person gerade vergisst.

3 Zeichenstruktur 3.1 Körpersprachliche Zeichen, die die menschliche Rede begleiten bzw. unabhängig von ihr als Rede funktionieren, werden im alltäglichen Sprachgebrauch zu Recht mit dem Begriff der »Zeichensprache« belegt, weil jedem geläufig ist, dass fundamentale Analogien zur verbalen Sprache bestehen: Es gibt eine:n Sender:in, eine:n Rezipient:in und eine Sache, auf die verwiesen und über die Verständigung (sei es im Konsens oder im Dissens) herbeigeführt werden soll. Sowohl bei religiösen Handlungen als auch bei Gesprächen wie in Gruppen- und Unterrichtssituationen kommt es demnach darauf an, dass auch die Körpersprache als ein sinnbildendes Geschehen aufgefasst werden muss: Sie ist nicht bloßes Ergon, sondern sie erweist sich als echte Sprache, als Energeia von Verstehens- und Verständigungsprozessen. Die Zeichen sind Medien, die nicht nur Bedeutung transportieren, sondern selbst Bedeutung generieren. 13 Vgl. Michael Meyer-Blanck, Gebildete Routine und gelerntes Ritual. Liturgische Ausbildung in der evangelischen Kirche, in: ders., Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 13), Tübingen 2013, 284–295. 14 Vgl. Thomas Kabel, Übungsbuch Liturgische Präsenz, Gütersloh 2011.

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3.2 Dazu ist es wichtig, auch die Körpersprache als ein Geschehen von dreistelliger Zeichenhaftigkeit im semiotischen Sinne aufzufassen. Ein Zeichen, sei es ein Wort, ein Satz oder eine Geste, funktioniert nicht nach dem zweistelligen Muster des aliquid stat pro aliquo, als handle es sich um eine unabhängig von Sender:in, Empfänger:in und Kommunikationssituation bestehende Bedeutung. Bedeutung gibt es nicht als solche, sondern Bedeutung ereignet sich. Das semiotische Zeichen ist kein Ding (wie das Verkehrszeichen oder das Handzeichen), sondern es ist die Momentaufnahme innerhalb eines Zeichenprozesses. Vom Zeichen gilt dasselbe, was Humboldt von der Sprache sagte: Das Zeichen ist kein Werk (»Ergon«), sondern eine Tätigkeit, die etwas ins Werk setzt (»En-ergeia«). Im semiotischen Sinne besteht jedes Zeichen aus 1. der sinnlich wahrzunehmenden Zeichengestalt (Signifikant), 2. dem Verweis auf ein Objekt (Referent) und 3. dem auf diese Weise zustande kommenden Zeichengehalt (Signifikat bzw. Interpretant).15 In der Logik der semiotischen Theorie ist dabei der »Interpretant« zwar nicht einfach mit dem:der Interpret:in zu identifizieren, gleichwohl kann gesagt werden: Mit dem Interpretanten ist dasjenige gemeint, was aus dem Zeichen durch den Zeichenprozess, also auf dem Wege der Zeicheninterpretation, wird. Der Tadel des Kandidaten Modersohn wird zum Zeichen der Jämmerlichkeit und Hoffnungslosigkeit. Der Fortgang des Zeichenprozesses unter den Benutzenden ist entscheidend, also das, »was hinten herauskommt«. 3.3 Diese Einsichten sind von fundamentaler praktischer Relevanz. Sie implizieren, dass man nicht Wörter und Gesten beherrschen muss, sondern die Verständigung mithilfe von Wörtern und Gesten. Eine gute Lehrkraft wird nicht »Ruhe!« schreien (und so dem performativen Selbstwiderspruch verfallen), sondern sie wird durch Worte und Gesten Ruhe in die Lerngruppe hineinbringen: Sie wird zum Ereignis des Interpretanten »Ruhe« verhelfen. Man kann demnach die kommunikative Zeichensprache nicht wie ein konventionalisiert funktionierendes Morsealphabet lernen – dann bräuchte man keinen langwierigen und teuren Prozess wie die Lehramtsausbildung. Will man körpersprachliche Zeichen in bewusster Intentionalität (siehe oben unter 2.) nutzen und diese nicht nur unwillkürlich aussenden, dann bedarf es eines professionellen Sprachbildungsprozesses auf diesem Gebiet. Sprechweisen und Sprachgebrauch, Rezeption und Verständigung haben ihre eigene Lebendigkeit (»Energie«) und Geschichtlichkeit. Liest man etwa die von Thomas Mann in den Buddenbrooks gegebenen 15 Für eine kurze Einführung siehe Michael Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Rheinbach 22002, 57–89 sowie ders., Semiotik und Praktische Theologie (Research Report), in: IJPT 5 (2001), 94–133.

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genauen Beschreibungen der Körpersprache der damaligen Lehrer und Schüler in der Gründerzeit der 1870er Jahre, dann wird der Wandel sofort deutlich.16 3.4 Einen erheblichen Einfluss auf die sprachliche Verständigung hat auch die Stimme. Sie ist gewissermaßen das verbindende Element zwischen Verbalsprache und Körpersprache. Der sprechende Körper wirkt aufgrund seiner Resonanz und erzeugt bei den Zuhörenden Resonanz oder auch Dissonanz. Eine angenehme Stimme und eine verständliche Artikulation erleichtern den Lehrenden das Geschäft des Unterrichtens ungemein. Wohlklang und ein guter Rhythmus der Stimme berühren bisweilen mehr als der Inhalt. Man denke nur an das rhetorische Charisma von Barack Obama und an die von dem Schauspieler und Rezitator Gert Westphal (1920–2002) gelesenen Hörbücher von Theodor Fontanes und Thomas Manns Romanen. Eine gepflegte und wohlklingende Stimme eröffnet gedankliche Perspektiven und schafft positive Emotionen. Wer Lehrer:in wird, ergreift einen Sprechberuf und sollte sich darauf einstellen. Hin und wieder müssen einige sogar das Lehramt aufgeben, weil sie ihm stimmlich nicht länger gewachsen sind. Dabei sind Sprech- und Stimmideale historisch bedingt und damit höchst wandelbar. Hört man sich etwa Reden aus der christlichen Sing- und Jugendbewegung zwischen 1930 und 1935 an, dann sind diese vom Nazigeschrei nur schwer zu unterscheiden. Das gilt nicht nur für das signifikante Zungen-R (das hauptsächlich der begrenzten Qualität der damaligen Tontechnik geschuldet war), sondern auch für die übertriebene Dynamik und Expressivität. Inzwischen hat man dagegen den Eindruck, dass unartikuliertes und kaum verständliches Sprechen als besonders »authentisch« gilt. »Tatort«-Kommissare sind jedenfalls denkbar schlechte Vorbilder für das unterrichtliche Sprechen.

4  Religiöses Lernen und Körpersprache 4.1 Weil sich auch Religionen in der Körpersprache zum Ausdruck bringen, ist diese relevant für das religiöse Lernen. Gebetshaltungen wie das Händefalten, Segensgesten der Eltern beim Verlassen des Hauses, Selbstbekreuzigung und Niederknien in Kirche und Gottesdienst sind religiöse Zeichen, die nicht nur über das Verstehen ihre Wirkung entfalten. Gerade der Automatismus prägt sich auch 16 Vgl. Mann, Buddenbrooks, 706–741. Mann bietet die minutiöse Beschreibung eines Schulvormittags, wie der Autor ihn selbst zwischen 1885 und 1893 am Lübecker »Katharineum« erlebt haben wird.

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dann ein, wenn sich das Bewusstsein gerade mit anderen Dingen beschäftigt. Gerade wenn das Kind (noch) wenig versteht, hat die Erinnerung an religiöse Erlebnisse und Empfindungen immerhin einen einprägsamen Ort in der eigenen Körperlichkeit. Es muss nicht alles immer bewusst erlebt und intellektuell durchdrungen und auch nicht verbal erklärt werden. Religion lernt man nicht nur von innen nach außen (im Sinne des Ausdrucks inneren Erlebens), sondern auch umgekehrt von außen nach innen (im Sinne des persönlichen Einprägens äußerer Gesten). Nicht immer muss das eigene religiöse Selbstbewusstsein den Ausgangspunkt bilden. Carl Zuckmayer (1896–1977) hat die selbstverständliche Gestik im Katholizismus seiner Kindheit in seiner Autobiografie so beschrieben: […] das Kind läuft in die Kirche wie in den Bäckerladen, es ist nichts pietistisch Würdevolles oder Griesgrämiges dabei, hier riecht es nach warmem Brot, dort nach steinkühlem Weihrauch; das Kniebeugen, Niederknien, Händefalten, Kreuzschlagen […], das alles fügt sich ins tägliche Leben ein wie Schlafengehen, Aufstehen, Anziehen, Lernen, Spielen.17 Mag diese Art des kindlichen Lernens auch im heutigen Katholizismus weitgehend verschwunden sein, so lässt sich gleichwohl feststellen, dass der Protestantismus an diesem Punkt höchst defizitär ist. Insgesamt dominiert die Ansicht, dass das religiöse Verstehen den Vorrang vor der religiösen Praxis haben muss. Es ist nach dieser verbreiteten Ansicht besser, auf unverstandene Zeichen zu verzichten. Das hemmt die Erziehenden (besonders in der Familie). 4.2 Diesem Zusammenhang hat sich in letzter Zeit vor allem die »performative« Religionsdidaktik zugewendet. Silke Leonhard und Thomas Klie stellen in ihrer thesenartigen Darstellung heraus, dass elementare Bildung mehr als nur kognitive Kompetenzen umfasst, sie »schließt leibliche, räumliche und gemeinschaftliche Teilhabe am Leben ein«18, oder, prägnant zugespitzt: »Darstellung ohne Reflexion bleibt ungebildet, Reflexion ohne Darstellung ist gegenstandslos.«19 Speziell die liturgischen Texte und Gesten haben in derselben didakti17 Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt a. M. 1966, 150 f. 18 Silke Leonhard/Thomas Klie, Performatives Lernen und Lehren von Religion, in: Bernhard Grümme/Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven in der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012, 90–104, hier 90; ferner Silke Leonhard, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs, Stuttgart 2006. 19 Leonhard/Klie, Performatives Lernen, 91.

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schen Haltung des probeweisen Inszenierens Bärbel Husmann und Thomas Klie für den Religionsunterricht aufbereitet.20 In solchen Inszenierungen soll sowohl die Künstlichkeit als auch die Dichte der dargestellten Gesten und Inhalte maßgeblich sein.21 Auf diese Weise lässt sich lernen, dass sich der Mensch nicht nur verbalsprachlich, sondern auch körpersprachlich ausdrückt und dass er gerade bei der Darstellung von Transzendenz, also von dem, was sein Verstehen übersteigt, sich mit körperlichen Gesten auszudrücken sucht. Insofern lernt man auf diesem Weg auch etwas über die conditio humana und überschreitet so die speziellen religiösen Fragen und Gegenstände. Die christliche Liturgie ist nicht nur ein Gefäß für das Evangelium. Sie bewahrt auch etwas von dem Wissen um das menschliche Ausdrucksverhalten auf. Die Symbolfunktion des Menschen hat viele Gesichter. 4.3 Ob allerdings dieser Weg wesentlich dazu beitragen kann, die Tradierungskrise des christlichen Glaubens zu überwinden, mag mit Recht bezweifelt werden. Denn der körpersprachliche Ausdruck gehört zum Persönlichen eines Menschen. Selbst wenn die Gesten konventionalisiert sind (siehe oben das Beispiel von Zuckmayer), können sie nicht schulisch – und wohl auch kaum gemeindlich – habitualisiert werden. Das eigentliche Lernen körperlichen Selbstausdrucks geschieht im Rahmen der primären (familiären) Sozialisation. Die Aufmerksamkeit für die Körpersprache ist damit ein zusätzlicher Grund, die religionspädagogische Blickverengung auf Schule und Gemeinde zu überwinden und die Familie als Akteurin auch theoretisch ernster zu nehmen. Denn mit der Familie »kommt ein Lernort in den Blick, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann«22.

Dr. Dr. Michael Meyer-Blanck ist Professor für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

20 Vgl. Bärbel Husmann/Thomas Klie, Gestalteter Glaube. Liturgisches Lernen in Schule und Gemeinde, Göttingen 2005. Auch hier sind die Prinzipien »Inszenierung« und »Probehandeln« (12 ff.) leitend. Dabei muss für die Schüler:innen »deutlich werden, dass ihr Probeaufenthalt in der Welt liturgischer Formen ›nicht wirklich‹ Liturgie ist« (24). 21 Vgl. ebd., 25. 22 Michael Domsgen, Religionspädagogik (Lehrwerk Evangelische Theologie 8), Leipzig 2019, 385–420, hier 385.

Die hebräische Sprache in ihrer Bedeutung für das Judentum und den Jüdischen Religionsunterricht Mark Krasnov

1  Historischer Exkurs zur Bedeutung des Hebräischen Es ist weithin bekannt, dass das Hebräische die Sprache des Tanachs, der Heiligen Schrift des jüdischen Volkes, ist. Im Tanach selbst finden sich zwei unterschiedliche Bezeichnungen für das Hebräische. So wird diese Sprache in Verbindung mit ihrer Herkunft angeführt und als »S’fath K’na’an« (»Sprache Kana’ans«; Jes 19,18) bezeichnet oder lediglich mit dem Adjektiv »jehudith« (»judäisch«; z. B. 2 Kön 18,26.28 u. ö.) angegeben. Erst in der nachbiblischen jüdischen Traditionsliteratur wird dem Hebräischen ein qualifizierendes Adjektiv verliehen, wodurch die Einzigartigkeit dieser Sprache deutlich hervorgehoben wird: »Laschon haKodesch«1 (»die Sprache der Heiligkeit« bzw. »die heilige Sprache«). Gleichzeitig werden mit dieser Bezeichnung Funktion und Anwendungsbereich des Hebräischen definiert bzw. restringiert. Dies bedeutet, dass die »heilige Sprache« nur für den sakralen Bereich vorgesehen und von allen profanen Sprachen abgegrenzt sein soll. Ferner kommt aus theologischer Sicht noch hinzu, dass »Gott […] damit, dass er Israel zum Bundesvolk erwählte, auch die Sprache dieses Volkes erwählt und zum ersten sprachlichen Mittler seiner Offenbarung gemacht [hat]«2. Aus dem biblischen Hebräisch entwickelte sich als zweite Sprachstufe das sog. »rabbinische Hebräisch«, welches zunächst als alltägliche Umgangssprache sowie als Schriftsprache diente. Doch infolge der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 u. Z., dem damit einhergehenden völligen Verlust der staatlichen Souveränität und dem Beginn der Diaspora, der Zerstreuung des jüdischen Volkes über den Mittelmeerraum und schließlich über ganz Europa, verschwand das Hebräische allmählich endgültig als Alltagssprache. Die jüdische Minderheit, die sich in den unterschiedlichsten Ländern niederließ, eignete sich in ihrem eigenen Interesse möglichst schnell die Sprache des Landes 1 Mischna, Massechet Sotah, Perek 7, Mischna 1. 2 Hans Joachim Stoebe, Der hebräische Unterricht und das theologische Studium, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 42 (1953), 70.

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an, in dem sie sich jeweils aufhielt. Hebräisch fand daher ab ca. 200 u. Z. nur noch in religiösem Kontext Verwendung. Es wurde als Sakralsprache für liturgische Zwecke eingesetzt und fungierte als Sprache der Gelehrten. Diese verfassten im »rabbinischen Hebräisch« unzählige religionsgesetzliche und religionsphilosophische Werke sowie religiöse Abhandlungen medizinischer Art. Auch religiös motivierte Dichtung erlebte in dieser schöpfungsreichen und kulturell hochstehenden Zeit eine besondere Blüte. Zudem standen die verschiedenen jüdischen Gemeinden trotz oder vor allem wegen der Diasporasituation miteinander in gelegentlichem Kontakt. Ihre Korrespondenz erfolgte hierbei ebenfalls in eben jenem rabbinischen Hebräisch, wodurch in eindrucksvoller Weise eine gewisse Sehnsucht und zugleich ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck gebracht wurden. Diese beiden subjektiven Empfindungen beruhten auf der einstigen gemeinsamen Herkunft und der ehemaligen einander verbindenden Muttersprache. Die dritte Sprachstufe umfasst das neuzeitliche Hebräisch und ging mit dem Beginn der zionistischen Bewegung im späten 19. Jahrhundert einher. Die Rückkehr des jüdischen Volkes in sein ursprüngliches Land und die Erneuerung seines geistigen, politischen und wirtschaftlichen Lebens im Rahmen eines unabhängigen jüdischen Staates machte die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache zunehmend deutlich. Immerhin kamen die Einwanderer aus verschiedenen Ländern und hatten dadurch natürlich unterschiedliche sprachliche Hintergründe. Doch um ihr kollektiv erklärtes Ziel zu erreichen, bedurfte es dringend einer einenden Nationalsprache, die darüber hinaus identitätsstiftende Funktionen übernehmen sollte. Wenn auch naheliegend, fiel die Wahl hierbei aus tiefreligiösen Pietätsgründen nicht sofort auf die Sakralsprache Hebräisch, sodass es zwischenzeitlich ernsthafte Überlegungen gab, Deutsch als Amtssprache des neu zu gründenden Staates einzuführen. Dass es letztlich zu einer Renaissance des Hebräischen und einer Säkularisierung der Heiligen Sprache kam, geht auf die Initiative und Durchsetzungskraft von Elieser Ben Jehuda (1858–1922) zurück. Als überzeugter Zionist vertrat er die Ansicht, dass das jüdische Volk mit Hebräisch bereits eine gemeinsame Sprache hatte, die allgemein verbreitet werden sollte und fortan entgegen der rabbinischen Tradition nicht mehr nur auf die Liturgie und für die Diskussion religiöser Themen beschränkt werden durfte. Ben Jehuda und seine Familie gingen selbst mit gutem Beispiel voran und sprachen seit ihrer Einwanderung nach Israel untereinander ausschließlich Hebräisch. Auf Grundlage des biblischen Hebräisch verfasste Ben Jehuda das erste moderne hebräische Gesamtwörterbuch, welches erst posthum von seiner zweiten Frau und seinem Sohn vollendet wurde. Einen triumphalen Sieg erreichten Ben Jehuda und seine Anhänger 1922, als die britische Mandats­

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regierung Hebräisch neben Englisch und Arabisch zur dritten offiziellen Amtssprache im Mandatsgebiet Palästina erhob. Auf diese Weise war es Ben Jehuda gelungen, sein ursprüngliches Vorhaben erfolgreich umzusetzen und Hebräisch als lebendige Muttersprache und als offizielle alltägliche Kommunikationssprache wiederzubeleben.3 Während die Schriftzeichen und die Morphologie auf dem biblischen Hebräisch basieren, weist die Syntax des Neuhebräischen linguistische Phänomene beider vorhergehenden Sprachstufen, d. h. sowohl des biblischen als auch des rabbinischen Hebräisch, auf. Am markantesten ist hier wohl das erst im rabbinischen Hebräisch eingeführte dreigliedrige Tempussystem, das den europäischen Sprachen entspricht und die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinhaltet. Auch in Hinblick auf den Wortschatz gibt es einige gravierende Bedeutungsverschiebungen, da die ursprünglich religiöse Sprache nicht über alle Begrifflichkeiten verfügte, die bedingt durch den Wandel der Zeit in der alltäglichen Kommunikation erforderlich geworden waren. Hierbei verfolgte Ben Jehuda stets die Prämisse, zunächst auf ein dem biblischen oder rabbinischen Hebräisch selbst genuines Wort zurückzugreifen. Erst dann schuf er passende, hebraisierte Lehnwörter, wobei er ausschließlich den Wortschatz anderer semitischer Sprachen wie Aramäisch oder Arabisch heranzog. So fand beispielsweise bei dem Wort ‫ר ֶכב‬/»réchew« ֶ eine semantische Verschiebung statt, indem aus dem »Streitwagen« der biblischen Zeit das »Auto« der Moderne wurde. Die Tatsache, dass der Wortschatz des Neuhebräischen sich überwiegend dem des biblischen und rabbinischen Hebräisch bedient, führt vor allem in Hinblick auf die unzähligen Erfindungen der Neuzeit zu kompletten Neologismen oder dazu, dass Partizipien als selbstständige Substantive gebraucht werden. Für das »Handy« wurde im Hebräischen der Neologismus ‫ּפ ֶלאפֹון‬/»pélefon« ֶ geschaffen. Interessanterweise handelt es sich hierbei um eine Zusammensetzung aus dem eigenständigen Wort für »Wunder« – ‫ּפ ֶלא‬/»péle« – ֶ und aus dem Wortbestandteil ‫פֹון‬-/»-fon«, der wiederum, wie in allen anderen Sprachen auch, ursprünglich vom Griechischen φωνή/»phōnē« stammt und »Stimme« bedeutet. Somit ist das »Handy« nach hebräischem Sprachverständnis eine wahre »Wunderstimme«. Unumstritten ist auch, dass es zu biblischer Zeit noch keinen »Kühlschrank« und dementsprechend auch kein eigenes Wort für dieses Gerät gab. Dagegen ist das Verb ‫ה ֵק ָרה‬/»hekerá« ֵ in seiner Bedeutung »kalt, frisch machen/ erhalten« belegt (Jer 6,7). Es ist also offensichtlich, weshalb im Neuhebräischen das, im biblischen Hebräisch übrigens nicht belegte und zu anderen Verben 3 Vgl. Eli Barnavi (Hg.), Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Ein historischer Atlas, München 2004, 200 f.

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analog gebildete, künstliche Partizip ‫מ ָק ֵרר‬/»mekarér« ְ geschaffen wird. Dieses Partizip ist im Neuhebräischen ein eigenständiges Substantiv und bedeutet ganz im Sinne des Erfinders: »kalt, frisch machend/erhaltend«. Wie soeben aufgezeigt, ist das Neuhebräische dem biblischen Hebräisch wesentlich ähnlicher als dies bei anderen modernen Sprachen im Vergleich zu ihren historisch weiter zurückliegenden Sprachstufen der Fall ist.4 Dies lässt sich am besten anhand eines Gedankenexperimentes verdeutlichen: Wenn Reisen durch Zeit und Raum möglich wären und man eine Person, die Neuhebräisch spricht, in biblische Zeiten befördern würde, so gäbe es dann dort keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Im Gegensatz dazu sähen sich Sprechende anderer moderner Sprachen auf ihrer potenziellen Zeitreise mit massiven Kommunikationsproblemen konfrontiert. Daher ist die Wiederbelebung und allgemeine Verbreitung der einst antiken Sprache Hebräisch ein einzigartiges Phänomen in der Menschheitsgeschichte und gilt zweifelsfrei als erstaunliche kulturelle Leistung.

2 Praxisnahe Beispiele für den Einsatz der hebräischen Sprache im jüdischen Religionsunterricht Die Lehr- und Lerntradition des jüdischen Volkes ist sehr alt. Bereits in der Torah werden die Grundlagen der Erziehung manifestiert (Vgl. Dtn 4,9; 6,6–9.20–25; 11,18–20) und gründen sich auf der Weisung: »[…] und lehret sie [die Gebote] eure Kinder« (Dtn 11,19). Voraussetzung für die Erfüllung dieser religiösen Verpflichtung war schon immer das Lesen und Studieren der heiligen Texte.5 Auf diese Weise wurde eine religiös bedingte Alephbethisierung aller jüdischen Jungen gefördert, was letztlich eine ausgeprägte Lesekompetenz gewährleistete. Indem also jede:r grundsätzlich dazu befähigt war, das überlieferte Wort zu lesen und zu verstehen, verhinderte die jüdische Tradition bewusst, dass nur eine kleine Elite an zunächst Priestern und später Gelehrten exklusiven Zugang zu der Heiligen Schrift und ihren Auslegungen besaß. Im Vergleich zu anderen, meist christlichen Jungen, die bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert größtenteils Analphabeten waren, verschaffte

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Als Beispiel seien die romanischen Sprachen genannt, die allesamt aus dem Lateinischen hervorgegangen sind, sich aber in allen linguistischen Hinsichten (phonologisch, morphologisch, syntaktisch, semantisch, lexikalisch) erheblich und divergent weiterentwickelt haben, oder Mittelhochdeutsch, das sich völlig vom modernen Hochdeutsch unterscheidet. 5 Vgl. Mischna, Traktat Awoth, Kapitel 5, Mischna 25; Talmud Jeruschalmi, Traktat Megila, Kapitel 3, Halacha 1, Blatt 23, Vorderseite.

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diese Vorgehensweise den jüdischen Schülern lange Zeit einen erheblichen Bildungsvorsprung.6 Die Kenntnis des Hebräischen stellt somit den Schlüssel dar, um das jüdische Volk, seine Religion und seine Kultur zu verstehen, und steht seit jeher im kulturstiftenden Kontext von religiöser Erziehung und Bildung. Ein Vergleich der vorhandenen und aktuell gültigen Kerncurricula der verschiedenen Länder zeigt, dass sich die Schüler:innen – angelehnt an die anderen Religionsfächer und Ethik – auch im jüdischen Religionsunterricht durch die Beschäftigung mit traditionellen und modernen Texten Kenntnisse über ihre Religion aneignen und zugleich ethische und kulturelle Werte der jüdischen Tradition erwerben sollen.7 Ein weiterer besonderer Schwerpunkt in den Lerngruppen der Primar- und Mittelstufe ist der Erwerb der Lese- und Schreibkompetenz der he­ bräischen Sprache. Allerdings ist der Religionsunterricht per definitionem kein reiner Sprachunterricht8, sodass die Sprache der Religion in diesem Rahmen und angesichts der Stundentafel mit zwei Unterrichtsstunden pro Woche nur auf grundlegendem Niveau geschult werden kann. Die Spracherwerbsphasen im jüdischen Religionsunterricht zielen – im Gegensatz zu einem Hebraicumskurs – daher nicht darauf ab, einen im biblischen oder rabbinischen Hebräisch vorliegenden Text vollständig zu erfassen und ins Deutsche übertragen zu können. Dies würde ein systematisches Erlernen der Sprache voraussetzen und vertiefende Sprachkenntnisse erfordern, die wiederum auf einer kontinuierlichen Wortschatzaneignung sowie auf der Beherrschung grammatischer Kenntnisse beruhen. Selbiges bezieht sich auf das Neuhebräische, welches ebenfalls nicht im Mittelpunkt des jüdischen Religionsunterrichts stehen kann. Stattdessen sollen die Schüler:innen einen Zugang zur Sakral- und Liturgiesprache erhalten und mit dieser vertraut werden. Da viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden heutzutage oftmals die he­ bräische Sprache aus unterschiedlichen Gründen nicht beherrschen, gibt es vielerorts in den Synagogen Gebetsbücher mit phonetischer Umschrift. Hierbei setzt sich jede Seite im Gebetsbuch aus den drei Elementen hebräisches Original, Transkription und Übersetzung zusammen. So haben die am G’’ttesdienst Teilnehmenden letztendlich die Möglichkeit, denselben Inhalt auf drei 6 Vgl. Karin H. Grimme, Judentum. Geschichte. Lehre. Glaube. Weltbild, o. O. [Köln] o. J. [2009], 40–41 und 79. 7 Vgl. Mark Krasnov, Religionsunterricht in jüdischer Perspektive, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 92–98. 8 Im Gegensatz zu den Kerncurricula in jüdischer Religion ist weder für den katholischen noch für den evangelischen Religionsunterricht ein Spracherwerb (Altgriechisch bzw. Latein) vorgesehen.

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verschiedene Weisen zu lesen. Diejenigen, die kein Hebräisch können, werden durch das Vorhandensein von Transkription und Übersetzung dazu ermutigt, überhaupt ein Gebetsbuch aufzuschlagen und es nicht bloß als »Buch mit sieben Siegeln« anzusehen. Des Weiteren hat jede Person – unabhängig von vorhandenen oder nicht vorhandenen Hebräischkenntnissen – stets die Möglichkeit, in der Übersetzung nachzulesen, worum es gerade im G’’ttesdienst geht. Trotz alledem sollte es die vornehmliche Aufgabe des jüdischen Religionsunterrichts sein, die Sprachkompetenz der Schüler:innen dahingehend zu fördern, dass sie sich im hebräischen Originaltext orientieren können. Die Vermittlung der Sprache bleibt also stets funktional auf das Verstehen der religiösen Praxis ausgerichtet und verfolgt keinen Selbstzweck. Die sprachliche Auseinandersetzung mit dem Hebräischen beginnt für die Schüler:innen mit der »Alephbethisierung«. Entsprechend berichtet eine jüdische Volkserzählung von einem Waisenjungen, der nicht zur Schule gehen konnte und nur das Aleph Beth beherrschte, welches sein Vater ihm seinerzeit noch beigebracht hatte. Eines Tages beschloss der Junge, zum ersten Mal in die Synagoge zu gehen. Obwohl er die Gebete weder kannte noch mitlesen konnte, wollte der Junge unbedingt am heiligen G’’ttesdienst teilnehmen. So tat er das Einzige, was er eben konnte, und sagte laut das Aleph Beth auf. Die anderen Betenden fühlten sich gestört und forderten ihn auf, zu schweigen. Doch der Junge wandte sich vor der ganzen Gemeinde an G’’tt und bat ihn, seine einzelnen Buchstaben anzunehmen und sie zu sinntragenden Äußerungen umzustellen, die ausdrücken sollten, was der Junge in seinem Herzen für G’’tt empfand. Daraufhin erkannten die Betenden die gute Absicht des Waisenjungen und entschuldigten sich bei ihm. Die Lese- und Schreibkompetenz wird im jüdischen Religionsunterricht anhand von zentralen Schlüsselwörtern und -konstruktionen geschult, die primär für die Erschließung der Liturgie relevant sind und einen hohen Wiedererkennungswert haben. Da alle Segenssprüche nach dem gleichen Schema aufgebaut sind und mit ihnen leicht ein Bezug zur Lebenswelt der Schüler:innen geschaffen werden kann, bietet es sich hervorragend an, zunächst die sechs Wörter der Einleitungsformel zu erschließen und einzuüben. Erst in einem weiteren Schritt eignen sich die Lernenden die Worte an, die zu dem jeweils konkreten Anlass gesprochen werden (Genuss verschiedener Speisen, rituelles Händewaschen, Kerzenzünden zu Feiertagsbeginn usw.). Im Zuge der didaktischen Reduktion werden die Segenssprüche in realitätsnahen Kontexten zusammengefasst und anlassbezogen (z. B. Schabbathfeier, Picknick) vermittelt. Hierdurch treten diese zentralen Schlüsselbegriffe und -konstruktionen immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen auf und werden so von den Schüler:innen regelmäßig wiederholt.

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In ähnlicher Weise verhält es sich mit den Eigennamen biblischer Persönlichkeiten, Feiertagen, wichtigen Städtenamen (z. B. ‫רּוש ַליִ ם‬ ָ ְ‫י‬/»jeruschalajim«; »Jerusalem«) oder feststehenden Ausdrücken aus der Geschichte des jüdischen Volkes (z. B. ‫ּבית ַה ִּמ ְק ָּדׁש‬/»bejt ֵ hamikdasch«, »Tempel«; ‫כ ֵֹהן ַהגָ דֹול‬/»kohen hagadol«, »Hohepriester«) sowie der jüdischen Tradition (z. B. ‫ּתֹורה‬/»torah«; ָ ‫ּת ְלמּוד‬/»talmud«; ַ ‫מ ְצוָ ה‬/»mitzwah«, ִ »Gebot«; ‫ּב ִרית‬/»brit«, ְ »Bund«). Diese Schlüsselwörter werden zu gegebenem Zeitpunkt eingeführt, durch Schreib- und Leseübungen vertieft und von den Schüler:innen in ein Glossar eingetragen, welches auf diese Weise im Laufe der Schuljahre natürlich wächst. Außerdem werden diese Begriffe fortan von der Lehrkraft sowie von den Schüler:innen im Unterrichtsgespräch verwendet und in ihrer hebräischen Schreibweise in die ansonsten auf Deutsch verfassten Sachtexte eingebettet, die die Schüler:innen erhalten. Der Erwerb der Sprachkompetenz im jüdischen Religionsunterricht trägt dazu bei, dass die Schüler:innen das Judentum mithilfe grundlegender Sprachkenntnisse besser verstehen und vollständiger erschließen können. Schon die jüdische Tradition selbst weist gewisse Techniken auf, die eine tiefergehende Auslegung ermöglichen und dank derer nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Entsprechend erkennt man, dass die zentralen Werke Tanach und Talmud jeweils mit einem ‫ּב‬/»beth«, dem zweiten Buchstaben des hebräischen Alphabets, beginnen. Dies deutet auf ein grundlegendes Prinzip des Judentums hin, dass dem rationalen Beginn des Buches etwas Transzendentales vorausgeht, das sich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzieht. Des Weiteren sind im jüdischen Religionsunterricht die biblischen Eigennamen von besonderem Interesse. Hier bietet sich allem voran die Gelegenheit, die Namen gemäß ihrer ursprünglichen Aussprache zu vermitteln. Diese sind in der Septuaginta nach bestimmten Regeln transkribiert worden, wodurch sich die Aussprache der Namen teilweise veränderte. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise die Aussprache des ‫ׁש‬/»schin« (sch-Laut) durch einen einfachen s-Laut oder die des ‫ב‬/»weth« (w-Laut) analog zum ‫ּב‬/»beth« durch einen harten b-Laut ersetzt.9 Diese griechischen Namensvarianten wurden dann im weiteren Verlauf auch in die Vulgata übernommen und gelangten so schließlich bis in den modernen Sprachgebrauch. Dies ist die Erklärung dafür, weswegen sich beispielsweise die Aussprache von ‫ׁש ָּבת‬/»schabbáth« ַ zu »Sabbath«, von ‫מ ֶׂשה‬/»mosché« zu »Moses«, von ‫רּוש ֵלם‬ ָ ְ‫י‬/»jeruschalém« zu »Jerusalem«, von ‫א ְב ָר ָהם‬/»awrahám« ַ zu »Abraham« und von ‫אּובן‬ ֵ ‫ר‬/»re’ú’wen« ְ zu »Ruben«, aber 9 Vgl. Clemens Könnecke, Die Behandlung der hebräischen Namen in der Septuaginta, in: Programm des Königlichen und Gröning’schen Gymnasiums zu Stargard in Pommern 124 (1885); Jože Krašovec, Phonetic Factors in Transliteration of Biblical Proper Names into Greek and Latin, in: Textus: Studies of the Hebrew University Bible Project 24 (2009), 15–36.

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gleichfalls auch von ‫יִ ְר ְמיָ הּו‬/»jir’mejáhu« zu »Jeremias« und von ‫א ִליָ הּו‬/»elijáhu« ֵ zu »Elias« wandelte. Nur wenn man von den ursprünglichen hebräischen Namen ausgeht, ist festzustellen, dass es sich streng genommen um Wortnamen oder sogar um ganze Satznamen handelt. Der Name ‫יִ ְצ ַחק‬/»jitzchák« (»Isaak«) bedeutet »Er wird lachen.«, was angesichts der Umstände, in denen Awraham und Sarah noch im hohen Alter die Geburt eines Sohnes angekündigt wird, durchaus nachvollziehbar erscheint. Auch der Name ‫אּובן‬ ֵ ‫ר‬/»re’ú’wen« ְ (»Ruben«), der wörtlich mit »Seht, ein Sohn!« zu übersetzen ist, gewinnt vor dem Hintergrund der im Tanach geschilderten langen Unfruchtbarkeit von Leah als Ausruf der Freude eine ganz neue Dimension. Dank fundamentaler Sprachkenntnisse des Hebräischen erscheinen alle Namen, die mit dem theophoren Element ‫אל‬/»el« ֵ (»G’’tt«) zusammengesetzt sind, ebenso in neuem Licht, da sie per se schon das G’’ttliche enthalten. So bedeuten beispielsweise ‫יִ ְש ָר ֵאל‬/»jisrá’el« (»Israel«), der Zweitname von Ja’akow und der spätere Name des gesamten jüdischen Volkes, »G’’tt schreitet/herrscht.«; ‫דנִ יֵ אל‬/»daní’el« – ָ »Mein Richter ist G’’tt.«; ‫ר ָפ ֵאל‬/»rafá’el« – ְ »G’’tt heilte.« und ‫יאל‬ ֵ ‫גַ ְב ִר‬/»gawrí’el« – »Meine Kraft ist G’’tt.«. Eine weitere Besonderheit des Hebräischen besteht darin, dass jedem Buchstaben des Aleph Beth zugleich ein Zahlenwert zugeordnet ist. Diese Zahlenwerte bilden die Grundlage für die sog. »Gematria«, eine hermeneutische Methode, die es ermöglicht, hebräische Wörter mithilfe von Zahlen zu interpretieren und Beziehungen zwischen verschiedenen Wörtern bzw. Sachverhalten herzustellen. Dieses Verfahren ist aufgrund seiner Komplexität am besten in den Abschlussklassen der Sekundarstufe I oder der gymnasialen Oberstufe verortet. Doch aufgrund des insgesamt eher ludischen Charakters der Gematria behaupten die Schüler:innen oftmals, dass es allein schon wegen dieser interessanten und äußerst aufschlussreichen Technik lohnenswert sei, das Aleph Beth zu erlernen. Beispielsweise berichtet Gen 14,14 davon, dass Awraham 318 Knechte losschickte, um seinen Neffen Lot zu retten. Interessanterweise hat der Name von Awrahams ältestem Diener und Vertrautem ‫יעזֶ ר‬ ֶ ‫א ִל‬/»Elieser« ֱ einen Zahlenwert von exakt 318 (vgl. Gen 15,2). Der Zahlenwert der beiden Worte ‫א ְריֵ ה‬/»ar’jéh« ַ (»Löwe«) und ‫בּורה‬ ָ ְ‫ּג‬/»gwuráh« (»Stärke, Macht«) beträgt jeweils 216. Dies erscheint beim »König der Tiere« durchaus nachvollziehbar, zumal der Löwe laut jüdischer Überlieferung die Stärke und Macht G’’ttes symbolisiert. Sogar das bekannte lateinische Sprichwort »In vino veritas.« kann durch die Gematria gestützt werden, da die Worte ‫יַ יִ ן‬/»ja’ jin« (»Wein«) und ‫סֹוד‬/»sod« (»Geheimnis«) mit jeweils 70 den gleichen Zahlenwert haben. Sowohl theologisch als auch esoterisch wird es durch die Gleichsetzung der Worte ‫א ָחד‬/»echad« ֶ (»der eine«) und ‫א ֲה ָבה‬/»ahawah« ַ (»Liebe«). Beide Worte haben einen Zahlenwert von jeweils 13. Ihre Summe dagegen entspricht dem Zahlenwert 26, was wiederum der Zahlen-

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wert des g’’ttlichen Namens ‫ יהוה‬ist. Dieser Interpretation zufolge lässt sich der monotheistische Glauben stärken, wonach die menschliche Liebe nur einem einzigen G’’tt gebührt. Es ist offensichtlich, dass alle diese Verbindungen sich ohne die Gematria niemals erkennen ließen. Nur mit grundlegenden Sprachkenntnissen des Hebräischen können die Schüler:innen die zahlreichen Beispiele der rabbinischen Traditionsliteratur nachvollziehen, bei denen die Gematria sogar in Kombination mit anderen hermeneutischen Verfahren (u. a. Permutation) angewandt wird. Das hebräische Wort für »Mann« lautet ‫איׁש‬/»isch«. ִ »Frau« bedeutet auf Hebräisch ‫א ָּׁשה‬/»ischa«. ִ In beiden Worten kommen die Buchstaben ‫א‬/»aleph« und ‫ׁש‬/»schin« vor, was wiederum das hebräische Wort ‫אׁש‬/»esch« ֵ (»Feuer«) ergibt. Das hier implizierte »Feuer« symbolisiert das Feuer der lodernden Liebe. Auffallend ist, dass die Buchstaben des Wortes ‫אׁש‬/»esch« ֵ (»Feuer«) im Wort ‫איׁש‬/»isch« ִ (»Mann«) voneinander getrennt sind, im Wort ‫א ָּׁשה‬/»ischa« ִ (»Frau«) aber beieinanderstehen. Dies wird traditionell so gedeutet, dass das »Feuer« der Frau, d. h. die weibliche Leidenschaft, stärker als die des Mannes ist. Die Buchstaben, die sich in beiden Worten unterscheiden, sind ‫י‬/»jud« und ‫ה‬/»hej«. Auf diese Weise ist in jedem der beiden Worte jeweils ein Buchstabe des G’’ttesnamen ‫יָ ה‬/»jah« enthalten. Demzufolge ist laut jüdischer Auslegung eine Verbindung zwischen Mann und Frau ohne die g’’ttliche Gegenwart zum elenden Scheitern in den Flammen des Feuers verurteilt.10 Besonders beliebt sind in der jüdischen Traditionsliteratur vor allem seit dem rabbinischen Hebräisch Akronyme, für deren Verständnis elementare Sprachkenntnisse von Vorteil sind. Hierbei handelt es sich um Abkürzungen bzw. Wortneuschöpfungen, die aus den Anfangsbuchstaben einer zusammenhängenden Wendung oder eines mehrteiligen Namens entstehen und fortan als eigene Worte gesprochen werden. Das bekannteste Beispiel hierfür ist ‫ַתנַ "ְך‬ /»tanach«, die hebräische Bezeichnung für die Heilige Schrift. Diese setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der drei Bestandteile der Bibel zusammen: ‫ּתֹורה‬/»torah«, ָ ‫יאים‬ ִ ‫נְ ִב‬/»newi’im« (»Propheten«) und ‫תּובים‬ ִ ‫ּכ‬/»k’tuwim« ְ (»Schriften«). Auch die durchaus langen Namen der Gelehrten, die sich aus dem eigenen Vornamen, einem eingeschobenem ‫ּבן‬/»ben« ֵ (»Sohn«) sowie dem Vornamen des Vaters zusammensetzen, gehen auf diese Wortbildung zurück. So steht beispielsweise das Kurzwort ‫ר ְמּב" ם‬/»Rambam« ַ für ‫ר ִּבי מ ֶֹׁשה ֵּבן ַמיְ מֹון‬/»Rabbi ַ Mosche Ben Maimon« bzw. die seit dem 14. Jahrhundert gräzisierte Namensvariante »Maimonides«. Sogar bei der in allen drei abrahamitischen Religionen verwendeten litur-

10 Vgl. Talmud Bawli, Traktat Sota, Blatt 17, Vorderseite.

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gischen Akklamationsformel ‫א ֵמן‬/»amén« ָ handelt es sich um ein Akronym für die Wendung ‫אל ֶמ ֶלְך נֶ ֱא ָמן‬/»el ֵ mélech ne’emán« (»G’’tt ist ein treuer König«).11 Abschließend soll noch auf das Akrostichon eingegangen werden, das in der jüdischen Liturgie sowie in der biblischen und rabbinischen Literatur sehr verbreitet ist. Ein Akrostichon ist eine poetische Form, bei dem die Anfangsbuchstaben der Verse hintereinander gelesen eine eigene sinnvolle Einheit wie beispielsweise einen Eigennamen oder einen Satz bilden. So gibt es verschiedene Gebete, die 22 Verse enthalten, die wiederum chronologisch nach dem Aleph Beth beginnen. Diese Anordnung der Buchstaben erkennen die Schüler:innen selbst, wenn in der Sekundarstufe I systematisch das Gebetsbuch eingeführt wird und sie dieses beispielsweise im Rahmen einer „Kennenlern-Rallye durch den Siddur12« aufmerksam durchblättern. Auf diese Weise begreifen die Schüler:innen, dass Gedichte bzw. Gebete dank ihres akrostischen Aufbaus leichter einzuprägen sind. Diese Technik erwies sich daher für die Gläubigen in einer Zeit vor dem Buchdruck, aber aufgrund der hohen Druckkosten durchaus sogar bis in die Neuzeit, als hilfreich. Beeindruckend ist für die Schüler:innen auch, dass sich in der rabbinischen Literatur etliche Beispiele finden, bei denen sich die Autoren in ihren eigenen Texten verewigten. Dementsprechend geben die Anfangsbuchstaben der ersten acht Verse des berühmten Schabbathliedes »Lecha, Dodi« Aufschluss über den Verfasser: ‫ׁשֹלמֹה ַה ֵּלוִ י‬/»Schlomo ְ haLewi« (Rabbiner Schlomo Alkabetz).

3  Zusammenfassung und Ausblick Sprachbildung betrifft im jüdischen Religionsunterricht sowohl den Erwerb von liturgiesprachlichen Kompetenzen als auch die Fähigkeit, den symbolischen Gehalt des Hebräischen erschließen zu können. Erfahrungsgemäß stellt die »Alephbethisierung« in der alltäglichen Unterrichtspraxis gewisse Herausforderungen dar, da vor allem die Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe sich zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn für den jüdischen Religionsunterricht entscheiden bzw. entschieden haben. Dadurch nehmen vielerorts Jugendliche mit sehr verschiedenen Voraussetzungen am jüdischen Religionsunterricht teil. Anders dagegen erweist sich die Ausgangssituation an Standorten, an denen das ordentliche Lehrfach Jüdische Religion bereits erfolgreich in der Primarstufe etabliert ist. Dies ermöglicht es zweifelsohne, von Anfang an 11 Vgl. Talmud Bawli, Traktat Schabbath, Blatt 119, Rückseite. 12 Siddur (hebr.: »geordnet«) ist die hebräische Bezeichnung für das „Gebetsbuch“.

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bei allen Schüler:innen auch in sprachlicher Hinsicht ein einheitliches Fundament zu schaffen, auf das in den folgenden Schuljahren im Rahmen des Machbaren gemeinsam konstruktiv aufgebaut werden kann.13

Mark Krasnov ist Studienrat an der Diltheyschule Wiesbaden und unterrichtet die Fächer Jüdische Religion, Hebräisch, Spanisch, Latein und Informatik. Seit der Scho’ah ist er der erste (und bisher einzige) Lehrer für das Fach Jüdische Religion im staatlichen Schuldienst des Landes Hessen.

13 Vgl. Krasnov, Religionsunterricht, 92–98.

Die arabische Sprache in ihrer Bedeutung für den Islam und den islamischen Religionsunterricht Annett Abdel-Rahman

Fährt man in Kairo mit dem Bus durch die Stadt, sieht man des Öfteren Menschen, die während der Fahrt halblaut aus ihrem Koran rezitieren, den sie in der Hand halten. Diejenigen, die um den:die Lesende:n sitzen oder stehen, fühlen sich nicht gestört, ganz im Gegenteil. Es ist keine Seltenheit, zu beobachten, dass sie ruhiger werden, manchmal leise mitrezitieren oder dass sich ihr Gesicht in einem sanften Lächeln entspannt. Dabei ist es nicht so, dass das ägyptische Arabisch dem Hocharabischen des Korans gleicht und sofort verständlich ist, was aus dem Koran rezitiert wird. Auch Muslime aus Ägypten, deren Muttersprache Arabisch ist, müssen sich mit der Sprache des Korans auseinandersetzen. Obwohl das so ist, verliert sich das Hocharabisch des Korans nicht im Laufe der Zeit und verschwindet, sondern es ist durchweg lebendig. In Deutschland nehmen Besucher:innen von Moscheen verwundert wahr, dass die arabische Sprache eine große Bedeutung innehat: Gebetsruf und rituelles Gebet erfolgen in arabischer Sprache. Muslim:innen, die Aspekte der islamischen Religion sichtbar machen wollen, rezitieren arabische Begriffe oder kurze Verse aus dem Koran, ehe sie sie erläutern. In den Moscheen lernen sie arabisch lesen und rezitieren, fragt man sie, ob sie den Text auch verstehen, dann wissen sie um die ungefähre Bedeutung, genau übersetzen können sie die Verse aber oftmals nicht. Selbst in dem neuen Unterrichtfach Islamische Religion spielt die arabische Sprache eine Rolle. Befragt man Studierende und Lehrkräfte, dann binden sie die arabische Sprache selbstverständlich in Konzeption und Durchführung des Unterrichts ein, sei es, um die Rezitationen des Korans zugänglich zu machen oder einzelne Wörter in ihrer Bedeutung und ihrer Nachbarschaft zu anderen Begriffen zu untersuchen. Schulleitungen oder Kolleg:innen, die das Fach neugierig oder kritisch beobachten, sind oft irritiert, zeitweise misstrauisch: Warum nimmt die arabische Sprache Raum in einem Unterricht ein, der in deutscher Sprache stattfinden muss und im Sinne der Kompetenzorientierung dazu befähigen sollte, die eigene Religion zu durchdringen und zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, vor dem Blick auf den islamischen Religionsunterricht der außergewöhnlichen Bedeutung der arabi-

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schen Sprache für den Islam Beachtung zu schenken. Im Anschluss wird der Fokus auf den Umgang mit der arabischen Sprache im islamischen Religionsunterricht gerichtet und abschließend benannt, welche didaktischen Anforderungen noch bestehen.

1  Die arabische Sprache und der Koran Grundlegende Quelle für Muslim:innen ist der Koran, für sie ist er die Offenbarung, die Rede Gottes1 an die Menschen (Kalām Allah). Engel Gabriel (Ǧibrīl) als Überbringer gibt die Botschaft an Muhammad weiter, der in der muslimischen Tradition als äußerst vertrauenswürdiger Mensch gilt, der zum Propheten wird. Innerhalb von 23 Jahren wird Muhammad in verschiedenen Situationen sukzessive der Koran offenbart, den er an die Menschen seiner Umgebung weitergibt. Die ersten Worte der Offenbarung sind bemerkenswert: (1) Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat, (2) den Menschen erschaffen hat aus einem Anhängsel2. (3) Lies, und dein Herr ist der Edelste, (4) Der (das Schreiben) mit dem Schreibrohr gelehrt hat, (5) den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste.3 (al-ʿAlaq (96):1–5) Das Wort »Lies« geht auf das arabische Wort »Iqra« zurück, es ist das erste Wort, das Gott an die Menschen offenbart. Noch genauer ist es mit Rezitiere bzw. Trage vor zu übersetzen. Aus dem gleichen arabischen Grundwort leitet sich auch die grundlegende Bezeichnung für die Offenbarung Gottes ab: »al – Qur’an«: »die Rezitation«, »der Vortrag«4 oder »Das oft zu lesende Buch«.5 Der Koran wird zu Lebzeiten des Propheten Muhammad mündlich vorgetragen, weitergege1

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Muslim:innen benutzen häufig eher das arabische Wort »Allāh«, als das deutsche Wort »Gott«. Im arabischen wird das Wort »Allāh« auf den einen und einzigen Gott bezogen. Da auch im deutschen nur ein einziger Gott gemeint ist, kann man davon ausgehen, dass beide Begriffe gleichbedeutend sind. Vgl. tiefergehende Ausführungen dazu in: Aḥmad A Reidegeld, Handbuch Islam: die Glaubens- und Rechtslehre der Muslime, Kandern 2008, 35–40. Linguistisch bedeutet das arabische Wort »al-ʿAlaq«: »etwas, was sich anklammert, anhängt«. Es bezieht sich auf ein an der Gebärmutterwand anhaftendes Blutgebilde im Sinne eines befruchteten weiblichen Eis. Alle Koranzitate in diesem Artikel sind der Übertragung von Scheich Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Dr. Nadeem Elyas entnommen. Seyyed Hossein Nasr u. a., The study Quran: a new translation and commentary, New York 2015, xxiii. Andere Namen für den Koran sind zum Beispiel »al-Furqān« (die Unterscheidung) oder auch »al-Hudā« (die Rechtleitung).

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ben und memoriert, Kern der Offenbarung ist der Glaube an die Einheit und Einzigartigkeit Gottes (tauḥīd). Erst nach seinem Tod wird er auf Initiative des 3. Kalifen Uthman vollständig schriftlich festgehalten.6 In der muslimischen Tradition gilt Muhammad als jemand, der nicht lesen und schreiben konnte. »Das Wunder des Propheten Muhammad ist der Koran. […] Dieses Wunder gewinnt an Konturen, wenn man bedenkt, dass der Prophet der muslimischen Tradition zufolge ein Analphabet ist.«7 Worin genau liegt nun dieses Wunder? Es ist nicht allein die Botschaft selbst, sondern das Medium, das sie trägt, die arabische Sprache in ihrer einzigartigen Komposition und Poesie. Die »sprachliche Schönheit des Korans«8 berührt und überwältigt die Menschen in einer Zeit, in der die Poesie arabischer Dichter und Poeten in Mekka hochangesehen und entwickelt war: »[D]ie vorislamische arabische Kultur [war] zuerst und vor allem eine Kultur der Sprache […]. Spätestens ab etwa 500 n. Chr. hatte die Poesie in Arabien das Niveau einer hochartifiziellen Kunstdichtung erreicht, die an Komplexität und künstlerischer Raffinesse die Poesie der antiken Kulturen übertraf. Die Poesie war für die arabischen Stämme das wichtigste Medium, ihre Interessen zu kommunizieren. […] Der Koran selbst ein stilistisch anspruchsvoller Text, wurde also in einem Milieu offenbart, in dem man sprachliche Kunstwerke gewöhnt war […].«9 Die Verse, die Muhammad den Menschen überbringt, heben sich dennoch von denen arabischer Dichter:innen ab. Die Ästhetik der arabischen Sprache des Korans gilt als so unübertroffen, dass sie in Staunen versetzt, »Anhänger wie Gegner begeistert, beglückt, erschüttert und entsetzt, jedenfalls bewegt, oft geradezu hypnotisiert, in Ekstase versetzt«10 und sogar Zeitgenoss:innen, Dichter:innen und Poet:innen nur deshalb konvertieren.11 Im Koran selbst wird auf die Auseinander­setzungen der Zweifler:innen und Gegner:innen des Propheten Muhammad eingegangen; er fordert sie in verschiedenen Versen auf,

  6 Vgl. Lirim Selmani, Sprache und Offenbarung. Zur Rolle des Arabischen im Islam, in: Alexander Lasch/Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Handbuch Sprache und Religion (Handbücher Sprachwissen 18), Berlin/Boston 2017, 109–153, hier 114.   7 Ebd., 110.  8 Ebd.   9 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität: eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, 229. 10 Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2011, 15. 11 Vgl. Selmani, Sprache und Offenbarung, 117.

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sprachlich Gleiches hervorzubringen12, um letztendlich zu konstatieren, dass dies nicht möglich ist: »Sag: Wenn sich die Menschen und die Ğinn zusammentäten, um etwas beizubringen, was diesem Qurʾān gleich wäre, sie brächten nicht seinesgleichen bei, auch wenn sie einander Beistand leisten würden.« (al-Isra’ (17):88) In dieser aus muslimischer Sicht durch Menschen nicht hervorzubringenden Symbiose poetischer Form und inhaltlicher Klarheit der Offenbarung liegt das Wunder des Koran (I‘ǧāz al-Qur’ān).13 Die arabische Sprache wird dabei nicht als »heilig« verstanden, sondern sie entfaltet sich im Koran in ihrer schönsten Komposition. »In keiner anderen Religion ist die Offenbarung mit der sprachlichen Form so eng verbunden wie im Islam. Sprache ist nicht nur das Medium, durch das der Verkünder verkündet, sondern sie ist auch ein erheblicher Teil der Offenbarung. Sie ist Authentizitätsbeweis der göttlichen Botschaft. Der Inhalt der Botschaft ist gebunden an seine sprachliche Form. Über die Form wird die Bedeutung der Offenbarung erschlossen.«14 Die Form von der Bedeutung zu trennen, würde nicht nur ein mangelhaftes Verständnis des Korans hervorrufen, sondern auch der Art und Weise, wie er über Jahrhunderte seine Hörer:innen und Leser:innen berührt hat.15 In der Folge analysieren muslimische Gelehrt:innen in ihren Interpretationen des Korans (tafsīr) inhaltliche wie ästhetische Dimensionen der arabischen Sprache. Rezitationsregeln (tajwīd) des Korans werden studiert, bedeuten doch unsauber artikulierte arabische Buchstaben oder unpassende Lesepausen schon inhaltliche Unterschiede. Aber wie kann der Koran denen zugänglich gemacht werden, die die arabische Sprache nicht beherrschen? »What is impossible to convey when translating these verses is the way their sound when recited accords so well with their meaning. […] Those who 12 Vgl. al-Baqara (2):23; Yūnus (10):38; Hūd (11):13. 13 Vgl. Selmani, Sprache und Offenbarung, 116 ff.; Angelika Neuwirth, Das islamische Dogma der ›Unnachahmlichkeit des Korans‹ in literaturwissenschaftlicher Sicht, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 60 (1983), 166–183, hier 171 f. 14 Selmani, Sprache und Offenbarung, 109 f. 15 Vgl. Ingrid Mattson, The Story of the Qur’an: its history and place in Muslim life, Oxford 2013, 35.

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appreciate music know that it can be meaningful without lyrics; many would even say that music can transmit meaning that cannot be signified with words. The Qur‘an is not music, however, when it is recited, it can have a similar aural impact.«16 Eine Übersetzung, besser noch Übertragung, des Korans bedeutet, diese ästhetische Dimension zu verlieren, und sie bedeutet auch, die Mehrdeutigkeit vieler Verse zu verengen.17 Schon die Niederschrift der Offenbarung macht aus dem Gesprochenen einen Text18, der sich von der Situation des Sprechaktes entfernt. Übertragung bedeutet eine Festlegung auf Wörter, die nur annähernd wiedergeben können, was das Original aussagt. »Eine Übersetzung ist dagegen immer disambiguierend. Wenn nun die Ambiguität des Textes als dessen wesenhafter Bestandteil betrachtet wird, bleibt in der Übersetzung in der Tat nur ein Text übrig, der um wichtige Dimensionen reduziert wird.«19 Aus diesen Gründen gilt die arabische Sprache des Koran den Muslim:innen als kaum übersetzbar, sichtbar wird das beispielsweise an den über dreißig, recht verschiedenen, Koran-Übertragungen in die deutsche Sprache.

2  Die arabische Sprache im islamischen Religionsunterricht Die Ausführungen lassen erkennen, welche Herausforderungen für den islamischen Religionsunterricht gelöst werden müssen: Ȥ Wenn der Inhalt der Offenbarung an seine sprachliche Form gebunden ist, wie kann dann im Religionsunterricht ein Zugriff auf den Inhalt erfolgen, wenn die arabische Sprache für viele Lernende fremd ist?

16 Ebd., 34. 17 Vgl. an dieser Stelle die vertiefenden Ausführungen folgender Literatur: Lirim Selmani, Das Dogma der Unübersetzbarkeit des Korans – eine kritische Rekonstruktion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 26 (2018/2), 283–322; Bauer, Kultur der Ambiguität, 137 ff., 224 ff.; Kermani, Gott ist schön, 149 ff.; Mattson, The Story of the Qur’an, 34 ff. 18 Daher wird differenziert zwischen dem Koran als Offenbarung und dem Muṣḥaf, der wortwörtlich eine Sammlung beschriebener Blätter meint und als schriftliche Fixierung des Korans zu verstehen ist. 19 Bauer, Kultur der Ambiguität, 140.

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Ȥ Wenn Religionsunterricht auch bedeutet, Erfahrungen mit Religion zuzulassen, wie kann ein emotionaler Zugang zum Koran stattfinden, wenn die Poetizität der arabischen Sprache verborgen bleibt? Ȥ Wie kann die Dimension der Ambiguität vieler Verse gewahrt werden, wenn durch die Übertragung in die deutsche Sprache viele Bedeutungen verloren gehen? Der Relevanz der arabischen Sprache muss Raum gegeben werden, um den Schüler:innen die Erschließung religiöser Dimensionen des Islams zu ermöglichen. Dies muss mit Blick auf deren sprachliche Fähigkeiten und Lebenswelt angemessen sein. »Der Einbezug solcher Begriffe ist mehr als nur Kolorit; es geht um die theologische Präzisierung dessen, was der Lehrplan mitzuteilen hat. Ein eigenes ›islamisches‹ Register fehlt«20. Ein exemplarischer Blick in die Kerncurricula (KC) Niedersachsens zeigt, dass die besondere Bedeutung der arabischen Sprache zwar gesehen wird, aber Ideen für eine lernwirksame Einbindung fehlen. Im KC für die Grundschule heißt es: »Für das Verständnis religiöser Ausdrucksmöglichkeiten und das Ausüben der Religion können Kernbegriffe der arabischen Sprache nicht außer Acht gelassen werden. Grundlegende Begriffe finden daher im Kerncurriculum ihre Berücksichtigung.«21 Im KC für die Sek I wird zusätzlich angeregt, dass es wünschenswert sei, eine entsprechende Arbeitsgemeinschaft einzurichten.22 Das KC für die Sek II ist wesentlich konkreter und ordnet jedem Kompetenzbereich ein kleines Glossar an Begriffen zu. »Für das Verständnis religiöser Ausdrucksmöglichkeiten, das Ausüben der Religion sowie die Teilhabe am religiösen und theologischen Diskurs sind Fachbegriffe aus der arabischen Sprache notwendig. Dementsprechend finden sie im Kerncurriculum ihre Berücksichtigung.«23 20 Harry Harun Behr, Curriculum Islamunterricht: Analyse von Lehrplanentwürfen für islamischen Religionsunterricht in der Grundschule, Universität Bayreuth 2005, 477. 21 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum Grundschule Islamische Religion, Hannover 2017, 10. 22 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum Sekundarstufe I Islamische Religion, Hannover 2014, 8. 23 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum Sekundarstufe II Islamische Religion, 21 (im Erscheinen).

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Auch in Arbeitsmaterialien ist die arabische Sprache zu finden. Die Arbeitshefte Bismillah – Wir entdecken den Islam nehmen einzelne Begriffe der arabischen Sprache auf und vertiefen sie. In der Schulbuchreihe Saphir beginnt jedes Kapitel mit einem Koranvers, der jeweils nah am Original und umgangssprachlich übertragen ist. Das Erlernen der arabischen Sprache im Religionsunterricht ist nicht möglich, aber die Sensibilisierung für den Gleichklang von Poesie und inhaltlicher Klarheit durch den Rückgriff auf die arabische Bedeutung und den Klang der Rezitation ist möglich. Der Koran ist keine Botschaft, die nur mitteilt, berichtet oder warnt, sondern sie berührt, erwärmt, erfreut und beruhigt. Dies im Unterricht sichtbar zu machen, ist momentan von der Kreativität und den individuellen Bemühungen der Lehrkräfte abhängig. Das verdient Anerkennung, aber es ist nicht ausreichend. Eine konstruktive Debatte, der bildungstheoretische Konkretionen folgen, beginnt gerade, sie ist dringend notwendig, denn: »Der Nerv, der alles berührt, […] ist die offenkundige und verborgene Musik in den Versen des Koran.«24

Annett Abdel-Rahman ist Landeskoordinatorin des Netzwerks der Lehrkräfte islamische Religion i. A. des Kultusministeriums Niedersachsen, Fachseminarleitung für islamische Religion, Lehrbeauftragte für Fachdidaktik am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück und Doktorandin im Bereich Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Vechta.

24 Nelson, zit. nach Kermani, Gott ist schön, 196.

Didaktische Konkretionen

Als Religionslehrkraft die eigene Sprache reflektieren Stefanie Lorenzen

1 Einführung Lehrpersonen können Modelle für ihre Schüler:innen sein, nicht zuletzt im Bereich der Sprache.1 Wenn es also darum geht, sprachsensiblen Unterricht zu gestalten, spielt die der Lehrkraft eigene Sprache eine große Rolle. Umso wichtiger erscheint es daher, sich den eigenen Sprachgebrauch bewusst zu machen, ihn zu analysieren und darüber zu reflektieren, denn nur so kann es gelingen, ihn gezielt als Instrument der Sprachförderung einzusetzen.2 Das gilt insbesondere angesichts der Erfahrung vieler Religionslehrer:innen, dass der Bereich Religion für ihre Schüler:innen zu einer »Fremdsprache« geworden ist.3 Diese Reflexionsdimension eines sprachsensiblen didaktischen Handelns ist von anderen Zugängen, wie bspw. der Konstruktion von Aufgabenstellungen, zu unterscheiden, auch wenn sich Überschneidungen ergeben dürften. Sie gehört nicht zum Bereich der Unterrichtsplanung, sondern ist Teil des Professionalisierungsdiskurses, der auch die kommunikative Kompetenz der Lehrenden umfasst.4 Um die eigene Sprache reflektieren zu können, sind Kriterien vonnöten, die einerseits relevante Aspekte von »Lehrer:innensprache« sichtbar machen und diese andererseits im Sinne der Sprachförderlichkeit bewerten. Überdies sollten diese Kriterien sowohl fachübergreifende Aspekte thematisieren als auch eine fachspezifische Perspektive besitzen. Es geht bei der Reflexionsaufgabe also nicht nur um die auf der »sprachlichen Oberfläche« wahrzunehmende Interaktion 1 Vgl. Astrid Neumann/Isabelle Mahler, Können wir sprachförderliche Merkmale der Lehrersprache aus dem Unterricht identifizieren? Eine Pilotstudie zu Merkmalen der Lehrersprache, in: Ulrich Riegel/Klaus Macha (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken. Münster u. a. 2013, 115–132, hier 115; Sabine Anselm/Anke Werani, Kommunikation in Lehr-Lernkontexten, Bad Heilbrunn 2017, 13, 15. 2 Vgl. Andrea Schulte, Art. Sprache, in: WiReLex (2019), 3.3, https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/200766/ (Zugriff am 1.10.2020). 3 Vgl. Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung (Praktische Theologie heute 114), Stuttgart 2011. 4 Vgl. Anselm/Werani, Kommunikation, 13–16, 63–91.

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zwischen Lernenden und Lehrenden, sondern auch um den Zusammenhang des eigenen Sprachgebrauchs mit dem Unterrichtsgegenstand »Religion«. Dass »Sprachlichkeit und Fachlichkeit […] sich nicht voneinander trennen« lassen, gilt nicht nur für die Ebene der Vermittlung von »Sprach- und Fachwissen«5, sondern auch für den Sprachgebrauch der Lehrkraft selbst. Insofern verbindet sich das Nachdenken über die eigene Sprache im Religionsunterricht auch mit einer Reflexion des eigenen Fachverständnisses. Im Folgenden wird beispielhaft aufgezeigt, nach welchen Kriterien die Reflexion der eigenen Sprache im Religionsunterricht erfolgen könnte. Zwar gibt es dafür gelegentlich schon Vorschläge allgemeiner Art,6 bisher wurden sie aber noch nicht systematisch erfasst. Daher dient der umfassende Beobachtungsbogen, der von Anselm/Werani für ein Kommunikationstraining in der Lehramtsausbildung entwickelt wurde, hier als Grundlage.7 Außerdem werden die dort genannten allgemeinen Kriterien mit spezifisch religionsdidaktischen Aspekten verschränkt, sodass die oben geforderte fachdidaktische Zuspitzung geleistet werden kann. Das Sprechen von Religionslehrer:innen lässt sich insgesamt als »Balancieren« zwischen Spannungspolen charakterisieren. Dies wird exemplarisch mit Blick auf die Frage von Identität (Authentizität und Rolle), Komplexität (Reduktion und Anreicherung) und Entfernung (Nähe und Distanz) entfaltet.

2  Authentizität und Rollenkonformität Für die hier verhandelte Frage ist der oben erwähnte Ansatz von Anselm/Werani interessant, weil sie ihren Forschungsgegenstand als personalen Sprechstil definieren und damit deutlich machen, wie stark Persönlichkeit und Sprache miteinander verbunden sind. Für den Lehr-Lernkontext ist hierbei ganz allgemein das Verhältnis zwischen Authentizitätsanspruch und Rollenanforderung von Bedeutung, anders gesagt: die Art und Weise, wie Persönlichkeit und Lehrendenrolle auch sprachlich kongruent erscheinen oder aber voneinander abweichen.8 Von Seiten der Religionsdidaktik ist nun interessant, dass sich die Frage der Authentizität auch auf den Unterrichtsgegenstand bzw. seine didaktische Bearbeitung beziehen kann. Wenn bspw. die Lehrkraft angesichts einer didak5 Stefan Altmeyer, Sprachhürden erkennen und abbauen. Wege zu einem sprachsensiblen Religionsunterricht, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 35 (2019), 184–196, hier 188. 6 Vgl. die Auflistung in Schulte, Sprache, 4.1. 7 Vgl. Anselm/Werani, Kommunikation, 188–194. 8 Vgl. ebd., 63–91.

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tischen Gegenstandsmodellierung Unbehagen empfindet, kommt dies auch im personalen Sprechstil zum Ausdruck und wirkt sich auf den Lehr-Lern-Prozess aus. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung von Ironie. Diese kann, ob bewusst oder unbewusst eingesetzt, eine Distanzierung zwischen Lehrkraft und Unterrichtsgegenstand signalisieren, die sich vonseiten der Schüler:innen nur schwer deuten lässt. Ähnliches gilt für ironische Selbstdistanzierung: Sie kann Sympathie wecken, steht jedoch gleichzeitig in der Gefahr, die eigene Rolle zu konterkarieren. Umgekehrt kann sich das Fehlen von Selbstironie auch positiv auf die Präsenz einer Lehrkraft auswirken, weil sie damit zeigt, dass sie sich selbst, die Sache und die Lernenden ernst nimmt.9 Ausgehend von diesen Beobachtungen, könnten folgende Fragen die eigene Sprachreflexion anregen: Ȥ Gab es Momente in der unterrichtlichen Interaktion, in denen ich mich in meiner Rolle nicht wohl gefühlt habe? Inwiefern kommt dies sprachlichkommunikativ – z. B. in der Verwendung von Ironie – zum Ausdruck? Ȥ Inwieweit haben Distanzierungen auch mit der Art und Weise zu tun, in der der Gegenstand »Religion« thematisiert wurde?

3 Komplexitätsreduktion und kommunikative Angemessenheit Viele Empfehlungen zur Kommunikation in Lehr-Lernkontexten kann man unter dem Stichwort der Reduktion zusammenfassen, wobei diese allerdings sehr unterschiedliche Sprachebenen betrifft.10 Intendiert ist dabei ganz generell eine Steigerung von Klarheit und Verständlichkeit seitens der Lehrkräfte sowie der Aktivität seitens der Lernenden. Aus fachdidaktischer Perspektive stellt Reduktion ebenfalls ein zentrales Merkmal unterrichtlichen Handelns dar: Aus dem unübersichtlich Komplexen gilt es, ganz im Sinne der »Elementarisierung« bzw. der »elementaren Strukturen«, das »grundlegend Einfache«11 herauszuarbeiten und im Prozess wechsel  9 Vgl. das Beispiel in Bernhard Dressler, »Da möchte Gott was ganz Bestimmtes Jona mit zeigen – Versuchst du das mal in einem Adjektiv zu fassen?«: Eine Stunde zwischen performativer Offenheit und hermeneutischer Bestimmtheit – Fallanalyse »Hartmann«, in: ders./­Thomas Klie/Martina Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012, 51–82, hier 58, 81. 10 Vgl. z. B. Schulte, Sprache, 4.1. 11 Karl Ernst Nipkow, Art. Elementarisierung, in: Gottfried Bitter u. a. (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 451–456, hier 452.

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seitiger Verschränkung als Unterrichtsgegenstand zu modellieren. Dabei lässt sich feststellen, dass dieses »Elementare« gerade nicht das »Triviale«, sondern der »Kern« bzw. das »Zentrum« der Sache ist.12 Dass sprachliche und inhaltliche Elementarisierung in einem Wechselverhältnis stehen, wird auch an der folgenden Beobachtung Stefan Altmeyers deutlich, die sich auf eine »Übersetzungsaufgabe« für die Lernenden bezieht: »Die Reduktion sprachlicher Komplexität führt dazu, dass die Relevanzfrage zum Gegenstand des Unterrichts gemacht und mehr Schülerinnen und Schüler beteiligt werden können. Es scheint so zu sein, dass der Gebrauch einer leichten Sprache zu einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung und Positionierung motiviert und diese fördert.«13 Eine in diesem Sinne reduzierte Sprache könnte daher auch bei den Lehrpersonen Ähnliches bewirken. Zwei Aspekte werden im Folgenden näher entfaltet: zum einen die Frage nach dem eigenen Redeanteil an der gesamten Unterrichtskommunikation, zum anderen die kommunikativen Spielräume auf den unterschiedlichen Sprachebenen (Wortwahl, Syntax, nonverbale Kommunikation). 3.1 Den eigenen Sprechanteil reduzieren – Aktivität, Konzentration, Subjekt-Werdung fördern Eine Form des reduzierenden Sprechhandelns betrifft den Redeanteil von Lehrpersonen: Sprachförderlich erscheint ein Unterricht, in dem die Lernenden selbst zu Wort kommen, also aktiv Sprache in Gebrauch nehmen können.14 Aus fachdidaktischer Perspektive verbindet sich damit die Bereitschaft, den Lerngegenstand »aus der Hand zu geben«. Pädagogisch ist dies Ausdruck einer Subjektorientierung, die sich an der Subjekt-Werdung der Lernenden interessiert zeigt, indem sie ihnen ihr Subjekt-Sein spiegelt, sie also als Gesprächspartner:innen ernst nimmt. Aktuelle religionsdidaktische Konzepte, wie das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen, setzen auf Phasen, in denen die Lernenden ihre Wahrnehmungen oder kognitiven Konzepte möglichst frei zum Ausdruck bringen 12 Vgl. Friedrich Schweitzer, Elementarisierung – ein religionsdidaktischer Ansatz, in: ders. (Hg.), Elementarisierung im Religionsunterricht. Erfahrungen – Perspektiven – Beispiele, Gütersloh 32011, 9–30, hier 15–17. 13 Altmeyer, Sprachhürden, 195. 14 Vgl. ebd., 189.

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können. Im performativen Ansatz besitzt die handlungsorientierte Erkundung ästhetisch ansprechender religiöser »Gegenstände« eine ähnliche Funktion. Zugleich bedarf es nach solchen Perioden wieder der gezielten sprachlichen Intervention seitens der Lehrkraft, um die ungerichtete Komplexität an der »elementaren Struktur« zu orientieren und dem Reflexionsprozess der Klasse herausfordernde Impulse zu geben. Statt hier kleinschrittig zu fragen, können Gegenbeispiele, Sondierungsfragen sowie die Aufforderung zur Bewertung kognitive Aktivierung bewirken und auf diese Weise die kommunikative Kompetenz fördern.15 Insbesondere die Kinder- und Jugendtheologie bietet diesbezüglich viele Anregungen.16 3.2  Auf Überflüssiges verzichten, Wichtiges verstärken Die verbale Ebene

Sprache zu reduzieren, kann auch heißen, weniger überflüssige Wörter zu verwenden, um dadurch Klarheit und Bestimmtheit zu steigern: »In Lehr-Lernkontexten erschweren Partikeln, wiederkehrende Floskeln und Füllwörter die Kommunikation, da bspw. durch die Weichmacher Interpretationsspielräume geschaffen werden, die in der Regel vom Sprechenden gar nicht gewünscht werden.« Stattdessen wird darauf verwiesen, »eine klare, eindeutige und motivierend auffordernde Sprache zu verwenden«17. Beispielhaft mag hier folgender Eingangsimpuls einer Lehrkraft stehen, der in der Unterrichtsbeobachtung als »knapp und präzise« bewertet wird: »So, ich möchte, dass ihr dieses Bild zunächst erst einmal beschreibt, bevor wir anschließend versuchen, es zu deuten. Annika beginnt und nimmt anschließend jemand dran.«18 Solch sprachliche Klarheit, die allerdings bei der Klasse ein entsprechendes methodisches Training voraussetzt, verhindert Reibungsverluste, die

15 Vgl. Manfred Lüders, Unterrichtssprache und indirekt instruierendes Lehrerverhalten, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 137–156. 16 Vgl. z. B. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München/Stuttgart 2012. 17 Anselm/Werani, Kommunikation, 131. Als »Weichmacher« werden Füllwörter wie »einfach«, »irgendwie« etc. bezeichnet, die Aussagen abschwächen. 18 Dressler, »Da möchte Gott …«, 53 f.

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sich nicht nur auf die Partizipationsfähigkeit und damit die Ergebnisse der Schüler:innen auswirken, sondern auch Störungen produzieren. Andererseits können Füllwörter auch eine bestimmte Funktion in der Strukturierung von Unterricht erfüllen. Die Bestätigung »Okay« fungiert bspw. bei einer Lehrkraft als Anzeige dafür, dass eine Sequenz beendet ist und eine neue folgt: »So weit haben wir es, jetzt kommt etwas Neues.«19 Von daher ist vor einer pauschalen Abqualifizierung zu warnen. Die syntaktische Ebene

Auf der Ebene der Syntax entsteht Klarheit, wenn die Komplexität der Gedankenabfolge durch einfache Satzkonstruktionen reduziert wird, ohne jedoch in einen rein parataktischen Sprachstil zu verfallen, der an Militärjargon erinnern könnte. Vielmehr geht es um »eine Balance zwischen einfacher Satzstruktur und damit verbundener guter Verständlichkeit auf der einen Seite sowie komplexer Satzstruktur auf der anderen Seite, um eine Lernzone der nächsten sprachlichen Entwicklung […] aufzuzeigen.«20 Mit Blick auf die Fragetechnik spiegelt sich das Prinzip der Reduktion auf etwas andere Weise: »Je kürzer die Frage, desto prägnanter und druckvoller wirkt sie, je länger die Frage, desto gewährender wird sie wahrgenommen.«21 Reduktion bewirkt also Klarheit, kann aber auch zu einer Verengung des Interaktionsraums führen. Aus diesem Grund ist es manchmal auch sinnvoll, Fragen etwas länger zu formulieren, um nicht einzuschüchtern und Raum für vielfältigere Antworten zu lassen. Die nonverbale Ebene

Die nonverbale Dimension der Lehrendensprache umfasst neben der Körpersprache auch die sog. Proxemik, also die Regulierung von Nähe und Distanz im Raum, sowie die äußere Erscheinung.22 Die Körpersprache hat im unterrichtlichen Rahmen die Funktion, die Bedeutungsebene zu begleiten und die Rede zu strukturieren. Auch hier gibt es die Möglichkeit zur Reduktion oder 19 Martina Kumlehn, »Ihr seid meine Instrumente« – Die Stillung des Sturms: Theatral-ästhetische Inszenierung und symboldidaktisch-allegorische Fokussierung – Fallanalyse »Neumöller«, in: Dressler/Klie/Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien, 83–117, hier 85. 20 Anselm/Werani, Kommunikation, 134. 21 Ebd., 139. 22 Vgl. ebd., 157.

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Erweiterung des Sprach-Repertoires: Gesten können sparsam oder reichlich, unterstützend oder ablenkend eingesetzt werden.23 Es versteht sich, dass Gestik und Mimik dann förderlich wirken, wenn sie einen sinnvollen, entschlüsselbaren Bezug zum Gesagten aufweisen, wie es in der folgenden Beobachtung geschildert wird: »Mimik und Gestik begleiten die Verbalsprache durchgängig als Parallelcode, der das Gesagte auf eine anschauliche Weise kommuniziert. Die Worte werden ›gemalt‹, z. B. Geographie durch Nachahmen der Weltkugel in einem Kreis, und zugleich wird die Klasse mit den Händen ›dirigiert‹. Dabei nimmt sie [die Lehrperson, S. L.] mit vielen Schülerinnen und Schülern direkten Blickkontakt auf, so dass sich diese unmittelbar angesprochen fühlen und wissen, dass sie genau wahrgenommen werden.«24 Diese Art der unterstreichenden Körpersprache schafft nicht nur Klarheit, sondern kommt offenbar auch der »Präsenz«25 der Lehrkraft zugute. Generell scheinen die Merkmale von Kürze und Prägnanz also der Klarheit dienlich zu sein, allerdings können sie auch einen autoritativen Gestus bewirken. Bei aller Zustimmung für die reduzierte Sprachlichkeit einer von ihm beobachteten Lehrkraft bemerkt Dressler, wie beide Aspekte in ambivalenter Weise zusammenspielen: »[D]ie Lehrerin ›fährt‹ die Stunde, als lenke sie von einem Armaturenpult aus eine schnurrende, gut geölte Maschinerie. Störungen im Ablauf kommen nicht vor, und wo sie sich ankündigen, wird mit wenigen Steuerungshandgriffen die Taktgeschwindigkeit angezogen und die Richtungsangabe forciert.«26 Die Überlegungen machen deutlich, dass die Frage der Reduktion auch die Dimension von Offenheit und Geschlossenheit des Unterrichtsarrangements tangiert. Im Hinblick auf diese Kriterien wären folgende Fragen zur Reflexion der eigenen Sprache denkbar: 23 Vgl. ebd., 164 f. 24 Martina Kumlehn, »Ihr seid Adam – ihr seid Eva – ich bin Gott«: Dramaturgische Performanz und das reflexive Ringen um die Hermeneutik biblischer Texte am Beispiel der Paradieserzählung (Gen 3) – Fallanalyse »Richter«, in: Dressler/Klie/Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien, 119–147, hier 120. 25 Ebd. 26 Dressler, »Da möchte Gott …«, 81 f.

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Ȥ Gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, an allen oder einigen Schüler:innen »vorbeizureden«? Welche Gründe könnte das haben? Ȥ Wie schätze ich meinen Sprechanteil in der Unterrichtsstunde ein? Gab es Phasen, in denen ich das Thema »aus der Hand« gegeben habe, um den Lernenden Kommunikation zu ermöglichen? Ȥ Wie häufig und mit welcher Intention verwende ich Partikeln und Füllwörter? Wie wirkt es, wenn ich sie weglasse? Ȥ Wie lässt sich meine Syntax charakterisieren? Gibt es bestimmte Phasen, in denen Para- oder Hypotaxen dominieren? Welche Wirkung ist damit verbunden? Ȥ Wie stelle ich Fragen und welche Wirkung haben sie mit Blick auf Klarheit bzw. Geschlossenheit und Diffusität bzw. Offenheit? Was ist im Hinblick auf welche Aufgabe zielführend? Ȥ Gab es Phasen, in denen ich versucht habe, die Lernenden kognitiv zu aktivieren? Welcher Techniken habe ich mich bedient? Wie haben sie gewirkt? Ȥ Wie verwende ich Gestik und Mimik? Inwiefern stehen sie in einem Zusammenhang zum Thema, inwiefern divergieren sie? Ȥ Was ist mein »Grundgefühl« mit Blick auf meine (sprachlich-kommunikative) Klassenführung? Habe ich alles kontrollierend im Griff, bin ich mittendrin, fühle ich mich verloren?

4  Lebensweltliche Nähe und fachliche Distanz Nähe und Distanz sind zentrale Dimensionen im kommunikativen Interaktionsgeschehen zwischen Lehrenden und Lernenden, aber auch in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der »Sache« bzw. dem Unterrichtsgegenstand. Die als religionsdidaktischer Konsens geltende wechselseitige Verschränkung von religiös-theologischem Sachbezug und Lebenswelt der Schüler:innen kann als Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung interpretiert werden, die sich auch im Sprechen der Lehrkraft bemerkbar machen sollte:27 sowohl schülernahe, am Mündlichen orientierte Alltags- wie auch lebensweltlich »fremde«, am Schriftgebrauch angelehnte Fach- und Bildungssprache sollten gezielt zum Einsatz gebracht werden, ohne dabei Lernende aus sprachlich benachteiligten Kontexten auszuschließen.28 Im Fach Religion gehört zu dieser Fachsprache eine theologisch oder religionswissenschaftlich geprägte Ausdrucksweise, v. a. 27 Vgl. Altmeyer, Sprachhürden, 192. 28 Vgl. ebd., 189, 192.

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aber die religiöse Sprache selbst. Weiterhin muss unterschieden werden, ob die religiöse Sprache zum Unterrichtsgegenstand wird, also ob über Religion gesprochen wird, oder ob religiöse Sprache das Medium der Verständigung ist. 4.1  Religiös sprechen zwischen sprachlicher Nähe und Distanz Sprachlich besonders auffällig dürften diejenigen Passagen im Unterricht sein, in denen Lehrpersonen selbst religiös sprechen. Sie können dabei als Medium fungieren, wenn sie einen biblischen Text präsentieren; sie können aber auch konfessorisch sprechen, indem sie über ihre religiösen Überzeugungen Auskunft geben oder mit der Klasse ein Gebet formulieren. In beiden Fällen setzt sich die verwendete Sprache deutlich von der ansonsten gängigen Unterrichtskommunikation ab. Manchmal wird dies auch nonverbal angezeigt, etwa durch eine Positionsveränderung, die mit einer anderen Haltung und Körperspannung einhergeht.29 Lesen und Erzählen verlangen auf je eigene Art und Weise sprachliches und inszenatorisches Geschick, um die Schüler:innen möglichst intensiv in die Texte hineinzuziehen. Während es sich beim Vorlesen von Texten um konzeptuell schriftliche Sprache handelt, die allerdings – z. B. durch geeignete Bibelübersetzungen – kindgemäß angepasst sein kann, wird beim Erzählen das konzeptuell mündliche Register gezogen, das sich sehr gut an die Sprache der Lernenden anpassen und gelegentlich auch regionale Varietäten (Dialekte) aufnehmen kann. Diese Beispiele deuten nur an, auf welche Weise Hilfestellungen zum Verständnis religiöser Sprache geleistet werden können. Entscheidend für die Reflexionsebene ist, dass über die Art des religiösen Sprechens nachgedacht wird. 4.2  Über Religion sprechen zwischen sprachlicher Nähe und Distanz Die Fachsprache des Religionsunterrichts besteht zu einem Gutteil aus der religiösen Sprache, über die reflektiert wird: Im Mittelpunkt stehen biblische Texte mit ihrem eigenen Vokabular, rituelle Vollzüge wie Beten und Segnen, aber auch die »Sprache« der Bilder und Symbole. Daneben kommt, vermutlich in deutlich geringerem Umfang, auch theologische Sprache zum Einsatz, wenn bspw. dogmatische Gedankenfiguren wie Trinität oder Theodizee thematisiert werden. Je fremder den Schüler:innen religiöse Sprache ist, desto stärker wird der damit assoziierte fachsprachlich-distanzierte Charakter im Religionsunterricht. Manche Lehrkräfte mögen bisweilen den Eindruck haben, gar nicht mehr an 29 Vgl. die Beschreibung in Dressler, »Da möchte Gott …«, 59.

Als Religionslehrkraft die eigene Sprache reflektieren

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ihre Schüler:innen heranzukommen. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von »Übersetzungsarbeit« ist daher – nicht nur für den Schulkontext – gestiegen. Dennoch wird es, ebenso wie im Fremdsprachenunterricht, nicht nur um das »Übersetzen« gehen müssen, sondern auch darum, durch den steten, bewusst reflektierten Gebrauch religiösen Vokabulars die religiöse Sprachfertigkeit auszubilden. Wenn einmal durch gezielte Spracharbeit klar ist, was »Segen« ist, sollte das Wort auch ohne Erklärung verwendet werden können. Freilich hat der Begriff des Übersetzens auch seine Grenzen. Eher ginge es darum, als Lehrperson über Religiöses auf einfache oder basale Art und Weise zu sprechen, um auf diese Weise den Schüler:innen sachgerechte Annäherungen zu ermöglichen und gleichzeitig sprachschöpferisches Potenzial zu wecken, das zu einer Erneuerung religiöser Sprache führen könnte.30 Zu verweisen ist hier auf das Anliegen von Elementarisierung bzw. Korrelation, christlichen Glauben erfahrungsbezogen verständlich zu machen, also z. B. mit Geschichten, Vergleichen und Analogien zu arbeiten, die sich mit Alltagssituationen der Schüler:innen, und daher auch mit ihrer Alltagssprache, verbinden. Mögliche Fragen zur diesbezüglichen Sprachreflexion könnten sein: Ȥ Gab es Phasen, in denen ich direkt oder indirekt religiös gesprochen habe? Wie waren diese Phasen »markiert«? Inwiefern habe ich dabei auf die Sprache der Schüler:innen Rücksicht genommen bzw. ihre Sprache einfließen lassen? Inwieweit habe ich bewusst Fremdheit in Kauf genommen, um z. B. dem Gegenstand gerecht zu werden? Ȥ Gab es Phasen, in denen ich mithilfe religiösen oder theologischen Vokabulars über Religion gesprochen habe? Kann ich das von mir verwendete Vokabular als bekannt voraussetzen? Welche Hilfestellungen habe ich angeboten? Inwiefern habe ich versucht, zu übersetzen oder religiös basal, also alltags- und erfahrungsbezogen, zu sprechen?

5 Fazit Die hier nur skizzenhaft dargestellten Vorschläge machen deutlich, dass die Reflexion der eigenen Sprache vielfältige Verknüpfungen zu zentralen fachdidaktischen Themenbereichen aufweist: Insbesondere stellen sich die Ansätze von Elementarisierung und Korrelation aus dieser Perspektive als sprachbezogene Herausforderungen dar, die sich auch als theologisch innovativ erweisen könnten. Bei näherer Betrachtung tut sich überdies ein ergiebiges Forschungs- und 30 Vgl. Schulte, Sprache, 2.2.

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Praxisfeld auf: Im Rahmen empirischer Unterrichtsforschung ginge es darum, durch Beobachtung mehr über die Sprache von Religionslehrer:innen herauszufinden, sie im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zu analysieren, gezielt alternative Szenarien zu entwickeln und diese dann wiederum im Klassenzimmer zu testen.

PD Dr. Stefanie Lorenzen ist Dozentin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

Wie plane ich Unterricht sprachsensibel und sprachbewusst? Tanja Tajmel

1 Einleitung In diesem Beitrag werden Hintergründe und eine Übersicht einer systematischen Herangehensweise zur sprachbewussten Unterrichtsplanung vorgestellt, die auf verschiedene Unterrichtsfächer angewandt werden kann, so auch auf den Religionsunterricht. Die vorgestellten Methoden dienen der Vorbereitung themen- und inhaltsorientierter Sprachbildungsmaßnahmen und sollen die Lehrenden auf systematische Weise dazu anregen, sich der sprachlichen Anforderungen ihres Unterrichtsfaches und -themas bewusst zu werden. Im Wesentlichen werden drei konkrete Methoden vorgestellt: (1) der Planungsrahmen zur Unterrichtsplanung auf makroskopischer Ebene, (2) das Konkretisierungsraster, welches eine detaillierte Betrachtung der unterrichtlichen Sprachhandlungen ermöglicht, und (3) die Schlüsselwortarbeit. Diese drei Methoden verstehen sich als Vorbereitung und Unterstützung einer systematischen Herangehensweise zur didaktischen Planung von Sprachbildungsprozessen auf Mikroebene, wie etwa der Erarbeitung bildungssprachlicher Mittel im Unterrichtsgespräch mit Schüler:innen. Diesen Methoden zugrunde liegt die Annahme, dass fachliches und sprachliches Lernen nicht voneinander zu trennen sind und dass jeder Unterricht für Schüler:innen immer auch Sprachunterricht ist.

2  Der Religionsunterricht als Sprachunterricht Insbesondere Schüler:innen, deren hauptsächlich verwendete Sprache nicht jener entspricht, in der der Unterricht abgehalten wird, sehen sich in jeder Unterrichtssituation vor die Herausforderung gestellt, in einer Sprache fachliche Inhalte zu rezipieren und sprachlich zu interagieren, die andere besser können als sie selbst. Dadurch sind andere Schüler:innen automatisch in verschiedener Hinsicht im Vorteil: Sie können fachliche Inhalte schneller verste-

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hen, sie können schneller lesen, Fragen stellen, schneller antworten, sie trauen sich mehr und schämen sich vielleicht weniger, sie verstehen Witze und Ironie, wissen, warum der/die Lehrer:in lacht, und können selbst Witze machen, sie können bei Unklarheiten vielleicht auch ihre Eltern fragen und sie können sich stärker auf das Fachliche konzentrieren. Diese Vorteile werden durch die Tatsache verstärkt, dass die deutsche Schule monolingual konstituiert ist.1 Damit einher geht, dass jeder Fachunterricht und alle Prüfungen (mit Ausnahmen des Sprachenunterrichts und bilingualer Modelle) in deutscher Sprache abgehalten werden und dass alle schulischen Prozesse auf deutschsprachig (und zusätzlich, wie wir wissen, bildungsnah) aufwachsende Schüler:innen normiert sind. Diese Tatsache erfordert von Lehrenden einerseits, dass sie über Sprachbildungsprozesse Bescheid wissen, und andererseits, dass sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Schüler:innen aufgrund ihrer Sprache im sozialen Feld der Schule positioniert werden bzw. positioniert sind. Sprachhandlungen und Sprachhandlungsfähigkeit bestimmen wesentlich die Position und Positionierung von Schüler:innen mit. Eine entsprechende sprachbewusste Unterrichtsgestaltung kann einen Rahmen für verbesserte Sprachhandlungsmöglichkeiten der Schüler:innen darstellen und somit eine inferiore Positionierung der Schüler:innen aufgrund von Sprache verhindern.

3  Sprachhandlungen und Kompetenzen In den Lehrplänen für den Religionsunterricht findet sich im Zusammenhang mit lernzeitbezogenen Kompetenzerwartungen eine Reihe an expliziten Hinweisen auf Sprachhandlungen. Die in Abbildung 1 dargestellten Inhalte sind dem Lehrplan für Katholische Religion des Landes Hessen entnommen. Die Lernenden sollen zum Beispiel beschreiben, verstehen und deuten, religiöse Sprachformen verwenden, Kernaussagen zu Fragen in Beziehung setzen, erläutern, urteilen und darstellen. Fachliche Kompetenzen werden über Sprache operationalisiert und eine entsprechende Sprachhandlungsfähigkeit ist daher nicht nur auf den Bereich der Kommunikationskompetenz beschränkt, sondern ein zentrales Element aller Kompetenzbereiche.

1

Vgl. Ingrid Gogolin, Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, Münster 1994.

Wie plane ich Unterricht sprachsensibel und sprachbewusst?

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Abb. 1: Kompetenzbereiche und lernzeitbezogene Kompetenzerwartungen des Religions­ unterrichts2

4  Kritisch-reflexive Sprachbewusstheit Was müssen Lehrer:innen über Sprache wissen, damit sie entsprechend sprachbewusst handeln können und Schüler:innen den Erwerb der oben genannten Kompetenzen ermöglichen? Sie müssen einerseits über metasprachliches Wissen verfügen, wie etwa, wie sich die Textsorte Argumentieren von der Textsorte Beschreiben unterscheidet, was ein Kompositum ist oder dass im Nebensatz das finite Verb an letzter Stelle steht. Andererseits müssen sie Sprachbildungsprozesse begleiten und sprachliche Normabweichungen richtig interpretieren können, d. h. über sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Wissen verfügen. Und schließlich müssen sie ein Bewusstsein für den gesellschaftlichen Sprachendiskurs entwickeln, um der Exklusion und Diskriminierung von Schüler:innen

2 Hessisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum Hessen, Katholische Religion, Sekundarstufe I – Gymnasium, Wiesbaden 2012, 21 (Sprachhandlungen sind von der Autorin durch Unterstreichung hervorgehoben). Vgl. auch den Beitrag von Schulte in diesem Band.

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aufgrund von Sprache entgegenzuwirken.3 Eine umfassende Darstellung der verschiedenen Dimensionen der Sprachbewusstheit von Lehrkräften, welche auch die Machteben berücksichtigt, ist im Modell der Kritisch-reflexiven Sprachbewusstheit im Kontext von Fachunterricht4 zu finden. Darin werden vier Ebenen der Sprachbewusstheit unterschieden (Abbildung 2): 1. Die affektive Ebene beschreibt eine professionsbezogene Bereitschaft der Lehrkraft, sich mit Sprache auseinandersetzen zu wollen und zur Verbesserung der Chancen der Schüler:innen beitragen zu wollen. 2. Die kognitiv-linguistische Ebene beinhaltet das linguistische Wissen über Sprache, aber auch soziolinguistisches Wissen über die Situationsgebundenheit von Sprache. Außerdem beinhaltet diese Ebene das Wissen um die von der Situation abhängigen Erfordernisse unterschiedlicher sprachlicher Register. Zur kognitiv-linguistischen Ebene zählen auch sprachdidaktisches und sprachdiagnostisches Wissen sowie das Wissen zur Differenzierung fachlicher und sprachlicher Lernziele und Lerninhalte. Das kognitiv-linguistische Wissen stellt ein Repertoire für didaktische Entscheidungsprozesse dar, auf dessen Basis sprachliche Lernziele formuliert und sprachdidaktische Maßnahmen ergriffen werden. 3. Die rechtlich-soziale Ebene beinhaltet ein professionelles Selbstverständnis und die damit verbundenen Aufgaben der Lehrkräfte mit dem vorrangigen Ziel, allen Schüler:innen einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung zu ermöglich und den Unterricht dementsprechend zu gestalten. Eine diesbezügliche professionelle Bewusstheit ist relevant, um die Rechte der Schüler:innen zu wahren und diskriminierungsfrei zu realisieren. Daher zählt zur sozialen Bewusstheitsebene auch, sich im Zweifelsfall dem diskriminierungsfreien Bildungszugang der Schüler:innen gegenüber verpflichteter zu fühlen als der Tradierung fachlicher und fachkultureller Normen. 4. Die hegemoniale Machtebene ist eine Ebene der Reflexion über die Reproduktion von Machtverhältnissen durch Schule und Gesellschaft. Sie beinhaltet einerseits die Reflexion über Sprachnormen als formalisierte Macht, dass schulische Selektionsprozesse über sachlich-formale Zusammenhänge legitimiert werden und welche Normen als Vergleich herangezogen werden (etwa, 3

4

Vgl. Norman Fairclough, Critical Language Awareness, London 1992; Tanja Tajmel/Klaus Starl (Hg.), Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science, Münster, 2009; Tanja Tajmel, Wenigersprachigkeit – Ein Beitrag zur Diskursumkehr, in: ÖDaF Mitteilungen 35 (2019), 23–32. Vgl. Tanja Tajmel, Naturwissenschaftliche Bildung in der Migrationsgesellschaft – Grundzüge einer Reflexiven Physikdidaktik und kritisch-sprachbewussten Praxis, Wiesbaden/New York 2017.

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was als falsch gilt). Andererseits beleuchtet der prozedurale Machtaspekt die Konstruktion von anderen durch diskursive Zuschreibungsprozesse (z. B. »Eignung«, »Interesse«, »Begabung« von Schüler:innen5).

Abb. 2: Kritisch-reflexive Sprachbewusstheit von Lehrkräften im Kontext von Fachunterricht6

Als Zwischenfazit kann gesagt werden, dass Schüler:innen ein Recht darauf haben, dass die Unterrichtsinhalte sprachlich zugänglich sind und sie aufgrund persönlicher Merkmale gegenüber anderen Schüler:innen nicht schlechter gestellt werden. Das Ziel der im folgenden vorgestellten Methoden zur sprachbewussten Unterrichtsplanung ist daher, eine Schlechterstellung von Schüler:innen aufgrund von Sprache zu vermeiden, Barrieren, die den Zugang zu fachlichen Inhalten behindern könnten, rechtzeitig zu erkennen und Maßnahmen vorzubereiten, die allen Schüler:innen eine Beteiligung am Unterricht ermöglichen.

5  Schritte der sprachbewussten Unterrichtsplanung Im Folgenden werden die einzelnen Schritte einer sprachbewussten Unterrichtsplanung vorgestellt. Wohlgemerkt beziehen sich diese Schritte auf die Vorbereitung sprachdidaktischer Maßnahmen, wie etwa der Gestaltung von Aufgabenstellungen oder des Einsatzes von Strategien zur Texterschließung, und sind selbst nicht als sprachdidaktische Maßnahmen zu verstehen. Es sind Schritte, 5 Vgl. ebd., 265 ff. 6 Vgl. ebd.; Tanja Tajmel/Sara Hägi-Mead, Sprachbewusste Unterrichtsplanung. Prinzipien, Methoden und Beispiele für die Umsetzung, Münster 2017.

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welche die Lehrkraft geht, um sich selbst der sprachlichen Anforderungen ihres Unterrichts anzunähern und ihre eigene Sprachbewusstheit zu erhöhen, um bessere pädagogisch-didaktische Entscheidungen treffen zu können. 5.1  Der Planungsrahmen Der Planungsrahmen7 stellt auf sehr übersichtliche und gut nachvollziehbare Art und Weise dar, wie Sprache in die fachliche Unterrichtsplanung integriert werden kann. Er besteht aus den vier Bereichen Thema, Aktivitäten und Sprachhandlungen, Sprachstrukturen und Vokabular. Die (allgemeinen und sprachlichen) Aktivitäten werden zunächst alle notiert und dann in Aktivitäten des Hörens, Sprechens, Lesens und Schreibens differenziert.

Abb. 3: Ausgearbeiteter Planungsrahmen für eine Unterrichtseinheit zum Thema Wetter

5.2  Das Konkretisierungsraster Das Konkretisierungsraster8 stellt eine Ergänzung zum Planungsrahmen dar. Es erlaubt eine detaillierte Analyse der einzelnen Sprachhandlungen, der erforderlichen Sprachstrukturen und des erforderlichen Vokabulars. Dadurch werden insbesondere auch relevante allgemeinsprachliche Mittel bewusst.

7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd.

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Abb. 4: Beispiel eines Konkretisierungsrasters, erarbeitet zum Thema Wetter und der Sprachhandlung Beschreiben. Die sprachliche Anforderung, das »heutige Wetter zu beschreiben«, wird konkretisiert, indem Sprachstrukturen und sprachliche Mittel auf Wort-, Satz- und Textebene identifiziert werden.

Das Raster wird von oben nach unten erarbeitet. Aus dem Planungsrahmen wird eine Aufgabenstellung aus der Spalte »Aktivitäten und Sprachhandlungen« ausgewählt, die einen sprachlichen Operator (beschreiben, erklären, begründen etc.) beinhaltet. Aufgabenstellung und Operator bzw. Sprachhandlung werden in das Raster eingetragen. Als nächstes wird der Erwartungshorizont für diese Aufgabe ausformuliert. Hier ist wichtig, dass die Lehrkraft den Erwartungshorizont wörtlich und nicht deskriptiv in der Form »Die Schüler:innen sollen …« ausformuliert. Abschließend wird der wörtlich ausformulierte Erwartungshorizont nach sprachlichen Mitteln analysiert. Die Lehrkraft identifiziert dabei alle sprachlichen Mittel auf Wort-, Satz- und Textebene, die für diese Sprachhandlung nötig sind. Es ist wichtig, zu bemerken, dass es nicht darum geht, einen allgemeingültigen Erwartungshorizont zu formulieren. Jede Lehrkraft wird einen anderen

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Erwartungshorizont ausarbeiten. Wichtig ist, dass die Lehrkraft sich selbst ihrer eigenen sprachlichen Erwartungen bewusst wird. Möglicherweise kommt sie nach der Analyse des Erwartungshorizonts zu dem Schluss, dass die Aufgabenstellung zu komplex ist und die sprachlichen Erwartungen zu hoch sind. Auf Basis dieser Reflexion können die Aufgabenstellung verändert und der Unterricht sprachdidaktisch geplant werden. 5.3 Schlüsselwörter Die im Konkretisierungsraster identifizierten sprachlichen Mittel können schließlich einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, um bestimmte Schlüsselwörter zu identifizieren und sprachdidaktische Maßnahmen für den Unterricht zu planen.9 Im hier vorgestellten Beispiel könnte etwa das Wort auflösen als Schlüsselwort identifiziert und im Unterricht explizit thematisiert werden.

Abb. 5: Schlüsselwortplakat zum Wort auflösen. Es werden unterschiedliche Aspekte des Wortes behandelt. 9 Vgl. Tanja Tajmel, Wortschatzarbeit im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht, in: ide. Informationen zur deutschdidaktik: Wort.Schatz, 1/2011, 83–92; Thomas Quehl/Ulrike Trapp, Wege zur Bildungssprache im Sachunterricht. Sprachbildung in der Grundschule auf der Basis von Planungsrahmen, Münster 2015; Magdalena Czepl/Tanja Tajmel, Sprachbildung im und mit dem Sachunterricht, in: Brigitte Neuböck-Hubinger/Regina Steiner (Hg.), Sachunterricht in Bewegung. Baltmannsweiler 2019, 131–141.

Wie plane ich Unterricht sprachsensibel und sprachbewusst?

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Auflösen ist ein zentrales Verb im Zusammenhang mit Wetter und notwendig, um über die Entwicklung von Bewölkung zu sprechen. Andererseits ist es aber auch ein Wort, das im Alltag eine andere Bedeutung haben kann (ein Rätsel auflösen) und es ist zudem morphologisch anspruchsvoll, da es ein trenn­bares Verb ist. All diese Aspekte könnten Schüler:innen Schwierigkeiten bereiten, weshalb sie im Unterricht geklärt werden sollten. Eine Möglichkeit, solche Schlüssel­ wörter genauer unter die Lupe zu nehmen, ist die Erarbeitung eines Schlüsselwortplakats, wie es in Abbildung 5 dargestellt ist.

6 Zusammenfassung Die hier überblickshaft vorgestellten Ansätze stellen eine Möglichkeit zur Erhöhung der Sprachbewusstheit der Lehrkräfte dar, um für den Fachunterricht in Klassen mit mehrsprachigen Schüler:innen besser vorbereitet zu sein. Auf Basis dieser Ansätze können Entscheidungen über die erforderlichen sprachdidaktischen Maßnahmen getroffen werden, um schließlich den Erwerb jenes Wortschatzes und jener Sprachhandlungen zu unterstützen, die zu einem bestimmten Unterrichtsthema passen, um somit den Erwerb sowohl sprachlicher als auch fachlicher Kompetenzen für alle Schüler:innen zu ermöglichen.

Dr. Tanja Tajmel ist Professorin für Equity, Diversity and Inclusion in Science, Technology, Engineering and Mathematics an der Concordia University, Montreal/Kanada.

Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus? Oliver Reis, Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast

1 Religiöses Sprechenlernen und religiöse Sprache Mit der Frage nach den »sprachsensiblen Aufgabenstellungen« für den Religionsunterricht wird an das Konzept des sprachsensiblen Fachunterrichts angeschlossen. Man kann diesen Bezug eng lesen und nun eine schlichte Adaption der Konzeption erwarten. Andererseits reflektiert die Religionspädagogik das Verhältnis von Sprache, Religion und Lehren/Lernen schon länger und je nachdem, was man unter religiöser Sprache oder religiöser Sprachbildung im Verhältnis von theologischer Fachsprache, religionsunterrichtlicher Schulsprache, kirchlicher Amtssprache oder Alltagssprache versteht, verändert sich das fachspezifische Verständnis, wie sprachsensible Aufgaben aussehen, was sie leisten sollen und worauf mit ihnen bewusst auch verzichtet wird. Deshalb ist die religionspädagogische Einordnung notwendig. Entscheidend ist, wie man die religiöse Sprache überhaupt versteht und wie man sie dem Unterricht zuordnet. Ein Zugang schaut stärker auf den Charakter religiöser Sprache und fragt von zu bestimmenden Eigenarten ausgehend nach den Sprachbildungsmöglichkeiten. So hat Josef Kraus die Mehrdimensionalität von Wirklichkeit, die Mehrdeutigkeit religiöser Sprache und deren Vermittlung zwischen Weltwirklichkeit und kirchlicher Wirklichkeit als Bedingungsgefüge analysiert.1 Hier wird die Andersartigkeit der religiösen Sprache betont, die trotz der Kombination mit alltagssprachlichen Begriffen und Mustern durch ihren inneren Charakter, durch ihr besonderes Verhältnis zu den gemeinten Objekten der bezeichneten religiösen Begriffe – im Sinne von abstrakten Begriffen2 – 1 Josef Kraus, Einführung in mehrdimensionales Denken und Sprechen. Analyse und theologische Begründung einer religionspädagogischen Forderung, Erzabtei St. Ottilien 1987. 2 Vgl. Oliver Reis/Alina Lenze/Johanna Nagels/Fabian Potthast, Die Bibel als Medium religiöser Sprachentwicklung, in: Norbert Brieden/Hans Mendl/Oliver Reis/Hanna Roose (Hg.), Biblische Welten (Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 11), Babenhausen 2020, 119–132, hier 121 f.

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und durch die besondere Bedeutung der religiösen Sprachsozialisierung einen besonderen Bereich der Sprache darstellt.3 Deshalb kann auch die Unterrichtssprache nie ohne Beziehung zu diesem besonderen Charakter gedacht werden, sodass die Sprache der Religion im Raum sein muss. Sprachsensible Aufgaben in diesem Zugang üben Begriffe und sprachliche Muster der kirchlichen und der theologischen Fachsprache in einer bewusst gestalteten vorstrukturierten und strukturierenden Sprachumgebung ein, um damit selbst auf Erkundung der Welt zu gehen. Diesem Zugang wollen wir in diesem Beitrag folgen.

2 Der Ansatz des sprachsensiblen Unterrichts Der sprachsensible Unterricht geht vom Grundsatz aus »language learning as language use«. Die Sprache muss gebraucht werden, um in ihr Erkenntnisse, Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungsvollzüge auszudrücken.4 Zwei große Zugänge strukturieren die Vorstellung des sprachsensiblen Unterrichts: das Scaffolding in der Makro-Anlage des ganzen Unterrichts bzw. in der MikroGestaltung von einzelnen Interaktionen sowie der Ansatz des Content and Language Integrated Learning (CLIL), das in der bilingualen Fachdidaktik bzw. in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) rezipiert wird. Da sich in diesem Band ein eigener Beitrag dem Scaffolding widmet (vgl. Green), konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf das CLIL. Den engen Kontext des bilingualen Fachunterrichts hat das Konzept schon längst verlassen. Durch die zunehmende Heterogenität der Milieus, der Sozialisierungsbedingungen, der nationalen Herkünfte treten im Unterricht die Fachsprache, die Familiensprache, die Alltagssprache und die Unterrichtssprache auseinander, sodass in vielen Fachdidaktiken die Aufgabe eines sprachsensiblen Unterrichts erkannt wurde. Für das CLIL formuliert Josef Leisen drei Leitlinien für die Gestaltung von sprachlichen Handlungssituationen: »1. Die Lerner werden in fachlich authentische, aber bewältigbare Sprachsituationen (bildungssprachliches Sprachbad) gebracht. […] 2. Die Sprachanforderungen liegen knapp über dem individuellen Sprachvermögen […]. 3.

3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Dieter Wolff, Die Fremdsprachendidaktik. Eine Disziplin im Spannungsfeld von Theorie (Anspruch) und Praxis (Wirklichkeit), in: Thomas Tinnefeld (Hg.), Fremdsprachenvermittlung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Saarbrücken 2016, 47–62, hier 55.

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Didaktische Konkretionen

Die Lerner erhalten so viele Sprachhilfen, wie sie zum erfolgreichen Bewältigen der Sprachsituationen benötigen.«5 Sprachsensible Aufgaben fordern zum mündlichen und schriftlichen(!) Sprechen auf, indem fortschreitend die Alltagssprache mit schriftsprachlichen und fachsprachlichen Strukturen angereichert wird und ein gemeinsamer gut geübter Wortschatz (Begriffe und Syntax) zur Verfügung steht.6 Leisen unterscheidet zwölf Standardsituationen7, in denen die Schüler:innen regelmäßig in allen Fächern zum Sprachhandeln aufgefordert werden sollen: A. Etwas darstellen und beschreiben Wissen sprachlich darstellen Eine Darstellungsform (z. B. eine Tabelle, Formel, Karte, Skizze, ein Graph, Diagramm, Bild, …) in Worte fassen (verbalisieren) Fachtypische Sprachstrukturen anwenden Einen Sachverhalt präsentieren und strukturiert vortragen

B. Wissen mit anderen sprachlich verhandeln Ein fachliches Problem lösen und (mündlich oder schriftlich) verbalisieren Auf Argumente eingehen und Sachverhalte diskursiv erörtern Einen Fachtext lesen

C. Wissenserwerb sprachlich begleiten Eine Hypothese, Vorstellung, Idee, … äußern Fachliche Fragen stellen Einen Sachverhalt erklären und erläutern

D. Text- und Sprachkompetenz ausbauen Einen Fachtext produzieren/verfassen Sprachkompetenz sichern und ausbauen

In den Situationen müssen jeweils verschiedene Sprachen – Fach- bzw. Amtssprache, Unterrichtssprache, Alltagssprache, Familiensprache usw. – vernetzt werden. Sprachsensible Aufgaben im Sinne des CLIL sollten zu solchen Integrationsleistungen interaktional anregen.8 Die sprachsensiblen Aufgaben trainieren hierfür ganz gezielt den Aufbau unterrichts- bzw. fachsprachlicher Muster und bedienen sich methodisch auf der Mikro-Ebene bei den Werkzeugkoffern des Scaffoldings, indem Vokabulare, Glossare, Lernaufgaben mit der Vorgabe von 5

Josef Leisen, Zur Integration von Sachfach und Sprache im CLIL-Unterricht, in: Bernd R ­ üschoff/ Julian Sudhoff/Dieter Wolff (Hg.), CLIL Revisited: Eine kritische Analyse des gegenwärtigen Standes des bilingualen Sachfachunterrichts, Frankfurt a. M. 2015, 225–244, hier 234. 6 Vgl. Kristina Peuschel/Anne Burkard, Sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern (narr Studienbücher), Tübingen 2019. 7 Vgl. Josef Leisen, Handbuch Sprachförderung im Fach, Stuttgart 2013, Bd. 1: 106–108; Bd. 2: 100–138; Leisen, Integration, 238. 8 Vgl. Jonas Wagner/Taha Kuzu/Angelika Redder/Susanne Prediger, Vernetzung von Sprachen und Darstellungen in einer mehrsprachigen Matheförderung, in: Fachsprache 40 (2018), 2–23, hier 15.

Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus?

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Satzanfängen, Tabellen mit Antwortmöglichkeiten und strukturierte Lesestrategien mit Elementen des reziproken Fragens eingesetzt werden.9 Sprachsensible Aufgaben unterstützen aber nicht nur die Integration der Sprachen, sie machen diese Aushandlungen transparent und selbst zum Thema fachlichen Lernens.10 Anders als im normalen Unterricht wird beim CLIL verstärkt darauf geachtet, dass Antworten von Schüler:innen einen inhaltlichen und einen sprachlichen Respons daraufhin erhalten, ob die sprachliche Fassung den Anforderungen der gemeinsamen Sprachpraxis entspricht.11 Selbst wenn Aufgaben komplexer werden und individuelle Lösungen erfordern und damit auch sprachlich die Varianz steigt, ist es notwendig zu markieren, welches Begriffsverständnis und welche syntaktische Einbettung als sinnvolle Sprachhandlung hinreichend ist.12 Selbst wenn die varianzreichen individuellen Sprachkonzepte als Teil der Unterrichtssprache substanziell sind, wie in der Religionsdidaktik, ist trotzdem die Sprachvernetzung auf Rückmeldungen zur Viabilität einer Sprachleistung angewiesen.

3 Sprachsensible Aufgaben für den Religionsunterricht Für den Religionsunterricht ist CLIL noch wenig erprobt. Natürlich gibt es Aufgaben in Handreichungen, die zu Texten Tabellen ausfüllen lassen, oder in Lehrwerken solche, in denen Begriffe erklärt werden sollen. Aber trotz aller Sprachbezogenheit des Religionsunterrichts und der religiösen Bildung fällt es vielen schwer, sich solche strukturierten Übungen durchgängig vorzustellen. Ein Problem könnte die in diesen Übungen wirksame Normierung der Sprache sein. Wir meinen, dass die Integration zwischen der biografisch entwickelten religiösen Sprache, dem religiösen Sprechen der anderen und der religiösen Sprachen der repräsentierten Religionen nötig ist, und diese ist auf solche Übungen angewiesen. Dass viele Studien statt der Sprachvernetzung unverbundene Formeln der Fach- bzw. Amtssprache als harte Begriffskerne entdecken,13 könnte auch damit   9 Vgl. Andrea Schulte, Art. Sprache, in: WiReLex (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/200766/ (Zugriff am 17.10.2020), 9. 10 Vgl. Elisabeth Fuchs-Auer, Bilingualer Religionsunterricht, in: Gerhard Büttner/Hans Mendl/ Oliver Reis/Hanna Roose (Hg.), Glaubenswissen (Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6), Babenhausen 2015, 109–123. 11 Vgl. Leisen, Handbuch Sprachförderung im Fach, Bd. 1: 73–75. 12 Vgl. Leisen, Integration. 13 Vgl. z. B. Tobias Faix, Deutungsmuster jugendlicher Spiritualität. Semantik als Grundlage jugendtheologischer Überlegungen, in: Tobias Faix/Ulrich Riegel/Tobias Kunkler (Hg.), Theologien von Jugendlichen (Empirische Theologie 27), Berlin 2015, 49–70; Stefan Altmeyer/Dieter

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zu tun haben, dass die Religionsdidaktik die subjektorientierte Sprachvernetzung vielfach nicht als Lehraufgabe, sondern als natürliche Anlage oder als sich selbst entwickelnde Fähigkeit versteht, wenn eben genügend Motivation vorhanden ist. Aus Sicht des Sprachenlernens liegt der Fall andersherum: Motivation zum Sprachenlernen ist auch die Folge von Sprachteilhabe an einer Sprachgemeinschaft, gerade weil man die eigenen Kommunikationseinschränkungen verändern will. Und diese Sprachteilhabe muss mithilfe von Begriffen, Syntax und der Nutzung in kommunikativen Situationen gelernt werden. Der sprachsensible Unterricht bietet mit a) den drei Leitlinien für die Aufgabengestaltung, b) der Orientierung an den Standardsituationen, c) der Unterstützung der Integrationsleistung der verschiedenen Sprachen, d) der Scaffolding-Arbeit im Begriffsaufbau, e) der Feedbackkultur zu Inhalt und Sprache und f) der Transparenzmachung der Spracharbeit auf der Meta-Ebene hierfür eine sinnvolle Struktur. Dies zeigen wir im Folgenden an einem konkreten Beispiel.

4 Sprachbildung an der Grundschule St. Michael, Paderborn In einer Forschungskooperation des Erzbistums Paderborns haben wir an der neu gegründeten St. Michaels Grundschule das Angebot »Lesen – Sprechen – Erleben« im Ganztag implementiert, das sprachsensible religiöse Bildung erprobt.14 Das Grundkonzept sieht folgendermaßen aus: Wir stellen bestimmte religiöse Begriffe der (katholischen) Tradition in das Zentrum und erarbeiten sie im Medium biblischer Texte, sodass wichtige syntaktische Sprachmuster der Begriffsverwendung von den Geschichten ausgehend eingeübt werden. Die Begriffe werden aber auch bewusst wieder dekontextualisiert und in der über semantische Marker religiös gerahmten Gegenwart neu kontextualisiert. Im letzten Schritt tritt die Rahmung zurück und der Begriff, sein zunächst eng gefasstes semantisches Konzept und die Verwendungsregeln werden auf bestimmte Praktiken im Angebot bezogen, die sich durch die in den meisten religiösen Begriffen geronnenen Handlungen nahelegen. Die Kinder werden abschließend eingeladen, den Begriff jenseits der engen religiösen Rahmen in Kontexte des Hermann, Mit Freunden über Gott reden … Religiöse Kommunikation vor dem Übergang von der Kindheit zum Jugendalter, in: Stefan Altmeyer/Gottfried Bitter/Reinhold Boschki (Hg.), Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne« (Praktische Theologie heute 124), Stuttgart 2016, 125–142. 14 Für Informationen zum Projekt siehe https://kw.uni-paderborn.de/institut-fuer-katholischetheologie/religionspaedagogik-unter-besonderer-beruecksichtigung-von-inklusion/forschung/ religioese-sprachentwicklung-im-ganztag-eine-interventionsstudie (Zugriff am 17.10.2020).

Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus?

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Alltags und der Familie einzubinden (über Religion sprechen).15 Wir stellen nun aus diesem Angebot verschiedene Aufgabenformen vor und ordnen sie in die Vorgaben für den sprachsensiblen Unterricht ein. Eine jede Reihe beginnt mit dem Erzählen einer biblischen Geschichte, in die der jeweilige Begriff eingebettet ist. Nachdem die Geschichte ein erstes Mal von den Lehrkräften mit verschiedenen Hilfsmitteln – das können Bilder, Figuren oder allgemein Gegenstände sein – erzählt wurde, werden die Kinder aufgefordert, die Geschichte nachzuerzählen. Dabei lautet die mündliche Aufgabenstellung wie folgt: Nachdem ihr die Geschichte nun schon gehört und den Begriff, um den es geht, kennengelernt habt, seid ihr an der Reihe. Versucht, die Geschichte in euren Worten nachzuerzählen. Versucht dabei aber auch Worte aus der Geschichte zu benutzen. Worte für Personen, Orte, Tätigkeiten usw. Achtet vor allem darauf, dass der Begriff, um den es gehen soll, XXX, vorkommt. Zur Unterstützung habt ihr die Bilder, die euch durch die Geschichte leiten. Wir helfen euch, wenn ihr nicht weiterwisst.

Durch die Aufforderung, die Geschichte nachzuerzählen, werden die Kinder entsprechend a) der Leitlinien für die Aufgabenstellung nach Leisen in eine Sprachsituation gebracht. Da sich die Begriffe – wie z. B. »Segen« oder »Reich Gottes« – nicht im alltäglichen Sprachgebrauch der Kinder befinden, liegen die Sprachanforderungen über dem individuellen Sprachvermögen. Dennoch sind die Kinder in der Lage, die Geschichten mit entsprechenden Sprachhilfen nachzuerzählen. Dazu stehen ihnen diejenigen Hilfsmittel, die ohnehin schon für die anschaulichere Darstellung der Geschichte benutzt wurden, sowie die Hilfe der Lehrkräfte zur Verfügung. Darüber hinaus wird sich u. a. bei dieser Aufgabenstellung an b) den Standardsituationen orientiert: Durch das Nacherzählen der Geschichte sowie die explizite Aufforderung zur Verwendung der Begriffe stellen die Kinder ihr Wissen sprachlich dar. Durch die Kopplung der eigenen Wörter mit den Wörtern/dem Begriff der Geschichte wird gleichzeitig c) die Integrationsleistung unterstützt. Nach der von den Kindern wiedergegebenen biblischen Geschichte erfolgt eine Besprechung, in der die Kinder fachliche Fragen stellen, Hypothesen aufgebaut und nach Lösungen gesucht werden, um die Sprachentwicklung anzuregen. 15 Vgl. zum Modell der religiösen Sprachentwicklung Reis/Lenze/Nagels/Potthast, Bibel; Theresa Kohlmeyer/Oliver Reis/Franziska Viertel/Katharina Rohlfing, Wie meinst du das? Begriffserwerb im Religionsunterricht, in: Theo-Web 19 (1/2020), 334–344.

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L.: Ja, genau. Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig. K.: Was heißt gnädig? L.: Was heißt gnädig? Vielleicht kann dir jemand die Frage beantworten. Pause L.: Ist das was Gutes oder was Schlechtes? K.: Was Gutes. L.: In welcher Situation sagt man dann so etwas wie »Bitte sei mir gnädig.«? K.: Wenn man gekämpft hat und der Verlierer dann auf die Knie geht und bittet, dass es wieder gut ist. L.: Die Erklärung gefällt mir gut, so können wir uns das Gnädigsein merken.

Das Gespräch, aus dem die Gesprächssequenz entnommen wurde, handelte von dem »Priestersegen« Aarons. In einer wie oben aufgeführten offenen Gesprächsrunde wurde von einem Kind gefragt, was denn »gnädig« bedeute, woraufhin ein anderes Kind die Hypothese aufstellte, dass man zum Beispiel in einem Streit um »Gnade« bittet. Dadurch, dass das Nacherzählen sowie die anschließende Besprechung jeweils in einer offenen Gesprächsrunde stattfinden, wird e) die Feedbackkultur zu Inhalt und Sprache inte­ griert. Ein unterstützendes Workbook enthält Aufgaben, die die Schüler:innen in individuelle sowie in Gruppen zu bearbeitende b) Standardsituationen bringt. Diese Aufgaben dienen der d) Scaffolding-Arbeit im Begriffsaufbau. Abb. 1: Scaffolding-Arbeit zum Priestersegen16 16 Oliver Reis unter Mitarbeit von Alina Lenze/Johanna Nagels/Fabian Potthast, »Lesen – Sprechen – Erleben« 2. Das Lese- und Rätselheft für die 2. Klasse Religion, München 2020, 10.

Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus?

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In solchen gestuften Aufgaben nutzen die Schüler:innen fachsprachliche Muster, wenn sie bei starker Führung unterschiedliche Satzteile aus der jeweiligen biblischen Geschichte verbinden oder dann bei mittlerer Führung vorgegebene Wörter in einen Lückentext einfügen. So setzen sie die erzählte Geschichte in schriftsprachliche Wissensstrukturen um. Darüber hinaus bietet das Workbook Aufgaben zum Umsetzen von Lesestrategien mit Elementen des reziproken Fragens. Ein jedes Kapitel im Workbook beginnt mit Texterschließungsaufgaben, bei denen die Schüler:innen wichtige Figuren, den jeweiligen biblischen Begriff oder wichtige Situationen unterstreichen oder einkreisen sollen und sich somit die Geschichte noch einmal eigenständig erschließen können.

Abb. 2: Texterschließungsaufgaben17

Dabei gehen auch bei der Arbeit mit dem Workbook neben der d) ScaffoldingArbeit die b) Orientierung an den Standardsituationen einher: Die Schüler:innen lesen den Fachtext in Form der biblischen Geschichte, dessen Inhalt grundlegend für die Bearbeitung der Aufgaben ist. Durch das schriftliche Bearbeiten der Aufgaben nutzen sie z. B. den Barmherzigkeitsbegriff, um das Verhalten von Boas, Ruth und eben Gott zu charakterisieren und stellen eine kausale Beziehung her, die für diesen Begriff in der fachlichen Struktur zentral ist (geringe Führung). Die Aufforderung, einen eigenen Satz zu schreiben, ist implizit an diese Struktur gebunden, sodass die Aufgabe auch zur c) Sprachintegration auffordert. Die Lehrkräfte geben nach der Präsentation eine Rückmeldung. Über die Reihen hinweg werden neue Begriffe in einer Schatzkiste gesammelt und wie in folgendem Beispiel in Gesprächen reflektiert, wodurch f) die Spracharbeit auf der Meta-Ebene transparent gemacht wird. K: Wie alt ist die Kirche? L.: Die Kirche gibt es seit Pfingsten. Vielleicht habt ihr ja schonmal gehört, dass die Kirche da Geburtstag feiert. K.: Warum das denn? L.: Das ist jetzt so ungefähr 2000 Jahre her. K.: Das ist ganz schön alt, ist die denn noch nicht kaputt? 17 Ebd., 28.

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Didaktische Konkretionen

L.: Die Kirche besteht ja aus Menschen. K.: Wie? L.: Ihr sprecht gerade über verschiedene Arten von Kirche. Es gibt die Kirche als Gemeinschaft, zu der wir als Menschen alle gehören, und es gibt Kirchen wie zum Beispiel den Paderborner Dom, die aus Stein gebaut sind.

In dieser Gesprächssequenz wurde am Begriff »Kirche« transparent, dass es zum einen das Modell der »Kirche« als Gebäude und zum anderen das Modell der »Kirche« als Gemeinschaft gibt. Die Wirkung solcher Übungen zeigt sich auch schon in kleinen Erhebungen.18 Sie dienen einer größer angelegten Studie zur religiösen Sprachentwicklung und deren Förderung durch didaktische Maßnahmen.

Dr. Oliver Reis ist Professor für Katholische Religionspädagogik an der Universität Paderborn. Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast sind Wissenschaftliche Hilfskräfte im Forschungsprojekt »Religiöse Sprachentwicklung im Ganztag« an der Universität Paderborn.

18 Vgl. Reis/Lenze/Nagels/Potthast, Bibel.

Scaffolding im Religionsunterricht. Lerngerüste als Hilfen zur Entwicklung religiöser Diskursfähigkeit Jens-Peter Green

In einer Einwanderungsgesellschaft steigen die Anforderungen an einen sprachsensiblen und sprachfördernden Religionsunterricht. Der folgende Beitrag greift diese Herausforderung auf. Ausgehend von dem Konzept des Scaffolding wird gezeigt, wie differenzierte Unterstützungsangebote einer sprachlich und religiösweltanschaulich heterogenen Schüler:innenschaft helfen, auf Deutsch religiös sprachfähig zu werden. Die Metapher des Lerngerüsts (Scaffolding) stammt aus der amerikanischen Entwicklungspsychologie und ist in der Fremd- und Zweitsprachendidaktik weit verbreitet.1 Das damit Gemeinte ist einfach, die Umsetzung methodisch komplex: Kinder und Jugendliche benötigen kognitiv-sprachliche Hilfen, um Materialien strukturiert zu erarbeiten (process scaffolding), zu verstehen (input scaffolding) und zu verarbeiten (output scaffolding). Diese Hilfen können und müssen in dem Maße entfallen, in dem die Lernenden selbstständiger werden. Für die Lehrkräfte heißt das auf der Makro-Ebene der Unterrichtsplanung und der Mikro-Ebene der konkreten Unterrichtssituation: Sie müssen wissen, wann sie Unterstützung anzubieten und wann sie sich zurückzunehmen haben. Sie müssen über ein breites Repertoire an Strategien und Techniken verfügen, um Interesse zu wecken, Arbeitsschritte zu verdeutlichen und Ergebnisse zu sichern, und sie müssen bei alledem rezeptives und aktives Sprachvermögen so fördern, dass die Schüler:innen am bildungssprachlichen Diskurs teilnehmen können. Die unterrichtliche Umsetzung dieses Ansatzes wird in einem ersten Schritt an einem Auszug aus Elie Wiesels Nacht2 zur Theodizeefrage in Auschwitz demonstriert. Die vorgestellten sprachlichen, methodischen und inhaltlichen Elemente möglicher Lerngerüste schärfen den Blick für verständliche, schüler:innengemäße Sprache sowie die Einübung eines allgemein- und fachsprachlichen Themenwortschatzes. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie 1 Vgl. z. B. die Themenhefte Scaffolding (Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 106/2010 und 126/2013); Bernd Klewitz, Scaffolding im Fremdsprachenunterricht. Unterrichtseinheiten Englisch für authentisches Lernen, Tübingen 2017. 2 Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, Frankfurt a. M./Berlin 51994. Nacht ist Teil 1 dieser Trilogie.

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Didaktische Konkretionen

Scaffolding hilft, englischsprachige Materialien in den deutschen Religionsunterricht zu integrieren. Der abschließende Fragenkatalog zur Analyse von Unterrichtsmaterialien fasst die Überlegungen zum Scaffolding im deutschsprachigen Religionsunterricht zusammen; er ist im Hinblick auf die Aus- und Fortbildung von Religionslehrkräften konzipiert. Scaffolding im englischsprachigen (bilingualen) Religionsunterricht bleibt aus Platzgründen unberücksichtigt.3

1  Deutsche Texte im deutschsprachigen Religionsunterricht In einer zentralen Passage in Elie Wiesels autobiografischer Erzählung Nacht beschreibt der fünfzehnjährige4 Ich-Erzähler, wie die Häftlinge in Auschwitz an Rosch ha-Schanah die vertrauten Rituale vollziehen.5 Inmitten der lobenden Gemeinde fühlt sich der Erzähler von Gott und den Menschen verlassen. Er fragt und klagt an. Aber gerade darin bleibt er der chassidischen Tradition treu, in der er aufgewachsen ist: »Der Mensch erhebt sich zu Gott durch die Fragen, die er an ihn stellt.«6 Mit Ausnahme einiger weniger hochsprachlicher und abstrakter Formulierungen ist der Text sprachlich leicht verständlich; inhaltlich setzt er Grundwissen zur Shoa, zur hebräischen Bibel, zu Rosch ha-Schanah, zum Kaddisch und zur jüdischen Mystik voraus. Sehr leistungsstarke Schüler:innen mit differenziertem Wortschatz, sicheren Lese- und Recherchestrategien, guter Arbeitsorganisation und Teamfähigkeit können den Text ab Jahrgang 10 in Gruppen weitgehend selbstständig erarbeiten. Für sie reichen eine kontextualisierende Einführung und eine übergreifende Aufgabenstellung: Ȥ In seiner autobiografischen Erzählung Nacht (1958) beschreibt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (1928–2016), wie er als Fünfzehnjähriger aus 3 Beispiele finden sich in Jens-Peter Green/Manfred L. Pirner/Jens Büngener (Hg.) unter Mitarbeit von Nele Orlemann, Religionsunterricht bilingual. Didaktische Perspektiven und Anregungen für die Praxis (in Vorbereitung). Transferierbare Beispiele aus dem Englischunterricht sind: Jens-Peter Green, »Love comes in many colours« – Über same-sex marriage und gender-inclusive schools diskutieren und interkulturelle Dialogfähigkeit schulen (ab Klasse 10), in: RAAbits Englisch 97/2018; Jens-Peter Green, Visiting the spiritual heart of Australia – Eine kultursensible Reise zum Uluru planen (Klasse 9–11), in: RAAbits Englisch 102/2020 und Jens-Peter Green, Diwali, Our Christmas – Interkulturelle Dialogfähigkeit entwickeln (Klasse 9–11), in: RAAbits Englisch 104/2020. 4 Zu den unterschiedlichen Altersangaben in den verschiedenen Ausgaben von Nacht siehe Ruth Franklin, A Thousand Darknesses: Elie Wiesel’s Night, in: Aukje Kluge/Benn E. Williams (Hg.), Re-examining the Holocaust through Literature, Newcastle upon Tyne 2009, 155–169, hier 158. 5 Wiesel, Nacht, 94–98: »Der Sommer ging zu Ende […] Tief im Herzen fühlte ich große Leere.« 6 Ebd., 19.

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seiner rumänischen Heimat erst in das Vernichtungslager Auschwitz und dann in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wird. In dem folgenden Ausschnitt erinnert er sich an das jüdische Neujahrsfest Rosch haSchanah im September 1944 in Auschwitz. Ȥ Untersucht, wie Auschwitz den Gottesglauben des Ich-Erzählers verändert. Zieht dazu seine Kindheitserinnerungen an seinen chassidischen Lehrer (Nacht, 18–20) heran und informiert euch über das Thema »Theodizee«. Für die überwältigende Mehrheit der Zehntklässler:innen, insbesondere diejenigen aus bildungsfernen, nicht deutschsprachigen oder religionsfernen Familien, sind solche Arbeitsaufträge zu komplex. Sie benötigen ein Lerngerüst aus Verständnishilfen und fachsprachlichen Übungen. Im Hinblick auf die Bedürfnisse sprachlich schwächerer Schüler:innen ist im Zweifelsfall eher zu viel als zu wenig zu annotieren, nach Möglichkeit in Form von kontextgerechten, allgemeinsprachlichen Synonymen (vgl. heimsuchen in den Worterklärungen im Kasten). In einigen Fällen (z. B. siech) bieten etymologische Worterklärungen zusätzliche Verständnis- und Merkhilfen. Bilder und Bildunterschriften veranschaulichen den biografischen, historischen oder religiösen Kontext und lenken die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Aspekte des Textes (vgl. Aufgabenapparat, Aufgabe 5). Info-Kästen und Randverweise erschließen notwendiges Hintergrundwissen; dabei sind Bibelstellen mit Kurzangaben des Inhalts aussagekräftiger als bloße Bibelstellen (vgl. die Beispiele für Randverweise im Kasten). Worterklärungen »Was bedeutet Deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seelen, ihre siechen Körper heimsuchen? Zehntausend Männer hatten sich eingefunden, um der Feier beizuwohnen, Blockchefs, Kapos, Todesfunktionäre. […] Früher glaubte ich zutiefst, dass von einer einzigen meiner Gebärden, dass von einem einzigen meiner Gebete das Heil der Welt abhing.«7 siech: krank, hinfällig; vgl. Seuche, engl. sick – heimsuchen: hier: plagen, beschädigen – der Feier beiwohnen: an der Feier teilnehmen – Blockchef, Kapo: KZ-Funktionshäftling, der:die andere Häftlinge beaufsichtigte und dafür Vergünstigungen erhielt, oft Berufsverbrecher:innen – Gebärde: hier: Körperhaltung und -bewegung beim Gebet

7 Ebd., 94–96. Rechtschreibung modernisiert.

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Didaktische Konkretionen

Info-Kasten: Gelebtes Judentum Kaddisch: Lobgebet. Das Kaddisch erinnert die Betenden an die gute Schöpfung Gottes. Es wird auch für Verstorbene gesprochen → »Kaddisch« in www. religionen-endecken.de8 Rosch ha-Schanah (hebräisch: Jahresanfang) erinnert an den Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel. Es ist Auftakt der zehn Bußtage, die mit Jom Kippur (Versöhnungstag), dem höchsten jüdischen Feiertag, enden. Die Kabbalist:innen (jüdische Mystiker:innen) lehren, dass das Weiterbestehen dieser Welt davon abhängt, ob wir Gott als unseren König annehmen – was in ihm den Wunsch weckt, diese Welt für ein weiteres Jahr zu erschaffen. Am Ende des Abendgottesdienstes von Rosch ha-Schanah wünschen sich die Anwesenden traditionell eine gute Einschreibung in das Buch des Lebens. Beim Festessen ist es Brauch, ein Stück Apfel in Honig zu tauchen, damit das neue Jahr ein süßes sein möge.9

Randverweise: Bibelstellen Erwählung Israels: Vertreibung aus dem Paradies: Sabbatheiligung: Noah und die Sintflut: Zerstörung Sodoms und Gomorras:

z. B. 1. Mose 12,1–3; 5. Mose 7,6–11 1. Mose 3,1–24 2. Mose 20,8–11; 5. Mose 5,12–15 1. Mose 6,5–9,17 1. Mose 18,16–19,29

Zentrales Element des Lerngerüsts ist ein Aufgabenapparat, der von einfacheren zu komplexen Verständnisaufgaben fortschreitet und methodische Kompetenzen schult.

8 Der Artikel ist deutlich schüler:innenfreundlicher formuliert als der entsprechende Eintrag auf relilex.de. 9 Vgl. Chabad-Lubawitsch Media Center, Wie wird das Jüdische Neujahrsfest eingehalten? Ein Überblick über die Traditionen und Bräuche von Rosch Haschana, 1993–2020, https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/1286546/jewish/Wie-wird-das-Jdische-Neujahrsfest-eingehalten.htm (Zugriff am 2.9.2020).

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Scaffolding im Religionsunterricht

1. Arbeite die Einleitung und den Textauszug gründlich durch (s. Methodenbaustein »Texte markieren«). a) Unterstreiche die Wörter und Ausdrücke, die du nicht kennst. b) Unterstreiche die Wörter, die die Gefühle des Ich-Erzählers Gott gegenüber bezeichnen. c) Markiere einen Satz, der dich besonders berührt/besonders nachdenklich stimmt. 2. Macht euch Notizen. Vergesst die Zeilenangaben nicht. Wie feiern die jüdischen KZ-Häftlinge Rosch ha-Schanah?

Was denkt und fühlt der Ich-Erzähler? ←→

3. Am Anfang des Textauszugs heißt es: »Aus allen Blocks strömten die Gefangenen zusammen, plötzlich waren sie fähig, Raum und Zeit zu bezwingen und sie ihrem Willen unterzuordnen«. Erklärt, was mit diesem Satz gemeint ist. Dazu als Hilfekarte: • Gegen Ende des Textauszugs sagt der Erzähler »Der Glockenton stieß uns unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. Es war Schlafenszeit. Wir waren weit fort gewesen.« Wo waren die Häftlinge gewesen? • Was sagen die Verben »bezwingen« und »unterordnen« über die Häftlinge aus? 4. Vergleicht die folgenden Überschriften und diskutiert, welchen Aspekt des Textes sie hervorheben. Dann entscheidet euch für den Vorschlag, der am besten zu dem Text passt. Ihr könnt auch eine eigene Überschrift formulieren. a) Rosch ha-Schanah in Auschwitz b) Wer bist Du, mein Gott? c) Warum soll ich Gott preisen? d) Wie Bäume im Sturm e) Der Mensch ist stärker, größer als Gott

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Didaktische Konkretionen

f) Heute betete ich nicht mehr g) Gott war der Angeklagte10 5. Schaut euch die folgenden Bilder im Internet an und überlegt, wie sie zu dem Text passen. a) Elie Wiesel, Ende 1943 oder Anfang 194411 b) Elie Wiesel (siebter von links in der zweiten Reihe von unten, links vom Pfosten) im KZ Buchenwald, 16. April 1945, fünf Tage nach der Befreiung12 c) Jan Komski (polnischer Katholik, Auschwitz-Überlebender), »Appell (Roll Call)«13 d) David Olère (jüdischer Auschwitz-Überlebender), »Krematorium III in Betrieb« (1945)14

Erster Schritt jeder Textarbeit ist, den Text gründlich durchzuarbeiten (Aufgaben 1 und 2). Dazu gehört, Schlüsselwörter und Wiederholungen zu unterstreichen, schwierige und mehrdeutige Wörter am Rand zu erläutern, Unklares oder Fragwürdiges zu markieren, Stilmittel zu benennen, Sinnabschnitte zu kennzeichnen und wichtige Aussagen stichwortartig am Rand oder mithilfe von graphic organizers (Aufgabe 2) zusammenzufassen. Im Idealfall können die Lernenden dabei auf Methodenbausteine (Aufgabe 1) zurückgreifen, auf die sich die Schule im Rahmen ihres Methodencurriculums fächerübergreifend verständigt hat. Aufgaben zu Schlüsselzitaten, textinternen Bezügen und möglichen Überschriften (Aufgabe 3; Hilfekarte; Aufgabe 4) helfen, die Kernaussage des Textes zu formulieren. Die Klärung von Text-Bild-Zusammenhängen (Aufgabe 5) vertieft das Verständnis. Bei der Einführung und Übung relevanter Fachterminologie kann man die Schüler:innen themenspezifisches Wortmaterial (z. B. »allmächtiger/allwissender/gütiger Gott«, »Leid zulassen/verhindern«) sammeln und in einer Mindmap oder Wortwolke festhalten lassen. Darüber hinaus kommen Übungen mit 10 Bei den  Überschriften b) – g) handelt es sich um Zitate aus dem Textauszug. Zeilenangaben sind zu ergänzen. 11 Bild unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Elie_Wiesel_age_15.jpg (Zugriff am 20.05.2021). 12 Bild unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Elie_Wiesel (Zugriff am 20.05.2021). 13 Bild unter: https://remember.org/komski/komski-paintings1-002 und https://remember.org/ komski/komski-drawings1-013 (Zugriff am 20.05.2021). 14 Bild unter: https://auschwitzundich.ard.de/erinnern-an-auschwitz/die-kunst-des-david-olere/ (Zugriff am 20.05.2021).

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Wortgeländern, Lückentexten oder Wortbanken in Betracht. In Wortbanken lassen sich leicht zusätzliche Denkimpulse integrieren, z. B. Küngs »Leid theoretisch verstehen« vs. »Leid vertrauend bestehen«15 oder Horkheimers »Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«.16 Wortgeländer, Lückentexte, Wortbanken Die Frage, mit der der Ich-Erzähler in Elie Wiesels Nacht ringt, nennen Philosophen und Theologen das Theodizeeproblem. Informiert euch anhand des Glossar- oder Lexikonanhangs in eurem Religionsbuch/dem Online-Lexikon relilex über die Bedeutung des Begriffs. a) Definiert ihn mithilfe dieses Wortgeländers: Theodizeeproblem – Frage – gütiger und allmächtiger Gott – Leid – zulassen b) Vervollständigt diesen Lückentext: Der Begriff »Theodizee« setzt sich zusammen aus ___________________ ______________________________________________________________. Das Theodizeeproblem ist die Frage ______________________________ ______________________________________________________________. Die Antwortversuche, die Theologen und Philosophen auf die Theodizee­ frage gegeben haben, bezeichnet man als _________________________. c) Formuliert das Theodizeeproblem, indem ihr diesen Lückentext vervollständigt: Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht: Dann ist Gott nicht ____________________________________________. Oder er kann es und will es nicht: Dann ist Gott _________________________________________________. Oder er will es nicht und kann es nicht: Dann ist er ___________________________________________________. Oder er will es und kann es: _____________________________________. d) Diskutiert, wie man nach Auschwitz von Gott sprechen kann. Die folgenden Wörter und Wendungen können euch helfen. Gottesbilder: (nicht) allmächtig, gütig, gerecht, dunkel, verborgen, grausam, Gottes Allmacht/Güte/Gerechtigkeit/Verborgenheit, strafen, Leid zulassen/verhindern, in die Welt eingreifen.

15 Hans Küng, Credo. Das Apostolische Glaubensbekenntnis – Zeitgenossen erklärt (1992), in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 11. Glaube und Naturwissenschaft, Freiburg 2017, 118–120. 16 Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg 1970, 62. Rechtschreibung modernisiert.

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Didaktische Konkretionen

Reaktionen auf Leiderfahrungen: die Theodizeefrage/die Sinnfrage stellen – sinnloses Leid theoretisch verstehen/vertrauend bestehen (so der katholische Theologe Hans Küng) – dulden – klagen – anklagen – streiten – verfluchen – verzweifeln – loben – preisen – danken – das Leben trotz allem als Geschenk annehmen – hoffen, dass Unrecht nicht das letzte Wort behält/dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge (so der jüdische Philosoph Max Horkheimer)/dass Gott alle Tränen abwischen wird (so die Vision des neuen Jerusalem in Offb. 21,4).

2  Englische Texte im deutschsprachigen Religionsunterricht Seit Ende der 1960er-Jahre werden englische Texte (meist Songs oder Videoclips) im deutschsprachigen Religionsunterricht eingesetzt; Chancen und Probleme des zweisprachigen Ansatzes wurden jedoch allenfalls in Ansätzen reflektiert.17 Erst in letzter Zeit sind Arbeiten erschienen, die die Verwendung englischer Texte im deutschen Religionsunterricht fächerübergreifend diskutieren. Die Aufgabe, Textinhalte in einer Sprache zu rezipieren und in einer anderen zu diskutieren, ist als Vorbereitung auf internationale Kommunikationssituationen in Schule, Studium, Beruf und Freizeit sinnvoll; sie ist aber auch anspruchsvoll. Die Schüler:innen dürfen nicht blind dem Google-Übersetzer oder den Untertiteln von Videoclips vertrauen.18 Sie müssen unbekanntes Vokabular nachschlagen oder es sich mithilfe von Kontext, Wortbildungsmustern und bekannter Lexik erschließen.19 Sie müssen Kernaussagen, Strukturierungsmerkmale und ggf. Stilmittel des Textes erkennen und Informationen adressaten- und situationsgerecht von einer Sprache in die andere übermitteln. Möglich ist dies ab Klasse 8, sofern die englischsprachigen Texte im Umfang begrenzt sind, durch visuelles Material veranschaulicht werden und kleinschrittige Hilfen zur Informationsentnahme und -verarbeitung enthalten.20 Abstrakte Ana-

17 Bspw. Siegfried Macht, The Lord’s my shepherd, Psalm 23 – ein »Folksong« im RU?! In: Loccumer Pelikan (1/1995), 16–17. 18 Vgl. Jens-Peter Green, Spuren der Hoffnung – Edward Hicks’ The Peaceable Kingdom im fächerübergreifenden Religionsunterricht, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 15 (1/2016), 244–256, hier 249 und M 1a. 19 Vgl. Jens-Peter Green, Wie könnte Schöpferlob heute lauten? Deutsche und englische Nachdichtungen von Psalm 8, in: Religion 5 bis 10 (31/2018), 28–31, hier 31. 20 Vgl. Green, Spuren der Hoffnung, 249–251.

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lysekriterien (z. B. Gottesbild) können durch Leitfragen (z. B. Wie sieht der:die Autor:in Gott?) und verschiedene Antwortmöglichkeiten konkretisiert werden: Gottesbild: Wie sieht der:die Autor:in Gott? persönlicher/unpersönlicher Gott – immanenter/transzendenter Gott (ein in der Welt anwesender Gott/Gott jenseits der Welt) – offenbarer/verborgener/ naher/ferner Gott – Welche Eigenschaften hat Gott? – Wie schafft Gott die Welt? Sprechhaltung: In welchem Ton und mit welcher Absicht spricht der:die Autor:in? glaubend/zweifelnd – hymnisch/ehrfürchtig-staunend/nachdenklich – ironisch/zynisch – (an)klagend/warnend – resigniert/hoffend/ermutigend – bittend/flehend?21

Wo in höheren Klassen akademische Texte eingesetzt werden, helfen Begrenzung der Textmenge, klare Themenbenennung in der Überschrift, Verwendung bildungssprachlichen Vokabulars im Vorspann und ein kleinschrittiger Aufgabenapparat. Als zusätzliche Hilfe kommt ein deutschsprachiger Parallel- oder Kontrasttext in Betracht, an dem sich die Schüler:innen bei ihrer Besprechung des englischen Textes orientieren können: The Islamic World and the West In dem folgenden Textauszug aus einer Veröffentlichung zum AfghanistanKonflikt zeichnet der Verfasser ein differenziertes Bild islamischer Reaktionen auf die Dominanz der westlichen Welt und zeigt, wie sich islamische und westliche Negativbilder gegenseitig verstärken. 1. Markieren Sie die Kernaussage (topic sentence) des ersten Absatzes und notieren Sie diese stichwortartig am Rand auf Deutsch. 2. Kreisen Sie die Satzanfänge im zweiten Absatz ein (Some …, Others … Yet others). Machen Sie sich stichwortartig am Rand auf Deutsch Notizen: 1. …, 2. …, 3. … 3. Visualisieren Sie das Verhältnis von westlicher und islamischer Welt in Form eines Diagramms:22

21 Ebd., M 2. 22 Vgl. Jens-Peter Green, Sprachmittlung gehört (auch) in den Sachfachunterricht. Aufgabenbeispiele aus dem bilingualen Religionsunterricht, in: PRAXIS Fremdsprachenunterricht Englisch 17 (1/2020), 14–17, hier 17.

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Didaktische Konkretionen

stichwortartige Notizen westliche Welt islamische Welt stichwortartige Notizen

3 Ausblick Angesichts einer heterogenen Schüler:innenschaft ist das Erstellen von Lernarrangements mit differenzierten Unterstützungsangeboten eine zentrale Anforderung. Angehende Religionslehrkräfte sollten deshalb schon bei der Vorbereitung auf Schul- und Fachpraktika für Bedeutung und Formen des Scaffolding sensibilisiert werden. Leitfragen für die Analyse von Unterrichtsmaterialien sind: Ȥ Enthalten die Unterrichtsmaterialien prozess-, input- und outputorientierte Schüler:innenhilfen: kontextualisierende Einleitungen, Worterklärungen, Methodenhinweise, Info-Kästen, Randverweise, Glossar- oder Lexikonanhänge? Ȥ Wird in den Schüler:innen- und/oder Lehrer:innenmaterialien themenspezifischer Lernwortschatz ausgewiesen? Ȥ Gibt das Lehrer:innenhandbuch Anregungen und Hilfen für ScaffoldingMaßnahmen, z. B. Übungsvorschläge für Lernvokabular? Ȥ Sind die Verständnishilfen schüler:innengemäß und zeitökonomisch? Berücksichtigen sie die Bedürfnisse bildungssprachlich schwächerer und religiös nicht sozialisierter Schüler:innen? Ȥ Enthalten die Materialien (Texteinführungen, Arbeitsanweisungen, Bildunterschriften, Info-Kästen) Formulierungen, die die Lernenden übernehmen können?

Dr. Jens-Peter Green ist Schulleiter a. D. und Mitglied des Netzwerks Bilingualer Religionsunterricht (www.biliru.de).

Die Förderung der Lesekompetenz im sprachsensiblen Religionsunterricht Benedikt Gilich

1 Was macht theologische Texte für Schüler:innen zur Herausforderung? Religionslehrer:innen erleben die Arbeit an theologischen Texten im Religionsunterricht der Oberstufe oft als frustrierend. Ihren Schüler:innen geht es ähnlich. Worin sehen die Lernenden selbst die Herausforderung der Fachtexte, die ihnen im Religionsunterricht begegnen? In einem Interview mit Schüler:innen der Jahrgangsstufe 11 beantworteten ein Schüler (R.) und eine Schülerin (C.) diese Frage folgendermaßen: R: »Das Problem liegt oft dabei, dass die Texte für das Fachpublikum geschrieben sind, das ein gewisses Vorwissen hat. […] Entweder muss man das, denke ich, dem Schüler vorher beibringen und ihn so ein bisschen einleiten in das Thema, weil wir uns dann oft so ein bisschen ins kalte Wasser geworfen gefühlt haben. Weil wir dann irgendeinen Text bekommen haben über eine komplexe Thematik, die dann auch sehr fachwissenschaftlich formuliert war. Das heißt, man musste den Text erstmal entschlüsseln und dann irgendwie einordnen und das hat sehr lange gedauert bis man hinter den Text blicken konnte.« C: »Ich finde vor allem Religion ist ein sehr privates Thema und auch ein Thema was sich mit der Zeit und mit dem Erwachsenwerden so ein bisschen für sich selbst […] erschließt. So ist das jedenfalls bei mir. Und deswegen finde ich, vor allem bei religiösen Texten, das Vor-den-Latz-gesetzt-bekommen von so Meinungen […] dann ein bisschen schwierig, weil das […] etwas ist, was sich für mich allein in meinem Kopf erschließt und ich möchte mich da ungern von anderen Texten beeinflussen lassen.«

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Didaktische Konkretionen

In den Statements beschreiben die Lernenden einen paradoxen Eindruck: Um einen theologischen Text zu verstehen, müssten sie bereits Expert:innen für die Thematik sein, zu denen sie durch die Lektüre des Textes erst werden sollen. Entsprechend aufwendig ist die Arbeit am Text (Entschlüsselung/Einordnung) und die Chance, daran zu scheitern, ist hoch. Zudem bleibt ihnen die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit dieser Textarbeit oft unklar, weil ihnen der Kontext fehlt, in den sie den Text einordnen können. Mehr noch: Der theologische Text wird – wie im letzten Statement – zuweilen als eine Art ungefragter Eingriff in den privaten Bereich des eigenen religiösen Entwicklungsprozesses empfunden. Ein »Dialog zwischen Leser und Text«1 kommt nicht zustande.

2 Offensiver vor defensivem Umgang mit Texten Sollte man also auf den Einsatz von theologischen Fachtexten verzichten, um den Lehrenden wie Lernenden dieses frustrierende Erlebnis zu ersparen? Gerade der Ansatz eines sprachsensiblen Unterrichts legt nahe, dass dies keine gute Option wäre. Denn er geht von der zentralen Erkenntnis aus, dass die fachliche und die fachsprachliche Entwicklung der Lernenden korrelieren: »Fachliches Lernen findet […] in der Sprache und mit der Sprache statt, und zwar in einem Zustand, in dem diese selbst noch generiert wird.«2 Für diese Entwicklung bedarf es in jedem Fach einer intensiven Begegnung mit der jeweiligen Fachsprache, die von den Lernenden beobachtet, erprobt und schließlich generiert werden muss. Die Lernenden sollen ihre basale interpersonelle Kommunikationskompetenz (BICS = basic interpersonal communication skills) zu einer fachsprachlichen Kompetenz weiterentwickeln (CALP = cognitive academic language proficiency). Auch für den Religionsunterricht bedeutet dies, dass eine fachlich-theologische Kompetenzentwicklung der Schüler:innen nur mittels ihrer fachsprachlichen Entwicklung gelingen kann. Leisen fasst dies in die eindrückliche Metapher eines CALP-Sprachbades, in das die Schüler:innen eintauchen müssen.3 Wenn fachliche und fachsprachliche Entwicklung korrelieren, dann muss auch die 1

Josef Leisen, Lesen und Verstehen lernen, Strategien und Prinzipien zur Arbeit mit Sachtexten im Unterricht, in: Pädagogik 6/2007, 11–15, 12. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf mögliche Handlungsstrategien für Lernende im Umgang mit Fachtexten (vgl. 2.1–2.3) und können die Herausforderung ihrer inhaltlichen, sinnstiftenden Einbindung in den Lernprozess nur knapp thematisieren (vgl. 2.4). 2 Josef Leisen, Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Grundlagenteil, Stuttgart 2013, 76. 3 Vgl. ebd., 76.

Die Förderung der Lesekompetenz im sprachsensiblen Religionsunterricht

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Strategie kritisch geprüft werden, Fachtexte durch starke sprachliche Vereinfachung und quantitative Kürzung schüler:innentauglich zu gestalten. Leisen bezeichnet diese Strategie als defensiven Umgang mit Texten, bei denen der Text an seine Leser:innen angepasst wird.4 Zwar ist und bleibt eine Komplexitäts­ reduktion mit Blick auf konkrete Schüler:innen einer Lerngruppe ein legitimes und häufig notwendiges didaktisches Mittel.5 Aber die Reduktion fachsprachlicher Komplexität ist auch eine Reduktion fachlicher Komplexität und damit der Entwicklungsmöglichkeiten, die eine Auseinandersetzung mit einem Medium den Schüler:innen bietet. Bei einer sehr starken quantitativen Kürzung eines Textes wird es für die Leser:innen zum Beispiel zunehmend schwierig, in den argumentativen Gedankengang eines Textes einzusteigen und nachzuvollziehen, welche Frage er verfolgt oder welches Problem er zu lösen versucht. Dann fällt nicht nur die kontextuelle Einordnung des Gelesenen schwer, sondern auch die kognitive Aktivierung der Leser:innen (vgl. 2.4). Deshalb plädiert Leisen grundsätzlich für einen offensiven Umgang mit sprachlich anspruchsvollen Texten im Fachunterricht. Dabei erfolgt keine Anpassung des Textes an den:die Leser:in, sondern durch die Vermittlung von Lesestrategien und Lesetraining eine Anpassung der Leser:innen an den Text. Ein wichtiges Mittel, Lernende zu einem offensiven Umgang mit Texten zu

Abb. 1: Die 10 Lese­ strategien nach Leisen

4 Vgl. ebd., 122. 5 Leisen entwickelt in seinem Handbuch auch Kriterien für die Analyse des Schwierigkeitsgrades von Fachtexten. Vgl. etwa seine Checklisten zur Textbeurteilung und zur Textverständlichkeitsanalyse (Leisen, Handbuch Sprachförderung, 123–124).

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befähigen, ist die Vermittlung von Lesestrategien. Eine Lesestrategie kann als »ein Handlungsplan [beschrieben werden], der dem:der Leser:in hilft, einen Text ›richtig‹ und schnell zu verstehen«6. Das Ziel ist es, eine eigenständige Auseinandersetzung des:der Leser:in mit dem Text zu ermöglichen. Insofern kann der Einsatz von Lesestrategien als eine Form des Scaffolding verstanden werden, bei der die Komplexität der Aufgabe erhalten bleibt, den Lernenden aber Hilfen zu ihrer Bewältigung zur Verfügung gestellt werden. Dadurch operationalisieren Lesestrategien die fünf zentralen Prinzipien des Lesesverstehens:7 Ȥ Die Lernenden werden zu einer eigenständigen Bearbeitung des Textes angeleitet (»Prinzip der eigenständigen Auseinandersetzung«). Ȥ Bei dieser Bearbeitung soll nicht das Unverstandene Ausgangspunkt sein, sondern das, was bereits verstanden wird (»Prinzip der Verstehensinseln«). Ȥ Der:Die Lernende soll in dieser Bearbeitung immer wieder zu einem Rückgriff auf den Text »verführt« werden, durch den eine Überprüfung und Überarbeitung des eigenen Textverständnisses erfolgt (»Prinzip der zyklischen Bearbeitung«). Ȥ Konkrete Leseprodukte sollen das Textverständnis der Lernenden sichtbar werden lassen (»Prinzip des Leseprodukts«). Ȥ Anhand dieser Leseprodukte wird während und nach der Bearbeitung des Textes eine zielgerichtete Kooperation und Kommunikation unter den Lernenden sowie zwischen Lernenden und Lehrenden möglich (»Prinzip der Anschluss- und Begleitkommunikation«). Ich möchte an einigen exemplarischen Aspekten das didaktische Potenzial aufzeigen, welches die von Leisen beschriebenen und systematisierten Lesestrategien (vgl. Abb. 1) für einen kompetenzorientierten Religionsunterricht haben.8 Eine ausführlichere Vorstellung und exemplarische Anwendung dieser Strategien sowie weiterführende Literaturhinweise bieten das digitale Sway (vgl. Abb. 2) und der digitale Parcour (vgl. Abb. 3), die am Ende dieses Aufsatzes über QR-Codes abgerufen werden können.9 6 Leisen, Handbuch Sprachförderung, 141. 7 Vgl. hierzu Leisen, Handbuch Sprachförderung, 132. 8 Ich beziehe mich dabei auf die von Feindt vorgestellten Merkmale/Kriterien kompetenzorientierten Religionsunterrichts. Vgl. Andreas Feindt/Volker Elsenbast/Peter Schreiner/Albrecht Schöll (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Befunde und Perspektiven, Münster 2009, 9–19. 9 Mein Dank gilt meiner Kollegin Ursula von Thadden, die mit mir den Workshop konzipiert und durchgeführt hat, auf dem diese Überlegungen basieren, sowie meinem Kollegen Rainer Goltz für seine äußerst wertvollen Anregungen.

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2.1 Lesestrategien als Werkzeug zur Konstruktion schüler:innen­ orientierter Lernwege: Individuelle Lernbegleitung Entscheidend für den Erfolg des Leseprozesses ist die Abstimmung zwischen dem Text und der Lesestrategie, mit der er erschlossen wird. Diese Abstimmung erfolgt mit Blick auf die konkreten Lernenden, z. B. ihre methodischen und inhaltlichen Vorkenntnisse. Das Überdenken von Lesestrategien unterstützt somit die Gestaltung von Lernwegen, die an die individuellen Bedürfnisse der Lernenden angepasst sind. Der offensichtlichste Vorteil der Leisensystematik für die didaktische Planung ist die Sortierung der Lesestrategien in Schwierigkeitsstufen für die Lernenden. Ein Beispiel: Zwei Strategien, die häufig im Religionsunterricht beobachtet werden können10, sind die Suche nach Schlüsselwörtern und die Zusammenfassung des Textes. Diese Strategien werden den Schüler:innen nicht selten als erste Aufgabe in ihrer Auseinandersetzung mit einem Text gestellt. Nach Leisen haben diese Strategien allerdings, insbesondere für sprachschwache Lerner:innen, einen hohen Schwierigkeitsgrad, weil sie bereits ein gutes Textverständnis voraussetzten.11 Insofern wäre zu prüfen, ob der Lesestrategie »Schlüsselwörter suchen und markieren« eine weitere vorangestellt werden sollte, die zunächst ein basales Textverständnis sichert und sprachschwache Lerner:innen besser unterstützt (z. B. Strategie 1: Fragen zum Text beantworten). Auch der geläufige Arbeitsauftrag, den Text zusammenzufassen, ist kritisch zu prüfen. In Lehrwerken für Katholische Religionslehre finden sich z. B. häufig Darstellungstexte, die bereits sehr verdichtet sind und deren weitere Zusammenfassung wenig produktiv erscheint. Lohnender kann hier der Auftrag sein, den Text zu expandieren: Dabei erhalten die Lernenden den Auftrag, »durch Anreicherung mit Zusätzen, Erläuterungen, Beispielen, Erklärungen, Skizzen oder weiteren Informationen«12 einen Text anzureichern. Die systematisierten Lesestrategien können folglich als Werkzeug dienen, passende Aufgabenstellungen für die eigenen Lerngruppen zu entwickeln bzw. bestehende Aufgaben (z. B. in Lehrwerken) auf ihre Eignung zu prüfen und ggf. zu modifizieren.

10 Eine nicht repräsentative Umfrage unter Fachleiterkolleg:innen im Januar 2019 ergab, dass die Strategien 1 und 9 bei Unterrichtsbesuchen in Katholischer Religionslehre besonders häufig beobachtet wurden, während der Einsatz der Strategien 2, 4, 6 und 7 eher selten beobachtet wurde. 11 Leisen, Handbuch Sprachförderung, 162. 12 Ebd., 162.

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2.2 Selbststeuerung und Reflexion des Lernens anhand von Lesestrategien (Metakognition) Die Reflexion über geeignete Lesestrategien sollte nicht nur Teil der didaktischen Vorüberlegung der Lehrkraft sein, sondern in den Unterricht integriert werden. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass den Lernenden eine Selbststeuerung in der Wahl der Lesestrategie eingeräumt wird, mit der sie einen Text bearbeiten. Abhängig von ihrer Selbsteinschätzung nach der ersten Textlektüre können sie z. B. entscheiden, ob sie Interviewfragen an den Text (Strategie 1) beantworten oder ob sie in Form einer Strukturlegetechnik eine Visualisierung des Textes erstellen wollen (Strategie 6). Dabei entstehen unterschiedliche Lernprodukte, deren Präsentation und Verhandlung das Textverstehen weiter intensivieren kann. Selbstgewählte Textstrategien können so zu einem sinnvollen Mittel der internen Differenzierung von Lernwegen werden. Dadurch entstehen zugleich Anlässe, den Lernprozess und die eigenen methodischen Fähigkeiten sowohl individuell wie auch im Plenum zu reflektieren. Wurde eine Lesestrategie erfolgreich umgesetzt? Was waren Gründe dafür, dass der Einsatz einer Strategie erfolgreich/nicht erfolgreich war? Was sollte bei einem erneuten Einsatz dieser Strategie beachtet werden? Welche Lesestrategie hat sich warum in der Erschließung des Textes als besonders fruchtbar erwiesen? 2.3 Kultivierung von Lesekompetenzförderung durch Lesestrategien (Übung und Überarbeitung) Die explizite Thematisierung von Lesestrategien ist auch deshalb sinnvoll, weil sie ihr volles Potenzial nur entfalten, wenn sie von den Lernenden regelmäßig angewandt und geübt werden. Gerade aufwendige Strategien wie z. B. die Strukturlegetechnik werden von Lernenden, die damit noch nicht vertraut sind, zunächst eher als zusätzliche Herausforderung denn als Lernhilfe empfunden. Sie müssen ihren Wert für das Lernen erst in wiederholten Erprobungen erweisen. Dafür ist es wichtig, dass den Schüler:innen Motivation und Ziel dieses Aufwands transparent sind und dass sie immer wieder Gelegenheit zur Erprobung, zum Austausch und zur Evaluation dieser Strategien erhalten. Besonders gilt dies dann, wenn bereits etablierte Strategien auf den Prüfstand gestellt und modifiziert werden sollen: Viele Schüler:innen markieren beispielsweise beim Lesen zwar den Text, wenden diese Strategie aber nicht optimal an. Typisch ist etwa, dass zu viel markiert wird oder eine zu grobe Systematik genutzt wird (»Ich markiere alles, was wichtig ist!«). Soll an dieser Strategie gearbeitet werden, verlangt man den Schüler:innen (zumindest in der Oberstufe) einen

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Eingriff in eine Routine ab, die bereits lange eingespielt ist und deren Unterbrechung ein hohes Maß an Kontrolle und Willen seitens der Lernenden verlangt. Insofern ist es wünschenswert, die Einübung von Lesestrategien auch im Religionsunterricht langfristig aufzubauen, ihre Kultivierung möglichst früh zu beginnen und idealerweise die Absprache mit anderen Fächern zu suchen.13 2.4 Kognitive Aktivierung als Voraussetzung korrelativen Lernens an und mit theologischen Texten Lesestrategien können dazu beitragen, das oben geschilderte Gefühl der Schüler:innen, ins »kalte Wasser geschubst zu werden«, zu vermeiden, indem sie ihnen Werkzeuge zum produktiven, selbstgesteuerten Umgang mit der Fremdheit des Textes zur Verfügung stellen. Die vorgestellten Strategien konzentrieren sich dabei auf die Förderung des Leseverstehens während der Textrezeption. Das Gelingen dieser Förderung ist jedoch maßgeblich davon abhängig, dass sie in einen Lernzusammenhang eingebunden wird, der die Arbeit am Text als sinnvolle und lohnenswerte Anstrengung erscheinen lässt. Auch vor und nach der Textrezeption kann und sollte das Leseverstehen systematisch gefördert werden.14 Dies wird unmittelbar verständlich, wenn man an die eingangs zitierten Schüler:innenäußerungen zur Herausforderung theologischer Texte zurückdenkt: Eine aktivierende und vernetzende Einbindung des Textes in den Unterricht ist Voraussetzung dafür, dass der Text nicht als etwas empfunden wird, das den Lernenden »vor den Latz gesetzt« wird, sondern als eine mögliche Quelle der eigenen Weiterentwicklung, sodass sich ein Dialog zwischen Text und Rezipient:in entfalten kann. Dafür ist die kognitive Aktivierung der Lernenden vor der Lektüre des Textes von besonderer Bedeutung: das Verständnis der Frage, der ein Text nachgeht, die Möglichkeit, Hypothesen zu dieser Fragestellung zu bilden bzw. die Gelegenheit, sich die eigene, spontane Position zu dieser Frage zu vergegenwärtigen, um während und nach der Texterschließung prüfen zu können, welche Orientierung der Text bietet.15

13 Vgl. Leisen, Lesen und Verstehen lernen, 13. 14 Leisen unterscheidet zwischen Lesestrategien vor, während und nach der Textrezeption, die er zudem in unterschiedliche Strategietypen differenziert (z. B. erarbeitende, wiederholende, metakognitive Strategien). Leisen, Handbuch Sprachförderung, 130–131. 15 Häufig wird in diesem Zusammenhang von einer Vorentlastung des Textes gesprochen. Die Metapher verschleiert allerdings, dass es dabei nicht darum geht, den Text zu erleichtern, sondern die Leser:innen zu stärken.

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3 Lesestrategien mit digitalen Werkzeugen unterstützen Abschließend soll die Möglichkeit in den Blick genommen werden, den Einsatz von Lesestrategien durch digitale Hilfsmittel zu unterstützen. Ich konzentriere mich hier auf die App Biparcours, ein Angebot von Bildungspartner NRW für schulische und außerschulische Lernorte. Die App steht zum kostenlosen Download16 zur Verfügung und ist in ihrer Bedienung sehr einfach. Der digitale Parcour soll dabei die Arbeit am analogen Textmedium nicht ersetzen, sondern begleiten und intensivieren.17 Biparcours ermöglicht die Integration verschiedener Bausteine und Aufgabenformate (Fragen/Aufgaben/Umfragen/Informationen): Dadurch lassen sich verschiedene Lesestrategien zu einem zusammenhängenden Parcour kombinieren. Auch die Lösungen der Schüler:innen können in verschiedenen Formen und Medientypen eingegeben werden, sodass die Entwicklung vielfältiger Leseprodukte ermöglicht wird, bei deren Erarbeitung die Schüler:innen zudem kooperieren können. Da die Ergebnisse der Lernenden zum Abschluss des Parcours hochgeladen werden können, kann der:die Ersteller:in eines Parcours leicht auf sie zugreifen. Den Lehrenden wird so ein diagnostischer Einblick in die Textarbeit ihrer Schüler:innen ermöglicht, der es zugleich sehr einfach macht, Leseprodukte von Schüler:innen im Plenum zu präsentieren und zu verhandeln.18 Gerade unter den Bedingungen des Distanzlernens könnte sich dieses Werkzeug als hilfreich erweisen, um Textarbeit auf Distanz konstruktiv zu gestalten. Der Preis dieser Unterstützung ist: Zeit. Sowohl in der Erarbeitung durch die Lehrkraft als auch in der Bearbeitung durch die Schüler:innen sind digitale Parcours zur Texterschließung zeitaufwendig. Mit Blick auf die Lesekompetenz der Schüler:innen ist diese Zeit aber gut investiert.

16 https://biparcours.de (Zugriff am 16.07.2020). 17 Vgl. hierzu die Forschungsergebnisse des Netzwerkes E-READ, die darauf hinweisen, dass komplexe Fachtexte besser verstanden werden, wenn sie analog und nicht digital präsentiert werden. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/stavanger-erklaerung-von-eread-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html (Zugriff am 14.10.2020). 18 Mit Bezug auf das SAMR-Modell Puenteduras kann der Einsatz von Biparcours zur Förderung des Leseverstehens in dieser Form als Augmentation bezeichnet werden. Dies kann Ausgangspunkt dafür sein, die Lernenden auch eigene Parcours entwerfen zu lassen und damit Aufgaben neu zu gestalten bzw. neu zu definieren. Vgl. Ruben R. Puentedura, SAMR: Moving from Enhancement to Transformation, http://www.hippasus.com/rrpweblog/archives/000095. html. (Zugriff am 26.10.2020).

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Abb. 2: MS-Sway – Vorstellung der Lesestrategien nach Leisen und Anwendung auf ein Beispiel.

Abb. 3: Biparcour zu einem Textbeispiel aus sensus Religion. Zum Start: App Biparcours installieren, öffnen und Funktion »Code scannen« starten.

Dr. Benedikt Gilich ist Fachleiter für Katholische Religionslehre am ZfsL Leverkusen.

Unterrichtsgespräche im Religionsunterricht. Formen und Gelingensbedingungen Annegret Reese-Schnitker

1  Die Frage nach dem Gelingen Die Frage nach dem Gelingen von initiierten religiösen Lernprozessen mittels kommunikativer Interaktion im Religionsunterricht ist eine voraussetzungsreiche und höchst komplexe Frage.1 Für eine differenzierte Antwort sind dabei Folgefragen zu klären, etwa: Worin ist das Unterrichtsgespräch gut? Für wen ist es gut? Wofür ist es gut? Für wann ist es gut? Aus wessen Perspektive ist es gut? Dabei sind zwei unterschiedliche, wenn auch nicht unabhängige Zugänge bei der Frage nach dem Gelingen möglich: Der normative (Was wäre ein gutes Unterrichtsgespräch im Religionsunterricht?) und der empirische Zugang (Was wird faktisch unter guten Unterrichtsgesprächen im Religionsunterricht verstanden (aus der Sicht der Lehrer:innen, der Schüler:innen, der Unterrichtsbeobachter:innen?) Woran erkennt man die Qualität des Unterrichtsgesprächs (Sichtstrukturen und Evaluationskriterien)? Welche Qualität haben gegenwärtige Unterrichtsgespräche faktisch (Realitätscheck)?). 1.1  Normative Zugänge Normative Ansprüche an das Unterrichtsgespräch sind in vielen fachdidaktischen Texten und Konzepten zu finden. Immer wieder wird dem Unterrichtsgespräch aufgrund seines kommunikativen Charakters, seiner Sichtbarkeit der sprachlichen Operationen und des offenbar direkten pädagogischen Zugriffs auf die gesamte Lerngruppe bezüglich der Qualität des Religionsunterrichts viel zugetraut, aber auch zugemutet.

1

Ähnlich komplex ist die religionspädagogische Debatte um Gelingenskriterien des Religionsunterrichts: bspw. Jahrbuch der Religionspädagogik 22 (2016).

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Dabei gilt dieses Zutrauen nicht so sehr den klassischen, stark lehrkraftzentrierten Formen des Unterrichtsgesprächs, sondern eher den schüler:innen­ orientierten, freieren Gesprächsformaten. Ausformulierte und begründete religionsdidaktische Kriterien für gute Unterrichtsgespräche sind bisher nicht zu finden.2 An anderer Stelle habe ich das Führen von Gesprächen als »Königsdisziplin religionsdidaktischen Lehrerhandelns«3 bezeichnet und einige Kriterien als Sichtstrukturen für gelungene Unterrichtsgespräche aufgezählt: »Gewinnbringende Gespräche im Religionsunterricht kompetent zu führen heißt, möglichst viele zum Sprechen zu motivieren, aufmerksam und deutlich zu moderieren, den roten Faden des Gesprächs zu halten, die einzelnen inhaltlichen Beiträge zu strukturieren und den Gesprächsgewinn kritisch zu reflektieren – und bei all dem sich möglichst selbst nicht zu dominant einzubringen.«4 Einige praxis- und anwendungsorientierte Publikationen sind zu finden, in denen konkrete Empfehlungen und praktische Tipps für eine gelingende Gesprächsführung im Religionsunterricht gegeben werden. Peter Orth etwa hat vielfältige Grundbedingungen des Klassengesprächs, Gesprächstechniken, Fragekategorien und Checklisten für Lehrer:innen zusammengestellt.5 In der Handreichung zur Unterrichtsplanung von Harriet Gandlau6 werden hilfreiche Tipps zur Gestaltung von Unterrichtsgesprächen (Lehrer:innenfragen, Gesprächsregeln, Prinzipien für einen dialogischen Religionsunterricht, Methoden) gege-

2 Die von Rudolf Englert genannten Merkmale für guten Religionsunterricht könnten auf Unterrichtsgespräche übertragen werden: Ziel- und Kompetenzorientierung, Schüler:innenorientierung, Strukturiertheit, Lernkultur, Unterrichtsatmosphäre, Umgang mit Theologie, Gestaltcharakter. Vgl. Rudolf Englert, Die Diskussion über Unterrichtsqualität – und was die Religionsdidaktik daraus lernen könnte, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 22 (2016), 52– 64, hier 58–64. 3 Annegret Reese-Schnitker, Sprache, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch der Religionsdidaktik, München 2020, 368–375, hier 374. 4 Ebd. 5 Vgl. Peter Orth, Unverzichtbar: das Klassengespräch, in: KatBl 144 (2019), 31–33; ders., Gesprächsformen und ihre Gelingensbedingungen, in: Päd 61 (2009), 30–33; ders., Das Klassengespräch – grundsätzliche Überlegungen, Gelingensbedingungen und Tipps, in: Annegret Reese-Schnitker/Daniel Bertram/Dominic Fröhle, Gespräche im Religionsunterricht. Einblicke – Erkenntnisse – Potentiale, München 2021. 6 Vgl. Harriet Gandlau, Wie Religion unterrichten? Grundlagen und Bausteine für einen qualifizierten Unterricht, München 2017, 71–82.

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ben. Petra Freudenberger-Lötz empfiehlt im Rahmen des Theologisierens mit Jugendlichen ausgewiesene Gesprächsförderer und Checklisten.7. 1.2  Empirische Zugänge Empirisch grundierte Untersuchungen zum faktischen Vorkommen und Verlauf von Unterrichtsgesprächen sind in der Religionspädagogik ein Desiderat. Gabriele Faust-Siehl hat bereits 2002 eine neue religionspädagogische Gesprächsforschung als dringlich ausgewiesen, sodass »die Bedingungen und Anforderungen im Unterricht realistisch eingeschätzt und die Möglichkeiten und Grenzen von Unterrichtsgesprächen im Religionsunterricht abgesteckt werden«8 können. Beobachtbare und empirisch gewonnene Kriterien für gelungene Unterrichtsgespräche sind Gegenstand dieses Beitrages.9 Zunächst wird der Blick auf die Bedeutung sowie die verschiedenen Gestalten und Funktionen von Unterrichtsgesprächen gerichtet und der institutionelle Kontext bedacht, bevor erste Ergebnisse der Kasseler Unterrichtsgesprächsstudie10 hinsichtlich der Gelingensbedingungen präsentiert werden.

2  Unterrichtsgespräche im Religionsunterricht 2.1  Die grundständige Bedeutung Gespräche haben für das religiöse Lernen und soziale Leben in der Schulklasse eine basale Bedeutung.11 Die Unterrichtskommunikation konstituiert   7 Sie nennt fünf Gesprächsförderer: (1) Fragen weitergeben, (2) Fragen kategorisieren, (3) In Beziehung setzen, (4) Auf den Punkt bringen, (5) Voraussetzungen klären. Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen, München 2012, 16–17; Petra Freudenberger-Lötz, Checkliste. Kennzeichen gelungener theologischer Gespräche, in: dies., Theologische Gespräche, 169–173.   8 Gabriele Faust-Siehl, Gesprächsformen, in: NHRPG (2002), 474–477, hier 477.   9 Erste beobachtbare Kriterien für gelungene Unterrichtsgespräche habe ich bereits 2013 genannt: Vgl. Annegret Reese-Schnitker, Produktive Unterbrechungen im Unterrichtsgespräch. Typische Muster, Stolpersteine und Lernchancen von Unterrichtsgespräch – aufgezeigt an einem Fallbeispiel, in: Katechetische Blätter 138 (2013), 130–137, hier 137. 10 Die vollständigen, detaillierten Ergebnisse der Kasseler Unterrichtsgesprächsstudie werden 2021 publiziert: Reese-Schnitker/Bertram/Fröhle, Gespräche im Religionsunterricht. 11 Vgl. zum Potenzial von Gesprächen für religiöses Lernen: Annegret Reese-Schnitker/Dominic Fröhle, Ist Reden wirklich nur Silber? Einblicke in videographierte Gespräche im Religionsunterricht, in: Pädagogische Stiftung Cassianeum (Hg.), Dokumentation des 13. Arbeitsforums für Religionspädagogik, München 2018, 125–140, hier 125 f.; Reese-Schnitker, Produktive Unterbrechungen, 130–137; Annegret Reese-Schnitker, Interaktive Lernprozesse im Kontext

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die Lerngruppe und den Lernprozess und gehört zu »den Standardsituationen des Religionsunterrichts«12. Im Austausch mit Gleichaltrigen werden die eigenen Gedanken im Gespräch – unter Anleitung oder Begleitung der Lehrperson – miteinander geklärt. Der Gesprächsprozess kann zu einem gemeinsamen Lernprozess werden, indem der Gesprächsgegenstand bearbeitet, vertieft und weiterentwickelt wird. Dabei sind die Schüler:innen aufgefordert, ihre Gedanken in eine sprachliche und argumentative Form zu bringen. Auch der soziale Aspekt spielt eine Rolle, denn im gemeinsamen Gespräch können die Beteiligten zu mehr Verständnis im Umgang miteinander gelangen. Der hohe Anspruch an die Lehrperson, erfolgversprechende Gespräche zu moderieren, wird in einem sprechenden Zitat des Physikdidaktikers Josef Leisen deutlich: »Man soll das Gemeinte im Gesagten erfassen, das Ungesagte im Gemeinten verbalisieren, das Frühere mit dem Jetzigen verknüpfen und auf Zukünftiges hinweisen, das Gesagte zusammenfassen und an Bekanntes erinnern, Geistreiches als solches hervorheben und Geistlosem mit pädagogischem Takt begegnen, die Mutlosen ermutigen und die Übermütigen bremsen«13. Deutliche Bedenken, das Unterrichtsgespräch als herausragende religionsunterrichtliche Methode zu verstehen, äußert Hans Schmid: »Das Unterrichtsgespräch ist […] eine schnelle Methode, indem zu viele Themen in kurzer Zeit relativ einfach angesprochen werden, dabei aber oft nur kurz erwähnt und nicht näher vertieft werden. Es erlaubt also, dass das Lernen in einer hohen Geschwindigkeit abläuft, jedoch vielfach an der Oberfläche bleibt.«14 Zwischen diesen zwei Polen, einem hohen Anspruch und einer bodenständigen Kritik, bewegt sich die aktuelle religionspädagogische Debatte um die Bewertung von Gesprächen im Religionsunterricht. biblischen Lernens. Eine sequenzielle Gesprächsfeinanalyse, in: Mirjam Schambeck/Ulrich Riegel (Hg.), Was im Religionsunterricht läuft. Wege und Ergebnisse religionspädagogischer Unterrichtsforschung, Freiburg 2018, 233–251. 12 Hartmut Lenhard, Art. Unterrichtsplanung, in: WiReLex (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100131/ (Zugriff am 22.09.2020). 13 Josef Leisen, Unterrichtsgespräch: Fragend-entwickelnder Unterricht, sokratischer Dialog und Schülergespräche, in: Physik Methodik für die Sekundarstufen, Berlin 2007, 115–132, hier 115. 14 Hans Schmid, Ein Lackmuster für die Qualität des Religionsunterrichts, in: KatBl 126 (2001), 409–418, hier 414.

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2.2  Die vielfältigen Gesprächstypen Gesprächstypen werden verschieden charakterisiert. Rainer Lachmann unterscheidet drei Grundformen des Unterrichtsgesprächs und charakterisiert deren verschiedene Rollenzuweisungen:15 Das Lehrgespräch, das Schülergespräch und die Diskussion. Peter Orth differenziert fünf Formen des Klassengesprächs: Das stark lehrerzentrierte fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, das freie Unterrichtsgespräch, die Diskussion, das Streitgespräch sowie das Kreis- und Kleingruppengespräch und beschreibt deren Leistungen und Möglichkeiten.16 Josef Leisen kennzeichnet sechs Gesprächstypen, die er nach dem Grad der Lehrkraftlenkung sortiert: Den Lehrervortrag, das fragend-entwickelnde Gespräch, das sokratische Gespräch, das Schülergespräch, die Diskussion/die Debatte, die Unterhaltung/den Austausch.17 2.3  Die unterschiedlichen didaktischen Absichten Gespräche sind in ihrer Gestalt und Struktur zu unterscheiden, um ihre verschiedenen didaktischen Funktionen und Absichten erkennen und bewusst einsetzen zu können. Unterrichtsgespräche können:18 Ȥ der Lehrperson Einblick in die Vorstellungen, Vorkenntnisse und Deutungen der Lernenden geben (diagnostische Funktion) und sind damit ein wichtiges Diagnoseinstrument für die Unterrichtsplanung, Ȥ ein Instrument des Einholens verschiedener Schüler:innenbeiträge sein, um einen Sachverhalt zu wiederholen oder unterschiedliche Erfahrungen oder Einstellungen der Beteiligten zusammenzutragen (reaktivierende Funktion), Ȥ dem Austausch über ein Thema, einen Sachverhalt, ein Problem, eine Fragestellung, einen Text etc. dienen (verständigende, präsentierende Funktion), etwa wenn verschiedene Ergebnisse einer Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit präsentiert werden, Ȥ für die Erarbeitung von neuen Themen und Sachverhalten (erarbeitende Funktion) oder der Vertiefung des Gesprächsgegenstandes eingesetzt werden (vertiefende Funktion), 15 Vgl. Rainer Lachmann, Gesprächsmethoden im Religionsunterricht, in: Adam Gottfried/Rainer Lachmann (Hg.), Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht, Göttingen 31998, 113–136, hier 122 ff. 16 Vgl. Orth, Klassengespräch, 31. 17 Vgl. Leisen, Unterrichtsgespräch, 123. 18 Die hier aufgelisteten Funktionen der Unterrichtsgespräche sind eine Auswahl und sicher zu ergänzen.

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Ȥ in ihrer kontroversen Gestalt ein Ort des gemeinsamen Ringens zu einer strittigen Fragestellung, einem streitbaren Thema sein und dabei zur Erweiterung des eigenen Horizontes (horizonterweiternde Funktion) und zum Erwerb einer begründeten eigenen Positionierung führen (sich eine eigene Position erarbeitende Funktion), Ȥ ein Ort der Interpretation eines Textes, eines Bildes oder sonstigen Mediums sein, in dem verschiedene Interpretationsansätze zusammengetragen, geprüft und kontrovers diskutiert werden (erkenntniserweiternde Funktion), Ȥ den Lernenden die Möglichkeit zur Verbalisierung ihrer Gedanken geben und damit zur Qualifizierung ihres sprachlichen Ausdruck- und Denkvermögens beitragen (sprachlich-qualifizierende Funktion). Gespräche können in den verschiedenen Phasen der Stunde unterschiedliche Leistungen erfüllen.19 Zentral dabei ist die Rolle der Lehrperson, die die Aufgabe hat, »bewusst und kompetent der jeweilig angezielten Intention gerecht werdende Gesprächsformen zu initiieren«20. Es ist anzunehmen, dass sich die verschiedenen Gesprächstypen für unterschiedliche didaktische Intentionen eignen. In bewusst geplanten unterrichtlichen Kommunikationsphasen ist die Auswahl des geeigneten Gesprächstyps somit eng mit der Frage nach der angezielten Intention der Unterrichtsgespräche verbunden. 2.4  Der institutionelle Kontext Restriktionen der Unterrichtsgespräche sind zu bedenken, weil Unterrichtsgespräche keine Alltagsgespräche sind, sondern im halb-öffentlichen Raum der Schule und damit unter institutionellen Bedingungen stattfinden, von denen diese grundlegend geprägt werden (etwa verpflichtende Teilnahme, bewertungsrelevanter Ort, feste Klassengruppen, hierarchisches Rollenverhältnis zwischen Lehrperson und Lernenden). Ein Gespräch auf Augenhöhe ist nur annährend möglich21, da die Lehrperson etwa die Macht der Turn-Verteilung hat. Hannah Roose mahnt daher: 19 Etwa die Reaktivierung von Wissen, die Erarbeitung von Neuem, den Austausch unterschiedlicher Interpretationen und Meinungen, das gemeinsame Lösen eines Problems, die Entwicklung einer eigenen Position u. a. Vgl. auch Hans Mendl, Gespräch, in: Taschenlexikon Religionsdidaktik. Das Wichtigste für Studium und Beruf, München 2019, 91–92, hier 92. 20 Reese-Schnitker, Sprache, 375. 21 Institutionell bedingte Restriktionen des Dialoges sind ausgeführt in: Reese-Schnitker, Sequenzielle Gesprächsfeinanalyse, 235 f.

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»In inhaltlicher Hinsicht schreibt die asymmetrische Kommunikationssituation den Äußerungen der Lehrkraft eine deutlich höhere Relevanz zu als den Äußerungen der Schülerinnen und Schüler. Diese Asymmetrie ist nach Kolbe konstitutiv für die pädagogische Ordnung.«22

3  Unterrichtsgespräche empirisch untersucht In der religionsunterrichtlichen Praxis (abhängig von der Berufsbiografie des:der Religionslehrer:in, dem Alter der Schüler:innen, der Schulform usw.) haben sich unterschiedliche Gestalten von Gesprächen etabliert, deren Varianz, so unsere These, sich auf der Ebene des konzeptionellen Diskurses – mindestens zurzeit – sprachlich nicht angemessen abbildet. Es fehlt der Religionsdidaktik an einem geeigneten Instrumentarium für die Beschreibung differenter fachdidaktischer Unterrichtsgespräche. In der Unterscheidbarkeit religionsdidaktischer Strategien zur Planung und Durchführung von Gesprächen sehen wir eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Lehrer:innen ein deutlicheres Bewusstsein der in ihrer Praxis jeweils getroffenen fachlichen Präferenzen entwickeln können. Es geht damit auch um die Ermöglichung fachlicher Reflexivität. Die Kasseler religionspädagogische Forschungsgruppe hat in einer groß angelegten Studie 63 Religionsunterrichtsstunden in acht Lerngruppen (6. Jg. bis 10. Jg.) videografiert, ausgewertet23 und darin 351 Unterrichtsgespräche identifiziert. Davon wurden 145 Gespräche tiefergehend analysiert24, deren wesentliche Ergebnisse im Folgenden hinsichtlich der Frage nach dem Gelingen präsentiert werden. 3.1  Zu Gestalt und Vorkommen der Unterrichtsgespräche Ein erster Zugang zum Unterrichtsgeschehen war die Identifizierung von Gesprächen; dabei wurden alle kommunikativen Interaktionen berücksichtigt, 22 Hannah Roose, Kinder- und Jugendtheologie im hochschuldidaktischen Kontext, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 14 (2/2015), 41–53, hier 43. 23 Gemäß eines triangulativen Verfahrens wurden verschiedene Auswertungsmethoden miteinander verschränkt. Mittels eines niedrig-inferenten Ratingverfahrens wurden die gesamten Unterrichtsstunden ausgewertet und darin die Unterrichtsgespräche identifiziert. Ein hochinferentes Ratingverfahren hat Muster und Dynamik der Unterrichtsgespräche untersucht. Ausgewählte Unterrichtsgespräche wurden in einer sequenziellen Gesprächsfeinanalyse analysiert und interpretiert. 24 Nur Gespräche, die eine Mindestdauer von 2 Minuten hatten, wurden im hoch-inferenten Ratingverfahren berücksichtigt.

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die sich durch eine dreigliedrige Sequenz auszeichneten. Im Rahmen eines niedrig-inferenten Ratingverfahrens wurden folgende Unterrichtsgesprächstypen25 unterschieden und bewertet: Echte Unterrichtsgespräche (UG), zu denen thematisch verbundene verbale Interaktionen zählen, in denen die Schüler:innen sich aufeinander beziehen und miteinander sprechen, Gespräche als Reihung von Schülerbeiträgen (UGS), Ping-Pong-Gespräche zwischen Lehrperson und Schüler:innen (UGLS) und Gespräche als getarnte Lehrervorträge (UGLV), in denen die Lehrkraft mit gezielten, engen Fragen die Schüler:innen dazu bringt, einen bestimmten, von ihr vorher angedachten Inhalt durch eine kommunikativ eng gestaltete Unterrichtsform selbst wiederzugeben, zu erinnern oder gegebenenfalls zu erraten. Welche Unterrichtsgesprächstypen treten im Religionsunterricht auf? In den videografierten Unterrichtsstunden wird das UGLS am häufigsten beobachtet, fast jedes zweite Gespräch verläuft im Ping-Pong-Modus (46 %). Danach folgt mit knapp einem Drittel (29 %) das UGS, in dem die Schüler:innen nacheinander ihren eigenen Beitrag einbringen, ohne dabei auf die Redebeiträge ihrer Mitschüler:innen Bezug zu nehmen. Das UGS ist mit knapp einem Drittel offensichtlich bei (fast) allen Lehrkräften ein fester Bestandteil ihres Unterrichts. An dritter Stelle mit 15 % sind UG zu finden, in denen die Schüler:innen miteinander sprechen und sich in ihren Beiträgen aufeinander beziehen, d. h. sich gegenseitig zuhören, aufeinander eingehen und den Gesprächsgegenstand miteinander weiterentwickeln. Am seltensten, nur in jedem zehnten Gespräch (10 %), konnte der Typ UGLV identifiziert werden. Welche Länge haben Unterrichtsgespräche? Die von uns ausgewerteten Gesprächstypen dauern im Unterricht durchschnittlich 5,53 Minuten (UG), 5,10 Minuten (UGLS), 3,27 Minuten (UGLV) und 3,26 Minuten (UGS). Das längste Gespräch, das wir identifizieren konnten, dauerte 16,10 Minuten. Ein Ergebnis ist, dass echte Unterrichtsgespräche im Durchschnitt am längsten sind. Welchen Anteil haben Gespräche in der Unterrichtsstunde im Vergleich zu anderen Sozialformen? Gespräche nehmen in den aufgezeichneten Unterrichtsstunden eine große Lernzeit ein, in der Regel zwischen einem Viertel bis drei Viertel der Unterrichtszeit – und zwar bei allen von uns untersuchten Lerngruppen. In einzelnen Unterrichtsstunden sind Ausschläge bis auf knapp die Hälfte der Unterrichtszeit zu finden. Offensichtlich ist der Religionsunterricht ein gesprächsintensives Schulfach.

25 Vertiefend in: Reese-Schnitker/Bertram/Fröhle, Gespräche im Religionsunterricht.

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3.2  Grundlegende Dimensionen von Unterrichtsgesprächen Alle Gespräche mit einer Mindestdauer von zwei Minuten wurden im Rahmen eines hoch-inferenten Ratinginstrumentariums mittels einer linearen Skala von 0 bis 3 und 31 Bewertungskategorien untersucht. Eine Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) präsentiert sieben Dimensionen, die das Unterrichtsgespräch zu 70 % aufklären, die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bewertungskategorien erfassen und in unterschiedlicher Ausprägung jedem Unterrichtsgespräch zugrunde liegen.26 Folgende Gesprächsdimensionen können ausgewiesen werden: 1. Gesprächsdynamik bei Schüler:innen 2. Theologiebezug 3. Vertiefung durch Lehrkraft 4. Fachlich-metakognitive Reflexion 5. Erfahrungsbezug 6. Lernprozessreflexion 7. Strukturierende Lenkung durch Lehrkraft Die erste Dimension Gesprächsdynamik bei Schüler:innen umfasst sieben Bewertungskategorien (Gesprächsfluss, Gesprächsintensität, Diskussionsgrad, Vertiefungsgrad der Schüler:innenbeiträge durch Schüler:innen, qualitativer Partizipationsgrad der Schüler:innen, Umgang mit Kontroversen, fortschreitender erkenntniserweiternder Gesprächsprozess), die dem Einflussbereich der Schüler:innen zugeordnet werden und die Gesprächsdynamik kennzeichnen. Die zweite Dimension Theologiebezug umfasst drei Kategorien (Bezug zu theologischen Themen, Vertiefungsgrad theologischer Themen durch Schüler:innen, Vertiefungsgrad theologischer Themen durch Lehrperson) und erfasst den Gegenstandsbereich der Gespräche. Die dritte Dimension Vertiefung durch Lehrperson besteht aus zwei Kategorien (Gesprächsanteil Lehrperson, Vertiefungsgrad der Schüler:innenbeiträge durch Lehrperson) und gehört in den Einflussbereich der Lehrer:innen.

26 Die Datenlage ist gut geeignet für eine Faktorenanalyse (KMO-Kriterium: 0.715), denn die Gesprächskategorien korrelieren gut und hoch signifikant miteinander. Eine folgende Faktorenanalyse mit Alpha-Faktorisierung (KMO-Wert: 0.705) bestätigt und generalisiert die sieben Faktoren. Da die Gesprächskategorien laut Bartlett-Test systematisch bedingt sind, aber sehr unterschiedlich stark miteinander korrelieren, ist kein bedeutend höherer KMO-Wert zu erwarten.

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Die vierte Dimension Fachlich-metakognitive Reflexion umfasst ebenfalls zwei Kategorien (Förderung von Metakognition, fachliche Auskunftsfähigkeit der Lehrperson) und spezifiziert den Einflussbereich der Lehrer:innen. Die fünfte Dimension Erfahrungsbezug mit zwei Bewertungskategorien (Erfahrungsbezug der Inhalte, korrelative Momente) ist von allen am Gespräch Beteiligten beeinflussbar und betrifft den Gegenstandsbereich der Gespräche. Die sechste Dimension Lernprozessreflexion erfasst auch zwei Kategorien (Reflexion des unterrichtlichen Prozesses, Sicherung der Gesprächsergebnisse) und betrachtet prozessuale und reflexive Faktoren des Gesprächs. Die siebte Dimension Strukturierende Lenkung durch Lehrkraft umfasst zwei Kategorien (methodische Lenkung, inhaltliche Strukturierung), die in den Einflussbereich der Lehrkräfte fallen. Jedes Gespräch kennzeichnet sich durch ein individuelles Zusammenspiel und eine unterschiedliche Ausprägung dieser sieben Faktoren. Dabei ist bei der Frage nach gelingenden Gesprächen zu beachten, dass nicht eine hohe Ausprägung in allen Dimensionen automatisch für ein qualitätsvolles Gespräch steht. Unterrichtsgespräche sind komplexe Gestalten, ein passendes kohärentes Zusammenspiel der sieben Faktoren in Abstimmung zu der intendierten Zielsetzung charakterisiert qualitätsvolle Gespräche. Es ist also anzunehmen, dass bestimmte Muster existieren, die für unterschiedliche Intentionen und unterschiedliche Unterrichtsphasen zielführend sind. Beispielsweise kann gesagt werden, dass Gespräche als Reihung von Schüler:innenbeiträgen sich vor allem für Unterrichtsphasen anbieten, in denen es um die Sammlung unterschiedlicher Erlebnisse oder Sichtweisen geht, oder wenn Schüler:innen ihre Antworten auf eine Lehrer:innenfrage oder ihre Resultate zu einer vorher bearbeiteten Gruppenarbeit präsentieren.

4  Was heißt es, hier vom Gelingen zu sprechen? Die Frage, ob und wann ein Unterrichtsgespräch als gelungen betrachtet werden kann, ist nicht pauschal zu beantworten. Die vorausgehenden Überlegungen zeigen, dass faktische Gespräche im Religionsunterricht in den sieben Dimensionen eine jeweils unterschiedliche Ausprägung haben und damit vielfältige Muster an qualitätsvollen Gesprächen möglich sind. Ob ein Gespräch als gelungen bezeichnet werden kann, welche Choreografie in der Ausprägung der Dimensionen qualitätsvolle Gespräche hervorruft, hängt dabei von den angezielten didaktischen Intentionen (Worin bzw. wofür

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gelungen?) sowie von den Betrachter:innen und der Bewertungsperspektive (Aus wessen Perspektive für wen gelungen?) ab. Konkrete Aussagen zu dem jeweiligen Potenzial von Gesprächen sind aufgrund ihrer Komplexität und des Gestaltcharakters in der Regel nur im Einzelfall, etwa in detaillierten Gesprächsfeinanalysen, möglich.27 Abschließend sollen hier trotzdem zentrale Erkenntnisse der Kasseler Unterrichtsgesprächsstudie thesenartig genannt werden, die Hinweise zu verallgemeinerten, empirisch grundierten Aussagen für ein Gelingen von Unterrichtsgesprächen geben: Ȥ Grundlegende Voraussetzung für ein Gelingen ist eine für das Unterrichtsgespräch förderliche Atmosphäre, in der sich die Lernenden wertgeschätzt fühlen, die sowohl von den institutionellen und räumlichen Bedingungen sowie von der Lehrperson beeinflussbar (etwa Körpersprache) ist und von der Lerngruppe konkretisiert wird (kommunikativer und sozialer Umgang miteinander). Ȥ Förderlich fürs Lernen ist es, wenn die Intention der Unterrichtsgespräche für alle Beteiligten transparent ist, wenn also die Richtung und das Ziel des gemeinsamen Lern- oder Diskussionsprozesses deutlich und klar sind. Ȥ Eher einen negativen Einfluss auf die Qualität der Gespräche hat ein zu großer Gesprächsanteil der Lehrkraft. Qualifizierte Lehrer:innenbeiträge haben auch in Unterrichtsgesprächen einen sinnvollen Ort, wenn sie den Gesprächsprozess stimulieren oder mit fachlichen Beiträgen die Schüler:innenbeiträge oder den Gesprächsgegenstand vertiefen. Wenn allerdings der in Anspruch genommene Gesprächsraum zu gewaltig wird, den die Lehrperson für sich einnimmt, dann wirkt sich dies auf einige Faktoren negativ aus – auf die aktive Partizipation der Schüler:innen, den Gesprächsfluss und den Erfahrungsbezug der Inhalte. Unterrichtsgesprächstypen mit einem hohen Gesprächsanteil der Schüler:innen (UG, UGS) schneiden bei der wahrgenommenen Qualität der Gespräche deutlich besser ab. Ȥ Ein strukturelles Unterscheidungsmerkmal des Gesprächs ist, ob die einzelnen Gesprächsbeiträge nebeneinanderstehen oder ein Zuhören sowie ein Austausch miteinander stattfinden. Beide Formen haben im Religionsunterricht ihre Berechtigung, wenn die Form mit der beabsichtigen Intention kongruent ist. Gespräche als Reihung von Schüler:innenbeiträgen eignen sich gut für das Wiederholen, weniger gut für einen gemeinsamen kontroversen 27 Vgl. hierzu die bereits publizierten Gesprächsfeinanalysen in: Reese-Schnitker, Produktive Unterbrechungen; Reese-Schnitker, Sequentielle Gesprächsfeinanalyse; Reese-Schnitker/Fröhle, Videographierte Gespräche; Reese-Schnitker/Bertram/Fröhle, Gespräche im Religionsunterricht.

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Austausch. Echte Unterrichtsgespräche punkten vor allem dann, wenn es um ein neues Thema, einen kontroversen Austausch oder die Ausbildung einer eigenen Meinung geht. Ȥ Gespräche unterscheiden sich in ihrer Gestalt, je nachdem ob viele oder wenige beteiligt sind. In den von uns ausgewerteten Unterrichtsgesprächen gibt die Anzahl der Beteiligten keinen Hinweis auf die Qualität der Gespräche, d. h. auch Gespräche, in denen nur wenige involviert sind, können eine hohe Qualität in der Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand haben. Ȥ Allerdings ist mit Blick auf die gesamte Lerngruppe kritisch zu bedenken, wie ich bereits 2013 angemahnt habe28, dass auch stilleren und weniger redegewandten und -geschulten Kindern Aufmerksamkeit gegeben wird. Hierfür sind besondere Kommunikationsmethoden zu verwenden, etwa durch einen Sprechstein die Verpflichtung an alle, einen Gesprächsbeitrag zu geben, oder das geschütztere Kleingruppengespräch zu wählen. Es wäre ein Gewinn für die religionsunterrichtliche Praxis, wenn durch die sprachlich-konzeptionelle Unterscheidbarkeit der Gesprächsdimensionen und Gesprächstypen eine deutlichere fachdidaktische Entscheidung seitens der Lehrkräfte erfolgen könnte: Je nach Intention könnte der entsprechende Gesprächstyp geplant und initiiert werden.

Dr. Annegret Reese-Schnitker ist Professorin für Katholische Religions­ pädagogik mit Schwerpunkt Fachdidaktik des Religionsunterrichts an der Universität Kassel.

28 Reese-Schnitker, Produktive Unterbrechungen, 137.

»Sag’s doch einfach!« – Erklärungen im Religionsunterricht Michael Fricke und Renate Murmann

Ziel von Religionsunterricht ist es, Lernenden Religion – in positioneller wie auch in grundsätzlicher Weise – zugänglich zu machen. Dies umfasst zum einen das didaktisch und methodisch sachgerechte Vermitteln von »Religion« und zum anderen die Aktivierung, Förderung und Begleitung der Lernenden im Sinne der Kompetenzorientierung, sodass diese im Hinblick auf das Gesamtphänomen »Religion« kommunikations- und urteilsfähig werden. »Religion« ist hier weit gefasst. Wir verstehen darunter (heilige) Texte, Rituale, Gebote, Institutionen, darüber hinaus die Religiosität von Individuen und Gemeinschaften und schließlich die Gottheit selbst. Es ist unmittelbar evident, dass manches aus dieser Aufzählung mit Sinnen und Begriffen zugänglich ist und anderes nicht oder zumindest nicht direkt. Das Vermitteln als Aufgabe der Lehrkraft hat viele Facetten. Im Religionsunterricht sind das unter anderem das Repräsentieren, Zeigen, Erzählen, Übersetzen und Erklären von »Religion«. Im folgenden Beitrag befassen wir uns mit der Facette Erklären.

1 Erklären als Sprachhandlung in der Religionspädagogik Jemandem im Alltag etwas zu erklären, erscheint selbstverständlich. Demgegenüber ist eine wissenschaftliche Definition für das Erklären nicht leicht zu finden, zumal in einem fachübergreifenden Sinn.1 In der Wissenschaftstheorie werden Erklärungen in der Regel mit Kausalzusammenhängen in Verbindung gebracht.2 Neben einem solchen »Erklären-Warum?« finden sich in Systematisierungen noch das »Erklären-Wie?«, das Prozeduren und Vorgänge betrifft, und das »Erklären-Was?«, das überwiegend Definitionen und Kategoriebildungen bezeichnet. 1

Vgl. Anja Stukenbrok, Erklären – Zeigen – Demonstrieren, in: Janet Spreckels (Hg.), Erklären im Kontext. Neue Perspektiven aus der Gesprächs- und Unterrichtsforschung, Baltmannsweiler 2009, 160–176, hier 160. 2 Vgl. ebd.

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In der Religionspädagogik wird das Erklären bis dato wenig wahrgenommen, zumindest auf der manifesten Ebene.3 Man kann über die Gründe spekulieren. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass eine andere Facette des Vermittelns, das Erzählen, über lange Zeit die dominante Form war. Darüber hinaus scheinen die darstellend und hermeneutisch orientierten Handlungen wie das Zeigen und Übersetzen bei religiösen Phänomenen eher geeignet als das Erklären. Eine andere Begründung wäre, dass seit dem Aufkommen der Subjektorientierung und später des pädagogischen Konstruktivismus der Fokus auf der Aktivität der Lernenden liegt, wobei sich die Lehrkraft vor allem als »Lernbegleiterin« verstanden und zurückgenommen hat. In jüngerer Zeit wurde das problematisiert. Im Zuge der Rezeption der Hattie-Studie für den RU in Deutschland diagnostiziert R. Englert, es werde in Bezug auf das Handeln der Lehrkraft »kaum deutlich, was eine aus fachlicher Sicht gelungene Auseinandersetzung mit dem Gegenstand auszeichnet«4. Er fordert, dass Lehrkräfte den Lerngegenstand selbst »präsentieren, erläutern, erklären«5. Dass es in der religiösen Bildung viele erklärbedürftige und -würdige Zusammenhänge von Religion und dementsprechend viele Fragen gibt – wie beispielsweise »Was macht Jesus in dem Brot?« oder »Gibt es ein Leben nach dem Tod?«6 – ist nicht von der Hand zu weisen. Auf der anderen Seite haben Erklärungen gerade in den Bereichen, wo es um die Transzendenz geht, ihre Schwierigkeiten. In Anlehnung an die theologische Tradition des Mittelalters, die lehrt, dass Gott nicht definiert werden kann, weil weder Äquivalent noch Oberbegriff zur Verfügung stehen, die für eine Definition üblicherweise benötigt werden,7 könnte man demzufolge formulieren: »Gott (selbst) ist nicht erklärbar«, jedenfalls nicht im Rahmen der oben genannten Kategorien »Warum/Wie/Was«. Eine weithin akzeptierte Ersatzmethode ist das Reden in Analogien, wobei immer mitzubedenken ist, dass die Unähnlichkeit zur Transzendenz größer als die ausgesagte Ähnlichkeit ist (vgl. IV. Laterankonzil 1215). Ein weiteres inhaltliches Gegenargument zum Erklären wäre, dass Religion gerade nicht (autoritativ) auf eine Beantwortung von Fragen abzielt, sondern Impulse dazu gibt, Fragen und Unerklärliches auszuhalten bzw. das Individuum herausfordert, im eigenen Leben »Antworten« zu finden. Für den Religionsunterricht kann Entsprechen3 Es gibt weder Monografien zum Thema noch Einträge in den einschlägigen Lexika. 4 Rudolf Englert, Die Hattie-Studie und der Religionsunterricht, in: Katechetische Blätter 138 (2013), 444–450, hier 447. 5 Ebd. 6 So einige Titel der von Albert Biesinger und Helga Kohler-Spiegel herausgegebenen Reihe »Kinder fragen – Forscherinnen und Forscher antworten« im Kösel-Verlag. 7 Vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin u. a. 2007, 208.

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des gelten: Lernprozesse sollen nicht mit Erklärungen zum Abschluss gebracht werden, sondern gerade mit dem Fraglichen arbeiten. In dieser komplexen Gemengelage regen wir dazu an, dass Religionsunterricht so weit wie möglich den Lernenden rational nachvollziehbare, plausible Erklärungen in den Gegenstandsbereichen zur Verfügung stellt, in denen Erklärungen eine wichtige Funktion haben können, jedoch adaptiert an die Besonderheiten der religiösen »Gegenstände«. Dies hat mit dem eigenen Anspruch an das Fach zu tun, aber auch damit, dass die Gesprächsfähigkeit gegenüber anderen Schulfächern gefördert wird. In diesem Zusammenhang hat sich das Fach Evangelische Religionslehre an der Universität Regensburg an einem Forschungsprojekt zur empirischen Untersuchung der Qualität von instruktionalen Erklärungen beteiligt. Das Gesamtprojekt FALKE (Fachspezifische Lehrerkompetenz im Erklären), umfasst elf Disziplinen an der Universität Regensburg (Biologie-, Chemie-, Deutsch-, Englisch-, Geschichts-, Mathematik-, Physikdidaktik, Grundschulpädagogik, Didaktik des Evangelischen Religionsunterrichts, Musikpädagogik sowie Bildende Kunst und ästhetische Erziehung), die sich gemeinsam und in Kooperation mit der deutschen Sprach- und der Sprechwissenschaft dem unterrichtlichen Erklären widmen (zum Design s. u.).8

2 Eine Erklärung zur Schöpfung und die Resonanz Für diesen Beitrag greifen wir aus der Studie einen Aspekt heraus: Die Erklärung einer Lehrkraft zu den Schöpfungstexten in Gen 1 und 2 als sprachliche Handlung. Zur Einordnung seien kurz einige Rahmeninformationen gegeben. Das Projekt FALKE-Religion (FALKE-R)9 befasste sich inhaltlich mit dem Themen­ bereich »biblischer Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliche Erkenntnisse« in der achten Jahrgangsstufe am Gymnasium. Die darin enthaltenen Erklärgegenstände waren: »Wieso gibt es zwei Schöpfungstexte?«, »Was ist Kreationismus?« und »Wie geht Perspektivenwechsel?«. Damit wurde die o. g. Dreiteilung   8 Vgl. Anita Schilcher/Stefan Krauss/Alfred Lindl u. a. (Hg.), FALKE: Fachspezifische Lehrerkompetenz im Erklären. Untersuchungen zur Beurteilung und zu Kriterien unterrichtlicher Erklärqualität aus der Perspektive von 13 Fachbereichen, Weinheim/Basel 2022 (in Vorb.). Das Projekt wurde im Rahmen der BMBF-Qualitätsoffensive Lehrerbildung gefördert. 9 Vgl. Michael Fricke/Renate Murmann, Zur Einschätzung von instruktionalen Erklärungen im Religionsunterricht – eine empirische Untersuchung im Rahmen des Projekts FALKE, in: ZPT 72 (2020), 336–347.

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Erklären »warum/was/wie« aufgegriffen. Eine Lehrkraft gab jeweils eine vorbereitete circa dreiminütige Erklärung, die in Form eines Videos von vier verschiedener Statusgruppen, nämlich Schüler und Schülerinnen im RU (N = 143), Studierenden der Evangelischen Theologie (71), Lehrkräften für Ev. Religion (68) und entsprechenden Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern (35) in einem Online-Fragebogen betrachtet und dann im Hinblick auf die Qualität bewertet und kommentiert wurde. Dieses Design wurde für alle o. g. Fächer verwendet. Jedes Thema wurde in zwei alternativen Erklärzugängen präsentiert, damit die Rezipierenden ihr Urteil auf einen Vergleich gründen konnten. Für die Auswertung waren überfachliche Merkmale (Strukturiertheit, Adressatenorientierung, sprachliche Verständlichkeit, Sprech- und Körperausdruck, Persönlichkeitswirkung) von Bedeutung sowie eine spezifisch religionsdidaktische Einordnung, die man mit dem Potenzial zur kognitiven Aktivierung beschreiben kann, die Lernenden »zu einer angemessenen Wahrnehmung und gedanklichen Durchdringung religiös relevanter Phänomene und Zusammenhänge«10 befähigen soll. Wir zeigen hier das Transkript11 – aus Platzgründen nur die erste Hälfte – der von der Lehrkraft im Video gegebenen Erklärung. Zwar waren die Erklärungen zuvor im Unterricht erprobt worden, doch ist dies kein Verbatim aus einer realen Unterrichtssituation, sondern ein geskripteter Vortrag einer Lehrkraft, der von fünf PowerPoint-Folien unterstützt wird. Die Anrede an die Lernenden und der Verweis auf vorhergegangene Arbeit sind fiktiv. Der Text ist in Minuskeln gesetzt, Dehnungen (:), Akzente (Majuskel, zusätzlich „!“) und Pausen (. oder –) sind besonders hervorgehoben. wieso gibt es zwei SCHÖPfungstexte in der bibel. (–) wir haben uns ja schon intensiv mit dieser FRAge beschäftigt, un sind auch schon auf gute iDEEN gekommen. (–) ICH habe mir gedacht, bevor wir daran WEIterarbeiten, geb ich euch einen!KUR!zen Überblick darüber, was die BIbelwissenschaft dazu sagt. vielleicht kann uns das ja WEIterhelfen. (–––) 10 Rudolf Englert u. a., Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele, Analysen, Konsequenzen, München 2014, 26. 11 Die Transkription wurde für die Schwerpunkte sprachwissenschaftlicher Analysen im Rahmen des FALKE-Projekts vorgenommen und beruht auf einer für diese Zwecke adaptierten ersten Version des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT), vgl. Christiane Thim-­ Mabrey/Alfred Lindl, Erklärqualität aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Die Wahrnehmung der sprachlichen Verständlichkeit von Erklärvideos aus elf verschiedenen Fächern, in: Schilcher/Kraus/Lindl, FALKE: Fachspezifische Lehrerkompetenz im Erklären (in Vorb.).

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die wissenschaftlerinnen und wissenschaftler (.) haben im prinzip das GLEI:che gemacht wie WIR. sie haben die texte genau DURCHgelesen, un die wichtigen (.) aussagen nebeneinANdergeschrieben. (––) ich erinnere euch DAran, worauf WIR gekommen sind. (–) erster mose EINS. gott SPRACH, (–) und es WARD. eine GRUNDstruktur, die sieben ma:l wiederHOLT wird. ERSter tag ZWEIter tag DRITter tag; sieben STROphen. es ist ein schöpfungsLIED. (–) ganz anders erster mose ZWEI. hier formt gott aus feuchter erde den MENschen. es wird eine HANDlung erzählt, es ist e:her eine schöpfungserZÄHlung. (––) aber nicht nur in ihrer!ART! sin die texte unterschiedlich, sondern auch DA:rin, WIE gott in ihnen DARgestellt wird. (––) im schöpfungsLIED (.) ist gott (.) se:hr (.) MÄCHtig. SO mächtig, dass er aus dem durcheinander eine gute lebenswerte ORDnung schafft. (––) in der schöpfungs(.)erZÄHlung (–) ist gott eine perSON …/ wie eine perSON. (–) er PFLANZT einen garten; er FORMT den menschen, er HAUCHT ihm das leben ein, (–) und ist ihm ganz NAH. (–––) wenn man (.) BEIde texte in der bibel (.) SO liest,  wie sie dort hintereinANderstehen,  dann fällt dieser unterschied GANZ stark AUF. (––) es sind zwei (.) verschiedene VORstellungen von gott, zwei (.) BILder (.) von gott. (–)12 12 Der vollständige Text des Erklärvideos inklusive der gezeigten Tafelbilder kann am Lehrstuhl für Evangelische Theologie/Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Regensburg angefordert werden.

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In dieser Erklärung liegt der Akzent darauf, dass Gen 1 und 2 je ein eigenes Gottesbild transportieren. Dabei werden sie literarisch-synchron gelesen. Im Alternativvideo, auf das wir hier nicht näher eingehen können, werden die Unterschiede zwischen Gen 1 und 2 historisch-diachron erklärt: Gen 2 ist aus der Frühzeit Israels und hat trockenes Land vor Augen, Gen 1 entstand im Exil und bezieht sich auf die mesopotamische Geografie und Mythologie. Die Lehrkraft baut ihre Erklärung auf bereits geleistete Arbeit in der Klasse auf (hier zwar fiktiv, aber realistisch). Sie stellt die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler neben die Erkenntnisse der Exegeten und Exegetinnen. Dann führt sie einen neuen Gedanken ein: Die Gottesdarstellung ist unterschiedlich. Dieser ist zwar auf einer Meta-Ebene gegenüber dem Text angesiedelt, jedoch unmittelbar einleuchtend (wie Kommentare – s. u. – zeigen). Bei der Resonanz der Rezipierenden fällt auf, dass die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Studierenden, Lehrkräfte und Didaktikerinnen und Didaktiker der Erklärung durchweg gute Bewertungen gegeben haben (Schulnote; M = 2,23, SD = 0,98).13 Gut kann eine Erklärung eigentlich nur dann sein, wenn sie verständlich ist. In der FALKE-Studie wurde die sprachliche Verständlichkeit fachübergreifend mit drei Items abgefragt: »Die Lehrerin hat sich gut verständlich ausgedrückt«, »Bei manchen Wörtern habe ich nicht gewusst, was sie bedeuten« und »Manche Sätze hat die Lehrerin zu lang gemacht«.14 Antworten sind auf einer sechsstufigen Skala (von stimme voll zu: 1; bis stimme gar nicht zu: 6) möglich. Der Mittelwert über alle Statusgruppen liegt für das Video bei 2,75 (SD = 0,91, Spannweite 1,00–5,67). Der sprachliche Bereich wird auch in den offenen Textfeldern thematisiert. Studierende äußern beispielsweise: »Sie hält es sehr einfach und schlicht, man kann ihr gut folgen«, »verständliche und nachvollziehbare Wortwahl«, »weniger wissenschaftlich, sondern mehr Wörter, die Schüler verstehen« sowie »verständliche Sätze«. Lehrkräfte führen die »sehr klare Argumentation und Sprache« an, »kurze Sätze« werden häufig als positives Merkmal genannt. Ein Fachdidaktiker kritisiert die Wortwahl: »einige schwierige und abstrakte Begriffe (Grundstruktur …)«. Auch die anderen überfachlichen Aspekte Strukturiertheit, Adressatenorientierung sowie Sprech- und Körperausdruck, von denen sich in der Gesamtstudie die Faktoren Strukturiertheit und Adressatenorientierung über alle Fächer und Statusgruppen als die bedeutsamsten Einflussgrößen für gutes Erklären 13 M = Mittelwert; SD = Standardabweichung. 14 Thim-Mabrey/Lindl, Erklärqualität aus sprachwissenschaftlicher Sicht (in Vorb.).

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erwiesen, wurden von den Teilnehmenden bei einer ersten Einschätzung der Erklärungen bei der offenen Frage nach auffälligen Merkmalen thematisiert. Ein Fachdidaktiker nennt beispielsweise als positive Aspekte dieses Videos: »gut gegliedert, anschaulich, PowerPoint macht Sinn, gute Zusammenfassung«, eine Fachdidaktikerin: »Überblick zu Beginn, Zusammenfassung am Ende – Bezug zur Erarbeitung der Schüler – klare engagierte, freundliche, zugewandte Sprechweise – Lehrperson wirkt gut vorbereitet, kenntnisreiche Darbietung – Präsentation ist Stütze, wenig Text«. Der wichtige Aspekt der Veranschaulichung wird ebenfalls häufig erwähnt. Bei der Gruppe der Schüler und Schülerinnen erwies sich auch der Aspekt des Sprech- und Körperausdrucks als bedeutsames Merkmal für die Einschätzung einer Erklärung. Die Bevorzugung dieses Videos wird z. B. wie folgt begründet: »beim ersten [Video] hat sie zu schnell geredet«, hier habe sie »deutlicher geredet, mehr Sprechpausen« oder »mehr Gesten und Handbewegungen« gemacht. Die literarisch-synchrone Zugangsweise und die Aussagen zum Gottesbild werden von den Betrachtenden überwiegend positiv gesehen. Das Schlagwort »Geheimnischarakter Gottes« (Lehrkraft) wird genannt, Erläuterungen wie »nicht historisch-kontextuell, sondern eher systematisch-hermeneutisch erklärt, d. h. so, dass die Erklärung auch für unser heutiges Gottesverständnis bzw. das der Schüler*innen Impulse gibt« (Fachdidaktiker) oder »dadurch sieht man Gott mit anderen Augen« (Schülerin oder Schüler). Kritische Hinweise der Betrachtenden finden sich ebenfalls, wobei der starke Fokus auf das Gottesbild aus unterschiedlichen Gründen moniert wird: als generelle Anfrage an die Darbietungsform: »Im Vergleich zur ersten Erklärung, die so schön anschaulich war, ist die theologische Erklärung eher abstrakter. Da ist der Lehrervortrag irgendwie nicht ganz das richtige Mittel. Hier sollten die Schülerinnen besser eingebunden sein« (Lehrkraft), und in Bezug auf die Adressaten »für 8. Klässler u. U. keine befriedigende Antwort auf die Ausgangsfrage« sowie aus fachlichen Überlegungen »Fraglich, ob der Unterschied des Gottesbildes alleine wirklich die Unterschiede der beiden Schöpfungstexte auf den Punkt bringt« (Fach­didaktikerin) und »Die Texte so stark auf das Gottesbild zu reduzieren, ist m. E. unangemessen, zumal der zweite Text ein sehr vielschichtiges Gottesbild aufweist« (Fachdidaktikerin). Die Urteile zu den beiden Videos in FALKE-R hängen von der jeweiligen Gruppe der Rezipierenden und vom Erklärzugang ab. Während Schülerinnen und Schüler sowie Studierende das vorgestellte Video im Durchschnitt besser bewerten, bevorzugen Lehrkräfte und Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker die Erklärung mit der historisch-­diachronen Zugangsweise. Wichtig war uns in der Studie auch, die Bedeutung von Erklärungen für den Religionsunterricht in den Blick zu bekommen. Am Ende wurde deshalb die

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Frage »Ist es wünschenswert, dass Lehrkräfte häufiger (solche) Erklärungen in den Religionsunterricht einbringen?« explizit gestellt. Zur Aussage Die Lehrkräfte sollten solche Erklärungen häufiger einbauen waren Antworten auf einer sechsstufigen Skala (von stimme voll zu bis stimme gar nicht zu) möglich. Insgesamt stimmen ca. 70 % aller Teilnehmenden der Aussage zu bzw. voll zu. In der Gruppe der Lernenden sprechen sich sogar ca. 76 % für mehr Erklärungen im Religionsunterricht aus (33,6 % stimme voll zu, 42,2 % stimme zu). Auch wenn man den Faktor der sozialen Erwünschtheit beachten muss, fällt der Wunsch nach mehr Erklärungen im Religionsunterricht hier deutlich aus.

3 Schlussreflexion Der Titel des Beitrags »Sag’s doch einfach!« ist doppeldeutig. »Sag’s doch einfach!« steht zum einen für die Aufforderung an die Lehrkraft, einfach mal selbst den Lernenden eine – wohlvorbereitete – Erklärung zu geben, die Dinge klarmacht und die kognitiv aktivierend ist, d. h. von der aus man weiterarbeiten kann, weil man etwas verstanden hat. Dies ist (nicht nur) im Religionsunterricht eine Alternative zum verbreiteten »Frage-Antwort-Spiel«, bei der die Lehrkraft bestimmte »Lösungen« aus den Lernenden herauslocken will. Dies kann demotivierend wirken, wenn den Schülerinnen und Schülern notwendige Vorinformationen oder Einsichten schlicht fehlen. Durch Erklärungen kann die Lehrkraft im Sinne von Englert zeigen, was sie an fachlich-wissensbasierter Auseinandersetzung »zu bieten« hat. Neben die Rolle der Lernbegleitung tritt eine andere, zuletzt womöglich zu wenig beachtete. »Sag’s doch einfach« ist die zweite Botschaft. Lehrkräfte sind herausgefordert, komplexe Sachverhalte wie das direkte Nebeneinander zweier Schöpfungstexte in der heiligen Schrift so zu elementarisieren, dass die Erklärung von Lernenden verstanden werden kann. Nicht immer ist der Gegenstand dafür geeignet, aber vielleicht häufiger als man annimmt. Begriffe gehören sicher zu den Gegenständen, die eine Lehrkraft gut und einfach erklären kann. Das ist vor allem dann sinnvoll und angebracht, wenn den Lernenden das nötige Vorwissen fehlt, um sie selbst herzuleiten. Erklärungen können Hintergrundwissen, begriffliche Unterscheidungen und Ordnungssysteme anbieten, die einen Perspektivenwechsel und ein differenzierteres Verstehen ermöglichen. Bei »transzendenten« Inhalten bieten sich Erklärungen mit Analogien und Symbolen an, wobei immer der äquivoke Sprachgebrauch reflektiert werden muss. Natürlich gilt auch dies: Bei manchen Gegenständen ist die Frage zu stellen, ob die »einfache« Erklärung einer Lehrkraft nicht sogar hinderlich für die

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Lernprozesse ist. Hier sind andere Formen als das Erklären geeignet, anderes Sprechverhalten bzw. andere Methoden, um Fragehaltungen und Suchbewegungen von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Sag’s doch einfach! Mögliche Kriterien für eine gute, elementarisierende Erklärung beziehungsweise Reflexionsfragen, die dorthin führen, sind: einfach in Bezug auf die Sprache: Wortschatz und Satzbau? Einfach in Bezug auf die Struktur: klarer, transparenter Aufbau? Hilfreiche Zusammenfassung am Schluss? Einfach in Bezug auf die Auswahl der Inhalte? Einfach und passend für die Schülerinnen und Schüler? Also anschaulich? Interessant? Relevant? Solche Kriterien stehen allerdings nicht für sich allein, sondern müssen immer zum jeweiligen Gegenstand in Bezug gesetzt werden. Auf dem Hintergrund unserer Forschungen empfehlen wir, dass Religionslehrkräfte – auch schon im Referendariat – Erklärungen immer wieder in ihrem Unterricht einplanen und üben. Vielleicht fragen sie auch gelegentlich direkt bei den Rezipierenden nach: War das verständlich? Was blieb hängen? Was habt ihr euch gemerkt? Das Feedback der Schülerinnen und Schüler kann neben dem eigenen subjektiven Eindruck noch einmal ganz neue Einblicke in die Wirkung einer Erklärung geben.

Dr. Michael Fricke ist Professor für Ev. Theologie/Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Regensburg. Renate Murmann war Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ev. Theologie/Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Regensburg und unterrichtet als Oberstudienrätin Ev. Religion, Deutsch und Spanisch am Gymnasium.

»Das ist richtig, richtig geil!« – Gefühle zur Sprache bringen als Herausforderung für religiöse Bildungsprozesse mit Jugendlichen Elisabeth Naurath

1 Jugendsprache und jugendliche Gefühle Dass Jugendliche ihre Gefühle im Sinne einer Selbstinszenierung mittels Jugendsprache zum Ausdruck bringen, haben theoretische Konzepte der Jugendsprachforschung1 sowohl für historische wie auch aktuelle jugendkulturelle Kontexte gezeigt. Hierbei spielt die Emotionalisierung der Sprache eine evidente Rolle, denn in gewisser Weise ist Sprache auch ein Ventil, Gefühle im Jugendalter, die entsprechend einer jugendgemäßen »Sturm- und Drang-Zeit« oft Widerspruch und Protest beinhalten, quasi »herauszulassen«. Spannend ist zudem, dass jugendkulturelle Identitätsfindung auch im Sinne einer sprachlichen Gemeinschaftssuche und Gruppenidentität in Abgrenzung zu üblichen, als konformistisch empfundenen Sprachstilen durchaus mit provozierender Absicht auf äußerst kreative Weise geschieht. Beispielsweise hatte die sogenannte Vong-Sprache als selbstinszenierte Protestsprache Jugendlicher in den vergangenen zehn Jahren auch im religiösen beziehungsweise religionskritischen Kontext mit der von Shahak Shapira herausgegebenen ›Holyge Bimbel‹2 für Aufregung gesorgt. Auch wenn sich die Vong-Sprache in einem ständigen jugendkulturellen Transformationsprozess unaufhörlich veränderte, intendierte sie doch vorrangig eines: durch Wortreduzierungen, Anglizismen und Anspielungen auf bekannte Stories in den sozialen Medien nur für junge Menschen verständlich zu sein. Und genau dies ist ein unabdingbares Kennzeichen von Jugendsprache, dass jugendliche Einstellungen, Ansichten und Gefühle in gewisser Weise verschlüsselt bzw. entfremdet

1 Vgl. Eva Neuland, Jugendsprache, Marburg 22018. 2 Shahak Shapira, Holyge Bimbel. Storys von Gott us1 Crew, Hamburg 52017.

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wiedergegeben werden sollen.3 Nicht auf Anhieb verstanden zu werden, gehört also durchaus zum Konzept. Man könnte also meinen, dass für Heranwachsende nichts peinlicher ist als im Kontext einer Gruppenerfahrung mit Gleichaltrigen – wie beispielsweise im Klassenzimmer mit seinen Mitschüler:innen – nach seinen Gefühlen gefragt zu werden und diese im Sinne von »echten« Gefühlen zur Sprache zu bringen. Um genau dies zu vermeiden, werden alle nur erdenklichen Wege gesucht, durch Jugendsprache oder auch mediale Bildersprache verschlüsselte Ausdrucksformen zu generieren, die in der peergroup mit »Coolness« assoziiert sind. Zum Beispiel: »Das ist richtig, richtig geil« weist mit der Verdopplungsform von »richtig« nicht etwa auf einen Sprachfehler, sondern im Sinne von George Orwells Roman »1984« auf den als »Neusprech« bezeichneten Zusammenhang, dass etwas »doppelplusgut« (also besonders gut) sei. Es geht also inhaltlich um eine Betonung, auch wenn Orwell sprachpolitisch in seiner Dystopie zum Ausdruck bringen wollte, dass und wie sprachliche Mittel zur Verschleierung bzw. Manipulation der Wahrnehmung missbraucht werden können. Damit ist ein wichtiger Zusammenhang benannt: Gerade mit Blick auf den Ausdruck von Gefühlen werden nicht selten gruppenspezifisch adaptierte Sprachmuster benutzt, um sich nicht als »besonders« oder »eigenartig« zu »outen«, sondern im kollektiven Rahmen zu bleiben und sich damit auch weiterhin zugehörig fühlen zu können. Dies wird beispielsweise auch an medialen Sprachmustern deutlich, die im Chatroom sozialer Medien beispielsweise über bestimmte »Emojis« (Icons zum Ausdruck emotionaler Gehalte) anerkannte und für alle verständliche Hinweise auf Gefühle liefern können. Zwei Auffälligkeiten sind hierbei besonders interessant: Zum einen sieht man an dem häufigen Gebrauch von Emojis durch die Jugendlichen, wie sehr Botschaften emotional gefärbt sind und sein sollen und dass sich hierfür besonders körperaffine Akzente (mimischer oder gestischer Art) eignen. Zum anderen sieht man jedoch auch, dass es kollektiv adaptierte Formen der Verschlüsselung emotionaler Botschaften gibt, die Gefühle eher implizit zur »Sprache« bringen sollen. Auf den Nenner gebracht bedeutet dies, wie wichtig und alltagsrelevant es für Jugendliche ist, einerseits Gefühle deutlich zu akzentuieren und andererseits geeignete Formen zu finden, die ihrer eigenen Subjektwerdung im Sinne einer Selbstvergewisserung auch dienlich sind. Lebensdienlich ist natürlich die Zugehörigkeit zur peergroup, aber auch die identitätsstiftende Orientierung, wer und wie man unabhängig hiervon 3 Vgl. Elisabeth Naurath, Interview mit dem Abiturienten Ben N. zur Bedeutung der Holyge Bimbel, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 35 (2019), 8–12.

Gefühle zur Sprache bringen

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auch ist und sein möchte. Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle sowie die Fähigkeit, diese ausdrücken zu können, nehmen hierbei Schlüsselpositionen ein. Im Folgenden soll daher der Fokus auf eine Förderung der emotionalen Sprachfähigkeit des Subjekts gelegt werden, um gegenüber Formen der kollektiv üblichen Verwendung emotionaler Ausdrucksformen auch korrigierende Kompetenzen entwickeln zu können. Wie dies in einem durchaus als schwierig zu bezeichnenden Rahmen von Schule und Klassenzimmer gelingen kann, ist dabei eine bildungstheoretische Herausforderung, die zum pädagogischen Drahtseilakt avanciert. Dass und wie gerade der Religionsunterricht hier eine Vorreiterrolle hat oder – bei kritischer Betrachtung – in stärkerem Maß haben könnte, soll im Folgenden skizzenhaft gezeigt werden.

2 Gefühle im Kontext einer subjektorientierten Religionspädagogik Wer im Anspruch von Subjektorientierung den zeitgemäßen religionspädagogischen Leitbegriff sieht, bekräftigt damit einhergehend eine Wende des didaktischen Blickwinkels von den Inhalten zu den Schüler:innen. Freilich nicht in einem ›Entweder-Oder‹, sondern in einer ausgleichenden und damit ergänzenden Bewegung der Blickrichtung. Gleichwohl bedeutet dies, dass das Subjekt und die Förderung der Subjektorientierung als Maxime religionspädagogisch reflektierten Handelns4 den Fokus der Wahrnehmung dahingehend weitet, dass neben kognitiven nun auch stärker die emotionalen (und pragmatischen) Lernebenen einbezogen werden. Diese mit Blick auf die abendländische Geistesgeschichte einhergehende dualismuskritische Betrachtung wird zunächst konstatieren müssen, dass die Relevanz der Gefühle im theologisch-anthropologischen Netzwerk von Körper (theologisch: Leib), Geist und Seele immer eine geringere und auch weniger wertgeschätzte Rolle gespielt hat. Galten doch Gefühle immer als dem – durchaus im doppeldeutigen Sinne – »Leibhaftigen« näherstehend und unbeherrschbarer und damit dem in geistig-geistlicher Hinsicht Idealen tendenziell entgegenstehend. Doch mit dem sogenannten »emotional turn« der 1990er-Jahre hat ein Bewusstwerdungsprozess auch in pädagogischen Kontexten begonnen, der in Anlehnung an den programmatischen Ruf des Neurowissenschaftlers und Neurophilosophen Antonio Damasios »Ich fühle, also bin ich!«5 4 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, bes. 232–248. 5 Vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin/München 62010.

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die emotional-körperbezogenen Ressourcen auch für Bildungsprozesse als evident erwiesen hat. Wenn es um eine Förderung von selbstbestimmtem Lernen geht, wird neben der kognitiven Seite auch zunehmend die Relevanz der Gefühle zum schulischen Lernen betont. Hierbei spielt es eine zentrale Rolle, Gegensätze zwischen Denken und Fühlen zu überwinden und zu einer umfassenderen und praxisnahen Urteilsbildung zu kommen, indem beispielsweise Schüler:innen konkret angeregt werden, ihre negativen wie auch positiven Gefühle zu benennen (»mein Lieblings… ist«; »richtig wütend macht mich …«) und mittels dieser semantischen Annäherung auch reflektieren zu können.6 Es ist hierbei durchaus nicht einfach, den Begriff »Gefühl(e)« zu definieren, da im alltäglichen Sprachgebrauch Emotionen und Gefühle oft synonym verwendet werden. Hilfreich ist im Folgenden die Differenzierung, »Gefühle« als subjektive Wahrnehmung von Emotionen zu verstehen, während es auch Emotionen gibt, die unbewusst bleiben. Wichtig ist, die Komplexität der Zusammenhänge zwischen Emotion und Kognition sowie die sozial-kommunikative Bedingtheit der Zuschreibungen im Blick zu haben. Sowohl emotionspsychologische wie auch emotionssoziologische Studien weisen auf die Rolle von Gefühlskollektiven und Gefühlskulturen hin, die auch Einfluss auf individuelle Bestimmtheiten und Prägungen haben, sodass – insgesamt betrachtet – von ständigen Wechselwirkungen individueller und sozialer Faktoren auszugehen ist. Neben dieser sozialen und kulturellen Formung der Gefühle sind diese aus Sicht der neurobiologischen Emotionstheorie immer auch als psychophysische Reaktionen zu sehen, d. h. sie sind auch Produkte biologischer Prozesse, die sich körperbedingt abspielen: »Im Gefühlsleben wird der Sinn einer vorausgehenden körperlichen Reaktion leiblich-affektiv empfunden«7. Insbesondere mit der (neuen) phänomenologischen Philosophie von Hermann Schmitz ist die leibliche Dimension der Gefühle in einer Korrespondenz des »Alphabets der Leiblichkeit« mit dem »Alphabet der Gefühle« aufeinander bezogen worden.8 Dies aber bedeutet, dass Gefühle im Kontext einer subjektorientierten Religionspädagogik nicht nur im Sinne eines Unterrichtsgegenstands kognitiv thematisiert und reflektiert werden können, sondern auch methodische Wege gefunden werden sollten, das Erfahren und Erleben sowie 6 Vgl. Wolfgang Sander/Christian Igelbrink, Selbstbestimmt urteilen lernen. Schüler emotional stärken durch Metakognition und Urteilsbildung. Modellprojekt »Das ist gut für mich« (Urteils-Bildung 1), Berlin 2010. 7 Erik vom Hövel, Emotionale Bildung oder Gefühlstechnik? Eine reflexive Untersuchung der Wiederentdeckung der Gefühle in der Erwachsenenbildung, Hamburg 2015, 13 (mit Verweis auf die emotionstheoretischen Grundlagen bei Antonio Damasio, Anm. 5). 8 Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007.

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das bewusste Wahrnehmen und Reflektieren von Gefühlen (auch als Stimmungen und atmosphärische Wahrnehmungen) in den religiösen Bildungsprozess einzubeziehen: »Im Rahmen der Subjektorientierung ist das bildungstheoretisch zugrunde liegende Menschenbild in all seinen leibseelischen Dimensionen zu berücksichtigen und gleichzeitig sind die Wechselwirkungen von Subjekt und Gesellschaft auch in ihrer emotionalen Wirkung einzubeziehen. Insofern dient das Bewusstwerden der leiblichen und emotionalen Dimension, gerade auch im Kontext religionspädagogischen Handelns, der Selbstwahrnehmung bzw. der Selbst-reflexion und damit der Bildung als Selbst-Bildung, anders gesagt einer Subjektwerdung des Menschen in Freiheit.«9 2.1  Die Bedeutung der Gefühle für die religiöse Bildung Dies aber impliziert, dass emotionale Bildung als evidenter Teil der religiösen Bildung anzusehen ist, da die Komplexität der Vernetzungen kognitiver, emotionaler und pragmatischer Dimensionen von Religion und Religiosität geradezu zur Voraussetzung haben, dass kein Bereich didaktisch marginalisiert wird. So ist auf lerntheoretischer Ebene zu konstatieren, dass sowohl negative Gefühle (wie Angst, Scham, Langeweile etc.) als auch positive Gefühle (wie Stolz, Zufriedenheit, Freude etc.) in motivationspsychologsicher Hinsicht für die Lernbereitschaft und -effektivität in erschwerender oder erleichternder Weise ausschlaggebend sind. Neben der subjektiven Gefühlslage spielt hier natürlich auch die Beziehungsebene zu den Lehrenden aber auch zu den Lernenden eine Rolle.10 Auf der Basis einer religionspädagogischen Rezeption11 emotionspsychologischer Erkenntnisse12 kann die Aufgabe »Gefühle zur Sprache zu bringen« dann beispielsweise in vier Dimensionen näher gefasst werden. Nach Peter-

  9 Elisabeth Naurath, Art. Emotionale Bildung, in: Wirelex (2017), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100187/ (Zugriff am 05.02.2021). 10 Vgl. Christine Greder-Specht, Emotionen im Lernprozess. Eine qualitative Studie zur Erkundung der Beziehung zwischen Emotionen und Wirkungseinschätzungen von Teilnehmenden einer Weiterbildung basierend auf einem entwickelten Instrument zur Abbildung emotionaler Lernerfassungen, Hamburg 2009. 11 Vgl. Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 32010. 12 Vgl. z. B. Maria von Salisch, Emotionale Kompetenz entwickeln. Grundlagen in Kindheit und Jugend, Stuttgart 2002.

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mann/Wiedebusch13 ist zunächst das Erleben positiver Gefühle quasi der Schlüssel zum Aufbau psychosozialer Ressourcen, d. h. mit Blick auf den Unterricht, dass »Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung«14 ein Fundament dafür bietet, eine vertrauensvolle Atmosphäre überhaupt aufbauen zu können. Dies aber muss motivational vorausgesetzt werden, um Gefühle zur Sprache bringen zu können und auch zu wollen. Wo das Klassenklima durch gegenseitige Vorurteile, Konflikte und Feindseligkeiten, aber auch starken Leistungsdruck und Konkurrenzverhalten gestört ist, werden – vorrangig negative – Gefühle zwar zum Ausdruck im Verhalten, jedoch kaum konstruktiv zur Sprache kommen können. Aufgrund seiner Inhalte wie auch seiner didaktisch geforderten Subjektorientierung bietet der Religionsunterricht sui generis die Möglichkeiten und den Raum, um in einer wertschätzenden Grundhaltung gegenüber den Schüler:innen Gefühle zur Sprache bringen zu können. Ob dies in der Auseinandersetzung mit lebensrelevanten Themen wie »Freundschaft, Partnerschaft und Sexualität« oder hinsichtlich existenzialer Sinnfragen wie »Umgang mit Sterben und Tod« geschieht – hier geht es neben der kognitiven Lerndimension immer auch um emotionale Aspekte, die beispielsweise auf der Basis einer theologischen Reflexion von Trost auch subjektorientierte Bewältigungsstrategien ins Spiel bringen. Allerdings bedarf es hierzu als zweiten emotionspsychologisch relevanten Baustein, der religionsdidaktisch umzusetzen ist, der Ermöglichung von »Wahrnehmung und Ausdruck von Emotionen«. Gerade aufgrund der oben benannten Verbindungslinien von Gefühlen und körperlichen Stimmungen geht es hier um eine Wahrnehmungsschulung, die überhaupt die Frage nach dem »Was fühlst du gerade?« eröffnet. Neben der didaktischen Subjektorientierung bietet auch das methodische Repertoire religiöser Bildung als ästhetischer Bildung viele Optionen, via Meditation, Bildbetrachtung, Fantasiereisen, Rollenspielen, kreativen Methoden der Bibeldidaktik (bibliodramatische Elemente, Bibliolog, Godly Play etc.), aber auch der Umsetzungsmöglichkeiten von »Kunst und Religion« oder »Musik und Religion« den Fokus auf die Gefühle zu lenken und diese in Worte zu fassen. Hilfreich ist hierbei der Verfremdungseffekt, der es ermöglicht, Gefühle beispielsweise von biblischen Figuren zu benennen oder spielerisch zum Ausdruck zu bringen, ohne hierbei sich selbst »outen« zu müssen. Allerdings ist gerade für den Kontext des Religionsunterrichts zu betonen, dass es hierbei um ein quasi ungefiltertes Spektrum aller Gefühle gehen muss und 13 Vgl. Franz Petermann/Silvia Wiedebusch, Emotionale Kompetenz bei Kindern (Klinische Kinderpsychologie 7), Göttingen 2003. 14 Elisabeth Naurath, Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung zur Werte-Bildung (Werte-­ Bildung interdisziplinär 1), Göttingen 2013, 29–42.

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ein »Religionsstunden-Ich«, das immer lieb und prosozial eingestellt ist, nicht fokussiert werden darf. Denn die große Gefahr hinsichtlich der emotionalen Lerndimension liegt auch in manipulativen Tendenzen einer Didaktik, die prosoziale Gefühle als positiv und nicht-prosoziale Gefühle als negativ bewertet. Oder – und auch dies ist im Religionsunterricht gar nicht so selten – bereits von den methodischen Zugängen her oder via ausgewählten Unterrichtsmaterialien die Gefühle der Schüler:innen in erwünschte Richtungen zu lenken versucht. Insbesondere ethische Unterrichtsinhalte bedürfen einer kritischen Sichtung hinsichtlich moralisierender Lehrintentionen.15 »Gefühle zur Sprache zu bringen« bedarf daher einer didaktischen Freiheit, im Sinne des Grundsatzes »alle Gefühle sind erlaubt, aber nicht alle Verhaltensweisen«16, d. h. Gefühle sind als Gefühle eben so, wie sie sind – man kann sie wahrnehmen, reflektieren und den Umgang mit ihnen möglicherweise steuern. Hierzu bedarf es drittens in emotionspsychologischer Perspektive der Schulung von Emotionsverständnis und Emotionswissen sowie viertens der Förderung der Kompetenzen zur Emotionsregulation. Konkret meint dies, dass erst das Wissen um das Bedeutungsspektrum von Gefühlen deren Versprachlichung ermöglichen: Wie unterscheidet sich Wut von Ärger oder Hassgefühlen? Sprachliche Beschreibungen und Umschreibungen der körperlichen (Be)Deutung sind hier hilfreich, um sich dem Phänomen annähern zu können: »Ich merke, wie ich innerlich zu explodieren drohe vor Wut, wie mir heiß wird, wie ich zu zittern anfange, wie ich aggressiv werde …« »Das ist anders als Ärger, der über längere Zeit in mir rumoren kann, bis mir bewusst wird, dass ich über etwas oder jemanden sehr verärgert bin, weil …« Hilfreich ist hierbei – wie gesagt – auch die Schulung von Emotionsverständnis, die zum einen im Perspektivenwechsel (eher kognitiv), zum anderen jedoch im Mitgefühl (eher emotional) liegen kann. Der Perspektivenwechsel, der dazu führt, sich in die Situation anderer Personen oder auch biblischer Figuren gedanklich hineinzuversetzen, hilft dabei, sich mögliche kontextuelle Gefühle vorzustellen, nachzuvollziehen und damit auch artikulieren zu können. Im Unterschied hierzu ist das Mitfühlen, das durchaus nicht nur »positiv adaptierte« Gefühle, sondern auch beispielsweise Schadenfreude beinhalten kann, eher ein dem Subjekt selbst zu eigen werdendes Gefühl. Das heißt im Sinne von ›Identität bei bleibender Differenz‹17, dass

15 Vgl. Elisabeth Naurath, Die emotionale Dimension ethischer Bildung in der Sekundarstufe I, in: Katechetische Blätter 132 (2007) 1, 26–31. 16 Petermann/Wiedebusch, Emotionale Kompetenz, 174. 17 In Anlehnung an die subjekttheoretischen Forschungen in der Differenzierung von Mitleid und Mitgefühl nach Saskia Wendel: vgl. Naurath, Mit Gefühl, 85 ff.

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in den Schüler:innen selbst eine Qualität dieses Gefühls entsteht, das sie dann auch auf der Basis ihrer Wahrnehmung artikulieren können. All diese Schritte der Möglichkeit zur Versprachlichung von Gefühlen sind hilfreich, um letztlich mit der Reflexionsleistung, die Wahrnehmungsebene auf eine sprachliche Ebene zu bringen, auch zur Emotionsregulation zu führen. Jugendliche, die beispielsweise nicht mehr aus einem »semantischen Nichts heraus«18 agieren müssen, sondern Worte für das finden können, was sie fühlen, mitfühlen oder nachfühlen können, haben sprachliche Schlüssel zur Bewältigung gefunden, die ihnen bei der Verarbeitung, Reflexion und Regulation von Gefühlen helfen können. Dass dies im Sinne einer Förderung der selbstreflexiven Kompetenzen auch hinsichtlich religiöser Bildung (zur Identitätsfindung und kritikfähigen Orientierung) bildungsrelevant ist, liegt auf der Hand. Darüber hinaus geht es natürlich für den Religionsunterricht auch darum, dezidiert religiöse Gefühle artikulieren zu können und mittels religiöser Sprachfähigkeit eigene und kollektive, traditionell formelhafte und aktualisierend kreative Sprachmuster differenzierend unterscheiden und beurteilen zu können. 2.2  Religiöse Gefühle zur Sprache bringen Die Bedeutung der emotionalen Dimension menschlicher Religiosität ist trotz eines elaborierten Forschungsinteresse hinsichtlich religionspsychologischer Fragestellungen bis heute marginalisiert. Dass es jedoch einen evidenten Zusammenhang zwischen Gottesvorstellungen und Emotionserleben gibt, konnte beispielsweise Margita Reyßer-Aichele in einer quantitativ angelegten empirischen Studie nachweisen.19 Es erstaunt nicht, dass für »Glaubende […] nicht nur kognitive Vorstellungen von Gott von Bedeutung [sind, E.N.], sondern eine gelebte bzw. als positiv erlebte Gottesbeziehung, die u. a. auch Gefühle Gott gegenüber und religiöse Praxis einschließt«20. Dass religiöse Gefühle also mit allgemeinen Gefühlen korrespondieren, scheint schlüssig. Auffallend ist jedoch ein anderes 18 Anton Bucher, Eruptiv rebellisch oder prophetisch? Die doch nicht so spektakuläre, aber überwiegend religiös-spirituelle Jugendphase, in: Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 264–273, hier 265. 19 Vgl. Margita Reyßer-Aichele, Gottesbild und Emotionen. Theologisch-anthropologisches Konzept und empirische Untersuchung (Internationale Hochschulschriften 608), Münster 2014; vgl. Margita Reyßer-Aichele, Gottesvorstellungen und Gefühle. Empirische Untersuchungen zum Zusammenhang von Gottesvorstellungen, Glaubenspraxis und dem Erleben von Gefühlen auf Basis eines theologisch-anthropologischen Konzeptes, in: Wege zum Menschen 67 (2015), 239–252. 20 Ebd., 245.

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Ergebnis, das darauf hindeutet, dass es Zusammenhänge zwischen einer subjektiven Einschränkung der Akzeptanz von Gefühlen und religiösen Vorstellungen gibt. Heißt das konkret, dass manche Gefühle weniger »erlaubt« sind als andere? Man denke hier zum Beispiel an Gefühle von Hass, Wut, Ärger, aber auch an Eifersucht, Neid, Begehren? Entsprechend formuliert Reyßer-Aichele schlussfolgernde Impulse für die Praktische Theologie/Religionspädagogik, in denen sie beispielsweise eine Vielfalt von Gottesbildern, die Einbeziehung auch widersprüchlicher Gottesbildkomponenten, potenziell veränderbare Konstrukte und eine Vielfalt der Emotionen und des Emotionserlebens fordert.21 Insbesondere kinder- und jugendtheologische Ansätze ermutigen dazu, den Heranwachsenden diesen Freiraum zu bieten. Dennoch bleibt das Problem »einer grundsätzlichen Ohnmachtsspirale religiöser Rede. Wie soll ich in (neue) Sprache fassen, was ich letztlich nicht verstehe? Wie soll ich verstehen, wofür ich letztlich keine Sprache habe?«22 Langenhorst beschreibt mit dem Terminus Theotop (nach F. W. Graf in Anlehnung an den Begriff des Biotops) in semantischer Hinsicht das Problem, dass der spezifisch theologische Sprachraum für immer weniger Menschen (vor allem kirchenferne Heranwachsende) verstehbar und nachvollziehbar sei und damit immer mehr zur alltagsfernen Fremdsprache avanciere. Jahrhundertealte Wahrheiten des christlichen Glaubens, die in theologische Formeln von Sünde, Gnade, Demut und Erbarmen wie in Stein gehauen scheinen, eignen sich kaum für heutige jugendliche Kommunikationsbedürfnisse, die danach ringen, eigene Stimmungen im medialen Überflutungsraum schwer einzuordnender Welten von stark pluralisierten Eindrücken zu klären. Eine Brückenfunktion zu Übersetzungsversuchen können in der Tat die Gefühle leisten, denn da wo Jugendliche versuchen, ihre gegenwärtigen Gefühle und Stimmungen zu artikulieren, tauchen Themen und Fragen auf, die in existenzialer Hinsicht insoweit zeitlos sind, als sie mit religiösen Gefühlen der Suche, des Fragens, des Klagens, des (Ver)Zweifelns an Gott in biblischen Texten einen Zusammenhang finden lassen. Insofern wäre es sinnvoll, auf dem Weg der Ermöglichung offener Diskurse zu spezifischen jugendrelevanten und von den Jugendlichen aktuell eingebrachten Themen und Fragestellungen und den hieran anknüpfenden Fragen nach (Lebens)Gefühlen Verbindungslinien zu religiösen/ theologischen Sichtweisen zu suchen, die ebenfalls religiöse Gefühle zum Ausdruck bringen. Allerdings ist hierbei wichtig, die in wachsendem Maße medial 21 Vgl. ebd., 251 f. 22 Georg Langenhorst, Das Wort Gott – ein ›Wirkwort‹ (Andreas Knapp). Literarische SprachSchulungen für Theologie und Religionspädagogik, in: Frederike van Oorschot/Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (Öffentliche Theologie 36), Leipzig 2019, 127–142, hier 130.

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konnotierten und auch allgemeiner Verständlichkeit verfremdeten Kommunikationsformen von Jugendlichen nicht nur zuzulassen, sondern auch in wertschätzender Hinsicht gemeinsam zu dechiffrieren – soweit diese das selbst zulassen. Auch die umgekehrte Herangehensweise ist sinnvoll und hat sich seit Jahren als erfolgreich erwiesen: Das Verlebendigen biblischer Texte im Bibliolog beispielsweise demonstriert eindrucksvoll, dass emotionale Annäherungen an biblische Figuren als Deutungsversuche des Eigenen möglich sind. Zugleich eröffnet dies hermeneutische Räume, in denen eine Versprachlichung religiöser Gefühle des Suchens, Sich-erklärens, Deutens und In-Frage-Stellens auf dialogische und damit auch individuelle Perspektiven korrigierende Weise praxisnah durchgeführt werden kann. Auch dies ist eine zukunftsweisende Option für Jugendliche, ihre (religiösen) Gefühle zur Sprache zu bringen und dabei zugleich an traditionelle Räume religiöser Sprache herangeführt zu werden und diese nicht nur als verständlich, sondern auch als lebensdienlich zu erfahren.

Dr. Elisabeth Naurath ist Professorin für Evangelische Religionspädagogik mit Schwerpunkt Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg.

Digitale Sprachbildung im Religionsunterricht Anja Graf

1 Digitalisierungskatalysator Corona Die Covid-19-Pandemie wirkt sich unmittelbar auch auf den Religionsunterricht an deutschen Schulen aus und rückt zwei zentrale Aspekte in den Vordergrund: Obwohl die Gesetzeslage das Angebot eines (konfessionellen) Religionsunterrichts gut absichert, erscheint die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Bedeutung zunehmend rückläufig, denn nur zu bereitwillig wurde der Religionsunterricht seit März 2020 auf reine Online-Angebote beschränkt oder an vielen Schulen völlig vom Stundenplan gestrichen. Hier klingt eine der zentralen Fragen an, die sich auch im religionspädagogischen Diskurs der vergangenen Jahre, u. a. angestoßen durch zahlreiche Studien und Medienbeiträge, die sich für ein Abschaffen des Religionsunterrichts aussprechen, oftmals und etwa von Pirner folgendermaßen formuliert wurde: Inwiefern hat »die christliche Tradition […] in unserer heutigen säkular-pluralistischen Gesellschaft überhaupt noch etwas Hilfreiches und Bedeutsames zu sagen […] – und […] in welcher Sprache [kann dies geschehen?]«1 Zweitens führte die pandemiebedingte Schließung der Schulen zu einer abrupten Umstellung auf ein digitales Unterrichten und drängte damit stärker denn je die Frage nach einem zielführenden Einsatz digitaler Medien im Religionsunterricht in den Fokus. Beide Themenfelder, nämlich der Zugang zu und die Anwendung von religiöser Sprache sowie die Digitalisierung des Religionsunterrichts, sind aktuell und jeweils für sich durchaus breit besprochen, das Zusammenspiel beider Felder ist jedoch bislang noch kaum erforscht. Dieser Beitrag unternimmt nun den Versuch, etwaige Schnittstellen dieser Gebiete herauszuarbeiten und sich dabei folgenden Leitfragen anzunähern: Wie beeinflusst die voranschreitende Digitalisierung religiöse Sprache und welchen Beitrag kann 1 Manfred Pirner, Religiöse Bildung zwischen Sprachschulung und Übersetzung im Horizont einer öffentlichen Religionspädagogik, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 56.

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die Digitalisierung hinsichtlich Sprachbildung gerade in einem Religionsunterricht leisten, der sich zunehmend durch sprachliche Heterogenität auszeichnet? Um in einem zweiten Schritt an praxisorientierten Beispielen konkrete anwendungsbezogene Möglichkeiten einer digitalen Sprachbildung aufzuzeigen, werden zunächst in der gebotenen Kürze und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Schlaglichter auf die gegenwärtige Forschung geworfen.

2 Religiöse Sprache im Religionsunterricht 2.1 Religiöse Sprache als zentrale Herausforderung des Religionsunterrichts Sprache im weiteren Sinne erweist sich in Bezug auf interaktives Unterrichtsgeschehen als zentrales Medium, weshalb ein kompetenter Umgang mit Sprache zu den allgemeinen Bildungszielen der Schule gehört. Innerhalb des Religionsunterrichts kommt der religiösen Sprachfähigkeit im engeren Sinne eine zentrale Bedeutung zu, insofern sie eine wesentliche Ausdrucksform von Religion ist, gemeint ist also sowohl religiöses Sprechen als auch Reden über Gott. Mit Blick auf die Religionslehrenden meint dies mit Langenhorst, »verständlich von Gott [reden zu können]; diskursfähig [zu] sein […] [und] andere [zu] befähigen, ihrerseits religiöse Sprache verantwortungsbewusst und lebensstärkend anwenden zu können«2. Auf Schüler:innenebene wird es darum gehen, wie die Heranwachsenden befähigt werden können, religiöse Sprache in ihrer Multidimensionalität zu begreifen bzw. so wahrzunehmen, aufzunehmen und weiterzuentwickeln, »dass sie sie produktiv anwenden können«3. Denn letztlich gehört es zu den Kernanliegen des Religionsunterrichts, den Schüler:innen eine religiöse Deutung der Wirklichkeit zugänglich zu machen und ihnen angesichts einer Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Angebote die Perspektive christlicher Lebensorientierung aufzuzeigen.4

2 Georg Langenhorst, Über den Glauben Auskunft geben? In: Kontakt 12/2017, 10. 3 Ebd., 11. 4 Vgl. Lehrplan G8 für das bayerische Gymnasium, Fachprofil Katholische Religionslehre, http:// www.gym8-lehrplan.bayern.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26352 (Zugriff am 18.08.2020).

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2.2  Schwierigkeiten im Umgang mit religiöser Sprache Um dieses Bestreben umzusetzen, wird im aktuellen theologischen Diskurs vermehrt die Metapher des »Übersetzens« bemüht. Wer selbst einmal einen fremdsprachlichen Text übersetzt hat, kann nachempfinden, dass bei Übersetzungsvorgehen – sei es bei der Übersetzung von Wort zu Wort aber auch metaphorisch im Sinne eines Übersetzens soziokultureller Praktiken – stets ein Beschränken oder gar ein Verlust des ursprünglichen Aussagegehalts mitbedacht werden muss und »[d]ennoch sind Übersetzungen nötig und darum unausweichlich, um überhaupt kommunizieren zu können.«5 Was religiöse Sprache anbelangt, scheinen schon seit Jahrzehnten der »Topos von der Katholischen Zeitfremde« zu bestehen und ein Übersetzen und Reflektieren religiöser Sprachspiele und Praktiken dringlich und in digitalisierten Zeiten umso dringlicher zu sein.6 Hieran anknüpfend drängen sich unmittelbar zwei Fragen zur Klärung in den Vordergrund: Welchen Beitrag leistet die Digitalisierung zu diesem Prozess bzw. wie lässt sich Digitales gewinnbringend einsetzen, damit Übersetzungen im Religionsunterricht gelingen bzw. neue Ausdrucksformen entfaltet werden können?

3 Digitalisierung in der Schule 3.1  Gesellschafts- und schulpolitische Perspektiven Digitalisierung bezeichnet in einem weiteren Sinne die grundlegende Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft durch digitale Technologien, im engeren Sinne hingegen »den technischen Prozess der Wandlung von analogen in digitale Signale mit dem Zweck der Speicherung und (Weiter-)Verarbeitung«, wobei auch alle Prozesse der »Maschinisierbarkeit« einbezogen sind.7 Die Digitalisierung verändert die Produktion und Bereit- und Darstellung von Informationen, der Verstehensprozess der übermittelten Informationen gleicht dabei 5 Harald Schwillus, Räume eröffnen – Themen setzen. Zur Kommunikation von Religion im Museum mit Blick auf die Besucherinnen und Besucher, in: alte und neue Kunst (2009), 33– 45, hier 34 f. 6 Gregor Maria Hoff, Theologische Herausforderung. Religiöse Bildungsarbeit im Horizont postmodernen Denkens, in: Rudolf Englert/Stephan Leimgruber (Hg.), Erwachsenenbildung stellt sich religiöser Pluralität (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 6), Gütersloh/Freiburg 2005, 109–125, hier 109. 7 Bardo Herzig, Digitalisierung und Mediatisierung – didaktische und pädagogische Herausforderungen, in: Christian Fischer (Hg.), Pädagogischer Mehrwert? Digitale Medien in Schule und Unterricht (Münstersche Gespräche zur Pädagogik 33), 2017, 25–57, hier 29 f.

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jedoch weiterhin dem analogen,8 weshalb sich hinsichtlich digitaler Sprachbildung zunächst einmal auch dieselben Fragen ergeben, die jedoch durch neue, digitalspezifische ergänzt werden müssen. Auf die Schule bezogen lassen sich drei Bereiche benennen, die unter dem besonderen Einfluss der Digitalisierung stehen: Das sind (1) die gesellschaftlichen Veränderungen, die sowohl über die Kinder und Jugendlichen als auch die Lehrkräfte in die Schulen getragen werden, (2) die damit einhergehenden bildungspolitischen Entscheidungen und Verankerungen eines kompetenten Umgangs mit digitalen Medien im Unterricht und (3) die technischen Neuerungen selbst, die eine stetige Veränderung von Lehren und Lernen angestoßen haben und somit zu einer Neuausgestaltung bisheriger Bildungsaufträge drängen.9 3.2  Perspektiven der Lehr-Lernforschung Betrachtet man den dritten Aspekt, kann man auf eine Vielzahl empirischer Befunde zur Wirksamkeit digital unterstützen Lernens zurückgreifen, aus der sich auch Rückschlüsse für eine digitale Sprachbildung ableiten lassen. Darunter befinden sich etwa 4.600 Studien zur Lerneffektivität von Web-2.0-Technologien im Unterricht.10 Ohne hier detailliert auf zahlreiche Einzelbefunde eingehen zu können, lässt sich auf der Basis von Meta-Analysen grundsätzlich konstatieren, dass sich der Einsatz digitaler Medien positiv auf die fachlichen – auch sprachspezifischen – Leistungen auswirkt, wenngleich auch die Effektstärke in einigen Bereichen eher gering ausfällt.11 Mittlere bis große Effekte auf den Lernzuwachs lassen sich durch die von der Lehrkraft angeleitete Aktivierung der Lernenden u. a. durch Lernvideos, Übungen mit Feedback oder auch mit einer Webrecherche erzielen, eher geringere Erfolge hingegen hinsichtlich des Erwerbs von Faktenwissen, bei Präsentatio-

  8 Vgl. Michael Kerres, Digitalisierung als Herausforderung für die Medienpädagogik: »Bildung in einer digital geprägten Welt«, in: Christian Fischer (Hg.), Pädagogischer Mehrwert? Digitale Medien in Schule und Unterricht, Münster 2017, 85–103, hier 87.   9 Birgit Eickelmann, Digitalisierung in der schulischen Bildung. Entwicklungen, Befunde und Perspektiven für die Schulentwicklung und die Berufsbildung, in: Neele McElvany/Franziska Schwabe/Wilfried Bos/Heinz G. Holtappels (Hg.), Digitalisierung in der schulischen Bildung. Chancen und Herausforderungen (IFS Bildungsdialoge 2), Münster 2018, 11–25, hier 13. 10 Vgl. Heike Schaumburg, Empirische Befunde zur Wirksamkeit unterschiedlicher Konzepte des digital unterstützen Lernens, in: McElvany/Schwabe/Bos/Holtappels, Digitalisierung, 27–40, hier 27. 11 Vgl. ebd., 36.

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nen oder beim Einsatz von Lernprogrammen, die thematisch in den Unterricht eingebunden sind.12 Um die Qualität des jeweiligen Medieneinsatzes insgesamt besser beurteilen zu können, stellten Chi und Wylie das ICAP-Rahmenmodell vor, das auf der Grundannahme basiert, der Lernzuwachs erhöhe sich, wenn die Lernenden sich von einer passiven über eine aktive, dann konstruktive hin zu einer interaktiven Lernaktivität bewegen,13 was sich auch auf sämtliche Formen digitaler Sprachbildung übertragen lässt, deren Anliegen es ist, einen Zuwachs von Sprachfähigkeit zu evozieren. Daneben arbeitet Manfred Riegger auf Basis des SAMR-Modells, das Lehrkräften den Mehrwert des Einsatzes digitaler Medien auf funktionaler Ebene nachvollziehbar aufzuzeigen versucht, vier Dimensionen heraus: Substitution (Ersetzen analoger Medien durch digitale), Augmentation (Erweiterung und funktionale Verbesserung traditioneller Medien durch digitale), Modification (Veränderung und Neugestaltung von Lernszenarien) und Redefinition (Neubelegung und Ausgestaltung bislang unvorstellbarer Aufgaben). Diese können zunächst einmal für religiöse Bildungsprozesse reflektiert werden.14 Lohnenswert scheint es, dieses Modell konkret hinsichtlich digitaler Sprachbildung im Religionsunterricht durchzudeklinieren, was dieser Beitrag jedoch nicht leisten kann. Auch auf die Frage, wie eine digitalisierte Bildung der Sprachbildung konkret dient bzw. welche (auch technischen) Rahmenbedingungen hierfür nötig sind, geben jüngste Forschungsbeiträge Auskunft. So berücksichtigt die Pisa-Studie im Jahr 2018 erstmalig die sich verändernde Lesepraxis, die mit der vielfachen Verwendung digitaler Medien zur Speicherung und Kommunikation von Texten einhergeht. Dabei lag der Fokus auf der Fähigkeit, die Glaubwürdigkeit von Texten beurteilen bzw. Widersprüchlichkeiten mehrerer (Online-)Quellen erkennen und abwägen zu können. Daneben wurde auch getestet, wie gut es Jugendlichen gelingt, Informationen durch das Navigieren auf Webseiten zu gewinnen.15 In den vergangenen Jahren sind zudem einige Studien und Beiträge samt methodisch-didaktischer Konkretisierung, die u. a. eine digitale Förderung des Zuhörens, Schreibens oder auch Lesens thematisieren, publiziert worden.16 Auch 12 Vgl. Manfred Riegger, Handlungsorientierte Religionsdidaktik 2, Stuttgart 2019, 255. 13 Vgl. Michelene T. H. Chi/Ruth Wylie, The ICAP framework: Linking cognitive engagement to active learning outcomes, in: Educational Psychologist 49 (4/2014), 219–243. https://chilab. asu.edu/papers/ChiWylie2014 (Zugriff am 22.08.2020). 14 Vgl. Riegger, Religionsdidaktik, 258 f. 15 Vgl. ebd. 16 Eine Zusammenstellung an Beiträgen findet sich u. a. auf der Homepage des Mercator-Instituts für Leseförderung und Deutsch als Zweitsprache: https://www.mercator-institut-sprach-

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klassische Modelle der Sprachförderung, wie das CORI-Programm (ConceptOriented Reading Instruction), das von einem Team um John Guthrie entwickelt worden ist und als eines der wirksamsten Programme zur Leseförderung gilt, finden dabei Berücksichtigung und werden mit Hinweisen auf digitale Tools und Websites angereichert.17 Auch zu erwähnen sei hier überleitend zu den konkreten Handlungsfeldern digitaler Sprachbildung einer der bekanntesten sprachsensiblen Unterrichtsansätze, das sprachbezogene Scaffolding. Der Zweitspracherwerbsforschung entlehnt lassen sich einige Kernideen dieses Konzepts auch für die (digitale) Sprachförderung im Religionsunterricht fruchtbar machen. Zunächst schätzt die Lehrkraft im Sinne dieses Ansatzes das sprachliche Potenzial der Lernenden ein und konfrontiert diese anschließend mit sprachlichen und fachlichen Anforderungen, »die vom Schwierigkeitsgrad her ein wenig über dem bereits erreichten Kompetenzniveau angesiedelt sind«18. Scaffolding heißt dann konkret, dass die Lücke zwischen dem, was ein:e Lernende:r bereits kann und dem, wozu er mit Unterstützung befähigt werden soll, »durch eine entsprechende Unterrichtsplanung und Unterrichtsinteraktion überbrückt wird«19. Scaffolding nach Gibbons setzt sich aus Bedarfsanalyse, Lernstandsanalyse und Unterrichtsplanung sowie aus der Unterrichtsinteraktion zusammen.20 Inwiefern dieser Ansatz gerade auch unter Einbezug digitaler Medien im Religionsunterricht gewinnbringend sein kann, wird im nachfolgenden Punkt 4 zur Sprache kommen.

4 Handlungsfelder digitaler Sprachbildung Es erfolgt nun eine Zusammenschau der bisher angeführten Erkenntnisse hinsichtlich der digitalen Sprachförderung im Religionsunterricht, um religionspädagogisch relevante Rückschlüsse abzuleiten, wobei sowohl die unter Punkt 3 aufgeführten gesellschaftlich-schulpolitischen Settings auf der Makroebene als foerderung.de/de/themenportal/themen-uebersicht/sprachsensibler-unterricht/ (Zugriff am 25.05.2021). 17 Vgl. Michael Becker-Mrotzek/Hansjakob Schneider u. a., Wirksamkeit von Sprachförderung, 100 ff., https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Publikationen/Expertise_Sprachfoerderung_Web_final_03.pdf (Zugriff am 25.05.2021). 18 Gabriele Kniffka, Scaffolding 1, Duisburg/Essen, 2010, https://www.uni-due.de/imperia/md/ content/prodaz/scaffolding.pdf (Zugriff am 30.01.2021). Vgl. auch den Beitrag von Green in diesem Band. 19 Ebd. 20 Vgl. Pauline Gibbons, Scaffolding Language, Scaffolding Learning: Teaching Second Language, Learners in the Mainstream Classroom, Portsmouth 2002, 121–137.

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auch die konkret religionspädagogischen bzw. -didaktischen Perspektiven auf der Mikroebene als Bezugsrahmen dienen. 4.1 Allgemeine Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprachbildung Grundsätzlich wirkt sich die Digitalisierung und der damit einhergehende rasante mediale Wandel massiv auf die Kommunikation in unserer Gesellschaft aus. »[D]ass damit die religiöse Sprache in einem noch höheren Maße als bisher betroffen sein wird […]«, hält Christian Danz für »unausweichlich.«21 Dabei wird die Sprachbildung grundsätzlich in mehrfacher Hinsicht beeinflusst: (1) Auf der Ebene der technischen Entwicklungen und den damit einhergehenden gewandelten Kommunikationsmöglichkeiten, die über digitale Medien erfolgen. Mit diesen neuen Kommunikationskanälen korrespondiert auch die Entwicklung des partizipativen Webs, in dem Inhalte nicht nur zur passiven Nutzung bereitgestellt werden, sondern zur orts- und zeitungebundenen Bearbeitung und Weiterentwicklung anregen. Hier setzen sprachtheoretische Überlegungen an, insofern die Digitalisierung vielfache Möglichkeiten bietet, sich Zugang zu religiösen Themen zu verschaffen, sich mit anderen darüber auszutauschen bzw. weltweit zu vernetzen und letztlich auch selbst produktiv-schöpferisch multimedial religiöse Inhalte zu erstellen, die wiederum zum Dialog mit anderen anregen. Andererseits muss stets auch bedacht und im Religionsunterricht reflektiert werden, dass die Qualität der (sprachlichen) Darstellungen im Netz nicht überprüft werden kann. Gleichzeitig sollte der Lehrkraft bewusst sein, welches religiöse (Halb-)Wissen die Jugendlichen durch Netzinhalte – sei es durch Chats- und Blogs, Clips, Serien oder Computerspiele – mit in den Religionsunterricht bringen und die sich unmittelbar auch auf deren Sprachfähigkeit auswirken. (2) Durch die neuen technischen Funktionen ändert sich auch die Darstellungsform von Sprache: Neben klassischen Anrufen sind nun auch Sprachnachrichten oder Videoanrufe möglich, was einen Zuwachs an Möglichkeiten im Bereich der Mündlichkeit bedeutet und mit einer Verlagerung zum gesprochenen Wort einhergeht. In dieses Bild fügen sich auch Podcasts, Hörbücher oder Apps von Zeitungen und Zeitschriften, die tagesaktuelle Beiträge oder andere Artikel vorlesen: Digitalisierung ermöglicht somit neue Formen mündlicher 21 Christian Danz, Sprache, Kommunikation, Religionsunterricht. Theologische Annäherungen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 21–36, hier 33.

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Sprachbildung. Ableiten lässt sich ferner, dass zwar mehr Nachrichten ausgetauscht22, lange Texte jedoch zunehmend geteilt und/oder durch prägnante Bilder bzw. Emojis unterstützt oder gar ersetzt werden, wobei es diese Icons mittlerweile zu allen Lebensbereichen – auch der Religion – gibt. Innerhalb der unterschiedlichen Kommunikationskanäle entwickeln sich neue Sprachspiele bzw. -felder mit z. B. chatspezifischen Begriffen, Abkürzungen und Bildern, für die die Religionslehrkraft sensibilisiert sein sollte. Inwiefern sich dieser Trend längerfristig positiv auf das Verständnis von Bildsprache und Symbolik auswirkt, ist bislang zu wenig erforscht. Gleichzeitig könnte Sprachbildung im Religionsunterricht genau hier ansetzen, um (neue) religiöse Ausdrucksformen zu ermöglichen. (3) Hier klingt bereits an, dass sich auch das Verstehen von und das Verständnis für (religiöse) und geschriebene Sprache verändert. Wenn die Devise Heranwachsender zunehmend lautet, sich mit weniger Text zu verständigen, wundert es kaum, dass seit einigen Jahren Studienergebnisse eine eindeutige Sprache sprechen: Viele Heranwachsende haben Probleme mit dem Textverständnis und der Anteil derer, die angeben, gedruckte Texte ähnlich dem Internetsurfen lediglich zu überfliegen und nur interessante Stellen zu beachten, nimmt konstant zu. Gerade wenn es ein Ziel des Religionsunterrichts ist, biblische Schriften zu lesen und Inhalte für sich bedeutsam zu machen, indem biblische Botschaften mit der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt in Verbindung gebracht werden, muss – wie oben erwähnt – ein kognitives Verständnis ermöglicht werden, das sprachliches Verstehen voraussetzt. 4.2  Religionspädagogische und -didaktische Anregungen Digitales Lesen

Vor dem geschilderten Hintergrund scheint es ratsam, die veränderten Lesetechniken zu berücksichtigen und neben einem konventionellen Lesen und damit Trainieren des analogen Textverständnisses, das nach wie vor und angesichts der beschriebenen Studienergebnissen sehr wichtig ist, auch neue digitale Formen des Lesens in den Unterricht zu integrieren. Hier ist nicht gemeint, Texte lediglich in digitaler Weise bereitzustellen, was aktuellen Forschungsergebnissen zufolge ohnehin nicht zielführend wäre, weil sich Inhalte, die auf gedrucktem Papier gelesen werden, leichter und nachhaltiger ins Gedächtnis einprägen 22 Vgl. JIM-Studie, Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger, 2019, 31, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2019/JIM_2019. pdf (Zugriff am 26.08.2020).

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und das Lesen »mit dem ganzen Körper« sich positiv auf das Leseverständnis auswirkt.23 Gemeint sind stattdessen vielmehr interaktive Texte mit HyperlinkFunktion oder Lese- und Bibel-Apps bzw. -spiele, wobei ein Vorteil digital dargebotener Texte darin besteht, dass die Schüler:innengruppen diese kollaborativ erschließen, bearbeiten und erweitern können. Die an staatlichen Schulen in Bayern verwendete Unterrichtsplattform mebis bietet hierzu einige Tools und Möglichkeiten bzw. entsprechende Tutorials für Lehrkräfte. Digitale (bild-)sprachliche Ausdrucks- und Umgangsformen

Wenn Sprechakte auf Social-Media-Plattformen, Games oder über Messengerdienste digital stattfinden, ist es sinnvoll, sich im Rahmen des Religionsunterrichts über die netzspezifischen Umgangsformen und Ausdrucksweisen auszutauschen. Nicht selten entgleisen im anonymen Rahmen des Internets verbale Äußerungen. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage gaben 94 Prozent in der Altersgruppe 14 bis 24 Jahre an, dass sie bereits mit Hassbotschaften in sozialen Netzwerken konfrontiert worden sind,24 jede:r fünfte Jugendliche hat laut der Jim-Studie 2019 schon selbst falsche oder beleidigende Nachrichten im Netz über andere verbreitet.25 Auch sollte ein Reflektieren darüber angeregt werden, wie man sich selbst im Internet durch Bildsprache oder Postings, die oftmals für alle zugänglich sind, darstellt bzw. welche Wirkung diese sowie entsprechende Kommentare dazu haben. Jüngste Erhebungen hierzu gehen davon aus, dass eine übermäßige Verwendung von sozialen Netzwerken wie Instagram, zu der immer mehr Jugendliche neigen, gravierende Folgen hinsichtlich der psychischen Verfasstheit nach sich ziehen können.26 Nutzung digitaler Medien zur Aneignung religiöser Termini

Ganz allgemein könnte das Sprechen über Religion sowie religiöses Sprechen – im mündlichen Wortsinn – durch das Einbinden neuer Techniken, die den Jugendlichen aus den neuen Kommunikationskanälen bekannt sind (Aufnahmen usw.), angeregt werden. Zur Aneignung religiöser Fachsprache gibt es z. B. 23 Vgl. Mathias Puddig, Die Digitalisierung verändert das Lesen, 2019, https://www.swp.de/politik/inland/die-digitalisierung-veraendert-das-lesen.-29435354.html (Zugriff am 26.08.2020). 24 Vgl. Landesamt für Medien Nordrein-Westfalen, Hate-Speech-Studie, 2016, https://www.medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/lfm-nrw/Service/Pressemitteilungen/Dokumente/2017/Ergebnisbericht_Hate-Speech_forsa-Mai-2017.pdf, (Zugriff am 25.09.2020). 25 Vgl. JIM-Studie, 49. 26 Vgl. Birgit Huber/Ines Imdahl, Jugend ungeschminkt – neuste Studienergebnisse, 2., https:// www.ikw-jugendstudie.org/wp-content/uploads/2019/04/19_0402_Storyline_Insta_DE.pdf (Zugriff am 29.08.2020).

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die Möglichkeit, Web-Recherchen oder Web-Quests zu spezifischen Themen anzuleiten. In gängigen Religionsbüchern, so weist Schulte nach, werden »[d]ie Arbeit an und der Umgang mit biblischen Texten als grundlegende Einführung in die christlich-religiöse Sprache ausgewiesen«27. Dabei regen die Aufgaben sowohl zum Übersetzen und kognitiven Erschließen der Inhalte in (jugendliche) Alltagssprache an bzw. ermutigen die Schüler:innen sich subjektiv-individuelle Deutungen und Zugänge zur Religion zuzutrauen. Insgesamt setzt das Angebot auf den kommunikativen Austausch der Jugendlichen untereinander und bezieht überwiegend handlungs- und produktionsorientiere Methoden mit ein.28 Hier erweist sich ein gezielter Einsatz digitaler Medien als besonders gewinnbringend, insofern dieser besondere Potenziale für die Gestaltung aktiver und kollaborativer Lernformen aufweist und zur Stärkung eines individualisierten, selbstgesteuerten Lernens beitragen kann. Auch die Ergebnisse der Lerneffektivität mit einbeziehend sei hier exemplarisch auf das Drehen von (Lern-)Videos oder Bild-Ton-Präsentationen (z. B. via Spark-Video) verwiesen. Während die Jugendlichen in einem ersten Schritt Informationen zu ihrem Thema recherchieren, werden sie in einem zweiten Schritt Texte ausformulieren, die sie beim Aufnehmen des Clips verlesen. Die Gruppe wird sich aus der produktionsorientierten Situation heraus selbst die Frage nach möglichen (neuen) Ausdrucksformen und angemessener religiöser Sprache stellen. Gleichzeitig findet Sprachbildung und Kodierung im Gedächtnis auch auf der bildlichen Ebene statt, insofern die multimediale Darstellungsweise sich nicht nur auf Text und Ton erstreckt, sondern auch eine dritte, bildliche Ebene der Auseinandersetzung mit einer Thematik erfordert. Auch einige Grundgedanken des oben kurz skizzierten Scaffoldings lassen sich für den Religionsunterricht zur sprachlichen und fachlichen Förderung religiöser Kompetenzen nutzen. Dabei scheint es allerdings eine immer größer werdende Herausforderung zu sein, den »Ist-Stand« der Klasse (Bedarfs- und Lernstandsanalyse) festzulegen, insofern auch gerade hinsichtlich religiösen Vorwissens von heterogenen Religionsgruppen ausgegangen werden muss. Durch den gezielten Einsatz digitaler Medien wie Apps oder andere Plattformen kann dem angemessen begegnet werden. Es gibt mittlerweile zahlreiche Zusammenstellungen und Übersichten, die unterschiedlichste Tools und Anwendungen für alle Phasen des Unterrichts auflisten. So lassen sich zur Aktivierung (Einstieg) 27 Vgl. Andrea Schulte, Religion übersetzen im Kontext religiöser Sprachbildung und Kommunikation im Religionsunterricht, in: Frederike van Oorschot/Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (ÖTh 36), Leipzig 2019, 112–124, hier 121. 28 Vgl. ebd., 121 f.

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und zum Prüfen des Vorwissens beispielsweise Abstimmungs- oder Brainstorming-Tools verwenden (z. B. Mentimeter oder Padlet) oder bei Erarbeitungsphasen kollaborative Tools (z. B. CryptPad). Vertiefen und Üben kann man mit unterschiedlichsten Quiztools (z. B. Kahoot!, LeaningApps.org), aber auch interaktiven Arbeitsblättern u. Ä. (H5P-Plugins). Sichern lässt sich u. a. über zahlreiche Präsentationstools (z. B. prezi) und Videos, um hier nur wenige Beispiele anzuführen.29 Bei einem exemplarischen Lernquiz, das z. B. mit LearningApps.org erstellt wird, ist es problemlos möglich, (bild-)sprachliche Hilfestellungen einzubinden, die sich bei Bedarf abrufen lassen. So könnte – vereinfacht dargestellt – die Arbeitsanweisung in einer 7. Klasse (Gym) lauten, dass die sieben abgebildeten Symbole den Sakramenten zugeordnet werden sollen. Falls die Lehrkraft annimmt, der Begriff »Sakrament« würde manchen Schwierigkeiten bereiten, kann sie diesem vorab eine (digitale) Erklärung hinterlegen. Es ließe sich aber auch z. B. ein biblischer Text mit Hyperlinks versehen, um zahlreiche erklärende Zusatzinformationen zu Namen, Begriffen oder auch Orten einzufügen. Im Sinne eines produktionsorientierten Ansatzes kann ein solcher Arbeitsauftrag auch in umgekehrter Weise erteilt werden, sodass die Lernenden in Gruppen selbst (biblische) Texte mit Hyperlinks versehen, wodurch eine vertiefte Auseinandersetzung mit Themen, Termini, aber auch historischen Gegebenheiten und somit auch das Aneignen einer angemessenen Ausdrucksweise induziert werden sollen. Freilich wäre es verkürzt und verfehlt, Scaffolding mit dem Bereitstellen von (sprachlichen) Arbeitshilfen gleichzusetzen. Der Ansatz ist viel komplexer und setzt sich aus zahlreichen Einzelkomponenten zusammen. Diese vollständig im Religionsunterricht umzusetzen, soll auch nicht als Leitziel propagiert werden und würde überdies auch nicht dem realistischen Planungsalltag von Lehrkräften entsprechen. Hier sollten vielmehr abschließend Anregungen gegeben werden, wie Ergebnisse der Spracherwerbsforschung in Kombination mit dem Einsatz digitaler Medien gewinnbringend für die Sprachförderung im Religionsunterricht sein können.

29 Eine ausführliche Übersicht siehe auch: https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/ de/themenportal/thema/sprachliches-lernen-digital-sprachsensibel-unterrichten/ (Zugriff 02.02.2021).

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5 Ausblick Digitale Sprachbildung kann im Religionsunterricht auf mehreren Ebenen ablaufen: sprachfördernd, sprachbildend und sprachreflektierend. Wenngleich auf lebensweltlicher als auch unterrichtsdidaktischer Ebene digitale Sprachbildungsprozesse – unterschiedlich reflektiert – bereits stattfinden, fehlen bislang sowohl empirische Studien als auch wissenschaftstheoretische Ansätze hierzu. Folglich mangelt es an didaktischen Konzepten und konkreten Handreichungen für Religionslehrende. Ebenso sollten bereits in die Ausbildung von Lehrkräften digitalspezifische Elemente implementiert werden. Eine digitale Sprachförderung im Religionsunterricht ist sicher nicht das »Heilmittel« für die lange schon diskutierten Sprachbarrieren. Allerdings bieten sich durch technische Werkzeuge einerseits neue Möglichkeiten der Sprachförderung und andererseits erweitert die allgemeine Veränderung der Sprache durch digitale Medien den Religionsunterricht um ein weiteres wichtiges Themengebiet, das es mit Schüler:innen zu reflektieren gilt.

Anja Graf ist Lehrerin für Deutsch und Katholische Religionslehre am Gymnasium Grünwald, Lehrbeauftrage am Lehrstuhl für Didaktik des katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik der Universität Augsburg.

Leichte Sprache? Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht David Faßbender

1 Einleitung Die Auseinandersetzung mit biblischen Texten ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für den Religionsunterricht. Die Schwierigkeiten für Schüler:innen im Umgang mit Bibeltexten sind vielfältig: Unverständlichkeit, ein fehlender Bezug zur eigenen Lebens- und Erfahrungswelt oder eine wahrgenommene Unglaubwürdigkeit seien hier nur als Beispiele genannt.1 Eine Möglichkeit, die sprachliche Unverständlichkeit von Bibeltexten zu verringern, stellt die Verwendung von Bibeltexten in Leichter Sprache im (inklusiven) Religionsunterricht dar.2 »Leichte Sprache ist eine Varietät des Deutschen, die im Bereich Satzbau und Wortschatz systematisch reduziert ist. Ebenso systematisch ist die Reduktion mit Bezug auf das Weltwissen, das für die Lektüre vorausgesetzt wird. Außerdem zeichnen sich Leichte-Sprache-Texte durch eine besondere Form der visuellen Aufbereitung aus.«3

1

Eine umfassende Thematisierung von Schwierigkeiten im Bibelunterricht findet sich bei Michael Fricke, »Schwierige« Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe (Arbeiten zur Religionspädagogik 26), Göttingen 2005. 2 Für diesen Artikel wird von der derzeitigen Praxis an weiterführenden Schulen ausgegangen, die für den Religionsunterricht an Regelschulen die Einheitsübersetzung bzw. Lutherbibel/ BasisBibel vorsieht. Wird im Artikel von Ausgangstext gesprochen, so ist hier eine dieser Übersetzungen gemeint. Gleichwohl können Bibeltexte in Leichter Sprache auch für Schüler:innen ohne Förderbedarf sinnvoll eingesetzt werden, z. B. für Schüler:innen mit Deutsch als Zweitsprache. Zum Kreis der Adressat:innen von Texten in Leichter Sprache vgl. Ursula Bredel/ Christiane Maaß, Duden: Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen. Orientierung für die Praxis, Berlin 2016, 139–180. 3 Christiane Maaß, Leichte Sprache. Das Regelbuch (Barrierefreie Kommunikation 1), Berlin 2015, 11 f.

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Die Systematik der Reduzierungen und visuellen Aufbereitung ist durch entsprechende Regelwerke zur Erstellung von Texten in Leichter Sprache vorgegeben.4 Wurde das Prinzip der Leichten Sprache zunächst aus der praktischen Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten heraus entwickelt, um diesen einen besseren Zugang zu Informationen zu ermöglichen, so ist in den vergangenen Jahren zunehmend eine (vorwiegend sprach)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik zu beobachten. Ähnliche Entwicklungen sind hinsichtlich der Verwendung von Texten in Leichter Sprache im Unterricht festzustellen. Auch hier wurde das Prinzip insbesondere im Kontext der Inklusion in die Praxis übernommen. Allerdings zeigt sich hierbei, dass die Gestaltung der Unterrichtmaterialien in vereinfachter Sprache in der inklusiven Unterrichtspraxis in der Regel durch die Lehrkraft selbst vorgenommen werden muss und die Umsetzung häufig eher intuitiv und ohne Berücksichtigung der aktuell diskutierten formalen Vorgaben Leichter Sprache erfolgt.5 Neben dieser Beobachtung lässt sich für Religionslehrkräfte in Bezug auf die Erstellung von Bibeltexten in Leichter Sprache eine weitere spezifische Problemstellung feststellen: Aufgrund des besonderen Stellenwertes der Bibel als Heilige Schrift besteht bei einem Teil der Lehrkräfte eine große Verunsicherung über die Zulässigkeit eigenständiger Übertragungen.6 An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass eine entsprechende Erstellung veränderter Bibeltexte zulässig, eine intensive exegetische Auseinandersetzung im Rahmen dessen allerdings zwingend geboten ist, um den Texten und ihrer Bedeutung gerecht zu werden. Ein bloßes intuitives Abhandeln der Regeln genügt nicht, um für den Unterricht geeignete Bibeltexte zu erarbeiten. Dieser Problemstellung möchte der Aufsatz begegnen, indem anhand vier verschiedener Funktionen von Leichter Sprache Überlegungen zur Gestaltung von Bibeltexten in Leichter Sprache für den Unterricht aufgezeigt werden. Diese werden anschließend anhand eines Textbeispiels umgesetzt.

4 Eine Übersicht verschiedener Regelwerke bieten Bredel/Maaß, Duden, 82–116. 5 Vgl. Judith Riegert/Oliver Musenberg, Zur didaktischen Bedeutung Leichter Sprache im inklusiven Unterricht, in: Bettina M. Bock/Ulla Fix/Daisy Lange (Hg.), »Leichte Sprache« im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung (Kommunikation – Partizipation – Inklusion 1), Berlin 2017, 387–399, hier 388. 6 Zu umfassenden Überlegungen zur Umsetzung der Regeln für Bibeltexte in Leichter Sprache vgl. David Faßbender, Barrierefreie Bibel, in: Pastoralblatt 66 (2014), 259–265.

Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht

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2  Funktionen von Leichter Sprache im inklusiven Unterricht 2.1 Partizipationsfunktion Ausgehend von der inklusiven Grundidee, durch das Schaffen von Informationsangeboten möglichst »allen Gesellschaftsmitgliedern – unabhängig von ihren kognitiven oder sprachlichen Voraussetzungen – eine umfassende Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen«7 zu ermöglichen, entwickelten sich die Regelwerke für Leichte Sprache. Die Partizipationsfunktion kann somit als grundlegende Funktion von Texten in Leichter Sprache verstanden werden. Häufig wird von Befürworter:innen der Leichten Sprache davon ausgegangen, jede Textform und jeder Inhalt ließe sich durch die Übertragung so darstellen, dass eine universell leicht verständliche Textwelt entstehen könne, die niemandem Schwierigkeiten bereite, wobei übersehen wird, dass die sprachliche Veränderung eines Ausgangstextes immer auch mit einer inhaltlichen Veränderung einhergeht.8 Wollen Texte in Leichter Sprache inhaltlich möglichst viele Informationen eines Ausgangstextes enthalten, sind gemäß der Regelwerke viele zusätzliche Erklärungen und Beispiele zu geben, die die Texte zwingend länger machen.9 Für den inklusiven Religionsunterricht genügt es nicht, nur die Partizipationsfunktion von Bibeltexten in Leichter Sprache in den Blick zu nehmen, da sie die Situation des Unterrichts übersieht. Schüler:innen sind im Unterricht nicht darauf angewiesen, einen Text selbständig, vollumfänglich und allein zu erschließen und zu verstehen. Allerdings ist darauf zu achten, dass Bibeltexte in Leichter Sprache möglichst viele der Informationen enthalten, die auch im Ausgangstext enthalten sind. 2.2  Sprachliche Lernfunktion Als Erwiderung zur zuvor formulierten Fehlannahme, Texte in Leichter Sprache könnten einen Ausgangstext vollumfänglich ersetzen, muss die sprachliche Lernfunktion verstanden werden.10 Maßgeblich ist es hierbei, dass die Nutzung von Texten in Leichter Sprache keine Zielnorm darstellt, »sondern sie kennzeichnet einen bestimmten Stand des Wissens und Könnens, der aber perspektivisch zu   7 Bredel/Maaß, Duden, 56.   8 Vgl. Bettina M. Bock, Anschluss ermöglichen und die Vermittlungsaufgabe ernst nehmen. 5 Thesen zur Leichten Sprache, in: Didaktik Deutsch 38/2015, 9–17, hier 11 f.   9 Vgl. Bredel/Maaß, Duden, 56. 10 Vgl. ebd., 56 f.

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überwinden ist.«11 Die Möglichkeit eines weiteren sprachlichen Kompetenzerwerbs ist bei der Übertragung von Texten in Leichte Sprache mitzudenken. Sprachliche Bildung in der Schule ist diesbezüglich nicht nur als Aufgabe der Fächer Deutsch, Deutsch als Zweitsprache oder des Fremdsprachenunterrichts zu verstehen. Hinsichtlich des Erstellens von Texten in Leichter Sprache für den inklusiven Unterricht ist daher eine entsprechende Absprache mit den Fachlehrkräften dieser Fächer notwendig. Ebenso sollte die sprachliche Entwicklung der Schüler:innen und die dafür geeigneten Differenzierungsmaßnahmen in der Förderplanung für alle Fächer mitgedacht werden. Hierdurch kann es geboten sein, vermehrt von Regeln der Leichten Sprache abzuweichen. So können beispielsweise Bibeltexte in verschiedenen Schwierigkeitsstufen entstehen. 2.3 Brückenfunktion Im Zusammenhang mit der sprachlichen Lernfunktion kann die Brückenfunktion von Texten in Leichter Sprache verstanden werden. Im Sinne der Hinführung zur Nutzung der Ausgangstexte können Texte in Leichter Sprache dabei helfen, vorübergehende oder lokale Verstehensprobleme mit Ausgangstexten zu beheben, indem sie zusätzlich zu diesen angeboten werden und somit eine parallele Nutzung durch Hin- und Herspringen zwischen ihnen möglich wird.12 Hierzu ist eine möglichst weitgehende Nähe zwischen den Texten notwendig.13 Für den inklusiven Religionsunterricht, in dem sowohl die Ausgangstexte als auch Bibeltexte in Leichter Sprache im Sinne eines Differenzierungsangebots eingesetzt werden, ist daher diese notwendige, möglichst weitgehende Nähe zwischen den Texten zwingend zu beachten. 2.4  Fachliche Lernfunktion Konnten aus den vorangegangenen, allgemeinen Funktionen von Texten in Leichter Sprache bereits einzelne Überlegungen für die Realisierung des Prinzips in Unterrichtsmaterialien abgeleitet werden, so muss für den unterrichtlichen Einsatz von Bibeltexten in Leichter Sprache zwingend auch eine fachliche

11 Bock, 5 Thesen, 12. 12 Vgl. Bredel/Maaß, Duden, 57. 13 Vgl. ebd.

Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht

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Lernfunktion bedacht werden, auf Grundlage derer sich zusätzliche Anforderungen an die Gestaltung dieser Texte ergeben.14 Ergibt sich aus der Partizipationsfunktion bereits, dass Bibeltexte in Leichter Sprache möglichst viele der Informationen enthalten, die auch im Ausgangstext enthalten sind, so kann hinsichtlich der fachlichen Lernfunktion formuliert werden, dass Bibeltexte in Leichter Sprache möglichst nicht mehr Informationen enthalten, als auch im Ausgangstext enthalten sind. Bibeltexte werfen auch bei Regelschüler:innen Verstehensprobleme auf. Diese bieten die Möglichkeit zu Frageanlässen und Unterrichtsgesprächen, an denen sich auch jene Schüler:innen, die die Texte in Leichter Sprache lesen, beteiligen können sollten. Zudem ist zu beachten, dass der Aufbau eines biblischen und religiösen Vokabulars durch den Religionsunterricht angestrebt werden sollte. Somit muss ein Text nicht frei von für die Schüler:innen ungewohnten oder unbekannten Begrifflichkeiten sein. Vielmehr kann es eine Aufgabe im Unterricht sein, dass Schüler:innen für entsprechende Begrifflichkeiten, die nach den Regeln der Leichten Sprache einer zusätzlichen Erklärung bedürfen, eigene Erklärtexte und Definitionen entwickeln, die sich aus dem vorherigen Unterrichtsgeschehen heraus entwickeln lassen.15 Für die Umsetzung eines Textes spielt darüber hinaus die konkrete Unterrichtssituation eine entscheidende Rolle. Welche Kompetenzen sollen im Unterricht erworben werden? Welche inhaltlichen Schwerpunkte sollen durch den Bibeltext erarbeitet werden? Hier kann eine Reduzierung der inhaltlichen Komplexität eines Textes durch Weglassungen einzelner weniger relevanter Informationen geboten sein. Hierzu muss die Lehrkraft ihren Unterricht in den Blick nehmen und überlegen, auf welche Aspekte eines Textes sie ihren Fokus legen will. Auch die beabsichtigte Nutzung von zusätzlichem Material, beispielsweise Schulbüchern, ist in dieser Hinsicht mitzudenken. Hier ist es notwendig, die Anschlussfähigkeit der neu entstandenen Texte auf die Aufgabenstellungen für die Schüler:innen zu prüfen.

14 Für die Beachtung einer zusätzlichen Funktion von Texten in Leichter Sprache für den Unterricht plädieren auch Riegert und Musenberg mit Blick auf den Einsatz von Literatur und das Fach Geschichte. Vgl. Riegert/Musenberg, Didaktischen Bedeutung, 392. 15 Zu einem Konzept zur Nutzung der Prinzipien der Leichten Sprache zur Entwicklung eigener Erklärtexte für religiöse Begriffe durch Schüler:innen vgl. Julia Kraft/Stefan Altmeyer, Sag’s doch einfach! … In deinen eigenen Worten, in: KatBl 142 (2017), 281 ff.

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3  Bibeltexte für den Religionsunterricht übertragen Die zuvor aufgeführten Überlegungen zu den Funktionen der Leichten Sprache, insbesondere zur fachlichen Lernfunktion, werden anhand des Beispieltextes Mk 12,29–31 und seines Einsatzes im katholischen Religionsunterricht der bayerischen Mittelschule in der 6. Jahrgangsstufe konkretisiert. Für diese Konkretisierung wird die Arbeit mit dem Schulbuch »himmlisch 6« angenommen.16 Zudem wird für die Erarbeitung parallel die Textversion der Bibel in Leichter Sprache genutzt.17 Die Texte des Projekts sind nach eigener Aussage für Verkündigung und Katechese entwickelt worden und stellen daher eine Form von Bibeltexten in Leichter Sprache dar, die nicht allen oben aufgeführten Funktionen von Leichter Sprache für den Unterricht genügen, da sie eine andere Anwendungssituation in den Blick nehmen. Dennoch können sie bei der Übertragung für den Unterricht eine Hilfestellung bieten oder eine weitere Schwierigkeitsstufe eines Textes neben der Einheitsübersetzung und eigens entwickelten Texten darstellen. Die Perikope Mk 12,29–31 findet sich in den Inhalten des Lehrplans für die 6. Jahrgangstufe in zwei Lernbereichen wieder.18 Die Schüler:innen sollen in Lernbereich 6.1 anhand des Textes christliche Werte und Normen für Gemeinschaften thematisieren, indem sie in biblischen Erzählungen grundlegende Verhaltensregeln für menschliches Zusammenleben entdecken, die in Gott begründet sind. In Lernbereich 6.3 dient der Text dazu, die Person Jesu Christi als Offenbarung von Gottes Liebe zu Mensch und Welt zu verstehen. Die Doppelseite des Schulbuchs leitet mit einem kurzen Text ein, in dem beschrieben wird, dass Jesus viel über die bedingungslose Liebe seines göttlichen Vaters gesprochen hat, und stellt die Frage, ob diese Erzählungen Jesu eine Bedeutung für das Verhältnis von Menschen untereinander haben. Nach der anschließenden Präsentation des Bibeltextes aus der Einheitsübersetzung wird in dem Dreischritt »Gott lieben – Den Nächsten lieben – Sich selbst lieben« eine Vertiefung der Botschaft des Textes durch verschiedene Aufgaben angeregt. Aufgrund dieser Aufteilung und Benennung der einzelnen Formen der Liebe wird deutlich, dass die schwierig erscheinende Begrifflichkeit des Nächsten im Text enthalten bleiben muss. Sie regt die Frage an, was unter Nächstenliebe als 16 Vgl. Andrea Kabus/Klaus König (Hg.), himmlisch 6. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an der Mittelschule, Berlin 2019, 60 f. 17 Vgl. Dieter Bauer/Claudio Ettl/Sr. M. Paulis Mels, Bibel in Leichter Sprache. Evangelien der Sonn- und Festtage im Lesejahr B, Stuttgart 2017, 182. 18 Der LehrplanPlus für die bayerische Mittelschule ist abrufbar unter: https://www.lehrplanplus. bayern.de/fachlehrplan/mittelschule/6/katholische-religionslehre (Zugriff am 19.09.2020).

Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht

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christlichem Fachbegriff verstanden werden kann. Ein weiterer Fachbegriff des Textes, der in der Bibel in Leichter Sprache durch eine Umschreibung aufgelöst wird, ist der des Gebotes. Auch hier besteht für den Unterricht durch eine Beibehaltung des Begriffs im Text die Möglichkeit, eine Definition gemeinsam mit den Schüler:innen zu erarbeiten und so religiöse Sprache zu erlernen. Fraglich ist die im Ausgangstext vorhandene Formulierung »Höre, Israel«, da sie ohne Weiteres nicht von den Schüler:innen verstanden werden dürfte und sie im Sinne der Intention der Lernbereiche nicht zwingend notwendig erscheint, um das Gebot der Gottesliebe zu verstehen. Es können berechtigte Gründe herangezogen werden, sie an dieser Stelle aufzulösen, wie es im Text des Evangeliums in Leichter Sprache getan wurde. Für die beispielhafte Übertragung für den Unterricht wurde sie hier aus folgenden Gründen beibehalten: Durch die parallele Nutzung mit dem Text der Einheitsübersetzung in einem inklusiven Unterricht ist davon auszugehen, dass auch die Schüler:innen, die diesen Text lesen, hier Verstehensschwierigkeiten haben werden, die im Unterrichtsgespräch durch die Lehrkraft aufgegriffen werden können. Hierbei ist die Beachtung der Brückenfunktion von Texten bei gleichzeitiger Verwendung der Ursprungstexte zu berücksichtigen. Zusätzlich hierzu bietet der alttestamentarische Bezug der Stelle durch das Zitat von Dtn 6,4 und seine Bedeutung als Schma Israel in der jüdischen Glaubenspraxis eine Gelegenheit für einen Transfer in einem späteren Lernbereich der 6. Jahrgangsstufe der Mittelschule, in dem die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens thematisiert werden (LB 6.5). Bei der bloßen Verwendung eines Textes in Leichter Sprache, beispielsweise an Förderschulen mit Förderschwerpunkten, in denen die Verwendung der Einheitsübersetzung bzw. Lutherbibel/Basisbibel die Regel darstellt, ist eine Auslassung dieses Aspektes leichter zu rechtfertigen. In der Unterrichtsplanung muss sich die Lehrkraft im Vorfeld Gedanken darüber machen, in welchem Umfang sie auf Verstehensschwierigkeiten eingehen möchte, die nicht wesentlich zum Verständnis des intendierten Aspekts im Lernbereich beitragen. Gerade hier kann das eigene Erstellen eines Textes in Leichter Sprache auch Lehrkräften eine neue Begegnung mit den Bibeltexten und eine Bewusstwerdung von möglichen Schwierigkeiten und Möglichkeiten für den Unterricht ermöglichen. Ausgehend von den vorstehenden Überlegungen lässt sich folgender Text (rechte Spalte) entwickeln und im Unterricht einsetzen:

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Didaktische Konkretionen

Einheitsübersetzung19

Evangelium in Leichter Sprache20

Beispiel für den Unterricht

[Jesus wird gefragt:] »Welches Gebot ist das erste von allen?«

Einmal ging ein Religionsgelehrter zu Jesus. Der Religionsgelehrte fragte Jesus: Was ist das Wichtigste, wenn ich nahe bei Gott sein möchte?

Jesus wird gefragt: Welches Gebot ist das wichtigste?

Jesus antwortete:

Jesus sagte: Bei Gott sind 2 Sachen ganz wichtig:

Jesus antwortet:

Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.

Die erste wichtige Sache ist: Es gibt nur einen einzigen Gott. Diesen einzigen Gott sollst du lieben. Du sollst ihn mit deinem ganzen Herzen lieben. Und mit deiner ganzen Seele. Und mit deiner ganzen Kraft. Und mit allen deinen Gedanken.

Die erste wichtige Sache ist: Höre zu, Israel. Unser Gott ist der einzige Herr. Darum sollst du deinen Gott lieben. Du sollst Gott mit deinem ganzen Herzen lieben. Und mit deiner ganzen Seele. Und mit allen deinen Gedanken. Und mit deiner ganzen Kraft.

Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

Die zweite wichtige Sache ist: Du sollst zu allen Menschen gut sein. Und alle Menschen lieben. Genauso wie du zu dir selber gut bist. Und dich selber lieb hast.

Die zweite wichtige Sache ist: Du sollst deinen Nächsten lieben. Genauso wie du dich selbst liebst. Diese beiden Gebote sind wichtig. Kein Gebot ist wichtiger.

4  Mit Leichter Sprache ist es nicht getan Bibeltexte in Leichter Sprache sind kein »Wunderwerkzeug« für einen inklusiven Religionsunterricht. Sie stellen eine Möglichkeit dar, das Medium Bibeltext einem Teil der Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten zugänglich zu machen. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass der Schriftspracherwerb bei weitem nicht allen Schüler:innen im inklusiven Religionsunterricht möglich ist. Das selbständige Lesen und Erfassen von Texten allein ermöglicht nur eine 19 Entnommen aus Kabus/König, himmlisch 6, 60. 20 Bauer/Ettl/Mels, Bibel, 182.

Wege zu einer inklusiven Arbeit mit biblischen Texten im Unterricht

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abstrakt-begriffliche Aneignung des Inhaltes. Inklusiver Religionsunterricht nimmt, wie idealerweise auch jeder andere Unterricht, zusätzlich basal-perzeptive, konkret-handelnde und anschaulich-modellhafte Aneignungsformen in den Blick.21 Selbstverständlich ist, dass das Gelingen des Unterrichts anhand dieser Texte von den methodisch-didaktischen Entscheidungen der Lehrkraft abhängig ist. Für den Unterricht in Leichte Sprache übertragene Texte berücksichtigen diesen von der Lehrkraft geplanten Unterricht und nehmen die zusätzlich zum Bibeltext eingesetzten Materialien und angedachten Methoden mit in den Blick. Zudem gilt es, die individuellen Fähigkeiten der Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten und die Förderung ihrer sprachlichen Entwicklung ebenso wie die inhaltliche Schwerpunktsetzung bei der Thematisierung des jeweiligen Textes zu beachten. So kann es gelingen, geeignete Texte für den Unterricht zu entwerfen. Das Problem hierbei bleibt, dass entsprechende Texte derzeit von den Lehrkräften vor Ort für ihren Unterricht und auf die Schüler:innen passend übertragen werden müssen, da eine Auswahl von Bibeltexten in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und auf die Lehrpläne abgestimmten Kompetenzerwartungen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen fehlen. Dieses Problem birgt aber auch die Möglichkeit der erneuten Auseinandersetzung mit einem neuen Blick auf Bibeltexte durch Lehrkräfte. In diesem Zusammenhang könnte auch über die Möglichkeit der Übertragung von Bibeltexten in Leichter Sprache als Methode für den Unterricht an weiterführenden Schulen nachgedacht werden. So könnte die Auseinandersetzung mit religiöser Sprache, aber auch die Vielfalt von Bibelübersetzungen im Unterricht thematisiert werden, wenn Schüler:innen mithilfe eines Regelsystems eigene Versuche von Übertragungen vornehmen, losgelöst vom inklusiven Anspruch des Prinzips der Leichten Sprache.

David Fassbender ist Wissenschaftlicher Referent für den Bereich Mittelschule am Religionspädagogischen Zentrum in Bayern (RPZ) in München.

21 Vgl. Wolfhard Schweiker, Arbeitshilfe Religion inklusiv. Basisband: Einführung, Grundlagen und Methoden, Stuttgart 2012, 41–44.

Sprachsensibler Religionsunterricht an Beruflichen Schulen in Klassen ohne Deutschkenntnisse Matthias Gronover und Hanne Schnabel-Henke

Der folgende Text stellt erfahrungsbasierte Erkenntnisse aus dem Religionsunterricht für Jugendliche mit Fluchterfahrungen dar. Dazu beschreibt er zunächst die Herausforderungen, die ab 2015 für vorwiegend berufliche Schulen zu bewältigen waren, die viele Jugendliche mit Fluchterfahrungen aufnahmen (1). Daran anschließend werden die religionsdidaktischen Herausforderungen, die sich daraus ergaben, als gesamtschulische Aufgaben konturiert. Es wäre eine Verkürzung, bestimmte Wertorientierungen und deren Be- und Erarbeitung allein dem Religionsunterricht zuzuschreiben. Die Erfahrung zeigt, dass andere Fächer und vor allem die Jugendlichen davon profitieren, wenn die Bildung und Erziehung zu Toleranz, Friede und Gerechtigkeit gemeinsam angegangen werden. In diesem Abschnitt werden konkrete Module vorgestellt, die für die Schüler:innen anhand von Fallbeispielen exemplarisch Spracherwerb ermöglichen und vertiefen und zugleich religiöse Kompetenz entwickeln (2). Im dritten Abschnitt wird ein Modellprojekt für den Religionsunterricht in Baden-Württemberg in den sogenannten VABO-Klassen vorgestellt, das in verschiedenen Modulen sprachsensible religiöse Bildung anbietet (3).

1 Herausforderungen in VABO-Klassen am Beispiel ­ Baden-Württembergs Im Zuge der im Jahr 2015 stark gestiegenen Zuwanderung nach Deutschland (»Flüchtlingskrise«) kamen viele Jugendliche und junge Erwachsene ins Land, zum Teil mit ihren Familien, zum Teil allein und unbegleitet.1 Damit diese jungen Geflüchteten eine Perspektive für ihren Aufenthalt in Deutschland, für ihre private und berufliche Zukunft bekommen, ist das Erlernen der deutschen Sprache unabdingbar. In dieser Absicht, jugendlichen Migrant:innen Deutschkenntnisse zu vermitteln und sie gleichzeitig zur Teilhabe am gesellschaftlichen 1

Für einen Überblick: Tim Müller, Sind die Sorgen berechtigt? Fakten zur Integration von Geflüchteten, in: ThPQ 165 (2017), 36–47.

Klassen ohne Deutschkenntnisse

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und beruflichen Leben zu befähigen, wurden an den Berufsschulen in BadenWürttemberg sogenannte VABO-Klassen eingerichtet.2 VAB bezeichnet die Schulform »Vorqualifizierungsjahr Arbeit und Beruf« und ist für Schüler:innen eingerichtet, die unter 18 Jahre alt sind, keinen Hauptschulabschluss haben und auf den Einstieg in das Berufs- und Arbeitsleben vorbereitet werden sollen. Die Abkürzung VABO bezeichnet die Sonderform für Schüler:innen »ohne Deutschkenntnisse«. In VABO-Klassen werden seit dem Schuljahr 2015/16 vorwiegend jugendliche Migrant:innen und Geflüchtete unterrichtet, die zwischen 14 und 20 Jahre alt sind, auf den Einstieg in das Berufsleben vorbereitet werden und gleichzeitig Deutschkenntnisse erwerben sollen. Waren es bei der Einführung der VABO-Klassen noch um die 500 Lerngruppen, so sind im Schuljahr 2020/21 noch ca. 200 solcher Klassen eingerichtet, mit Klassengrößen zwischen 15 und 18 Schüler:innen. Der Anteil der über 18-Jährigen ist groß und erwartungsgemäß ist die Heterogenität der Schüler:innenschaft im Hinblick auf die soziodemografischen Merkmale wie Nationalität und Religionszugehörigkeit hoch: Die Schüler:innen stammen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. So kommen die meisten aus Syrien, gefolgt vom Irak, Iran, aus Albanien, Afghanistan und Eritrea. Bezüglich der Religionszugehörigkeit überwiegen die sunnitischen Muslim:innen in diesen Klassen, gleichzeitig gibt es Jesid:innen, Alevit:innen, Schiit:innen, koptische Christ:innen genauso wie vereinzelt Schüler:innen aus christlichen Freikirchen und Erweckungsbewegungen, Sikhs, Hindus und Angehörige anderer Religionen. Diese Heterogenität zeigt sich auch im bildungsbiografischen Hintergrund der Teilnehmenden, der vom Analphabetismus bis zum Schulabschluss, von abgeschlossenen Berufsausbildungen bis zum begonnenen Hochschulstudium reicht. Unterschiede sind auch in Bezug auf die kulturelle Prägung des Herkunftslandes vorhanden, die psychische Situation, die Unterbringung am Wohnort, die familiäre Situation, die Fluchterfahrungen und mögliche Traumata. Allen Schüler:innen ist jedoch gemeinsam, dass sie grundlegende Deutschkenntnisse erwerben und die westeuropäisch geprägte Kultur Deutschlands kennenlernen sollen, mit dem Ziel, die Anschlussfähigkeit an das Bildungs- und Berufssystem zu erhalten. Das heißt: in eine Regelklasse zu wechseln, einen Schulabschluss zu erlangen oder mit einer Berufsausbildung zu beginnen. Die Stundentafel für VABO-Klassen weist explizit 15 Wochenstunden Deutschunterricht aus, zusätzlich sind für Mathematik, Englisch, Lebensweltbezogene Kompetenz mit Gemeinschaftskunde und Berufsorientierung weitere 2 In anderen Schularten oder in anderen Bundesländern werden diese Klassen »Integrationsklassen« oder »Internationale Förderklassen« genannt.

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Didaktische Konkretionen

9 Stunden veranschlagt; das Fach Religionslehre ist mit einer Stunde berücksichtigt.3 Sprachförderung ist dabei die Aufgabe aller Unterrichtenden in allen Unterrichtsfächern. Für den Übergang in die Regelschule oder die Berufsausbildung müssen – über die Alltagssprache hinausgehende – bildungssprachliche Kompetenzen erworben werden, die abstraktere Ausdrucksmöglichkeiten erlauben und zum Verständnis komplexer grammatischer Strukturen befähigen. Dies ist notwendig, um die zunehmende Komplexität der Bildungsinhalte abzubilden und zu kommunizieren, wie sie im Rahmen einer Berufsausbildung oder Berufstätigkeit vorausgesetzt werden.4 Um diese sprachliche Kompetenz aufzubauen, ist es aus lernpsychologischer Sicht sinnvoll, an Alltagssituationen und der ihnen eigenen Alltagssprache anzuknüpfen und diese als Brücke der Sprachvermittlung hin zur Bildungssprache einzusetzen.5 Wenn seither der – für das Ankommen in der beruflichen und gesellschaftlichen Lebenswelt notwendige – Spracherwerb in den Fokus gerückt wurde, so ist doch festzuhalten, dass Schüler:innen in VABO-Klassen, gerade aus Perspektive des Religionsunterrichts, nicht nur als auf dem Arbeitsmarkt zu Vermittelnde, sprachlich zu Befähigende und gesellschaftlich zu Integrierende betrachtet werden, sondern als Schutz- und Orientierungssuchende in einem fremden kulturellen Umfeld. Als Stichworte zur Kennzeichnung dieses Umfelds seien genannt: ein individualisiertes Freiheitsverständnis, Konsumorientierung, Familienvergessenheit, verhaltene Gastfreundschaft, eine hohe Anforderung an die Selbstorganisation – auch im schulischen Alltag. Der Religionsunterricht in VABO-Klassen knüpft an derart geprägte Alltagssituationen an und akzentuiert die Identitätsbildung und Lebensbewältigung junger Migrant:innen.

3 Stundentafel siehe: https://www.schule-bw.de/themen-und-impulse/migration-integrationbildung/vkl_vabo/vabo/svb/svb-vabo2018-regelungen.pdf#page=4 (Zugriff am 13.10.2020). 4 Vgl. https://www.schule-bw.de/themen-und-impulse/migration-integration-bildung/bildungssprache (Zugriff am 13.10.2020). Der »Leitfaden VABO« gibt die Zielsetzungen vor: Alltagsbewältigung, interkulturelle Bildung, Integration und Zukunft/Perspektive: https://www.schule-bw.de/themen-und-impulse/migration-integration-bildung/vkl_vabo/vabo/leitfaden-vabo/ leitfaden-vabo/2018_leitfaden-vabo.pdf#page=18 (Zugriff am 13.10.2020). 5 Vgl. Margarete Ott, Zweitsprachler in der Sekundarstufe, in: Bernt Ahrenholz/Ingelore Oomen-Welke (Hg.), Deutsch als Zweitsprache, Hohengehren/Baltmannsweiler 42017, 189–199.

Klassen ohne Deutschkenntnisse

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2 Religionsdidaktische Herausforderungen im Religions­ unterricht mit Jugendlichen mit Fluchterfahrungen Die religionsdidaktischen Herausforderungen in VABO-Klassen bestehen genau genommen nicht in trennscharf umrissenen, religionsspezifischen Schwierigkeiten und Fragestellungen, sondern in allgemeinpädagogischen und schulpädagogischen Fragen. Die im vorherigen Abschnitt gezeigten Fallzahlen weisen darauf hin, dass in einzelnen Schulen mit der Bildung von VABO-Klassen eine große Zahl von Schüler:innen aufgenommen und geschult werden muss, die sprachliche und kulturelle Codes der Mehrheitsgesellschaft erlernen müssen. Deswegen besteht die Herausforderung darin, im für die Klassen zuständigen Kollegium zunächst eine gemeinsame Zielvorstellung zu entwickeln, wie die Vermittlung sprachlicher und gesellschaftlicher Normen didaktisch sinnvoll erfolgen kann. In diesem Kontext bekommt der Religionsunterricht eine besondere Bedeutung, weil die Erfahrung in Baden-Württemberg zeigt, dass die Wertvorstellungen von geflüchteten Menschen oft untrennbar mit religiösen Einstellungen und ihrem Glauben verbunden sind. Es wäre aber entschieden zu kurz gegriffen, diese Erkenntnis allein auf den Religionsunterricht zu projizieren und dabei andere allgemeinbildende Fächer nicht zu berücksichtigen. In VABO-Klassen ist deswegen religiöse Bildung doppelt entgrenzt: zum einen, weil die Themen des Religionsunterrichts oft nicht spezifisch religionsbezogene Themen sind, sondern sehr auf die Erziehung und Bildung zu Frieden und Toleranz abzielen und vor allem die Wertebildung betreffen. Zum anderen, weil auch von den anderen Fächern die Kenntnis der grundsätzlichen Merkmale von Islam, Christentum und Judentum notwendig ist, um Schüler:innen mit Fluchterfahrungen in ihren Haltungen und Einstellungen verstehen zu können. Deswegen ist die interkulturelle Pädagogik in ihrer Zielformulierung für diesen Gesamtzusammenhang wichtig. Es geht ihr um die Erziehung zu Toleranz und Akzeptanz, die am besten dort gelinge, wo es ein Wissen um die Unterschiedlichkeit kultureller und religiöser Prägungen gebe, bei gleichzeitiger Betonung der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen.6 Insofern sich die Schulgemeinschaft an diesen normativen Vorgaben orientiert, werden die Zielvorstellungen interkulturellen Lernens in der Schule in den verschiedenen Unterrichtsfächern der VABO-Klassen ganz unterschiedlich pointiert in den Bildungsprozess eingebracht. Neben dem Abbau von Unkenntnis über die je anderen, fremden Menschen geht es dann um die Ermöglichung neuer Perspek6 Vgl. Doron Kiesel, Art. Interkulturalität/ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration, in: WiReLex (2020), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200620/ (Zugriff am 13.10.2020).

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Didaktische Konkretionen

tiven auf die gegebenen Befremdungen, um diese eventuell auch als kulturelle und religiöse Bereicherung wahrnehmen zu können. Die Intention hinter solchen Einübungen von Perspektiven ist der vernünftige Umgang miteinander, sodass auch Minoritäten in der Schulgemeinschaft und später in der Gesellschaft geschützt werden und mit ihnen verantwortlich umgegangen wird. Ein wichtiger Teil dieser Bemühungen ist immer, den Umgang mit Konflikten einzuüben. Dabei sind die Wahrnehmungen von Schüler:innen mit Fluchterfahrungen stets zu berücksichtigen. Diese sind selbstverständlich immer geprägt von ihren kulturellen, religiösen und sozialen Herkünften. So ist das Aufwachsen in einer Großfamilie von der großartigen Erfahrung von familiärer Geborgenheit und Solidarität geprägt, die gleichzeitig aber auch die Pflicht zur Loyalität beinhaltet. Diese Erfahrung müssen die jungen Menschen dann mit der Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland in Einklang bringen, wonach jeder Mensch vor allem sich selbst und der direkten Kernfamilie verpflichtet ist. Hier ist die Identität im Individuum begründet, wohingegen die Identität von geflüchteten Menschen sich stark über soziale Netzwerke definiert. Entsprechend divergieren die Ziele von Erziehung ganz erheblich: Während Schüler:innen mit Fluchterfahrung von der (oft väterlich geprägten) Erziehung als Anpassung an vorgegebene kulturelle und religiöse Normen berichten, zielt die Erziehung der Mehrheitsgesellschaft mehr auf die Persönlichkeitsentwicklung.7 Während im einen kulturellen Kontext gilt, auch Sachprobleme vor dem Hintergrund bestehender sozialer Netzwerke zu lösen – wodurch Beziehungen Vorrang vor einer etwaigen Problemlösung bekommen –, steht in der Schule die Lösung der Aufgabe meist vor der Pflege von Beziehungen. Geschult wird, individuelle Befähigungen und Kompetenzen zu entwickeln, weniger also kollektive Interessen zu erfüllen. Wenn man im Kollegium diese grundsätzlich verschiedenen Wahrnehmungsmuster nicht thematisiert und ernst nimmt, haben die Schüler:innen mit Fluchterfahrung wenig Chancen, die damit einhergehenden Dissonanzen ihrer Wahrnehmung folgenreich bearbeiten zu können. Unter Umständen führt das dann dazu, dass selbst vermeintlich erfolgreiche Bildungskarrieren im Rückblick äußerst kritisch auf das Schulsystem schauen.8

7 Vgl. zu diesen Mustern die als Reaktion auf die Flüchtlingskrise erarbeitete Handreichung des baden-württembergischen Sozialministeriums: Aktion Jugendschutzlandesarbeitsstelle Baden-Württemberg (Hg.), Zwangsverheiratung geht uns alle an! Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention und Intervention, Stuttgart 22016. 8 Vgl. Melisa Erkurt, Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben, Wien 2020.

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3  Unterrichtspraktische Umsetzung Der Beitrag des Religionsunterrichts in diesem gesamtschulischen Bildungsprozess ist also von zwei Perspektiven zu betrachten. Zum einen kommt es auf die Religionslehrkräfte und deren Sichtweise in der Benennung von religiösen und kulturellen Differenzen an, um sie im Kollegium zu diskutieren und als gesamtschulische Aufgabe zu begreifen.9 Zum anderen wird es im konkreten Religionsunterricht darum gehen, anhand exemplarischer religiöser Themen zur Kompetenzentwicklung mit Blick auf die Erziehung zu Friede, Gerechtigkeit und Toleranz beizutragen. Die spezifischen religionsdidaktischen Herausforderungen hierbei lassen sich wie folgt umreißen: Im Hinblick auf die Lerngemeinschaft im Religionsunterricht wurde weiter oben betont, dass die Einhaltung von Regeln (z. B. »Ich lasse andere ausreden.«; »Ich artikulierte Ich-Botschaften.«; »Ich beleidige niemanden.« usw.) unbedingt eingeübt und durchgesetzt werden muss. Weil der Unterricht einen Schwerpunkt auf Spracherwerb legt, bezieht sich dieses Kriterium nicht nur auf den sozialen Umgang, sondern auch auf das korrekte Sprechen. Außerdem sollten auch im Religionsunterricht Tugenden wie Pünktlichkeit, Rücksichtnahme, Mäßigung und Gerechtigkeit eingeübt und ihre Einhaltung eingefordert werden. Dazu gehört dann auch, Schüler:innen, die regelmäßig den Unterricht stören oder zu spät kommen, entsprechend den schulischen Vorgaben zu sanktionieren. Mit Blick auf Inklusion und Diversitätsorientierung im Religionsunterricht ist die religionsdidaktische Hermeneutik von der Lerngemeinschaft her auf die Lerngemeinschaft hin nochmals besonders bedeutsam. Auch hier geht es darum, deutlich zu machen, dass allen Menschen dieselbe Würde zukommt. Gerade in VABO-Klassen mit vielen jungen Männern ist dabei die Geschlechterdifferenz ein vorrangig zu bearbeitendes Thema, um patriarchalische Stereotypen aufzubrechen. In der Themensetzung des Religionsunterrichts können Themen interreligiös behandelt werden, die auch alltagspraktische Relevanz haben: das alltägliche Gebet, die jeweilige Heilige Schrift als Sinn-Ressource, die Trennung von Religion und Staat in der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der oben genannten Denkformen, die Schüler:innen mit Fluchterfahrungen mitbringen, ist jedes dieser Themen potenziell konfliktbehaftet. So muss beispielsweise das Verhältnis von Koran und Grundgesetz geklärt werden, die Möglichkeit der Ausset9 Vgl. Marie Schwinning, Integration von jungen Geflüchteten durch Bildung und Teilhabe, in: KatBl 141 (2016), 229–233.

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zung religiöser Gebote aufgrund besonderer Umstände vermittelt werden (beispielsweise, dass man auch in der Fastenzeit bei schweren Tätigkeiten tagsüber Wasser trinken darf) und dass religiöse Gesetzgebungen rechtliche Regelungen nicht außer Kraft setzen können. Interreligiöses Lernen ist in VABO-Klassen ein Prinzip, das vor allem die beiden Aspekte Erfahrungsaustausch (in der deutschen Sprache) und Perspektivenübernahme in den Blick nimmt. Denn in der Regel treffen sich in VABOKlassen Schüler:innen aus sehr unterschiedlichen Herkunftsländern aus ganz verschiedenen kulturellen Kontexten. Der Religionsunterricht kann hier die Möglichkeit geben, unterschiedlichste Erfahrungen mit Religion zur Sprache zu bringen und zu moderieren. Begegnungen werden so lebendig und die oben genannten Regeln und Tugenden eingeübt. Dabei wird es immer wieder darauf ankommen, andere Perspektiven anzubieten, diese einzuüben und auch einzunehmen. Im Frühjahr 2016 entstand eine von der Diözese Rottenburg-Stuttgart, dem Katholischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik und dem Evangelischen Institut für Berufsorientierte Religionspädagogik sowie dem Institut für Religionspädagogik Freiburg getragene Projektgruppe, die eine erste Konzeption zum Verhältnis von religiöser Bildung und der Arbeit mit Flüchtlingen in Schulen ausarbeiten sollte. Die Herausforderung war groß, weil noch wenige Erfahrungswerte für eine bewährte Praxis vorhanden waren. Zugleich konnte aber durch die Befragung von Kolleg:innen, die in Vorbereitungsklassen arbeiteten, die keine oder wenig Deutschkenntnisse hatten, sichergestellt werden, die zentralen Herausforderungen anzugehen und eine Didaktik aufzubauen, die in diesen Klassen trägt. Als Grundlage dienten die oben beschriebenen Erfahrungen, anhand derer folgende Themen identifiziert und aus denen Module erarbeitet wurden:10 Ȥ Autorität (Matthias Gronover) Ȥ Gemeinsam erleben (Tobias Zugmaier) Ȥ Anderen Religionen begegnen (Katerina Murillo Soberanis) Ȥ Mit Pluralität von Beziehungsformen umgehen (Hanne Schnabel-Henke) Ȥ Gastfreundschaft leben (Jörn Peter Hauf)

10 Vgl. IRP/KIBOR/EIBOR (Hg.), Vertraute Welten – Fremde Welten. Materialien für den Religionsunterricht in VABO-Klassen. Sonderthemen im Religionsunterricht online, 2018, abrufbar auf den Homepages der Institute, z. B. https://www.irp-freiburg.de/alte-seiten/neues/ projekt-vabo/detail/nachricht-seite/id/96925-/?cataktuell=&stichwort_aktuell=&default=true (Zugriff am 25.05.2021).

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Diese Themen und die damit verbundenen Alltagsphänomene sind zuweilen nur abstrakt sprachlich zu erfassen: Wie ist im Kontext des Themas »Autorität« sprachsensibel und differenziert von Unterwerfung, von Gehorsam oder freiwilliger Unterordnung zu sprechen, oder wie ist beim Thema »Beziehungsformen« im Zusammenhang des Anbahnens von Beziehungen plumpe Anmache von angemessenem Kontaktknüpfen zu unterscheiden? Im genannten Band wird stark auf eine sprachlich reduzierte Darstellung sowie auf die Verwendung von Tabellen, Fotos, Comiczeichnungen und symbolischen Veranschaulichungen gesetzt. Bei den Arbeitsaufträgen werden die Schüler:innen ermutigt, zunächst in der Muttersprache vorzugehen und erst danach ins Deutsche zu übersetzen. Einzelne zentrale Begriffe werden am Ende einer Einheit als Lernwortschatz zusammengefasst. Methodisch-didaktisch vorgeschlagen werden Unterrichtsformen, die die gegenseitige Begegnung (Begegnungslernen), die sinnliche Erfahrung z. B. im Rollenspiel (szenisches Lernen) sowie die Selbstreflexion (biografieorientiertes Lernen) anregen. Der dem Band zugrundeliegende Ansatz ist darin konsequent subjektorientiert. Eigene Erfahrungen können und sollen eingebracht werden, und dies im Rahmen von Begegnungen, mit denen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme eingeübt wird, was insbesondere im Kontext des interkulturellen und interreligiösen Lernens eine zentrale Lernkomponente darstellt. Inhaltlich wird im Modul 1 »Autorität« das Spannungsverhältnis von Autonomie zu Gehorsam und Unterordnung aus christlicher Perspektive ausgelotet. Von Gott geschenkte Freiheit bewährt sich im menschlichen Miteinander darin, dass sie zum Dienst am Nächsten befreit. Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Autoritätspersonen sowie religiösen und weltlichen Geboten für das Zusammenleben wird angeregt. Das Modul 2 »Gemeinsam erleben« thematisiert Familienbilder und nimmt verschiedene Aufgaben und Rollen in den Blick, die in einer Familie und in der Gesellschaft übernommen werden: elterliche Fürsorge, Kindererziehung und -betreuung, religiöse Bildung und Erziehung. Modul 3 »Anderen Religionen begegnen« greift direkt eine mögliche Alltagserfahrung auf und thematisiert die positiven und negativen Aspekte der Religionsfreiheit in Deutschland, die Bürger:innen respektieren müssen. Hier wird darauf abgehoben, dass der gewaltfreie interreligiöse Dialog auf Basis der Menschenwürde und Nächstenliebe in Islam und Christentum Grundlage des Miteinanders – gerade von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit – ist. Modul 4 »Mit Pluralität von Beziehungsformen umgehen« greift Fremdheitserfahrungen angesichts der hierzulande gelebten Pluralität von Beziehungsformen auf und fragt zusammen mit den Schüler:innen nach Möglichkeiten, Beziehungen anzufangen, sowie nach den Kriterien für Umgangsformen von

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Mann und Frau in Beziehungen. Im Modul 5 wird das Thema »Gastfreundschaft« als ein in vielen Kulturen verankertes Phänomen dargestellt, das sich aus der Erfahrung der Fremdheit ergibt, sei es innerhalb oder außerhalb des Fluchtkontextes. Fremden zu helfen erweist sich als Kriterium gelebter Religion und zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise auch in der konkreten Aufnahme von geflüchteten Menschen in Unterkünften, Schulen und Gemeinden. Mit diesen Unterrichtsideen versucht der Moduleband, fremde Welten und vertraute Welten zu einem Ganzen zusammenfassen und gerade zugewanderten Gesellschaftsmitgliedern Einsicht in die Würde, Einzigartigkeit und Freiheit eines jeden Individuums zu vermitteln und ihnen gleichzeitig eine Perspektive für ihre Verantwortung für die Gemeinschaft zu geben – und zwar sprachsensibel unter Berücksichtigung der mitgebrachten sprachlichen Voraussetzungen mit dem Ziel der Bildung der Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit in der deutschen Sprache. Das Feedback aus der Unterrichtspraxis zeigt, dass bei den Schüler:innen der VABO-Klassen eine große Ansprechbarkeit für die Themen des Modulebandes vorzufinden ist und dass der Einsatz der Materialien einen subjektorientierten, schüler:innenaktivierenden und sprachfördernden Unterricht ermöglicht. Nach Wahrnehmung der Lehrpersonen gelingt dies umso besser, je konkreter die Inhalte mit den individuellen Lebenserfahrungen verknüpft werden können und je anschaulicher und handlungsorientierter die Umsetzungsbeispiele, Medien und Sozialformen gewählt werden. So erlauben gerade Rollenspiele, mit denen an konkrete Alltagssituationen angeknüpft wird, eine – unter Zuhilfenahme von Mimik und Gestik nicht zuletzt auch humorvolle – Auseinandersetzung mit problemhaltigen Themen, wofür im Unterrichtsgespräch die sprachlichen Voraussetzungen noch nicht ausreichend gewesen wären. Ganz ähnlich verhilft das szenische Nachstellen der Bilder- bzw. Fotogeschichten mit Spielfiguren (Playmobilmännchen), sinnlich erfahrbare Bezüge zur eigenen Lebenssituation herzustellen. Bewährt hat sich nach Aussage von Unterrichtenden auch die Idee, den Lernwortschatz in einem Wörterbuch anzulegen und themenbezogene Fachbegriffe z. B. mittels Kartenabfrage einzuüben und damit die Grundlage für die sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu legen. Schüler:innen aus VABO-Klassen wechseln nach dem Erreichen der A2Niveaustufe oft in andere Schularten des Berufsschulsystems, wie bspw. in die zweijährige Berufsfachschule oder die Teilzeitberufsschule, wo dann ähnliche Heterogenitätsvoraussetzungen vorhanden sind, die den Moduleband zur »Fundgrube« machen. Lehrpersonen, die mit dem Moduleband in VABO-Klassen arbeiten, berichten, dass dann auch in anderen Schularten gewinnbringend mit den Materialien unterrichtet werden kann, im Sinne eines Ideenpools für

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einzelne Unterrichtsstunden. Der Religionsunterricht erfährt dadurch nicht nur in VABO-Klassen eine Stärkung, sondern wird auch in anderen Schularten des Berufsschulsystems positiv in seiner Akzeptanz gestärkt.

Dr. Matthias Gronover ist apl. Professor am Katholischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik an der Universität Tübingen. Dr. Hanne Schnabel-Henke ist Studiendirektorin und Geschäftsführerin des Evangelischen Instituts für Berufsorientierte Religionspädagogik an der Universität Tübingen.

Sprachsensibler Religionsunterricht in der Grundschule. Grundannahmen – Erfahrungen – Schlussfolgerungen Rainer Oberthür

Im Anfang war das Wort, lesen wir in der Bibel (Joh 1,1). Sprache hat eine gewaltige Macht: zum Guten und Bösen, im Großen und Kleinen. Mit Rose Ausländer hoffe ich auf ihre gute Wirkung: »Ich glaube an die Wunder/der Worte/die in der Welt wirken/und die Welten erschaffen«.1 Dafür lohnt es immer wieder, sich stark zu machen. Die leitende These dieses Beitrags ist: Sprachsensibler Religionsunterricht in der Grundschule beginnt mit dem Nachdenken über die eigene religiöse Sprache und die Sprache des eigenen Unterrichts. Von daher ist dieser Beitrag als eine Art Reflexion meiner eigenen Praxis angelegt – in der Absicht, dass dieser Text die Selbstreflexion der Leser:innen anregen und sie zur Suche einer individuell stimmigen Form des sprachsensiblen Unterrichtens anregen möge.

1 Der Religionsunterricht als sensibler Ort für Sprache »Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹«2 Diese durch David Foster Wallace berühmt gewordene Parabel bezieht er in seiner Rede vor Studierenden darauf, dass die selbstverständlichsten und wichtigsten Tatsachen oft am schwersten zu erkennen und zu diskutieren sind. Die Geschichte lässt sich auch auf die Notwendigkeit von Sprache fokussieren, gerade dann, wenn es um das nicht Sichtbare und schwer Benennbare geht. »Sprache in all ihren Facetten … ist für Menschen wie Wasser für Fische. Der 1 Rose Ausländer, Glauben, in: dies., Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977–1979, Frankfurt a. M. 1984, 93. 2 David Foster Wallace, Das hier ist Wasser/This Is Water, Köln 2012, 9.

Sprachsensibler Religionsunterricht in der Grundschule

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Stoff unseres Denkens und Lebens, der uns formt und prägt, ohne dass wir uns seiner in Gänze bewusst wären.«3 Diese Analogie sieht Kübra Gümüsay als bildlichen Ausdruck der Macht von Sprache. »Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind … verwandelt die Welt als eine Dimension blinder kausaler Kräfte in eine Dimension verständlichen Geschehens.«4 Diesen Gedanken Peter Bieris (als Schriftsteller Pascal Mercier) sehe ich als Leitmotiv für Religionsunterricht, Fortbildung und das Schreiben als Autor:in. »Sprache« im weit verstandenen, nicht nur auf das Verbale beschränkten Sinne gehört zum Wesen des Menschseins. Die umfassende Fähigkeit, sich vielfältig sprachlich ausdrücken zu können, in Wort, Bild und Klang, in Gesten und Gebärden, in Mimik und anderen körpersprachlichen Formen und so miteinander in Beziehung zu treten, unterscheidet uns von den anderen Lebewesen. Der Philosoph Charles Taylor betrachtet und definiert den Menschen als das »sprachbegabte Tier«5 und betont, dass Sprache nicht nur die Welt erfasst und abbildet, sondern selbst die Welt erschafft, dass Wörter eben nicht nur beschreiben, sondern Bedeutungen schaffen. Die Welt erschöpft sich nicht im rein Faktischen. Jürgen Goldstein, ebenfalls Philosoph, stellt fest: »Der schöpferische Mensch überzieht die Welt mit einem Netz an Bedeutungen, das mithilfe der unterschiedlichsten Fäden geknüpft wird: aus Kunst, Wissenschaft, Mythos, Religion, Sprache, Geschichte und allem, was sich fortspinnen lässt«.6 Solche »Symbolnetze« (Ernst Cassirer) gilt es in besonderer Weise im Religionsunterricht miteinander zu knüpfen. Dabei sind die Einübung ins Verstehen metaphorischer Sprache und eigene Versuche metaphorischen Sprechens eine vordringliche Aufgabe, ohne die fast alles andere ins Leere läuft. Dabei kann der Religionsunterricht bei der Literatur zur Schule gehen, denn sie hat die Grenzen der Sprache immer im Blick, wie Anna Mitgusch feststellt: »Der Literatur ist die Sehnsucht nach dem Unsagbaren und der Grenzgang zwischen Sprache und Schweigen nicht auszutreiben. Ihre besten und bleibenden Werke halten an der Vorstellung einer Grenze des Sagbaren fest und unternehmen immer von neuem Versuche einer Annäherung an ein Mysterium, das mit Metaphern wie Horizont, Abgrund oder auch Geheimnis umschrieben wird.«7 3 4 5 6 7

Kübra Gümüsay, Sprache und Sein, München 2020, 11–25, hier 22. Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein, München 2017, 44 f. Vgl. Charles Taylor, Das sprachbegabte Tier, Berlin 2017. Jürgen Goldstein, Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen, Berlin 2017, 193. Anna Mitgusch, Die Grenzen der Sprache, St. Pölten/Salzburg/Wien 2013, 40.

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Didaktische Konkretionen

Auch der Umgang mit der Bibel profitiert von einem solchen Blick auf die heiligen Texte als Literatur, die Gottes Wort in Menschenworten offenbart. Was für das Menschsein gilt, intensiviert sich beim Blick auf den Menschen als ein transzendenzbegabtes Wesen, das der Wahrnehmung eines »Mehr« über die Tatsachen der Welt hinaus fähig ist und die Frage nach dem Woher und Wohin, nach Warum und Sinn, nach Geheimnis und Gott stellt. Sprache ist die Ausdrucksmöglichkeit von Religion und Glaube schlechthin. Religiöse Sprache lebt von Bildern, Metaphern und Symbolen, trägt den Mehrwert über das Benennbare hinaus in sich und lässt ihn uneinholbar mitlaufen. Religionsunterricht ist im tiefsten Kern das Verstehen, Erlernen und Anwenden religiöser Sprache. Sich selbst zur Sprache zu bringen und sich die Sprache der Religion in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu vergegenwärtigen und zu eigen zu machen, ist wesentliches Ziel religiöser Bildung. Religionsunterricht ist Sprachunterricht (Hubertus Halbfas). Ich sehe ihn in der Metapher des »Lebensplatzes« als Ort der großen Fragen und Suche nach Antworten, als Ort der Begegnung mit der Bibel sowie als Ort der Gottesfrage und -begegnung, Gottesahnung und -erkenntnis und deswegen in allem als Ort des sensiblen Umgangs mit (religiöser) Sprache. Die Frage nach und die Rede von Gott als Unverfügbaren, Unaussprechbaren und Unabbildbaren wird dabei zum Dreh- und Angelpunkt. Die »negative Theologie«, die von Gott nicht schon wissen will, wie er ist oder nicht ist, sondern eher, wie er sein kann oder könnte, und im paradoxen Sprachspiel vorsichtig tastend nach Gott sucht, weist uns den Weg. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahmen möchte ich exemplarisch Einblicke in mein Bemühen um einen sprachsensiblen Religionsunterricht in der Grundschule geben. Denn als Dozent für Religionspädagogik, Religionslehrer und Autor von Büchern zu philosophischen, theologischen und biblischen Fragen bin ich auf Tiefste in den Umgang mit Sprache verstrickt.

2 Erfahrungen mit der Sprachsensibilität von Kindern Kinder im Grundschulalter haben von sich aus eine hohe Aufmerksamkeit für Sprache. Wenige Jahre zuvor haben sie begonnen, Sprache zu erlernen, indem sie sich im Dickicht der Wörter an mögliche Bedeutungen herantasteten und ihren Sinn aus dem Kontext intuitiv erschlossen haben. So lernten sie nach und nach das Sprechen und lernen nun das Lesen und Schreiben. Besonders mit acht bis elf Jahren sind sie noch »Meister« im Umgang mit fremden Wörtern und haben schon eine hohe Sprachkompetenz erworben. Damit dieses Potenzial

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nicht verkümmert und der Prozess kreativ voranschreitet, brauchen sie Anregungen, also Sprach-Angebote in Worten, Bildern und Musik. 2.1  Selbst Worte finden Dementsprechend bin ich für mich persönlich, für Unterrichtende und für Kinder im Religionsunterricht auf der Suche nach »Worten«, die helfen können, sich selbst, das Leben und letztlich Gott zur Sprache zu bringen. Oft sind es kurze Texte, mit denen das eindrucksvoll gelingt, wie z. B. bei diesen drei Sprachimpulsen: 1. Das Gedicht »Kleine Frage« von Erich Fried bringt Menschen in jedem Alter auf die Spur eigener »großer Fragen«: »Kleine Frage // Glaubst du/du bist noch zu klein/um große/Fragen zu stellen? // Dann kriegen/die Großen/dich klein/noch bevor du/groß genug bist.« 8 Allein die erste Strophe bringt Kinder zum Nachdenken, was »große Fragen« sind, welche uns einfallen (konkrete Ebene) und was sie ausmacht (Metaebene). Wir kommen hinein in einen Modus des Fragens, Antwortens und des Weiterfragens, der erkennen lässt, dass die zentralen Fragen des Menschen niemals endgültig zu beantworten sind. 2. Das Bibelwort »Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß« (Psalm 31,13) hat bereits viele Kinder angeregt, persönliche Erfahrungen der eher seelischen Verletzung in eigene Sprachbilder umzusetzen. Ingo Baldermann hat diesen elementaren Weg zuerst beschritten, sich selbst in Worten der Bibel zu entdecken.9 Auch hier führt der Satz zur Metareflexion über die Aktualität »alter« biblischer Worte. 3. Die kurze chassidische Geschichte »Zwei Taschen« vermag zu helfen, gegensätzliche Erfahrungen von Ohnmacht und Allmacht, Grenze und Größe, Alltäglichkeit und Einzigartigkeit, Sterblichkeit und Ewigkeitshoffnung des Menschen gegeneinander abzuwägen und aufeinander zu beziehen: Die zwei Taschen/Ein jüdischer Lehrer, er hieß Rabbi Bunam, sprach zu seinen Schülern: »Jeder von euch muss zwei Taschen haben, um je nach Bedarf in die eine oder in die andere greifen zu können: In der rechten Tasche liegt das Wort, da liegt der Satz: ›Um meinetwillen ist die Erde erschaffen.‹ Und in der linken Tasche liegt das Wort, da liegt der Satz: ›Ich bin Erde und Asche.‹« 10   8 Erich Fried, Gesammelte Werke. Gedichte 2, Berlin 1993, 522.   9 Vgl. Ingo Baldermann, Wer hört mein Weinen. Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 1986. 10 Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1992, 746.

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Das Nachdenken über die beiden Aussagen lässt bereits Kinder erstaunliche eigene Sätzen für die zwei Taschen formulieren.11 Das Vergegenwärtigen der permanenten Balance zwischen den Extremerfahrungen lässt erkennen, was Menschsein bedeutet und wie eine menschenfreundliche Beziehung zu Gott aussieht (weder angst- noch wunschfixiert). Neben der Suche fremder Texte ringe ich um eigene Worte, die ich schon jungen Menschen anbieten kann, damit sie in mögliche Bedeutungen hineinwachsen. Das Konzept, nicht für Kinder eines bestimmten Alters zu schreiben, sondern ihnen einen Überschuss an Bedeutung zuzumuten, mit dem sie groß werden können, führte zu der Adressat:innenbeschreibung »für Kinder und alle im Haus«. Kinder wollen nicht sofort alles verstehen, was wir ihnen anbieten, sondern mit und an den Worten wachsen. Umgekehrt lesen auch Erwachsene Komplexes gern elementarisiert, also in einfacher Weise »verdichtet«. Schweres leicht und einfach zu sagen, ohne dass es falsch wird, ist tatsächlich schwer und vielleicht ein entscheidender Schlüssel für gelingende Bildung. Als Beispiel eigenen Suchens nach Worten beziehe ich mich auf das Projekt »So viel mehr als Sternenstaub«, denn dabei geht es um das »Nachdenken und Staunen über Gott« als Unverfügbaren.12 Zu 25 bereits existierenden farbigen Bildern von Marieke ten Berge (hier nicht abbildbar) schrieb ich jeweils eine Überschrift, Sprachbilder in acht Zeilen und wählte dazu einen Bibelvers. So entstand auf jeder Doppelseite ein Ensemble aus eigenständigen Elementen: Illustration, Text und Bibelvers können aufeinander bezogen werden und bei den Rezipient:innen verschiedenste Assoziationen auslösen und eigene Bedeutungen hervorrufen. Schauen wir auf Auftakt und Ende, zwei Texte ohne Bilder: MENSCHEN STAUNEN UND FRAGEN Stehst du auf der Erde und schaust du zum Himmel, erblickst du die Sterne und staunst über sie, dann kommen dir viele Fragen in den Sinn: Hat das Weltall ein Ende und wann war der Anfang? Warum gibt es die Welt und warum bin ich hier? Gab es mich vor meiner Zeit und wo bin ich danach? Gibt es GOTT wirklich und ist Gott im Himmel? Schaue im Leben immer nach oben – über dich hinaus! 11 Vgl. Rainer Oberthür, Die Seele ist eine Sonne. Was Kinder über Gott und die Welt wissen, München 2000, 49–55. 12 Vgl. Rainer Oberthür, So viel mehr als Sternenstaub. Nachdenken und Staunen über Gott, Stuttgart 2018.

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Du, mein GOTT, verlässt nicht die, die dich suchen und nach dir fragen. Psalm 9,11 (7) Am Anfang stehen die Fragen, die wir im Leben stellen und in denen wir auch die Frage nach Gott finden. Im Bibelwort ermutigt uns Gott zu suchen und zu fragen. Nach 25 Sprachversuchen heißt es am Ende: WEITER SUCHEN UND FRAGEN Und jetzt: Haben wir am Ende GOTT gefunden? Nein und ja: Wir haben Bilder und Worte gefunden, mit denen wir vom Geheimnis Gott sprechen können. Wir sind dem unendlichen Gott etwas nähergekommen, haben Wahres und Schönes und Gutes entdeckt, wie Teile eines Puzzles, wie Sandkörner in der Wüste und Sterne im All: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und das ist, wenn es um Gott geht, unglaublich viel!

Die Menschen sollten GOTT suchen, ertasten und finden, denn keinem von uns ist er fern. Ja, in Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Apostelgeschichte 17,27–28 (58) Auf die Frage nach dem Finden Gottes können wir theologisch nur zurückhaltend und paradox antworten. Dieses Erkennen lässt sich nur in Metaphern umschreiben, die winzige Ausschnitte als zugleich »viel« deuten. Zwischen Anfang und Ende liegt der Versuch einer Gotteserkundung in 25 miteinander verwobenen Schritten. Es geht z. B. um die Entdeckung Gottes im Wunder der Natur und des Menschen selbst, aber auch um die Abgrenzung von der Natur (»Gott ist nicht selbst die Welt, von Gott ist die Welt./Aber Gott ist in der Welt, sie kann uns von Gott erzählen«, 15), um das Verhältnis von Gott und Mensch und die Betonung des Geheimnisses (»Wir bleiben uns selbst und anderen immer ein Geheimnis./Die größte Frage und das ewige Geheimnis ist unser Gott!«, 21), um die Erfahrung Gottes in Stille, Liebe und Gerechtigkeit, um Grundlagen christlich-jüdischen Glaubens an Gott (Gottesname Jahwe, Jesus als Bild Gottes, Reich-Gottes-Botschaft). Auch das Zweifeln als notwendiger Aspekt des Glaubens kommt zur Sprache:

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ZWEIFELN UND GLAUBEN Gibt es GOTT wirklich? Hat Gott die Welt erschaffen? Wer zweifelt und solche Fragen stellt, kann wirklich glauben. Denn der Glaube braucht offene Gedanken ohne Grenzen. Damit wir aber nicht verzweifeln, brauchen wir Vertrauen. Wer glaubt, kann aushalten, dass wir nicht alles verstehen. Wer glaubt, vertraut darauf, dass am Ende alles gut wird. Solange ein Körnchen Hoffnung bleibt, ist Glauben möglich. Zum Glauben brauchen wir Geduld: mit uns und mit Gott! (25)

Im Vordergrund stehen unsere Möglichkeiten, ausgehend von Tatsachen der Welt das unverfügbare »Da-Sein« und Geheimnis Gottes in zahlreichen Sprachbildern zu umkreisen: GOTT IN DER HÖHE, MITTE UND TIEFE Tief im Meer wimmelt das Leben, bunt und vielfältig. Dort sind alle vom Wasser umgeben, wie wir von der Luft. Unsichtbar sind Luft und Wasser da und ermöglichen Leben. Auch GOTT ist um uns, ohne dass wir ihn sehen können. umgibt uns, ohne dass wir ihn begreifen können. Gott ist tiefer als das Meer und höher als der Himmel, heller als die Sonne und weiter als das All. Wir ahnen Gott hoch über uns, mitten unter uns, tief in uns! (51)

Schreiben ist für mich ein Komponieren und Intonieren von Worten, die einen guten Rhythmus und Klang haben sollten, was ich durch lautes Lesen vielfach erprobe. Die Struktur in »Strophen« immer gleicher Länge half mir, elementar den Ton zu treffen, um so bei denen, die es lesen und hören, möglichst hohe Resonanz zu erzeugen. Anspruchsvolle Texte müssen (und wollen) Kinder noch nicht komplett verstehen. Doch sie bieten Ankerpunkte in ihren Fragen und Erfahrungen und können Bestand haben, wenn sie (im Glauben) erwachsen werden. 2.2  Kindern das Wort geben Ein unverzichtbarer Weg im Religionsunterricht ist das Anbieten von Sprache in Form von Texten, Bildern und Liedern, das den Kindern helfen kann, selbst zur Sprache zu kommen. Enger formuliert: Wir geben ihnen Worte, die sie selbst zu Wort kommen lassen. Wie das konkret aussieht und was dabei passieren kann,

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sei an Erfahrungen mit Texten und Bildern aus dem Sternenstaub-­Projekt im 4. Schuljahr vor Augen geführt (ergänzende Materialien und eine YouTubeLesung zu sieben Bildern und Texten via QR-Code am Ende des Beitrags). Nach dem Einstieg über Weltraumfotos vom faszinierenden Sternenhimmel (s. Hubble-Homepage) und der Weiterführung mit der Geschichte von den zwei Taschen (s. o.) bekamen die Kinder den ersten Text »Menschen staunen und fragen« (s. o.) sowie das Coverbild zu sehen. Aus diesem Kontext heraus schrieb z. B. ein Junge, der nicht zu den Leistungsstarken gehört: »Du bist hier und so viel mehr Sternenstaub./Du bist das Wunder der Welt und so viel mehr als Sternenstaub./Du bist hier, mach dir keine Sorgen./Du siehst die Sterne und denkst über alles nach./Wo ist das Ende? Wie ist alles entstanden? Wie kann das sein?« Hier bildet sich das Vorausgegangene in poetisch-nachdenklichen Worten eines Kindes ab, das sprachlich weit über sich hinauswächst. Nach dem Kennenlernen der ersten zwei Doppelseiten schrieben die Kinder im ersten Zugang zu einem der angebotenen nächsten Bilder des Buches eigene Texte, vollzogen also das nach, was ich beim Schreiben des Buches versucht hatte. Ein Mädchen schrieb z. B. zum Bild eines bewegten Meeres mit dem Titel »Gott, die Quelle des Lebens« einen Text voller Metaphern: »Alles kommt und geht, so wie das Meer./Du Gott bist die Welle der Hoffnung, der Trauer und der Freude./Du Gott entscheidest, wie die Wellen schlagen./Du Gott entscheidest, wie die Wellen unserer Herzen schlagen.« Wir hörten, bedachten und bestaunten die Worte der Kinder – dann lernten sie meine Texte kennen. Im zweiten Zugang malten die Kinder umgekehrt zu einem der angebotenen Texte von mir eigene Bilder und kommentierten sie, um sie dann im Vergleich mit den Buchillustrationen zu betrachten. Im dritten Zugang gestalteten sie Collagen aus getrennt angebotenen Bildern von Marieke ten Berge, den dazu geschriebenen Texten von mir, kleinformatigen Symbolbildern sowie eigenen Worten und Zeichnungen dazu. Den Weg zu einer außergewöhnlichen Collage beschreibe ich ausführlich, da er mir typisch für einen Unterricht erscheint, der Kindern viel vorgibt, sie dann aber in die Offenheit entlässt. Nikolas, ein sympathischer und kluger Junge, hatte mit einem Text von mir seine Probleme. Er las ihn mir vor: LEBENSWEGE UND LEBENSSINN Du fragst dich: Wie werde ich leben, werde ich glücklich sein? Wohin führt mich mein Weg, mit wem gehe ich durchs Leben? Egal ob du wenig oder viel kannst, ob du arm oder reich bist, du wirst etwas tun und sein, was kein anderer macht und ist, du wirst deinen Weg suchen und finden, frei wählen und gehen,

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du wirst den Platz entdecken, den GOTT für dich gedacht hat. Glück kann keiner kaufen, doch die Augen dafür offen halten. Geh nicht allein! Finde mit anderen den Sinn unseres Lebens! (42) Nikolas meinte: »Das ist total widersprüchlich, das geht gar nicht. Wie soll ich einen Weg frei wählen, den Gott sich schon vorher ausgedacht hat?« Ich gab ihm absolut Recht, sagte ihm aber, oft sei es tatsächlich so im Leben. »Du merkst dann erst hinterher, dass der Weg so genau für dich vorgesehen war. Dennoch bist du ihn selbst frei gegangen.« Nachdenklich, aber wohl nur halb zufrieden mit der Antwort setzte er aus ausgewählten Elementen seine Collage zusammen und fügte eigene Gedanken hinzu. Am Ende der Stunde kam er mit dem fertigen Blatt mit seinen Worten zu mir, und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seine ersten Sätze lauteten: »Jeder wählt seinen eigenen Weg. Der Mensch will frei sein und das ist er auch. Niemand nimmt die Freiheit. Wir haben nicht einen Platz, nicht einen vorgegebenen Weg.« Damit bleibt er bei seiner Skepsis gegenüber jeder Freiheitseinschränkung. Doch dann kommt Gott doch ins Spiel: »Auch Gott bestimmt uns nicht, aber er tut uns Möglichkeiten auf, die wir ergreifen oder ignorieren können. Der Zufall kann auch eine Möglichkeit Gottes sein. Er bietet uns die Chance, ein erfülltes Leben zu leben.« Solche Gedanken sind von einem Zehnjährigen eigentlich unvorstellbar. Von allein wäre er auch nicht darauf gekommen, wohl aber durch die von ihm kritisch aufgenommenen Impulse, unser Gespräch und seine Reflexion. Mein Sprachangebot führt zur eigenen Formulierung, wie ich sie sonst nur von Theolog:innen kenne. So spricht Tomáš Halík von Gott als Möglichkeit und vom Glauben als Eintritt in den Möglichkeitsraum Gottes.13

3 Religionsunterricht als Eröffnung von Möglichkeitsräumen und Ermöglichung von Resonanz Der Neurologe Joachim Bauer beschreibt die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Ein Ich erwächst am Lebensanfang in einer permanenten Resonanz mit einem Du. Die neuronalen Netzwerke unseres Gehirns entwickeln sich und bilden das Selbst des Menschen als Ergebnis von Resonanzen, also geteilten Erfahrungen, Freuden und Ängsten, immer weiter und neu ein 13 Vgl. Tomáš Halík, Gott wohnt in der Möglichkeit, in: ders., Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment, Freiburg 2019, 36–52; Halík bezieht sich auf den Philosophen R. ­Kearney (41) und sieht »Gott als Möglichkeit, der es dem Menschen ermöglicht, durch den Glauben Unmögliches in etwas Mögliches zu verwandeln« (49).

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Leben lang. Ganz besonders die Sprache erwirbt der Mensch durch Imitation, Spiegelung und Resonanz. Dabei ist die Sprache »ein einzigartiges Instrument, mit dem der Mensch Wahrnehmungen, Verhalten und die beides begleitenden Bewertungen und Gefühle symbolisieren kann«14. Auch nicht Geschehenes, sondern »nur« sprachlich Mitgeteiltes ist biologisch von Relevanz und hinterlässt Fingerabdrücke im Selbst. Ein starkes Selbst mit einer autonomen Persönlichkeit entwickelt sich, wenn zum einen Möglichkeiten und Chancen genutzt und mit Mut eigene Wege gegangen werden, zum anderen besonnen die eigenen Grenzen realistisch eingeschätzt und anerkannt werden (vgl. »Die zwei Taschen«) und wenn schließlich als dritte Voraussetzung andere Menschen immer wieder Inspirationen, Anregungen und Ermutigung geben. Pädagogisch geboten ist also eine gute Balance zwischen Vorgaben und Angeboten einerseits und Freiräumen und Offenheit andererseits. Mit vorbereiteten Sprachimpulsen in einen offenen Lernprozess zu gehen, ist der Königsweg. Der beschriebene Prozess von Niklas zu seinen Worten (s. o.) kann mit Joachim Bauer folgendermaßen gesehen werden: »Die dem Menschen gegebene Möglichkeit, kreativer Akteur zu sein, setzt immer und überall etwas ihm Angebotenes, ihm (Vor-)Gegebenes, in nicht geringem Umfang auch etwas ihm Abverlangtes voraus. Ohne dass SelbstElemente signifikanter Bezugspersonen in das eigene Innere transferiert wurden, fehlen die Ausgangsbasis und der Gegenstand, der es ermöglicht, kreativ zu sein, also etwas zu erweitern oder umzubauen, etwas anders zu machen, zu verfremden oder in einen Gegensatz zu treten.«15 In diesem Sinne eröffnet Pädagogik »Möglichkeitsräume«, in denen Zumutung und Ermutigung, Anspruch und Zuspruch, Fordern und Fördern, Aufgabe und Gabe zusammenkommen, sodass Kreativität durch Inspiration möglich wird. Das ist fordernd für alle, macht durchaus Mühe, aber ebenso Freude, da immer wieder Einzigartiges und Unerwartetes entsteht. Auch der Soziologe Hartmut Rosa sieht die Resonanz als die Mitte all unserer Weltbeziehung und umschreibt sie in wunderbaren Sprachbildern.16 Unter »Resonanz« versteht er nicht nur eine Metapher für eine bestimmte Erfahrung oder einen emotionalen Zustand des Menschen, sondern einen Beziehungsmo14 Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, München 2019, 45. 15 Ebd., 104. 16 Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016; ders., Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2018.

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dus des Menschen zur Welt und zu den anderen mit vier Merkmalen: Sie hat (1.) ein Moment der Berührung (Affizierung), wenn uns etwas intensiv bewegt. Zu ihr gehört (2.) das Moment der Selbstwirksamkeit, wenn unsere aktive Antwort auf die Berührung folgt (auch leiblich wie Gänsehaut bei Musik, emotional erfahrbar als dialogische Verbundenheit mit Welt und Mensch). Sie ist (3.) geprägt durch ein Moment der Anverwandlung (Transformation), wenn also die Resonanzbeziehung uns selbst und die Welt verändert. Das ist das Gegenteil von aggressiv-manipulativer Bewältigung eines Stoffes oder Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Schließlich gehört (4.) unbedingt das Moment der Unverfügbarkeit hinzu, dass wir etwas eben nicht komplett in Reichweite bringen, erfassen und in den Griff kriegen können. Resonanz ist auch unter besten Bedingungen nicht machbar, planbar und kontrollierbar, weder zu erzwingen noch zu verhindern, wohl aber ergebnisoffen. Dieses Geheimnis der Unverfügbarkeit gehört zu jeder resonanten Begegnung mit der Welt, mit anderen und besonders mit dem schlechthin Unverfügbaren. Für Hartmut Rosa entsteht Lebendigkeit und Resonanz nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren. Auch diese Prozessbeschreibung eröffnet einen interessanten Blick auf kreative Wege, wie z. B. Niklas sie gegangen ist. Er war intensiv berührt, sogar mit Widerspruch zu dem ihm Angebotenen. Er erfuhr in seiner aktiven Gestaltung Selbstwirksamkeit, was im Schreiben, Vortrag und Bedenken seiner Worte zu einer Anverwandlung seiner selbst wie der Welt um ihn herum führte. Dennoch blieb die Unverfügbarkeit gewahrt, wenn es um das Geheimnis unserer Lebenswege und einer Vorsehung im Sinne eines Zufalls als Möglichkeit Gottes ging.

4 Theologisieren mit Kindern als anspruchsvolles »Sprachspiel« Mein Konzept von Religionsunterricht entstand auf der Basis von Symbol- und Bilddidaktik und elementarer Bibeldidaktik aus den Impulsen des Philosophierens mit Kindern.17 Hinzu kam der Einfluss einer anspruchsvollen Kinderliteratur, für die programmatisch der kürzlich verstorbene Hans-Joachim Gelberg

17 Ein früher Aufsatz zum religionspädagogischen Wert des Philosophierens mit Kindern erschien 1992: Rainer Oberthür, »… wer nicht fragt, bleibt dumm!« »Philosophieren mit Kindern« als Impuls für den Religionsunterricht, in: Katechetische Blätter 117 (1992), 783–792.

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steht.18 Er sieht Kinder »in einer Phase poetischer Sprachfindung.«19 Erst später sprach ich zögernd vom »Theologisieren mit Kindern«. Entscheidend dabei ist das Zusammenspiel der aufeinander zu beziehenden drei Dimensionen der »Theologie der Kinder«, »Theologie mit Kindern« und »Theologie für Kinder«, wie es Petra Freudenberger-Lötz beschreibt. Gelingender Religionsunterricht bringt diese Dimensionen ausgewogen zur Geltung und bietet Kindern punktgenau an, was sie gerade brauchen: die eigene Perspektive einbringen, sich durch anspruchsvolle Theologie inspirieren lassen oder in einen kreativen Austausch gehen. Wichtig erscheint mir seit Jahren tendenziell verstärkt das Entwerfen einer »Theologie für Kinder«.20 Denn Kinder (wie auch die sie Unterrichtenden) brauchen heute mehr denn je theologische Grundannahmen und Überzeugungen, an und mit denen sie sich sowohl reiben wie auch einbringen und ihre »Theologie« hervorbringen können, damit sie nicht in »Beliebigkeitsfallen« tappen oder sich in theologischen »Sackgassen« verirren. Im Prozess des Theologisierens mit Kindern sind drei Aspekte in jedem Augenblick von Bedeutung: Ȥ der jeweilige elementare theologische Inhalt, den wir anbieten, Ȥ unsere Haltung, mit der wir selbst und mit Kindern Theologie treiben, Ȥ jede didaktisch methodische Entscheidung mit theologischen Implikationen, die mit Inhalt und Haltung im Einklang stehen sollte. Dabei sind Gehalt und Mehrwert unserer Sprache von entscheidender Bedeutung. Theologisieren mit Kindern kann als Sprachspiel mit besonderer Herausforderung gesehen werden: als große Chance, denn Kinder sind geborene Sprachspieler:innen und Sprachkünstler:innen, die sich gerade theologischen Analogien und Paradoxien mit Freude zuwenden. Nochmals konkret: Es ist nicht gleichgültig, ob wir gegenüber Kindern in unreflektierten Aussage-Sätzen behaupten: »Gott hat die ganze Welt gemacht. Er hält sie in seiner Hand und rettet uns aus jeder Not.« Sachlich und sprachlich, theologisch und naturwisssenschaftlich angemessener kann es heißen: »Men18 Hans-Joachim Gelberg: »Es ist eine Notwendigkeit, dass das, was der Erwachsene an Texten [für Kinder] formt, […] eine Literatur ist, die auch der Erwachsene lesen können soll. So gut muss es sein, vielleicht noch besser, man muss versuchen, dem Kind auch Perspektiven zu geben. Das Kind muss sich ein bisschen strecken.« (Interview mit dem Deutschlandfunk vom 10.8.2019, recherchierbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ [Zugriff am 20.2.2021]). 19 Ders., Warum Gedichte, warum Gedichte für Kinder? In: Katechetische Blätter 127 (2002), 85–90, hier 89. 20 Siehe z. B.: Rainer Oberthür, Das Buch vom Anfang von allem. Bibel, Naturwissenschaft und das Geheimnis unseres Universums, München 2016; ders., Was glaubst du? Briefe und Lieder zwischen Himmel und Erde (mit C. und A. Obieglo), München 2017.

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schen glauben: Gott hat die Welt werden lassen und ist bei uns, auch wenn wir in Not sind.«

5 Kindern poetische Sprache zumuten Im Roman »Das Gewicht der Worte« von Pascal Mercier ist der Übersetzer Simon Leyland auf seinem Weg zum Autor in ständiger Reflexion über die Sprache: »Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde.«21 Über Poesie im weiteren Sinne, wie sie auch in Gemälden, Fotografien, Film und in der Musik zu finden ist, heißt es: Vielleicht könnte man sagen: Sie ist eine Art, die Gegenwart ganz Gegenwart sein zu lassen. Ein Mittel, die Zeit anzuhalten. … Poesie erlaubt einem, ganz bei einer Sache zu sein. Etwas Poetisches, ein Satz, ein Bild, ein Klang: Es fesselt einen wie nichts sonst. … gibt dem Leben im Moment der Betrachtung eine Tiefe, die es sonst nicht hat.“22 Neben viel Zuspruch und Bestätigung aus eigener Erfahrung gegenüber meinem Konzept, Kindern bereits anspruchsvolle Sprache zuzutrauen, gibt es manchmal die Frage, ob das nicht alles zu schwer für Kinder sei. Natürlich stelle ich am liebsten »Highlights« vor, die wir nicht in jeder Stunde erleben. Natürlich bin ich in Schulen mit Kindern, die motiviert, kreativ und zu begeistern sind und zumindest sprachlich (kaum im religiösen Wissen) überdurchschnittliche Fähigkeiten mitbringen. Natürlich würde ich in Schulen mit anderen Voraussetzungen die Angebote elementarer gestalten. Was ich aber vehement verteidige, ist das Recht der Kinder auf eine Sprache, die das »Mehr« des Lebens über das Faktische hinaus zur Sprache bringt und dabei über die vermeintlichen Möglichkeiten der Kinder hinausgeht. Denn – so die vielfache Rückmeldung bei mir – die eigene realistische Erwartung an das Können der Kinder wird dann erfreulich und überraschend übertroffen. Die Sub­stanz der tiefen Auseinandersetzung ist auch in einem Text eines weniger sprachbegabten oder einfach noch jüngeren Kindes gut zu entdecken, manchmal sogar eindrucksvoller, da es mit tatsächlicher authentischer Erfahrung verbunden ist. 21 Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte, München 32020, 20. 22 Ebd., 361.

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6 Von Kindern lernen Warum lebe ich eigentlich? Diese Frage stellt ein Zehnjähriger seiner Mutter. Wenn ich sterbe, werde ich dann aus dem gezogen, der ich bin?, fragt ein Neunjähriger im Religionsunterricht. Eine Zehnjährige klagt sehr ernst: Warum lässt Gott Menschen krank auf die Welt kommen? Ein anderes Kind überlegt: Gibt Gott uns die Fragen? Von Kindern können wir das Fragen lernen, unverstellt und unbegrenzt, als Haltung und Anregung, über etwas für uns Selbstverständliches neu nachzudenken. Dabei zeigen Kinder, dass die Trennung von Fühlen und Denken, von Glauben und Wissen, von Erfahren und Verstehen zu kurz greift. Zur Frage »Was ist Weisheit?« meint ein Mädchen: Wenn Gedanken und Gefühle sich vermischen, wenn sie zusammenkommen, ist das Weisheit. Kinder schenken uns erstaunliche Perspektiven, besonders beim Nachdenken über Gott: Gott hat keinen Mund. Er hat ein Herz und eine Seele, mit denen er spricht: Die innere Stimme!/Gott ist weit, aber mir nah./Wir wissen nicht wirklich, wer Gott ist. Aber Gott weiß, wer wir sind. Von Kindern können wir lernen, etwas sprachlich auf den Punkt zu bringen, schnörkellos direkt, verblüffend prägnant und erstaunlich poetisch. Das ist alles andere als romantisch verklärend. Kinder sind dazu in der Lage, weil sie Menschen sind – Menschen am Anfang, offen für das Geheimnis des Lebens, als »Realisten und Mystiker« (Jürgen Oelkers) staunend vor dem Geheimnis, das wir Gott nennen. Sie sind Weltneulinge und Gottsucher. Damit aber Kinder ihre Möglichkeiten entfalten können, brauchen sie uns Erwachsene: als Fragenwecker:innen, die ihre Fragen »gebären« helfen, als Vertraute, die ihnen viel zutrauen, als Ermutiger:innen, die sie ernst nehmen und ihnen auch Schweres zumuten, als Impulsgeber:innen, die ihnen Sprache anbieten und sie selbst zur Sprache kommen lassen, als fragende Gesprächspartner:innen und Glaubenszeug:innen, mit denen sie eigene Überzeugungen entwickeln. Dann sind Kinder kon-genial – jedes Kind auf einzigartige Weise!

7 Worte als Ausklang Am Ende sollen »Worte« stehen, nämlich ein Liedtext mit diesem Titel von Carolin und Andreas Obieglo (Carolin No).23 Das in Poesie und Klang kraftvolle 23 Text und Musik: Carolin und Andreas Obieglo, von der CD »No No« – www.carolin.no (Zugriff am 15.3.21).

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Lied eröffnet ein intensives Nachdenken über die vielfältige und ambivalente Macht der Sprache, wenn wir es lesen oder (besser) hören. Das kann auch im Unterricht geschehen, z. B. zuerst als »Rätsel« (Titel nicht nennen) mit der Frage, worum es in den ersten Strophen geht (ggf. weitere hören) und wie das Lied wohl heißen könnte. Erst nach und nach werden das Thema klar und der Titel erkannt, sodass (selbst erlebte) Beispiele erzählt werden können, die zu den zur Sprache gebrachten Wirkungen der Worte passen. Das macht aufmerksam für die zerstörerische oder aufbauende Kraft von Worten – das schult die Sensibilität für Sprache!

WORTE

Manche sind fremd manche vertraut gehen an uns vorbei gehen unter die Haut kommen zu selten zur rechten Zeit manche tun sofort ausgesprochen leid manche sagen aus der Feder seien sie mächtiger als das Schwert und doch verhallen sie immer wieder ungehört bauernschlau neunmalklug manchmal ist schon ein einziges genug

laut leise töricht weise Waffe Spiel manchmal … sie verspotten und verhöhnen loben in den höchsten Tönen sie schmeicheln und sie schmerzen kommen von und gehen zu Herzen bauernschlau neunmalklug manchmal ist schon ein einziges genug

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Satz Kapitel Geschichte Buch frommer Wunsch Segen Fluch Vers Refrain Ballade Sage Märchen Gleichnis Gretchenfrage Orakel Mantra Moritat Schwur Verbrechen Gebot Verrat

sie gehen zu weit sie gehen zu nah gelogen für die einen für die anderen wahr schwer zu halten leicht zu brechen manchmal unmöglich auszusprechen manche werden zu Geschichten gehen in die Geschichte ein manche sind leider viel zu schön um wahr zu sein laut leise töricht weise Waffe Spiel manchmal ist schon ein einziges zuviel © 2020 Carolin & Andreas Obieglo

Parole Chor Schatz in Gottes Ohr

Rainer Oberthür ist Dozent für Religionspädagogik am Katechetischen Institut des Bistums Aachen und Autor – Homepage: www.rainer-oberthuer.de. QR-Code zum Sternenstaub-Special und zu weiteren Material-Downloads.

Wie erschließe ich die Sprache der Religion? Bewährtes und Innovatives (Medien-/Materialumschau Sek I+II) Christian Hild

Mit dem Erschließen der Sprache der Religion auf einer didaktischen Ebene geht unweigerlich die Frage einher, wie sie im Kontext des Religionsunterrichts wahrgenommen wird bzw. an Kontur gewinnen kann. Für eine ganzheitliche religiöse Sprachbildung bedarf es einer Unterscheidung von vier Lernbereichen, die auf der Ebene der Sprache und der Ebene des Standpunkts der Sprechenden angesiedelt sind: Hierzu zählen die Sprache der Religion, die für eine bestimmte Religionsgemeinschaft charakteristisch ist und sich als religiöses Sprechen äußert, sowie die Sprache für Religiöses, die sich durch die jeweilige individuelle Ausdruckspotenzialität auszeichnet und als Sprechen über Religion im Sprachgebrauch realisiert wird.1 Gerade weil der Religionsunterricht mit seinem spezifischen Modus der Weltbegegnung »den zentralen Lernort für gesellschaftliche Zusammengehörigkeit und Pluralität«2 darstellt, wird er zu einem Sammelbecken von unterschiedlichen Sprachen, zu denen neben der Sprache der Religion und der Sprache für Religiöses auch gesellschaftliche Sprachspiele und Sprachwelten der Schüler:innen zählen, also Dialekte, Jugendsprachen etc., und auch Nationalsprachen; diese im Klassenraum vorhandene Mehrsprachigkeit stellt für den Religionsunterricht einerseits eine pädagogische Herausforderung dar, bietet andererseits aber auch didaktische Chancen für eine Sprachsensibilisierung.3

1 Vgl. Stefan Altmeyer, Zum Umgang mit sprachlicher Fremdheit in sprachlichen Bildungsprozessen, in: Andrea Schulte (Hg.), Sprache, Kommunikation, Religionsunterricht: gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht (StRB 15), Leipzig 2018, 191–205, hier 194–196. 2 Manfred L. Pirner, Öffentliche Religionspädagogik. Religionspädagogik als Übersetzungsaufgabe?! In: Frederike van Oorschot/Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (ÖTh 36), Leipzig 2019, 97–110, hier 104. 3 Vgl. Andrea Schulte, Religion übersetzen im Kontext religiöser Sprachbildung und Kommunikation im Religionsunterricht, in: van Oorschot/Ziermann, Theologie in Übersetzung, 111– 124, hier 113.

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Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprachen evoziert die Überwindung von Sprachbarrieren und damit Übersetzungen, die auf einer didaktischen Ebene die auf einer pädagogischen Ebene erhobenen Postulate einer durchgängigen Sprachförderung einerseits, eine Erschließung der Sprache der Religion andererseits zusammenführen.4 Übersetzen meint hier nicht in einem »klassischen« Verständnis die Übertragung von einer Nationalsprache in eine andere, sondern »von fachbezogenen Sprachwelten in die Sprachwelt der Schüler«5. Für die Erschließung der Sprache der Religion bei einer gleichzeitigen Sprachsensibilisierung und -förderung lassen sich vier Ebenen abstecken,6 an denen sich die Medien- und Materialschau und damit auch die Gliederung des Beitrags orientieren, indem auf Wort- (Kap. 1), Satz- (Kap. 2), Text- (Kap. 3) und Diskursebene (Kap. 4) Methoden zur Erschließung der Sprache der Religion vorgestellt werden; aufgrund der Interrelation von Sprachbildung und Übersetzung richtet sich der Fokus auf »Übersetzungsangebote«7. Darüber hinaus wird auf unterschiedliche Möglichkeiten der Thematisierung der Sprache der Religion eingegangen (Kap. 5). Der Befund wird in einem Fazit religionsdidaktisch systematisiert (Kap. 6).

1 Wortebene Auf der Wortebene geht es um Latinismen und Gräzismen, Symbole sowie spezifische Fachausdrücke, die im Vergleich zu einer umgangssprachlichen Bedeutung von Schüler:innen oft als fremd empfunden werden – bspw. »verkündigen« im Vergleich zu »etwas sagen«.8 Für die Überwindung der Distanz zu derartigen Wörtern und für deren Erschließung als elementare Bestandteile der Sprache der Religion erweist sich 4 Vgl. ebd., 121. 5 Manfred L. Pirner, Religiöse Bildung zwischen Sprachschulung und Übersetzung im Horizont einer Öffentlichen Religionspädagogik, in: Schulte, Sprache, 55–69, hier 65. 6 Vgl. Andrea Schulte, Sprachliche Anforderungen im Religionsunterricht, in: Werner Haußmann/Andrea Roth/Christa Tribula (Hg.), EinFach Übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit. FS M. L. Pirner (Religionspädagogik innovativ), Stuttgart 2019, 97–103, hier 100 f. 7 Zur Besprechung unterschiedlicher »Übersetzungsangebote« in kompetenzorientierten Unterrichtswerken für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht siehe Andrea Schulte, Religion übersetzen als religionsdidaktische Herausforderung, in: Religion lernen – Jahrbuch für konstruktivistische Religionspädagogik 8 (2017), 75–88, hier 81–87. 8 Vgl. Stefan Altmeyer, Sprache im Religionsunterricht, in: Magdalena Michalak (Hg.), Sprache als Lernmedium im Fachunterricht. Theorien und Modelle für das sprachbewusste Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 22017, 154–174, hier 158.

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mit der Wortschatzarbeit im fachlichen Kontext ein für den sprachbewussten Fachunterricht charakteristisches Prinzip als hilfreich.9 Eine praktische Umsetzung kann in der Anfertigung von Begriffsnetzen am Ende einer Unterrichtseinheit bestehen;10 die anschließende Vorstellung der Partner:innenarbeit legt dabei die individuell verorteten Kookkurrenzen, typische Partnerwörter und Wortkombinationen, zu den Worten offen und ebnet den Weg zu einem Austausch, der sowohl in der Sprache der Religion als auch in der Sprache für Religiöses geführt wird. Diese Methode kann auch als Einstieg verwendet werden, indem z. B. eine »Gedanken-Landkarte« zu einem für den weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit wichtigen Wort erstellt wird.11 Die Erschließung eines einzelnen Wortes kann auch durch Übersetzungen auf drei Ebenen eingeleitet werden: Erstens lassen sich auf einer interlingualen Ebene unterschiedliche Varianten der Übersetzung hebräischer und griechischer Worte im biblischen Kontext erproben. Bei einem diesbezüglichen Arbeitsauftrag können deutsche Übersetzungen alt- und neutestamentlicher Verse dargeboten werden, wobei hinter einzelnen – unterschiedlich übersetzten – Worten jeweils die des Urtextes stehen, z. B. »ruach« und »pneuma«; die Schüler:innen sollen herausarbeiten, was diese Worte in den Bibelstellen jeweils »auszeichnet« und dann »geeignete Übersetzungsmöglichkeiten« nennen.12 Der Arbeitsauftrag verläuft demnach in zwei Schritten, die für das Anfertigen einer Übersetzung charakteristisch sind: auf die Rezeption folgt die Produktion, also die Neuformulierung in der Zielsprache, die in diesem Fall die Sprachwelt der Schüler:innen darstellt. Zweitens kann auf einer intralingualen Ebene ein Übersetzungsangebot folgendermaßen lauten: »Formuliere eine ›Übersetzung‹ des alltagssprachlich gebrauchten Begriffs ›glauben‹ und vergleiche sie mit ›glauben‹ in biblischem Sinne.«13 Um den Übergang von der Alltagssprache zur fachlichen Kommunikation zu ermöglichen, kommt ein für den sprachsensiblen Unterricht cha  9 Vgl. Magdalena Michalak/Valerie Lemke/Marius Goeke, Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprachbewussten Unterricht, Tübingen 2015, 144–149. Zur Unterscheidung unterschiedlicher Begriffsnetze: ebd., 148 f. 10 Vgl. Hartmut Rupp/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion Sekundarstufe II. Arbeitsbuch für den Religionsunterricht in der Oberstufe, Braunschweig 2014, 77. 11 Vgl. Patrick Grasser, Tatort Bibel. Religionsunterricht mit Kriminalfällen aus dem Alten und Neuen Testament, Göttingen 22015, 90. 12 Vgl. Imke Heidemann/Tim Hofmann/Mathias Hülsmann/Bärbel Husmann/Rainer Merkel/ Kirsten Rabe/Rebekka Tannen (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion Oberstufe (Qualifikationsphase), Stuttgart 2015, 201. Zudem verweist ein Informationstext auf die allgemeine Schwierigkeit der deutschen Übersetzung beider Wörter (ebd., 200). 13 Markus Tomberg (Hg.), Leben gestalten. 3. Unterrichtswerk für den Katholischen Religionsunterricht am Gymnasium. 9. und 10. Jahrgangsstufe, Stuttgart 2013, 17.

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rakteristisches didaktisches Prinzip zum Tragen.14 Als daran anschlussfähig erweist sich ein Arbeitsauftrag, der nur auf den Vergleich ausgerichtet ist, auf die theologische Fachsprache den Fokus richtet und nicht, wie in dem obigen Beispiel, auf die biblischen Sprachwelten: »Erkläre den Unterschied zwischen dem umgangssprachlichen Begriff ›Sünde‹ und dem Begriff ›Sünde‹ in der theologischen Fachsprache.«15 Um das Verhältnis von Fachlichkeit und Sprachlichkeit konstant in den Verlauf eines gesamten Schuljahres zu integrieren, bietet sich die Möglichkeit der Erstellung einer Art »Lexikon zur Bibel«, in das die Schüler:innen alle von ihnen als schwierig bzw. unverständlich empfundenen Worte, die ihnen bei der Arbeit mit der Bibel begegnen, eintragen und sie so in ihre Sprachwelt übersetzen.16 Eine andere Form intralingualer Übersetzungen besteht in der Erschließung einzelner Worte der Sprache der Religion durch »Performanz und Interaktion«, sodass die Schüler:innen »zu ihrer Sicht, Perspektive und Deutung in Sachen Religion kommen (z. B. Textverdichtung, Texttheater, Textspaziergang, Mindmap, Elfchen und andere Formen kreativen Schreibens, Reizwörtergeschichte, Leserbrief, Schreibmeditation, Schreibgespräch, Zeitungsartikel schreiben).«17 Eine diesbezügliche Aufgabenstellung kann folgendermaßen lauten: »Schreibe einen Haiku zu ›Himmel‹, der deine Deutung aufnimmt.«18 Drittens können intersemiotische Übersetzungsangebote darin bestehen, Körpersprache – z. B. in Bezug auf verkörperte Gebetshaltungen/»beten« – in Wortsprache zu übertragen19 oder »eine kreative Metaphernsammlung zu einem Oberthema in Form einer Collage [zu gestalten]«20.

14 Vgl. Michalak/Lemke/Goeke, Sprache, 139 f. Zum konkreten Bezug auf den Religionsunterricht siehe Stefan Altmeyer, Sprachhürden erkennen und abbauen: Wege zu einem sprachsensiblen Religionsunterricht, in: JRP 35 (2019), 184–196, hier 189. 15 Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 2. Evangelische Religion Gymnasium, Stuttgart 2013, 55. 16 Vgl. Heidrun Dierk/Petra Freudenberger-Lötz/Michael Landgraf und Hartmut Rupp (Hg.), Das Kursbuch Religion. 1. Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 5./6. Schuljahr, Stuttgart 2015, 100. Diese Methode lässt sich erweitern, indem als die Zielsprache von Lexikonartikeln nicht die Schüler:innensprache, sondern die theologische Fachsprache anvisiert wird; z. B. Matthias Hahn/Andrea Schulte (Hg.), reli plus 2. Evangelische Religion, Leipzig 2014, 131. 17 Schulte, Religion, 86. 18 Hahn/Schulte, reli plus 2, 73. 19 Vgl. Markus Tomberg (Hg.), Leben gestalten. 1. Unterrichtswerk für den Katholischen Religionsunterricht am Gymnasium. 5. und 6. Jahrgangsstufe, Stuttgart 2011, 29. 20 Ebd., 167.

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2 Satzebene Hürden für die Erschließung der Sprache der Religion auf Satzebene bestehen in von Schüler:innen als sperrig empfundenen Wortstellungen wie »Vater unser im Himmel« und in alltagssprachlich selten verwendeten Tempora und Modi, z. B. der Konjunktiv Präsens bei »geheiligt werde dein Name«.21 Die Erschließung einzelner Sätze erfolgt selbstverständlich auch auf Textebene, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist. Zur Vermeidung von Redundanzen richtet sich der Fokus im Folgenden ausschließlich auf Arbeitsaufträge zur Erschließung einzelner Sätze der Sprache der Religion. Für die Erschließung ganzer Sätze, bei denen auf engstem Raum mehrere Metaphern auftreten, bietet das Theologisieren eine Zugangsweise,22 bei dem auch dem für den sprachsensiblen Fachunterricht charakteristischen Prinzip Rechnung getragen wird, Anlässe zum Sprechen bereitzustellen.23 Die Schüler:innen erhalten so eine Gelegenheit, mit den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Möglichkeiten sowohl religiös als auch über Religion sprechen zu können. Einen weiteren Zugang zu Sätzen der Sprache der Religion bieten Sprichwörter und Redensarten, die entweder im Allgemeinen religiöse Motive aufgreifen oder im Speziellen biblische Verse bzw. einzelne Teile von ihnen darstellen. Gerade weil diese größtenteils auch Schüler:innen geläufig sind und oftmals allerdings ohne Kenntnis und Bedeutung der biblischen Verortung in Gebrauch genommen werden, bilden sie einen geeigneten Einstieg für die Erschließung der in dieser Redensart befindlichen Sprache der Religion. Um den persönlichen Bezug als Chance zu nutzen, können die Schüler:innen entweder ein Bild zu einer Redensart anfertigen oder sich eine Geschichte ausdenken, in denen mehrere dieser Redensarten zu verorten sind, um sich dann zu deren Bedeutung und den biblischen Wurzeln vorzutasten.24 Somit wird wiederum Anlass zum Sprechen bereitgestellt, bei dem die unterschiedlich geprägten Sprachwelten der Schüler:innen aufeinandertreffen und im Hinblick auf die Sprache der Religion gebündelt werden können. Die Bildung von Sätzen lässt sich unterschiedlich ausdifferenzieren: Zu einem Plakat, das eine ältere, sichtlich leidgeprüfte indische Frau abbildet und mit 21 Vgl. Altmeyer, Sprache, 158. 22 Vgl. Hahn/Schulte, reli plus 2, 27: »Theologisiert gemeinsam über die beiden Bibelverse Psalm 91,4 und Jesaja 40,31.« 23 Vgl. Michalak/Lemke/Goeke, Sprache, 150–154. Altmeyer, Sprachhürden, 189. 24 Beide Beispiele finden sich bei Dierk/Freudenberger-Lötz/Landgraf/Rupp, Kursbuch Religion 1, 103.

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»Berührbar für Gott – und die Welt« unterschrieben ist, besteht ein Arbeitsauftrag darin, mögliche Zusammenhänge zwischen beiden Textstücken auszuloten. Hierzu sollen die Schüler:innen probieren, diese zusammenzusetzen, wobei auch die Grammatik verändert werden darf, um im Anschluss die am stimmigsten erscheinende Formulierung auszuwählen.25 Somit können »Gott« und »Welt« durch Konjunktionen im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verbunden werden und zwar so, dass diese Verbindung in der Sprachwelt der Schüler:innen verortet ist, wodurch Raum für die Ausbildung ihrer Sprache für Religiöses entsteht. Auf Satzebene lässt sich auch eine ganze Unterrichtseinheit in der Art einer Lernerfolgskontrolle erschließen, indem die Schüler:innen in Anlehnung an die Quizsendung Wer wird Millionär? Fragen und Antworten erarbeiten. Die Komplexität von Sachverhalten wird so in einem Satz aufgelöst, wozu die Schüler:innen sowohl die Sprache der Religion als auch die Fachsprache des Religionsunterrichts einüben können.26 Ein ähnlicher Arbeitsauftrag, der noch mehr den Fokus auf die Unterscheidung von fach- und alltagssprachlicher Kommunikation richtet, besteht darin, den Entwurf von möglichen Fragen und Antworten für eine Leistungsüberprüfung anzufertigen.27 Derartige Aufgabenstellungen, die in ihrer Komplexität je nach Altersstufe erweitert und damit auch für die Textebene möglich sind, leisten ein Hinarbeiten zu dem für einen sprachsensiblen Unterricht charakteristischen Prinzip der Berücksichtigung sprachlicher Aspekte bei mündlichen und schriftlichen Bewertungen.28

3 Textebene Auf der Textebene geht es im Kontext eines sprachsensiblen Religionsunterricht um eine Erschließung in zweierlei Hinsicht: Zum einen um einen kompetenten Umgang mit fachspezifischen Textsorten, z. B. Psalmen, Gleichnissen und Gebeten, zum anderen um die Vermittlung von allgemeinen Textkompetenzen – z. B. Textverstehen, Adressat:innenbezug, globale Kohärenz.29 Anstelle des Aufzeigens von Methoden, die sich jeweils nur auf einen dieser Aspekte beziehen, werden im Folgenden zwei Aufgabenformate vorgestellt, die beide Aspekte in

25 Vgl. Ingrid Grill-Ahollinger/Andreas Görnitz-Rückert und Andrea Rückert (Hg.), Ortswechsel 9/10. Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien, München 2015, 19. 26 Vgl. ebd., 89; die Thematik lautet hier »Leben und Wirken Jesu«. 27 Vgl. ebd.,171. 28 Vgl. Michalak/Lemke/Goeke, Sprache, 154 f. 29 Vgl. Altmeyer, Sprache, 158.

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sich vereinen: die Produktion (Kap. 3.1) und die Übersetzungen fachsprachlicher Textsorten (Kap. 3.2). 3.1  Produktion von fachspezifischen Textsorten Hierunter fallen Arbeitsaufträge, die Schüler:innen zur Produktion von Textsorten der Sprache der Religion anhalten. Dadurch werden sie sowohl für diese und auch für die Sprache für Religiöses sensibilisiert, die sie so verwenden und ausbilden können. Die Förderung eigener Deutungszugänge zu der Sprache der Religion kann in der wahlweisen Anfertigung eines assoziativen, meditativen, interpretierenden, bibelauslegenden, kunstgeschichtlichen oder theologischen Textes bestehen, dem ein Bild und/oder ein biblischer Text zugrunde liegt.30 Eine Arbeitsteilung bezüglich der unterschiedlichen Textsorten eröffnet durch die Ergebnispräsentation im Plenum eine Problematisierung sowohl im Blick auf die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und damit Charakteristika der verschiedenen Textsorten als auch im Blick auf die Metareflexion der getroffenen sprachlichen Entscheidungen. Eine Vertiefung dieser Methodik wird durch die Bereitstellung von diesbezüglichen Techniken ermöglicht, die durch gezielte Impulse eine Texterschließung in zweierlei Hinsicht gestatten: Zum einen mit Blick auf den Text (oder auch das Bild), das den Impuls für die Sprachhandlung bildet, zum anderen auf den zu produzierenden Text als Meditation, Andacht usw. selbst.31 Es lassen sich auch biblische Textsorten als formelles Raster heranziehen, das die Schüler:innen mit ihrer Sprache für Religiöses ausfüllen: So kann ein Arbeitsauftrag in der Formulierung eines eigenen Psalmengebets, das auch ein Rap-Text sein kann,32 oder in dem Entwurf eines eigenen Gleichnisses33, Gebets34 oder eines »modernen Mythos«35 bestehen. 3.2  Übersetzungen von fachspezifischen Textsorten Die Einbindung von Übersetzungen zur Erschließung ganzer Texte kann in dreierlei Hinsicht geschehen: Erstens können einem Bibeltext der im Unterricht 30 31 32 33 34 35

Vgl. Rupp/Dieterich, Kursbuch, 107. Vgl. Heidemann/Hofmann/Hülsmann/Husmann/Merkel/Rabe/Tannen, Moment mal, 259. Vgl Tomberg, Leben gestalten 3, 23. Vgl. Dierck/Freudenberger-Lötz/Landgraf/Rupp, Kursbuch Religion 1, 90. Vgl. Tomberg, Leben gestalten 1, 36. Iris Bosold/Wolfgang Michalke-Leicht (Hg.), Mittendrin. Lernlandschaften Religion 7/8/9 plus 10. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht, München 2014, 42.

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geläufig verwendeten Luther- oder Einheitsübersetzung alternative Übersetzungen zum Vergleich gegenübergestellt werden. Dieser Vergleich kann unterschiedlich angelegt sein: Zum einen intralingual in Form der Volxbibel, der Bibel in gerechter Sprache, der Basisbibel usw.,36 zum anderen interlingual in Form von englischen, französischen und lateinischen Übersetzungen des Urtextes,37 und schließlich intersemiotisch in Form von Gemälden biblischer Motive.38 Die Schüler:innen gelangen durch derartige Vergleiche zu der Einsicht, dass Übersetzen und Auslegen untrennbar zusammengehören und dass somit sämtliche Übersetzungen biblischer Texte einen Übersetzungsprozess durchlaufen haben, in dem die Deutung des Übersetzers enthalten ist. Zweitens fertigen die Schüler:innen Übersetzungen an. In intralingualer Hinsicht lassen sich unterschiedliche Zielsprachen ausmachen: Die eine Variante changiert zwischen »heutigem Deutsch«, »eigener Sprache«, »vertrauter Sprache« oder auch ganz allgemein formuliert »in die heutige Zeit«.39 Die Schüler:innen erfahren noch konkreter als bei einem Übersetzungsvergleich, welche Schwierigkeiten aus der Interrelation zwischen Übersetzen und Interpretieren hervorgehen. Davon hebt sich die zweite Variante ab, die als Zielsprache die Sprachwelt von jüngeren Kindern nachbildet, sodass in der Übersetzung Fachausdrücke durch eine kindliche Alltagssprache ersetzt werden müssen. Derartige Übersetzungen finden generell zwischen Erwachsenen und Kindern statt und auch tagtäglich in Unterrichtssituationen, indem die Lehrkräfte komplexe Sachverhalte reduzieren, in Alltagssprache wechseln und gleichzeitig auf die inhaltliche Richtigkeit achten.40 Ein diesbezüglicher Arbeitsauftrag lautet: »Ein Kind von neun Jahren fragt: Wann haben Adam und Eva gelebt? Entwerfen Sie eine Antwort.«41 An dem gleichen Prinzip orientiert sich auch das für Religionsunterricht und Katechese angelegte Projekt Sag’s doch einfach! – … in deinen eigenen Worten, bei dem die Zielsprache die »Leichte Sprache« bildet, 36 Vgl. Matthias Hahn/Andrea Schulte (Hg.), reli plus 3. Evangelische Religion, Leipzig 2015, 67. Heidemann/Hofmann/Hülsmann/Husmann/Merkel/Rabe/Tannen, Moment mal, 65. Rupp/ Dieterich, Kursbuch, 156. Tomberg, Leben gestalten 1, 30. 37 Vgl. Ulrike Baumann/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionsbuch Oberstufe, Berlin 2015, 98 f. 38 Vgl. Heidrun Dierk/Petra Freudenberger-Lötz/Jürgen Heuschele/Ulrich Kämmerer/Michael Landgraf/Stefan Meißner/Hartmut Rupp/Andreas Wittmann (Hg.), Das Kursbuch Religion 2, Braunschweig 2016, 122. 39 Vgl. Tomberg, Leben gestalten 3, 30. Rupp/Dieterich, Kursbuch, 166. Heidemann/Hofmann/ Hülsmann/Husmann/Merkel/Rabe/Tannen, Moment mal, 137. 40 Vgl. Andrea Schulte, Translating Religion between Parents and Children, in: Michael P. DeJonge/Christiane Tietz (Hg.), Translating Religion. What is Lost and Gained? New York 2015, 70–84, hier 74, 83. 41 Rupp/Dieterich, Kursbuch, 57. Ähnlich ebd., 95, und Dierck/Freudenberger-Lötz/Landgraf/ Rupp, Kursbuch Religion 1, 105.

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ein Instrument für sprachliche Barrierefreiheit.42 Derartige Übersetzungsangebote vermögen es, »die religiöse Sprachkompetenz der Lernenden durch eigene Übersetzungstätigkeit zu fördern. Im Sinne einer diachronen Übersetzung werden sie angeleitet, die ›Sprache der Religion‹ mit ihren vorgegebenen Wörtern und Konzepten in eigenes ›religiöses Sprechen‹ bzw. ›Sprechen über Religion‹ zu übersetzen und darin zu vergegenwärtigen.«43 Weitere Zielsprachen für intralinguale Übersetzungen können unterschiedliche Sprachspiele sein, wie es im folgenden Arbeitsauftrag formuliert wird: »Entwerfen Sie einen Artikel für ein Philosophie-Magazin zum Thema ›Gott – Eine gute Idee?‹«44 Der Arbeitsauftrag hält die Schüler:innen zu einen sprachlichen Perspektivenwechsel an, indem sie religiöse Semantiken und Gehalte in säkulare auflösen. In diesem Zusammenhang kann noch deutlicher die Frage aufgeworfen werden, ob eine vollständige Übersetzung der Sprache der Religion, bspw. auch von »Gott«, in eine säkulare Sprache erstens möglich45 und zweitens überhaupt theologisch angemessen ist.46 Anstatt eines bestimmten Sprachspiels können auch noch andere in die zu produzierende Sprachhandlung eingebunden werden, in welche die Sprache der Religion übersetzt werden kann. Ein diesbezüglicher Arbeitsauftrag kann lauten: »Ein Radiosender, der viel Popmusik spielt, sucht Kurzgedanken von 90 Sekunden zum Menschenbild der Christen. Die Sendung kommt morgens kurz vor 7 Uhr.«47 Hier stellt der Gegenstand der Übersetzung das »Menschenbild der Christen« dar, deren Adressat:innenenschaft sich durch den Rahmen der Radiosendung aus vielen Teilen und damit aus Sprachspielen der Gesellschaft zusammensetzt und der mit dem Hinweis auf »Popmusik« vorrangig auf jüngere Menschen abzielt. Die begrenzte Dauer einerseits und der frühe Sendetermin andererseits halten zu einer Komplexitätsreduktion an, bei der 42 Ausführlich zum Projekt und auch zu Materialien: https://www.relpaed.kath.theologie.unimainz.de/sags-doch-einfach/ (Zugriff am 10.05.2020). 43 Stefan Altmeyer/Julia Baaden/Andreas Menne, Übersetzen im Religionsunterricht. Von Bruno Latour und Jürgen Habermas zu einer Didaktik der Leichten Sprache, in: van Oorschot/ Ziermann, Theologie in Übersetzung, 143–159, hier 156. 44 Heidemann/Hofmann/Hülsmann/Husmann/Merkel/Rabe/Tannen, Moment mal, 95. 45 Vgl. Rupp/Dieterich, Kursbuch 101: »Entwerfen Sie eine Perspektive, in welcher sich Gottesvorstellungen von Theologen und Philosophen integrieren lassen.« 46 Vgl. Mirjam Rose/Michael Wermke, Einleitung, in: diess. (Hg.), Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016, 7–18, hier 17 f. 47 Ebd., 57.

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die vorgegebene Uhrzeit Verständlichkeit mit Blick auf mögliche Müdigkeit der Hörer:innen oder Hektik während des Weges zum Arbeitsplatz einfordert.

4 Diskursebene Eine Möglichkeit für die Eröffnung von Dialogen an außerschulischen Lernorten besteht in dem Führen und Analysieren von Interviews. Mit Blick auf die Sprache der Religion bieten sich als Interviewpartner:innen die bekennenden Angehörigen einer Religionsgemeinschaft an, um mit deren Sprache in Kontakt zu kommen und um diese mit dem Prisma der eigenen Sprachwelt wahrzunehmen. Ein Arbeitsauftrag kann demnach lauten: »Interviewt andere Christen und findet heraus, woran man ihren Glauben erkennen kann.«48 Für den Kontakt mit der Sprache der Religion unter besonderer Berücksichtigung der Ausbildung der Sprache für Religiöses eignen sich fiktive Dialoge, deren Teilnehmer:innen einer bestimmten religiösen Position zugeordnet werden können, die von den Schüler:innen eingenommen und vor dem Hintergrund einer bestimmten Dialoggrundlage als Sprachhandlung initiiert wird. Hier lässt sich in vielerlei Hinsicht differenzieren: Erstens kann als Diskursrahmen ein historisches, z. B. kirchengeschichtliches Ereignis herangezogen werden: »Spielen Sie die Diskussion zwischen Luther und den Orlamünder Theologen um das Bilderverbot in erweiterter Form nach (Fishbowl-Methode).«49 Zweitens können Gerichtsverhandlungen zu fiktiven Anlässen als Diskursrahmen dienen, bei denen die Schüler:innen die Rollen unterschiedlicher Personen einnehmen.50 Breite Personenkonstellationen und zeitlich ungebundene Themen eröffnen Gesprächsimpulse für die Ausbildung der Sprache der Religion, der Sprache für Religiöses und sprachliche Perspektivenwechsel. Drittens lassen sich unterschiedliche Themen entweder als Streitgespräch oder Podiumsdiskussion entfalten. Um die Schüler:innen zu einem bereitwilligen Sprechen zu bringen, eignen sich emotional aufgeladene Gesprächsan48 Hahn/Schulte, reli plus 2, 79. In diesem Zusammenhang erweist es sich für die Ergiebigkeit des Arbeitsauftrags als hilfreich, wenn die Schüler:innen Impulse für den Ablauf eines Interviews und entsprechende Fragetechniken erhalten; vgl. hierzu ebd., 183. 49 Rupp/Dieterich, Kursbuch, 95. 50 Vgl. Max W. Richardt, Kompetent evangelisch. Lehrbuch für den evangelischen Religionsunterricht. 12. Jahrgangsstufe, Göttingen 2012, hier 22: »Inszenieren Sie ein Gerichtsverfahren über den Menschen zur Klärung der Frage nach seiner Schuld am Auftreten des Bösen. Als Zeugen können moderne Anthropologen ebenso geladen werden wie Paulus oder die Verfasser der biblischen Urgeschichte.«

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lässe mit möglichst vielen gesellschaftlich breit gefächerten Repräsentant:innen, wodurch auch unterschiedliche Sprachen gesprochen werden müssen, z. B. die von Kirchenvertreter:innen, Kommunalpolitiker:innen, Anwohner:innen, Muslim:innen usw. bei einer wegen des geplanten Baus einer Moschee einberufenen Bürgerversammlung.51

5 Thematisierung der Sprache der Religion Die Sprache der Religion wird eigens auf unterschiedliche Weisen thematisiert, von denen exemplarisch drei vorgestellt werden: Erstens findet eine Behandlung der Sprache der Religion ganz allgemein statt, indem ihre Charakteristika vorgestellt werden, welche die Schüler:innen in der Art eines Registers für das Initiieren einer Sprachhandlung aufgreifen; z. B. können sie eine Andacht verfassen, die sie an einem Ort außerhalb der Schule vortragen, um »die Beziehung/Wirkung von Ort und Wort«52 zu erfahren. Zweitens können einzelne Formen der Sprache der Religion problematisiert werden, ob z. B. Beten eine »Fremdsprache« darstellt. Die von Kindern und Jugendlichen empfundenen Verständnisschwierigkeiten von Semantik, Syntax und Symbolik und der daraus oft resultierende Eindruck, dass Beten für Menschen »von vorgestern« sei, wird dadurch aufgelöst, dass Beten auszudrücken vermag, »was Menschsein heißen kann«; die Schüler:innen sollen vor diesem Hintergrund selbst ein Gebet verfassen und eruieren, inwieweit sich diese Wortwahl von der Alltagssprache unterscheidet.53 Drittens lässt sich – noch pointierter als in dem obigen Beispiel – die Wandelbarkeit der Sprache der Religion hervorheben, indem zum einen moderne Gedichte mit ihren als Vorlage dienenden biblischen Texten verglichen werden, zum anderen die Schüler:innen eingeladen werden, ihre eigene Sprache zu entdecken, wozu der folgende Arbeitsauftrag anhält: »Welches Sprachrepertoire steht heute zur Verfügung, um die Besonderheit Jesu auszudrücken? Experimentiert mit ›modernen Hoheitstiteln‹.«54 51 Vgl. Hans Mendl/Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Religion vernetzt 11, München 32009, 19. 52 Heidemann/Hofmann/Hülsmann/Husmann/Merkel/Rabe/Tannen, Moment mal, 23. Für die Erarbeitung der Charakteristika dient ein Textauszug von Fulbert Steffensky über »religiöse Sprache«, die er u. a. als eine »poetische Sprache« und als »Auslegung« beschreibt, in die »das Charisma und die Blindheit der Auslegenden ein[gehen]«. 53 Tomberg, Leben gestalten 1, 36. 54 Ingrid Grill-Ahollinger/Sebastian Görnitz-Rückert (Hg.), Ortswechsel 7/8/9. Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien, München 2014, 215 (beide Beispiele).

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6 Fazit Aus den besprochenen vielfältigen Beispielen für die Bildung, die Förderung und die Sensibilisierung für die Sprache der Religion auf Wort-, Satz-, Text- und Diskursebene geht hervor, dass eine spezifische Ausgestaltung von Fachlichkeit und Sprachlichkeit durch die Verbindung der unterschiedlichen im Religionsunterricht aufeinandertreffenden Sprachebenen und ihren Darstellungsformen eingeleitet werden kann. Somit wird die Sprache der Religion nicht ausschließlich auf eine textuelle Form reduziert und als eine Sprache wahrgenommen, die man verändern kann und auch muss, um sie erschließen zu können. Diese Veränderungen als »kreative sprachliche Neuversuche«55 erweisen sich als zuträglich für eine Umsetzung der »Kernaufgabe religiöser Bildung«, den Schüler:innen zu »helfen, ihre eigene Sprache zu entdecken, eine Sprache, in der sie plausibel und verständlich religiös und über Religion sprechen sowie den Unterschied beider Perspektiven benennen und ihre Position begründen können.«56 Dabei zeigen die besprochenen Arbeitsaufträge eine Interdependenz von Sprachbildung und Sprachförderung der Sprache der Religion mit dem Versuch, sie zu übersetzen. Interlinguale, intralinguale oder intersemiotische Übersetzungen können als Vergleiche oder als Übersetzungsangebote in den Unterricht eingebunden werden. Sie ermöglichen ebenso wie die anderen besprochenen Arbeitsaufträge eine Erschließung der Sprache der Religion, wenn im Sinne einer kreativen Hermeneutik »tiefere Schichten des Originals freigelegt werden, die sonst nur im Bereich der Ausdruckspotentialität geblieben wären«57. »Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer« (Hebr 4,12) – Eine theologisch angemessene Erschließung kann dann gelingen, wenn der Lebendigkeit der Sprache der Religion didaktische Räume zur Entfaltung bereitgestellt werden.

Dr. Dr. Christian Hild ist Studienrat für Evangelische Religion, Ethik und Latein am »Gymnasium am Schloss« in Saarbrücken. 55 Georg Langenhorst, Das Wort Gott – ein »Wirkwort« (Andreas Knapp). Literarische Sprachschulungen für Theologie und Religionspädagogik, in: Frederike van Oorschot/Simone Ziermann (Hg.), Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (ÖTh 36), Leipzig 2019, 127–142, hier 128. 56 Altmeyer, Zum Umgang, 202 f. 57 Alberto Gil, Translatologisch relevante Beziehungen zwischen Hermeneutik und Kreativität am Beispiel der Übertragungskunst von Rainer Maria Rilke, in: ders./Robert Kirstein (Hg.), Wissenstransfer und Translation. Zur Breite und Tiefe des Übersetzungsbegriffs (Hermeneutik und Kreativität 3), St. Ingbert 2015, 143–162, hier 152.

Bilanz Helga Kohler-Spiegel

»Es klingt vielleicht blöd, aber vielleicht habe ich als Kind seine Sprache besser verstanden und habe zurzeit einfach nicht die Kraft, genau hinzuhören« (Menne, 12). So die Antwort eines Schülers, einer Schülerin einer 11. Klasse Gymnasium, als es darum ging, die Frage nach Gott mit der Frage nach der Sprache zu verbinden und diese Frage nach Gott in Sprache zu fassen. »Es klingt vielleicht blöd«. Sprachsensibler Religionsunterricht ist eingebunden in die Entwicklungen zum sprachsensiblen oder sprachbewussten Fachunterricht. Stefan Altmeyer benennt die Grundlagen und zitiert Michalak u. a.: »Immer wenn fachliche Phänomene erworben werden, findet zugleich auch sprachliches Lernen statt« (Altmeyer, 14). Ein neues Thema zu erschließen, bedeutet auch, die damit verbundene Sprachkompetenz zu erwerben. »Das Anliegen des sprachsensiblen Unterrichts besteht daher im Kern darin, diese enge Verwobenheit von Fachlichkeit und Sprachlichkeit in allen Lernprozessen konsequent zu berücksichtigen« (Altmeyer, 15). Kompetenzerwerb zu ermöglichen, bedeutet also immer, zur inhaltlichen Auseinandersetzung die sprachlichen Anforderungen zu bedenken und zu entwickeln, unter Berücksichtigung der Heterogenität und auch der sprachlichen Kompetenz der Lernenden. Sprachsensibler Religionsunterricht entwickelt sich als eigener religionspädagogischer Diskurs und im Austausch mit dem v. a. fachdidaktischen Diskurs zu den Themen: Grundlagen und Einbindung in den Diskurs der Fachdidaktiken, Perspektiven auf inhaltliche Stichworte und auf die am Lernprozess beteiligten Personengruppen, Konkretisierungen mit Blick auf den Schulalltag … Mit der folgenden »Bilanz« möchte ich zur Zusammenschau all dieser Aspekte einladen.

1 Religionspädagogischer Diskurs In der Religionspädagogik hat die Beschäftigung mit Sprache eine lange Tradition, der symboldidaktische Ansatz von Hubertus Halbfas hat Religionsunterricht grundlegend als Sprachunterricht angelegt und dies in seinen Unterrichtswerken eindrücklich umgesetzt (Altmeyer, 16). Spiralcurricular angelegt wird

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Sprachverständnis im Sinne von »religiöser Sprache« und einer »Sprache für Religiöses« entwickelt, besonders bei religiösem Lernen ist Lernen von Religion immer auch Lernen von Sprache. Die Auseinandersetzung mit Sprache und Religion, Sprachverständnis und Sprachsensibilität hat die Religionspädagogik in den vergangenen Jahren sehr beschäftigt. Verschiedene eigenständige Konzepte wurden religionspädagogisch entwickelt und vorgelegt, stellvertretend für diese Diskussion sei die Arbeit von Stefan Altmeyer »Fremdsprache Religion. Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung«, Stuttgart 2011, genannt. Im eröffnenden Beitrag stellt Stefan Altmeyer die grundlegenden Differenzierungen dar, »dass nämlich sprachliche Formen nach Kommunikationssituationen variieren und entsprechende Kompetenzen erfordern« (Altmeyer, 17). Es sind dies die Unterscheidungen zwischen Alltags- und Bildungssprache, zwischen Fach- und Schulsprache sowie zwischen Sprache des Verstehens und Sprache des Verstandenen. Diese Unterscheidungen wollen auch religionspädagogisch durchbuchstabiert werden: »Selbstverständlich beinhaltet religiöses Lernen die Fähigkeit, sich in der ›Sprache der Distanz‹ mit dem religiösen Weltzugang auseinanderzusetzen, zugleich kann dies aber nicht ohne bleibende Rückbindung an eine ›Sprache der Nähe‹ geschehen« (Altmeyer, 21). Grundlegende Fachbegriffe zu kennen, ist auch für religiöses Lernen hilfreich, Schulsprache ist mit Stefan Altmeyer »am ehesten als vielstimmiger Mix elementarisierter Formen« (Altmeyer, 21) zu verstehen. Für die Nachhaltigkeit religiöser Bildung ist aber von besonderer Bedeutung, über die Erschließung vorgegebener Sprache hinaus eigene Sprache und eigene Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Die Konkretisierung der Aufgaben eines sprachsensiblen Religionsunterrichts schlägt Stefan Altmeyer in seinem Modell (Abb. 1, 25) vor. Ohne die Komplexität der Darstellung und der Ausdifferenzierung in religionsdidaktische Konkretisierungen hier verkürzt zu wiederholen, sei auf diesen zentralen Beitrag von Stefan Altmeyer insgesamt verwiesen (14–30). Sprachsensibler Religionsunterricht setzt ganz elementar auch eine sprachsensible Theologie voraus. Darauf weist Martina Kumlehn im zweiten Grundsatzbeitrag hin, indem sie auf die theologische Kernkompetenz des Übersetzens verweist und die Religionspädagogik einlädt, am »Übersetzen« zu lernen. Immer wieder spannend ist es, sich mit der Komplexität von Übersetzungen zu beschäftigen. Der Versuch, »dasselbe in einer anderen Sprache zu sagen« (Kumlehn, 30), macht deutlich, dass »mit einer Sprache eine kulturell geprägte komplexe Wahrnehmung von Welt und eine je eigene Modulierung von Wirklichkeitsdeutung und Lebenspraxis einhergeht« (Kumlehn, 30). Die Doppelthese »Übersetzungsprozesse grundieren theologische Reflexion und theolo-

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gische Reflexion spitzt Grundfragen des Übersetzens zu« (im Original kursiv, Kumlehn, 31) regt nicht nur zum Nachdenken in beide Richtungen an, sondern lädt auch Lernende in solche Übersetzungsprozesse im Kontext ihres eigenen Sprachgebrauchs ein.

2 Erweiterung der Perspektiven Fachunterricht ist zuständig, für den jeweiligen Bereich spezifische Ausdrucksweisen zu vermitteln und verständlich zu machen. »Sprachsensibler Fachunterricht hat die Aufgabe, die Lernenden mit dem schulfachlichen sprachlichen Repertoire vertraut zu machen, das nötig ist, den Unterrichtsgegenstand zu begreifen« (Gogolin, 43). Somit braucht es Lehrpersonen, die um die Heterogenität der Spracherfahrungen der Lernenden wissen und diese planend einbeziehen. Anders gesagt: Der Zusammenhang zwischen fachlichem und sprachlichem Lernen ist zentral, fachliches Lernen ist immer verknüpft mit sprachlichem Lernen. Und: Geschlechtergerechte Sprache ermöglicht die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in einem solch sprachsensiblen Lernprozess (Jakobs, 62–64). Sprache ist »›nie nur ein Instrument, um über die Welt zu sprechen, sondern konstituiert sich immer schon im Raum der Sprache‹«, so zitiert Ulrich Kropač (65) Albrecht Grönzinger. So verstanden kann sich in religiöser Kommunikation ein religiöses Selbstverständnis entwickeln. »Religion fußt demnach nicht auf einer Wesenseigenschaft des Menschen, sondern ist eine ›geschichtlich gewordene Weise sprachlicher Selbstdeutung des Menschen‹ […]. Danz zufolge entsteht Religion als eine eigene Form in der Kultur aus dem Wechselverhältnis dreier Größen, nämlich religiöser Überlieferung, Sich-Verstehen und Selbstdarstellung« (Kropač, 66). Hier in ein Umdenken und Durchdenken einzutauchen, kann für Lehrpersonen und für Schüler:innen auf höherer Schulstufe spannend sein: Es geht – zugespitzt gesagt – nicht darum, ob der Mensch ein religiöses Wesen ist oder nicht, sondern darum, in einen Auseinandersetzungsund Entwicklungsprozess entlang dieser drei genannten Größen zu kommen: Überliefertes kennenlernen, individuell verstehen und aneignen sowie Ausdruck dafür zu finden, d. h., darüber kommunizieren zu können. Und da dieser Prozess individuell geschieht, ist eine permanente Umformung damit verbunden. Konkret zeigt Kropač dies an der Untersuchung von Schweitzer u. a. »Jugend – Glaube – Religion« von 2018 und 2020. Studien zeigen, dass Jugendlich »gläubig« und »religiös« unterscheiden können und dass sie »gläubig« vorziehen, denn »gläubig« ist für sie der offenere Begriff, »religiös« verbinden sie häufig

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mit kirchlich gebundener Religionsausübung (Kropač, 71). Religionstheoretisch wurde die Begrifflichkeit lange Zeit genau umgekehrt verwendet. Wenn Lehrkräfte die umgekehrte Verwendung im Kopf haben, kann allein das zu Missverständnissen in der Kommunikation führen. Auch die Orte für die Ausbildung religiöser Sprache verändern sind ständig, Kropač nennt Poetry Slam und digitale Lebenswelten mit ihren offenen Kommunikations- und Gestaltungsräumen als zwei Beispiele.

3 Entwicklung und Reflexion von Sprache im Religionsunterricht Und immer wieder gilt es, die Bedeutung von Sprache im Fachunterricht zu reflektieren. Schulisches Lernen hat immer fachlich-inhaltliche und sprachliche Anforderungen zu erfüllen. Andrea Schulte zeigt, dass das Bewusstsein vorhanden ist, dass sich »Bildungsziele in sich gegenseitig bedingenden inhaltsund prozessbezogenen Kompetenzen« (Schulte, 82) konkretisieren und dass dies in den Kerncurricula, den Lehr- und Bildungsplänen für evangelischen und katholischen Religionsunterricht umgesetzt sein muss. Wie das konkret aussieht, zeigt Andrea Schulte exemplarisch an den baden-württembergischen Bildungsplänen für katholische Religion und an den niedersächsischen Kerncurricula für Evangelische Religion (Schulte, 83–87). Wenn sprachliche Bildung im Bereich von DAZ (Deutsch als Zweitsprache) mit religiösem Lernen im Religionsunterricht verbunden wird, stellt Yauheniya Danilovich m. E. mit Recht die Frage, warum sprachliche Heterogenität und religiöse Pluralität meist getrennt thematisiert werden, und sie geht der Frage nach, was möglich ist, wenn beide Aspekte gleichzeitig oder in ihrer Überschneidung in den Blick kommen (Danilovich, 95). Kommunikation gelingt besser, wenn zum einen die beteiligten Personen innerlich klar sind – Simone Ziermann nennt dies »innere Teamklärung« – und zugleich neben der inhaltlichen auch die Beziehungsebene einbezogen wird (Ziermann, 108). »Man kann nicht nicht körperlich präsent sein und man kann die Zeichenfunktion seiner Körperlichkeit, die eigene Körpersprache, nicht stumm schalten. Man ist sich seiner selbst immer in der Form der eigenen Körperlichkeit bewusst und sendet immer eine Botschaft davon, wer man ist, wie einem zumute ist und was man von einer gerade verhandelten Sache hält. Wir sprechen mit unserem Körper« (Meyer-Blanck, 113). Michael MeyerBlanck unterscheidet: nicht intentionale Körpersprache, maßvoll intentionale und intentionale Körpersprache. Egal wie: »[D]er körpersprachliche Ausdruck

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gehört zum Persönlichen eines Menschen. […] Das eigentliche Lernen körperlichen Selbstausdrucks geschieht im Rahmen der primären (familiären) Sozialisation« (Meyer-Blanck, 120). Meyer-Blanck zieht daraus den Schluss, dass religionspädagogisch die Familie als Lernort viel ernster genommen werden muss, und zitiert Domsgen: »Denn mit der Familie ›kommt ein Lernort in den Blick, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann‹« (Meyer-Blanck, 120). Aus christlicher Perspektive liegt es nahe, den Blick für die Frage nach Aspekten eines sprachsensiblen Jüdischen und Islamischen Religionsunterrichts zu öffnen. Mark Krasnov zeigt am Beispiel der Entwicklung vom biblischen zum rabbinischen zum neuzeitlichen Hebräisch auf, wie identitätsstiftend Sprache ist und wie historisch früh die religiös begründete Alphabetisierung jüdischer Jungen die Lesekompetenz nicht exklusiv, sondern für alle Jungen möglich machte (Krasnov, 124). Gemäß der aktuell gültigen Kerncurricula für den jüdischen Religionsunterricht sollen Lesekompetenz, Schreibkompetenz und Sprachkompetenz entwickelt werden. »Die Lese- und Schreibkompetenz wird im jüdischen Religionsunterricht anhand von zentralen Schlüsselwörtern und -konstruktionen geschult, die primär für die Erschließung der Liturgie relevant sind und einen hohen Wiedererkennungswert haben« (Krasnov, 126). Dies gilt auch für Eigennamen biblischer Personen, Feiertage, Städtenamen, Begriffe aus der Tradition u. a. – genannt »Alephbethisierung« (Krasnov, 126 f.). Im islamischen Religionsunterricht ist die Frage nach dem Hocharabisch des Koran für das Lesen und Verstehen des Koran, für das Erfassen von Klang und Sprachmelodie und für das Verstehen zentraler Begriffe und benachbarter Vorstellungen relevant, mit allen Herausforderungen, die dies für die Weiterentwicklung des islamischen Religionsunterrichts bedeutet (Abdel-Rahman).

4 Sprachsensibler Religionsunterricht konkret Der größte Teil dieses Jahrbuchs ist der Frage gewidmet, wie sprachsensibler Religionsunterricht gelingen kann. Der Sprachgebrauch der Lehrpersonen Stefanie Lorenzen eröffnet – sehr zurecht in meinen Augen – die Konkretisierungen mit dem Blick auf die Religionslehrperson selbst: Bewusstsein, Reflexion und Weiterentwicklung des Sprachgebrauchs der Lehrperson stehen im Mittelpunkt. Für diese Reflexion eigener Sprache braucht es Kriterien, die relevante Aspekte sichtbar machen und im Sinne der Sprachförderung bewerten. »Dass

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›Sprachlichkeit und Fachlichkeit […] sich nicht voneinander trennen‹ lassen, gilt nicht nur für die Ebene der Vermittlung von ›Sprach- und Fachwissen‹ […], sondern auch für den Sprachgebrauch der Lehrkraft selbst« (Lorenzen, 141). Lorenzen schlägt den Beobachtungsbogen von Anselm/Werani (entwickelt für ein Kommunikationstraining in der Lehramtsausbildung) als Grundlage vor. »Das Sprechen von Religionslehrer:innen lässt sich insgesamt als ›Balancieren‹ zwischen Spannungspolen charakterisieren. Dies wird exemplarisch mit Blick auf die Frage von Identität (Authentizität und Rolle), Komplexität (Reduktion und Anreicherung) und Entfernung (Nähe und Distanz) entfaltet« (Lorenzen, 141). Anregend ist z. B., unter dem Stichwort »Auf Überflüssiges verzichten, Wichtiges verstärken« zu reflektieren, wie durch Reduktion von »Füllwörtern« der Unterricht mehr Klarheit und Bestimmtheit gewinnen kann. Zugleich können bestimmte »Füllwörter« der Strukturierung des Unterrichts dienen, indem sie Übergänge mit einem so standardisierten Wort markieren. Reduktion in der Syntax kann das Verstehen erleichtern und wichtige Gedanken fokussieren, Klarheit in der Körpersprache, in Mimik und Gestik stärken die Unterrichtsführung u. v. m. Entlang von Fragen kann die Lehrperson den eigenen Sprachgebrauch in den Blick nehmen – ein m. E. in Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen bedeutsames und für sprachsensiblen Unterricht zentrales Thema. Wie plane ich konkret … Wie plane ich Unterricht konkret, wenn dieser sprachsensibel und sprachbewusst sein soll? Auch Tanja Tajmel zeigt auf, dass jeder Fachunterricht immer auch Sprachunterricht ist und sein muss, dass Lehrpersonen sich immer wieder neu kritisch-konstruktiv mit Sprache, ihrer Bedeutung, mit den damit verbundenen Möglichkeiten und zugleich auch mit der Reproduktion von Machtverhältnissen über Sprache u. v. m. auseinandersetzen. Sie erklärt, wie konkrete Planungsschritte ablaufen können – mithilfe des Planungsrahmens, des Konkretisierungsrasters und der Arbeit mit Schlüsselwörtern (Tajmel, 156–159). Oliver Reis und sein Team zeigen, wie sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aussehen, sie wählen den Ansatz des »Content and Language Integrated Learning« (CLIL), verbunden mit einem Forschungsprojekt an der Grundschule St. Michael in Paderborn – so wird die Darstellung beispielhaft bis hin zu kurzen Gesprächsszenen und Aufgabenstellungen konkret. Jens-Peter Green zeigt den zweiten bekannten Zugang: Scaffolding im Religionsunterricht. Die Metapher des Lerngerüsts (Scaffolding) macht bewusst: »Kinder und Jugendliche benötigen kognitiv-sprachliche Hilfen, um Materialien strukturiert zu erarbeiten (process scaffolding), zu verstehen (input scaffolding) und zu ver-

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arbeiten (output scaffolding). Diese Hilfen können und müssen in dem Maße entfallen, in dem die Lernenden selbstständiger werden« (Green, 169). Zahlreiche Worterklärungen, Hilfekarten und andere Vorlagen zeigen, wie das konkret aussieht und durchgeführt wird. Benedikt Gilich erklärt, wie die Lesekompetenz im sprachsensiblen Religionsunterricht gefördert wird. Hilfreich dabei ist z. B. für die Praxis, nicht immer beim Schwierigen die Fragezeichen anzusetzen, sondern von dem auszugehen, was schon verstanden wird, wo »Verstehensinseln« vorhanden sind (Gilich, 182). Formen, Themen, Aspekte … Annegret Reese-Schnitker zeigt, welche Bedingungen beachtet werden sollten und müssten, damit Unterrichtsgespräche gelingen können. Beeindruckend ist das Forschungsprojekt der Kasseler Forschungsgruppe: In dieser Studie wurden 63 Religionsunterrichtsstunden in acht Lerngruppen (6. Jg. bis 10. Jg.) videografiert, ausgewertet und darin 351 Unterrichtspräche identifiziert (Vgl. ReeseSchnitker, 194 f.). Die entwickelten Unterrichtsgesprächstypen daraufhin zu überprüfen, welche Typen man selbst im eigenen Religionsunterricht immer wieder einsetzt und welche im Kontakt mit den Schüler:innen immer wieder vorkommen, ist lohnenswert. Reese-Schnitker und ihr Team unterscheiden: Echte Unterrichtsgespräche, Gespräche als Reihung von Schüler:innenbeiträgen, Ping-Pong-Gespräche zwischen Lehrperson und Schüler:innen sowie Gespräche als getarnte Lehrer:innenvorträge. Beforscht wurde: Welche dieser Formen tauchen im Religionsunterricht auf? Welche Länge haben Unterrichtsgespräche? Welchen Anteil haben Gespräche in der Unterrichtsstunde im Vergleich zu anderen Sozialformen? Reese-Schnitker rundet ab mit »Tipps« für Unterrichtsgespräche aus dieser Studie. Michael Fricke und Renate Murmann setzen die Konkretisierungen mit Impulsen und Anregungen zu »Erklärungen im Religionsunterricht« fort. Erkenntnisse, Ergebnisse und Schlussfolgerungen zum Thema sind aus dem Forschungsprojekt gewonnen, an dem sich das Fach Evangelische Religionslehre an der Universität Regensburg beteiligt hat. Exemplarisch wird die sprachliche Handlung einer Lehrperson zu den Schöpfungstexten Gen 1 und 2 und die Einschätzung der Schüler:innen (8. Jg. Gymnasium) gezeigt. »Sag’s doch einfach!« sagt sich so einfach … Elisabeth Naurath lenkt den Blick auf die Wahrnehmung und den (sprachlichen) Ausdruck von Gefühlen, auf die Schulung von Emotionsverständnis und Emotionswissen sowie auf die Kompetenz zur Emotionsregulation. Denn im Jugendalter geht es vor allem darum, »einerseits Gefühle deutlich zu akzentuie-

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ren und andererseits geeignete Formen zu finden, die ihrer eigenen Subjektwerdung im Sinne einer Selbstvergewisserung auch dienlich sind« (Naurath, 210). Dass Digitalisierung in der Schule auch den Religionsunterricht betrifft, ist selbstverständlich. Hilfreich sind m. E. Kenntnisse über Instrumente, um die Qualität eines Medieneinsatzes besser beurteilen zu können, Anja Graf nennt das ICAP-Rahmenmodell und das SAMR-Modell. Sie gibt konkrete Anregungen zu Möglichkeiten digitalen Lesens, zu (bild-)sprachlichen Ausdrucks- und Umgangsformen sowie zu Hilfen, religiöse Themen und Termini zu erschließen. Digitalisierung ist – nicht nur wegen der Covid-19-Pandemie – längst Realität, diese im Blick auf einen sprachsensiblen Religionsunterricht sinnvoll einzubinden, wird auch künftig Aufgabe der Religionspädagogik sein. Zur Auseinandersetzung mit sprachsensiblem Religionsunterricht gehören v. a. auch die Möglichkeiten der »Leichten Sprache«. David Faßbender zeigt diese an Mk 12,29–31. Ihre Arbeit mit Jugendlichen mit Fluchterfahrungen im Religionsunterricht in VABO-Klassen und ihre Erkenntnisse daraus stellen Matthias Gronover und Hanne Schnabel-Henke aus Baden-Württemberg vor. In einem Forschungsprojekt mit KIBOR und EIBOR u. a. Projektpartnern entstanden fünf Module zu zentralen Herausforderungen und Themen für Jugendliche in Vorbereitungsklassen. Rainer Oberthür gibt Einblick in sein Grundkonzept, seine Impulse, seine Erfahrungen und Schlussfolgerungen. Er macht transparent, wie der Denk- und Entwicklungsprozess der Sprachfindung und Sprachentwicklung mit Blick auf Grundschulkinder bei ihm selbst abläuft. So ist es möglich, nicht nur die Ergebnisse seiner Ideen zum sprachsensiblen Religionsunterricht in der Grundschule zu nutzen, sondern sein eigener »Entwicklungsprozess« im Hinlick auf seine religiöse Sprache und die Sprache des Unterrichts mag Leser:innen anregen und ermutigen, dies auch selbst zu tun. Inhaltliche Textbeispiele und didaktische Impulse ermöglichen die konkrete praktische Umsetzung. Mit einer Medien- und Materialumschau für Sek I und Sek II (Hild) schließt das Nachdenken über die »Sprache der Religion«, über »Sprache für Religiöses« und über all das, was »Sprachsensiblen Religionsunterricht« prägen und ausmachen kann, ab.

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5 Fazit Der Band macht sichtbar, wie viel zum sprachsensiblen Religionsunterricht bereits geforscht, gedacht, entwickelt und erprobt wurde. Die gelungenen Forschungsprojekte, die in diesem Band des Jahrbuchs Religionspädagogik zur Sprache kommen, sollen weitere Forschungsprojekte zum Sprachsensiblen Religionsunterricht anregen. Zugleich ist unverzichtbar, weiterhin Religionsunterricht sprachsensibel anzusetzen, zu planen und durchzuführen sowie zu beforschen, damit Sprachsensibilität bei den Lehrpersonen und bei allen, die mit Religionsunterricht zu tun haben und für ihn Verantwortung tragen, ins Bewusstsein kommt und bewusst bleibt. Sprachsensibilität betrifft – neben der Religionspädagogik – die Kirchen und ihre Aufgabenfelder insgesamt, vor allem Liturgie und Verkündigung und die damit verbundenen pastoralen Felder und Personen auf allen Hierarchieebenen. Sprachsensibilität betrifft die Theologien, keine theologische Disziplin kann sich von diesem Thema distanzieren. Sprachsensibilität ist zugleich ein hoch gesellschaftspolitisches Thema, Menschen in der Teilhabe an Gesellschaft und an gesellschaftlichen Prozessen nicht zu benachteiligen oder gar aufgrund von Sprache davon auszuschließen. Für schulische Lernprozesse bleibt, dass fachliches Lernen und Sprache lernen miteinander verbunden sind. Vieles liegt zum sprachsensiblen Religionsunterricht vor. Bewusst bleiben soll, Ȥ dass fachliches Lernen immer auch Sprachlernen ist, Ȥ dass religionspädagogisch tätige Personen fähig sind, sich auch selbst zwischen verschiedenen Sprachen, Alltagsprache und Bildungssprache sowie Fachsprache u. a., zu bewegen Ȥ und sich mit sprachsensiblem Religionsunterricht auseinander zu setzen. Dass Kinder, die in der Schule »Sprachsensiblen Religionsunterricht« gewohnt sind, dies auch im Gottesdienst oder in der Sakramentenvorbereitung erwarten und wollen, ist nicht überraschend. Und dass auch Erwachsene, die – intuitiv oder reflexiv – sprachsensibel sind, dies auch in anderen pastoral-kirchlichen Situationen erwarten, ist eine Chance für religiöse Bildung und für die Kirchen.

Dr. Helga Kohler-Spiegel ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Religionspädagogik im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Feldkirch/Österreich.