Ökumene im Religionsunterricht [1 ed.] 9783788731908, 9783788730659, 9783788730642


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Ökumene im Religionsunterricht [1 ed.]
 9783788731908, 9783788730659, 9783788730642

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Ökumene im Religionsunterricht

Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 32 (2016)

Herausgegeben von Stefan Altmeyer, Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3065-9 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Umschlagabbildung: YanLev (shutterstock.com) Satz: Andrea Töcker, Neuendettelsau

Inhalt

Einleitung ...........................................................................................

9

1

Statements

1.1

Rainer Merkel Warum ich gerne evangelisch bin … ......................................

13

1.2

Winfried Nonhoff Katholisch – warum ich dabei bleibe ......................................

15

1.3

Athanasios Stogiannidis Warum bin ich gerne orthodoxer Christ? ................................

17

1.4

Achim Härtner Warum ich gerne Methodist bin ..............................................

19

2

Ökumene – biblische, kirchengeschichtliche, systematische Perspektiven

2.1

Peter Lampe Das Neue Testament als kanonisierte Heterogenität Eine Vielheit von Glaubensansichten setzt nicht notwendig die Vielheit getrennter Gemeinschaften aus sich heraus .........

25

Martin H. Jung 1054, 1517, 1529 … Kirchenspaltungen und ihre Bedeutung für Europa Eine kirchengeschichtliche Erinnerung ...................................

40

Martin Bräuer / Johannes Oeldemann Zwischen Selbstverpflichtung und Selbstgenügsamkeit Zum Stand der Ökumene auf offizieller Ebene .......................

50

2.2

2.3

6 2.4

Inhalt

Michael N. Ebertz Konfessionen im Wandel Eine soziologische Perspektive ...............................................

57

3

Ökumenisches Lernen

3.1

Bernd Schröder / Albert Biesinger Konfessionelle Kooperation und der Stand ihrer religionspädagogischen Erforschung ......................................

73

Reinhold Boschki / Friedrich Schweitzer Ökumenisches Lernen braucht eine eigene Didaktik Schülervoraussetzungen und Prinzipien interkonfessionellen Lernens ...................................................

87

Tanja Gojny / Konstantin Lindner Ökumene – ein Thema gemeindepädagogischer Handlungsfelder? .....................................................................

98

3.2

3.3

3.4

Peter Bubmann Was können Evangelische von Katholiken lernen? Und umgekehrt: was Katholiken von Evangelischen? ............ 108

3.5

Wilfried Hagemann Was können Katholiken von Evangelischen lernen? Und umgekehrt: was Evangelische von Katholiken? .............. 113

3.6

Norbert Mette Was können evangelische und katholische Christ/innen voneinander lernen? Plädoyer für gemeinsame Erkundungen ................................. 117

4

Horizonterweiterungen

4.1

Yauheniya Danilovich Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland ..................... 123

4.2

Joachim Willems Russlanddeutscher Protestantismus Ein Thema für Religionsunterricht und Schulen? ................... 133

7

Inhalt

4.3

Henrik Simojoki / Annette Scheunpflug Ökumenische Bildung im Horizont des globalen Christentums Am Beispiel des Projektes »500 Schulen – eine Welt« .......... 144

4.4

Rudolf von Sinner Weltweites Christentum am Beispiel der Pfingstbewegung in Brasilien ............................................................................... 156

4.5

Niels Logemann Konfessionsverschiedene Familien Bestandsaufnahme, erzieherische Herausforderungen, sozialisatorische Wirkung ....................................................... 165

4.6

Andreas Siegmund Die ökumenische Gemeinschaft von Taizé als Lernort für religiöse Bildung Erfahrungen eines Gymnasiallehrers bei Tagen der Orientierung mit Schülerinnen und Schülern der 10. und 11. Jahrgangsstufe ...................................................... 176

5

Zwischenrufe

5.1

Fulbert Steffensky Umzug von München nach Berlin .......................................... 185

5.2

Jürgen Martin Mein Weg in die Katholische Kirche ...................................... 187

6

Materialien für den Unterricht

6.1

Jürgen Pelzer Ökumene im Netz Materialien, Webquests und biographisch-narrative Zugänge im Storytelling .......................................................... 193

6.2

David Käbisch 500 Jahre Reformation und ›Kirchenspaltung‹ Unterrichtsmaterialien zu Martin Luthers Leben, Werk und Wirkung .................................................................. 203

8

Inhalt

6.3

Georg Langenhorst Konfession literarisch Didaktische Chancen im Blick auf ›katholische‹ oder ›evangelische‹ Gegenwartsliteratur ......................................... 217

7

Ausblick

7.1

Hans-Josef Becker / Birgit Sendler-Koschel Das Reformationsjubiläum als Chance und Aufgabe Ein Interview ........................................................................... 229

7.2

Stefan Altmeyer Ökumene trifft Identität Eine religionspädagogische Zwischenbilanz .......................... 241

Einleitung

Das Gebiet der Ökumene ist viel weiter und auch viel bewegter, als die meisten denken! Natürlich werden im Kirchenjahr 2016/17 insbesondere lutherische, aber auch reformierte Kirchen an Martin Luthers Anschlag von Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg und damit an die Anfänge der abendländischen Reformation erinnern. Aber wer hat bemerkt, dass die orthodoxen Kirchen an Pfingsten 2016 erstmals seit 1300 Jahren ein sog. ökumenisches Konzil (»Heilige und Große Synode der Orthodoxie«) veranstaltet haben? Wer verfolgt die Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen, an deren zehnter 2013 in Busan (Südkorea) sage und schreibe 345 orthodoxe, evangelische und indigene Kirchen aus allen Erdteilen teilnahmen? In diesen großen Kirchenversammlungen und Jubiläen dokumentieren sich gleichermaßen die Trennung der Konfessionen wie der Verständigungs- und Reformbedarf innerhalb der Konfessionsfamilien. Anders als im Nachgang zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) oder im Umfeld der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche (1999) steht derzeit eine bahnbrechende weitere Annäherung der Konfessionen nicht zu erwarten – diesbezüglich herrschen aus verschiedenen Gründen eher Ernüchterung und Pragmatismus vor. Aufregender ist demgegenüber das wachsende Bewusstsein für die Ungleichzeitigkeit, in der sich das Christentum in der bewohnten Welt, der Oikumene, entwickelt: rasantes Wachstum und neue Formen der Enkulturation vor allem in Afrika und Südamerika, Ringen mit wachsender Kirchendistanz in West- und Nordeuropa, Einbettung in religiöse Pluralität – sei es kämpferisch oder dialogisch – in den verschiedensten Kontexten. Auch die ökumenische Zusammenarbeit in Fragen religiöser Bildung bleibt von solchen Entwicklungen nicht unberührt. Allerdings gibt es in diesem Bereich bereits seit vielen Jahren dichte Kommunikation und gute Zusammenarbeit: zwischen Religionslehrenden evangelischer, katholischer und anderer Konfession auf Schulebene sowie unter Fachleitern, Fortbildnerinnen u.a., zwischen Bildungsverantwortlichen der Kirchen auf regionaler oder landesweiter Ebene, zwischen wissenschaftlich arbeitenden Religionspädagog/innen. Um ein Beispiel für Letzteres zu nennen: Erst 2014 haben deren Dachverbände, die »Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik« (AKRK) und die »Ge-

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Einleitung

sellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik« (GwR), eine gemeinsame Jahrestagung veranstaltet und dazu auch anglikanische und griechisch-orthodoxe Kollegen eingeladen. Unbeschadet dessen stellt sich in der konkreten Bildungsarbeit v.a. der Schule, aber auch der Kirchengemeinde die Frage nach vertiefter Zusammenarbeit und entsprechenden didaktischen Konzepten mit Nachdruck: – Schulische und pädagogische Entwicklungen drängen auf eine Kultur der Inklusion und der Heterogenitätsfreundlichkeit. Das schließt interkonfessionelle und -religiöse Verständigung durchaus ein; gesellschaftlich-politische Konflikte und nicht zuletzt die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten mit ihrer Vielfalt an Bekenntnissen unterstreichen den entsprechenden Integrationsbedarf. – Religionsdemografisch betrachtet ist die Zahl der evangelischen und/ oder katholischen Schülerinnen und Schüler vielerorts rückläufig, zugleich sind oder werden etwa orthodoxe und freikirchliche, alevitische und muslimische Schülerinnen und Schüler deutlicher sichtbar. Interreligiöses Lernen gewinnt insofern stetig an Bedeutung, ohne aber die innerchristliche Verständigung unter mehr Konfessionen als ›nur‹ der römisch-katholischen und der evangelischen zu erübrigen. – Schließlich steht das religiöse Bildungsbemühen aller christlichen Konfessionen vor ähnlichen ›äußeren‹ Herausforderungen, die es konstruktiv zu bearbeiten gilt: die Auseinandersetzung mit nicht-religiösen Weltdeutungen, mit Globalisierungsphänomenen wie Migration, ökonomischer Liberalisierung oder weltweiter Entwicklungszusammenarbeit (vgl. etwa die sog. Millenniumskampagne der Vereinten Nationen). Solche Beobachtungen sind Grund genug, das Jahrbuch der Religionspädagogik 2016 der Ökumene zu widmen, und zwar einer im weiten Sinne verstandenen Ökumene, bei der es um alle christlichen Konfessionen und um religiöse Entwicklungen auf dem ganzen bewohnten Erdkreis geht; die sich hier erschließenden Möglichkeiten der Begegnung und des Dialogs eröffnen vielfältige Lernchancen, die in diesem Jahrbuch vor allem auf den Religionsunterricht hin bedacht und konkretisiert werden. Wir freuen uns, wenn die Beiträge dieses Bandes viele Leser/innen an ihren (Lern-)Orten ermutigen und veranlassen, Projekte des Lernens über, des Lernens mit und des Lernens von anderen Konfessionen aus der weltweiten Ökumene zu entwickeln und umzusetzen! Und schließlich: Wir freuen uns auch, dass unser Herausgeberkreis mit diesem Band wieder komplett besetzt ist, und heißen Stefan Altmeyer, Mainz, herzlich willkommen.

1 Statements

1.1 Rainer Merkel

Warum ich gerne evangelisch bin … Ich bin sehr gern und aus tiefem Herzen evangelisch, und ein klares Bekenntnis liegt schon im Begriff des Konfessionellen. Trotzdem muss ich einen ergänzenden Vorbehalt anmelden. Da sich ein unumwundenes Statement aber leichter lesen lässt, nehme ich reflexive Überlegungen am Ende auf und mache zunächst in vier elementaren Aspekten deutlich, worin sich mein Evangelisch-Sein gründet. Erstens und vor allem anderen bin ich gern evangelisch, weil ich an das Evangelium glaube. Für meine Religion ist eine frohe Botschaft konstitutiv, die mich überzeugt und trägt. Wenn ich mich mühe, meine Schwächen zu überwinden, Scham zu vertuschen, immer noch erfolgreicher zu sein, wenn ich mich mühe, gut dazustehen, weiß ich im Grunde meines Herzens: Du hast das nicht nötig. Diese befreiende Zusage kann die menschlichen Maßstäbe nicht aufheben im Sinne von ›beseitigen‹, aber aufheben im dialektischen Sinne. Denn aus dem Evangelium habe ich das Vertrauen, dass auch ohne mein Tun alles gut wird: Krankheit, Schwäche, Scheitern, Unvermögen, moralisches Versagen – die Fragmente meines Lebens. Aus dem Evangelium habe ich die Gewissheit, zu meiner fragmentarischen Identität fröhlich Ja sagen zu können. Sie ist aufgehoben in einem höheren Sinnzusammenhang, aufgehoben in Gottes Hand. Diesen Glauben teile ich mit Paulus und den ersten Christen, und ich teile diesen Glauben mit Martin Luther, auch wenn ich als evangelischer Christ des 21. Jahrhunderts modernere Formulierungen des Evangeliums vorziehe. Die diskursive Sprache dieses Formats kann nur eine dürre Ahnung davon geben, worin »das Evangelium« für mich besteht und was es mir bedeutet. Sachangemessen wäre eigentlich ein euphorisch-kerygmatischer Stil. Zweitens bin ich gern evangelisch, weil ich mich als Teil einer Kirche begreife, die mir ein hohes Maß an Individualität zugesteht. Evangelisch sein heißt die unausgesetzte Freiheit und Pflicht haben, mich in ein kritisches Verhältnis zu den Vollzügen meiner Glaubensgemeinschaft zu setzen. Mit dieser Freiheit wiederum kann ich um der Tradition oder Gemeinschaft willen auch Dinge gelten lassen, die ich selbst anders feiern oder formulieren würde. In ihrem Streben, »das Christliche« stets neu zu fassen und zur Geltung zu bringen, ist eine echte evangelische Kirche immer erst im Werden. In dieser lebendigen Gemeinschaft der Glaubenden sind der EKD-Ratsvorsitzende oder die Pastorin dem Himmel um nichts näher als andere Christenmenschen. In meinen Augen steht diese radikale Hierarchiefreiheit einer Kirche gut zu Gesicht, die die göttliche

14

Rainer Merkel

Erwählung des Schwachen tradiert und in Wort und Tat und Feier das Evangelium verbreitet. Drittens bin ich gern evangelisch, weil mir religionspädagogisch ein subjektorientiertes Bildungsverständnis am Herzen liegt; ein Bildungsverständnis, das für mich (und Karl Ernst Nipkow) mit dem evangelischen Glaubensverständnis zusammengehört.1 Auch wenn Bildung schulisch von Erziehung nicht zu trennen ist, sehe ich meine religionspädagogische Aufgabe nicht darin, Werte und Wahrheiten »an den Mann zu bringen«, sondern junge Menschen in ihrem Personsein zu bejahen und in ihrer Subjektwerdung zu fördern. Wie im Glauben geht es in religionspädagogischen Bildungsprozessen oft um bedeutsame Wahrheitsfragen. Aber hier wie da gilt es – und das ist das Evangelische daran –, das lernende bzw. glaubende Subjekt ins Zentrum zu stellen und dessen Raum der Freiheit sowie die Unverfügbarkeit von Glaube wie Bildung zu respektieren. Viertens bin ich einfach gern evangelisch, weil mir religiöse Ausdrucksformen evangelischer Provenienz seit meiner Kindheit am vertrautesten sind. In einer Bugenhagen-Kirche evangelisch-lutherisch getauft, habe ich in eher schlichten, norddeutschen Kirchenräumen evangelische Liturgien und Bach-Choräle kennen gelernt. Auf Pfadfinderlagern wurden evangelische Lieder gesungen. Und mein Schwiegervater wurde sonntags zur Amtsperson durch den schwarzen Talar. Wie wird man mein »evangelisches Zeugnis« lesen? Wozu kann es gut sein? Ich kann diese Fragen den Leserinnen und Lesern getrost selbst überlassen. Wenn allerdings jemand den Appell herausläse, den Religionsunterricht konfessionell deutlicher zu profilieren, träfe das keinesfalls meine Zustimmung. Im Gegenteil: Anders als etwa im gemeindlichen Kontext nehme ich am Lernort Schule wahr, dass konfessionelle Unterschiede zunehmend an Bedeutung verlieren. Auch hier ist Positionalität gefragt. Mit Rücksicht auf die Lebenswelt des lernenden, mitunter auch des unterrichtenden Subjekts – gleichsam aus evangelischen Gründen – müsste aber in erster Linie und viel elementarer ein (christlich-)religiöser Weltzugang im Unterschied zu anderen Formen konstitutiver Rationalität2 profiliert werden. Rainer Merkel ist Studiendirektor am Hainberg-Gymnasium sowie Fachleiter für das Fach Ev. Religion am Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Göttingen. 1 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule, Gesellschaft, Gütersloh (1990) 2 1992, 20. 2 Jürgen Baumert unterscheidet verschiedene »Modi der Weltbegegnung« und ordnet Religion und Philosophie dem Modus »Probleme konstitutiver Rationalität« zu. Vgl. Jürgen Baumert, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius, Jürgen Kluge und Linda Reisch (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002,100–150, hier: 113.

1.2 Winfried Nonhoff

Katholisch – warum ich dabei bleibe

Je länger, je mehr: Auf die Bilder kommt es an, auf die im Inneren und die im Äußeren. In gewisser Weise ist das immer meine Wahl: Womit lasse ich mich bebildern? Oder: Welche Bilder dürfen mich zieren, verunstalten und vor allem kenntlich machen? Ich könnte versuchen, meine Bebilderungshistorie zu erzählen – von der Kindheit bis heute. Dabei stelle ich fest, viele dieser Bilder, abgelegte, neu erworbene und auch kontinuierlich gültige haben etwas, unverliebt distanziert formuliert, mit dem Katholizismus zu tun. Sie wandeln sich, führen ein zum Teil anarchisches Leben, werden vieldeutig, schlafen und sind plötzlich wieder hellwach. Mein Katholizismus ist vor allem ein Bilder-Katholizismus. Dem Himmel sei Dank, sind jene Bilder aber schummrig, zart aufdringlich und jeglicher Definitionsgewalt entzogen. Interpretieren – gestern so, heute anders und morgen überraschend – gehört dazu. Wunder der Vielfalt, der Schönheit, erinnernde Abscheu auch sind zu erleben. Vor aller Moral, über allem Dogmatismus und jenseits aller geistigen Okkupation wirkt das Reich der Bilder und eines solchen Katholizismus. Seit einigen Jahren ziehen mich bis zur Erschütterung Bildwerke an, die mit den Namen »Christus in der Rast«, »Erbärmdechristus« oder »Ecce homo« etikettiert sind. Anziehen heißt doch wohl, dass – mal von dem einen Pol, mal von dem anderen magnetisiert – innere Welt und äußeres Bild aufeinander warten. Treffen dann inneres und äußeres Bild zusammen, dann weiß ich, manchmal urplötzlich, wohin ich gehöre, was mich hält, warum ich dieser Bilderwelt weiterhin traue, mich von ihr umwerfen und aufrichten lasse. Ich blicke auf ihn, den Erbärmdechristus*: Er fragt. Er verkündet nicht, er resigniert und ist müde. Aber er schaut, er weiß und er verhilft zur Erkenntnis. Eine »müde« Religion, eine mit Müdigkeit bebilderte Existenz werfen sich mir ins Herz und werden mir zur scheu umhüteten Mitte. Nichts von Strategie und Kampfesgetöse, von Überzeugen-Wollen und businessfreundlicher Potenzial-Optimierung. Müde ist er, weil er viel sah, erlebte, erlitt und ihm manche Gewissheit zerbrach. Und dieser Blick! Auf mich geschleudert im Angeschaut-Sein. Welterkenntnis und Selbsterkenntnis. Müdigkeit meint nicht abgeschlafftes Abtauchen. Sie * Abbildung im Internet: Die mich bei diesen Zeilen begleitende Darstellung findet sich unter »Ecce homo von Antonello da Messina«. Gemalt zwischen 1473 und 1476, hängt das Bild in Piacenza im dortigen Collegio Alberoni.

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Winfried Nonhoff

steht ein für Sehnsucht nach Ruhe, nach Gelten Lassen, nach Warten Können, Lauschen und Ausschau Halten. Müde Religion harrt in Latenz: auf das große Vielleicht am Horizont, das österliche, doch im Moment nicht gestaltbare. Das ist die Spur meines Bleibens. Bilder, die Zeit und Mensch gesellschaftlich quer laufend enthüllen, Glück und Unheil, Terror und unausdenkbares Leben präsent halten: Solche Bilder bewahrt – mir zum Trost, mir zur Provokation, mir zum Heil – der Katholizismus. Bis auf weiteres hoffe ich auf ihre Bindekräfte.

Winfried Nonhoff war bis 2010 Verleger des Kösel-Verlages in München. Heute engagiert es sich als Berater, Moderator und Autor.

1.3 Athanasios Stogiannidis

Warum bin ich gerne orthodoxer Christ?

Die Behandlung der im Titel dieses kurzen Aufsatzes stehenden Frage soll, so nehme ich an, in einer sehr persönlichen Form geschehen. Denn der Orthodoxe Glaube ist für mich nicht nur ein Lebensgeschenk und ein wunderbarer Sinndeutungshorizont, der mir schon in der frühen Kindheit in der Taufe gespendet worden ist; sondern vielmehr, tatsächlich, ganz bewusst, ein sehr gewichtiger Aspekt meines Lebens, oder – besser formuliert – die Hauptsache in meinem Leben. Was sich als sehr als wichtig für mein religiöses Leben erweist, ist die Tatsache, dass die Orthodoxe Kirche sich als die geschichtliche und theologische Fortsetzung der Gemeinde Jesu Christi mit ihren Jüngern versteht. Daher bedeutet meine Mitgliedschaft in der Orthodoxen Kirche eigentlich meine Verbindung mit der Person Jesu Christi. Eines der Schlüsselwörter in der Orthodoxen Theologie lautet »Tradition«. Die Orthodoxe Kirche gründet ihre Theologie sowie ihr Leben auf das, was Jesus Christus selbst an seine Jünger überliefert hatte. Der Inhalt dieser Überlieferung ist ein Leben, das charismatische Leben, welches überliefert wird und aus der Heiligen Dreifaltigkeit entspringt. Es fällt mir auf, dass die Apostel dieses charismatische Leben, d.h. die Tradition, nach dem Ereignis von Pfingsten an ihre eigenen Nachfolger weitergegeben haben; dadurch ist das geschichtliche, theologische und charismatische Kontinuum der Kirchenväter entstanden und es entsteht noch heute weiter. Auf Grund der geschichtlichen Bindung an die Person Jesu Christi erfahre ich das Orthodoxe Christentum nicht als einen Lebensentwurf; ein Entwurf wäre zu wenig angesichts der Suche eines Menschen nach einer Sinndeutung; ein Mensch benötigt keinen Lebensentwurf, sondern das Leben selbst. Ohne Frage würde ich als Kern der Orthodoxen Kirche hervorheben, dass darin die existenzielle Möglichkeit dargeboten wird, am charismatischen Leben Gottes teilzuhaben. Das Herz der Orthodoxen Kirche drückt sich in der Göttlichen Liturgie erneut aus. Wir, die Orthodoxen Christen, verstehen die Liturgie als Eucharistie, d.h. als Danksagung. Liturgie lässt sich auf Deutsch als »Werk des Volkes« übersetzen. Es ist ein Werk der Menschheit um der ganzen Schöpfung willen; und dieses Werk lässt sich nur durch den Heiligen Geist vervollkommnen. Es besteht darin, die irdische Realität charismatisch an die Göttliche Realität anzuknüpfen, damit sie verklärt und zu einer neuen Schöpfung in Christus verwandelt wird.

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Athanasios Stogiannidis

Deswegen darf ich in der Orthodoxen Kirche, und zwar in ihrer liturgischen Dimension, wahrnehmen können, dass das charismatische Leben nicht als eine zu versprechende Hoffnung, sondern vielmehr als eine Erfahrung in der Gegenwart erlebt wird! Es ist kein Zufall, dass die Theosis, d.h. die Vergöttlichung des Menschen, als das grundlegende Ziel des menschlichen Lebens aufgefasst wird. Die Theosis verschafft dem Menschen eine unwiederholbare Herausforderung: am Leben der Heiligen Dreifaltigkeit, der Gnade nach, teilzuhaben. Und diese Teilhabe beginnt schon in diesem irdischen Leben in der Kirche und lässt sich im eschatologischen Reich Gottes vervollkommnen. Auf Grund dessen bin ich davon überzeugt, dass die Mitgliedschaft in der Orthodoxen Kirche mir die Kraft schenkt, alles Endliche in Jesus Christius zu überwinden; gegen die Leidenschaften und den Egoismus asketisch zu kämpfen; sich dem Mitmenschen liebevoll und uneigennützig zu öffnen; und all dieses, indem wir Menschen, Gott, unserem Vater, in der Göttlichen Liturgie über die Teilhabe an seinem Leibe und seinem Blut eucharistisch begegnen! Aus diesem Grund spielt sogar die Todesfurcht in meinem Leben keine Rolle! Der einzige und unbesiegbare Feind des Menschen, der Tod, verliert an Bedeutung; ein derartiges Leben, durchdrungen von dem Licht des Auferstandenen Jesus Christus, besiegt den Tod, und besiegt auch jedes Hindernis, das den Menschen von seinem Mitmenschen, von seiner Umwelt und von Gott trennt. Von da her kann ich sehr gut verstehen, warum die Göttliche Liturgie für das Mysterium der Einigung in der Orthodoxen Theologie gehalten wird; es geht um die Einigung zwischen Menschen und Gott; zwischen Menschen und Mitmenschen; zwischen Menschen und Schöpfung. Die Umarmung der ganzen Welt, d.h. die Ökumenizität, ergibt sich als eine ontologische Konsequenz aus dem eucharistischen Leben der Orthodoxen Kirche. Die Ökumenizität und der Einsatz für die Einheit aller Menschen drückt einen grundlegenden Aspekt dessen aus, was ein Orthodoxer Christ als Heiligkeit bezeichnet.1 Dr. Dr. Athanasios Stogiannidis ist Assistenz-Professor für Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Theologischen Fakultät der Aristoteles Universität von Thessaloniki/Griechenland.

1

Zum Hintergrund vgl. Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche, Frankfurt am Main 2007; Grigorio Larentzakis / Dietmar W. Winkler (Hg.), Die orthodoxe Kirche: Ihr Leben und ihr Glauben, Berlin u.a. 2013; Alexander Schmemann, Die Große Fastenzeit. Askese und Liturgie in der Orthodoxen Kirche, St. Ottilien 2007.

1.4 Achim Härtner

Warum ich gerne Methodist bin

In meiner Kindheit kamen Glauben und Kirche nur ganz am Rande vor, erst während der Konfirmandenzeit regte sich ein Interesse daran. Im Konfirmandenunterricht brachen bei mir existenzielle Fragen auf und ich wollte bewusst Christ werden. Nach der Konfirmation fand ich mich mit meinen ersten »Gehversuchen« im Glauben allein gelassen, da die Evangelische Kirche vor Ort kein passendes Anschlussangebot machte. Über eine Jugendfreizeit kam ich mit der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) in Kontakt. Dort fand ich rasch Anschluss in einer Gruppe Jugendlicher, die ihren Glauben gleichermaßen ernsthaft wie fröhlich lebten. Die Weise, in der ich in der Gemeinde willkommen war, ließ mich die EmK als Gemeinschaftskirche kennenlernen. Man kennt sich und nimmt Anteil aneinander. Bald schon übertrug man mir Aufgaben und Verantwortung. Mir wurde bewusst: Die EmK ist eine Beteiligungskirche. In der Gemeinde erlebte ich Wertschätzung und positives Zutrauen: »Du bist uns wichtig und wir brauchen dich für unsere Gemeinde und Kirche.« Zugleich hat man mir Freiräume gelassen, meinen eigenen Weg zu finden. Als eine vom Staat unabhängige Kirche ist die EmK eine Freiwilligkeitskirche. Das Prinzip der religiösen Mündigkeit des Einzelnen, das in der Freiwilligkeit von Kirchenmitgliedschaft und ehrenamtlicher Mitarbeit zum Ausdruck kommt, überzeugt mich bis heute. Mit ihren 53.500 Mitgliedern und Angehörigen (2014) gehören in Deutschland gerade einmal 0,067% der Bevölkerung zur EmK.1 Sie ist hierzulande eine Minderheitenkirche, die derzeit – wie die beiden Großkirchen – schwindende Mitgliederzahlen verkraften muss. Ganz anders im internationalen Maßstab. Weltweit gehören 12 Millionen Menschen der United Methodist Church an, Tendenz steigend. Im Weltrat Methodistischer Kirchen sind global 80,5 Millionen Menschen verbunden und gehören einer evangelischen Kirchenfamilie an, die im ökumenischen und interreligiösen Gespräch eine ernstzunehmende Größe darstellt.2 Schon in jungen Jahren führten mich internationale Jugendbegegnungen aus man1 Achim Härtner / Tobias Beißwenger, »Konfirmandenarbeit« im freikirchlichen Kontext: der »Kirchliche Unterricht« in der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: Friedrich Schweitzer et al. (Hg.), Konfirmandenarbeit im Wandel – Neue Herausforderungen und Chancen. Perspektiven aus der zweiten bundesweiten Studie, Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten, Bd. 6, Gütersloh 2015, 265–274, 266. Weitere Hintergrundinformationen siehe www.emk.de. 2 Vgl. www.umc.org und http://worldmethodistcouncil.org.

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Achim Härtner

cher Enge meiner Ortsgemeinde hinaus in die große Weite einer internationalen Gemeinschaft und Kirche. Die weltweite Connexio methodistischer Kirchen hat mir in meinem Dienst, zuerst als Gemeindepastor und dann als Hochschullehrer, auf den verschiedenen Kontinenten schon so manche Tür geöffnet und bereichernde Begegnungen ermöglicht. Der Methodismus nahm seinen Anfang im England des 18. Jahrhunderts als Reformationsbewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche und kam Mitte des 19. Jahrhunderts nach Deutschland.3 Hier wie dort gab es seitens der etablierten Kirchen Kritik und Anfeindung, oftmals in der fälschlichen Annahme, die »Leute, die man Methodisten nennt« wollten die bestehenden Konfessionen überbieten oder gar eine »neue Religion« verkünden. »Nichts kann von der Wahrheit weiter entfernt sein«, entgegnete John Wesley wiederholt auf diesen Vorwurf. In einer Predigt (1777) sagte er: »Der sogenannte Methodismus ist der alte Glaube, der Glaube der Bibel, der Glaube der Alten Kirche, der Glaube der Kirche von England. Dieser alte Glaube … ist nichts anderes als Liebe, die Liebe zu Gott und allen Menschen … Diese Liebe ist das großartige Heilmittel des Lebens, die nie versagende Medizin für alle Übel einer aus den Fugen geratenen Welt, für alles Elend und alle Laster der Menschen.«4 Zentraler Bezugspunkt methodistischen Glaubens ist die gnädige Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung, die im Leben der Menschen wirksam werden will.5 Die Grundanliegen methodistischen Glaubens und Lebens kann man mit drei Kennzeichen auf den Punkt bringen: Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe.6 Das erste Kennzeichen findet in der evangelistisch-missionarischen Ausrichtung des Methodismus seinen Ausdruck. So lautet das mission statement der Gesamtkirche: »Die Kirche hat den Auftrag, Menschen zu Jüngern und Jüngerinnen Jesu Christi zu machen, um so die Welt zu verändern. Die Gemeinde ist der Ort, an dem dieser Auftrag am deutlichsten in Erscheinung tritt und verwirklicht wird.«7 Das zweite Kennzeichen bezieht sich 3 Vgl. Walter Klaiber, Methodistische Kirchen (Bensheimer Hefte 111), Göttingen 2011. 4 Predigt 112: »On Laying the Foundation of the New Chapel«, London, 21. April 1777, in: The Works of John Wesley, Band 3, Sermons 71–114, hg. von Albert Outler, Nashville 1986, 579–592, 585–586. Zitiert bei John Wesley, Kennzeichen eines Methodisten. Warum Methodisten schlicht und einfach Christen sind, hrsg. von Manfred Marquardt, Frankfurt/M. 2011, 5. 5 »Für Methodisten steht die Gnade Gottes im Mittelpunkt. Sie ist schöpferisch, vorlaufend, rechtfertigend und heiligend.« Das Wesentliche des christlichen Glaubens aus methodistischer Sicht (emk forum 23), Stuttgart 2002, 6. Grundlegend dazu: Walter Klaiber / Manfred Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 22006. 6 So lautet seit 2008 der »Claim« der Theologischen Hochschule der EmK in Reutlingen (gegründet 1877), www.th-reutlingen.de. 7 Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Art. 120, Frankfurt/M. 2012, 81. Vgl. dazu: Achim Härtner, Gottes Wirken auf der Spur bleiben. Perspektiven für Mission und Evangelisation im

Warum ich gerne Methodist bin

21

auf das, was John Wesley eine »ökumenische Gesinnung« (catholic spirit) genannt hat. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Christen aus unterschiedlichen Traditionen sagte er: »… in allen Fragen, die nicht die Wurzel des Christentums treffen, halten wir es mit der Regel: ›Denken und denken lassen.‹«8 National wie international wird die EmK in vielerlei ökumenischen Bezügen als verlässliche Partnerkirche geschätzt, mit allen Gliedkirchen der EKD besteht Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Das dritte Kennzeichen weist auf den ausgeprägten sozial-diakonischen Akzent methodistischer Theologie und kirchlicher Praxis hin.9 Dass in diesem Zusammenhang seit den Tagen John Wesleys bis heute das Thema Bildung (unter dem theologischen Vorzeichen der Heiligung: personal and social holiness) von tragender Bedeutung ist, ist für mich als Religionspädagoge ein weiterer Grund dafür, gerne Methodist zu sein.10 Achim Härtner M.A. ist Professor für Praktische Theologie / Gemeindepädagogik an der Theologischen Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen.

deutschsprachigen Methodismus des 21. Jahrhunderts, in: Theologie für die Praxis 36 (2010), H. 1–2, 92–114. Aktuelle Beispiele innovativer missionarischer Gemeindearbeit in der EmK: siehe www.freshexpressions.de. 8 Wesley, Kennzeichen (s.o. Anm. 4), 12. 9 Vgl. Soziale Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche, Fassung 2008/2010 (emk forum 36), Frankfurt/M. 2010; online: http://www.emk.de/filead min/unsere-kirche/soziale-grundsaetze-zk-2008.pdf. 10 Vgl. Achim Härtner, Bildungsverantwortung in freikirchlicher Perspektive am Beispiel des Methodismus in England und Deutschland, in: Holger Eschmann / Achim Härtner (Hg.), Glaube bildet. Bildung als Thema von Theologie und Kirche, Göttingen 2010, 40–50.

2 Ökumene – biblische, kirchengeschichtliche, systematische Perspektiven

2.1 Peter Lampe

Das Neue Testament als kanonisierte Heterogenität Eine Vielheit von Glaubensansichten setzt nicht notwendig die Vielheit getrennter Gemeinschaften aus sich heraus Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Europa, ja die Welt zerrissen hatte, hofften viele in der internationalen Ökumenebewegung, die Brüche wenigstens zwischen den Kirchen dadurch zu klammern, dass die Christen vermehrt gemeinsam in die Bibel schauten, um das jeweilige Erbgepäck um trennende dogmatische Traditionen erleichtern oder diese wenigstens neu deuten und so in ihrer Trennkraft relativieren zu können. Ernst Käsemann dämpfte 1951 in einem vielbeachteten Vortrag solches Erwarten: Der neutestamentliche Kanon begründe eher die Vielzahl der Konfessionen als die Einheit der Kirche.1 Mag der Befund der Heterogenität neutestamentlicher Glaubensäußerungen im Nachkriegseuropa etliche irritiert haben, dürfte er in der Postmoderne denen entgegenkommen, die Vielfalt als bereichernd begreifen und über die kirchlichen Rahmen hinaus auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene einen (freilich zu präzisierenden) Multikulturalismus propagieren. Im Kontext der weltweiten Migration entbehrt unser Thema auch jenseits des Ökumenediskurses nicht der Brisanz. Die folgende Skizze zeigt, dass in der Zeit der neutestamentlichen Literatur (1./2. Jh.) Differenzen in Glaubensinhalten nicht notwendigerweise zum Aufkündigen kirchlicher Gemeinschaft führten (1 und 2). Dagegen konnten Unterschiede in Glaubenspraxeis das Aufkündigen von Koinonia nach sich ziehen (3). Anhand welcher Kriterien wurde dabei entschieden? Abschließend ist zu fragen, ob sich aus dem zunächst nur innerchristlich ausgerichteten Stoff Erkenntnisse für das Verhalten von Christen in der Gesamtgesellschaft gewinnen lassen (4 und 5).

1 Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? (1951), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, I, Göttingen 31964, 214– 223.

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1 Einsicht in die Heterogenität der Glaubensäußerungen in neutestamentlicher Zeit2 Lange herrschte die Ansicht vor, das Frühchristentum des 1./2. Jahrhunderts sei eine relativ homogene Größe, wenn nicht gar ein Monolith gewesen, den an den Rändern häretische Gruppen lediglich flankierten. Zwei Stationen der Erosion dieses Bildes (in Reformation und Pietismus) seien exemplarisch genannt. Theologisch engagierte Geschichtsschreiber stellten historiographische Gegenmodelle in den Raum. Die Reformatoren, allen voran Luther und die Autoren der Magdeburger Centurien um Matthias Flacius, die dieses bahnbrechende Quellenwerk zwischen 1559 und 1574 herausgaben,3 polemisierten gegen die Papstkirche, indem sie einen garstigen Graben zwischen den Anfängen des Christentums und der nachfolgenden Kirchengeschichte zu erkennen meinten.4 Eine derartig antithetisch ausgerichtete Historiographie leistete dem Bild »reiner«, vorbildlicher Anfänge Vorschub, die im Laufe der Geschichte verdorben worden seien. Kirchengeschichte wurde als Verfallsgeschichte gelesen, als Entfremdung von authentischen Anfängen, welche erst die Reformatoren neu zur Geltung brächten. Ausgelöst wurde diese Sicht von dem gleichermaßen schlagseitigen klassisch katholischen Geschichtsmodell, dessen Wurzeln in die Alte Kirche zurückreichten, beispielsweise zu Euseb, Irenäus und Hegesipp. Durch apostolische Sukzession sei die Kirche mit den Anfängen in Jesus verknüpft und als Verwalterin übernatürlicher Wirklichkeit dem historischen Wandel im Wesentlichen entzogen. Die institutionalisierte Papstkirche verwalte ewige Sakramente, eine reine Lehre und sichere so die Unversehrtheit der übernatürlichen Dimension des Christentums. Der die Geschichte kennzeichnende Kampf zwischen Gut und Böse, manifest in Angriffen auf die Kirche durch Ketzer und Verfolger, rüttele lediglich an dieser zeitlosen Statik. Bereits Hegesipp hatte diese Sicht in der Mitte des 2. Jahrhunderts vorbereitet. Auf seinen Reisen durch die Großstädte des römischen Reichs hatte er verschiedene Christengemeinden aufgesucht und zu erkennen gemeint, dass dortige Führungsfiguren seit den Aposteln eine einheitliche Lehre kontinuierlich überliefert hätten (Eusebius, Hist. Eccl. 4.22.2–3). In Rom beispielsweise traf er um 160 n.Chr. auf Anicet, der mit den Beziehungen der römischen Hausgemeinden zu Gemeinden anderer

2 Vgl. zu diesem Abschnitt z.B. Peter Lampe, Induction as Historiographical Tool: Methodological and Conceptual Reflections on Locally and Regionally Focused Studies, Annali di Storia dell’Esegesi 30/1 (2013) 9–20, hier bes. Abschn. II. 3 Matthias Flacius et al., Ecclesiastica Historia (Magdeburger Centurien), Basel: Oporinus, 1559–1574. Leicht zugänglich online: http://www.mgh-bibliothek.de/ digilib/centuriae.htm. 4 Dazu z.B. Gerhard Ebeling, Studium der Theologie: Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 22012, 69–82, wo auch das katholische Geschichtsbild diskutiert wird, gegen das die Reformatoren sich wandten.

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Städte betraut war und sich so auch um auswärtige Gäste kümmerte.5 Hegesipp stellte zufrieden fest, dass Anicets Lehransichten den seinen entsprachen. Nicht erwähnte er, dass Anicet, wiewohl eine Führungsfigur in Rom, damals nicht der einzige herausragende Repräsentant christlicher Tradition in der Welthauptstadt war, geschweige denn bereits ein monarchischer Bischof, der im Namen der Christen der Stadt Rom hätte sprechen können. Um 160 n.Chr. existierte das stadtrömische Christentum in verschiedenen Einzelgruppen, die über die Stadt verstreut sich in Hausgemeinden trafen, so dass im 2. Jahrhundert eine bunte Vielfalt von Glaubenslehren in der stadtrömischen Christenheit herrschte.6 Hegesipps Sicht, geprägt vom Kontakt mit seinem Gastgeber Anicet, war reduktionistisch. Darüber hinaus bleibt eine apostolische Sukzession (διαδοχή), ein angeblich treues und kontinuierliches Übermitteln reiner Lehre in Rom seit den apostolischen Anfängen, ein Postulat, für das Hegesipp keinen Beweis antritt. Er kann keinen Träger apostolischer Tradition vor Anicet, das heißt, vor der Mitte des 2. Jahrhunderts, mit Namen benennen. Der Grund ist einfach: Es gab keine einlinige Kette von lehrmäßig »authentischen« Individuen, die – einer nach dem anderen – den Staffelstab einer solchen apostolischen Tradition weitergereicht hätten. Eine Vielheit von Menschen überlieferte – und kreierte – in den stadtrömischen Hausgemeinden ein breites Spektrum christlicher Traditionen.

Ein letzter Grund schließlich entlarvt Hegesipps Geschichtssicht als fiktiv. Selbst wenn es eine einsträngige Kette nacheinander treu überliefernder Traditionsträger gegeben hätte, bleibt das Problem, was sie eigentlich übermittelt hätten. Eine einheitliche apostolische Doktrin gab es zu Beginn des Christentums nicht. Paulus hatte sich mit Petrus beim Antiochenischen Zwischenfall (Gal 2) heftig zerstritten. Nicht einmal über den Umfang des Apostelkreises war man sich im 1. Jahrhundert einig. Waren Apostel nur die Zwölf (Lukas) oder zum Beispiel alle, die eine Ostervision erlebt und sich dadurch zur Mission hatten berufen lassen (Paulus, z.B. 1Kor 15; Röm 16,7)? Das sog. Jerusalemer Apostelkonzil (Gal 2) hatte tiefe theologische Gräben zwischen Fraktionen gezeigt, die sich über den Geltungsbereich der Tora stritten. Die Christologien, auch die frühen, liefen auseinander. Im vorpaulinischen Philipperhymnus (Phil 2) zum Beispiel wurde früh in Aufnahme des jüdischen Sophiamythos die Präexistenz Jesu behauptet, während in Röm 1,3–4 eine alte judenchristliche Zweistufenchristologie nachzuhallen scheint, nach der Jesus, »geboren aus dem Samen Davids«, erst mit der Auferstehung in die Gottessohnschaft eingesetzt wurde. Jedes der Evangelien vertrat ein eigenes Profil, wie seit dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Methode und des Narrative Criticism überdeutlich wurde. Das matthäische Christentum, das der Toraobservanz weiterhin verpflichtet war, aber zugleich sich der Heidenmission öffnete (wohl unter dem Toravorzeichen, wenn Mt 28,19 neben 5,17f. gelegt wird), stand den Gegnern des Paulus in Galatien eine Generation vorher theologisch allem Anschein nach näher als Paulus. Der Johannesapokalyptiker pole5 Siehe Peter Lampe, From Paul To Valentinus: Christians at Rome in the First Two Centuries, Minneapolis/London 42010, 403. 6 Siehe ausführlich Lampe, From Paul (s.o. Anm. 5), bes. 357–408.

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misierte in seinen Sendschreiben (Off 2–3) gegen im Wesentlichen vom Paulinismus geprägte Gemeinden des westlichen Kleinasiens und fand für Paulus keinen Apostelplatz im himmlischen Jerusalem (21,14). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Was die spätantike Kirche – gewollt oder ungewollt – kanonisierte, war die Heterogenität des Neuen Testaments, nicht eine monolithische Lehre, die von den Aposteln den späteren Kirchenführern »rein« übermittelt worden wäre. Eine solche Geschichtsfiktion freilich half, die Machtpositionen der Führungsfiguren zu stabilisieren: Für Rom zum Beispiel wurde Hegesipps Fiktion im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts zu einem römischen »Bischofskatalog« ausgebaut (Irenäus, Haereses 3.3.3), der behauptet, dass die Kette treuer Übermittler apostolischer Tradition in Rom eine nahtlose Sukzession zwölf namentlich genannter Kirchenführer war, die den Apostel Petrus mit Eleutherus von Rom (ca. 175–189 n.Chr.) verband. Die Liste lässt sich nicht durch die Quellen, die der fiktiven Kette zeitgenössisch gewesen wären, abdecken, ja sie läuft ihnen zuwider.7 Sie entstand vielmehr just dann, als in Rom der Monepiskopat sich herausbildete. Wenn wir weder das klassisch protestantische Geschichtsbild eines Verfalls anfänglicher Orthodoxie in Heterodoxie noch das klassisch katholische eines durch die Zeit hindurch mehr oder weniger stabilen Orthodoxiekontinuums, flankiert von irritierenden Häresien, uns zu eigen machen, ist für die ersten beiden Jahrhunderte folgendes Modell adäquater: Seit den frühen nachösterlichen Anfängen lebten Gruppen mit verschiedenen Glaubensansichten und Glaubenspraktiken nebeneinander her – in einem trotz unterschiedlicher Sichtweisen aufs Ganze gesehen relativ unkomplizierten Verhältnis. Der Grund für letzteres lag nicht darin beschlossen, dass diese frühchristlichen Gruppen besonders tolerant gewesen wären, sondern darin, dass sie schlicht oftmals nicht vom Anderssein der anderen wussten. Höchstwahrscheinlich kannte Lukas das Matthäusevangelium nicht, Paulus und Markus nicht die Logienquelle Q. Dezentral organisiert, manifestierte sich christliches Gemeinschaftsleben in den ersten beiden Jahrhunderten ausschließlich in verstreuten Kleingruppen: in über das Reich und seine Städte verstreuten Hausgemeinden, die sich im Rahmen privater Wohnungen und Häuser von gastfreundlichen Glaubensgeschwistern trafen. In diesem dezentralen Netz nahmen die Gruppen nur gelegentlich Ärger erregende Reibung mit dem Anderssein anderer Gruppen wahr und zogen trennende Demarkationslinien – wie im Falle Marcions im Jahre 1448 und in der Hauptstadt Rom vermehrt seit dem Ende des 2. Jahrhunderts, als sich dort der Monepiskopat herausgebildet hatte.9

7 Siehe zu den Einzelheiten Lampe, From Paul (s.o. Anm. 5), 403–406. 8 Dazu Lampe, From Paul (s.o. Anm. 5), 392–393. 9 Siehe ausführlich für die Hauptstadt Lampe, From Paul (s.o. Anm. 5), 385–408.

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In heutiger Forschung spiegelt sich nicht selten ein Wertschätzen der lange Zeit mit dem Ketzerstigma belegten heterodoxen spätantiken Gruppen, etwa in Elaine Pagels Büchern zu gnostischen Kreisen.10 Doch dergleichen Rehabilitationsbemühen ist nicht neu. Bereits 1699/1700 veröffentlichte der pietistische Theologe Gottfried Arnold sein bahnbrechendes Werk »Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688«.11 Provozierend behauptete er, dass oft die sog. Häretiker den authentischen Glauben und eine echte Spiritualität vertreten hätten, während die etablierten Kirchen mit hierarchischen Ämtern und Dogmatismus die christliche Wahrheit institutionell zu verobjektivieren versucht und so erstarrt hätten. Der das Subjektive bei der Wahrheitssuche betonende Pietist schwang Ketzergeschichte als Waffe. Auch wenn sein Buchtitel es verhieß, gänzlich »unparteyisch« war das Opus nicht. Arnolds pietistischer Bias mag – auch für heutige Schüler – die Frage aufwerfen, wo denn unser Bias sitzt, wenn wir ggf. frühchristliche Heterogenität nicht als eine Not, sondern als eine Tugend des Kanons begrüßen. Spiegelt sich postmodern-relativistisches Geprägtsein? So wie sich im historiographischen Verfallsmodell der Reformatoren deren Frontstellung gegen die Papstkirche spiegelte, oder im Geschichtsbild der Papstkirche das Bestreben der Selbstlegitimation? Die Heterogenität frühchristlicher Gruppen stellt nur eine Seite dar. Theologisch spannender wird es – und schwerer für viele zu akzeptieren –, wenn nicht heterogene Gruppen, sondern inkonsistente Heterogenität innerhalb der Theologie eines einzelnen Autors in den Blick genommen wird. Als Heikki Räisänen, heutiger Altmeister der finnischen Neutestamentler, zu Beginn der 1980er Jahre sein Buch »Paul and the Law«12 für den Druck vorbereitete, das schonungslos Widersprüche und Brüche in der (Rechtfertigungs-)Theologie des Apostels Paulus offenlegte, kommentierte Martin Hengel auf einem Tübinger Symposium bissig, hier belle der Hund den Mond an.13 Es hagelte aus verschiedenen Windrichtungen Kritik an Räisänen,14 denn sein Finger stocherte mit Recht in einer schmerzhaften Wunde. 10 Zum Beispiel Elaine Pagel, Beyond Belief: The Secret Gospel of Thomas, New York 2003; The Gnostic Gospels (1979), Harrisburg, PA 21992; dies., Reading Judas: The Gospel of Judas and the Shaping of Christianity, zusammen mit Karen L. King, New York 2007. 11 Leicht zugängliches Faksimile der Ausgabe von 1729 (Frankfurt: 1729) in den Library of Congress Digital Collections: http://lcweb2.loc.gov/cgi-bin/ampage? collId=rbc3&fileName=rbc0001_2010houdini13674page.db. 12 Tübingen (1983) 21987. 13 Eigenes Ohrenzeugnis. Räisänen war nicht zugegen. Zur Größe Hengels gehört, dass er das Buch gleichwohl in seiner WUNT-Reihe erscheinen ließ. Das Symposium fand 1982 statt, noch bevor die Erstauflage des Buches erschien. 14 Vgl. z.B. Teunis E. van Spanje, Inconsistency in Paul? A Critique of the Work of Heikki Räisänen, Tübingen 1999.

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Gleichwohl sollen an dieser Stelle nicht Probleme der Rechtfertigungsund Gesetzeslehre des Paulus beschäftigen, sondern ein Beispiel der Heterogenität beleuchtet werden, das in der Kirchengeschichte die konfessionellen Abgrenzungen besonders mit beförderte: die Interpretation des Abendmahls. Dabei muss nicht einmal der Gesamtkanon in den Blick genommen werden, um spannungsreiche Heterogenität zu entdecken; vielmehr reichen zunächst Paulustexte (1Kor 10,14–22; 11,17–34). Auch reicht es, sich auf die Frage zu beschränken, wie die Präsenz des gekreuzigten und auferstandenen Christus in diesem Mahl gedacht wurde, während wir andere Aspekte dieser vielschichtigen Abendmahlstexte ausblenden. 2 Das Gemeinschaftsmahl der Eucharistie als Trennfaktor? In der vorpaulinischen Abendsmahlstradition von 1Kor 11,24–25 wird das Abendmahl – ein in Gemeinschaft eingenommenes Sättigungsmahl im Urchristentum – noch als reines Erinnerungsmahl vorgestellt.15 Der Kelch, aus dem gemeinsam getrunken wird, deutet auf den neuen Bundesschluss, der am Kreuz gestiftet wurde (V. 25); das Brechen des Brotes deutet zurück auf das Zerbrechen des Kreuzesleibs Christi im Tode auf Golgotha (V. 24).16 Mitnichten ist in diesem Frühstadium schon an eine Identität von Wein und Blut oder von Brot und Kreuzesleib gedacht, mitnichten schon an eine Präsenz des Gekreuzigten in Mahlelementen. Sehr bald jedoch, spätestens bei Paulus, kam eine Deutung auf, die nicht nur auf erinnerte Vergangenheit abhob, sondern eine besondere Christusgegenwart behauptete – wenn auch noch nicht eine Christuspräsenz in den Mahlelementen. In hellenistischer Umwelt lebende frühe Christen wie Paulus und die Korinther waren von der sog. prinzipalen Realpräsenz17 des Kyrios Christus während des Herrenmahles überzeugt: Der erhöhte Christus war, so wurde vorgestellt, im Pneuma (Geist) als

15 Vgl. zum Folgenden mit weiteren Ausführungen Peter Lampe, Die Wirklichkeit als Bild, Neukirchen-Vluyn 2006, 135–140. 16 Da 11,24 zu 11,25 und 10,16 parallel steht, ist »ist« (ἐντίν) nicht nur beim Kelch-, sondern auch beim Brotwort mit »bedeutet« zu übersetzen. Ferner ist das erste »dieses« (τοῦτο) in V. 24 eher auf den Akt des Brotbrechens und Danksagens (V. 24a) als auf das Element Brot zu beziehen, denn das zweite τοῦτο (»dieses tut«, nämlich Danksagen und Brotbrechen) nimmt das erste τοῦτο auf. In dieselbe Richtung weist auch, dass der Parallelvers V. 25b (»dieses tut«) sich ebenfalls auf den liturgischen Akt, in diesem Fall auf Kelchnehmen und Danken bezieht (in der Breviloquenz von V. 25a fehlen die beiden Handlungen, sind jedoch aus V. 23f. zwingend zu ergänzen, damit V. 25a ein Prädikat erhält). 17 Vgl. zur Terminologie Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, Münster 1982, 373–374.

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Princeps, Tischherr und Gastgeber personal zugegen,18 so dass in Gemeinschaft mit ihm das Mahl eingenommen wurde. Das Pneuma, das »in euch wohnt« (1Kor 3,16), wurde mit Christus identisch gedacht (2Kor 3,17), so dass Pneumapräsenz Christusgegenwart bedeutete. In der hellenistischen Umwelt nahmen Teilnehmer an paganen kultischen Sättigungsmahlzeiten eine ähnliche Realpräsenz ihrer Gottheit an. Im 2. Jahrhundert n.Chr. zum Beispiel schrieb Aelius Aristides über die Sarapis-Kultmahlzeit: Gott Sarapis sei gegenwärtig inmitten derer, die sich in seinem Namen versammeln und Speisen zum Opfermahl mitbringen. Sarapis selbst sei Tischgenosse, Gastgeber und Leiter des Opfermahls.19 Für Paulus kam freilich noch eine besondere Nuance zur prinzipalen Realpräsenz hinzu. Nie konnte der Apostel den Erhöhten losgelöst von der Kreuzigung denken. Solange der eschatologische Vorbehalt galt (1Kor 11,26d), war der Erhöhte für die Christen immer zugleich der Gekreuzigte. Bereits das griechische Perfekt »Gekreuzigter« von 1Kor 2,2 vermittelte den Gedanken: Wird Christus verkündet, so als jemand, dessen Tod nicht nur (aoristisch) verging, sondern Gegenwart qualifiziert. Paulus kritisierte mit diesem Gedanken den pneumatischen Enthusiasmus der Korinther, der ausschließlich am Erhöhten interessiert war, das Kreuz dagegen als überwunden hinter sich gelassen zu haben meinte (vgl. 1Kor 4,8). Kombinierte Paulus diesen Gedanken mit dem der prinzipalen Realpräsenz Christi im Herrenmahl, so ergab sich, dass in Gemeinschaft mit Christus das Abendmahl einzunehmen bedeutete, in die Tischgemeinschaft nicht nur des Erhöhten, sondern auch des Gekreuzigten einzutreten. Folgerichtig schrieb Paulus in 1Kor 10,16, dass im Abendmahl der Christ in die Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten gestellt werde. Eine solche Akzentsetzung lag umso näher, als die vorpaulinische Abendmahlstradition selbst deutlich auf den Kreuzestod abgehoben hatte (1Kor 11,23–25). Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten ausdrückend, formulierte Paulus in 1Kor 10,16: Der Kelch »bedeutet Gemeinschaft (Koinonia) mit dem Blute Christi«, das Brot »bedeutet Gemeinschaft mit dem 18 Vgl. z.B. die Formulierungen von 1Kor 10,21: »Den Kelch des Herrn trinken … am Tisch des Herrn Anteil haben«. Darüber hinaus vermittelte jeder liturgische Leiter des eucharistischen Mahls dadurch, dass er die in der ersten Person gehaltenen Herrenworte von 1Kor 11,24f. sprach, den Eindruck, Christus selbst teile Brot und Wein aus. Angesichts der Geistpräsenz stellte dies für Paulus nicht bloße Rhetorik dar. Auch dem typologischen Midrasch von 1Kor 10,1ff. zufolge wird in der Eucharistie »zum Geist gehörende, vom Geist (= Christus) gegebene« Nahrung gegessen und getrunken (1Kor 10,3f.). 19 Aelius Aristides, Sarap. 54,20ff (ed. Dindorf); siehe weiter Peter Lampe, Das korinthische Herrenmahl im Schnittpunkt hellenistisch-römischer Mahlpraxis und paulinischer Theologia Crucis (1Kor 11,17–34), ZNW 82 (1991) 183–213, hier v.a. 196f. mit Anm. 40 und 49. Paulus selbst zieht in 1Kor 10,18–22 eine Parallele zwischen Herrenmahl und pagan-kultischen Opfermahlzeiten.

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(Kreuzes)leib Christi«, was dem paulinischen Selbstverständnis des MitChristus-Mitgekreuzigtseins entsprach (z.B. 2Kor 4,10; Gal 6,17.19; Phil 3,10; Röm 6,3–6). Die Alternativübersetzung von Koinonia in 1Kor 10,16 wäre: »Teilhabe am Blute Christi« beziehungsweise »am Leibe Christi«, was auf Christuspräsenz in den Mahlelementen hindeuten würde. Doch dagegen spricht der unmittelbare Kontext: In 10,20 kann das griechische koinonoi nur »Leute, die mit den Dämonen in Gemeinschaft stehen« heißen. Denn Opfernde haben nicht teil an den Dämonen, sondern sie haben mit den Dämonen zusammen an den Opfern teil, die diesen dargebracht werden, was zur Gemeinschaft mit den Dämonen führt.20 Gleichermaßen auf den Kreuzestod legt Paulus den Akzent in 1Kor 11,26, wenn er die vorpaulinische eucharistische Tradition mit eigenen Worten zusammenfasst: Wenn immer die Christen das eucharistische Brot essen und aus dem einem Kelch trinken, »verkünden« sie den Tod Christi.21 Wer am eucharistischen Mahl teilnimmt, wird also nicht nur in die Koinonia des im Abendmahl gastgebenden erhöhten Kyrios gestellt, sondern auch in die Gemeinschaft des Gekreuzigten. Dadurch, dass der Gekreuzigte selbst gegenwärtig ist, wird sein Tod im Ritus präsent. Der Ritus setzt die Zeitdifferenz zwischen Golgatha und Sakramentsteilnahme außer Kraft.22 Christuspräsenz in den Elementen von Brot und Wein ist so jedoch noch nicht ausgesagt. In 1Kor 10,16 werden – anders als in der vorpaulinischen Abendmahlstradition 11,24–25– zwar schon Kelch/Blut und Brot/Leib parallelisiert, doch gilt noch nicht, dass der Kelchinhalt das Blut ist (1Kor 11,25); noch gilt nicht, dass das Brot der Leib ist. 1Kor 10,16 lautet gerade nicht: »Der Kelch …, ist er nicht das Blut Christi? Das Brot …, ist es nicht der Leib Christi?« Auch der Trank Israels in der Wüste von 1Kor 10,4, der für Paulus typologisch auf den eucharistischen Trank vorausweist, ist nicht mit Christus identisch, sondern kommt von diesem her und stiftet so Gemeinschaft mit ihm. Die Vorstellung des im Mahl gegenwärtigen Gastgeber-Christus, in dessen Gemeinschaft ge20 Paulus rechnet damit, dass pagane Opfer nicht, wie von den Opfernden intendiert, Göttern, sondern de facto Dämonen dargebracht werden. Siehe weiter Peter Lampe, Die dämonologischen Implikationen von I Korinther 8 und 10 vor dem Hintergrund paganer Zeugnisse, in: Armin Lange u.a. (Hg.), Die Dämonen: Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 584–599. 21 »Verkünden« ist für Paulus ein kraftvolles Vergegenwärtigen. Nach 1Kor 1,18– 2,5 kommt im Verkündigen die Dynamis des verkündeten Ereignisses selbst auf den Hörer zu: Paulus’ Predigt vergegenwärtigt den Christus-Tod so wirksam, dass in diesen Worten die rettende und richtende Kraft des Kreuzestodes präsent wird und die Existenz der Hörer verändert. 22 Dasselbe gilt Röm 6,3–8 für den Taufritus, in dem der Täufling mit Christus mitstirbt.

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speist wird und der vor allem als Gekreuzigter zu denken ist, gibt Paulus’ Auffassung besser wieder als die der Christuspräsenz in den Abendmahlselementen.23 Die Vorstellung von der Präsenz des gekreuzigten Christus in den Abendmahlselementen von Brot und Wein ist erst in Joh 6,52–58 zu greifen, allerdings nur in einer vorredaktionellen Schicht;24 möglicherweise, obwohl unentscheidbar, auch schon in Markus 14,22.25 Mit fortschreitender Parallelisierung von Brot- und Kelchwort wurde nun die Identität (und nicht nur eine symbolhafte Ähnlichkeit) von eucharistischem Wein und am Kreuz vergossenem Blut sowie von gebrochenem Brot und Kreuzesleib behauptet. Auf dieser letzten Stufe des Deutungsprozesses wurde mithin vor dem Tabubruch26 des Verzehrens eines Menschen nicht zurückgeschreckt. Religiöse Rituale spielen oftmals mit dem fascinum des Feuers, des Skandalösen, ohne zu versengen: Das Ritual bricht Tabus in sozial akzeptabler Weise, damit sozial schädliches Tabuverletzen außerhalb des Rituals unterbleibt – den römischen Saturnalien nicht unähnlich: Einmal im Jahr wechselten Herren und Sklaven die Rollen. Der Sklave durfte den Boss spielen, was ihm die Rückkehr in den Sklavenalltag erleichterte. Das Ritual stabilisierte das von den Herren etablierte soziale Normsystem, indem es in entschärfter Weise die Norm brach. Welche hermeneutischen Schlussfolgerungen lassen sich ziehen? Die Skizze zeigt, dass im Kanon, ja selbst bei ein und demselben Autor (Paulus) verschiedene Eucharistiedeutungen nebeneinander stehen konnten. Bereits im neutestamentlichen Kanon versammelten sich die Referenztexte für alle späteren, von den Konfessionen vertretenen Abendmahlslehren; letztere bieten eine Palette vom bloßen Erinnerungsmahl bis hin zur Transsubstantiation. Der widersprüchliche Reichtum des historisch gewachsenen Kanons spiegelt den Reichtum des ökumenischen Christentums und kanonisiert an diesem Punkt nicht das RechthabenWollen der Einzelkonfession. Kanonisiert ist ein Nebeneinander, welches sich – angesichts des Gemeinschafts-Charakters der Eucharistie – 23 Gegen z.B. Klauck, Herrenmahl (s.o. Anm. 17), 374. 24 Der Endredaktor selbst distanziert sich von diesem materiellen Verständnis, indem er es spiritualisiert: »Der Geist gibt Leben, das Fleisch nützt zu nichts. Die Worte, die ich (=Jesus) (in den vorangegangenen Versen) zu euch sprach, sind Geist« (6,63). D.h., diese Worte müssen metaphorisch, symbolisch, nicht wörtlich verstanden werden. Justin im 2. Jh. dagegen scheint das materielle Verständnis akzeptiert zu haben (Apol. 1,66,2). 25 Da für Paulus (1Kor 11,24) selbst die Gleichung eucharistisches Brot = Kreuzesleib und mit ihr die Lesart »dieses ist mein Leib« aus den o.gen. Gründen nicht in Frage kommt, ist für ihn der Opfertod Christi im Ritual auch nicht wiederholbar: »Ein für alle Mal« starb Christus am Kreuz in Jerusalem (Röm 6,10). Der sakramentale Akt vermag diesen Tod lediglich zu vergegenwärtigen. 26 Vgl. dazu Gerd Theißen / Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 21997, 384–385.

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zu einem versöhnten Miteinander entwickeln sollte, bei dem alle an denselben Mahltisch treten und Gemeinschaft leben, obwohl sie zum Teil unterschiedliche Deutungskategorien im Kopf mit sich tragen. Vielleicht werden sich die Konfessionen einmal auf einen Minimalnenner bei der Abendmahlsdeutung einigen können, zum Beispiel auf den, dass während des Mahls das Pneuma, das mit dem erhöhten Christus in eins ist, in besonderer Weise anwesend ist und Gemeinschaft der Teilnehmer untereinander stiftet. Der Minimalnenner verwehrt dem Einzelnen nicht, den Quotienten im Nenner und Zähler mit anderen Faktoren zu multiplizieren, welche ihm erlaubten, auch noch weitere Arten der Realpräsenz zu denken. Der Wert des Quotienten änderte sich dadurch nicht! Für Paulus jedenfalls waren das Dass der Präsenz Christi und die ethische Implikation des Ritus, nämlich achtsame Agape der Gemeindeglieder untereinander (1Kor 11,17–34), lebenswichtiger als ein neugieriges Ausfasern des Wie. Bedeutsamer als das Wie der Präsenz war ihm ihre Funktion: Rettend und richtend (11,29–32) tritt Christus in die Gemeinschaft der Mahlfeiernden ein: richtend für die, die die ethische Implikation nicht wahrnehmen – nicht etwa für die, die das Wie anders als andere zu denken sich getrauen. Nicht über Heterodoxie regt sich Paulus in 1Kor 11 auf, sondern über Heteropraxie (s.u. 3), über das lieblose, Gemeinschaft zerstörende Behandeln anderer Gemeindeglieder, die vom eucharistischen Sättigungsmahl hungrig aufstehen müssen. Fazit: Bereits in den neutestamentlichen Schriften des ersten Jahrhunderts leuchtet eine atemberaubende Buntheit der Traditionen auf, die nicht als Mangel, sondern als Reichtum begriffen werden kann. Kanonisiert wurde im Neuen Testament eine Vielfalt, was weitreichendere theologische Folgen zeitigen müsste, als die Konfessionen bislang bereit sind, sich einzugestehen. Die kanonische Varianz beim Wie der eucharistischen Christuspräsenz zwingt zur Einsicht, dass allein das Dass wichtig wäre. Das Kirchenvolk weiß dies seit langem. Vielleicht werden die Kirchen sich in den nächsten fünfhundert Jahren einmal von dieser schlichten Einsicht leiten lassen und in versöhnter Vielfalt gemeinsam an einen Tisch treten. Die Gemeinden um den Abendmahlstisch dürfen farbenfreudig sein wie das Buch, das auf diesem liegt. Dass das auf Gemeinschaft angelegte eucharistische Mahl in besonderer Weise Konfessionen trennte – eine bittere Ironie –, zeigt die Brisanz des Abendmahlsbeispiels. Es zeigt aber auch, dass Interpretationsdifferenzen in neutestamentlicher Zeit noch nicht als Spaltpilz empfunden wurden; selbst bei ein und demselben Autor – Paulus – konnten Erinnerungscharakter und prinzipale Realpräsenz im selben Text nebeneinander stehen, ohne dass Paulus darin einen Widerspruch entdeckt hätte. Insofern eignet dem Abendmahlsbeispiel auch Repräsentanz. Denn insgesamt, so sahen wir, wurde wegen dogmatischer Differenzen in den ersten 150 Jahren des Christentums nur in Ausnahmefällen die Koinonia gekündigt.27 27 S.o. bei Anm. 9.

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3 Trennung nicht wegen dogmatischer Differenzen, sondern wegen Verhaltensweisen 1Kor 11,17–34 zeigte, liebloses Nicht-Aufeinander-Warten beim sättigenden Abendmahl führte zu Spaltungen (σχίσματα) in Korinth, nicht etwa Lehrdifferenzen. Einige Mitchristen wurden nicht satt, was die anderen, gesättigt und teilweise gar beschwipst, wenig störte. Ähnlich hatten sich Apostelparteien in Korinth formiert (1Kor 1–4), die je einen Apostel auf den Schild hoben, wahrscheinlich weil er die jeweiligen Parteigänger in den Christenglauben eingeführt hatte. Neben Petrus und Apollos war Paulus so ohne sein Zutun zu einem verehrten Parteihaupt geworden. Was Paulus in seiner Reaktion nicht thematisierte, sind Lehrdifferenzen. Er hielt es für überflüssig, Inhalte, die den Parteien bei ihrem Streben nach »Weisheit« wichtig gewesen wären, zu besprechen. Vielmehr regte er sich über das Verhalten auf: dass überhaupt menschliche Apostel heroisiert wurden, die Parteien sich gegeneinander aufblähten und jeweils auf die anderen Parteien herabblickten. Dieser lieblose Personenkult spaltete, so dass der Apostel erneut von Schismen (σχίσματα) in der Gemeinde sprechen musste (vgl. 1Kor 11,18 mit 1,10f). Ein Kapitel weiter exkommunizierte Paulus einen Übeltäter, der eine Form der Inzucht pflegte, die auch in der paganen Umwelt verpönt war (1Kor 5). Hier zog Paulus selbst die Trennungslinie, weil er fürchtete, andere in der Gemeinde könnten in ihrem Verhalten angesteckt werden. Ähnlich schleuderte er in 2Kor 10–13 ein Anathema gegen sog. Fremdmissionare, in Korinth zugereiste pneumatisch-charismatische Prediger, die des Paulus Legitimität in Frage stellten. Sie taten dies nicht wegen ersichtlicher Lehrdifferenzen. Sowohl sie als auch Paulus waren pneumatische Charismatiker, aber sie lebten ihre Geistesgaben anders aus als Paulus: Während Paulus über sein eigenes visionär-ekstatisches Erleben, namentlich ein extrakorporelles »Himmelsreise«-Erlebnis (2Kor 12), lieber gar nicht reden wollte28 bzw. Geistesgaben ausschließlich in den Dienst der Gemeinde zu stellen empfahl, anstatt sich selbst damit zu beweihräuchern und zu brüsten (1Kor 12), stellten jene – für Paulus’ Geschmack – zu sehr ihre Pneumata selbstrühmend heraus und höhnten über Paulus, dass er kein richtiger, vom Geist begabter Apostel sei. Dass diese Fremdmissionare wie die Gegner im Galaterbrief in der Lehre von Paulus abgewichen wären, indem sie Toragehorsam auch von Heidenchristen einforderten (s.u.), ist nicht ersichtlich. Im 2./3. Jahrhundert sollte den Montanisten Ähnliches widerfahren wie den korinthischen Fremdmissionaren. Dogmatisch unterschieden sie sich nicht von den übrigen Gemeinden. Sie praktizierten jedoch ihre Prophe28 Auch über Details seiner Ostervision (was nahm er eigentlich wahr, als er Christus zu sehen meinte?) schreibt er nicht. Erst Spätere wie Lukas meinten hier mehr wissen zu sollen.

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tie auf betont ekstatische Weise. Auch ließen sie in ihren Orakeln Gott unvermittelt in der ersten Person sprechen, was Montanus den Spott einbrachte, er würde sich selbst als Gottheit gerieren. Zu allem Überfluss nahmen Frauen einflussreiche Positionen in ihren Gemeinden ein. Eben diese Praxeis riefen Gegner auf den Plan. Bei Paulus’ Konflikt mit seinen »judaistischen« Gegnern, die ihm in seine neugegründeten Gemeinden nachreisten und die Heidenchristen davon zu überzeugen suchten, auch die Tora zu befolgen, damit sie vollgültige Christen werden könnten, schien es vordergründig ebenfalls nur um Praxis zu gehen: um toraobservantes Verhalten. Doch stand für Paulus hier zugleich die soteriologische Lehre auf dem Spiel: Reicht das Vertrauen auf Christus und seine Heilstat vollends aus, oder muss auch der Sinaibund mitsamt seinen Vertragsklauseln, der Tora, eingehalten werden? Falls ja, würde für Paulus dadurch die Heilstat Christi geschmälert. In Gal 1,8f. schleuderte er deshalb ein Anathema aufgrund eines für ihn zentralen Lehrdissenses. Ähnlich brach er beim Antiochenischen Konflikt mit Petrus (Gal 2), weil dieser trotz seiner vorher gelebten Torafreiheit bei der Ankunft der strikt toratreuen Jakobusleute dafür plädierte, dass die Antiochener um der Einheit der Gemeinde willen die diätischen Vorschriften der Jakobusleute für die Zeit des Besuches übernehmen. Für Paulus war damit der Status confessionis eingetreten, während Petrus den Fall scheinbar so beurteilte, wie Paulus es später in Röm 14f. tat: Für Petrus war hier offensichtlich nicht eine soteriologische Grundsatzfrage zu diskutieren, sondern pragmatisch eine Frage der Liebespraxis, bei der auch einmal auf Freiheit verzichtet werden kann, wenn damit »schwächeren« Mitchristen geholfen und die Koinonia in der Gemeinde bewahrt werden kann. Fazit: Wird von der Frage der soteriologischen Rolle der Tora abgesehen, wurden Trennlinien v.a. dann gezogen, wenn Praxeis missfielen, weil sie Agape vermissen ließen beziehungsweise übersteigerte Eigensucht verrieten, weil sie die moralische »Reinheit« der Gemeinde (1Kor 5) zu gefährden schienen oder eine Praxis der Geistesgaben Anstoß erregte. Nicht von ungefähr schleuderte Paulus in 1Kor 16,22 ein Anathema für den Fall, dass »jemand den Herrn nicht liebt (φιλέω)«. Damit wies er nicht auf Lehrdifferenzen als Trennungskriterium zwischen Christen, sondern wiederum auf die Liebe, in diesem Fall auf die affektive Intensität der Gottesbeziehung, die sich vor allem an den Früchten im Verhalten ablesen lässt. Programmtisch schreibt Matthäus (7,21): »Nicht jeder wird in das Reich der Himmel eingehen, der zu mir sagt: Herr, Herr«, also das richtige Bekenntnis pflegt, »sondern der den Willen meines Vaters in den Himmeln tut.« Heteropraxie vermag zu scheiden, während Orthodoxie allein die Einheit der Geretteten nicht zu konstituieren vermag. Die Herausforderung des Logions Mt 7,21 besteht darin, dass beide, Orthodoxie und Orthopraxie, notwendige Bedingungen für den »Eintritt ins Himmelreich« und so implizit für christliche Koinonia dar-

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stellen, aber beide je für sich keine hinreichenden Bedingungen. Erst ihre Kombination stellt eine hinreichende Bedingung dar. 4 Heterogene Glaubensvorstellungen als theologische Notwendigkeit?29 Nachdenkliche in der Theologiegeschichte machten punktuell sich immer wieder bewusst, den von ihnen verkündeten souveränen Gott nie in ihren Sätzen einfangen zu können, immer nur unter Vorbehalt zu formulieren und im tiefen Grunde theologisches Reden nur in doxologischer, in anredender Gebetssprache – so wie Augustin in seinen Confessiones – verantworten zu können, nicht in Aussageform. Aber selbst für die Anredeform galt: »Sei nicht schnell mit dem Munde …, etwas zu reden vor Gott. Denn Gott ist im Himmel und du auf Erden. Darum lass deiner Worte wenig sein … Wo viele Worte sind, hört man den Toren« (Prediger 5,1–2.11). Die Souveränität Gottes weist das Reden des Gläubigen in die Bescheidung. »Der Mensch hat keine Macht, den Wind aufzuhalten« (8,8).30 Auch Paulus wusste um die Relativität von Theologie als einem Reden unter dem Kreuz. Das heißt, theologisches Reden konnte für ihn nie Absolutheit beanspruchen, sondern immer nur »mit Zagen und viel Zittern« (1Kor 2,3) als etwas Fragmentarisches und in situationsgebundene Briefe Zerstückeltes verantwortet werden. Ein Beispiel sei genannt. Zu Paulus’ Verzicht auf eine ausgefeilte Dogmatik »aus einem Guss« gehörte, dass er mehrere soteriologische Konzepte relativ unverbunden nebeneinander stellte. Soteriologie entfaltete er in verschiedenen Sprachhorizonten: im taufsprachlich-partizipatorischen (Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus: Röm 6), im forensischen (Rechtfertigung), im kultischen (Bund stiftender Opfertod: 1Kor 11,25 in Aufnahme von Ex 24; darüber hinaus Christus als Ort der Sühne, vermittelnd zwischen Gott und Menschen: Röm 3,25 in Aufnahme von Lev 16); im unkultischen der Stellvertretung (Jes 53; hierher und weniger in kultischen Zusammenhang gehören alle ὑπέρ-Aussagen31); im ökonomisch-rechtlichen (Lösegeld: 1Kor 6,20; 7,23) und im politischen (Versöhnung: Röm 5,11; 2Kor 5,18f.). Das Nebeneinander der Kategorien (»Währungen«) bedeutet für ihn nicht, dass sie nicht mit29 Siehe zum Folgenden Lampe, Wirklichkeit als Bild (s.o. Anm. 15), 88–91. 30 Vgl. auch z.B. 8,17: »Selbst wenn der Weise meint: ›Ich weiß es‹, kann er’s nicht finden«. »Wie du den Weg des Windes nicht kennst …, vermagst du Gottes Tun nicht zu überblicken, der alles wirkt.« (11,5) »Wer hat in der Ratsversammlung des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte?« (Jer 23,18) »Hast du die Weisheit an dich gerissen?« (Hiob 15,8) Ähnlich Jes 40,13 LXX; Röm 11,34. 31 Siehe Peter Lampe, Human Sacrifice and Pauline Christology, in: Karin Finsterbusch u.a. (Hg.), Human Sacrifice in Jewish and Christian Tradition, Leiden/Boston 2007, 191–209.

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einander vereinbar wären; Währungen können ineinander gewechselt werden. Doch zeigt das immer wieder versuchte Anlaufnehmen aus verschiedenen Richtungen, dass Paulus nicht den Anspruch erhob, das Mysterion Gottes in letztgültiger Weise zu greifen. Dem zentralen Evangeliumsinhalt, einem Gekreuzigten, entsprach für ihn die Form eines vom Kreuz, das heißt, von Vorläufigkeit und Schwäche (ἀσθένεια) gezeichneten Verkündigens. Theologie auf der Basis des »Wortes vom Kreuz« (1Kor 1–2) stand für Paulus unter der richtenden Kraft eines souveränen Gottes, der als Gegenstand der Theologie dieselbe immer wieder in Frage stellt, wenn es denn sinnvoll bleiben soll, von einem souveränen, nicht domestizierbaren Gott zu reden – nicht einholbar von einer Theologie, die Gott die Freiheit lässt, möglicherweise anders zu sein, als sie ihn definiert.32 Wenigstens latent waren Juden- und Christentum, aber auch der Islam seit jeher sich bewusst, dass sie mit ihren Gottesaussagen lediglich Gottesmodelle erstellten, ohne den Anspruch erheben zu können, ein ähnliches Abbild zu kreieren. Über der Schwelle der drei monotheistischen Religionen hängt ein ausdrückliches Abbild-Verbot. Jahwe, der Ich-bin-der-ich-bin, offenbart sich dem Mose als der, der sich entzieht. Für den Monotheismus ist Gott entsprechend nicht in kultischen Abbildern zu fassen. Vielmehr bringt ein Buch Gott nahe, indem es ihn gleichzeitig in der Distanz belässt: Das Medium der Schrift sperrt sich, kultisches Abbild zu sein. Als Verweiszeichen weist es von sich selbst weg. An die Stelle der Idolatrie tritt ein Hochschätzen des Zeichens. Dort, wo im Kultraum ein Bild zu erwarten wäre, steht die Schriftrolle.33 Der im Monotheismus vollzogene Schritt vom Kultbild zur Schrift entließ den einzigen Gott in die unverfügbare Distanz und dient den Erben als Warnung, die sprachliche Aussage nicht selbst wieder zum Götzenbild und damit tötenden Buchstaben werden zu lassen (vgl. 2Kor 3,6), was in der Praxis gleichwohl oft geschieht. 5 Schlussfolgerungen Angesichts der genannten frühchristlichen Befunde ist die Ökumene gut beraten, (1.1) Lehrdifferenzen auf ihre Kononia-Relevanz hin neu zu befragen: Lässt sich Gemeinschaft leben, obwohl unterschiedliche Lehransichten gehegt werden? Leitfrage: Lassen sich bestimmte Lehren im 32 Siehe zu Paulus’ kreuzestheologischer Einsicht in die Begrenztheit theologischen Redens weiter Peter Lampe, Theological Wisdom and the »Word about the Cross«: Interpretation 44, 1990, 117–131, bes. 122–125. 33 Wenn im Christentum dann doch wieder der Wunsch nach der Abbild-Kategorie aufkeimt, indem Christus zum wahren Bild Gottes gekürt wird (z.B. 2Kor 4,4 oder auch Joh 14,9), heißt es interessanterweise zugleich, dass dieser Christus Logos sei, Wort (Joh 1), dessen Nachhall uns wieder nur als Schrift oder von Menschen verkündetes Wort (1Kor 1,18) begegnet.

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Hinblick auf die Koinonia als Adiaphora einstufen? Lässt sich konkret zum Beispiel gemeinsam Abendmahl feiern, obwohl die Teilnehmer wissen, dass sie das Wie der Christuspräsenz im Sakrament oder auch die kirchlichen Ämter anders verstehen? Es ginge dabei nicht darum, die dogmatischen Unterschiede und damit konfessionelle Identitäten zu verwischen, sondern mit der klaren Einsicht in dieselben trotzdem Koinonia zu leben. Denn alle wissen demselben Kyrios sich im Mahl verbunden. Das Neue Testament, das Heterogenität von Glaubensinhalten als Norm – als Kanon – vorstellt, ruft dazu auf, so radikal zu denken. (1.2) Neben der – dogmatischen wie auch ethischen – Lehrebene ist die pragmatische Dimension noch klarer ins Auge zu fassen: das tatsächliche Handeln, das für die Konstitution von Einheit und den Vollzug von Trennung dem Neuen Testament zufolge ebenso wichtig ist wie dogmatische Bekenntnisinhalte oder ethische Lehrsätze. Konkret ist zu fragen, wieweit gemeinsam Handlungsfelder beackert werden können, obwohl Differenzen in der Lehre bestehen. Als Kriterium für gemeinsam mögliches authentisches Handeln gibt das Neue Testament vor allem die Agape vor. Was treibet sie, was nicht? (2) Was für den interkonfessionellen Bezug gilt, könnte cum grano salis auch für das interreligiöse Begegnen bedeutsam sein. Im vollen Bewusstsein der Differenz in den religiösen Glaubensinhalten – ohne Aufgabe der eigenen Identität – ist zu fragen, wieweit gemeinsame Handlungsfelder erschlossen werden können und auf diese Weise ein Stück interreligiöse Gemeinschaft gelebt werden kann. In der derzeitigen Flüchtlingshilfe gibt es Ansätze zu solchen Kooperationen auf der pragmatischen Ebene. Mit Kreativität lassen sich weitere gemeinsame Handlungsfelder erschließen. Multikulturalismus heißt dann nicht, kulturelle und religiöse Eigenidentität zu verlieren, sondern gemeinsames Leben und Handeln trotz unterschiedlicher religiös-kultureller Ansichten zu versuchen – und dabei sich auf nicht-religiöse Spielregeln zu einigen, in Deutschland auf die unseres Grundgesetzes. Dr. Peter Lampe ist Professor für neutestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg.

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1054, 1517, 1529 … Kirchenspaltungen und ihre Bedeutung für Europa Eine kirchengeschichtliche Erinnerung Mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 wird über die durch die Reformation verursachte Kirchenspaltung kontrovers diskutiert, nicht nur wegen der Frage nach Ursache, Verantwortlichkeit und Konsequenzen, sondern auch wegen der Gesamtbewertung des Sachverhalts. Katholische Stimmen, gerade auch die, die sich am Reformationsgedenken 2017 beteiligen wollen, beklagen die Kirchenspaltung und wollen sie zum Anlass z.B. für Bußgottesdienste nehmen. Unter den Evangelischen dagegen, gerade unter den Theologen, gibt es nicht wenige, die der Spaltung im Rückblick gesehen Positives abgewinnen können. Pointiert würden sie sagen: Die Kirchenspaltung war kein Fluch, sondern ein Segen. Im Folgenden soll nicht nur die von der Reformation ausgelöste Kirchenspaltung, sondern auch die beiden weiteren großen, für Europa relevanten Spaltungen, nämlich die Spaltung zwischen Ost und West, die sich mit dem Jahre 1054 verbindet, und die Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten, die sich mit dem Jahre 1529 verbindet, näher betrachtet werden. Zum einen will ich dabei Ursachen und Hintergründe und auch den Ablauf der jeweiligen Spaltungen darstellen, zum anderen die Folgen für die Kirchen- und Kulturgeschichte Europas erörtern und eine Beurteilung versuchen. Die Geschichte der Christenheit ist reich an Spaltungen, besser Differenzierungen. Schon in der Jerusalemer Urgemeinde gab es zwei Gruppen, die sich mitunter in den Haaren hatten: Hebräer und Hellenisten (Apg 6,1). Die erste große und dauerhafte Trennung in der Christenheit war dann die zwischen Judenchristen und Heidenchristen, die sich schon im 1. Jahrhundert anbahnte und mit dem 2. Jahrhundert vollzogen war. Im 4. Jahrhundert gingen Arianer und Nicäner verschiedene Wege, es ging um die Trinitätslehre. Mit dem 5. Jahrhundert folgte die nächste große, bis heute andauernde Trennung in der Christenheit wegen der Zweinaturenlehre. Die orientalischen Nationalkirchen lehnten das Bekenntnis des Konzils von Chalcedon ab, das Jesus Christus als »wahren Gott und wahren Menschen« bezeichnet hatte.1 Nach mehreren krisenhaften Jahrhunderten trennten sich schließlich 1054 die östliche und die westliche 1 Heinrich Denzinger / Peter Hünermann (Hg.), Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg i.Br. 32009.

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Christenheit. Der aus dem Griechischen stammende Fachbegriff für die innerchristlichen Trennungen lautet Schisma und findet sich zuerst bei Paulus, 1Kor 1,10. Wörtlich übersetzt bedeutet er Riss, Spaltung, und daran knüpft die neuere Begriffsbildung Kirchenspaltung an. 1054 kam es zum definitiven Bruch zwischen Rom und Konstantinopel, zwischen West und Ost. Die beiden Bischöfe und obersten Repräsentanten ihrer jeweiligen Kirchen schlossen sich gegenseitig aus der Kirche Jesu Christi aus. Der Streit zwischen den beiden christlichen Zentren hatte im 9. Jahrhundert begonnen, unter anderem weil Rom in das Bekenntnis von Nicäa-Konstantinopel (381) klammheimlich ein zusätzliches Wort eingefügt hatte, das aber von großer theologischer Bedeutung war: das lateinische »filioque«, also die Aussage, dass der Heilige Geist von Gottvater »und dem Sohn« ausgehe.2 Weitere Differenzen kamen hinzu und sind bis heute nicht ausgeräumt. In keiner Weise sind die Kirchen des Ostens – russisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe und orientalische – bereit, sich dem römischen Bischof, dem Papst, zu unterstellen. Im 15. Jahrhundert wurden wieder Kontakte aufgenommen und die Versöhnung gesucht. Die Griechen verhandelten mit Rom über eine Wiedervereinigung und stimmten 1439 in Florenz einer Unionserklärung zu, die aber dann doch wirkungslos blieb. Die 1054 ausgesprochenen gegenseitigen Verurteilungen wurden erst 1965 aufgehoben und die Kirchengemeinschaft nach mehr als 900 Jahren der Trennung wiederhergestellt.3 Orthodox geprägt sind verschiedene Länder Ost- und Südosteuropas, darunter Bulgarien, Rumänien, Serbien, Griechenland, Weißrussland und die Ukraine. In Deutschland gehören etwa eine Million Menschen orthodoxen Kirchen an, als Folge der Migrationsprozesse mit zunehmender Tendenz. Die Beziehungen zwischen dem Katholizismus und der Orthodoxie sind heute freundlich, aber nicht besonders eng. Zwischen der Orthodoxie und dem Protestantismus ist aber eine deutliche Distanz spürbar. Insbesondere in der Frauenfrage gehen die Positionen auseinander. Während im Katholizismus Weiheämter für Frauen immerhin diskutiert werden, sagt die Orthodoxie dazu energisch Nein. Als die Evangelische Kirche in Deutschland 2009 mit Margot Käßmann eine Frau als Bischöfin an ihre Spitze gewählt hatte, ging das Moskauer Patriarchat auf Distanz.

Zu den Folgen der Ost-West-Kirchenspaltung ist sicherlich auch die Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 zu rechnen. Es kämpften hier Christen gegen Christen! In gleicher Weise eine zur eigenen, römischen Kirche gehörende christliche Stadt zu plündern, hätte man sicher nicht gewagt. Neben Gold und Silber stahlen die Kreuzfahrer vor allem Reliquien und schleppten sie ins Abendland. Der 2 Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands »velkd« hg. vom Lutherischen Kirchenamt / Horst Georg Pöhlmann (Bearb.). 4., überarb. Aufl. Gütersloh 2000, 39. 3 Vgl. Jung, Kirchengeschichte (s. Literaturhinweise), 69–75.

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Reliquienkult erlebte in der Folge einen gewaltigen Aufschwung, und der Boom des Reliquienkultes im späten Mittelalter war dann eine von vielen Ursachen der Reformation. 1453 wurde Konstantinopel, die Hauptstadt der östlichen Christenheit, von den Türken erobert. Aus Konstantinopel wurde Istanbul, und die Hauptkirche der Stadt, die Hagia Sophia, wurde zur Moschee. Kein einziger Soldat aus dem christlichen Abendland kam damals den Christen im Osten zur Hilfe. Ohne Kirchenspaltung wäre das sicher anders gewesen. Hätte Konstantinopel Rom unterstanden, hätten die Päpste und Kaiser sicher wieder einen Kreuzzug organisiert und die Türken vor den Toren Istanbuls gestoppt wie später vor den Toren Wiens. Doch erneut gibt es einen denkwürdigen Zusammenhang zwischen dem traurigen Schicksal Konstantinopels und der ein halbes Jahrhundert später beginnenden Reformation. Die Horrorberichte über die Türken und über ihre angeblichen Schandtaten bei der Eroberung der christlichen Hauptstadt erzeugten im Abendland Angst und Schrecken und beflügelte so eine endzeitliche Bußgesinnung, die den idealen mentalen Nährboden für die Reformation bildete. Und ein Zweites kam hinzu: Christliche Gelehrte flohen aus Konstantinopel in den Westen und nahmen griechische Handschriften mit. Die Christenheit im Abendland, die seit Jahrhunderten nur mit lateinischen, das heißt übersetzten Quellentexten gearbeitet hatte, wurde mit dem griechischen Aristoteles, mit den griechischen Kirchenvätern und mit dem griechischen Neuen Testament bekannt und entdeckte die Unzulänglichkeiten der von ihr verwendeten lateinischen Texte. Der Ruf »Zurück zu den Quellen!« kam auf und bereitete dem Humanismus den Weg – und der Reformation. Luther und Melanchthon lasen die griechischen Kirchenväter in griechischer Sprache und übersetzten das Neue Testament – erstmals – aus der griechischen Originalsprache ins Deutsche. Pointiert könnte man sagen: Ohne Türken keine Reformation. Auf Umwegen mitverursachte also die OstWest-Spaltung der Kirche auch die Reformation: Ohne Schisma keine Reformation. Im Jahre 1517, mit Luthers Ablassthesen, begann die Reformation. Luther wollte die Kirche reformieren (lat. re-formare = zurückformen, wiederherstellen), nicht spalten. Luther wollte die Kirche wieder neu an den Ursprüngen, an der Bibel und an der Christenheit der ersten fünf Jahrhunderte, ausrichten. Doch Rom hat Luther zunächst ignoriert und dann unterschätzt. Und schließlich meinte man, Luther und sein Anliegen loszuwerden, indem man ihn verketzerte und aus der Kirche ausschloss. Rom jedoch scheiterte mit diesem Vorgehen, und als Folge stellte sich eine neue Kirchenspaltung ein. Nicht Luther hat die Kirche gespalten, sondern Rom, indem es 1520/21 das Ketzerurteil sprach und sowohl 1530 (Augsburger Reichstag) als auch 1540/41 (Reichsreligionsgespräche) die von Luthers Anhängern ausgestreckte Hand nicht ergriff. Die letzten Chancen auf eine Einigung wurden damals verspielt. 1545 verweigerten jedoch die Evangelischen die Teilnahme am Trienter Konzil

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und trugen dadurch ihrerseits noch einmal dazu bei, die Kirchenspaltung zu zementieren.4 Als Folge der Reformation war und ist Europa gespalten in evangelisch geprägte Länder wie England, Dänemark, Norwegen, Schweden und die Niederlande und in katholisch geprägte Länder wie Italien, Frankreich, Spanien, Österreich und Polen. Deutschland und die Schweiz sind in sich gespalten in evangelisch geprägte und in katholisch geprägte Teile. Diese Spaltung wurde seitens der Katholischen Kirche 1870 auch noch einmal vertieft, als ausgerechnet zur heikelsten aller heiklen Fragen, der Papstfrage, ein neues Dogma beschlossen wurde: die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen – sofern er »ex cathedra« spricht, also nicht in allem, was er sagt. Das bei vielen Katholiken unbeliebte Dogma hatte eine neue, wenn auch kleinere Kirchenspaltung zur Folge. Die Altkatholiken trennten sich von Rom. Während sie im großen Deutschland jedoch mit nur 25 000 Mitgliedern heute kaum eine Rolle spielen, sind sie in der kleinen Schweiz mit 16 000 Mitgliedern eine durchaus beachtete Kraft.

Die evangelisch-katholischen Trennungen und Konflikte haben die europäische Geschichte durch fünf Jahrhunderte hindurch nachhaltig geprägt. Die europäische Geschichte wäre sicher anders verlaufen, wenn es in der Reformationszeit nicht zur Kirchenspaltung gekommen wäre. Ohne Zweifel brachte die Kirchenspaltung viel Leid mit sich, darunter Kriege, in der Schweiz 1529 und 1531, in Deutschland 1525 (Bauernkrieg), 1546/47 (Schmalkaldischer Krieg) und 1552 (Fürstenkrieg) und schließlich 1618–1648 den Dreißigjährigen Krieg, der weite Teile Deutschlands verwüstete und eine unendliche Zahl von Menschen das Leben kostete oder in Not und Elend stürzte. Belastend war und ist diese Kirchenspaltung aber auch für das ganz private Leben vieler Menschen. Katholiken und Protestanten konnten einander jahrhundertelang nicht heiraten, es sei denn, dass einer der Partner konvertierte. In Deutschland wurde das erst mit der Einführung der Zivilehe im Jahre 1875 dauerhaft anders. Doch in manchen Bereichen halten die Konsequenzen der Kirchenspaltung für das Privatleben noch immer an. Vielfach sind bei katholischen Eucharistiefeiern die evangelischen Ehepartner katholischer Kommunikanten weiterhin nicht willkommen, und ökumenische Abendmahlsfeiern, bei denen sich konfessionsverbindende Ehepaare wohl fühlen könnten, darf es seitens der Römisch-Katholischen Kirche offiziell weiterhin nicht geben. In Deutschland trug die konfessionelle Spaltung des Landes dazu bei, dass anders als zum Beispiel im katholischen Frankreich lange kein starker Nationalstaat entstehen konnte. Die in Deutschland bis ins frühe 19. Jahrhundert herrschende Kleinstaaterei behinderte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Als Deutschland 1871 endlich auch ein Nationalstaat wurde, machte sich rasch ein übersteigerter Nationalismus breit, der mit einem starken Militarismus verbunden war. Zu seinen Folgen gehören der Erste und der Zweite Weltkrieg mit ihren verheerenden 4 Vgl. ebd., 114–121.146–153.

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Konsequenzen. Die föderale Struktur Deutschlands heute, mit ihren Vorzügen und Nachteilen, ist eine Spätfolge der durch die konfessionelle Spaltung des Landes zementierten früheren Kleinstaaterei. Trotz der eindeutigen und vielen negativen Konsequenzen der Kirchenspaltung müssen auch deren positive Folgen hervorgehoben werden. »Konkurrenz belebt das Geschäft«, so lautet ein verbreiteter Aphorismus. Dies gilt auch für Kirchen. Die in Deutschland und in Europa im 16. Jahrhundert entstandene Konkurrenzsituation belebte vor allem die Bildungsbemühungen. Beide Konfessionen unternahmen in diesem Feld große und erfolgreiche Anstrengungen bei der Breiten- ebenso wie bei der Elitenbildung. In Deutschland wollte ferner jeder Landesherr, dass seine fähigen jungen Männer an einer Universität seiner eigenen Konfession in seinem eigenen Land studierten. Eine Reihe von Universitätsneugründungen war die Folge. Das evangelische Hessen gründete beispielsweise, schon 1527, die Universität Marburg. In Genf entstand 1559 die Akademie, aus der später die Universität hervorging. Die Spaltung erzwang auch Toleranz und damit langfristig Fortschritte im Bereich der Religionsfreiheit, die schließlich auch anderen Konfessionen und Religionen zugute kamen. Diese positiven Folgen beginnen schon im 16. Jahrhundert mit dem Augsburger Religionsfrieden, der zur Toleranz nötigte und allen Bewohnern des Reichs erstmals ein Grundrecht gewährte: das Recht, aus religiösen Gründen auszuwandern. 1648, im Frieden von Münster und Osnabrück, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, gewann der Toleranzgedanke weiter an Boden. Katholiken, Lutheraner und Calvinisten waren nunmehr in Deutschland gleichberechtigt. In einigen Städten Deutschlands, vor allem im Süden, beispielsweise in Augsburg und in Biberach, wurde schon seit der Reformationszeit konfessionelle Toleranz praktiziert, erzwungenermaßen, weil in diesen Städten Evangelische und Katholiken lebten und sich konfessionelle Uniformität nicht mehr herstellen ließ. Auch in Osnabrück, einer der beiden Städte des Friedensschlusses von 1648, lebten seit der Reformation katholische und evangelische Christen Seite an Seite. 1648 wurde im Rahmen der Friedensverhandlungen für Osnabrück deshalb eine reichsweit einmalige Regelung beschlossen: Die Regierung über Stadt und Land Osnabrück sollte regelmäßig abwechselnd in katholischer und in evangelischer Hand liegen. Die »alternierende Sukzession«, so der Fachbegriff, wurde praktiziert und war erfolgreich bis zur territorialen Umstrukturierung Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dann wurde Bikonfessionalität in Deutschland Schritt für Schritt im Laufe eines weiteren Jahrhunderts zum Normalfall, zunächst in den Einzelstaaten, später auch in den Städten, zuletzt in den Dörfern.

Die konfessionelle Uneinheitlichkeit Deutschlands und Europas bot unabhängigen Denkern Entfaltungschancen, die in ihrer Heimat und auf dem Boden ihrer Konfession Probleme bekamen, ja ihr Leben gefährdeten. Der evangelische württembergische Astronom Johannes Kepler ging ins katholische Graz. Der katholische französische Philosoph René Descartes ging in die evangelischen Niederlande und der katholische

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französische Philosoph Voltaire in das evangelische Brandenburg. Doch der Ortswechsel war nur eine Möglichkeit unter anderen. Der Konfessionswechsel ohne Ortswechsel wurde im Laufe der Geschichte ebenfalls eine realistische Option und gab jedem in seiner Konfession Unzufriedenen die Chance, gerade durch den Konfessionswechsel seiner Religion treu zu bleiben und keinen völligen Bruch zu vollziehen. Eine innere Pluralisierung gefährdet eine Religion nicht, sondern stabilisiert sie, gerade angesichts der Herausforderungen säkularer, multireligiöser Gesellschaften. Obwohl sie sich offiziell bekämpften, haben sich die beiden großen Konfessionen durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder gegenseitig befruchtet. Evangelische rezipierten beispielsweise die neue katholische Mystik, und Katholiken rezipierten beispielsweise die neue evangelische Bibelfrömmigkeit. Im 19. Jahrhundert regten die sozialen Bemühungen der Katholiken, getragen vor allem von neuen Ordensgemeinschaften, die sozialen Bemühungen der Protestanten an und führten zur Gründung der Diakonissenhäuser. Im 20. Jahrhundert ließen sich die Katholiken von der von den Protestanten schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts betriebenen historisch-kritischen Arbeit an der Bibel überzeugen. Inzwischen haben die Protestanten Luther zum Trotz das Pilgern wiederentdeckt, was, wenn alle Welt evangelisch geworden wäre, in der Christenheit sicher ausgestorben wäre. Und der Katholizismus lässt sich heute, beinahe schon weltweit, von charismatischen, evangelikalen Formen und Elementen der Frömmigkeit inspirieren. Während in Deutschland seit der Reformation Protestanten und Katholiken miteinander lebten und sich langsam aneinander gewöhnten, entschied sich das katholische Frankreich im 17. Jahrhundert zur Verfolgung Andersglaubender. 1685, mit dem Edikt von Fontainebleau, begann die Verfolgung der evangelischen Minderheiten. Hunderttausende Hugenotten verließen Frankreich, und gleichzeitig wurden die ebenfalls evangelischen Waldenser aus ihren Alpentälern vertrieben. Viele Hugenotten und Waldenser zogen nach Württemberg, nach Hessen und nach Brandenburg-Preußen und gründeten dort, mit Erlaubnis der Obrigkeiten, aber häufig unter dem Widerstand der Einheimischen, eigene Siedlungen. So hart auch dieses Schicksal für die Betroffenen damals war, sowohl ihre Nachfahren als auch Deutschland selbst haben mittel- und langfristig von dieser Migrationsbewegung profitiert, wirtschaftlich und kulturell. Mit der Reformation verbindet sich nicht nur die große Kirchenspaltung zwischen Protestanten und Katholiken, sondern auch die kleinere, aber ebenfalls bis heute nachwirkende Spaltung des Protestantismus in Lutheraner und Calvinisten. Zwischen Luther und Zwingli entbrannte 1524 ein heftiger, zunächst literarisch ausgetragener Streit. Es ging um das Verständnis des Abendmahls. Zwingli wollte anders als Luther abrücken von der traditionellen Vorstellung, beim Abendmahlsbrot handle es sich um den Leib Christi

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und beim Wein um sein Blut. Zwingli wollte Brot und Wein als Zeichen auffassen und sah Christus beim Abendmahl nicht leiblich, sondern im Glauben der Gemeinde gegenwärtig. Luther widersprach. Die Kontrahenten trafen sich 1529, auf Einladung Philipps, des Landgrafen von Hessen, zu einem Meinungsaustausch in Marburg, doch das »Marburger Religionsgespräch« blieb in der entscheidenden Frage ohne Ergebnis. Auch persönlich kamen sich die Kontrahenten nicht näher. Luther und Zwingli gerieten so hart aneinander, dass Zwingli sogar die Tränen kamen. Luther wollte nämlich Zwingli und die Schweizer nicht mehr als »Brüder in Christo« ansehen. Als Zwingli 1531 im zweiten Religionskrieg der Schweiz fiel, interpretierte Luther sein Schicksal als göttliche Strafe und äußerte öffentlich Zweifel, dass Zwingli in den Himmel komme. Auch nach Zwinglis Tod hielten die Schweizer Reformationsanhänger an ihrer anderen Sicht des Sakraments des Altars fest. Johannes Calvin, der aus Frankreich stammende Reformator Genfs, formulierte dafür noch einmal eine neue theologische Begründung. Seine Bemühungen, sich mit Luther und den Wittenberger Reformatoren zu verständigen, wurden von diesen abgewiesen. Die unterschiedliche Abendmahlsauffassung trennte die verschiedenen evangelischen Kirchen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die Schuld dafür, dass der Dissens zur Trennung, zur Kirchenspaltung, führte, tragen sicherlich vor allem die Lutheraner. Sie empfanden im 16. und 17. Jahrhundert eine größere Nähe zu den »Papisten« als zu den »Schwärmern« in Zürich und Genf und den weiteren Orten und Ländern, in denen die Lehren Zwinglis und Calvins Fuß gefasst hatten.5 Nicht mit dem Luther-Zwingli-Streit zusammen hängt die Entstehung eines weiteren evangelischen Kirchentyps, der anglikanischen Kirche. Die Kirche von England verdankt sich einer einsamen Entscheidung des Königs von England, Heinrichs VIII., der sich im Jahre 1531 von Rom lossagte. Seine von Rom getrennte, aber im Grunde weiter katholische Kirche geriet im Laufe der Jahre unter den Einfluss calvinistischer Ideen, und es entstand eine Kirche, die in ihrer Liturgie und mit ihrer Hierarchie an den römischen Katholizismus erinnert, aber in der Lehre calvinistische Positionen vertritt. Damit unzufrieden sonderten sich schon im 16. Jahrhundert die Puritaner ab und später die Baptisten. Auf dem Boden des Anglikanismus entstanden im Laufe der Zeit und vor allem in Nordamerika zahlreiche weitere evangelische Kirchenwesen und nicht wenige, früher als Sekten bezeichnete Sondergemeinschaften.6 Die Spaltung zwischen Reformierten und Lutheranern ist heute faktisch überwunden, wenn man einmal von kleinen Resten strenger Lutheraner absieht, die weiterhin den Reformierten distanziert gegenüberstehen, und den kleinen Resten strenger Reformierter, die weiterhin eine große Distanz zum Luthertum empfinden. Die Überwindung der Spaltung begann 1817 mit den ersten Kirchenunionen und kam 1973 mit 5 Vgl. ebd., 121–132. 6 Vgl. ebd., 132–134, 189–192.

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der Leuenberger Konkordie, benannt nach der Reformierten Akademie auf dem Leuenberg bei Basel, zum Ziel, die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten herstellte.

Beinahe kurios ist freilich, dass die ersten Versuche in Deutschland, die Spaltung schon im 19. Jahrhundert zu überwinden, zur Entstehung eines dritten evangelischen Kirchentyps führten. Die von 1817 an in mehreren deutschen Ländern, darunter Baden, Hessen und die Pfalz, vor allem aber Preußen teilweise freiwillig, teilweise unter obrigkeitlichem Zwang herbeigeführten »Kirchenunionen« überwanden in Deutschland nicht die Trennung zwischen Reformierten und Lutheranern, sondern führten dazu, dass sich neben lutherischen und reformierten Landeskirchen unierte Landeskirchen bildeten und Deutschland bis heute drei landeskirchliche Kirchentypen kennt, von den zahlreichen, später hinzugekommenen evangelischen Freikirchen einmal abgesehen. Die drei Kirchentypen haben in Deutschland bis heute auch übergeordnete Organisationsformen neben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der sie alle kooperieren, nämlich die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK) – früher und bekannter als Evangelische Kirche der Union (EKU) – sowie der Reformierte Bund in Deutschland (RB).7 Die negativen Folgen dieser innerevangelischen Spaltung hielten sich zum Glück in Grenzen. Nur einmal, als die Kurpfalz in den Jahren von 1561 an sukzessive calvinistisch wurde, drohte Krieg. Mehrfach wurden in Kursachsen evangelische Theologen und Politiker verfolgt und inhaftiert, weil man sie beschuldigte, das Land dem Calvinismus zuführen zu wollen. Nikolaus Crell bezahlte das 1601 mit seinem Leben. In Dresden wurde er geköpft. Ein Gedenkstein erinnert heute an sein Schicksal. 1618, als der Dreißigjährige Krieg begann, unterstützten die lutherischen Fürsten den »Winterkönig« nicht, weil er Calvinist war. Vielleicht wäre es zum großen Krieg erst gar nicht gekommen, wenn sie sich anders verhalten und den vom böhmischen Adel im August 1619 zum böhmischen König gewählten evangelischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz unterstützt hätten. Das 1648 vollzogene Ausscheiden der Schweiz aus dem Reichsverband lässt sich ebenfalls, neben anderen Motiven, mit der religiösen Trennung in Verbindung bringen. Im privaten religiösen Leben, vor allem erneut bei der Abendmahlsfeier, waren die Trennungen noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein schmerzlich spürbar. Selbst die Angehörigen der Bekennenden Kirche feierten deshalb in der Kirchenkampfzeit kein gemeinsames Abendmahl, und die Barmer Erklärung von 1934 heißt nur deshalb »Erklärung« und nicht »Bekenntnis«, obwohl sie ein Bekenntnis war, weil sich die Lutheraner zierten, mit den

7 Vgl. ebd., 199–202.

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Reformierten, von denen sie nach wie vor kirchlich getrennt waren, ein gemeinsames Bekenntnis zu verabschieden. Die positiven Folgen der innerevangelischen Spaltung ähneln den oben behandelten. Erneut wurde das Bildungswesen belebt. Die Gründung der Universitäten und Hochschulen Jena, Gießen und Herborn, später auch die Gründung der Universität Halle hing direkt mit den konfessionellen Entwicklungen und Strukturen zusammen. Differenzen und Differenzierungen gehören zur Geschichte der Christenheit von Anfang an und bis heute. Oftmals wurde und wird dies beklagt und die Frage gestellt: Wie verträgt sich das mit dem Gedanken der Einheit, vor allem mit Jesu Gebet um die Einheit (Joh 17,22f.)? Mit dem Augsburger Bekenntnis würde ich antworten: Einheit meint nicht Einheitlichkeit. Artikel 7 des Bekenntnisses definiert die Kirche als eine »Versammlung aller Gläubigen …, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden«.8 Die Frage der Einheit in den Blick nehmend wird hinzugefügt: »… das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, daß überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden …«9 Leider ist diese Perspektive auf die Einheit der Kirche aber auch nach beinahe 500 Jahren noch evangelisches »Sondergut«, denn der römische Katholizismus sieht – offiziell – in den evangelischen Kirchen weiterhin keine »Kirchen« im Vollsinn, sondern nur »kirchliche Gemeinschaften«. Die päpstliche Erklärung »Dominus Jesus« hat dies im Jahre 2000 noch einmal, für viele Protestanten schmerzhaft, bestätigt.10 Zum Glück sehen das aber, gerade in Deutschland und der Schweiz, viele katholische Theologinnen und Theologen an der Basis – inoffiziell – inzwischen anders. Blickt man auf die aktuelle religiöse und konfessionelle Landkarte Europas, so stellt man fest, dass das Christentum alles in allem in einem Land wie Deutschland, das von konfessioneller Spaltung sprich Pluralität geprägt war, besser dasteht als in Ländern mit evangelischen Staatskirchen wie England und Dänemark oder in Ländern mit einem lange Zeit monolithischen, prägenden Katholizismus wie Italien und Frankreich. Und wen das Beispiel Deutschland nicht überzeugt, blicke auf das Beispiel der USA. Dort geht höchste innerchristliche Pluralität einher mit intensivstem kirchlichen Leben.

8 Unser Glaube (s.o. Anm. 2), 64. 9 Ebd., 65. 10 Kongregation für die Glaubenslehre (Hg.), Erklärung Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Amtliche vatikanische Fassung, Stein am Rhein 2000.

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Innerreligiöser Pluralismus schadet nicht, sondern er nützt, solange das Verbindende deutlich bleibt und sich die Getrennten nicht bekämpfen. Die »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« (Harding Meyer)11 ist der richtige Weg für die Zukunft, und dieser hat sich auch in der Geschichte als der richtige erwiesen. Literaturhinweise Sämtliche Lehrbücher und Handbücher der Kirchengeschichte behandeln die verschiedenen hier behandelten Kirchenspaltungen. Auf die Folgen für Europa und Deutschland gehen sie jedoch nur selten explizit ein. Ferner eignen sich Konfessionskunden zur thematischen Vertiefung. Exemplarisch genannt seien: Jung, Martin H., Kirchengeschichte, Göttingen 2010 (Grundwissen Christentum 3). Mühling, Markus (Hg.), Kirchen und Konfessionen, Göttingen 2009 (Grundwissen Christentum 2). Dr. Martin H. Jung ist Professor für Historische Theologie, namentlich Kirchengeschichte, Dogmen-, Theologie- und Konfessionsgeschichte sowie Ökumenische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück.

11 Harding Meyer, »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« – »konziliare Gemeinschaft« – »organische Union«. Gemeinsamkeit und Differenz gegenwärtig diskutierter Einheitskonzeptionen. In: Ökumenische Rundschau 27 (1978), 377–400.

2.3 Martin Bräuer / Johannes Oeldemann

Zwischen Selbstverpflichtung und Selbstgenügsamkeit Zum Stand der Ökumene auf offizieller Ebene Der evangelische Theologe Martin Bräuer vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim und der katholische Theologe Johannes Oeldemann vom Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn nehmen Stellung zu den Fortschritten in den offiziellen theologischen Dialogen und zum gegenwärtigen Stand der ökumenischen Beziehungen zwischen den Kirchen. Oeldemann: Im Vorfeld des 500. Jahrestags der Reformation 2017 richtet sich das Interesse nicht nur auf Martin Luther und die mit ihm verbundene reformatorische Bewegung, sondern auch auf den gegenwärtigen Stand der Ökumene. Auf offizieller Ebene betonen alle Kirchen ihren Willen zur ökumenischen Kooperation. Allerdings wird die Selbstverpflichtung der Kirchen zur Ökumene manchmal durch eine gewisse konfessionelle Selbstgenügsamkeit ausgebremst, die vor allem die eigene Kirche im Blick hat und die Kirchtürme der benachbarten Kirchen übersieht. Ein großes Problem in unserem medialen Zeitalter besteht darin, dass die Medien vor allem über Streit und Differenzen berichten, weniger über Gemeinsamkeiten. Dabei gibt es viel mehr, was die Kirchen miteinander verbindet, als was sie trennt. Alle Christen gehören durch die Taufe der einen Kirche Jesu Christi an und sind im Glauben an den Dreieinen Gott verbunden. Der gemeinsame Glaube an Gott den Vater, der die Welt erschaffen hat, an Jesus Christus als Gottes Sohn, der uns durch seinen Tod und seine Auferstehung erlöst hat, und an den Heiligen Geist, der die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit leitet, ist die Basis der Ökumene. Er bildet ein tragfähiges Fundament, das durch kontroverstheologische Debatten zwar verschüttet und von verschiedenen Schichten konfessioneller Apologetik überlagert, aber nicht zerstört worden ist. Neben der Gotteslehre ist es vor allem die Anthropologie, das christliche Menschenbild, das uns über alle Konfessionsgrenzen hinweg verbindet. Lange Zeit war man der Meinung, dass es im Blick auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch große Differenzen gebe: Während die Protestanten die Sündhaftigkeit des Menschen und seine Angewiesenheit auf die Gnade Gottes hervorhoben, die allein durch den Glauben an Jesus Christus erlangt werden kann (die berühmten reformatorischen

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»sola«), betonten die Katholiken die Fähigkeit und die Verpflichtung des Menschen zu guten Werken. Hier haben die offiziellen ökumenischen Dialoge zu einem Konsens geführt, dass wir »allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes« von Gott angenommen werden, in diesem Geschehen der »Rechtfertigung« vor Gott aber zugleich den Heiligen Geist empfangen, der »uns befähigt und aufruft zu guten Werken« (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 1999, Nr. 15). Auch wenn dieser Konsens von manchen evangelischen Theologen bis heute angezweifelt wird: Auf kirchenamtlicher Ebene ist damit einer der wesentlichen Streitpunkte der Reformationszeit ausgeräumt. Bräuer: Auf offizieller Ebene sind sich die Kirchen auch weitgehend einig, dass die Taufe das grundlegende »Band der Einheit« – so formuliert es erstmalig das Zweite Vatikanische Konzil – unter den Christen ist. So viel Gemeinsamkeit wie bei der Taufe gibt es weder beim Abendmahl noch beim Kirchen- und Amtsverständnis. So haben am 29. April 2007 elf Mitgliedskirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen im Dom zu Magdeburg eine wechselseitige Anerkennung der Taufe unterzeichnet. Die gemeinsame Besinnung auf die Bedeutung der Taufe, die auch von den Kirchen täuferischer und orientalisch-orthodoxer Traditionen mitgetragen wird, welche die Magdeburger Erklärung aus Glaubensgründen nicht unterzeichnet haben, gilt als ein Hoffnungszeichen auf dem weiteren ökumenischen Weg. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg waren die 1982 in Lima von der »Kommission für Glauben und Kirchenverfassung« verabschiedeten Konvergenzerklärungen zu »Taufe, Eucharistie und Amt« (die sogenannten »Lima-Dokumente«), die ebenfalls von der Taufe als einem »grundlegenden Band der Einheit« sprechen und feststellen: »Durch die eigene Taufe werden Christen in die Gemeinschaft mit Christus, miteinander und mit der Kirche aller Zeiten und Orte geführt« (Lima-Erklärung Taufe Nr. 6). In den Fragen, die die Eucharistie bzw. das Abendmahl betreffen, ist die Sachlage etwas anders. Hier geht es meist um unterschiedliche Aspekte, die in den einzelnen Konfessionen betont werden und die sich auch in den Bezeichnungen widerspiegeln: Der Begriff »Abendmahl« betont das Versöhnungsgeschehen, das Wort »Herrenmahl« verweist auf das nachösterliche Verständnis des Mahls als Verkündigung des Herrn, und die Bezeichnung als »Eucharistie« (Danksagung) verweist darauf, dass Dank für die Gabe unsere erste Antwort ist. Von Anfang war das Abendmahl nicht nur Ort erfahrener Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander, sondern auch Anlass zu Streit und Trennungen. Zugleich gehört zur Geschichte des Abendmahls das immer neue Bemühen um Verständigung und Einheit. In den Kontroversen zwischen Reformierten und Lutheranern kam es in der Leuenberger Konkordie (1973) zu einer weitreichenden Verständigung: Kirchengemeinschaft wurde erklärt und einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gewährt. Seit dem

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Zweiten Vatikanischen Konzil gab es eine Reihe fruchtbarer theologischer Dialoge, auch im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen (so die bereits genannten »Lima-Dokumente« von 1982). Bei allen Unterschieden zeichnet sich in den lange strittigen Fragen (Gegenwart Christi und Verständnis seiner Präsenz im Abendmahl, Opferverständnis und die Frage der Wiederholung bzw. Vergegenwärtigung des Opfers Christi, die Gabe des Abendmahls und ihr Empfang im Glauben) ein gemeinsames Verständnis ab. Strittig ist zwischen den Kirchen, ob das Abendmahl nur dann recht gefeiert wird und gültig ist, wenn es von einem geweihten Priester vollzogen wird (Bindung des Abendmahls an das Weihesakrament, Auseinandersetzung um das Amtsverständnis) und wenn Übereinstimmung im Kirchenverständnis besteht. Zu wechselseitiger eucharistischer Gastbereitschaft und zu einer gemeinsamen Abendmahlsfeier sind die Kirchen erst unterwegs. So ist das Abendmahl als Zeichen der Einheit der sichtbaren Kirche zugleich schmerzliche Erinnerung an den Skandal der Trennung und Herausforderung, diese Trennung zu überwinden. Eine Verständigung über die kirchlichen Ämter und darüber, wie sie auszuüben seien, ist die schwierigste Aufgabe auf dem Weg zur Einheit der Christen. Umstritten sind vor allem drei Fragen: Gibt es, erstens, einen Unterschied zwischen dem Wesen des Priestertums, das in der Taufe begründet ist, und dem Wesen des sakramentalen Amtes einzelner berufener und ordinierter Menschen? Entspricht, zweitens, die Entwicklung zur dreifachen Gestalt der Ämter (Bischöfe, Priester, Diakone) göttlichem Willen, der von der Kirche stets beachtet werden muss? Und drittens: Darf es bei der Zulassung zu einem kirchlichen Amt Einschränkungen geben – wie den Ausschluss von Frauen oder den Zölibat? Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch im Verständnis des Papstamtes, im Blick auf die Unverzichtbarkeit synodaler Entscheidungswege sowie bezüglich der Frage, ob ein Amt nur auf Lebenszeit oder auch befristet übertragen werden kann. Zwar zeichnen sich Annäherungen ab, bei den gefestigten konfessionellen Unterschieden ist jedoch noch nicht in Sicht, wie eine wechselseitige Anerkennung der Ämter erreicht werden könnte. Oeldemann: Angesichts der zahlreichen ökumenischen Dialoge, deren Ergebnisse in den Sammelbänden »Dokumente wachsender Übereinstimmung« zusammengefasst sind, muss man sich fragen, warum wir in der Ökumene in den letzten 10 bis 15 Jahren – zumindest auf offizieller Ebene – nicht recht vorangekommen sind. Der Hauptgrund sind wohl die Divergenzen im Kirchenverständnis, die bislang nicht überbrückt werden konnten. Ihren deutlichsten Ausdruck fanden sie in der Erklärung »Dominus Iesus« aus dem Jahr 2000, in der die römische Glaubenskongregation konstatierte, dass die reformatorischen Kirchen nicht »Kirchen im eigentlichen Sinn« seien. Das hat viele unserer evangelischen Gesprächspartner sehr verletzt, auch wenn im Nachhinein klargestellt wurde, dass es sich nicht um eine absolute Aussage handelt, sondern um

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eine relative (im Blick auf das katholische Kirchenverständnis). Ein entscheidendes Merkmal katholischer Ekklesiologie ist, dass sie vom sakramentalen Charakter der Kirche ausgeht: Die Kirche ist »gleichsam« (also in einem analogen Sinn) Sakrament, d.h. »Zeichen und Werkzeug« des Handelns Gottes in dieser Welt. Von katholischer Seite wird auf diese Weise die Verbindung von Christus und Kirche betont, während die protestantische Theologie den Akzent eher auf die Unterscheidung und das bleibende Gegenüber von Christus und Kirche legt. Ein zweiter Grund ist, dass die Kirchen sich nicht über das Ziel der Ökumene einig sind. Oft wird behauptet, die Protestanten strebten in der Ökumene nach »Kirchengemeinschaft«, während die Katholiken die »sichtbare Einheit« forderten. Das halte ich für einen unfruchtbaren Streit um Worte, denn in den offiziellen Dokumenten der Kirchen ist es genau umgekehrt: Das Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils spricht von der Verwirklichung der »vollen Gemeinschaft« der Kirche, während die Satzung des Ökumenischen Rates der Kirchen, dem alle reformatorischen Kirchen angehören, die »sichtbare Einheit« zum Hauptziel der Ökumene erklärt. Die meisten Protestanten favorisieren heute ein Modell der Einheit, wie es in der »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE, ehemals Leuenberger Kirchengemeinschaft) realisiert wurde. Dieses Modell sieht vor, dass Lutheraner, Reformierte, Unierte und Methodisten trotz bleibender Unterschiede in ihren Bekenntnissen einander Kirchengemeinschaft, d.h. volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, gewähren. Aus katholischer Sicht ist dieses Einheitsmodell unzureichend, insofern es die historisch gewachsene Vielfalt schlicht zu tolerieren und Unterschiede in der Glaubenslehre nebeneinander stehen zu lassen scheint. Diese unterschiedlichen Zielvorstellungen haben auch ganz konkrete Auswirkungen auf die ökumenische Praxis, weil beispielsweise das gemeinsame Abendmahl aus evangelischer Sicht ein Mittel auf dem Weg zur Einheit ist, während aus katholischer Perspektive die Eucharistiegemeinschaft das Ziel des ökumenischen Weges markiert. Bräuer: Das Wort »Ökumene« meint nicht nur das Verhältnis von katholischer und evangelischer Kirche, sondern bezieht sich auf eine sehr viel größere Vielfalt von Kirchen, zu der auch Orthodoxe und Altkatholiken, Anglikaner und Altorientalen, Freikirchler und Altreformierte gehören. Für ihre Zusammenarbeit brauchen diese Kirchen verlässliche Strukturen. Deshalb wurde 1948 die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland gegründet. Gegenwärtig hat die ACK in Deutschland 17 Mitglieder und 6 Gastmitglieder. Vier ökumenische Organisationen haben Beobachterstatus. Die Mitglieder entsenden Delegierte in die ACK, die zweimal im Jahr zur Mitgliederversammlung zusammenkommen. Die Geschäftsstelle der ACK in Deutschland, genannt »Ökumenische Centrale«, hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Die besondere Stärke der ACK besteht darin, es den Kirchen zu ermöglichen,

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trotz ihrer Unterschiede zusammenzuarbeiten. Dies geschieht auf der Basis von Regeln, die verbindlich sind, weil sich die Kirchen selbst darauf verpflichten. Die Kirchen können so der schon bestehenden Gemeinschaft Ausdruck geben, ohne zuerst alle theologischen Meinungsverschiedenheiten klären oder ihre unterschiedlichen Strukturen in Einklang bringen zu müssen. Schwerpunkte der ACK in Deutschland sind das gemeinsame Gebet, die theologische Reflexion, das Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung sowie der Kontakt zu anderen ökumenischen Einrichtungen. Im europäischen Kontext ist die »Charta Oecumenica« in den letzten Jahren zu einem wichtigen Grundlagendokument geworden. Sie wurde am 22. April 2001 von den Präsidenten der Konferenz Europäischer Kirchen (Organisation der orthodoxen, anglikanischen, altkatholischen und protestantischen Kirchen Europas) und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (Zusammenschluss der katholischen Bischofskonferenzen) in Straßburg feierlich unterzeichnet. Sie stellt ökumenische Grundüberzeugungen heraus und entwickelt daraus ökumenische Selbstverpflichtungen der Kirchen – im Verhalten der Kirchen untereinander, gegenüber der Gesellschaft sowie gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen, insbesondere dem Judentum und dem Islam. Die Charta Oecumenica hat keinen lehramtlichen oder kirchenrechtlichen Charakter. Sie versteht sich als Sendschreiben an die Kirchen mit der Einladung, sich die genannten Selbstverpflichtungen zu eigen zu machen. In Deutschland wurde die Charta im Rahmen des Ersten Ökumenischen Kirchentages 2003 in Berlin von den Verantwortlichen der Mitgliedskirchen der ACK feierlich unterzeichnet. Oeldemann: Die Charta Oecumenica nimmt neben den zwischenkirchlichen und interreligiösen Beziehungen auch die gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen in den Blick. In einer der Selbstverpflichtungen der Charta heißt es, dass die Kirchen sich über Inhalt und Ziele ihrer sozialen Verantwortung verständigen, ihre Anliegen gegenüber den staatlichen Institutionen möglichst gemeinsam vertreten sowie die Grundwerte gegenüber allen Eingriffen verteidigen wollen. In Deutschland hat das gemeinsame Auftreten der Kirchen gegenüber Staat und Gesellschaft eine lange und gute Tradition: Es gibt die »Gemeinsamen Worte« des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, oft in Verbindung mit den übrigen Mitgliedskirchen der ACK, wie z.B. »Gott ist ein Freund des Lebens« (1989), »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« (1997) oder »Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft« (2014). Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Ratsvorsitzende der EKD und der Vorsitzende der Orthodoxen Bischofskonferenz veröffentlichen jedes Jahr ein gemeinsames Wort zur »Interkulturellen Woche«. Seit 2010 begehen alle christlichen Kirchen in Deutschland gemeinsam den »Ökumenischen Schöpfungstag«, der auf eine Initiative der Orthodoxen Kirche zurückgeht. Und derzeit ist das

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Engagement vieler Christen und Kirchengemeinden in der Flüchtlingshilfe ein gelungenes Beispiel für das gemeinsame Zeugnis der Christen und die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung seitens der christlichen Kirchen. Bräuer: Die Charta Oecumenica betont auch: »Die Ökumene lebt davon, dass wir Gottes Wort gemeinsam hören und den Heiligen Geist in uns und durch uns wirken lassen. Kraft der dadurch empfangenen Gnade gibt es heute vielfältige Bestrebungen, durch Gebete und Gottesdienste die geistliche Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu vertiefen und für die sichtbare Einheit der Kirche Christi zu beten« (COe 5). Deshalb treffen sich weltweit in jedem Jahr vom 18. bis 25. Januar oder zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten Christen zur gemeinsamen »Gebetswoche für die Einheit der Christen«. Die ACK gibt dazu immer eine Fülle von Materialien und Anregungen zur Gestaltung heraus. Zu den ökumenischen Gebetstagen gehört besonders auch der »Weltgebetstag der Frauen«, den es seit über 100 Jahren gibt und der in 170 Ländern jedes Jahr am ersten Freitag im März gefeiert wird. Frauen aus einem jeweils ausgewählten Land verfassen die Texte und Gebete der Liturgie. Sehr wichtig für die ökumenische Bewegung ist auch die von Frère Roger Schutz und seinen Gefährten gegründete Kommunität von Taizé, die seit Jahrzehnten durch ihre Jugendtreffen eine geistliche Ökumene vermittelt. Daneben gibt es auf der Ebene der evangelischen Kommunitäten und der katholischen Orden einen regelmäßigen Austausch und z.B. gemeinsame Werkwochen für Novizinnen und Novizen. Oeldemann: Zum Abschluss sollten wir wenigstens kurz auf die ökumenische Zusammenarbeit im schulischen Bereich eingehen. Hier gibt es nicht nur die seit Jahren bewährte Kooperation im Blick auf ökumenische Schulgottesdienste oder »Tage religiöser Orientierung«, sondern inzwischen auch erfolgreiche und nachahmenswerte Modelle der Kooperation im Religionsunterricht. Zwar wird ein »ökumenischer« Religionsunterricht von kirchenamtlicher Seite abgelehnt, um die grundgesetzliche Verankerung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen nicht zu gefährden. Aber es zeigt sich eine wachsende Bereitschaft, das Modell eines »konfessionell-kooperativen« Religionsunterrichts zu unterstützen. Eine Vorreiterfunktion hatten hier die katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen in Baden-Württemberg, die 2005 ein solches Modell vereinbart haben, das – nach einer ersten Evaluation – 2009 novelliert wurde. 2011 wurde auch in Niedersachsen ein entsprechendes, bereits seit 1998 praktiziertes Modell erneut genehmigt. Die Erfahrungen in diesen Bundesländern zeigen, dass der konfessionell-kooperative Religionsunterricht den Schülerinnen und Schülern eine authentische Begegnung mit anderen Konfessionen ermöglicht und die ökumenische Offenheit der Kirchen erfahrbar macht, zugleich aber auch ein vertieftes Bewusstsein für die eigene Konfession schafft. Die deutlich gesunkene

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Zahl getaufter Kinder wird dazu führen, dass in den kommenden Jahren auch die Zahl der Kinder, die zum Besuch des Religionsunterrichts verpflichtet sind, zurückgehen wird. Schon die äußeren Umstände werden daher eine vermehrte Zusammenarbeit im Bereich des Religionsunterrichts erforderlich machen. Auch wenn momentan im Blick auf den Religionsunterricht noch eine gewisse »konfessionelle Selbstgenügsamkeit« vorherrscht, wird es gerade im schulischen Bereich darauf ankommen, dass den Worten über die ökumenische Selbstverpflichtung der Kirchen auch entsprechende Taten folgen. Literaturhinweise Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (Hg.), Gemeinsamer ökumenischer Weg mit der Charta Oecumenica. Texte, Bilder und Anregungen aus der deutschen Ökumene – mit dem Text der Charta Oecumenica, Frankfurt a.M. 2013 [www.charta-oecumenica.de]. Dokumente wachsender Übereinstimmung (1931–2010), 4 Bände, Paderborn / Frankfurt a.M. / Leipzig 1983–2012 [darin u.a.: Lima-Dokumente (Bd. 1, 545– 585), Leuenberger Konkordie (Bd. 3, 724–731), Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Bd. 3, 419–441)] Konfessionskundliches Institut Bensheim (Hg.), Was eint? Was trennt? Ökumenisches Basiswissen, Neuauflage 2016 (in Vorbereitung). Johannes Oeldemann: Einheit der Christen – Wunsch oder Wirklichkeit? Kleine Einführung in die Ökumene, Regensburg 2009. Johannes Oeldemann (Hg.), Konfessionskunde, Paderborn/Leipzig 2015 (= Handbuch der Ökumene und Konfessionskunde, Bd. 1). Pfarrer Martin Bräuer D.D. ist Catholica-Referent und stellvertretender Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Dr. Johannes Oeldemann ist Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn.

2.4 Michael N. Ebertz

Konfessionen im Wandel Eine soziologische Perspektive

Über die vergangenen vier bis fünf Jahrhunderte hinweg begegnet uns in Deutschland, und gewiss nicht nur dort, Religion nicht einfach als ›Religion‹, auch nicht einfach als ›Christentum‹, sondern partikularisiert: in Gestalt von ›Religionsparteien‹ bzw. von ›Konfessionen‹. Diese Konfessionalisierung hatte ihre Treiber in einem ganz zentralen religiösen Interesse, nämlich in der Bewahrung bzw. Wiederherstellung der ursprünglichen christlichen Botschaft, sowie in einer auch medial-polemisch betriebenen Differenzwahrnehmung, also auch in eskalierenden Prozessen wechselseitiger Negationen.1 Diese wurden – ähnlich wie bei sich neu konstituierenden oder expandierenden Religionen2 – nicht zuletzt auch von Funktionären und Intellektuellen betrieben, freilich auch politisiert: »Die ›Evangelischen‹, die sich auf die befreiende Kraft der ›Frohen Botschaft‹ berufen, sind nun zugleich die ›Protestanten‹, die sich gegen ihren katholischen Kaiser stellen«.3 Der Ausdruck ›Konfession‹ als Gruppenbezeichnung ist nicht vor 1800 nachweisbar, obwohl ›die Sache‹ sich lange vorher – seit dem 16. Jahrhundert politisch organisiert – herausgebildet sowie zunächst kriegerisch (Dreißigjähriger Krieg) und dann durch die »Bändigung der friedensunfähigen Konfessionen«4 in evangelischen und in katholischen Territorien verfestigt hat. Typisch für die Konfessionen dieser Zeit der »Stabilisierungsmoderne« nach der »deutschen Ur-Katastrophe«5 sind eine Menge an »Äußerlichkeiten in der Regelung des täglichen Lebens«,6 so zum Beispiel unterschiedliche Kalen1 Vgl. hierzu Dirk Baecker, Kulturkalkül, Berlin 2014, 8, der Kultur damit beginnen lässt, »Nein sagen zu können«: »Es ist nicht zu übersehen, dass in der Negation ein immenses politisches Potenzial steckt. Ganze Gemeinschaften inklusive ihrer ›kollektiven Identitäten‹ können im Medium der Negation zunächst imaginiert und dann tradiert werden«. 2 Vgl. Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 46ff. 3 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618–1715, München 2010, 113. 4 Ebd., 25. 5 Ebd., 51, 100 – so nennt Kittsteiner den Dreißigjährigen Krieg. Die »Stabilsierungsmoderne« wird dann seit Ende des 18. Jahrhunderts von der »Fortschrittsmoderne« überrollt. 6 Ebd., 115.

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derzeitrechnungen oder die Tatsache, dass der Besitz eines Rosenkranzes als Ausweis der Konfession landesherrlich vorgeschrieben (Bayern), kontrolliert und Nichtbesitz öffentlich geahndet wurde (Salzburg).7 So konnten etwa »die im Prinzip gleichermaßen bejahten religiösen Werte« in verschiedenen konfessionellen Gruppen »sehr unterschiedlich in Gewicht und Ausprägung sein«8, was dann auch Folgen hatte bis in das Kirchenverständnis hinein. Wie die Reformatoren hatte ja auch die mittelalterliche Kirche gelehrt, »dass Erlösung ausschließlich von Gott komme, dass es ohne seine Gnade unmöglich sei, Ihn zu begreifen, dass Er die Quelle wie auch das Ziel allen Lebens sei«.9 Dem Protestantismus war jedoch, so Niebuhr weiter, »eigentümlich, dass er sich diese Vorstellung mit einer Lebendigkeit wieder zu eigen machte, die im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen war«.10 Damit war allerdings auch eine Ideologie und Herrschaftskritik des mittelalterlichen Katholizismus verbunden, dessen Repräsentanten sich die Gottesherrschaft nicht »als etwas unmittelbar Gegebenes« vorstellten, sondern als »in der Form einer hierarchisch gegliederten Struktur« institutionell Vermitteltes.11 Dieser katholischen Sicht entsprechend kam der Kirche – Vertreterin Christi und Mittlerin der Gnade – »die letztendige Herrschaft über die Menschen hier auf Erden zu«.12 Dabei wird die Lehre von der apostolischen Ämter-Sukzession13 bis heute als Legitimation herangezogen und als unaufgebbares Zeichen für die Apostolizität, d.h. die Treue zum Ursprung des kirchlichen Geschehens, verstanden, hat doch auch das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt, »dass die Bischöfe aufgrund göttlicher Einsetzung an die Stelle der Apostel nachgerückt sind« (LG 20; vgl. 28).14 Demzufolge ermöglicht »nur die sakramentale Vereinigung eine persönliche […] Beziehung zum Göttlichen«, so Paul Tillich, der die katholische Konfession deshalb dem »sakramentalen Religionstypus« 7 Vgl. Wolfgang Brückner, Die Neuorganisation von Frömmigkeit des Kirchenvolkes im nachtridentinischen Konfessionsstaat, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 21 (1998), 7–32, hier 23f. 8 Karl Erlinghagen, Religiöse Werte und Bildungsverhalten, in: Jakobus Wössner (Hg.), Religion im Umbruch,, Stuttgart 1972, 151–170, hier 155. 9 Helmut Richard Niebuhr, Der Gedanke des Gottesreiches im amerikanischen Christentum, New York 1948, 13. 10 Ebd. 11 Ebd., 15. 12 Ebd. 13 Siehe Herbert Vorgrimler, Artikel Successio apostolica, in: Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg 2000, 596. Zu diesem ämtersukzessorischen KirchenModell der Ursprungssicherung und zu seinen idealtypologischen »Gegenmodellen«, welche die Apostolizität anders gewährleistet sehen, s. Peter Neuner, Die ekklesiologischen Modelle der verschiedenen Konfessionen, in: ACK in Bayern (Hg.), Die Kirche in der Welt von morgen, Delegiertenkonferenz vom 11. bis 13. Februar 2000, München 2000, 22ff., 26ff. 14 Vgl. hierzu Walter Kasper, Ökumenischer Konsens über das kirchliche Amt?, in: Stimmen der Zeit 191 (1973), 230.

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bzw. »priesterlichen Typus des Christentums« zuweist. Auf der evangelischen Seite erkennt er den »prophetischen oder eschatologischen Religionstypus« wieder, wohl wissend, dass beide Konfessionen nicht auf den jeweiligen Typus reduziert werden können. Dennoch schließt diese Differenz im Grundverständnis beider ›Religionen‹ innerhalb des Christentums zahlreiche weitere Unterschiede auf – bis hin zu den jeweiligen – noch heute beobachtbaren – Frömmigkeitspraktiken, die dann auch – wie die Marienverehrung auf katholischer Seite – demonstrativ als konfessionelle Unterscheidungszeichen eingesetzt werden konnten.15 Und jene Differenz konnte sogar Jahrhunderte nach der Auflösung der konfessionellen Territorien dazu herhalten, evangelische und katholische Kinder auf öffentlichen Spielplätzen in Hessen (durch eine Ligusterhecke) zu trennen, den Sportunterricht an der PH in München nach Konfessionen getrennt zu betreiben oder sich darüber zu streiten, ob ein verstorbener Katholik neben einem evangelischen Christen beerdigt werden könne.16 Diese ›Apartheids‹-Beispiele, die sich um weitere ergänzen ließen, mögen schon genügen, um zu erahnen, dass das Verhältnis zwischen den Mitgliedern christlicher Konfessionen und ihre alltagspraktische Bedeutung sich erheblich gewandelt haben. Im Folgenden soll dieser Wandel zunächst unter den Stichworten ›explizite Entkonfessionalisierung‹, ›implizite Entkonfessionalisierung‹ und ›engagierte Entkonfessionalisierung‹ zum Thema gemacht werden. 1 Explizite Entkonfessionalisierung Beobachtbar ist eine sich ausweitende explizite Entkonfessionalisierung, d.h. die »Zunahme der ausdrücklichen Zurückweisung einer Mitgliedschaft in bzw. einer Bindung an irgendeine Konfession«.17 Hierzu gehören die steigende Konfessionslosenquote in der Bevölkerung, insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung, und die sinkende subjektive Selbstzurechnung zu einer bestimmten Teiltradition des Christentums. Beide Konfessionen zusammen repräsentieren nicht einmal mehr sechzig Prozent der Bevölkerung hierzulande. 2014 liegt der Anteil der Katholikinnen und Katholiken an der Gesamtzahl der Bundesbürger bei 29,5 Prozent, derjenige der Protestantinnen und Protestanten bereits bei 28,4 Prozent. In fünf Jahren ist für beide Konfessionen zusammen die 50-Pro15 Vgl. Michael N. Ebertz, Maria in der Massenreligiosität. Zum Wandel des popularen Katholizismus in Deutschland, in: Ders. / Franz Schultheis (Hg.): Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität aus 14 Ländern (Religion. Wissen. Kultur 2), München 1986, 65–83. 16 Siehe zu diesen Beispielen Michael N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche, Frankfurt 1998, 54. 17 Edgar Wunder, Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft. Ein Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung in der Religionsgeographie, Stuttgart 2005, 126; vgl. auch Ebertz, Erosion (s.o. Anm. 16), 100f.

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zent-Marke erreicht, in Ostdeutschland ist diese ja schon seit Jahrzehnten deutlich unterschritten. Die große Mehrheit stellen die – wie man dort sagt – ›Konfessionsfreien‹. In einigen Städten sogar Westdeutschlands sind beide Konfessionen zusammen schon längst minoritär oder gerade dabei, es zu werden. Im ehemals ›evangelischen‹ Stuttgart z.B. stellen die Mitglieder beider christlichen Konfessionen 2015 nur noch 49,9 Prozent der Einwohner (2000: 61%), selbst im ehemals ›katholischen‹ München haben sie zwischen 2010 und 2011 ihre gerade noch dünne Mehrheit (2009: 51%) verloren. Durch Mitgliederentscheidungen und demographische Entwicklungen hat sich die Gesamtzahl der katholischen Kirchenmitglieder in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre (von 28,3 Mio.) um mehr als 4 Mio. (auf 23,94 Mio.) in 2014 verringert. Das ist immerhin ein Schwund um gut 15 Prozent und entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Hamburg (1,734 Mio.), München (1,388 Mio.) und Köln (1,024) zusammen. Drastisch lässt sich sagen: Innerhalb von 25 Jahren hat die katholische Kirche hierzulande eine Schrumpfung erfahren, welche etwa die Mitgliedergröße des Erzbistums Köln (2014: 2 034 684) und des Bistums Münster (2014: 1 920 302) zusammen erreicht, also der beiden größten der 27 Diözesen in Deutschland. Weiterhin gingen die Priesterzahlen ebenso hinunter, wie die Kirchenaustrittszahlen steigen. 2014 haben letztere auf katholischer Seite deutlich die Marke von zweihundert Tausend überschritten (217 716). Im Skandalisierungsjahr 2010 waren mehr Menschen aus der Katholischen Kirche ausgetreten (181 193), als in ihr getauft (170 339) worden waren – und zum ersten Mal gab es auch mehr Katholiken als Protestanten, die ihrer Kirche den Rücken zudrehten. Auch 2014 sind mehr ausgetreten, als getauft (164 833) wurden. Da unter den aus der Kirche Austretenden vermehrt junge Erwachsene sind,18 die Zahl der Geburten zurückgeht und mehr Kirchenmitglieder sterben und austreten als durch Taufe hinzugewonnen werden, kann auf eine »Beschleunigung des Mitgliederschwunds« und auch auf eine wachsende »Überalterung des Mitgliederbestands«19 in beiden Kirchen geschlossen werden. Die Erosion der Taufbereitschaft ist in Deutschland zwar noch kaum bemerkbar, da nach wie vor die meisten Kinder von Kirchenmitgliedern getauft werden und sogar ein Drittel der Konfessionslosen ihre Kinder taufen lassen: »Auf vier Geborene mit wenigstens einem katholischen

18 Siehe Michael N. Ebertz / Monika Eberhardt / Anna Lang, Kirchenaustritt als Prozess: Gehen oder bleiben? Eine empirisch gewonnene Typologie (KirchenZukunft konkret 7), Berlin/Münster 2012. 19 Christof Wolf, Keine Anzeichen für ein Wiedererstarken der Religion. Analysen zum Wandel von Konfessionszugehörigkeit und Kirchenbindung, in: ISI 37 (Informationsdienst Soziale Indikatoren), Januar 2007, 7–11, hier 8; auch abrufbar unter: http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/ 21633/ssoar-isi-2007-37wolf-keine_anzeichen_fur_ein_wiedererstarken.pdf?sequence=1.

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Elternteil kommen jährlich nahezu drei katholische Taufen.«20 Aber in einigen europäischen Nachbarländern (Niederlanden, Belgien) hat die explizite Entkonfessionalisierung schon deutlich »auf die Bereitschaft zur Kindertaufe übergegriffen«, womit ein – möglicherweise auch hierzulande erwartbarer – sich selbst verstärkender Prozess in Gang kommt, »indem z.B. die Zahl konfessionsloser potenzieller Lebens- und Heiratspartner steigt und innerhalb der Lebensgemeinschaften dann … häufig eine Angleichung der Partner zugunsten der Konfessionslosigkeit stattfindet sowie eine entsprechende Verweigerung einer konfessionellen Sozialisation der Kinder«.21 Zwar gehen katholisch getaufte Kinder fast ausnahmslos zur Erstkommunion, aber nur »sieben von zehn« davon lassen sich auch firmen, indem sie »ihr Taufversprechen … erneuern und ihren Glauben und ihre Verbindung zur katholischen Kirche … stärken«, wie es – theologisch ziemlich oberflächlich – heißt.22 Inzwischen ist die Bindung an die Römisch-Katholische Kirche so geschwächt, dass es ihr kaum noch gelingt, Frauen und Männer für das Ordensleben und Männer für die klerikale Sozialisation und Auswahl zum Priesteramt23 zu gewinnen. Die Chancen hierfür haben sich erheblich reduziert, was auch mit der Zölibats- und der Bildungsschranke, aber auch mit dem demographischen Wandel zusammenhängt; denn in den an Kinderzahl kleinen Familien sinkt schlicht die absolute Zahl von Jungen, die als künftige Kleriker in Frage kämen, zumal die kirchliche Sozialisationsfunktion der Familien, von denen immer weniger konfessionell homogen sind, erheblich schwächelt. Die Koalition von Kirche und Familie ist in dieser Hinsicht weitgehend aufgelöst.24 Letzteres gilt auch auf evangelischer Seite und führt ebenfalls zur Personalkrise. Der PersonalEngpass an Priestern ist schon seit Jahrzehnten ebenso absehbar wie die wachsende Überalterung des Klerus, der vorrangigen Repräsentanten der Katholischen Kirche. Damit scheint in Deutschland ein wichtiges Konfessionsmerkmal auszusterben25, und die für die Katholische Kirche typische »Hierarchie der Stände«26 kann sich immer weniger reproduzieren. 20 Vgl. DBK (Hg.), Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2011/12 (Arbeitshilfen 257), Bonn 2012, 14ff. 21 Wunder, Religion (s.o. Anm. 17), 128. 22 DBK, Kirche (s.o. Anm. 20), 15. 23 S. Marius / J. Bitterli, Wer darf zum Priester geweiht werden? Eine Untersuchung der kanonischen Normen zur Eignungsprüfung, Essen 2010; Walter Weinberger, Voraussetzungen für die Zulassung zum Priestertum, Berlin 2013. 24 Vgl. schon Michael N. Ebertz, ›Heilige Familie‹ – ein Auslaufmodell? Religiöse Kompetenz der Familien in soziologischer Sicht, in: Albert Biesinger / Herbert Bendel (Hg.): Gottesbeziehung in der Familie. Familienkatechetische Orientierungen von der Kindertaufe bis ins Jugendalter, Ostfildern 2000, 16–43. 25 So vor 40 Jahren schon Gregor Siefer, Sterben die Priester aus? Soziologische Überlegungen zum Funktionswandel eines Berufsstandes, Essen 1973. 26 Norbert Lüdecke, Das Verständnis des kanonischen Rechts nach dem Codex Iuris Canonici von 1983, in: Christoph Grabenwarter / Norbert Lüdecke (Hg.),

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Die Zahl der Seminaristen in Deutschland sank zwischen 2010 und 2011 von 798 auf 764. Die Zahl der jährlichen Priesterweihen liegt nach wie vor unter 100 (2010: 81, 2011: 86),27 »die Zahl der Pensionierungen sowie die Zahl der Todesfälle bewegt sich jährlich um jeweils 350, sodass jeder neu Geweihte etwa 7 ausscheidende Mitbrüder ersetzen muss«, so Gregor Siefer.28 Das Durchschnittsalter des katholischen Klerus in Deutschland liegt derzeit bei etwa 60 Jahren. Deshalb werden Pfarreien zusammengelegt und so die pastoralen Räume, für die ein leitender Priester zuständig ist, vergrößert. Das bedeutet, »dass ein Priester für weitaus mehr Gläubige zuständig ist als zuvor. Sinkende Priesterzahlen werden damit aufgefangen, die Laien bekommen gleichzeitig aber auch mehr Verantwortung«.29 Eine gewisse Laisierung schreitet damit unaufhaltsam – aber gebremst – voran.30 Die Zahl der hauptamtlichen Laien im pastoralen Dienst »wächst ständig: So hat sich die Zahl der Pastoralreferenten etwa seit 1990 verdoppelt. Damit sind in Deutschland so viele Männer und Frauen im pastoralen Dienst tätig wie nie zuvor«.31 2 Implizite Entkonfessionalisierung Mit impliziter Entkonfessionalisierung ist das rapide Verblassen konfessioneller ›Konturen‹ im Alltagsleben gemeint – inzwischen bis in das Zusammenleben der Ehen und Familien, bis in das ›falling in love‹ und die Heiratsanzeigen der nichtkirchlichen Presse hinein. Angesichts der wachsenden Zahl konfessionsverschiedener Ehen geht Hans Joas davon aus, dass ein ›überkonfessionelles‹ Christentum ›von unten‹ entstehen könnte.32 Dass ein solches ›überkonfessionelles‹ Christentum entstehen kann, ist denkbar, aber es dürfte kaum seine Basis in den Ehen haben. Denn schon in den 1990er Jahren sagte nur noch ein gutes Drittel der deutschen Bevölkerung, dass es die ›Einstellung zur Religion‹ mit dem jeweiligen Lebenspartner teilt. Damit war seit 1981 (56%) innerhalb von knapp zehn Jahren der entsprechende Anteil in der Bevölkerung um mehr als 17% gefallen (West: 39%; Ost: 37%). Im Zeitvergleich, aber Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, Würzburg 2002, 177–215, hier 191. 27 DBK, Kirche (s.o. Anm. 20), 12. 28 Gregor Siefer, Krise oder Ende? Stichworte zur Situation der Kirchen in Deutschland, in: Ders., Mosaiken, Berlin 2011, 539–556, hier 547. 29 DBK, Kirche (s.o. Anm. 20), 12. 30 Vgl. Michael N. Ebertz, Laisierung der Kirche? Aspekte ihrer funktionalen Demokratisierung in der modernen Gesellschaft, in: Benedikt Kranemann / Myriam Wijlens (Hg.), Gesendet in den Weinberg des Herrn. Laien in der katholischen Kirche heute und morgen, Würzburg 2010, 53–76. 31 DBK, Kirche (s.o. Anm. 20), 12. 32 Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012, 188–190.

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auch im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt (1981: 23%; 1990: 23%) gesehen, erachtete es damals schon kaum jemand mehr für sehr wichtig ›für eine gute Ehe‹, ›gemeinsame religiöse Überzeugungen‹ (1981: 19%; 1990-West: 14%; 1990-Ost: 14%) zu haben.33 In der jüngsten Europäischen Wertestudie (2008) waren es unter den jungen Erwachsenen knapp 12 Prozent.34 Die Mehrheit der heutigen Ehen und Familien dürften nicht nur weitgehend entkonfessionalisiert, sondern auch säkularisiert sein. Konfessionelle Zugehörigkeit hat faktisch an Relevanz für die Handlungsführung und das Zusammenleben verloren, auch in den Intimbeziehungen. Lang ist es her, dass auch noch die kirchliche Jugendarbeit als binnenkonfessioneller Heiratsmarkt wirkte. Versucht man, vom Kaiserreich bis zur Gegenwart eine gedankliche Linie zu ziehen und diese Jahrhundertwegstrecke des Wandels der konfessionellen Verhältnisse auf eine Kurzformel zu bringen, dann könnte man – auch ausblickend – sagen: Immer weniger sind es konfessionelle Zugehörigkeiten, welche die sozialen Beziehungen der Menschen miteinander, gegeneinander und untereinander dominieren und die sinn- und handlungsprägenden Konturen und Bezugspunkte bestimmen. Die konfessionellen Konturen sind nicht verschwunden, aber sie sind blasser und unschärfer geworden.35 Auch die Konfessionskirchen selbst tragen zur konfessionellen ›Entdifferenzierung‹ bei, dazu, dass die Unterschiede feiner werden – etwa auf katholischer Seite bis in die Ummodellierung der Marienlieder hinein, von denen inzwischen die meisten auch für Protestanten singbar sein dürften.36 Aus einem ehemaligen Über-, Unter- und Gegeneinander der Konfessionen (noch im 19. Jahrhundert) ist, salopp formuliert, ein Nebeneinander (seit der Abschaffung der Staatskirche in der Weimarer Republik und der Erfahrung der NS-Zeit) und schließlich ein Miteinander (seit Gründung der Bundesrepublik), wenn nicht ein ›Durcheinander‹ geworden. Das ›Durcheinander‹ zeigt sich nicht nur in der Gesamtgesellschaft, wo die Tendenz zur Akonfessionalität, zur konfessionellen Indifferenz und Irrelevanz und zur Rücksichtnahme auf die expliziten Entkonfessionalisierungstendenzen steigt. Tendenzen zum konfessionellen Mit- und ›Durcheinander‹ haben wir z.B. auch in der kirchlichen Jugendarbeit, in den Familien, in den ›Basisgemeinden‹ und auch auf der Ebene der kirchlichen Organisationen, etwa der Einrichtungen von verbandlicher Caritas und Diakonie. Das ›Durcheinander‹ hat durchaus ein kirchenprominentes Aufmerksamkeitsniveau erreicht – so etwa im Fall Klaus Berger37. Ein weniger prominentes Beispiel entnehme ich meinen 33 Paul Zulehner / Hermann Denz, Wie Europa lebt und glaubt. Europäische Wertestudie: Tabellenband, Düsseldorf 1993, 85, 89f. 34 EVS (European Values Study), Internationale Bevölkerungsumfrageserie 2008, Statistischer Datensatz der Gesis, Köln 2008. 35 Vgl. Ebertz, Erosion (s.o. Anm. 16), 31ff., 46ff. 36 Vgl. Ebertz, Erosion (s.o. Anm. 16), 189ff. 37 Ein Fall mit »seltsamen Blüten«, so der frühere Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Walter Kardinal Kasper, in einem Leserbrief

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eigenen Aufzeichnungen, die ich im Anschluss an ein ökumenisches Fest nach einem ökumenischen Sonntagsgottesdienst in einer badischen Kleinstadt notieren konnte, hörte ich doch dort die Mikrophon-Ansage: »Liebe Brüder und Schwestern, erstmals haben wir auch einen Büchertisch aufgebaut, auf dem evangelische und katholische Bücher und Zeitschriften nicht nebeneinander liegen, sondern durcheinander«. Konfessionelle Differenz ist weder auf der Ebene des alltäglichen privaten und öffentlichen Lebens relevant, noch wird es durch gesellschaftliche Mächte und Gewalten relevant gemacht. Der konfessionelle Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen dürfte eines der relevantesten Relikte in dieser Hinsicht sein. 3 Engagierte Entkonfessionalisierung Schaut man auf das gegenwärtige ökumenische Verhältnis zwischen den Repräsentanten der beiden Konfessionskirchen, dann lassen sich Ungleichzeitigkeiten, d.h. das gleichzeitige Miteinander und Durcheinander, aber auch Gegeneinander und Nebeneinander der Konfessionen beobachten, insbesondere auf kirchlichen Organisationsebene. Auf einen Abbau der inter-konfessionellen Negation nach dem Prinzip: »Nicht das gemeinsame Handeln muss gerechtfertigt werden, sondern das Getrennte«,38 zielt eine engagierte ›Ökumene‹. Ihre Avantgarden, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, konnten sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts organisatorisch verfestigen (1910: Erste Weltmissionskonferenz in Edinburgh; 1921: Internationaler Missionsrat; 1925: Erste Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm; 1927: Bewegung für Glauben und Kirchenverfassungen in Lausanne), 1948 in der Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen bündeln und in der Öffnung der Orthodoxen Kirchen und der Katholischen Kirche zur Ökumene (durch die 1960 erfolgte Gründung des römischen Sekretariats für die Einheit der Christen und durch das Zweite Vatikanische Konzil: 1964: Ökumenismusdekret »Unitatis redintegratio«) seit den frühen 1960er Jahren, angestoßen durch die »Una-Sancta-Bewe-

(»Die Ökumene hat doch recht«) mit scharfer Kritik an der Ökumenismuskritik Klaus Bergers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. September 2004. Klaus Berger, der sich selbst mit Roger Schutz vergleicht, führe nach seinen eigenen Worten als »Exilkatholik« eine »ökumenische Existenz« (FAZ vom 13. August 2005; Die Zeit vom 27. 10. 2005) und greift massiv »Walter Kardinal Kasper über die Ökumene« an, der seiner Meinung nach »auch in der katholischen Kirche eben nur eine Fraktion vertritt« (Die Tagespost 22. 10. 2005); vgl. zum ›Fall‹ Klaus Berger unter anderen auch die Beiträge von Wolfgang Rudorff (FAZ 9. 8. 2005), Edo Reents (FAZ vom 27. 10. 2005), Eberhard Jüngel (FAZ 5.11.2005). 38 Hans Jörg Urban, Artikel Ökumene, in: Lexikon neureligiöser Szenen, Gruppen und Weltanschauungen, Freiburg 2005, 922.

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gung«,39 einen wichtigen Erfolg verbuchen.40 Diese ökumenischen Avantgarden sind heute in Deutschland auf der kirchlichen Organisationsebene in den Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen (ACK), den Weltgebetstagsinitiativen und nicht zuletzt in den ökumenischen Gemeindezentren zu finden, auf katholischer Seite auch im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK). Zweifellos hat die engagierte Ökumene Entwicklungen in der Christenheit bewirkt, »die«, so Ulrich Ruh,41 »nicht mehr einfach rückgängig gemacht oder vergessen werden können. Dies gilt für die im theologischen Gespräch durch die Rückbesinnung auf Schrift und Tradition und die Suche nach neuen Verstehensmöglichkeiten erreichten Konvergenzen und die damit gegebenen Anfragen an die jeweilige kirchlich-konfessionelle Identität. Dies gilt ebenso für die Erfahrungen, die Christen verschiedener Kirchen im gemeinsamen Gebet und Gottesdienst wie in der praktischen Zusammenarbeit im Dienst an der Welt gemacht haben. Die Kirchen haben sich in vielerlei Hinsicht gegenseitig geöffnet und voneinander gelernt. Das Bewusstsein der weltweiten Verbundenheit der Christen und ihrer Kirchen ist gewachsen«. Doch zeigt sich nicht nur ein fortwährendes ökumenisches Nebeneinander auch und gerade kirchlich Engagierter, eine fortwährende Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber dem ökumenischen Engagement ihrer Mitchristen, sondern es zeigt sich auch, dass »mit den Fortschritten ökumenischer Zusammenarbeit und Verständigung in vielen Kirchen neue (bzw. alte) Widerstände und Vorbehalte entstehen, die nicht zuletzt mit der Sorge um Spezifika der eigenen Tradition bzw. der eigenen theologischen und geschichtlichen Identität zu tun haben«.42 So kommt es durch Negation ökumenischer Negationen »teilweise zu neuen konfessionalistischen Verengungen und Einseitigkeiten«,43 indem z.B. zum Protest gegen die Befunde katholischer Bibelwissenschaftler aufgerufen wird, die sich mit Vertretern einiger anderer theologischer Disziplinen zu einem – so wörtlich – »progressistischen Kartell« zusammengeschlossen und die Nachfolge von »Wicleff, Luther, Febronius und anderen Irrleh39 Vgl. Herbert Vorgrimler, Artikel Ökumene, in: Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg 2000, 463–465, hier 463f.; eine gute Übersicht über die Una-SanctaKreise in: Carl Andresen / Georg Denzler, Wörterbuch der Kirchengeschichte, München 1982, 598f.; sehr informierend auch Reinhard Frieling, Der Weg des ökumenischen Gedankens, Göttingen 1992, 129ff. 40 Die weitere Entwicklung und ökumenische Praxis in der Römisch-Katholischen Kirche ist dokumentiert in den beiden ökumenischen Direktorien von 1967 und 1983 sowie in der Enzyklika ›Ut unum sint‹ von Papst Johannes Paul II. (1995) und schließlich in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus dem Jahre 1999; vgl. zur Geschichte der engagierten Ökumene aus evangelischer Sicht Frieling, Weg (s.o. Anm. 39). 41 Ulrich Ruh, Artikel Ökumene, in: Handwörterbuch religiöser Gegenwartsfragen, Freiburg 1986, 328. 42 Ebd., 327. 43 Ebd.

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rern« angetreten hätten.44 Eine bestimmte »Spielart der progressistischen Exegese« stelle den päpstlichen Primat als »geschichtlich gewordene Erscheinung ohne göttliche Herkunft und Verbindlichkeit« dar und hebe »mit ihren sogenannten Ergebnissen die gesamte Verfassung der Kirche aus den Angeln«. Dadurch würden »die Fundamente der katholischen Kirche untergraben« werden, damit sei es »mit unserer Kirche am Ende«.45 Gleichzeitig zeigt sich vielfach, so Ulrich Ruh, »dass ökumenische Annäherungen, Vereinbarungen und Gesprächsergebnisse von zahlreichen Kirchenmitgliedern nur sehr langsam oder gar nicht nachvollzogen werden«.46 Ulrich Ruh hat diese hier zitierten Sätze bereits 1986, also vor 30 Jahren geschrieben. Sie klingen wie ein zeitgenössischer Kommentar zur Lage der Ökumene und lassen auch und gerade deshalb die Frage nach den fördernden und hemmenden Faktoren der (engagierten) Entkonfessionalisierung entstehen. 4 Fördernde und hemmende Faktoren der engagierten Entkonfessionalisierung Es lassen sich fördernde und hemmende Faktoren der (engagierten) Entkonfessionalisierung ausmachen, und zwar solche theologischer und solche außer-theologischer Art. Die am stärksten hemmenden außer-theologischen Faktoren scheinen mir heute in der Generationsbindung (verknüpft auch mit der soziokulturellen Milieubindung) der sozialen Träger der engagierten Ökumene zu liegen. Diese haben es immer schwerer, für ihr Engagement, das sich auch aus der Erinnerung an die charismatischen Ursprünge der ökumenischen Bewegungen, aber auch aus dem Leiden an der wechselseitigen Negationsdramatik der Konfessionen, speist, Nachwuchs zu sichern. Die jüngeren Generationen sind in Fragen der engagierten Entkonfessionalisierung mehrheitlich schlicht indifferent, fehlt ihnen doch die Erfahrung der wechselseitigen konfessionellen Negation und damit auch der Impuls zur Negation dieser Negation. Die ökumenische Bewegung ist ja selbst in eine Phase der Veralltäglichung geraten und hat in routinierter Arbeit eines ihrer Ziele, die ›versöhnte Verschiedenheit‹, zumindest partiell erreicht. Weitergehende Bemühungen über diese Negationsminimierungen hinaus werden derzeit massiv abgebremst, wobei sich zeigt, dass die am stärksten hemmenden theologischen Faktoren offensichtlich in der Ekklesiologie, zumindest in ihrer kirchenpolitischen Instrumentalisierung liegen: 44 Johannes Rothkranz, Die Kardinalfehler des Hans Urs von Balthasar, Durach, 2 1989, 319. 45 Georg May, Der Glaube in der nachkonziliaren Kirche, Wien 1983, 152ff., 264. – Zum katholischen Fundamentalismus s. Michael N. Ebertz, Der Fundamentalist, in: Stephan Moebius / Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin 2010,174–189; Ebertz, Erosion, 235ff. 46 Ruh, Ökumene (s.o. Anm. 41), 328.

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Immer dann, wenn die ekklesiologischen Prinzipien (des Amts, des Lehramts, der Bekenntnistradition) ins Spiel gebracht werden, wird die ökumenische Beziehung an einer ›Steilwand‹ durch eine Vielfalt von Negationen (im Folgenden durch »!« markiert) abgebremst. Hermann Häring schreibt dazu: »Immer wird ein Punkt erreicht, an dem die katholische Kirche ein Vorrecht einfordert, das die evangelische Kirche nicht (!) einräumen möchte. Das Resultat lautet: Einsetzung einer Nachfolgekommission zur näheren Untersuchung dieser Fragen. Im Klartext lautet diese Ankündigung: Trotz des unbestreitbaren theologischen Diskussionsstandes ist die katholische Hierarchie zu keinen (!) Zugeständnissen bereit. Das ist spätestens der Punkt, an dem die ökumenische Diskussion mit schöner Regelmäßigkeit vom Niveau des ehrlichen Wohlwollens und ehrlicher Selbstkritik auf das Niveau der Machtverwaltung abgleitet«.47 Vor dem deutschen Weltjugendtag hatte Kardinal Walter Kasper »als leidenschaftlicher Bergsteiger« tatsächlich diesen Punkt mit der Geometapher der Steilwand kombiniert: Die ökumenischen Bemühungen seien »an der Steilwand angekommen. Und diese Steilwand ist die apostolische Sukzession, also das Dogma, demzufolge jeder Bischof in direkter Nachfolge der Apostel steht. Die protestantischen Kirchen« – Kardinal Kasper spricht immerhin von den protestantischen »Kirchen« – »konnten diese Form von apostolischer Nachfolge aus historischen Gründen nicht (!) bewahren und halten sie auch nicht (!) für so entscheidend«.48 Das gültige römisch-katholische Kirchenrecht normiert entsprechend der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, womit die seit dem 2. Jahrhundert erfolgten Versuche, die apostolische Ämter-Sukzession so zu verstehen, als sei jeder Bischof »der Nachfolger eines bestimmten Apostels, … aufgegeben« werden,49 dass die Bischöfe »kraft göttlicher Einsetzung durch den Heiligen Geist, der ihnen geschenkt ist, an die Stelle der Apostel treten« (can. 375§1), um, so heißt es wörtlich, »Lehrer des Glaubens, Priester des heiligen Gottesdienstes und Diener in der Leitung zu sein«. Dies könnten sie aber, so heißt es dann weiter, »nur (!) in der hierarchischen Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Kollegiums ausüben« (can. 375§2). Damit gilt: »Nicht die Teilkirche und das Amt des Diözesanbischofs sind göttlichen Rechts, sondern der Eintritt der Bischöfe in die apostolische Nachfolge, d.h. der Bischofsstand«.50 Als zum »ius divinum« gehörig werden – so Alexander Hollerbach – diejenigen Rechtsnormen des CIC markiert, »worüber die Kirche nicht (!) verfügen kann, ohne ihre Identität zu verlieren. Auch die höchste Autorität … ist daran gebunden, besitzt aber zugleich aus der 47 Hermann Häring, Glaube ja – nein? Die Zukunft christlicher Konfessionen, Darmstadt 2002, 155. 48 Focus vom 13. 8. 2005, 44. 49 So Herbert Vorgrimler, Artikel Bischof, in: Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg 2000, 97. 50 Lüdecke, Verständnis (s.o. Anm. 26), 201.

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Vollmacht des Lehramts die Interpretationskompetenz«.51 Als »göttlichen Rechts« gelten neben jenem Verständnis der apostolischen Sukzession auch die einschlägigen Normen des Kirchenrechts zur Souveränität und Autonomie des Papstes, die von ihm dominierte hierarchische Ämterstruktur der Kirche, die Über- und Unterordnung von Klerikern und Laien, der Ausschluss von Frauen von der Priesterweihe und die Einsetzung der Sakramente durch Christus.52 Das kirchenpolitische Arrangement mit und die Zugeständnisse an die schismatische und zugleich fundamentalistische Pius-Priesterbruderschaft werden ebenso dazu beitragen, die konfessionelle Differenzwahrnehmung zu steigern, wie die Annäherungsversuche zwischen römischem Katholizismus und Orthodoxie, mit der die katholische Konfessionskirche die Vorstellung der apostolischen Sukzession teilt. Spiegelbildlich wird auch auf evangelischer Seite formuliert, dass »die episkopale Sukzession, wie sie die Lima-Erklärung bejaht, ein für die reformatorische Theologie schlechterdings unannehmbares (!) Ordinationsverständnis impliziert«.53 Zumindest flackert die Debatte um die Thesen des Lima-Dokumentes zum Amtsverständnis innerhalb der evangelischen Kirchen immer wieder auf. »Man mag es drehen und wenden wie man will«, so Ulrich H.J. Körtner: »Mit der Übernahme des hierarchisch gegliederten dreifachen Amtes und der bischöflichen Sukzession würde die evangelische Kirche die Behauptung eines Defektes (!) akzeptieren, der letztlich das geistliche Recht der Reformation in Abrede (!) stellte«.54 Ulrich Körtner verweist auf das reformierte Erbe im kirchlichen Ämterverständnis und stellt als dessen Profilmerkmale heraus, – dass das geistliche Amt in der Evangelischen Kirche rückgebunden ist an die presbyterial-synodale Grundstruktur der evangelischen Kirchenverfassung, d.h. »an die Gesamtheit aller getauften evangelischen Christen ohne (!) Unterschied zwischen Ordinierten und Nichtordinierten«; – dass das geistliche Amt in der Evangelischen Kirche (allein) im Taufsakrament gründet, »nicht (!) auf besondere Traditionslinien einer bischöflichen Sukzession« und demzufolge keine (!) eigene – zusätzliche – sakramentale Qualität aufweist (was es nach Ansicht der Römisch-Katholischen wie auch der Orthodoxen Kirchen hat und damit eine wesensgemäße Differenz zwischen dem Priestertum aller Gläubigen und dem ordinierten Amt begründet); – dass es – gemäß der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen – auch für Frauen zugänglich ist (während Kardinal Kasper – wie auch Papst 51 Alexander Hollerbach, Ius divinum II. Kanonisches Recht, in: Evangelisches Staatslexikon, Band 1, 31987, 1414. 52 Eine systematische Übersicht über die im CIC formell als göttlich-rechtlich markierten Normen gibt Lüdecke, Verständnis (s.o. Anm. 26), 189ff. 53 Ulrich H.J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene. Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005, 196f. 54 Ebd., 200.

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Franziskus – in der Frage der Frauenordination »keine (!) Möglichkeit (sieht), dass die katholische Kirche ihre Position ändert«); – dass die verschiedenen Ämter der Gemeinde – besonders solche, die in der reformierten Lehre vom mehrfachen Amt unterschieden werden – »in keinem (!) hierarchischen Verhältnis zueinander« stehen, – sondern in einem funktionalen. Dementsprechend sei die »Übertragung eines episkopalen Amts, also des Bischofs-, Präses oder Kirchenpräsidentenamtes sowie der Superintendenten- oder Dekansamtes […] keine (!) Form der Ordination, sondern der Installation«.55 Bereits auf seiner Sitzung vom 7./8. September 2001 hat sich der Rat der EKD den folgenden, von ihm in Auftrag gegebenen Text seiner Kammer für Theologie »Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis« zu eigen gemacht. Darin heißt es zum ökumenischen Verhältnis mit der Römisch-Katholischen Kirche u.a., »dass die Notwendigkeit und Gestalt des ›Petrusamtes‹ und damit des Primats des Papstes, das Verständnis von der apostolischen Sukzession, die Nichtzulassung (!) von Frauen zum ordinierten Amt und nicht zuletzt der Rang des Kirchenrechtes in der römisch-katholischen Kirche Sachverhalte sind, denen evangelischerseits widersprochen (!) werden« müsse.56 Angesichts der wiederholten wechselseitigen Negationen in der Ämterfrage, angesichts des päpstlichen Jurisdiktionsprimats, und sicherlich auch angesichts der Mariologie und eines bestimmten Eucharistieverständnisses in der Römisch-Katholischen Kirche wird sich die engagierte Entkonfessionalisierung in der Gegenwart und Zukunft als ein Beziehungsgeschehen vor der Steilwand einrichten müssen. Faktisch interessieren diese binnenkirchlichem ekklesiastischen Differenzierungen nur einige Funktionäre und Intellektuellen der Konfessionskirchen, während andere von ihnen an ihrer Negation arbeiten. Zugleich reagiert die Mehrheit derjenigen Kirchenmitglieder, die keine theologischen Experten sind, mit Indifferenz und Ignoranz gegenüber der ekklesiastischen Differenzarbeit. Sie haben gewissermaßen selbst angefangen, zu den ekklesiastischen Negationen mehr oder weniger stillschweigend ›nein‹ zu sagen, zumal diese im weitgehend säkularisierten Alltagsleben – bis in das private Zusammenleben hinein – für die praktische Handlungsführung irrelevant sind. Wenn 14 Prozent der Westdeutschen glauben, dass es »nur eine wahre Religion« gibt,57 alle anderen Befragten also mehrheitlich ein eher inklusives Religionsverständnis haben, ist dieser Befund auch auf die Konfessionen zu beziehen. So entsteht eine ›Ökumene des Lebens‹, wie einige Repräsentanten der Kirchen gern sagen, die sie von 55 Ebd., 208, 212. 56 Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (= EKD-Texte 69), Hannover 2001, III.2.3. 57 EVS 2008 (European Values Study), Internationale Bevölkerungsumfrageserie 2008, Statistischer Datensatz der Gesis, Köln 2008. 

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einer Ökumene der Institutionen unterscheiden. Sie euphemisieren damit eine binnenkirchliche Kluft, die intrakonfessionell inzwischen größer sein dürfte als die interkonfessionelle, zumindest in Westdeutschland. Hierzu dürfte auch beigetragen haben, dass das ehemals so handlungsleitende religiöse Heilsgewissheitsinteresse einerseits in soziale Sicherheitsinteressen transformiert wurde: Die Differenzen der früher friedensunfähigen Konfessionen sind fortwährend politisch entzahnt, zivilisiert und neutralisiert worden, Schritt für Schritt eingebunden in das Projekt der Wohlfahrtsproduktion des Sozialstaats. Im Kontext der ›Sozialstaatsgesellschaft‹ sind die beiden Konfessionskirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden von Diakonie und Caritas heute zu den größten nicht-staatlichen Arbeitgebern nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa avanciert. Heilsfragen sind in Wohlfahrtsfragen übersetzt worden. Das religiöse Erlösungs- und Glaubensinteresse ist andererseits im Kontext der Herausbildung der ›Erlebnisgesellschaft‹ (Gerhard Schulze) weitgehend in stilistische Geschmacksinteressen ästhetisiert worden, die in beiden Konfessionskirchen unterschiedlich bedient werden – ähnlich wie es mehrere Cola-Getränke-Sorten gibt, die zusammengerührt nicht schmecken (so hat kürzlich eine Theologin vor Mitarbeitenden der Caritas tatsächlich die konfessionellen Differenzen plausibilisiert). Im Wandel von der Industrie zur ›Dienstleistungsgesellschaft‹ haben sich die Kirchenmitglieder beider Konfessionen mehrheitlich von Gemeindefrommen zu – situativ und punktuell nachfragenden – Kirchenkunden gewandelt. Für sie stellen die Konfessionskirchen nur eine Art Ritualversicherungsadresse dar, an die man sich auf der Suche nach einer kirchlichen Dienstleistung wendet. Von daher finden es auch gut zwei Drittel der heutigen Jugendlichen in Deutschland »gut, dass es die Kirchen gibt«, obwohl sie sich von ihnen »nur wenig verstanden fühlen«, so die Shell-Jugendstudie 2015.58 Die historisch tief sitzende ›Angst der Deutschen vor der Religion‹59 gilt inzwischen weniger der jeweiligen anderen Konfession als einer neuen ›Fremdreligion‹, die ihrerseits eigene ›Konfessionskonflikte‹ austrägt. Dr. Dr. Michael N. Ebertz, Soziologe und Theologe, ist Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg.

58 Florian Kluger, Wie hält es die Jugend mit der Religion? Die Shell-Jugendstudie 2015, in: Gottesdienst 50 (2016), 20–21, hier 21. 59 Vgl. José Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009.

3 Ökumenisches Lernen

3.1 Bernd Schröder / Albert Biesinger

Konfessionelle Kooperation und der Stand ihrer religionspädagogischen Erforschung Konfessionelle Kooperation und der Stand ihrer religionspädagogischen Erforschung

1 Aktuelle Ausgangslage konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts Angesichts von mancherlei Anfragen an den konfessionellen Religionsunterricht aus der schulischen Praxis wie aus der europaweiten konzeptionellen Debatte um angemessene Formen religiöser Bildung in der Schule hängt die Zukunftsfähigkeit des Religionsunterrichts nach Artikel 7,3 GG nicht zuletzt von der religionsdidaktisch fundierten Entwicklung konfessioneller Kooperation von evangelischem und katholischem Religionsunterricht ab. Eine solche »Kooperation« trägt den religionsdemografischen Entwicklungen ebenso Rechnung wie den bedeutenden Fortschritten ökumenischer Verständigung, die seit den 1960er Jahren erreicht wurden; sie spiegelt Annäherungen und Gemeinsamkeiten innerhalb des Christentums, die es nicht zuletzt in von Konfessionslosigkeit und religiöser Pluralität geprägten Kontexten hervorzuheben gilt, würdigt indes auch bleibende Unterschiede – und zwar nicht als bloße Relikte, sondern als Ausdruck tragender subjektiver Überzeugungen, geschichtlicher Prozesse und ›gelebter Religion‹. »Kooperation« kristallisiert sich zudem als ein Paradigma heraus, das sich perspektivisch auch für organisatorische und didaktische Arrangements mit weiteren Gesprächspartnern als fruchtbar erweisen kann: mit christlich-orthodoxem Religionsunterricht, mit islamischem Religionsunterricht oder auch mit Ethikunterricht. (Konfessionelle) Kooperation ist indes nicht nur ein religionsdidaktisches Programm; vielmehr setzt sie auch entsprechende theologische Denkbewegungen einerseits voraus und andererseits frei. Gefragt ist eine theologische Hermeneutik, die Divergenzen erklärt und Konvergenzen nachzuspüren vermag. 2 Konfessionelle Kooperation – eine Vergewisserung Konfessionelle Kooperation ist seit bald einem Vierteljahrhundert ein gängiger Begriff, der durch entsprechende Vorschläge in einer Denkschrift der EKD von 19941 sowie deren zunächst zurückhaltende Auf1 Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift, Gütersloh 1994. Die

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nahme durch die Deutsche Bischofskonferenz2, vor allem aber durch eine – ebenso knappe wie gehaltvolle – gemeinsame Erklärung von Deutscher Bischofskonferenz und Evangelischer Kirche in Deutschland aus dem Jahr 19983 prominent wurde. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat ihr Votum zugunsten konfessioneller Kooperation in ihrer zweiten Denkschrift zum Religionsunterricht »Religiöse Orientierung gewinnen« im Jahr 2015 nachdrücklich unterstrichen,4 mit einer entsprechenden Beschlussfassung der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz ist im Juni 2016 zu rechnen. Im engeren Sinne meint die Rede von konfessioneller Kooperation die rechtlich und schulorganisatorisch geregelte, didaktisch reflektierte, zeitweilige oder auf Dauer angelegte Zusammenführung von römischkatholischem und evangelischem Religionsunterricht, die aus dem Miteinander verschieden-konfessioneller Schülerinnen und Schüler und/oder Religionslehrerinnen und -lehrern einen didaktischen Mehrwert gewinnen kann und soll. In einem weiteren Sinn schließt der Begriff Kooperationen mit und zwischen weiteren christlichen, also v.a. orthodoxen Konfessionen ein: In Deutschland ist diese Weitung verschwindend selten;5 in Wien hingegen zentraler Bestandteil entsprechender Projekte. Nicht darunter fällt demgegenüber ein – insbesondere an Grund-, Gesamt- und Berufsbildenden Schulen keineswegs seltener – Religionsunterricht im Klassenverband, der Schüler/innen aller Konfessions- und Religionszugehörigkeiten adressiert und ohne entsprechende Übereinkunft der Religionsgemeinschaften, ohne spezifisches Curriculum sowie ohne planvollen Wechsel der Lehrkräfte durchgeführt wird.6

Denkschrift plädiert für die Beibehaltung konfessionell gegliederten Religionsunterrichts (»Prinzip konfessioneller Bestimmtheit«; 59), sieht aber zugleich »für die Zukunft die Form eines ›konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts‹« (65) als angemessen an« (»Prinzip dialogischer Kooperation«, 59). 2 Deutsche Bischofskonferenz, Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, Bonn 1996, 58: Durch das Festhalten an der konfessionell homogenen Trias »ist es […] dem Religionsunterricht nicht verwehrt […], daß er kooperiert«. 3 Evangelische Kirche in Deutschland / Deutsche Bischofskonferenz, Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht, Bonn/Hannover 1998 (https://www.ekd.de/download/konfessionelle_kooperation_1998.pdf). 4 Siehe »Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule« (hg. von Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2015), v.a. 45–49. 5 Zu den Möglichkeiten der Kooperation mit orthodoxem Religionsunterricht vgl. den Beitrag von Y. Danilowich in diesem Band. 6 Einblick in Formen und Begründungen eines solchen Unterrichts bieten am Beispiel Nordrhein-Westfalen Saskia Hütte / Norbert Mette, Religion im Klassenverband unterrichten, Münster 2003.

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3 Konfessionelle Kooperation im deutschsprachigen Raum – ein Überblick Konfessionelle Kooperation ist mittlerweile in einigen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland sowie in Österreich etabliert. In der Schweiz hingegen werden entsprechende Ansätze derzeit cum grano salis bereits wieder abgelöst. Im Folgenden sei ein knapper Überblick – in chronologischer Reihenfolge – gegeben: 3.1 Deutschland7 Baden-Württemberg In diesem Bundesland beschloss deren Interkonfessionelle Schulreferententagung bereits 1993 Empfehlungen für »Konfessionelle Kooperation an den Schulen, insbesondere im Religionsunterricht«, die zu ersten Praxisprojekten führten. Nach deren Evaluation und rechtlicher Klärung kam es 2005 zu einer – in ihren Grundzügen bis heute maßgeblichen – Vereinbarung über »Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen«, die von den Bischöfen der vier beteiligten Landeskirchen (Württemberg, Baden) bzw. Diözesen (RottenburgStuttgart, Freiburg) unterzeichnet wurde. Sie sieht u.a. eine Antrags- und Genehmigungspflicht (letzteres durch beide Konfessionen), die Vorlage eines zweijährigen Unterrichtsplans, die obligatorische Teilnahme der Lehrkräfte an einer Einführungstagung, eine generelle zeitliche Befristung der Kooperation und den verbindlichen Wechsel zwischen evangelischen und katholischen Lehrkräften (oder wo möglich Team-Teaching) vor – angesichts dieser Voraussetzungen kann man von einer harten Lesart konfessioneller Kooperation sprechen. Im Zeugnis der Schüler/innen wird die Note für den Religionsunterricht eingetragen, dessen Konfession die Lehrkraft angehört – vermerkt wird zudem »Der Religionsunterricht wurde konfessionell-kooperativ erteilt.«8 Angesichts der Erfahrungen mit drei bzw. neun Jahren konfessionellkooperativen Religionsunterrichts wurden die Regelungen »auf der Basis der Vereinbarung […] vom 1. März 2005« in den Jahren 20099 und neu-

7 Vgl. etwa Katja Boehme, Modelle konfessioneller Kooperation in Deutschland in der Praxis, in: Hans Schmid / Winfried Verburg (Hg.), Gastfreundschaft, München 2010, 102–115. 8 Zu Genese und Status Quo vgl. Gebhard Böhm / Bernhard Bosold, Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht, in: entwurf 2005, Heft 3, 54–57, sowie Birgit Hoppe, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht, Saarbrücken 2008, 79–107. 9 »Verbindlicher Rahmen für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht [an verschiedenen Schulformen; Novellierung vom 1. August 2009], in: Evangelische Landeskirche in Baden, Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erzdiözese

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erlich 2015 leicht überarbeitet: Ein »Wechsel der Lehrkraft« ist nur binnen eines sog. Standardzeitraums (in der Regel zwei Unterrichtsjahrgänge) »obligatorisch«; »dabei sind gleiche zeitliche Anteile für beide Konfessionen anzustreben«. Die Eltern müssen weiterhin vor Beginn der konfessionell-kooperativen Unterrichtung ihr Einverständnis erklären.10 Wieviele Schüler/innen der so definierte KoKoRU erreicht, wird statistisch nicht ausgewiesen. Anders als in anderen Bundesländern wird der Konfessionellen Kooperation in Baden-Württemberg ein für alle Beteiligten verbindliches didaktisches Leitinteresse unterlegt, das mehrfach auf die Formel »Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden« gebracht wurde.11 Niedersachsen Auf der Basis vorgängiger Beratungen der beteiligten Kirchen (seit 1993) erließ das niedersächsische Kultusministerium 1998 erstmals »Organisatorische Regelungen für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen«, die u.a. die Möglichkeit eröffneten, auf Antrag für maximal die Hälfte der an einer Schulform angebotenen Schuljahre Religionsunterricht konfessionell-kooperativ zu erteilen: Die Genehmigung war von der Schulbehörde »im Einvernehmen mit den zuständigen kirchlichen Stellen« zu erteilen, sofern die Klassenelternschaft und die Fachkonferenz zugestimmt hatten. Ein »inhaltlich, pädagogisch und organisatorisch abgesichertes Schulcurriculum für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht« hat vorzuliegen.12 »Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht […; gilt] schulrechtlich [als] Religionsunterricht der Religionsgemeinschaft, der die unterrichtende Lehrkraft angehört und nach deren Grundsätzen der Religionsunterricht erteilt wird.«13 Der Erlass wurde 2005 und v.a. 2011 durchaus wesentlich modifiziert: Der heute gültigen Fassung zufolge sind einerseits »Lehrkräfte beider Konfessionen« »regelmäßig« einzusetzen. Andererseits ist ein Antrag Freiburg und Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hg.), Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen, Stuttgart 2009, 11–31. 10 »Verbindlicher Rahmen für den konfessionell-kooperativ erteilten Religionsunterricht an Grundschulen, Hauptschulen/Werkrealschulen, Realschulen, Gemeinschaftsschulen und allgemein bildenden Gymnasien«, Freiburg/Karlsruhe/Rottenburg/Stuttgart 1. Dezember 2015. 11 So lautet auch der Titel der ersten Projektevaluation: Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger zusammen mit Reinhold Boschki, Claudia Schlenker, Anke Edelbrock, Oliver Kliss, Monika Scheidler, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell kooperativen Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002. 12 Leicht zugänglich ist der Runderlass vom 13. Januar 1998 in: Loccumer Pelikan 1998, Heft 2, 95f. Didaktische Grundsätze wurden nachlaufend für die Grundschule entwickelt (Erstfassung 2002) – siehe Lena Kuhl / Franz Thalmann (Hg.), Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht der Grundschule, Loccum 2004, 6–39. 13 Ebd., 13.

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nur noch zu stellen, wenn die Konfessionelle Kooperation über die Hälfte der Schuljahre hinaus fortgeführt werden soll.14 Seit dieser administrativen Ermäßigung – gepaart mit dem Fehlen einer obligatorischen Schulung der Lehrkräfte, einer planmäßigen didaktischen Konzeptentwicklung und einer Evaluierung – kann man im Falle Niedersachsens mit einigem Recht von einer weichen Lesart konfessioneller Kooperation sprechen, die sich freilich gute Realisierbarkeit und hohe Akzeptanz in den Schulen zugute schreiben kann. Im Schuljahr 2014/15 nahmen ausweislich der ministeriellen Statistik knapp 20% der Schüler/innen aller allgemeinbildenden Schulformen am konfessionell-kooperativen Religionsunterricht teil – der Spitzenwert von 54,5% wird in der Sekundarstufe I Integrierter Gesamtschulen erreicht.15 Auch die Berufsbildenden Schulen unterliegen dem Erlass; hier dürfte die Quote der konfessionellkooperativ unterrichteten Schüler/innen nochmals weitaus höher liegen. Nordrhein-Westfalen In Nordrhein-Westfalen kann im Anfangsunterricht der Grundschule für maximal zehn Wochen auf die konfessionelle Gliederung des Religionsunterrichts verzichtet werden; darüber hinaus kann der Religionsunterricht generell für Schülerinnen und Schüler anderer Konfessionen geöffnet werden, doch soll »der Religionsunterricht in konfessionell gemischten Lerngruppen die Ausnahme« bleiben – so legt es die letzte landesweit gültige Vereinbarung beider großen Kirchen im bevölkerungsreichsten Bundesland aus dem Jahr 1998 fest.16 Für einzelne Landesteile sind allerdings darüber hinaus gehende Regelungen getroffen worden. So besteht seit 2005 eine Vereinbarung zwischen der Lippischen Landeskirche und dem Erzbistum Paderborn, die es erlaubt, auf Antrag Religionsunterricht in konfessionell gemischten Lerngruppen zu erteilen – allerdings ist dies mit hohen administrativen Hürden versehen und auf Ausnahmefälle beschränkt.17 Die ermöglichten 14 Abgedruckt und kommentiert (durch den zuständigen Ministerialrat) in: Katholisches Büro Niedersachsen / Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), Religionsunterricht in Niedersachsen. Dokumente – Erklärungen – Handreichungen, Hannover 2012, 10–18, hier bes. 12f., sowie 19–39, bes. 29f. 15 Niedersächsisches Kultusministerium, Die niedersächsischen allgemein bildenden Schulen in Zahlen. Schuljahr 2014/15, Hannover 2014, 41 (Tab. 6.2). 16 Zur Konfessionalität des Religionsunterrichts. Votum der evangelischen Landeskirchen und der katholischen (Erz-)Bistümer in Nordrhein-Westfalen (14. Mai 1998), abgedruckt etwa in: Werner Prüßner u.a. (Hg.), Informationen zum Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen, 7., überarb. A. 2013, 57–59. 17 So heißt es in der »Vereinbarung zum Religionsunterricht zwischen dem Erzbistum Paderborn und der Lippischen Landeskirche« vom 16. März 2005, dass »die Schulleitung […; sc. »in den Fällen, in denen die Bildung konfessionell homogener Lerngruppen nicht möglich scheint«] die Zustimmung zur Erteilung von Religionsunterricht in konfessionell gemischten Lerngruppen in angemessener Frist über das Schulamt für den Kreis Lippe bei den zuständigen Behörden beider Kirchen, und

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Projekte wurden gleichwohl dokumentiert und sind insofern auf Multiplikation angelegt.18 War mit Blick auf NRW bislang ein generelles Ja zur Konfessionellen Kooperation nicht möglich, so wird derzeit dem Vernehmen nach eine von beiden Kirchen getragene landesweite Regelung entwickelt. Hessen Auf der Grundlage zwischenkirchlicher Vereinbarungen aus dem Jahr 1997 sieht das Bundesland Hessen seit 1999 die Möglichkeit konfessionell gemischter Lerngruppen vor: »Ist in einem Schuljahr die Bildung von Lerngruppen für beide Konfessionen […] zum Beispiel wegen Mangel an Lehrkräften oder wegen schulorganisatorischer Schwierigkeiten nicht möglich, können die Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht jeweils der anderen Konfession […]teilnehmen«. Folgende Vorsetzungen werden genannt: »a) Die Schulleitung beantragt unter Angabe von Gründen die Zustimmung zur Erteilung von Religionsunterricht in einer konfessionell gemischten Lerngruppe über das Staatliche Schulamt bei den zuständigen Behörden beider Kirchen […]. Sie fügt eine Stellungnahme der beiden Fachkonferenzen, soweit sie bestehen, sowie das Einverständnis der betroffenen Religionslehrerinnen und Religionslehrer bei. b) Nach Zustimmung der kirchlichen Behörden informiert die Schulleitung die Schülerinnen und Schüler, die am Religionsunterricht der anderen Konfession teilnehmen können, und deren Eltern […]. 2. Grundlage des Unterrichts ist der jeweilige Lehrplan. Bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte sollen die konfessionellen Besonderheiten und Prägungen mit dem Ziel gegenseitigen Verstehens behandelt werden.«19

Demnach geht es hier nicht um eine konzeptionelle Weiterentwicklung von Religionsunterricht, sondern um eine Art Notverordnung, um Religionsunterricht auch unter schwierigen schulischen Bedingungen gewährleisten zu können. Aus evangelischer Sicht holt hier ein staatlicher Erlass lediglich ein, was bereits seit den 1970er Jahren für zulässig und seit 1994 sogar als erwünscht galt.20 Die Römisch-Katholische Kirche hält demgegenüber prinzipiell an der Leitvorstellung einer

zwar für jeden einzelnen Fall und für jedes Schuljahr von Neuem« zu beantragen habe« (http://www.kirchenrecht-lippe.de/document/8470). 18 Erzbischöfliches Generalvikariat Paderborn / Lippisches Landeskirchenamt Detmold (Hg.), Konfessionelle Kooperation in der Lehrerfortbildung und im Religionsunterricht der Grundschule […] – Dokumentation der Projekte, Detmold / Paderborn 2005. 19 Erlass des Hessischen Kultusministeriums über den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in der Fassung vom 1. Juli 1999, zuletzt überarbeitet am 3. September 2014 (http://www.kirchenrecht-ekhn.de/document/18819#s17300026), Abschnitt VII. 20 Vgl. Nachweise in Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 300.

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homogen katholischen Trias (Lehrer – Schüler – Inhalte) fest;21 die Teilnahme katholischer Schüler/innen am evangelischen Religionsunterricht und evangelischer Schüler/innen am katholischen Religionsunterricht gilt ihr als Notlösung – eben diese Interpretation schlägt sich in dem zitierten hessischen Erlass nieder. In weiteren Bundesländern wie etwa Sachsen22 und Schleswig-Holstein23 regeln Erlasse konfessionelle Kooperation in der Weise, in der sie in der Vereinbarung von Evangelischer Kirche und Bischofskonferenz 1998 angeregt wurde; dafür bedurfte und bedarf es keiner besonderen organisatorischen oder rechtlichen Bestimmungen.24 In wieder anderen Bundesländern kommt es bislang nicht zur Förderung konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts – sei es weil die Katholische Kirche nicht zustimmt (wie in Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Bayern und – bislang – in Nordrhein-Westfalen), sei es weil die geringe Zahl an katholischen Schüler/inne/n keine Kooperation zulässt (wie in Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen).

Exkurs: Hamburg Eigens zu erwähnen sind Entwicklungen in Hamburg. Aufgrund spezifischer Gegebenheiten wird hier katholischer Religionsunterricht nahezu ausschließlich in Schulen in katholischer Trägerschaft erteilt; das Angebot religiöser Bildung an allgemeinbildenden Schulen war und ist seit dem Zweiten Weltkrieg de facto der evangelische Religionsunterricht, der angesichts einer früh manifesten religiösen Pluralisierung seit Mitte der 1990er Jahre programmatisch als »Religionsunterricht für alle« konzipiert wurde. In der jüngsten Vergangenheit (2013) ebnete demgegenüber der Abschluss von Staatsverträgen mit verschiedenen Religionsgemeinschaften (Aleviten, Juden, Sunniten) den Weg hin zu einem »Religionsunterricht für alle von allen«: Die besagten Religionsgemeinschaften sollen und wollen fortan kooperativ Verantwortung für den Religionsunterricht übernehmen, namentlich dessen »Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« gewährleisten und qualifizierte Religionslehrerinnen ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit stellen. Die Weichen sind hier somit – erstmals in Deutschland – gestellt für eine offizielle »Interreligiöse Kooperation«, die sich im Rahmen eines Unterrichtsfaches vollzieht.25 21 Deutsche Bischofskonferenz, Die bildende Kraft 1996 (s.o. Anm. 2), 50–58; vgl. auch Deutsche Bischofskonferenz, Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn 2005, 5 und speziell 23. 22 Vereinbarung zur konfessionellen Kooperation im Religionsunterricht zwischen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und dem Bistum DresdenMeißen vom 12. März 2002. 23 Runderlass des Ministeriums für Bildung […; des Landes Schleswig-Holstein]: Kooperation in der Fächergruppe Evangelische Religion, Katholische Religion und Philosophie vom 7. Mai 1997, hier Abs. I. 24 Vgl. die entsprechende Darstellung bei Daniela Bayer-Weid, Ökumenisch ja – aber bitte getrennt? Konfessionelle Kooperation in der Grundschule, Frankfurt u.a. 2011, 237–325. 25 Hans-Ulrich Keßler: Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung – der Hamburger Weg, in: Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Neukirchen-Vluyn 2014, 45–56, v.a. 47–49, und Jochen Bauer, Die Weiterentwick-

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3.2 Österreich In Österreich haben die Römisch-Katholische und die Evangelische, darüber hinaus auch die Altkatholische und die Griechisch-Orientalische Kirche mit dem Schuljahr 2002/3 begonnen, zunächst in Wien »konfessionell-kooperativen« RU bzw. »RU in gemeinsamer Verantwortung der Kirchen« zu erteilen. Grundlage ist Art. 17 des Staatsgrundgesetzes (StGG), wonach – anders als in der Bundesrepublik Deutschland – »für den Religionsunterricht in den Schulen […] von der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft Sorge zu tragen« ist; die inhaltliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts zählt demnach zu den »inneren Angelegenheit[en]« der Religionsgemeinschaften im Sinne von Art. 15 StGG. Wurden diese Bestimmungen üblicherweise im Sinne eines konfessionell getrennt zu erteilenden Religionsunterrichts ausgelegt, markieren die Übereinkünfte der beteiligten Kirchen aus dem Jahr 2002, die unter dem Dach des »Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich« möglich wurden, einen Wendepunkt.26 Auf die Projektvereinbarung der Kirchen hin wurden die Lehrpläne gesichtet, konfessionell-kooperative Unterrichtseinheiten entworfen sowie Fort- und Weiterbildungen aufgelegt.27 Schließlich wurde – in »eine[r] in Europa einzigartige[n Weise] – die Religionslehrerbildung für das Lehramt der Primar- und Sekundarstufe I an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien / Krems ökumenisch ausgestaltet: Neben konfessionsspezifischen Sequenzen umfasst sie von allen zu besuchende bildungswissenschaftliche Module sowie »eine gemeinsam ausgewiesene Modulschiene verpflichtender konfessionell-kooperativer theologischer und religionspädagogischer Lehrveranstaltungen«.28 Das Leitmotiv dieser Ausbildung wie auch des Wiener Praxisprojektes lautet in bewusster Abweichung von der baden-württembergischen Programmformel: »Das Gemeinsame entdecken – das Unterscheidende anerkennen«29.

lung des Hamburger Religionsunterrichts in der Diskussion zwischen Verfassungsrecht und Schulpädagogik, in: ZEvKR 59 (2014), 227–256. 26 Zur Einordnung s. Martin Jäggle / Philipp Klutz, Religiöse Bildung an Schulen in Österreich, in: Martin Jäggle u.a. (Hg.), Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen 2013, 69–93. 27 Vgl. Heribert Bastel / Manfred Göllner / Martin Jäggle / Helene Miklas (Hg.), Das Gemeinsame entdecken – das Unterscheidende anerkennen, Wien 2006. 28 Dazu Thomas Krobath / Georg Ritzer, Konfessionelle Kooperation in der Ausbildung von (Religions-)LehrerInnen an der KPH Wien/Krems. Grundlegung und Erfahrungen, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 13 (2014), H.2, 155– 166, Zitate 156 und 157. Details in dies. (Hg.), Ausbildung von ReligionslehrerInnen. Konfessionell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfähig, Wien 2014. 29 Vgl. den Titel des Vorstellungsbandes von Bastel u.a., Das Gemeinsame entdecken (s.o. Anm. 25).

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3.3 Schweiz »Der Religionsunterricht in der Schweiz zeichnet sich durch eine fast unüberschaubare Vielfalt von Varianten aus.«30 Unbeschadet dessen lässt sich in den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz in den letzten Jahren eine doppelte Entwicklung erkennen: Zum einen sucht man einheitliche Rahmendaten zu setzen, etwa indem ein kantonsübergreifend verbindlicher Lehrplan entworfen wird (»Lehrplan 21«), der cum grano salis religionskundliche Akzente setzt; zum anderen wird der Religionsunterricht organisatorisch und konzeptionell verändert: entweder in einen Fächerverbund aufgelöst (so etwa in Bern, Appenzell-Ausserrhoden und Schaffhausen), in ein kantonal verantwortetes, überkonfessionelles Fach überführt (so etwa in Zug und Zürich) oder aber aufgeteilt: Eine der Wochenstunden wird in staatlicher Verantwortung religionsübergreifend erteilt, die zweite Wochenstunde kann von den Religionsgemeinschaften mit konfessionellem Religionsunterricht gestaltet werden (»Modell 1+1«; so in Aargau, Graubünden und Luzern). Im Blick auf konfessionelle Kooperationen ist Folgendes bemerkenswert: Im Zuge solcher Reformen wird konfessionell-kooperativer Religionsunterricht entweder förmlich abgelöst (so 2011 im Kanton Zürich, wo er seit 1991, oder in Waadt, wo er seit den 1970er Jahren erteilt wurde) oder stillschweigend zurückgenommen (so im Kanton Graubünden), jedenfalls aber nicht als Modell mit Zukunft gehandelt. 4 Religionspädagogische Forschung zur Konfessionellen Kooperation Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht hat im Vergleich zu anderen Unterrichtsformen häufig und viel Forschungsinteresse gefunden.31 Das gilt namentlich für Baden-Württemberg. Bereits 1998/99 wurden entsprechende Unterrichtsversuche an Grundschulen im Raum Tübingen beobachtet und durch begleitende Interviews mit beteiligten Schüler/innen, Lehrer/innen und Schulleiter/innen sowie schriftliche Elternbefragungen interpretiert.32 2003/4 wurde ein ähnliches Untersuchungsdesign auf konfessionell-kooperative Unterrichtsversuche in der Sekun30 Monika Jakobs / Ulrich Riegel / Dominik Helbling / Thomas Englberger, Konfessioneller Religionsunterricht in multireligiöser Gesellschaft, Zürich 2009, 15. Vgl. auch Thomas Schlag, Religiöse Bildung an Schulen in der Schweiz, in: Martin Jäggle u.a. (Hg.), Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen 2013, 119–156, und Dominik Heibling u.a. (Hg.), Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht, Zürich 2013. 31 Vgl. jüngst Friedrich Schweitzer, Kooperativer Religionsunterricht, in: ZPT 65 (2013), Heft 1, 25–33, hier 31. 32 Schweitzer/Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken (s.o. Anm. 11), zur Methodik v.a. 215–235.

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darstufe I angewandt.33 Die Ergebnisse beider Untersuchungen flossen in die o.g. Vereinbarung zwischen den katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen ein. Auch der auf der Basis dieser Vereinbarung vertraglich gesicherte konfessionell-kooperative Religionsunterricht wurde neuerlich evaluiert; die Ergebnisse der Studie betreffen Unterricht der Jahre 2005–2008 und wurden durch Unterrichtsanalysen (von 76 Stunden RU), durch Gruppeninterviews mit Schüler/innen sowie Einzelinterviews mit Religionslehrenden sowie eine schriftliche Vollbefragung aller beteiligten Lehrenden erzielt.34 Demnach vermeidet der KoKoRU sowohl das »Insistieren auf konfessioneller Trennung« als auch »eine über die nach wie vor bedeutsamen Unterschiede […] hinwegsehende […] Uniformität«; er bilde vielmehr eine »verantwortliche Ökumene« ab und trage konstruktiv zur »Pluralitätsverarbeitung« bei – insbesondere dann, wenn zumindest phasenweise im konfessionell gemischten Lehrerteam unterrichtet wird. Insofern wird die Vereinbarung von 2005 als »richtungsweisend« bewertet.35 Gleichwohl markiert die Evaluation auch Desiderate, darunter ein adäquates Fortbildungsangebot sowie eine »Didaktik für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht«36. In Niedersachsen verzichteten die Kirchen demgegenüber auf wissenschaftliche Begleitforschung. In den ersten sechs Jahren wurden allerdings Berichte der kirchlichen Schulreferenten verfasst und veröffentlicht;37 2005/6 wurden ausgewählte Lehrkräfte per Interview auf ihre Erfahrungen, aber auch auf weitergehende Optionen hin befragt – mit dem Ergebnis, dass nur ein Drittel den konfessionell-kooperativen, hingegen 83% einen ökumenischen Religionsunterricht befürworten.38 33 Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger / Jörg Conrad / Matthias Gronover, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg u.a. 2006. 34 Lothar Kuld / Friedrich Schweitzer / Werner Tzscheetzsch / Joachim Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten. Evaluation des konfessionell-Kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg, Stuttgart 2009; zum Design 17–22. 35 Ebd., 204 und 206. 36 Ebd., 209. Ein konfessionell-kooperatives Hochschulseminar wurde exemplarisch aufwendig ausgewertet von Sabine Pemsel-Maier / Joachim Weinhardt / Marc Weinhardt, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Herausforderung, Stuttgart 2011. Es belegt sowohl die Notwendigkeit als auch den Ertrag solcher Lehrveranstaltungen. 37 Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen / Katholisches Büro Niedersachsen, [Zweiter – Sechster] Bericht kirchlicher Schulreferenten in Niedersachsen. Zu ökumenischer Zusammenarbeit im konfessionellen Religionsunterricht«, Hannover 1999–2002. 38 Carsten Gennerich / Reinhold Mokrosch, Von der konfessionellen Kooperation zum religionskooperativen Religionsunterricht? Empirische Befunde zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in Niedersachsen, in: Loccumer Pelikan 2015, Heft 4, 153–156, hier 154.

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Ein hohes Maß an Begleitforschung hat wiederum das KoKoRU-Projekt in Wien sowie die konfessionell-kooperative Religionsausbildung an der dortigen KPH erfahren. Zu Beginn und nach Ablauf von vier Halbjahren (also 2002 und 2004) wurden die projektbeteiligten Religionslehrenden befragt;39 wiederholt haben Prozessbeteiligte Wahrnehmungen mitgeteilt.40 Auch die erste Kohorte des konfessionell-kooperativen Ausbildungsgangs, 26 Personen, wurde in Interviews zum Ertrag des Studiums um Selbstauskünfte gebeten.41 Die Ergebnisse weisen den gesteigerten Lernertrag und die didaktische Qualität konfessioneller Kooperation aus; sie nähren aber durchaus auch Zweifel, ob konfessionelle Kooperation eine adäquate und hinreichende Reaktion auf die Herausforderung religiöser Pluralität darstellt.42 Zu den Forschungen, die mittelbar auch den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht betreffen, gehören schließlich Befragungen von Religionslehrenden und Schüler/inne/n zu dem von ihnen favorisierten Typ des Unterrichts. Diese gelangen indes je nach Studiendesign zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen: Während etwa Christhard Lück unter Lehramtsstudierenden Ev. Religion bundesweit eine Präferenz für konfessionell-kooperativen Religionsunterricht ausmacht, optieren evangelische Religionslehrende in Niedersachsen mehrheitlich für Religionsunterricht im Klassenverband.43 5 Bündelung Konfessionelle Kooperation ist ein namentlich in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Wien gut eingeführtes, didaktisch unterschiedlich sorgfältig elaboriertes und empirisch vergleichsweise umfassend evaluiertes Modell der Weiterentwicklung eines ursprünglich konfessionell gegliederten Religionsunterrichts. 39 Einblicke bei Heribert Bastel / Helene Miklas, »Ich bin informierter und persönlich gestärkt in meinem Glaubensverständnis«, in: Bastel u.a., Das Gemeinsame entdecken (s.o. Anm. 27), 43–57. 40 Bei Helene Miklas, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht, in: Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hg.), Begegnung und Inspiration. 50 Jahre Ökumene in Österreich, Wien 2014, 250–254, sowie Sonja Danner, KoKoRu. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht – ›das Wiener Modell‹, in: ÖRF 23 (215), 47–53, 51f., wird inzwischen ein skeptisches Fazit gezogen. 41 Siehe Krobath/Ritzer, Konfessionelle Kooperation (s.o. Anm. 28). 42 Dementsprechend richtet Philipp Klutz, Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien, Münster 2015, sein Interesse auf die »Akzeptanz eines Religionsunterrichts für alle« (etwa 67). 43 Übersicht und Nachweise bei Klutz, Religionsunterricht (s.o. Anm. 40), 46–52, sowie in Peter Schreiner / Friedrich Schweitzer (Hg.), Religiöse Bildung erforschen, Münster / New York 2014, passim.

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Sie trägt dem Stand der theologischen und praktischen Annäherung von Römisch-Katholischer und Evangelischer Kirche Rechnung;44 sie bearbeitet fraglos in konstruktiver Weise eine der historisch wie bleibend maßgeblichen Herausforderungen christlicher Existenz im deutschsprachigen Raum. In der Überschau fällt auf, dass KokoRU sich – gleichsam folgerichtig – überall dort bewährt, wo die zwei großen christlichen Konfessionen einen großen Teil der Bevölkerung binden (Baden-Württemberg), und auch dort, wo eine der beiden sich in einer Diasporasituation befindet und deshalb nur Kooperation die Beschulung ihrer Angehörigen mit Religionsunterricht sicherzustellen vermag (so in weiten Teilen Niedersachsens). Wo hingegen der wachsende Anteil konfessionsloser Menschen (so in Zürich) oder eine vielgestaltige Religionspluralität (so in Wien oder Hamburg) als wesentliche Herausforderung wahrgenommen wird, vermag konfessionelle Kooperation das Standing des Religionsunterrichts nicht entscheidend zu verbessern – hier bedarf es wohl ihrer Öffnung hin zu interreligiösen Lernphasen oder hin zu einem religiös-kooperativen Unterricht45; andernfalls laufen wir Gefahr, dass in der Praxis ein kaum regulierter, didaktisch wenig vorstrukturierter Religionsunterricht im Klassenverband die Oberhand gewinnt. In jedem Fall bedarf es – darauf wird seit den ersten Unterrichtsbegleitforschungen hingewiesen – der didaktischen Ausarbeitung konfessionellkooperativer Unterrichtsarrangements und einer entsprechenden Umstellung der Religionslehrer/innen-Aus- und Fortbildung. Dies sind notwendige Voraussetzungen dafür, dass KokoRU als »›Mehrwert‹-Projekt« (Albert Biesinger) erkennbar wird und seine Reduktion auf ein Sparpaket sowie eine Nivellierung der konfessionellen Profile und Reichtümer vermieden werden kann; nicht zuletzt dafür, dass die in diesem Setting gewonnenen Erfahrungen für interreligiöses Lernen fruchtbar werden können. 6 Bleibende Aufgaben Noch einmal: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht bedarf einer eigenen Didaktik, die auf die besonderen Zielsetzungen und Lernmöglichkeiten eines solchen Unterrichts zugeschnitten ist – nicht zuletzt auch auf die Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen. Die Entwicklung einer solchen Didaktik stellt – vor allem im Blick auf die

44 Vgl. etwa den Beitrag von Martin Bräuer /Johannes Oeldemann in diesem Band. 45 Vgl. die abschließenden Thesen in Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Neukirchen-Vluyn 2014, 193f.

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elementare Sicherung von Themen, die für die konfessionelle Kooperation besonders dringlich sind – ein wichtiges Desiderat dar. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht stellt Lehrende vor die Aufgabe, sich der eigenen konfessionellen Bindungen zu vergewissern und Einblicke in die andere Konfession zu gewinnen. Beides wird offenbar durch die bislang übliche Ausbildung nicht erreicht. Entsprechende Veränderungen in der Aus-und Fortbildung sind deshalb von besonderer Bedeutung. Hier sollte ein eigenes Fortbildungsprogramm, das nicht nur aus isolierten Einzelveranstaltungen besteht, erwogen bzw. entwickelt werden. Wie von den Lehrerinnen und Lehrern vielfach berichtet wird, ist konfessionell-kooperativer Religionsunterricht unbedingt empfehlenswert. Auch wenn eine von den Kirchen ausgehende konfessionelle Kooperation durch Art. 7,3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland voll gedeckt ist, sollte ein solcher Unterricht nicht zentral verordnet werden, da die persönlichen Beziehungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Lehrkräften sowie die örtlichen und auf die einzelne Schule bezogenen Voraussetzungen eine wichtige Rolle spielen. Die Fortsetzung einer entsprechenden Praxis ist zugleich von grundlegender politischer, pädagogischer und religionsdidaktischer Bedeutung. Zu erwarten ist eine Stärkung des Religionsunterrichts, eine wirksame Unterstützung der Entwicklung konfessionellen (Selbst-)Bewusstseins sowie ein insgesamt im Vergleich zum herkömmlichen Religionsunterricht verbessertes Lernangebot (Lernanlässe, Lernmöglichkeiten usw.).46 Tatsächlich gewinnen Schülerinnen und Schüler ganz entscheidend, wenn sie von authentisch evangelischen bzw. katholischen Religionslehrenden unterrichtet werden. »Glaubwürdig unterrichten«47 wirkt – es verhilft Schülerinnen und Schüler dazu, dialogfähig im Blick auf die jeweils andere Konfession zu werden und nicht lediglich plakativ Stereotypen zu erschließen: »Schülerinnen und Schüler gewinnen Orientierung, wenn sie von Religionslehrerinnen und Religionslehrern begleitet und unterrichtet werden, die selbst partizipative Praxis mit dem von ihnen gelehrten Christentum haben. Die Zugehörigkeit zu einer Konfession ist in dieser Hinsicht nicht eine Einschränkung, sondern bietet einen ›Sinnüberschuss‹ an Konkretisierung des christlichen Weges. Das Christentum gibt es immer nur in Konfessionen, zumindest wenn es praktisch werden soll. Konkrete Schwerpunktsetzungen, Ausprägungen von Glaubensdeutungen und christliche Handlungsoptionen sind in Theorie und Praxis mit allem pro und contra in den Konfessionen entstanden und werden auch in ihnen konkret praktiziert. Will man aus dem Religionsunterricht 46 Vgl. die Empfehlungen zum konfessionell-kooperativen Unterricht in: Biesinger/ Schweitzer/Conrad/Gronover, Dialogischer Religionsunterricht (s.o. Anm. 33), 202– 205. 47 Albert Biesinger / Julia Münch / Friedrich Schweitzer, Glaubwürdig unterrichten. Biographie – Glaube – Unterricht, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2008.

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nicht einfach – in Analogie zum Brandenburger Modell ›Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde‹ – eine distanzierte ›christliche Theologiekunde‹ machen, dann bedarf es konfes[sionell] strukturierter Lehrpersonen, die durch ihre eigenen Glaubenseinstellungen ihre eigene Glaubenspraxis und nicht zuletzt durch ihre eigenen Zweifel und Suchprozesse, es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, selbständig Erkundungen im Blick auf den christlichen Weg zu realisieren.«48 Kurzum: Konfessionelle Kooperation wird nur dann hinreichend plausibel sein, wenn es gelingt, die persönliche Bindung der Religionslehrenden an eine Konfession fruchtbar einzubringen und den Religionsunterricht insofern nicht zu versachkundlichen. Andernfalls wird ein religionskundlicher Unterricht, dem ja Interesse der Beteiligten an der Sache keineswegs abzusprechen ist, den Vorzug erhalten, weil er ›mehr‹ Religionen in ›einfacher‹ Struktur thematisieren kann. Dr. Albert Biesinger war von 1982 bis 2014 zunächst Professor für Katechetik und Religionspädagogik an der Universität Salzburg, dann Professor für Religionspädagogik, Kerygmatik und kirchliche Erwachsenenbildung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Bernd Schröder ist seit 2001 Professor für Religionspädagogik, zunächst an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.

48 Ebd., 119.

3.2 Reinhold Boschki / Friedrich Schweitzer

Ökumenisches Lernen braucht eine eigene Didaktik Schülervoraussetzungen und Prinzipien interkonfessionellen Lernens

Der Titel unseres Beitrags bringt die leitende These bereits zum Ausdruck: Ökumenisches Lernen ist nicht nur eine Frage der Unterrichtsorganisation, sondern es stellt vor eigene didaktische Herausforderungen. Auch die Einrichtung eines gemeinsamen christlichen Religionsunterrichts beispielsweise böte darauf noch keine Antwort. Diese These lässt sich ebenso im Blick auf die theologischen Voraussetzungen begründen wie hinsichtlich der Schülerinnen und Schüler. Darüber hinaus gehören zur Didaktik aber auch alle Fragen der Auswahl von Inhalten, der Planung und Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen sowie Methoden. Im Folgenden werden nicht alle diese Aspekte gleichermaßen thematisiert. Für die Organisationsformen und speziell für die konfessionelle Kooperation ebenso wie für theologische und kirchliche Voraussetzungen ist auf parallele Beiträge im vorliegenden Band hinzuweisen. In diesem Beitrag sollen hingegen die Schülervoraussetzungen sowie die Frage nach Prinzipien ökumenischen oder interkonfessionellen Lernens im Zentrum stehen. Dabei gehen wir davon aus, dass gerade die Voraussetzungen bei den Kindern und Jugendlichen eine Didaktik ökumenischen Lernens vor besondere Aufgaben stellen. Deshalb verdienen sie mehr Aufmerksamkeit, als ihnen bislang geschenkt wird. Im Folgenden können auch nicht alle Kontexte interkonfessioneller Lernprozesse ausgeleuchtet werden. Unser Schwerpunkt soll beim Religionsunterricht und bei der Schule liegen. Gemeindliche oder allgemein gesellschaftliche Lernorte bedürften einer eigenen Betrachtung, auch wenn die vorgeschlagenen Prinzipien interkonfessionellen Lernens dafür durchaus bedeutsam sind. 1 Ökumenisches Lernen in der pluralen Gesellschaft »Ökumenisches Lernen« war in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Hoffnungswort.1 Es wirkte wie eine kräftige Brise 1 Vgl. u.a. Ralf Koerrenz, Ökumenisches Lernen, Gütersloh 1994; Richard Schlüter, Ökumenisches Lernen in den Kirchen. Schritte in die gemeinsame Zukunft. Eine praktisch-theologische Grundlegung, Essen 1992. Einen wichtigen Meilenstein

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für die Boote des religiösen Lernens, die auf getrennten Routen unterwegs waren und nur langsam vorankamen. Mit dem Rückenwind der ökumenischen Bewegung waren Erwartungen aufgekommen, die versprachen, die Konfessionen enger zusammenzubringen. Doch bedeutete ökumenisches Lernen mehr als »Ökumene lernen«. Letzteres wurde als ein verengtes Konzept betrachtet, das zu einseitig auf die Wiederherstellung der Einheit der Kirchen ziele, also eine rein zwischen- oder sogar binnenkirchliche Perspektive hätte. Deshalb wurde ökumenisches Lernen zunehmend zu einem Kompass für ein Lernen im größeren Horizont des menschlichen Zusammenlebens in der ganzen bewohnten Welt.2 Nach Karl Ernst Nipkow ereignet sich ökumenisches Lernen in mindestens vier Bereichen:1. innerhalb der Beziehung zweier Konfessionen, z.B. zwischen den protestantischen und katholischen und/oder den orthodoxen Kirchen; 2. innerhalb der Beziehung aller christlichen Kirchen (»ökumenische Bewegung« weltweit); 3. innerhalb eines konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sowie 4. innerhalb der Ökumene der Weltreligionen und des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen3 – wobei der vierte Bezug eher der katholischen Sprachkonvention entspricht, während der Ökumenebegriff im Unterschied zu Interreligiosität auf evangelischer Seite nur auf das Christentum, im Kontext des globalen Zusammenlebens, bezogen wird4. Für alle diese Bereiche muss, so Nipkow, eine »ökumenische Hermeneutik der wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit«5 entwickelt werden. Damit ist auch deutlich, dass ökumenisches Lernen keineswegs nur die evangelisch-katholische Kooperation im Religionsunterricht bedeuten kann. Weit stärker als in der Vergangenheit sind insbesondere die Orthodoxen Kirchen einzubeziehen. Ähnliches gilt für interreligiöse und globale Horizonte, auch wenn es sinnvoll bleibt, die verschiedenen Lernperspektiven differenziert zu betrachten. Inzwischen ist der ökumenische Frischwind abgeflaut. Das gilt besonders für die Beziehungen zwischen den großen Kirchen in Deutschland. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Neben kirchenamtlichen Rückwärtsbewegungen, die nicht selten aus der Angst vor Verlust der eigenen konfessionellen Identität zu resultieren scheinen – aus evangelischer stellte darüber hinaus die Veröffentlichung EKD (Hg.), Ökumenisches Lernen. Grundlagen und Impulse. Eine Arbeitshilfe der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Gütersloh 1985 dar. 2 Vgl. EKD, Ökumenisches Lernen. 3 Karl Ernst Nipkow, »Oikumene«. Der Welthorizont als notwendige Voraussetzung christlicher Bildung und Erziehung im Blick auf die nichtchristlichen Religionen, in: Johannes Lähnemann (Hg.), Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung, Hamburg 1992, 166–189, hier 166. 4 Vgl. bspw. EKD, Ökumenisches Lernen. 5 Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Band 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, 306.

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Sicht zählt dazu auch das fehlende Interesse an ökumenischen Fragen selbst eines so reformorientierten Papstes wie Franziskus –, und der daraus folgenden Ernüchterung auf Seiten vieler Gläubiger, ist der gesellschaftliche Wandel eine wesentliche Ursache. Die plurale, individualisierte, (teil-)säkularisierte Medien- und Konsumwelt reißt die Menschen aus den traditionellen Milieus heraus, trägt zur Entkirchlichung und Enttraditionalisierung bei, so dass für die Individuen konfessionelle Profile erheblich an Bedeutung verlieren. Eine quantitativ nicht zu vernachlässigende Ausnahme stellen allerdings Eltern und Kinder in evangelischkatholischen Familien dar (ein Drittel aller christlichen Kinder kommt inzwischen aus solchen Familien).6 Gleichzeitig gewinnen unterschiedliche Religionszugehörigkeiten – aber eben über das Christentum hinaus – an Gewicht, mit der Folge, dass der ökumenische Ansatz gleichsam zu kurz zu greifen scheint. Ist das ökumenische Lernen, verstanden als ein Lernprozess der versöhnten und deshalb zugleich konfliktfähigen Verschiedenheit zwischen den christlichen Konfessionen, an sein Ende gekommen? Unseres Erachtens keineswegs, dann nämlich, wenn man ökumenisches Lernen konsequent im Kontext der pluralen Gesellschaft neu ausleuchtet. Ökumenisches Lernen darf nicht als ein Lernen verstanden werden, das Unterschiede nivelliert, Profile einebnet und Versöhnung zwischen den Kirchen als Vereinheitlichung versteht. Ökumenisches Lernen ist Arbeit an Differenz. Differenz ist die Grundsignatur von Pluralität, sie hat ihre eigene Würde, wenn sich die Gesellschaft dem Humanum verpflichtet.7 An Differenzen zu arbeiten bedeutet nicht, sie hervorzuheben, um sie gegeneinander zu setzen, sondern sie sensibel wahrzunehmen und wertzuschätzen oder, wo dies nicht möglich erscheint, zumindest einen reflektierten und konstruktiven Umgang damit auszubilden. Wird ökumenisches Lernen als Differenzlernen in einer pluralen und globalisierten Welt verstanden, kann es sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in neuer Weise stellen.8 In einer solchen Perspektive liegt denn auch die neue Herausforderung für ökumenisches Lernen in der Gegenwart. Dazu gehört, die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Kirchen konsequent in einen weiteren Kontext einzuzeichnen. Insofern muss es nun um eine Verknüpfung interkonfessioneller und interreligiöser Perspektiven gehen. Der Begriff der Pluralitätsfähigkeit bezeichnet so gese-

6 Vgl. Niels Logemann, Konfessionsverschiedene Familien: eine empirische Untersuchung von unterschiedlichen Entscheidungsbereichen und ihre theoretische Erklärung unter Verwendung des Bourdieuschen Kapitalkonzepts, Würzburg 2001. 7 Jonathan Sacks, The dignity of difference. How to avoid the clash of civilizations, London / New York 2011. 8 Vgl. Sören Asmus (Hg.), Lernen für das Leben. Perspektiven ökumenischen Lernens und ökumenischer Bildung, Frankfurt 2010.

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hen ein Bildungsziel, das die verschiedenen, bislang oft getrennt behandelten Ansätze miteinander verbindet.9 Ein solches Verständnis von ökumenischem Lernen muss zugleich den Verstehensvoraussetzungen heutiger Schülerinnen und Schüler gerecht werden. Haben sie (noch) ein Bewusstsein für Differenz in konfessioneller Hinsicht? Aus der Annäherung an diese Frage ergibt sich eine Notwendigkeit einer ökumenischen Didaktik, die die Ausbildung von »Differenzkompetenz« unterstützt.10 Auf diese Kompetenz zielt schon die für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht ausgebildete Zielformel »Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden«,11 die als »ökumenische Differenzkompetenz« weiterentwickelt wird12, wobei ein solcher Ansatz gerade auch die als problematisch wahrgenommenen Seiten des jeweils Anderen nicht übergehen darf.13 2 Ökumene – kein Thema für Kinder und Jugendliche? Bereits vor Jahren wurde kritisch festgestellt, dass »bisher niemand in der westdeutschen Diskussion die Frage aufgeworfen« habe, »ob und wie ›Ökumene‹ auch ein Thema der Jugendlichen selbst ist«.14 Aufs Ganze gesehen gilt dies noch immer. Die sozial-wissenschaftliche Jugendforschung interessiert sich bestenfalls für Religion im Allgemeinen, nicht aber für Ökumene, und auch die empirisch-religionspädagogische 9 Vgl. dazu auch EKD, Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2014. 10 Vgl. Thomas Klie / Dietrich Korsch / Ulrike Wagner-Rau (Hg.), DifferenzKompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012. 11 Vgl. Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger zusammen mit Reinhold Boschki, Claudia Schlenker, Anke Edelbrock, Oliver Kliss, Monika Scheidler, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell kooperativen Religionsunterricht, Freiburg/Gütersloh u.a. 2002. 12 Henrik Simojoki, Ökumenische Differenzkompetenz. Plädoyer für eine didaktische Kultur konfessioneller Kooperation im Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67(2015), 68–78. 13 Darauf zielt auch der von Nipkow beschriebene »harte Pluralismus«, der nichts mit Härte zu tun hat, sondern aus der Einsicht erwächst, dass Konflikte nur dann bearbeitbar sind, wenn sie nicht verschwiegen werden. Vgl. Karl Ernst Nipkow, Ziele Interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem, in: Johannes A. van der Ven / Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Religiöser Pluralismus und interreligiöses Lernen, Kampen/Weinheim 1994, 197–232. 14 Karl Ernst Nipkow, Ökumene – ein Thema von Jugendlichen? Empirische Annäherungen, in: Friedrich Johannsen / Harry Noormann (Hg.), Lernen für eine bewohnbare Erde. Bildung und Erneuerung im ökumenischen Horizont. Ulrich Becker zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1990, 137–147, 137. Im Folgenden stützen wir uns, ohne Einzelnachweis der übernommenen Passagen, auf eine frühere Tübinger Veröffentlichung: Friedrich Schweitzer u.a., Jugend und Ökumene. Empirische und theoretische Perspektiven, in: Ökumenische Rundschau 54 (2005), 138–147.

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Forschung hat dem Thema wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im Rahmen des Tübinger Forschungsprojekts zum konfessionell-kooperativen (evangelisch – katholisch) Religionsunterricht wurde der Frage nachgegangen, wie Kinder und Jugendliche einerseits die Beziehung zwischen sich selbst und den christlichen Konfessionen wahrnehmen und andererseits die Beziehung zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen, zum Teil auch zwischen den Kirchen und anderen Religionen.15 Aus Raumgründen beschränken wir uns hier im Wesentlichen auf die Jugendlichen (Klasse 5/6 und Klasse 10). Es handelt sich um Schülerinnen und Schüler, die am konfessionell-kooperativen Religionsunterricht beteiligt waren. Übergreifend lässt sich feststellen, dass die allermeisten Jugendlichen die eigenen Erfahrungen mit Kirche als einen nicht weiter reflektierten Bestandteil ihrer Sozialisation beschrieben. Sie nehmen ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als mehr oder weniger zufälligen Umstand wahr. In den Interviews war dies etwa an folgenden Tendenzen festzumachen: – Dem weit überwiegenden Teil ist die Frage nach den Konfessionen mehr oder weniger gleichgültig. Sie besitzt keine bewusste Relevanz für sie. Für die Wahl von Freundinnen oder Freunden spiele Konfession keine Rolle. Kirchliche Feste, Feiern oder Riten wie beispielsweise die Firmung sind in ihren Augen mit denen der anderen Konfession austauschbar. – Die Frage, was für evangelisch oder katholisch typisch sei, löste in keinem Falle theologische Argumente aus. Die Jugendlichen bezogen sich durchweg auf leicht wahrzunehmende Merkmale (Papst, Marienverehrung, Erstkommunion, Konfirmation usw.). – Die Jugendlichen unterschieden die Konfession primär anhand der Intensität, mit der sie Ansprüche an ihre Mitglieder stellen. Die katholische Kirche sei »strenger«, die evangelische Kirche hingegen »lockerer«. – Für die Jugendlichen spielte die Frage nach den Konfessionen auch deshalb keine hervorgehobene Rolle, weil sie deutlich zwischen ihrem eigenen Glauben und dem von den Kirchen vertretenen unterscheiden. Zwischen den Kirchen mag es Spannungen geben, aber den Jugendlichen sind sie nicht wichtig. Hier liegen im Übrigen interessante Unterschiede zu den Kindern, die in der ersten Projektphase befragt wurden. Kinder aus konfessionsverbindenden Elternhäusern haben durchaus Schwierigkeiten mit den vor allem zwischen der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen ungelösten Fragen (insbesondere der Teilnahme an der Eucharistie).

Den Befunden zufolge sind entdifferenzierende Auffassungen vor allem im Blick auf die Gottesfrage zu beobachten. Auch die meisten der befragten Jugendlichen waren der Auffassung, Gott sei in allen Religionen 15 Schweitzer/Biesinger, Gemeinsamkeiten (s.o. Anm. 11); Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger / Jörg Conrad / Matthias Gronover, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg 2006.

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»derselbe«. Und von Gott her spiele es keine Rolle, welcher Konfession oder Religion man angehört. Die Unterschiede beziehen sich in der Sicht dieser Jugendlichen lediglich auf »die Äußerlichkeiten«, »wie so die Kirche aussieht, oder so, wie man den Gottesdienst gestaltet«. Anders stellt sich das Bild jedoch dar, wenn die Konfessionen und Religionen nicht nur unter dem Aspekt der Gottesfrage in den Blick kommen: »von katholisch auf islamisch ist ein gewaltiger Unterschied«. Auch die Trennung zwischen den christlichen Kirchen stellt für die befragten Jugendlichen kein relevantes Thema dar. Direkt darauf angesprochen, geben sie rasch zu erkennen, dass es ihnen überwiegend gleichgültig ist, ob die Kirchen sich nun vereinen wollen oder nicht. Wie die Gespräche mit den Jugendlichen erkennen lassen, ist die Welt, in der sie aufwachsen, multikulturell, multireligiös und, in gewisser Hinsicht, von der Globalisierung geprägt. Immer wieder sprechen sie selbst die Unterschiede zwischen den Religionen an und berichten von eigenen Erfahrungen vor allem der Migration, sei es früherer Generationen in der Familie oder eigene Migrationserfahrungen. Solche Erfahrungen führen bei den Jugendlichen aber weder zu einem globalen Bewusstsein noch zu einer Aufmerksamkeit auf weltweite Ökumene. Daher liegt die übergreifende Herausforderung, die aus den hier dargestellten Beobachtungen für alle Bemühungen um Ökumene erwächst, zuallererst darin, die Erfahrungen und Erwartungen der Jugendlichen sorgfältig wahrzunehmen und sie zum Ausgangspunkt für das eigene religionspädagogische Handeln zu machen. 3 Didaktik ökumenischen Lernens: Stand der Diskussion Bislang wurde ökumenisches Lernen in der Regel eher als ein übergreifendes Prinzip oder als eine Frage der Organisationsform von Religionsunterricht diskutiert, beispielsweise im Blick auf den kooperativen Religionsunterricht. Didaktische Fragen standen dabei insgesamt kaum einmal im Vordergrund. Das gilt auch für die religionsdidaktischen Lehrbücher. In zwei frühen monographischen Darstellungen haben allerdings Monika Scheidler16 und Uwe Böhm17 die Frage nach einer Didaktik ökumenischen Lernens oder nach einer ökumenischen Didaktik profiliert. Im Anschluss an Unterrichtsversuche in Jahrgangsstufe 7 beschreibt Scheidler auf knappem Raum »Elemente einer ökumenischen Didaktik«. Sie macht deutlich, dass alle »klassischen« Fragen der Didaktik auch beim ökumenischen Lernen gestellt 16 Monika Scheidler, Didaktik ökumenischen Lernens, Münster 1999. 17 Uwe Böhm, Ökumenische Didaktik. Ökumenisches Lernen und konfessionelle Kooperationen im Religionsunterricht deutschsprachiger Staaten, Göttingen 2001.

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werden müssen – angefangen bei der Bedingungsanalyse über Ziele, Inhalte und Themen bis hin zu Methoden, Medien und Organisationsformen. Vor allem arbeitet sie heraus, dass die Aufgabe der Elementarisierung sich auch beim ökumenischen Lernen stellt. Die Darstellung von Uwe Böhm ist wesentlich umfangreicher. Auch sie ist aus der Praxis konfessioneller Kooperation erwachsen. Von den fünf Hauptteilen des Buches beziehen sich nur zwei auf fachdidaktische Fragen im engeren Sinne. Das »fachdidaktische Profil« wird auf gut 30 Seiten skizziert, anhand von zwölf Perspektiven, jeweils im Anschluss an Klafkis Didaktische Analyse. Beispiele sind die ökumenische Bewegung, der konziliare Prozess oder Fragen der Globalisierung. Alle diese Vorschläge erscheinen durchaus plausibel, ergeben aber auch zusammengenommen kaum mehr als eine Heuristik. Weiterführend sind hingegen die systematischen Vorschläge im letzten Teil des Buches, insbesondere im Blick auf »Konsequenzen für die Lehrplanentwicklung«18. Hier wird in Gestalt eines Strukturgitters ein auf ökumenisches Lernen eingestellter Lehr- bzw. Bildungsplan skizziert, der sich wiederum auf die genannten zwölf Perspektiven bezieht. Insgesamt bietet die Darstellung weniger eine ausgeführte Didaktik als vielmehr zahlreiche Anstöße zum ökumenischen Lernen.19

Ebenfalls Impulscharakter hat das wohl bislang einzige auf ökumenisches Lernen zentrierte Schul- bzw. Arbeitsbuch »Projekt Ökumene. Auf dem Weg zur Einen Welt«.20 Hier werden für ökumenisches Lernen besonders relevante Themen ins Zentrum gestellt – angefangen bei »Mission zwischen Ausbeutung und Solidarität« und einer »Kleinen Geschichte der Ökumene« bis hin zu Themen wie »Afrikanisches Christentum« oder »Ökumene leben bei uns«. In diesem Falle sind es also besonders die ausgewählten Themen, in denen sich die ökumenische Schwerpunktsetzung widerspiegelte.

Auch die Tübinger Forschungsprojekte zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht enthalten den Versuch, zumindest »Kriterien einer konfessionell-kooperativen Didaktik«21 namhaft zu machen. Ausgehend von der These, dass auch Ökumenethemen der Elementarisierung bedürfen, wird eine Verbindung zum Elementarisierungsmodell hergestellt, auch unter Berücksichtigung der Befunde aus der empirischen Untersuchung. Darüber hinaus wird ein thematischer Vorschlag für geeignete Themen in der Grundschule vorgestellt. Weitergeführt werden solche Vorschläge dann in der Untersuchung zur Sekundarstufe I. Ebenfalls relevant sind die in diesen Studien hervorgetretenen Hinweise auf die biografische Verwurzelung ökumenischer Orientierungen und 18 Ebd., 300. 19 Als weitere frühe Veröffentlichungen kann noch der eher praktisch orientierte Band Ursula Heinemann / Joachim Friedrichsdorf (Hg.), Wege miteinander. Konfessionelle Kooperation in der Schule. Modelle und Beispiele, München/Stuttgart 1999 genannt werden. 20 Ulrich Becker u.a. (Hg.), Projekt Ökumene. Auf dem Weg zur Einen Welt. Arbeitsbuch Religion – Sekundarstufe I, Düsseldorf/Stuttgart 1997. 21 Schweitzer/Biesinger, Gemeinsamkeiten (s.o. Anm. 11), 160.

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Interessen bei den Lehrerinnen und Lehrern. Eine dazu durchgeführte Spezialuntersuchung »Glaubwürdig unterrichten«, bei der Interviews mit Unterrichtsbeobachtung gekoppelt wurden, ergab vielfältige Verbindungen zwischen der gelebten, also biographisch bestimmten Religion und der im Unterricht gelehrten Religion.22 Schließlich kann noch auf die von Karl Ernst Nipkow im Rahmen seiner bildungstheoretischen Analyse und Konzeptualisierung von »Religionspädagogik im Pluralismus« formulierten Regeln hingewiesen werden.23 Neuerdings hat Jan Woppowa im Team mit Religionslehrerinnen und -lehrern eine Zusammenstellung möglicher Themen und didaktischer Realisierungsformen für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht vorgelegt, in dem neben allgemeiner religiöser Kompetenz eine spezifische »konfessorische Kompetenz«, d.h. die eigene Positionierungsfähigkeit, stimuliert werden soll.24 4 Entwicklungsperspektiven ökumenischer Didaktik Zur Entwicklung von Perspektiven für eine Didaktik ökumenischen Lernens lassen wir uns von den Grundlagen einer elementarisierenden Religionsdidaktik leiten, die wir besonders auch im Blick auf die Beziehungsorientierung aller Pole der Elementarisierung weiterbuchstabieren.25 Dazu schlagen wir folgende Prinzipien vor, die freilich erst Entwicklungsperspektiven darstellen, noch nicht die geforderte Didaktik ökumenischen Lernens selbst: Konfessionelle und religiöse Vorerfahrungen wahrnehmen und bewusst machen Viele junge Menschen wachsen heute ohne bewusste Berührungspunkte mit konfessionellen oder religiösen Lebensmustern auf. Auch dort, wo sie etwa bei Taufen, Kommunion- und Konfirmationsfeiern, Hochzeiten oder Bestattungen mit konfessionell bestimmten Bezügen in Berührung kommen, werden diese Bezüge offenbar nicht als solche thematisiert. Die Befragungen von Kindern verweisen darauf, dass das Aufwachsen in einer konfessionsverbindenden Familie wohl am häufigsten Gesprächsanlässe einschließt. Wie auch bei anderen Erfahrungsbereichen, die Kin22 Albert Biesinger / Julia Münch / Friedrich Schweitzer, Glaubwürdig unterrichten. Biographie – Glaube – Unterricht, Freiburg u.a. 2008. 23 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt. Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, 302ff. 24 Jan Woppowa (Hg.), Perspektiven wechseln. Lernsequenzen für den konfessionell-kooperativen Unterricht, Paderborn 2015, hier insbes. 12. 25 Reinhold Boschki, Elementare Beziehungen. Der Elementarisierungsansatz in der Perspektive religionspädagogischer Anthropologie, in: Thomas Schlag / Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 467–477.

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der und Jugendliche mitbringen, liegt eine erste Aufgabe hier in einer sorgfältigen und sensiblen Wahrnehmung. Im Blick auf die Kinder und Jugendlichen besteht das Ziel in der Fähigkeit, sich der eigenen Erfahrungen und ihrer Bedingtheit bewusst zu werden und einen reflektierten Umgang damit zu erreichen. Plurale Lebenswelten berücksichtigen: ökumenisches und interreligiöses Lernen miteinander verbinden Die Alltagswelt von Jugendlichen und damit auch die von ihnen subjektiv gedeutete Lebenswelt ist in der pluralen Gesellschaft äußerst heterogen. Insbesondere in Zeiten einer enormen Zuwanderung durch Flüchtlinge, aber auch durch Arbeitssuchende aus EU-Staaten, in denen hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht, sind Heranwachsende von Anfang an mit Vielfalt konfrontiert. Neben den religiösen Verschiedenheiten sind die kulturellen Differenzen im Alltag präsent und sichtbar. Dies ist in allen Schularten, insbesondere auch im beruflichen Schulwesen der Fall. Wie gezeigt, reflektieren Jugendliche konfessionelle Unterschied nicht isoliert, sondern im weiteren Horizont der verschiedenen Religionen. Es geht ihnen um Orientierungsmöglichkeiten im religiösen Raum insgesamt. Dem entspricht ein didaktischer Ansatz, der sich nicht auf das Verhältnis der Kirchen zueinander beschränkt, sondern die Kinder und Jugendlichen dabei unterstützt, die kulturelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt differenziert deuten und begreifen zu lernen. Vorurteile thematisieren – Interesse wecken Für Jugendliche ist Vielfalt »normal« geworden, was einerseits als positive Entwicklung gesehen werden sollte, anderseits auch Probleme mit sich bringt, die im Kontext der Bildungseinrichtungen bearbeitet werden müssen. Während bei der Mehrheit der Jugendlichen eine erfreuliche Offenheit für den fremden Anderen beobachtet wird, gibt es auch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl Jugendlicher, die eher mit Abwehr reagieren.26 Vorurteile gegen andere Kulturen und Religionen sowie gegen deren Angehörige spielen nach wie vor eine wichtige, in mancher Hinsicht offenbar zunehmende Rolle. Hier kann ökumenisches Lernen, wie wir es verstehen, einen entscheidenden Impuls darstellen, Kinder und Jugendliche zu einem tieferen Verständnis der vorhandenen, wenn auch oft unsichtbaren, weil nicht thematisierten Differenzen zu führen. Nicht nur die Differenzen zwischen Religionen, sondern gerade auch Unterschiede innerhalb der Religionen können und müssen aufgegriffen und mit den jungen Menschen thematisiert werden. Wenn ökumenisches Lernen sich alltags- und lebensweltorientiert auf die gelebten Formen

26 Das zeigen etwa die Shell-Jugendstudien; vgl. zuletzt Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a.M. 2015.

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von Religion vor Ort bezieht, kann auch das Interesse an einem solchen Lernen wachsen. Gemeinsamkeiten stärken Spurensuche in konfessioneller und religiöser Hinsicht führt sehr schnell zur Wahrnehmung von Unterschieden. Im Prozess der Deutung des Beobachteten sollte deshalb in didaktischer Hinsicht die Bedeutung der Gemeinsamkeiten immer wieder herausgearbeitet werden. Religiöse Bräuche und Glaubensüberzeugungen können sich auf den ersten Blick zwar erheblich voneinander unterscheiden, doch lassen sich auf einer tieferen Ebene vielfach Gemeinsamkeiten entdecken. Evangelische und katholische Gottesdienste etwa unterscheiden sich sowohl phänomenologisch als auch theologisch voneinander – und doch werden sie zumindest in einem weiteren Sinne zugleich von einem gemeinsamen Verständnis des gemeinsamen Feierns im Glauben getragen. Werden solche Gemeinsamkeiten entdeckt, kann ein Bewusstsein der Verbundenheit gestärkt werden. Unterschieden gerecht werden Für eine ökumenische Didaktik ist entscheidend, dass sie stets im Horizont einer doppelten Hermeneutik orientiert ist, die Gemeinsamkeiten und gleichzeitig Unterschiede in den Blick nimmt. Unterschiede können trennen, sie können aber auch als Bereicherung wahrgenommen werden. Dabei ist das Ziel, eine Urteilskompetenz zu entwickeln und zu fördern, die die Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzt, die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen bereichernden und bedrohlichen Elementen anderer Konfessionen oder Religionen aufzubauen. Vorschläge zur »Didaktik der Perspektivenverschränkung« sind in diesem Zusammenhang weiterführend.27 Probleme bearbeiten – Konflikte produktiv austragen Zur Entwicklung einer interkonfessionellen und interreligiösen Differenzkompetenz gehört wesentlich, dass Problempunkte in der eigenen und in den anderen Konfessionen und Religionen offen benannt werden. Dies gilt insbesondere für die Sekundarstufe I und II. Junge Menschen haben ein Recht darauf, dass Schwierigkeiten, die sie im Blick auf Konfessionen und Religionen wahrnehmen, diskutiert werden. Dies gilt für die Angehörigen von Religionsgemeinschaften ebenso wie für konfessionslose Jugendliche. Dabei dürfen Fragen wie Papsttum, Stellung der Frau, Sexualität, Homosexualität, Fundamentalismus, Religion und Gewalt und vieles mehr thematisiert, problematisiert und daraus resultierende Konflikte produktiv ausgetragen werden. Elementare Wahrheiten sollten in den Lehr-Lernprozessprozess eingebracht und es sollte darüber 27 Vgl. Woppowa, Perspektiven (s.o. Anm. 24).

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gerungen werden.28 Ökumenische Didaktik zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Denk- und Redeverbote gibt, solange die Würde dessen gewahrt bleibt, der eine andere Position vertritt. Nicht Konfliktvermeidung, sondern produktive Konfliktkompetenz ist ein Kennzeichen ökumenischer und pluralitätsfähiger Didaktik. An konkreten Themen arbeiten Schließlich und nicht zuletzt ist Religionsunterricht – wie schulische Bildung insgesamt – stets themenorientiert. Thematische Bereiche, die sich für ökumenisches und konfessionell-kooperatives Lernen besonders eignen, könnten u.a. sein: – Wo die Kirchen zusammenarbeiten: Umwelt, Flüchtlinge, Armutsbekämpfung – Kommunion – Firmung – Konfirmation: Wie verstehen das ›die anderen‹ und welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede gibt es? – Was suchen so viele Jugendliche in Taizé? Ursprünge und heutige Gestalt eines Phänomens – Konfessionen zur Zeit der Großeltern – Welche Konfessionen gibt es in unserer Stadt / in unserem Stadtteil? Konfessionskundliche Recherchen – Was wollte Martin Luther und warum hatte er einen solchen Erfolg? – Heilige Räume in unserer Stadt / in unserem Stadtteil. Sakralraumpädagogische Erkundungen – Warum haben die Protestanten keinen Papst – und warum die Katholiken immer noch? – Was ist ein »Gottes-Dienst« und wie feiern ihn die Konfessionen bzw. Religionen? – Der Ökumenische Rat der Kirchen.

Insgesamt scheint uns ein Wechsel aus Themen, die an Gemeinsamkeiten orientiert sind, und solchen, die Unterschiede und Konflikte aufgreifen, sinnvoll. Dabei könnte sich die ökumenisch-theologische Formel von der »versöhnten Verschiedenheit«29 auch in der Didaktik und in den behandelten Themen widerspiegeln. Dr. Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Friedrich Schweitzer ist Professor für Religionspädagogik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen.

28 Reinhold Boschki, Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (2016), Heft 1 (im Dr.). 29 U.a. Harding Meyer, Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, 3 Bände, Frankfurt 1998, 2000, 2009.

3.3 Tanja Gojny / Konstantin Lindner

Ökumene – ein Thema gemeindepädagogischer Handlungsfelder?

1 »Gemeindepädagogik« und »Katechese« – religionspädagogische Kontextualisierungen Die Spurensuche nach ökumenischen Perspektiven gemeindebezogener Bildungszusammenhänge führt auf Ebene religionspädagogischer Theoriebildung zunächst eine konfessionelle Differenz vor Augen: Während sich im deutschsprachigen Raum auf evangelischer Seite seit den 1970er Jahren der Begriff »Gemeindepädagogik« etabliert hat, wird katholischerseits nach wie vor meist der Terminus »Katechese« verwendet. Beide Begriffe beziehen sich auf religiöse Bildungsprozesse außerhalb des schulischen Religionsunterrichts und die damit verbundene Theoriebildung. Die im Gefolge von Enno Rosenboom und Eva Heßler entfaltete Gemeindepädagogik führte zu einer Professionalisierung und religionspädagogischen Fundierung gemeindlichen Agierens im Sinne einer »Anleitung zum Christsein in der Gemeinde«1. Seit der Würzburger Synode (1971–75) wird katholischerseits die Katechese in der Gemeinde als kirchlich verantwortete Unterstützung für Menschen auf ihrem Glaubensweg gedacht.2 Michael Meyer-Blanck, der evangelischerseits den Katechesebegriff als untauglich erachtet, begründet dies vornehmlich mit der »didaktische[n] Haltung des Katechisierens«3, welche die Subjektivität der Lernenden durch eine vornehmliche Fixierung auf das Auswendiglernen satzhafter Wahrheiten übergeht. Eine solche Haltung liegt allerdings nicht im Fokus der verbreiteten katholischen Lesart von Kate-

1 Karl Foitzik, Gemeindepädagogik, in: Gottfried Bitter / Rudolf Englert / Gabriele Miller / Karl Ernst Nipkow (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 323–327, hier 324. 2 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Katechese in veränderter Zeit (Die Deutschen Bischöfe 75), Bonn 2004, 9. 3 Michael Meyer-Blanck, Die Untauglichkeit des Katechesebegriffs und die Chancen des Katechismus aus evangelisch-theologischer Sicht, in: Stefan Altmeyer / Gottfried Bitter / Reinhold Boschki (Hg.), Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne«, Stuttgart 2016, 143–151, hier 145. Vgl. dazu auch Patrik C. Höring, Von der Katechetik zur Glaubenspädagogik? Katholische Perspektiven auf dem Hintergrund evangelischer Religions- und Gemeindepädagogik, in: ebd., 153–160.

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chese.4 Auch hier ist das Anliegen leitend, zuvorderst den einzelnen Menschen als Subjekt in seinen religionsbezogenen Bildungsbedürfnissen ernst zu nehmen. Letztlich bezeichnen beide Termini »religiöse Bildungsprozesse innerhalb einer Gemeinschaft, die sich auf begrenzte Zeit oder dauerhaft als christliche Glaubensgemeinschaft konstituiert, bzw. Bildungsprozesse, die erst auf eine solche Gemeinschaft abzielen, indem sie der Kommunikation des Evangeliums Jesu Christi in der Vielfalt seiner geistgewirkten Formen Raum geben und Gestalt verleihen«5. Angesichts sich wandelnder Lebenswelten erscheint es angemessen, gemeindebezogene religiöse Lern- und Bildungsprozesse als Angebote zu verstehen, »Menschen heute in einen vom Evangelium Jesu Christi inspirierten Lebensstil einzuladen«6, um ihnen christliche Glaubenspraxis inhalts-, praxis- wie auch reflexionsbezogen zugänglich zu machen. Anders als die Katechese beschränkt die Gemeindepädagogik ihren Anspruch nicht auf die Ortsgemeinde als parochial rechtlichen und örtlichen Referenzpunkt und verfolgt überdies kultur- und sozialpädagogische Intentionen – ein Grund, warum auch einige katholische Theologinnen und Theologen diesen Begriff favorisieren.7 2 Ökumenische Bildung in gemeindebezogenen Handlungsfeldern – handlungsleitende Dimensionen Ökumene spielt in der gegenwärtigen Gemeindepädagogik/-katechese als Thema und Horizont von Bildung eine eher untergeordnete Rolle.8 4 Vgl. u.a. die verschiedenen Beiträge in Angela Kaupp / Stephan Leimgruber / Monika Scheidler (Hg.), Handbuch der Katechese für Studium und Praxis, Freiburg 2011. Vgl. auch Monika Jakobs, Neue Wege der Katechese, München 2010; Monika Scheidler, Art. Katechese/Katechetik, WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet 1 (2015). 5 Peter Bubmann, Gemeindepädagogik als Anstiftung zur Lebenskunst, Pastoraltheologie 93 (2004), 99–114, hier 108. Zur von Ernst Lange in die Diskussion eingebrachten, gemeindebezogenen Idee der »Kommunikation des Evangeliums« vgl. Norbert Mette, ›Kommunikation des Evangeliums‹ und ›Katechese‹. Ein Widerspruch?, in: Altmeyer/Bitter/Boschki (Hg.), Katechese (s.o. Anm. 3), 115–124. 6 Stefan Altmeyer / Gottfried Bitter / Reinhold Boschki, Zur Einführung, in: Altmeyer/Bitter/Boschki (Hg.), Katechese (s.o. Anm. 3), 9–16, hier 9. 7 Vgl. Martina Blasberg-Kuhnke / Peter Bubmann, Art. Gemeinde/Gemeindepädagogik, WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet 2 (2016), 2.1. 8 Diese Diagnose bestätigen unter anderem Reinhold Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, Darmstadt 2008, 104f. oder Dirk Oesselmann / Gert Rüpell / Peter Schreiner, Impulse zur konzeptionellen Weiterentwicklung ökumenischen Lernens, Münster 2008, 7f., aber auch einschlägige Sammelwerke, in denen ökumenisches Lernen kaum zur Geltung kommt, wie z.B. Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008, oder Kaupp/Leimgruber/Scheidler, Handbuch (s.o. Anm. 4).

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Dies ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil die Ökumene gerade in den 1980/90er Jahren ein zentrales Anliegen gemeindlicher Bildung darstellte. Hier ist insbesondere das Konzept des ›ökumenischen Lernens‹ zu nennen, das sich zunächst vor allem mit Hans Herrmann Walz, Ernst Lange, Richard Schlüter und Klaus Goßmann verbindet und 1985 zum Thema einer EKD-Arbeitshilfe wurde. Dort heißt es unter Bezugnahme auf die drei Jahre zuvor publizierten »Empfehlungen zur Gemeindepädagogik«, dass ökumenisches Lernen »eine Dimension allen pädagogischen Handelns in der Kirche ist«9. Die ökumenische Ausrichtung traf vor allem in der Erwachsenenbildung, in der viele neue Formate erprobt wurden, und der Akademiearbeit auf Resonanz.10 Im Anschluss an den konfessionsübergreifend verantworteten konziliaren Prozess auf der Suche nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung wird betont, dass ökumenische Lern- und Bildungsbemühungen zu kurz greifen, wenn sie sich auf ein gegenseitiges Kennenlernen zweier Konfessionen beschränken. Vielmehr geht es im besten Sinne des Wortes »oikos« um ein gemeinschaftliches und beziehungsorientiertes Lernen, das es ermöglicht, den »Haushalt« der Welt für alle Menschen verantwortlich und zukunftsfähig zu gestalten.11 Damit gilt das ökumenische Lernen als wichtiger Wegbereiter für interreligiöses, interkulturelles und globales Lernen sowie den Nachhaltigkeitsdiskurs, wobei es selbst als Konzept unaufgebbar bleibt, weil es insbesondere die Verantwortung des Einzelnen akzentuiert.12 Der umfassende Horizont weltweiter Ökumene kann nicht folgenlos bleiben für die ökumenischen Bemühungen vor Ort: Er erfordert nicht nur die Begegnung von Menschen verschiedener Konfessionen, so dass eine im Evangelium wurzelnde, je 9 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Ökumenisches Lernen. Grundlagen und Impulse, Gütersloh 1985, 13. Das Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-Katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen, Ökumenisches Lernen – Ökumenische Überlegungen und Vorschläge, Ökumenische Rundschau 42 (1993), 487–495, verweist darauf, dass ein gemeinschaftliches Lernen grundlegender Modus ökumenischen Lernens sein müsse. 10 Vgl. Gottfried Orth, »Auf dem Weg zu ökumenischem Lernen« – Wie weit sind wir gekommen?, in: Klaus Goßmann / Annebelle Pithan / Peter Schreiner (Hg.), Zukunftsfähiges Lernen? Herausforderungen für Ökumenisches Lernen in Schule und Unterricht, Münster 1995, 7–27, hier 8–14. 11 Vgl. u.a. Barbara Asbrand / Annette Scheunpflug, Zum Verhältnis zwischen interreligiösem, interkulturellem, ökumenischem und globalem Lernen, in: Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 268–281, hier 276–278; Klaus Goßmann, Ökumenische Erziehung, in: Werner Bröker / Hans Günter Heimbrock / Engelbert Kerkhoff (Hg.), Handbuch religiöser Erziehung. Bd. 1, Düsseldorf 1987, 267–269; Ralf Koerrenz, Ökumenisches Lernen, Gütersloh 1994; Oesselmann/Rüpell/Schreiner, Impulse (s.o. Anm. 8); Monika Scheidler, Didaktik ökumenischen Lernens – am Beispiel des Religionsunterrichts in der Sekundarstufe, Münster 1999; Henrik Simojoki, Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012, hier 309–346. 12 Vgl. Asbrand/Scheunpflug, Verhältnis (s.o. Anm. 11), 276–278.

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spezifische christliche Lebensgestaltung im gemeinschaftlichen Reflektieren, Kommunizieren und Handeln zur Anschauung kommen kann, sondern verlangt auch, Gemeinde über das eigene Milieu hinaus »geistig und strukturell zu öffnen«13. Um ökumenisches Lernen in gemeindlichen Zusammenhängen theoriegeleitet zu fundieren, sind vor allem vier Aspekte berücksichtigenswert, die sich aus gegenwärtigen religionspädagogischen Diskursen ableiten lassen:14 (1) Gemeindliches Handeln ist grundsätzlich intersubjektiv anzulegen. Auf Ökumene hin bezogen bedeutet die Begegnung mit Anderen ein Überschreiten bekannter Referenzräume – sowohl über konfessionelle als auch räumliche Grenzen hinweg. Diese alteritätstheoretische15 Grundausrichtung, der es nicht um Nivellierung von Unterschieden, sondern um die Anerkennung von Andersheit geht, sensibilisiert für verschiedene Möglichkeiten, Leben im Horizont Gottes zu gestalten. (2) Der ökumenische Austausch lebt von der inhaltsbezogenen, argumentativen Auseinandersetzung bezüglich konfessionsspezifischer Lebens- und Weltdeutungsweisen, aber auch von einer kommunikativen Vergegenwärtigung religiöser Erfahrungen. Die Erweiterung der Grundidee ökumenischer Verständigung »Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden« um den Zusatz »Besonderes bergen« verweist in dieser Hinsicht darauf, dass sich ökumenisches Lernen nicht im Definieren von konfessionsbezogenen Vereinendem und Unterscheidendem erschöpft, sondern grundsätzlich für das Spezifische einer christlichen Wirklichkeitsauslegung sensibilisieren sollte.16 (3) Ökumenisches Lernens ist stets kontextbezogen. In Abhängigkeit von den gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnissen der beteiligten Subjekte gilt es, entsprechende Bildungsprozesse zu initiieren. Diese setzen bei der christlichen Wahrnehmung eines bestimmten Weltausschnitts an und zielen auf die Befähigung, diesen produktiv zu gestalten. (4) Gemeindlich verortetes ökumenisches Lernen hat seinen Dreh- und Angelpunkt in der gelebten Glaubenspraxis, die sich nicht nur im symbolhaltigen, rituellen und gottesdienstlichen, sondern auch im diakonischen Handeln 13 Oesselmann/Rüppell/Schreiner, Impulse (s.o. Anm. 8), 16. 14 Verschiedene Anhaltspunkte dafür bieten unter anderem Mette, Kommunikation (s.o. Anm. 5), 121–124; Oesselmann/Rüpell/Schreiner, Impulse (s.o. Anm. 11), 12f.; Bernd Schröder, Religionspädagogische Aufgaben angesichts des Wandels institutionellen Christentums, in: JRP 30, Neukirchen-Vluyn 2014, 110–121, hier 115–118. 15 Vgl. dazu Bernhard Grümme, Vom Anderen eröffnete Erfahrung. Zur Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik, Freiburg i. Br. / Gütersloh 2007. 16 Vgl. Klaus Goßmann, Das Gemeinsame stärken, das Differente klären. Ökumenisches Lernen zwischen den Konfessionen, Münster 1995; Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger u.a., Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in der Schule, Freiburg/Gütersloh 2002; Henrik Simojoki, Ökumenische Differenzkompetenz. Plädoyer für eine didaktische Kultur konfessioneller Kooperation im Religionsunterricht, ZPT 67 (2015), 68–78, hier 72–74.

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realisiert. Mit dem Terminus »Konvivenz« lässt sich darauf verweisen, dass »gegenseitige Hilfe, wechselseitiges Lernen und gemeinsames Feiern«17 grundlegend für gelebte Ökumene sind. 3 Ökumene gestalten – Zugänge In gemeindekatechetischer/-pädagogischer Literatur, die Ökumene zum Thema macht, finden sich Vorschläge für deren Verankerung in einzelnen Handlungsfeldern: etwa im Kindergottesdienst auf die Vielfalt christlichen Lebens vor Ort und weltweit hinzuweisen, im Kontext von Spendensammlungen auf globale Wirtschaftszusammenhänge einzugehen18 oder im Rahmen der Jugendarbeit ökumenische Begegnungen zu ermöglichen.19 Es wird empfohlen, an bestehende Formate ökumenischer Zusammenarbeit anzuknüpfen (z.B. Weltgebetstag der Frauen, Friedenswoche, Gemeinde-Partnerschaft, ökumenischer Kreuzweg der Jugend, Taizé, Jugendkirchen) und diese gegebenenfalls durch Bildungsveranstaltungen zu vertiefen.20 Im Folgenden werden exemplarisch drei Zugänge ›ökumenischer Bildung‹ beleuchtet, die für verschiedene gemeindepädagogische bzw. katechetische Handlungsfelder Impulse bieten wollen. 3.1 Liturgien erleben Wer sich auf das Experiment ›fremder‹ Liturgien einlässt, kann die Vielfalt christlicher Frömmigkeitsstile und ihrer ästhetischen Ausdrucksfor17 Oesselmann/Rüpell/Schreiner, Impulse (s.o. Anm. 11), 13. Vgl. dazu grundlegend Theo Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, in: Wolfgang Huber / Dietrich Ritschl / Ders., Ökumenische Existenz heute, München 1986, 49–100. 18 Vgl. z.B. Veronika Beier, Der Kindergottesdienst, in: Friedrich Hasselhoff / Hanfried Krüger (Hg.), Ökumene in Schule und Gemeinde. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1971, 463–466. 19 Vgl. u.a. Silke Kallweit, Die Zusammenarbeit zwischen evangelischer und katholischer Ortsgemeinde: Ein Beispiel vom katholischen Niederrhein, in: Jutta Koslowski (Hg.), Ökumene – wozu? Antworten auf eine Frage, die noch keiner gestellt hat, Moers 2010, 130–135; Gabriele Storz, Die Zusammenarbeit zwischen katholischer und evangelischer Ortsgemeinde: Ein Beispiel aus dem evangelischen Württemberg, in: Koslowski, Ökumene, 117–129. 20 Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Köln (Hg.), Ökumene braucht Bildung. Anregungen für Gemeinden und Gruppen, o.O., o.J., abrufbar unter http:// www.erzbistum-koeln.de/export/download/gv211_0/oekumene-text.pdf (abgerufen am 11.5.2016). Vgl. Ulrich Schwab, Ökumenisch ausgerichtete gemeindepädagogische Bildungsarbeit – eine Vision?, abrufbar unter http://www.ak-gemeindepaedago gik.de/files/downloads/symposium-2013/schwab_bildungsarbeit.pdf (abgerufen am 11.5.2016).

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men kennenlernen, die keineswegs nur durch konfessionelle und kulturelle Unterschiede bedingt ist. Er oder sie hat die Möglichkeit, die (emotionale) Wirkung verschiedener Liturgien auf sich und andere genauer wahrzunehmen und nach ihren Ursachen zu fragen. Außerdem können die jeweiligen (auch konfessionellen) Besonderheiten des liturgischen Ablaufs helfen, unterschiedliche Aspekte christlicher Liturgie besser zu verstehen. Insofern verwundert es nicht, dass vor allem in den 1970er Jahren der wechselseitige Besuch von Liturgien im Zusammenhang von Gottesdienstseminaren als eine Möglichkeit gelebter Ökumene angesehen und praktiziert wurde.21 Deren Potenzial könnte gegenwärtig auf gemeindlicher Ebene (wieder) genutzt werden, zumal wenn explizit auch Gottesdienst-Unerfahrene eingeladen werden, die vornehmlich ›beobachten‹ möchten. Auch ›kleinere‹ Formate sind denkbar, wie ein gegenseitiger Gottesdienst-Besuch im Kontext der Erstkommunionvorbereitung, der Konfirmandenarbeit oder der Firmkatechese. Gegenwärtig berücksichtigen auf diese Handlungsfelder bezogene Vorbereitungskonzepte die damit verbundenen Chancen ökumenischer Bildung kaum. Unter anderem eröffnen gegenseitige Besuche einen Blick auf die auch konfessionsbedingte Vielfalt christlich-ritueller Praxis, die bisweilen befremden wird, aber zugleich Alternativen für religiösen Ausdruck anbieten kann. Ökumenisch verantwortete Gottesdienste wiederum erschließen, wann, wo und wie ökumenisch gefeiert werden kann und worin sich das ›Ökumenische‹ zeigt. Vor- und Nachbesprechungen der Besuche mit den jeweiligen Liturgie-Verantwortlichen regen nicht zuletzt zum inhaltlich-ökumenischen Austausch an. Unabhängig vom Format ist es wesentlich, dass das Erlebte zum Ausdruck gebracht und reflektiert werden kann – etwa in offenen oder Leitfragen-Gesprächen oder durch die Auswertung von gemeinsam erarbeiteten Beobachtungsbögen. Auch sogenannte ›kreative‹ Reflexions-Methoden sind denkbar, wie z.B. das Gestalten einer Postkarte, in der Eindrücke des Liturgie-Besuchs zum Ausdruck kommen, das Führen eines (fiktiven) Interviews mit dem Prediger / der Predigerin oder dem Predigttext, das Sammeln wichtiger Zitate und Gedanken des Gottesdienstes auf Plakaten, die wiederum zu Schreibanlässen werden können. Besonders geeignet für das Erleben unterschiedlicher Liturgien sind Deutsche Kirchen- bzw. Katholikentage. Der besondere Charme dieser Lernorte rührt nicht zuletzt von ihrem Charakter des »Spielerisch-Unbestimmte[n] und Bunt-Schillernde[n]«22. Insbesondere Gottesdienste im Freien oder in Messehallen ermöglichen mit ihren ›offenen Rändern‹, 21 Vgl. Rudolf Asselmeyer, Gemeindekreise, in: Hasselhoff/Krüger, Ökumene (s.o. Anm. 18), 480–503, 499. Es liegt auf der Hand, dass entsprechende Bildungsangebote auch auf die religiöse wie weltanschauliche Pluralität ausgeweitet werden können, indem man bei Gottesdiensten bzw. Gebeten anderer Religionen zu Gast ist oder eine dezidiert nicht-religiöse ›Sunday-Assembly‹ besucht. 22 Peter Bubmann, Der Kirchentag als Bildungsangebot, in: Adam/Lachmann, Kompendium (s.o. Anm. 8), 413–424, hier 419.

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niedrigschwelliger als in ortsgemeindlichen Kontexten ›fremde‹ Liturgien einmal ›auszuprobieren‹ und den Grad an Nähe zum liturgischen Geschehen in hohem Maße selbst zu bestimmen. Besuchen (ökumenische) Gruppen Kirchen- bzw. Katholikentage, empfiehlt sich neben der gemeinsame Teilnahme an ausgewählten Veranstaltungen, der Besuch ›besonderer‹ Gottesdienste (z.B. Kino-, Hip-Hop-, Tanz-, GehörlosenGottesdienst, politisches Nachtgebet) durch Teilgruppen. Über liturgische Erfahrungszusammenhänge hinausgehend stellen nicht nur die ökumenischen (Berlin 2003; München 2010), sondern auch die ›normalen‹ Katholiken- und Kirchentage Orte ökumenischer Bildung dar: Sie bieten Gelegenheiten »des ökumenischen und interreligiösen Gesprächs sowie des Gesprächs mit Glaubensfernen«23 und spielen eine wichtige Rolle für »den ökumenischen konziliaren Prozess«24. Vielfältige Veranstaltungsformate informieren über das Engagement christlicher Gruppierungen für die weltweite Ökumene und machen verschiedenste – auch kulturell und konfessionell geprägte – Gestaltungsformen christlichen Lebens und Feierns zugänglich, woraus wiederum ökumenische Impulse für Ortsgemeinden erwachsen können.25 Das Ökumene-Erleben kann – etwa bei Jugendgruppen – durch Aufgaben unterstützt werden, die auf eine Begegnung mit unterschiedlichen Kirchentags-Besuchern zielen (z.B. Selfie-Aufnahme mit möglichst vielen internationalen Gästen, Vorstellen einzelner Friedens- bzw. Umwelt-Projekte und Initiativen). 3.2 Aktive Medienarbeit Ökumenische Bildung ist nicht unabhängig von den Lebenskontexten der Subjekte zu denken: Christlich gelebter Glaube hat sich in zum Teil markant sichtbarer Weise in deren Nahraum eingeschrieben. Die Entschlüsselung derartiger Glaubenszeugnisse, aber auch die Gestaltung eigener Signaturen eröffnet weitere Möglichkeiten sowohl zur Erkundung konfessioneller Vielfalt als auch zum ökumenischen Lernen vor Ort. Projekte aktiver Medienarbeit26 bieten entsprechende Zugänge an – gestaltet als Gelegenheitspädagogik oder eingebunden in kontinuierliche Gruppenpädagogik im Rahmen kirchlicher Kinder- bzw. Jugend- sowie Konfirmanden- und Firmarbeit. Sie zeichnet aus, dass »Gegenstandsbe23 Rolf Schumacher / Harald Schroeter-Wittke, Katholikentag und Kirchentag, in: Michael Meyer-Blanck / Walter Fürst (Hg.), Typisch katholisch. Typisch evangelisch. Ein Leitfaden für die Ökumene im Alltag, 3., überarb. und erw. Aufl., Rheinbach 2006, 155–164, hier 158. 24 Ebd., 162. 25 Vgl. Bubmann, Kirchentag (s.o. Anm. 22), 423. 26 Vgl. hierzu allgemein Daniel Meier, Die eigenen religiösen Gedanken und Gefühle ausdrücken. Perspektiven aktiver Medienarbeit für die Kirchengemeinde, in: nachrichten 7/2011, 215–218.

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reiche sozialer Realität mit Hilfe von Medien wie Druck, Foto, Ton, Film, Video oder Computermedien« be- bzw. erarbeitet und dass »die Medien […] von ihren Nutzern ›in Dienst genommen‹, d.h. selbsttätig gehandhabt und als Mittel der Kommunikation gebraucht« werden.27 Die angestrebten Medienprodukte, die auch ›öffentlich‹ präsentiert werden (z.B. im Rahmen einer Ausstellung, mittels Gemeindebrief oder -homepage), besitzen gerade für Jugendliche eine stark motivierende Wirkung, da deren ›Werksinn‹ angesprochen wird. Das die Projektarbeit kennzeichnende ganzheitliche, selbstbestimmte und soziale Lernen sowie der Anspruch einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen und Herausforderungen,28 entsprechen einem ökumenischen Lernen, das kontextbezogen und auf eine Befähigung zu reflektierter Weltdeutung hin ausgerichtet ist. Formen aktiver Fotoarbeit sind genauso denkbar wie aktive Zeitungs-, Radio- (bzw. Podcast-) und Videoarbeit. Verantwortliche finden im Hinblick auf technische Ausstattung und Medienkompetenz Unterstützung bei kirchlichen und kommunalen Medienstellen oder im Rahmen von Programmen professioneller Medien. Konkret vorstellbar sind vor allem Projekte, die vom sozialen Nahraum ausgehen wie z.B. die Gestaltung eines Stadtplans »Konfessionelle bzw. religiöse Vielfalt vor Ort« mit kommentierten Fotos von Kirchen, Klöstern, Glaubenszeugnissen an Häusern oder am Straßenrand, kirchlichen Einrichtungen und anderen Orten christlichen Lebens sowie Objekten anderer Religionen und Denominationen. Diese Spurensuche, die auch über Interviews mit entsprechend auskunftsfähigen Personen angegangen werden kann, eröffnet Einblicke in die ›konfessionelle‹, ›ökumenische‹ oder ›religiöse‹ Geschichte des jeweiligen Ortes und seiner Einwohner und verdeutlicht die Prägekraft von Religion, aber auch die Chancen und Grenzen ökumenischer Bemühungen. Ebenso denkbar sind Medienprojekte, die Herausforderungen im Nahraum unter der Perspektive von ›Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‹ thematisieren und der Frage nachgehen, welchen Beitrag hier ökumenische Initiativen leisten können. 3.3 Glaubensgestaltung biografisch erhellen Es gibt keine verbindliche Norm, wie evangelisch, katholisch oder orthodox gelebtes Christsein auszusehen hat. Zwar finden sich ursprünglich konfessionsspezifisch tradierte Formen, Glauben zu leben, wie z.B. Bibelkreise oder Wallfahrten. Im Zuge der voranschreitenden Pluralisie27 Manfred Schell, Aktive Medienarbeit, in: Jürgen Hüther / Bernd Schorb / Christiane Brehm-Klotz (Hg.), Grundbegriffe Medienpädagogik, München 1997, 9–18, hier 9. 28 Herbert Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen. Schüleraktivierung – Selbsttätigkeit – Projektarbeit, 8. aktual. Aufl., Bad Heilbrunn 2014, 79–89.

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Tanja Gojny / Konstantin Lindner

rung jedoch müssen sich Traditionen legitimieren; sie werden nicht unhinterfragt, sondern vornehmlich in Abhängigkeit von individuellen Bedürfnissen übernommen. Hinzu kommt, dass konfessionsverbindende oder interreligiöse familiäre Konstellationen konfessionelle Uneindeutigkeiten zu einem selbstverständlichen Modus gelebter Glaubensgestaltung werden lassen. Angesichts dieser Ausgangslage markiert die so genannte Biografisierung eine Herausforderung, der sich jede und jeder Gläubige immer wieder neu zu stellen hat: Welche Rolle spielt gelebter Glaube für die eigene Lebensgestaltung? Sowohl in der Konfi- oder Ministrantengruppe als auch in der Erwachsenen- und Seniorenpädagogik kann genau diese Frage im Rahmen ökumenischer Lernprozesse zur Geltung gebracht werden – als Lernen an der eigenen Biografie und an ›fremden‹ Biografien. Das dabei initiierte, so genannte biografische Lernen sensibilisiert für vielfältige Möglichkeiten, Glauben zu gestalten.29 Der ökumenische Austausch regt insbesondere zu religiöser Selbstvergewisserung an, die eine Positionierung zu unterschiedlichen Weisen religiöser Selbst- und Weltdeutung einfordert.30 Z.B. durch das Erzählen zu Fotos, die Ausschnitte der eigenen religiösen Biografie dokumentieren, durch das Gestalten von Titel und Inhaltsverzeichnis der fiktiven Autobiografie, durch Schreibgespräche zum Impuls »Before I die I want to …«31 auf Tafeln im öffentlichen Raum oder durch ein an »Perlen des Glaubens«32 entlang geleitetes Nachdenken über besondere Glaubensmomente kann klar werden, wo sich Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Besonderheiten zeigen, die sicher nicht nur auf Konfessionsspezifika zurückgeführt werden können. 4 Ausblick ›Ökumene‹ ist eine unaufgebbare Dimension gemeindlichen Handelns, die es lohnt, wieder stärker in den Fokus religionspädagogischer Forschung zu nehmen. Dabei wäre auch danach zu fragen, welche Perspek29 Vgl. Angela Kaupp, Biografieorientierung in religiösen Lehr- und Aneignungsprozessen unter besonderer Berücksichtigung des Glaubenslernens Erwachsener, RpB 74 (2016), 35–44; Konstantin Lindner, »Aufgabe Biografie« – eine religionsdidaktische Herausforderung?! Anmerkungen zum biografischen Lernen, Loccumer Pelikan (2011), 62–67; Hans Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015. 30 Vgl. Konstantin Lindner, Kirchengeschichte im Religionsunterricht ›er-innern‹ als Beitrag zu religiöser Selbstvergewisserung, in: Ders. u.a. (Hg.), Erinnern und Erzählen. Theologische, geistes-, human- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Münster 2013, 417–430, hier 417–419. 31 Vgl. das gleichnamige Kunstprojekt von Candy Chang: http://candychang.com/ work/before-i-die-in-nola/ (abgerufen am 11.5.2016). 32 Vgl. Patrick C. Höring, Firmung. Sakrament zwischen Zuspruch und Anspruch. Eine sakramententheologische Untersuchung in praktisch-theologischer Absicht, Kevelaer 2011, 129.

Ökumene – ein Thema gemeindepädagogischer Handlungsfelder?

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tiven sich hieraus für die Auseinandersetzung mit der »alte[n] Streitfrage, ob Gemeinde als Ziel, Ort oder Medien der Bildung […] zu verstehen sei«33, ergeben. Dr. Tanja Gojny ist Habilitationsstipendiatin an der Professur für Praktische Theologie des Fachbereichs Evangelische Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Studienrätin für Evangelische Religionslehre und Deutsch an Gymnasien. Dr. Konstantin Lindner ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

33 Peter Bubmann, Spannungsfelder und Herausforderungen der Gemeindepädagogik. Eine Zwischenbilanz, Praktische Theologie 48 (2013), H. 1, 43–50, 47.

3.4 Peter Bubmann

Was können Evangelische von Katholiken lernen? Und umgekehrt: was Katholiken von Evangelischen? Was können Evangelische von Katholiken lernen?

Die Leitfrage ist zu unterscheiden von ähnlichen Fragen: Was können Evangelische über Katholiken lernen? Da gäbe es natürlich viel Religionskundliches zu erwähnen: Marienkult und Eucharistiefrömmigkeit, Lourdes und der Vatikan, Ordensleben und Priesterstand. Die besondere hierarchische Struktur der Amtskirche gehört dazu, die Vorstellung von der Amtssukzession im persönlichen Gehorsam dem Bischof gegenüber, aber auch das Wissen darum, dass in Deutschland der römische Katholizismus eine genauso plurale und hochdifferenzierte Volkskirche darstellt wie der Protestantismus auch. Um mithalten zu können im Diskurs der Gebildeten, sollte man in der Tat schon einige Fakten über die größte Religionsgemeinschaft der Welt kennen. Aber das könnte zur Not auch das Fach Geschichte oder ein Blick in Wikipedia leisten – oder, was Aktuelles betrifft, die Beilage der ZEIT »Christ und Welt«. Das so erworbene Wissen darf dann ruhig differenzierter ausfallen, als es manche Schulbücher und Bücher zur Konfirmandenarbeit nahelegen. Das Bildungsspiel »Alles, was man wissen muss« (Dietrich Schwanitz) soll an dieser Stelle allerdings nicht weiter gespielt werden. Schon heikler ist die andere Frage: Was sollten Evangelische von der RömischKatholischen Kirche (denn: »katholisch« sind wir schon auch, nur eben durch die Reformation hindurch gegangen) besser nicht lernen? Auch dazu fiele sofort Vieles ein, und nicht alles davon ist lediglich dem Klischee geschuldet: unerträglicher Patriarchalismus, der die Frauen von der Kirchenleitung ausschließt (der eigentliche »defectus ordinis«, der eben nicht bei uns Evangelischen zu suchen ist), lehramtliche Homophobie, dadurch bedingte Doppelmoral im Amte, moralischer Rigorismus gegenüber Geschiedenen sowie in der Abtreibungsfrage und ein völlig aus der Zeit (und der akademischen Diskurshöhe) gefallenes ungeschichtliches Verständnis von »Naturrecht« in der kirchenamtlichen Lehramtsmoral und leider auch bei manchen akademischen Kolleg*innen hierzulande. In all diesen moraltheologischen, ekklesiologischen wie amtstheologischen Fragen empfiehlt der selbstbewusste Protestant den römischen Kolleg*innen entsprechend andersherum das Lernen von der evangelischen Konfession bzw. Theologie – was viele Kolleg*innen auch längst so praktizieren, nur im entscheidenden Moment gegenüber ihrem Lehramt dann meist doch kneifen, weshalb zu häufig am Ende die Kirchenschere im Kopf siegt. Fragen wir also im Folgenden besser nur: Was sollten Evangelische von Katholiken lernen (das ist eine Teilmenge der »können

Was können Evangelische von Katholiken lernen?

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lernen«-Frage) – weil sie dadurch für ihren eigenen Glauben nur gewinnen würden und zudem die Ökumene befördert würde? Es dürfte sich lohnen, sich auf diese Frage zu konzentrieren und sie zugleich auch nicht allein auf den Lernort RU einzuschränken. Dabei will ich – was ich übrigens nicht für unwissenschaftlich, vielmehr für hermeneutisch geradezu unumgänglich halte – auch von eigenen Erfahrungen ausgehen. Die Schönheit der Liturgie Schon als Student habe ich in Heidelberg statt im uniert-reformierten Gottesdienst der Badischen Landeskirche zusammen mit etlichen anderen Theologiestudierenden aus Bayern lieber den Gottesdienst in der röm.-kath. Jesuitenkirche besucht. Weniger der befreiungstheologisch geprägten Predigt des damaligen Stadtpfarrers wegen, wenngleich auch dies anregend war, sondern wegen der ästhetisch ansprechenden sinnlichen Liturgie, die insbesondere der Kirchenmusiker an der Orgel mit Schola und Chor prägte. Hier war der Gottesdienst wirklich ein Gesamtkunstwerk, da stimmten die zeitlichen Proportionen, Musik und Sprache spielten zusammen, die Dramaturgie war im Lot. Später habe ich selbst jahrelang an der Orgel und als Chorleiter die Liturgie mehrerer röm.kath. Gemeinden an Rhein und Nahe mitgestaltet – unter den kritischem Blick und Ohr eines Kollegen aus der röm.-kath. Liturgiewissenschaft, der als Gemeindeglied (und nicht geweihter »Laie«) im Kirchenschiff saß, während der ordinierte evangelische Pfarrer den Kantorendienst versah. Gelernt habe ich da – und empfehle diese Lernerfahrungen allen Protestanten, vor allem aber den unierten und reformierten –, wie die symbolischen und rituellen Mittel der Messliturgie von den Gewändern über das Licht bis zu den Prozessionen sich zu einem schlüssigen Ganzen fügen können und wie das Wort der Heiligen Schrift wirklichen Wert erhält (durch Evangeliar-Prozession und liturgische Rufe), wenn es in mehreren Lesungen und im Psalmgesang dazwischen aktuell lebendig wird. Ich zehre spirituell immer noch von wunderbaren festlichen Osternächten (mit vielen Lesungen) und stimmigen Karfreitagsliturgien (ohne Orgel und ohne Glocken) und kann es fast gar nicht glauben, dass es tatsächlich unter meinen Studierenden etliche gibt, die noch nie das röm.kath. »Original« solcher Liturgien besucht haben und stattdessen einfallslose Aneinanderreihungen von Praise-Songs für den Inbegriff von Gottesdienst halten.1 Dass die persönliche Frömmigkeit ihre Wurzel in der Sonntagsliturgie, im Wechselspiel von Ordinariumsgesängen (Kyrie, 1 Vielleicht muss doch hinzugefügt werden, dass der Autor in manchen Kreisen nicht ganz grundlos als einer der Lobbyisten der Popkultur in der Kirche gilt, weshalb die obigen Ausführungen nicht einfach nur als Ausdruck eines hochkulturellen Dünkels interpretiert werden sollten. In Wahrheit haben (röm.-)katholische Liturgie und gute Popkultur viel gemeinsam, nämlich die Sinnlichkeit und Ganzheitlichkeit.

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Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei) und Propriumsteilen (Introituspsalmen, Lesungstexte, Predigtexte etc.) haben kann, das ließe sich besonders von den Katholiken (jeder Konfession) lernen. Deshalb gehört die Messform der Liturgie auch in jeden evangelischen RU hinein. Auch was die Tradition der Stundengebete betrifft, können wir viel vor allem von benediktinischer Frömmigkeit lernen. Der Psalter als das den Tag wie die Woche strukturierende Buch gemeinsamer wie persönlicher Spiritualität wird so wirklich als Gesangbuch des Lebens ernst genommen – wie armselig wirkt demgegenüber auf mich die protestantische Tradition des so zufälligen und kontextlosen Losungsspruchs! Das neue GotteslobGesangbuch der deutschen Bistümer ist durch die Integration des Psalters und durch viele Angebote zum persönlichen Gebet auch für Protestanten eine Fundgrube der Spiritualität! Kirchenmusikalisch lässt sich ohnehin viel auch von den röm.-kath. Geschwistern lernen:2 Während wir die Liedformen in jeglicher Stilistik zur Blüte gebracht haben, sind die Katholik*innen Meister der kurzen Liedrufe und pflegen die Ordinariumsgesänge sowie die gemeindliche Psalmodie. Dass Kantor*innen von vorne vom Ambo aus und nicht aus dem Orgel-Off singen sollten, kann die röm.-kath. Liturgie ebenfalls lehren. Weltweite Kirche Zum anderen lässt sich von der röm.-kath. Kirche der Bezug auf die weltweite Kirche lernen. Während wir provinzielle Landeskirchler kaum den Blick auf die EKD schaffen und jahrelang darüber stritten, ob die EKD wirklich »Kirche« sein könne – ganz zu schweigen davon, dass weltweite Konfessionsverbünde wie der Lutherische Weltbund so gut wie unbekannt sind –, ist es für Katholiken völlig klar, dass sie zu einer weltumspannenden kirchlichen Gemeinschaft gehören. Der bereits erwähnte damalige Stadtpfarrer von Heidelberg hatte zugleich einen Lehrauftrag an der Evangelisch-theol. Fakultät von Heidelberg und hat mich mit Theologien aus Lateinamerika bekannt gemacht – eine Horizonterweiterung, die diejenigen kaum erhalten, die ihren theologischen Horizont in der deutschen Theologie nur zwischen Barth und Bonhoeffer abschreiten. Dass der ständige Bezug auf die Weltkirche zugleich auch freiheitseinschränkende und frustrierende Aspekte beinhaltet, gehört allerdings ebenfalls zu den ökumenischen Lernprozessen auf diesem Feld. Das Festhalten an der eigenen Kirche trotz starker inhaltlicher Differenzen, dieser katholische Langmut sollte allerdings gelegentlich auch Protestanten inspirieren und ihnen zu denken geben.

2 Vgl. Ökumene klingt. Ein Gesprächsaustausch zwischen Peter Bubmann und Matthias Kreuels, in: MuK 80 (2010), 252–254.

Was können Evangelische von Katholiken lernen?

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Kunst und Recht Bildende Kunst wie Architektur finden im Katholizismus besondere Aufmerksamkeit. Da holen wir Protestanten erst allmählich auf und können weiterhin in die ästhetischen Schulen der röm.-kath. Kirche gehen. Dass etwa das Bistum Würzburg in der Bischofsstadt sich ein eigenes Museum (am Dom) unterhält und sich für moderne Kunst einsetzt, ist nachahmenswert. Die Bildfolien für den RU habe ich in meiner Zeit als Schulpfarrer übrigens am liebsten aus röm.-kath. Arbeitshilfen bezogen. Da stimmte meist die Qualität. Ambivalent ist der stark rechtlich verfasste Charakter der röm.-kath. Kirche. Auch wenn die ausgefeilte Kasuistik, etwa des röm.-kath. Eherechts, kaum als Vorbild für protestantisches Kirchenrecht taugt, so wäre doch eine grundsätzlich positive Sicht des Rechts in der Kirche auch für Protestanten ein lohnenswertes Lernziel – was allerdings auch von evangelischen Vordenkern auf diesem Feld wie Wolfgang Huber oder Jan Hermelink angeregt werden kann. Fachtheologische Ökumene In der Fachtheologie lernen wir inzwischen in vielen Bereichen, etwa der Exegese, ganz selbstverständlich über die Konfessionsgrenzen voneinander – aber gerade in der Religionspädagogik immer noch zu wenig! In meiner Doktorarbeit habe ich mich mit röm.-kath. Fundamentalethik und Fundamentaltheologie auseinandergesetzt, konkreter: mit Ethikern aus der Rahner- und Metz-Schule.3 Vor allem bei Klaus Demmer habe ich eine transzendentalphilosophisch fundierte und begrifflich aufs Äußerste differenzierte und präzise Form von Theologie kennengelernt, die mich bis heute stark beeindruckt. Eine philosophisch geschulte Sprache ermöglicht eben nicht nur scholastischen, sondern auch liberalen, heilsgeschichtlichen oder offenbarungstheologischen Denkansätzen differenziertere Wahrnehmungen und Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist ein Teil der Tragik der röm.-kath. Theologie hierzulande, dass gerade die innovativsten und anspruchsvollsten theologischen Entwürfe dann beim eigenen Lehramt anecken oder in Ungnade fallen – was aber protestantische Theologie nicht davon abhalten sollte, von solcher Theologie gründlich zu lernen. In meinem heutigen Hauptfach, der Gemeindepädagogik, gibt es trotz unterschiedlicher terminologischer Traditionsunterschiede etliche Gemeinsamkeiten und eine solide Basis für wissenschaftliche Kooperation – im Bereich der empirischen Kirchensoziologie ohnehin, wo ich etwa 3 Vgl. Peter Bubmann, Fundamentalethik als Theorie der Freiheit. Eine Auseinandersetzung mit römisch-katholischen Entwürfen (Öffentliche Theologie; 7), Gütersloh 1995.

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viel von Michael N. Ebertz gelernt habe. Auch im Gesamtbereich der Religionspädagogik zeigen manche Buchreihen, z.B. »Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft« und die Zusammenarbeit der konfessionsverbindenden Bereichsherausgeber-Paare im neuen Online-Lexikon WiReLex (www.wirelex.de) die Möglichkeiten und Chancen guter ökumenischer Zusammenarbeit auf akademischem Feld. Ökumene der Lebenskunst Schließlich benötigt das Projekt einer Theologie der Lebenskunst geradezu zwingend ökumenische Weite, weshalb es von vornherein in Lerngemeinschaft mit dem römisch-katholischen Moraltheologen Bernhard Sill entwickelt wurde.4 Wo Lernprozesse spirituell inspiriert sind, ist ein fruchtbarer Boden vorhanden, auf dem wechselseitige wie gemeinsame ökumenische Lernprozesse gelingen können. Dr. Peter Bubmann, Professor für Praktische Theologie (Schwerpunkt Religionsund Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg.

4 Vgl. Peter Bubmann / Bernhard Sill (Hg.), Christliche Lebenskunst, Regensburg 2008; Bernhard Sill und Peter Bubmann, Schritte durch die Lebensmitte. Facetten christlicher Lebenskunst, Gütersloh 2013.

3.5 Wilfried Hagemann

Was können Katholiken von Evangelischen lernen? Und umgekehrt: was Evangelische von Katholiken? Was können Katholiken von Evangelischen lernen?

1. Was können Katholiken von Evangelischen lernen? Das ist auch heute ein spannendes Thema. Dabei fällt mir als erstes auf, dass sich die Römisch-Katholische Kirche seit dem Thesenanschlag von Martin Luther in tiefer innerer Auseinandersetzung mit den Evangelischen befindet, also auch mit Johannes Calvin sowie so vielen weiteren Reformatoren. Es kam seit Beginn der Reformation in der Römisch-Katholischen Kirche zu einem indirekten ständigen Lernprozess, der durch die die Fragestellungen, die die Reformation aufgeworfen hat, ausgelöst wurde. 2. Zentrale Dekrete des Konzils von Trient (1545 bis 1563) beziehen sich auf die Lehre der Reformation, greifen diese auf und formulieren eine katholische Antwort. Ich nenne nur das Thema Rechtfertigung aus Glauben und die Bedeutung der »Werke« sowie die erneuerte Sakramentenlehre. Das Gespräch über diese Themen setzte sich bis heute fort und mündete 1999 in die vom Lutherischen Weltbund und dem Vatikan gemeinsam entwickelte Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Es ist ein Dokument von historischer Bedeutung, weil es die Lehre von der Gnade, der Erlösung und der Rechtfertigung des Menschen durch Jesus Christus gemeinsam darstellt und ausdrücklich feststellt, dass Katholiken und Protestanten in dieser Lehre nicht getrennt sind. 3. Der Lernprozess der Katholischen Kirche gipfelte im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965). Es kann gar nicht alles aufgelistet werden, was aus der evangelischen Tradition bei diesem Konzil positiv gewertet wurde und dann in die verabschiedeten Lehrtexte übernommen wurde. In der Konstitution über das Wort Gottes (Dei Verbum) legte die Kirche ein Verständnis der Bedeutung der Bibel für das Leben und die Lehre der Kirche vor, die zentrale Anliegen der Reformation aufgriff. Im Dekret über die Religionsfreiheit finden wir wichtige Anliegen wieder, die Luther in seiner Schrift »Die Freiheit eines Christenmenschen« formulierte. Ich erinnere an die vom Konzil beschlossene Reform der katholischen Messe, ja der ganzen Liturgie. Hier sehe ich ein Echo auf wichtige Anliegen der Reformation, wie die Einführung der jeweiligen Muttersprache in die Liturgie und die grundsätzliche Neuordnung der Schriftlesungen im Gottesdienst, um

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die Gemeinde mit der Fülle des Wortes Gottes aus dem Alten und dem Neuen Testament zu ernähren. Und dann kam es zu den absolut ganz neuen Einsichten, was die Ökumene und den Ökumenismus betrifft. Die Frucht der sich gerade auch in den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs und den Konzentrationslagern der Nazis entdeckten Liebe zur Einen Kirche, kurz Una Sancta Bewegung genannt, führte dazu, dass man nicht nur über die anderen Konfessionen sprach, sondern Vertreter aller Kirchen, besonders auch der evangelischen, orthodoxen und anglikanischen offiziell als Beobachter einlud. So kam es zu dem bedeutsamen Dokument über den Ökumenismus und zu den beiden Konstitutionen über die Kirche Lumen gentium und Gaudium et Spes. An dieser Stelle möchte ich etwas Biografisches einfügen. Ich hatte das Glück, dass ich in Rom an der Päpstlichen Universität Gregoriana Theologie studieren konnte. Ich war dadurch während der ganzen Konzilszeit als Student in Rom und bekam sehr guten Kontakt zu den Vertretern der Evangelischen Kirche, auch zum Prior von Taizé, Roger Schutz, der nach Rom kam, um mit seinem Gebet das Konzil zu unterstützen. Ich erhielt die Chance, damals mit Professor Edmund Schlink, Heidelberg, zusammenzuarbeiten. Er kam mit seinem Oberseminar nach Rom, um das Konzil systematisch zu studieren. Ich wurde von ihm eingeladen, als katholischer Doktorand an seinem Oberseminar während drei Monaten in Rom teilzunehmen.

4. Bereits damals fiel mir auf, was ich selbst für mein Christsein lernte, wenn ich evangelischen Christen begegnete. Schon von Schulendtagen her, die mein Gymnasium in Wilhelmshaven alle zwei Jahre anbot, ist mir in Erinnerung, dass ein evangelischer Klassenkamerad in der Jugendherberge abends auf dem Stockbett oben lag und in der Bibel las. In mir entwickelte sich damals der Wunsch, es ihm gleichzutun. Aber erst als Theologiestudent wurde mir ein Zugang erschlossen. Evangelische Christen und Christinnen haben ein selbstverständliches und liebendes Verhältnis zur Hl. Schrift. Bei vielen erlebe ich zudem eine innere Selbstständigkeit, ein stärkeres Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des eigenen Gewissens und auch eine stärkere Toleranz andersdenkenden Menschen gegenüber. Da kommt mir eine gewisse Weite entgegen, die dem Anderen Raum lässt und selber doch den eigenen Weg geht. Es sind Menschen, die eine größere Pluralität zulassen können. 5. Beglückend, ich muss es so formulieren, waren Momente, bei denen ich erlebte, dass Evangelische und Katholiken gemeinsam ihr Christsein vertiefen können. In meiner Zeit als Regens des Priesterseminars von Münster (1996 bis 2004) fand ich im Predigerseminar der Evangelischen Kirche von Westfalen echte ökumenische Partnerschaft. So konnten wir die Bildungsangebote, die die Taufe, das Taufgespräch und die Predigt bei der Taufe betrafen, gemeinsam entwickeln und wechselweise in unseren Häusern durchführen. Unsere evangelischen Freunde waren wie elektrisiert von Elementen der Spiritualität und

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des Gebetslebens, das sie bei den katholischen Priesterkandidaten erlebten. »Unsere« Seminaristen waren erstaunt über die Qualität der theologischen Bildung und über die Bereitschaft, sich auf gesellschaftliche Fragen und Veränderungen einzulassen. 6. Und was können Evangelische von uns Katholiken lernen? Wenn ich mich frage, was evangelische Menschen von der Katholischen Kirche lernen könnten, dann wäre es für mich das Thema »Kirche sein«. Da ist einmal das Geschenk einer tiefen Glaubensgemeinschaft, die auch durch ihre Ämter (Bischof und Papst) weltweit vernetzt ist. Dies öffnet den Raum einer grundsätzlichen Katholizität und Universalität. Kirche wird dadurch auch zur Heimat. Hierher gehört auch die Offenheit der Amtskirche und der Gemeinden für die besonderen Charismen der Heiligen, denen eine besondere Spiritualität geschenkt wurde. Ich denke an Theresia von Avila, Theresia von Lisieux, Ignatius von Loyola, Edith Stein, Kardinal von Galen, ganz zu schweigen von den großen Gestalten des Mittelalters und den frühen Kirchenvätern. Das durch das Konzil erneuerte Verständnis von Maria, als einer Frau des Glaubens, als einer Frau, die empfängt und gibt, die Christus empfängt und gibt, könnte auch heute für Evangelische wieder attraktiver werden. Ich möchte auch den Umgang mit den Verstorbenen und das Gebet für sie erwähnen. In der Liturgie sind die Heiligen und die Verstorbenen ganz selbstverständlich im Blick und präsent als Vertreter des »Himmlischen Jerusalems« und der Welt des Ewigen Lebens, in das Gott den Menschen in seiner unendlichen Gnade aufnimmt. 7. Ein weiteres wichtiges Thema für das wechselseitige Lernen von Evangelischen und Katholiken könnte das Thema Maria sein. Die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils Lumen gentium hat Maria gleichsam vom Sockel geholt und in die Mitte der Gemeinde und der Kirche gestellt. Das bemerkenswerte 7. Kapitel handelt über Maria im Geheimnis Christi und der Kirche. Es geht immer mehr um die Frage, was die Kirche von Maria lernen kann. Sie ist ein Vorbild, wenn es darum geht, sich unter das Kreuz des Herrn zu stellen und seine Verlassenheit und sein Ins-Nichts-Gehen mitzuerleben – gerade heute. Sie ruft sozusagen auf zu neuer Sammlung der Christen im Abendmahlssaal, um gemeinsam Zeugnis zu geben vom Auferstandenen. Da wird Maria als Typ oder Modell für die Christen aller Konfessionen gleichsam ein Beispiel für eine lebendige Kirche, die Jesus Christus den Menschen bezeugt. Konkret habe ich dieses erlebt bei einer vom Ökumenischen Zentrum Ottmaring veranstalteten Ökumenischen Studientagung, die 2014 in Stockholm zwischen deutschen katholischen Pfarrern und schwedischen evangelischen Pfarrern unter dem Thema »Maria als Typos für die Kirche« stattfand. Um voneinander lernen zu können, brauchte es einen ganzen Tag der Einübung in ein gemeinsames und auch gegen-

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seitiges Hören auf die Bibel und die jeweiligen Traditionen der anderen Kirche. Je mehr wir uns darauf einließen, dass ein evangelischer Christ mir als Katholik das Wort der Schrift erschließt und umgekehrt, desto tiefer öffnete sich ein Raum des Verstehens und eines neuen Erkennens, wie das Thema Maria den Blick auf die Kirche und das Kirche-sein vertieft. Allen wurde klar, dass die Kirche ihren einzigen Sinn darin hat, Werkzeug zu sein für die Verkündigung des Evangeliums, für die Verkündigung des Geheimnisses von Tod und Auferstehung Christi. Zugleich wurde auch die Zerbrechlichkeit von Kirche uns allen bewusst, wie die Kirche hinter dem zurückbleibt, was sie verkündet. Der gemeinsame Blick auf Maria, die demütige Magd, die sich auf die Botschaft des Engels einlässt und ihr eigenes Leben komplett umstellt, damit Jesus in unsere Welt hinein geboren wird, machte Mut, gerade in unserer säkularen Welt gemeinsam als Kirche den Dienst der Verkündigung zu tun. In solchen Augenblicken erschließt sich ein neues gegenseitiges und gemeinsames Lernen von Katholiken und Protestanten. Kirche, die ecclesia kyriaké, die Versammlung auf den HERRN hin, kommt dort zum Vorschein und tut ihren Dienst an den Menschen, wenn wir den Weg Christi mitgehen und gemeinsam im Sinne des Philipperbriefs 2, 11 bekennen: Jesus Christus ist der Herr. 8. Wie Evangelische und Katholische respektvoll miteinander umgehen und voneinander lernen, erschließt sich auch an zwei Kirchbauten in Bayern, an der evangelischen Stadtkirche St. Sebaldus in Nürnberg und an der katholischen Stadtkirche St. Moritz in Augsburg. Wer die Sebaldus-Kirche betritt, erlebt einen Kirchenraum, der im hohen Mittelalter gebaut wurde und mit beeindruckenden spätmittelalterlichen Kunstwerken geschmückt ist. Als diese Kirche, ursprünglich katholisch, in der Reformationszeit evangelisch wurde, wurde sie das Zentrum reformatorischer Predigt in der Stadt Nürnberg. Und dennoch bewahrten die Pastoren und das Presbyterium die Kunstwerke aus der früheren katholischen Zeit und erklären dem heutigen Besucher durch kurze Texte die Bedeutung der Figuren und Gemälde. Ganz anders die erst vor kurzem von Grund auf renovierte katholische St. Moritz-Kirche in Augsburg. Es ist, als hätte man in der Neugestaltung dieser katholischen Pfarrkirche vom evangelischen und reformierten Kirchbau wesentliche Impulse aufgenommen. Der dreischiffige Bau ist ganz in Weiß gehalten, es ist eine radikale Schlichtheit gegeben, die die lebensgroße Christus-Figur im Chorraum – sie stellt den kommenden Christus dar – in den Fokus bringt: ein katholisches Bekenntnis zum reformatorischen »Christus allein«. Pfarrer Dr. Wilfried Hagemann war Rektor im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (1986–1995) und Regens des Priesterseminars in Münster (1996–2004). Seit 2009 ist er Leiter des Zentrums für Spiritualität (ZSP) Ottmaring.

3.6 Norbert Mette

Was können evangelische und katholische Christ/innen voneinander lernen? Plädoyer für gemeinsame Erkundungen Voneinander-Lernen geschieht dann, wenn man bei einer anderen Person oder auch Sache etwas entdeckt, was man so bisher nicht gekannt hat und als für sich selbst bereichernd erfährt. Insbesondere mein Studium habe ich als einen solchen Lernprozess erlebt, in dessen Verlauf mir immer wieder neue Sachgebiete erschlossen wurden. Dabei spielte die Begegnung mit Lehrenden, die ihren Stoff überzeugend vertraten, eine wichtige Rolle. Da nicht alle meine Interessensgebiete innerhalb des Lehrangebots der katholischen Theologie vertreten wurden, habe ich immer wieder die Möglichkeit wahrgenommen, entsprechende Lehrveranstaltungen in der evangelischen Theologie zu besuchen. Daraus ist für mich die Überzeugung erwachsen, dass es in der Theologie um eine gemeinsame Sache zu tun ist. Dass diese aus verschiedenen Perspektiven angegangen wird, sah – und sehe – ich weniger in konfessionellen Differenzen begründet als vielmehr in unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Ansätzen und Denkschulen. Seit dieser Zeit ist für mich die interkonfessionelle Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen aus der katholischen ebenso wie der evangelischen Theologie zur Selbstverständlichkeit geworden. Dies gilt auch für meine Lektüre von Fachbüchern, bei der es für mich so gut wie keine Rolle spielt, ob das Buch von einem/einer evangelischen oder katholischen Autor/in verfasst worden ist; entscheidend ist, dass sie mir neue Einsichten vermitteln. Diese Erfahrungen, die ich im akademischen Bereich machen konnte und kann, fanden und finden ihre Bestätigung und Vertiefung im praktischen Engagement, etwa in einem ökumenischen Arbeitskreis im Rahmen des konziliaren Prozesses; die unterschiedlichen Taufscheine spielen bis in die Gestaltung von gemeinsamen Gottesdiensten hinein keine Rolle. Vor diesem Hintergrund, wo Katholisches und Evangelisches für mich eng miteinander verschmolzen sind, tue ich mich schwer, etwas darüber zu schreiben, was Katholiken von Protestanten lernen können. Lässt sich auch heute noch das spezifisch Protestantische eindeutig bestimmen und vom spezifisch Katholischen abheben, so wie es in der Vergangenheit die Kontroverstheologie und die Konfessionskunde getan haben? Gott sei Dank sind die Annäherungen und Übereinstimmungen zwischen den beiden Konfessionen sehr weit gediehen. Für das »gläubige Volk« sind die klassischen Unterschiede so gut wie unerheblich geworden. Das

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Norbert Mette

heißt nicht, dass es gar keine Unterschiede mehr gäbe. Aber deren Linien verlaufen quer durch die Konfessionen, etwa zwischen traditionell orientierten und kritisch aufgeschlossenen Christen und Christinnen. Mit Blick auf die heute heranwachsende Generation ist nüchtern festzustellen, dass ihr mehrheitlich weder die klassischen noch die heutigen Unterschiede innerhalb der Christenheit bekannt sind. Sie verfügt nicht nur nicht über ein »konfessionelles Bewusstsein«; sondern der christliche Glaube insgesamt stellt für sie weitgehend ein unbekanntes Terrain dar und nimmt für die eigene Identität eher einen beiläufigen Stellenwert ein. Vor diesem Hintergrund verliert der strikt konfessionell erteilte Religionsunterricht in der Schule immer mehr an Plausibilität. Anders als früher, als davon ausgegangen werden konnte, dass bei den Schülern und Schülerinnen eine zumindest gewisse Vertrautheit mit ihrem Katholischbzw. Evangelisch-Sein vorausgesetzt und im Religionsunterricht kritisch-konstruktiv daran angeknüpft werden konnte, sind sie nunmehr großenteils überhaupt erst an Religion und speziell christlichen Glauben allererst heranzuführen. Und dies ist eine Aufgabe, die nicht nach Konfessionen getrennt anzugehen ist, auf Dauer wohl auch nicht nach Religionen getrennt. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Anders als in konfessionell homogenen Lerngruppen ist es in konfessionell heterogen zusammengesetzten Lerngruppen möglich, dass Schüler und Schülerinnen mit evangelischem, katholischem oder auch gar keinem Konfessionshintergrund bei der Behandlung der verschiedenen Themen direkt voneinander lernen, dass sie also nicht bloß über die jeweils andere Konfession informiert werden, sondern miteinander die bestehenden Gemeinsamkeit und Unterschiede zwischen den Konfessionen erkunden können. Wissenschaftliche Untersuchungen1 haben bestätigt, dass die Schülerinnen und Schüler sich so ihrer jeweils eigenen konfessionellen Zugehörigkeit bewusster, wenn nicht erstmals überhaupt ihrer ansichtig werden, und dies nicht auf allgemein-abstrakte Weise, sondern im konkreten Umgang miteinander, und so auch die die Konfessionsgrenzen relativierende gemeinsame Grundlage im christlichen Glauben kennen lernen. Allerdings ist es in diesem Zusammenhang wichtig, genauer zu bestimmen, was in diesem Zusammenhang mit Lernen gemeint ist. Grob können zwei Arten des Lernens unterschieden werden: kumulatives Lernen und dialektisches bzw. transformatorisches Lernen. Beim jenem geht es um Wissenserweiterung, während es sich bei diesem um einen Veränderungsprozess handelt, der sowohl die lernende Person betrifft als auch den Gegenstand, mit dem sich die Person beschäftigt.

1 Vgl. u.a. Lothar Kuld / Friedrich Schweitzer / Werner Tzscheetzsch / Joachim Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg, Stuttgart 2009.

Was können evangelische und katholische Christ/innen voneinander lernen?

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So muss ich für mich bekennen, dass mir die Beschäftigung mit der evangelischen Theologie nicht nur einen Zuwachs an Wissen eingebracht, sondern dass sie auch mein persönliches Verständnis von Christsein tiefgreifend verändert hat. Meine vormalige konfessionelle RollenIdentität hat sich zu einer christlichen Ich-Identität entwickelt, die in meinem Falle in der katholischen Tradition beheimatet ist. In einer umfassenderen Weise kann m.E. von der ökumenischen Bewegung seit Anfang des 20. Jahrhunderts gelernt werden, was es heißt, zwischen den Konfessionen miteinander und voneinander zu lernen. Sie hat es ja nicht dabei belassen und lässt es nicht dabei, lediglich die zwischen den Konfessionen existierenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzulisten. Sondern ihr geht es darum, darüber hinaus zu ergründen, worum es sich genauerhin bei diesen Unterschieden handelt, wie es zu ihnen gekommen ist, welche Bedeutung ihnen – in den größeren Glaubenszusammenhang hineingestellt – jeweils zukommt, wie trennend sie denn wirklich sind usw. Gerade diesem mühsamen historisch-kritischen und systematisch-theologischen Durcharbeiten der verschiedenen traditionellen Konfessionstümer ist es zu verdanken, dass nach und nach erkannt werden konnte, dass sich von der Schuld an der Spaltung zwischen den christlichen Konfessionen keine Seite freimachen kann und dass es, wenn der in der Geschichte angehäufte Ballast einmal beseitigt ist, zwischen ihnen mehr gibt, das sie miteinander verbindet, als was voneinander trennt. Voraussetzung für einen solchen beachtenswerten interkonfessionellen Fortschritt war und ist, dass sich die Beteiligten einander auf Augenhöhe begegnen und gegenseitig anerkennen – etwas, womit sich die Katholische Kirche bis heute nicht ganz leicht tut. Dann wird es möglich – und die Vielzahl an zustande gekommenen gemeinsamen Erklärungen dokumentiert es –, gerade in der Begegnung mit der anderen Seite Eigenes besser zu verstehen oder gar als über lange Zeit Verschollenes als wertvoll wiederzuentdecken. Voneinander-Lernen, ernst genommen, besteht also darin, im Dialog mit dem Anderen auch jeweils das eigene Glaubensverständnis auf die Probe zu stellen und es mit dem bei dem anderen (und durch ihn bei sich selbst) als wahr Erkannten neu zusammen zu buchstabieren; es handelt sich zutiefst um ein transformatives Lernen, das erhebliche Auswirkungen gerade auf das je eigene, laut klassischer Überzeugung immer zu reformierende Glaubens- und Kirchenverständnis zeitigt. Nun lässt sich mit Blick auf den Religionsunterricht einwenden, dass man es dort nicht mit theologischen Experten in Sachen Ökumene zu tun hat. Aber es geht in ihm auch, wenn auch auf andere Weise, um fundamentale theologische und bildungstheoretische Fragen, gerade heute: Wie kann der christliche Glaube der gegenwärtig heranwachsenden Generation so nahegebracht werden, dass sie in ihm eine mögliche sinnvolle Grundlage für die eigene Lebensführung und für ein zukunftsträchtiges Zusammenleben mit Anderen zu erblicken vermögen – oder nach erfolgter Auseinandersetzung mit ihm auch nicht? Worin besteht

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die Verantwortung der Christinnen angesichts der enormen Herausforderungen, vor die die Menschheit infolge der krisenhaften Tendenzen in der Gegenwart gestellt ist? Solche Fragen gehen die christlichen Konfessionen gemeinsam an – und nicht nur sie, sondern analog alle Religionen und Weltanschauungen. Religion und Glauben werden von den jungen Leuten in dem Maße nicht als für sie nebensächliche Sache abgetan, wie sie den Eindruck gewinnen, dass es ihnen nicht bloß um die Reproduktion ihrer Traditionsbestände und um die Rekrutierung der eigenen Reihen geht, sondern um die Ermöglichung zum Leben, und zwar gerade im Angesicht einer alles anderen als sicheren Zukunft zu einem Leben in einer gemeinsamen Welt, in der Differenzen geachtet werden. Dazu muss der heranwachsenden Generation der Freiraum eröffnet werden, die ihnen vermittelten religiösen Traditionsbestände einer Kritik und Dekonstruktion zu unterziehen, damit sie in Erfahrung bringen können, ob sie sich wirklich als auch auf Zukunft hin lebensdienlich erweisen. Hier tut sich ein weites und ergiebiges Feld des Miteinander- und Voneinander-Lernens zwischen den Konfessionen und über sie hinaus zwischen den Religionen und Weltanschauungen auf. Dass es dabei zu überraschenden Konstellationen quer zu den überkommenen konfessionellen und religiösen Identitäten kommen kann, spricht für das Innovationspotential, das sie in sich bergen. Das durchaus unter Rückgriff auf die unterschiedlichen Traditionsbestände, aber im diskursiven Umgang mit ihnen frei zu legen, lässt den Religionsunterricht zu einer spannenden Angelegenheit werden und gibt ihm zu Recht einen Platz in der Schule. Dr. Dr. h.c. Norbert Mette war bis zu seiner Emeritierung Professor für Katholische Theologie und ihre Didaktik/Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund und Mitherausgeber des Jahrbuchs der Religionspädagogik.

4 Horizonterweiterungen

4.1 Yauheniya Danilovich

Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland

Dieser Beitrag untersucht unterschiedliche Aspekte des orthodoxen Religionsunterrichts in Deutschland. Einleitend werden Gegebenheiten der Orthodoxie hierzulande umrissen. Im Hauptteil wird die aktuelle Situation des Faches dargestellt. Dazu werden zunächst Rechtsstatus und Verbreitung des orthodoxen Religionsunterrichts geschildert sowie ein Überblick über die vorhandenen Lehrpläne gegeben. In einem weiteren Schritt richtet sich der Blick auf die Schülerinnen und Schüler. Es werden für den orthodoxen Religionsunterricht spezifisch ausgeprägte Pluralitätsaspekte wie etwa Mehrsprachigkeit aufgezeigt. Sodann wird auf die aktuelle Lage im Bereich der Lehrerausbildung und Lehrbücher eingegangen. Der Beitrag mündet in eine Schlussbetrachtung der aktuellen Herausforderungen und Perspektiven des Faches.

1 Orthodoxie in Deutschland: Präsenzfaktoren und Gegebenheiten Die Zahl der orthodoxen Christen wird in Deutschland auf ca. 1,5 Millionen geschätzt. Somit bilden sie nach den evangelischen und katholischen Gläubigen die drittgrößte christliche Gemeinschaft hierzulande.1 Die Präsenz der Orthodoxie in Deutschland ist zum einen durch geschichtliche Entwicklungen und zum anderen durch Migration bedingt.2 Starke Zuwanderungswellen sind vor allem in den 1960er Jahren, als viele Arbeitnehmer aus Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien hierher kamen, und seit den 1990er Jahren bis heute, durch den Zerfall des Ostblocks und die Aufnahme der »orthodoxen« Länder in die Europäische Union (Griechenland, Rumänien, Bulga-

1 Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.), 10. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Oktober 2014). Zuletzt abgerufen am 16.02.2016 von: http://www.bun desregierung.de/Content/DE/_Anlagen/IB/2014-10-29-Lagebericht-lang.pdf?_blob= publicationFile&v=3, 161. 2 Konstantinos Vliagkoftis / Ludger Westrick verweisen auf die bereits dreihundertjährige Präsenz der Orthodoxie in Deutschland. Vgl. Dies., Orthodoxe Universitätstheologie in Deutschland, in: Walter Homolka (Hg.), Theologie(n) an der Universität: akademische Herausforderung im säkularen Umfeld, Berlin 2013, 101‒107, hier 101f. Siehe auch: Käte Gaede, Russische Orthodoxe Kirche in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Köln 1985; Nikolaj Thon, Ethnische Vielfalt und Einheit im Glauben: Die Orthodoxe Kirche. In: Markus Hero / Volkhard Krech / Helmut Zander (Hg.), Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen: Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn 2008, 84‒99.

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rien), zu beobachten.3 In den letzten Jahren und Monaten steigt die Zahl orthodoxer Christen aufgrund der beispiellos hohen Zahlen der Flüchtlinge aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Momentan ist nicht abschätzbar, wie sich die religiöse Situation in Deutschland dadurch genau verändern wird. Nach Angaben der UNO sind unter den Flüchtlingen weltweit ca. 50% Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.4 In Deutschland sind unter den Flüchtlingen nach einigen Schätzungen ca. 300 000 Kinder im Schulalter.5 Es ist anzunehmen, dass unter ihnen auch orthodoxe Kinder sind.

Die orthodoxen Kirchen hierzulande leben in der Diaspora. Sie haben alle ihre Mutterkirchen woanders: in Russland, in Griechenland, in Rumänien, in Serbien usw. Zwar gibt es einzelne deutschsprachige Gemeinden, aber keine »Deutsche Orthodoxe Kirche«. Eine gemeinsame Vertretung aller orthodoxen Diözesen Deutschlands bildet die Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD).6 Derzeit gehören ihr 16 Mitglieder an: zehn Diözesan- und sechs Auxiliarbischöfe (Stand: August 2015) aus den zehn in Deutschland vertretenen Diözesen. In diesem Format kooperieren verschiedene kanonische Kirchen (Russische, Serbische, Rumänische usw.) und sind durch gemeinsame Aktionen präsent.7 Eine ähnliche Situation der Koexistenz verschiedener orthodoxer Kirchen ist in den USA zu beobachten. »Die orthodoxe Kirche ist […] unbeschadet der Vielfalt ihrer nationalen Herkunft, Sprache und Kultur, die zum Wesen der Orthodoxie gehören, Eine Orthodoxe Kirche.«8 2 Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland 2.1 Rechtsstatus und Verbreitung Religionsunterricht ist gemäß Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes ein ordentliches Lehrfach in der Schule. Orthodoxer Religionsunterricht ist

3 Vgl. dazu: Nikolaj Thon, Ethnische Vielfalt, 84f. 4 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees (Ed.), World at War. UNHCR. Global Trends. Forced Displacement in 2014. Zuletzt abgerufen am 15.02.2016 von: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UN HCR/Global_Trends_2014.pdf, 3. 5 Nach Schätzungen der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft). Siehe: http://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/rund-38000-zusaetzliche-paeda goginnen-und-paedagogen-noetig/. Zuletzt abgerufen am 15.10.2015. 6 Als Vorstufe ist KoKiD »Kommission der Orthodoxen Kirchen in Deutschland« gewesen, die am 1. Mai 1994 gegründet wurde. Ausführlicheres dazu: Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche: Eine Handreichung für nicht-orthodoxe Christen und Kirchen, Frankfurt a.M. 72007, 23ff. 7 Vgl. dazu auch: Vasilios N. Makrides, Orthodoxe Christen in der Migration/ Diaspora: Chancen, Herausforderungen, Probleme, in: Claudia Kraft / Eberhard Tiefensee (Hg.), Religion und Migration. Frömmigkeitsformen und kulturelle Deutungssysteme auf Wanderschaft, Münster 2011, 133‒148, hier 147. 8 Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche (s.o. Anm. 6), 47.

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ebenso wie ein evangelischer oder katholischer in diesem gesetzlichen Rahmen verankert.9 Derzeit findet der orthodoxe Religionsunterricht10 in vier Bundesländern statt: Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen und Bayern. Ab dem Schuljahr 2016/2017 soll der orthodoxe Religionsunterricht auch in Baden-Württemberg an Gymnasien erteilt werden. An den nordrhein-westfälischen Schulen wurde »Griechisch-orthodoxer Religionsunterricht« mit Erlass vom 28. Juni 1985 eingeführt.11 Die Einführung des Unterrichts geschah auf der Grundlage einer Vereinbarung mit der Griechisch-orthodoxen Metropolie. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Veränderung der demographischen Situation hat sich die Zielgruppe der orthodoxen Kinder gewandelt und vergrößert. Das Fach »Griechisch-orthodoxer Religionsunterricht« wurde nun von allen in der Kommission vertretenen orthodoxen Diözesen getragen und verantwortet.12 Es trägt die Bezeichnung »Orthodoxer Religionsunterricht« und richtet sein Angebot explizit an alle orthodoxen Kinder. Im Erlass wird Folgendes festgehalten: »Eine Pflicht zur Teilnahme am Unterricht besteht somit für alle Schülerinnen und Schüler, die einer der genannten Diözesen angehören.«13 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer Öffnung des Religionsunterrichts für Kinder und Jugendliche ohne konfessionelle Bindung sowie mit Zugehörigkeit einer anderen christlichen Konfession.14 9 Ausführlicheres zu rechtlichen Rahmenbedingungen für den orthodoxen Religionsunterricht in Deutschland siehe: Marina Kiroudi, Entwicklung und Praxis des orthodoxen Religionsunterrichts in Deutschland, in: Ökumenische Rundschau 63 (1/2014), 38‒53. 10 Orthodoxer Religionsunterricht ist von syrisch-orthodoxem Religionsunterricht zu unterscheiden. Die Syrisch-orthodoxe Kirche (von Antiochien) gehört einer anderen orthodoxen Kirchenfamilie an, und zwar den sog. Orientalischen bzw. vorchalzedonischen Orthodoxen Kirchen. Dazu gehören z.B. auch die Koptische Orthodoxe Kirche oder die Armenische Orthodoxe Kirche. Die Beschlüsse des IV. Ökumenischen Konzils von Chalzedon (451) und der späteren Ökumenischen Konzilen wurden von diesen Kirchen nicht geteilt. Diese Kirchen haben keine Kirchen-, Gottesdienst- und Sakramentengemeinschaft mit den Byzantinischen Orthodoxen Kirchen, also auch nicht mit den Orthodoxen Kirchen, die in der OBKD vertreten sind. Vgl. dazu z.B.: Anna Briskina-Müller, Orthodoxe Kirchen Byzantinischer Tradition, in: Markus Mühling (Hg.), Kirchen und Konfessionen, Göttingen 2009, 218‒238; Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche (s.o. Anm. 6), 17ff. 11 Erlass: BASS 12-05 Nr.3 vom 28.06.1985. 12 Vgl. Erlass zum Orthodoxen Religionsunterricht im Lande Nordrhein-Westfalen (Neufassung 2009). Zuletzt abgerufen am 13.02.2016 von: http://www.obkd.de/ Texte/ORU%20NRW%20-%20Erlass%20Neufassung%202009.pdf. 13 Ebd. 14 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Orthodoxe Religionslehre. Kernlehrplan für die Sekundarstufe I in NordrheinWestfalen. Zuletzt abgerufen am 15.10.2015 von: http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SI/Orthodoxe_Religionslehre/KLP_SI_Orthodoxe_Rel igionslehre_-_Endfassung.pdf, 11f.

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Laut den jüngsten statistischen Daten gibt es in NRW an allen Schultypen 33 934 orthodoxe Schülerinnen und Schüler15. Das sind ca. 1,3% aller Schülerinnen und Schüler. Vergleicht man diese Daten mit Zahlen von vor zehn Jahren, stellt man einen prozentualen Zuwachs um fast das Doppelte fest. Damals waren es 19 703 orthodoxe Kinder und Jugendliche, die 0,7% aller Schülerinnen und Schüler ausmachten.16 Die Teilnehmerzahlen am orthodoxen Religionsunterricht in NRW zeigen laut der gleichen Quelle eine starke Diskrepanz und liegen in allen Schultypen zusammengezählt unter 500. Das bedeutet, dass weniger als 2% aller orthodoxen Kinder in NRW an einem orthodoxen Religionsunterricht teilnehmen.

In Niedersachsen wurde das Fach im Jahre 1998 eingeführt.17 Der orthodoxe Religionsunterricht in Niedersachsen hat genauso wie in NRW alle Schülerinnen und Schüler im Blick, »die einer der orthodoxen Kirchen angehören, die in der Kommission der orthodoxen Kirchen in Deutschland vertreten sind«18. Im Hessen besteht das Angebot des orthodoxen Religionsunterrichts im Moment nur für Grundschulkinder. In Bayern wird das Fach in zwei Formaten angeboten. Das erste ist der Sammelunterricht, der jahrgangsstufenübergreifend erteilt wird. Das zweite ist der außerschulische Religionsunterricht. Er wird schulart- und jahrgangsstufenübergreifend erteilt. Die Organisation übernehmen in diesem Fall vereinzelte orthodoxe Gemeinden. Insgesamt nehmen am orthodoxen Religionsunterricht in Bayern ca. 300 Schülerinnen und Schüler teil.19 Diese Zahlen zeigen eine starke Divergenz zwischen dem Bedarf am Unterricht und dem tatsächlichen Angebot. Allein in München gibt es ca. 2500 orthodoxe Schülerinnen und Schüler. Nur 60 von ihnen erhalten orthodoxen Religionsunterricht.20 Obwohl rechtlich der Anspruch auf orthodoxen Religionsunterricht besteht, wird dieses Recht in der Praxis von den zuständigen bayrischen Behörden für die orthodoxen Kinder nur unter erschwerten Rahmenbedingungen realisiert: »Bisher ist das zuständige Kultusministerium nur bereit, außerschulischen Sammelunterricht am Nachmittag zuzulassen«21. Diese Zustände stellen an Kinder, Eltern und Lehrkräfte eine ganze Reihe von Herausforderungen. Dazu gehören zu15 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2014/15. Statistische Übersicht Nr. 388 – 1. Auf., 25. Nicht mitgezählt werden hier syrisch-orthodoxe Kinder und Jugendliche. 16 Vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht ‒ Schuljahr 2004/05. Statistische Übersicht Nr. 347, 19. 17 Erlass: VORIS 22410 01 00 40 056 vom 29.6.1998. 18 Vgl. Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums über die Einführung des orthodoxen Religionsunterrichtes. Zuletzt abgerufen am 13.08.2015 von: http://www. obkd.de/Texte/ORU%20Niedersachsen%20-%20Erlass%201998.pdf. 19 Vgl. dazu sowie Ausführlicheres zur Situation des ORU in Bayern: Archimandrit Petros Klitsch, Orthodoxer Religionsunterricht in Bayern: Status quo. In: Orthodoxie aktuell. Jahrgang XIX (Sonderheft Juni 2015), 6‒10. 20 Vgl. Presseerklärung der Orthodoxen Pfarrkonferenz in München (20.11.2014). Zuletzt abgerufen am 08.10.2015 von: http://www.obkd.de/Presseinformationen/ OPKM-ORU-Presseerklaerung-1-2014.pdf. 21 Ebd.

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sätzliche Schulwege, erforderliche Freizeit, Unterrichten in altersgemischten Gruppen. Die orthodoxe Pfarrkonferenz in München fordert mit Verweis auf Landesschulgesetze, die Mindestteilnehmerzahl von fünf Schülerinnen und Schüler voraussetzen, »entsprechende Gruppen jahrgangsübergreifend und schulintern herzustellen«22. Es bleibt zu wünschen (und das nicht nur für Bayern), dass orthodoxe Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern über das bestehende Angebot des orthodoxen Religionsunterrichts von der Schulleitung ausführlich informiert werden und dass der Bedarf an einem schulinternen orthodoxen Religionsunterricht hinsichtlich der Zahlen der orthodoxen Kinder und Jugendlichen geprüft wird.23

In Baden-Württemberg wird »Orthodoxe Religionslehre« planmäßig ab dem Schuljahr 2016/17 als ordentliches Fach im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG und Art. 18 Landesverfassung sowie der §§ 96 bis 100 des SG Baden-Württemberg an allgemein bildenden Gymnasien eingeführt. Die Einführung erfolgt ab der Klassenstufe 5/6. Das Fach wird von der gesamten OBKD mitverantwortet. 2.2 Lehrpläne, Richtlinien, Denkschriften Für den orthodoxen Religionsunterricht gibt es Lehrpläne. In NRW sind Lehrpläne für die Grundschule24 und Sekundarstufe I25 vorhanden. Der Lehrplan für die Sekundarstufe II wird zurzeit überarbeitet und tritt planmäßig noch im Jahr 2016 in Kraft. In Niedersachsen wird nach den Lehrplänen aus NRW unterrichtet. In Bayern gibt es Lehrpläne für die Sekundarstufe I und II,26 für die Grundschule sind die Lehrpläne noch in der Entwicklung. Am Bildungsplan für den orthodoxen Religionsunterricht in Baden-Württemberg für die Sekundarstufe I und II wird derzeit gearbeitet. Er soll kompetenzorientiert aufgebaut und der Bildungsplanreform 2016 konform sein. 22 Orthodoxe Pfarrkonferenz in München, Stellungnahme zum Orthodoxen Religionsunterricht (ORU) in Bayern (18.11.2014). Zuletzt abgerufen am 8.10.2015 von: http://www.obkd.de/Presseinformationen/OPKM-ORU-Stellungnahme.pdf. 23 Zur Situation in Bayern: »Es ist bekannt, dass Schulen den Eltern und Erziehungsberechtigten bei der Einschreibung mitteilen, dass ORU an der Schule nicht angeboten wird und deshalb die Kinder in Ethik gehen müssen. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass diese als abgemeldet gelten, obwohl die Gesamtschülerzahl an orthodoxen Schülerinnen und Schülern und der dadurch in Zusammenhang stehende Bedarf eines schulinternen orthodoxen Unterrichtsangebotes nicht geprüft wurde.« Archimandrit Petros Klitsch, Orthodoxer Religionsunterricht in Bayern (s.o. Anm. 19), 9. 24 Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Griechisch-orthodoxe Religionslehre. Grundschule, Frechen 1994. 25 Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Orthodoxe Religionslehre (s.o. Anm. 14). 26 Lehrpläne für Orthodoxe Religionslehre an bayrischen Gymnasien. Zuletzt abgerufen am 15.10.2015 von: http://www.obkd.de/Texte/ORU%20Bayern%20-%20 Lehrplan%20Gymnasium%202009.pdf.

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Unter den kirchlichen Stellungnahmen zum orthodoxen Religionsunterricht kann das »Hirtenwort der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland zum Religionsunterricht«27 genannt werden. Das »Hirtenwort« wurde 2011 verabschiedet und stellt einen Apell der Bischöfe der OBKD an die in Deutschland lebenden orthodoxen Christen dar. Im »Hirtenwort« wird die Sorge der Würdenträger um die Zukunft der orthodoxen Kinder und Jugendlichen deutlich zum Ausdruck gebracht. Der orthodoxe Religionsunterricht an den deutschen Schulen ist dem »Hirtenwort« nach für die Zukunft der Kirche wichtig. Eine seiner wesentlichen Aufgaben sehen die Bischöfe in den Tradierungsprozessen, wie der »Weitergabe unseres heiligen Glaubens an die kommenden Generationen«. Darüber hinaus wird der Beitrag des orthodoxen Religionsunterrichts zur Wertevermittlung sowie seine Relevanz in der Diaspora-Situation der Kirchen betont. Dem »Hirtenwort« nach strebt die Kirche an, den mit dem Staat geteilten gemeinsamen Bildungsauftrag wahrzunehmen. Eines der Anliegen des orthodoxen Religionsunterrichts wird in der Unterstützung sowohl der gesellschaftlichen Integration als auch in der Bewahrung der eigenen orthodoxen Identität gesehen.28

Die Möglichkeit der konfessionellen Kooperation wird in orthodoxen Lehrplänen begrüßt.29 In der Zusammenarbeit mit dem Religionsunterricht anderer Konfessionen wird eine Chance gesehen sowohl für die Lernprozesse im Sinne der »Förderung von Dialogbereitschaft«, »Erfahrungsaustausch«, »sachgemäße Würdigung der anderen Positionen«, einer »bewussten Identifikation mit der eigenen konfessionellen Tradition« als auch darüber hinaus für das Schulleben.30 Zwar gibt es im Moment noch kein offizielles Dokument, in dem die OBKD ihre Position zur konfessionellen Kooperation im orthodoxen Religionsunterricht formuliert, aber verschiedene Stellungnahmen und Arbeitspapiere lassen dialogische und ökumenische Offenheit der Orthodoxie in Deutschland erkennen und können als Orientierung bei Fragen der Kooperation sowohl auf der Unterrichts- als auch der Schulebene (z.B. Schulgottesdienst) dienen.31 27 Hirtenwort der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland zum Religionsunterricht. 12. November 2011. Zuletzt abgerufen am 30.04.2015 von: www.obkd. de/TexteOBKD.htm. 28 Vgl. a.a.O. 29 Vgl. dazu z.B. den orthodoxen Lehrplan in NRW: »Zwischen den Fächern Orthodoxe Religionslehre und dem Religionsunterricht in anderen christlichen Konfessionen besteht die Chance besonderer Zusammenarbeit. Denn es gibt besondere Beziehungen und vielfältige Kooperationsmöglichkeiten und Koordinationsbedürfnisse. […] Die Zusammenarbeit dieser Fächer ist ein besonderer Ausdruck der ökumenischen Offenheit des konfessionellen Religionsunterrichts.« Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Orthodoxe Religionslehre (s.o. Anm. 14), 12. 30 Vgl. a.a.O., 13. 31 Vgl. dazu z.B.: Die Orthodoxe Kirche in Deutschland und ihr Dienst an der Einheit der Christen, 1f.; Beten in ökumenischer Perspektive ‒ Überlegungen aus orthodoxer Sicht. Arbeitspapier des Theologischen Arbeitskreises der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland, erarbeitet unter Leitung von Prof. Dr. Assaad Elias

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3 Schülerinnen und Schüler: Heterogenität als Herausforderung und Chance Orthodoxe Schülerinnen und Schüler bilden eine sehr heterogene Gruppe gleich in Bezug auf mehrere Merkmale. Erstens gehören sie zu unterschiedlichen orthodoxen Kirchen. Zwar bleibt die religiöse Grundlage für alle orthodoxen Christen gemeinsam: »Der orthodoxe Religionsunterricht basiert auf dem gemeinsamen Glauben der ganzen orthodoxen Kirche«32. Aber orthodoxe Kirchen weisen untereinander einige Unterschiede auf, die kulturell oder kirchengeschichtlich bedingt sind: Das sind etwa Sprache, lokale Traditionen, Feste, Kalendergebrauch usw. Zweitens haben orthodoxe Kinder und Jugendliche fast zu 100% einen Migrationshintergrund.33 Drittens kann man davon ausgehen, dass viele orthodoxe Schülerinnen und Schüler mehrsprachig aufwachsen.34 Zum Deutschen (als Zweitsprache) kommt die Familiensprache – griechisch, russisch, serbisch usw. – hinzu. Darüber hinaus sind manche von ihnen mehrsprachig aufgrund der Zugehörigkeit zu einer der orthodoxen Kirchen, in der die Sprache des Gottesdienstes sich von der modernen Landessprache unterscheidet. Als Beispiel kann die Russisch-Orthodoxe Kirche genannt werden, in der Kirchenslawisch als Gottesdienstsprache gebraucht wird. In den orthodoxen Schulbüchern wurde die Mehrsprachigkeit bereits aufgenommen. Im Anhang des Schulbuchs »Die Bibel in kurzen Erzählungen« sind verschiedene Gebete gesammelt. Manche von ihnen wie das Gebet des Herrn, liturgische Gebetsformeln oder das Ostertroparion sind in mehreren Sprachen der Schülerinnen und Schüler abgedruckt.35 Ebenso sind im Lehrbuch »Mit Christus unterwegs« mehrsprachige Elemente eingeplant. Gerade weil der Umgang mit Mehrsprachigkeit ein immer aktueller werdendes Thema ist,36 könnte orthodoxer Religionsunterricht wichtige Impulse und Erfahrungen sowohl für andere Fächer als auch für die Schule insgesamt bieten.

Diese verschiedenen und zum Teil einzigartigen Aspekte der Heterogenität sind für den Unterricht Herausforderung und Chance zugleich. Durch die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler aus verKattan und verabschiedet am 25. Juni 2010, 3. Zuletzt abgerufen am 08.01.2016 von: www.obkd.de/TexteOBKD.htm. 32 Kultusministerium Nordrhein-Westfalen (Hg.), Griechisch-orthodoxe Religionslehre. Grundschule (s.o. Anm. 24), 21. 33 Die Zahl der Deutschen, die orthodox sind, wird auf 3.000 geschätzt. Vgl. Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche (s.o. Anm. 6), 21. 34 Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.), 10. Bericht (s.o. Anm. 1), 44ff. 35 Vgl. Die Bibel in kurzen Erzählungen zur Verwendung für den orthodoxen Religionsunterricht an Volksschulen in Österreich, hg. im Auftrag des Orthodoxen Schulamtes in Österreich, Wien 32013, A3–A5, A17 und A19. 36 Ausführlicheres dazu: Yauheniya Danilovich, Deutsch als Zweitsprache. Religionspädagogische Herausforderungen und Chancen. In: ThLZ (i.Dr.).

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schiedenen Schwesterkirchen lernen sie die Pluralität der Orthodoxie als Gegebenheit kennen. Die o.g. Mehrsprachigkeit im Unterricht kann zur Herausforderung werden, wenn Kinder und Jugendliche kirchliche Begriffe jeweils in der Familiensprache oder in der Gottesdienstsprache lernen und verwenden. Die deutsche Sprache gewinnt insofern eine neue Bedeutung im orthodoxen Religionsunterricht. Sie ist eben ein unerlässliches Kommunikations- und Verständigungsmedium. Somit leistet der orthodoxe Religionsunterricht einen Beitrag zur Sprachbildung und Förderung der religiösen Sprachfähigkeit. Durch das Erlernen von Begriffen in deutscher Sprache wird Kommunikation über religiöse Themen nicht nur intern, sondern auch mit den Angehörigen anderer Konfessionen und Religionen ermöglicht. 4 LehrerInnen und Lehrerbildung Den orthodoxen Religionsunterricht können sowohl Geistliche als auch Laien erteilen. Manche Lehrkräfte haben ihr Theologiestudium im Ausland, z.B. Griechenland oder Serbien, abgeschlossen. In Deutschland besteht derzeit auch die Möglichkeit, orthodoxe Theologie zu studieren. Einer der Orte dafür ist die Ludwig-Maximilians-Universität München, wo seit über zwei Jahrzehnten eine Ausbildungseinrichtung (Institut) für Orthodoxe Theologie angesiedelt ist.37 Eine der Aufgaben, die der Studiengang vorsieht, ist die Ausbildung von ReligionslehrerInnen und KatechetInnen in orthodoxer Theologie. Religionspädagogik bildet ebenfalls einen Teil des Curriculums.38 Ein weiterer Ort der Lehrerausbildung ist die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo der Studiengang »Orthodoxe Religionslehre«, und zwar als drittes Erweiterungsfach, im Lehramtsstudium angeboten wird.39 5 Lehrbücher und Lernmaterialien In Vorbereitung ist derzeit das erste Unterrichtswerk in deutscher Sprache, und zwar das Schulbuch für die Grundschule »Mit Christus unterwegs«.40 Dazu sind auch ein Lehrkommentar und ein Arbeitsheft vorgesehen. Für die Sekundarstufe sind im Moment noch keine Lehrbücher 37 Seit 1984 als Lehrstuhl für Orthodoxe Theologie und seit 1994 als Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie. 38 Vgl. http://www.uni-muenchen.de/studium/studienangebot/studiengaenge/stu dienfaecher/orthodoxe/dip_u_/index.html. Zuletzt abgerufen am 24.07.2015. 39 Das Erweiterungsfach ist, weil es (seit 2013) keine neuen Studierenden gibt, als auslaufendes Studium eingestuft worden. 40 Kerstin Keller / Marina Kiroudi / Radomir Kolundžić / Constantin Miron / Zinovia Pantazidou / Nikolaj Thon (Hg.), Mit Christus unterwegs 1/2: Das orthodoxe Schulbuch. Die Erscheinung ist für das Jahr 2016 geplant.

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vorhanden. In Österreich wurde »Die Bibel in kurzen Erzählungen zur Verwendung für den orthodoxen Religionsunterricht an Volksschulen in Österreich« sowie »Orthodoxe Schulbibel. Evangelien, Apostelgeschichte und ausgewählte Psalmen. Zur Verwendung für den orthodoxen Religionsunterricht ab der 5. Schulstufe« herausgegeben.41 6 Herausforderungen und Perspektiven Die Präsenz des orthodoxen Religionsunterrichts an deutschen Schulen ist für die hierzulande heranwachsenden orthodoxen Kinder und Jugendlichen wichtig und ihr verbrieftes Recht. Aus dem oben Dargestellten wird jedoch deutlich, dass das Fach sich noch in einem komplexen Prozess der Etablierung befindet und dass viele orthodoxe Kinder immer noch nicht ihr Recht wahrnehmen können. In manchen Fällen kann man, wie oben beschrieben, nicht von einer gleichen Stellung und von gleichen Rahmenbedingungen für den orthodoxen Religionsunterricht sprechen. Lassen sich solche Zustände als Diskriminierung42 deuten? Zwar ist die Orthodoxie als drittgrößte christliche Glaubensgemeinschaft seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland präsent, jedoch sind im gesellschaftlichen Diskurs fehlende Aufmerksamkeit sowie (eventuell damit einhergehende) Wissensdefizite und Vorurteile43 gegenüber der Orthodoxie festzustellen. Durch verschiedene Formen der Zusammenarbeit wie konfessionelle Kooperation oder interreligiöses Lernen kann orthodoxer Religionsunterricht den bestehenden Wissensdefiziten entgegenwirken sowie die Förderung der Pluralitätsfähigkeit unterstützen. Zu denken ist auch an die Mitgestaltung von Schulgottesdiensten oder gemeinsamer interkonfessioneller Andachten44 als Beitrag zur gelebten Ökumene. Die »Baustelle orthodoxer Religionsunterricht«45 ist sowohl auf die Zusammenarbeit mehrerer Akteure angewiesen als auch von der Entwicklung und Etablierung mehrerer Bereiche abhängig. Zum ersten Punkt ist 41 Die Bibel in kurzen Erzählungen (s.o. Anm. 35); Orthodoxe Schulbibel. Evangelien, Apostelgeschichte und ausgewählte Psalmen. Zur Verwendung für den orthodoxen Religionsunterricht ab der 5. Schulstufe, hg. im Auftrag des orthodoxen Schulamtes in Österreich, Wien 2015. 42 Vgl. dazu Presseerklärung der Orthodoxen Pfarrkonferenz in München (20.11.2014); Stellungnahme zum Orthodoxen Religionsunterricht. 43 Als Beispiel können die Aussagen des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), zur Orthodoxie in Europa in der Fernsehsendung »ARD-Tagesthemen« vom 29. Januar 2015 genannt werden. Siehe dazu: Offener Brief der OBKD an EU-Parlamentspräsident Schulz. Zuletzt abgerufen am 02.10.2015 von: http://www.obkd.de/Presseinformationen/PM%20Offener%20Brief %20an%20Schulz.pdf 44 Vgl. Beten in ökumenischer Perspektive (s.o. Anm. 31). 45 Vgl. Marina Kiroudi, Baustelle orthodoxer Religionsunterricht. Vortrag am 18. Mai beim 98. Deutschen Katholikentag in Mannheim. In: Ökumenische Information 26. 26. Juni 2012, I‒VI.

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exemplarisch an Eltern und Erziehungsberechtigte zu denken, die hinsichtlich des organisatorischen Unterrichtsrahmens aktiver werden können: Anmeldung zum Unterricht, sich informieren über das bestehende bzw. mögliche Angebot des Faches, Kinder zum Unterricht bringen (falls er an einer anderen Schule stattfindet) sind einige hier zu nennende Aufgaben. Zum zweiten Punkt ist z.B. an orthodoxe Religionspädagogik zu denken, die als eigenständiges theologisches (wissenschaftliches) Fach in Deutschland wenig entwickelt ist.46 Dabei erfordern Lehrerausbildung, Unterrichtsentwicklung oder das Konzipieren von Schulbüchern sowie von Unterrichtsmaterialien wissenschaftliche Unterstützung und Begleitung. Es reicht nicht aus, zu den religionspädagogischen Beiträgen aus den »Heimatländern« der Kirchen zu greifen. Vielmehr ist nach einer eigenständigen Entwicklung der orthodoxen Religionspädagogik zu fragen, einer solchen, die der Lebenswelt der orthodoxen Kinder in Deutschland gerecht wird. Unmittelbare Nachbarschaft zum westlichen Christentum und seiner Theologie ist nicht nur als Herausforderung und Anfrage an die eigene Theologie und religiöse Praxis zu sehen. Sie kann auch als Chance für die Öffnung gegenüber neuen Diskursen47 und für die Stärkung eigener Pluralitätsfähigkeit wahrgenommen werden. Auch umgekehrt können katholische und evangelische Schwesterdisziplinen für sich neue Impulse aus der orthodoxen Theologie erhalten. Dr. des. Yauheniya Danilovich ist Akademische Oberrätin am Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

46 Die Präsenz der orthodoxen Theologie an den deutschen Hochschulen hat bis heute keine institutionelle Unabhängigkeit erfahren. Das heißt, es gibt in Deutschland keine einzige orthodoxe Fakultät. Die Professorenzahl begrenzt sich auf 4 (mit Erfurt 5, wo jedoch Professur nicht konfessionell gebunden ist). Ausführlicheres dazu: Konstantinos Vliagkoftis / Ludger Westrick, Orthodoxe Universitätstheologie (s.o. Anm. 2), 103ff. 47 Ausführlicheres dazu: Vasilios N. Makrides, Orthodoxe Christen in der Migration/Diaspora (s.o. Anm. 7), 136ff.

4.2 Joachim Willems

Russlanddeutscher Protestantismus Ein Thema für Religionsunterricht und Schulen?

Russlanddeutscher Protestantismus – das ist in den gängigen Schulbüchern und Lehrplänen für den Religionsunterricht kein Thema. Und auch außerhalb des (Religions-)Unterrichts wird die Migration von mehr als zwei Millionen (Spät-)Aussiedlern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland in der Regel nicht thematisiert. Sollte sich das ändern? Ja, meine ich, unter bestimmten Voraussetzungen. Denn die Auseinandersetzung mit russlanddeutschem Protestantismus kann zu lernen geben – nicht nur den Schülerinnen und Schülern. 1 Protestantische Russlanddeutsche in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontexten – ein Überblick 1.1 Protestantische Russlanddeutsche im Russischen Reich und in der Sowjetunion Hier ist nicht der Ort, die Geschichte protestantischer Russlanddeutscher im Detail nachzuzeichnen.1 Um aber die Gegenwart zu verstehen, ist es zumindest nötig, an einige historische Stationen zu erinnern. Zunächst die Ursprünge: Lutherische Gemeinden existieren in Russland, seit Ivan IV. den lutherischen Deutschen in russischen Diensten 1576 den Bau einer Kirche gestattete.2 Schon damals galten Konfession und Volkszugehörigkeit als eng aufeinander bezogen. Dies blieb so während und nach den Einwanderungen aus Deutschland ins Russische Reich seit dem späten 18. Jahrhundert: Die Siedler, die dem Ruf Katharinas II. von 1763 gefolgt waren, gründeten ethnisch und konfessionell (lutherisch, reformiert, mennonitisch, katholisch) weitgehend homogene Siedlungen in einem multiethnischen Land, in dem auch andere Volksgruppen mit einer Konfession oder Religion assoziiert wurden (orthodoxe Russen, muslimische Tataren, buddhistische Kalmücken). Diese Religionsgemeinschaften waren zugleich staatlich anerkannt und staatlich kontrolliert, wie die 1832 gegründete EvangelischLutherische Kirche, der auch die reformierten Gemeinden angehörten, mit dem (orthodoxen) Kaiser von Russland als Summus Episcopus an der Spitze. Amtssprache dieser Kirche war das Deutsche, obwohl ihr neben Deutschen (1914 gut eine Million 1 Vgl. dazu z.B. Gerd Stricker, Deutsches Kirchenwesen, in: Gerd Stricker, Deutsche Geschichte im Osten Europas, Band 10: Russland, Berlin 1997, 323–418. 2 Ebd., 326.

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Personen) jeweils über eine Million Letten und Esten, außerdem Finnen (knapp 150.000), Schweden, Litauer und Armenier angehörten.3 Wie andere Religionsgemeinschaften, so waren auch die russlanddeutschen Protestanten Opfer der repressiven Religionspolitik der Bolschewiki. Die Lutherische Kirche etwa war Ende der 1930er Jahre als Institution vernichtet: Keine lutherische Kirche war mehr in gottesdienstlicher Nutzung, alle Pfarreien liquidiert, alle noch lebenden Pastoren verhaftet.4 Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 wurden fast alle Russlanddeutschen deportiert. Von knapp einer Million Deportierten von der Wolga und aus anderen Regionen Russlands überlebte ein Drittel, also ca. 300 000 Menschen, die Strapazen der Umsiedlung nicht.5 In der Folge lebten fast alle Russlanddeutschen seit den 1940er Jahren östlich des Ural und kamen deshalb seit den späten 1980er Jahren nicht von der Wolga, sondern aus Sibirien oder Kasachstan nach Deutschland. Bis 1956 lebten die Deportierten unter besonderer Überwachung in der sog. ›Arbeitsarmee‹ und in Sondersiedlungen. Dort war religiöse Betätigung stark eingeschränkt und höchstens heimlich möglich. Noch in den alten Siedlungsgebieten waren ihnen meist Bibeln und Gesangbücher abgenommen worden. Bibeltexte und Lieder mussten später aus dem Gedächtnis rekonstruiert und handschriftlich weitergegeben werden. Nur kleine religiöse Gruppen konnten zusammenkommen, initiiert in der Regel durch Vertreter von brüdergemeinschaftlichen Konventikeln. Deren pietistische und erweckungsbewegte Frömmigkeit hatte in unterschiedlichen protestantischen Denominationen im 19. Jahrhundert Verbreitung gefunden und wurde nun, im 20. Jahrhundert, zur prägenden Richtung sowohl unter Lutheranern als auch unter Mennoniten.

Die Liberalisierung der Religionspolitik unter Michail Gorbatschow eröffnete den russlanddeutschen Protestanten neue Horizonte – sowohl im Blick auf die Wiedergeburt kirchlichen Lebens als auch aufgrund der Möglichkeit zur Übersiedlung nach Deutschland. Beides änderte die Zusammensetzung etwa der wiedergegründeten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland (ELKRAS) grundlegend: Knapp eine Million lutherischer Russlanddeutscher siedelte in die Bundesrepublik über.6 Einer Untersuchung von 2005 entsprechend,7 lassen sich innerhalb dieser Lutherischen Kirche idealtypisch drei Auslegungen des Lutherischen unterscheiden: (1.) ein ›traditioneller‹ Typ, der den Stil der (lutherischen) Brüdergemeinden fortführt. Diese Personen hatten zum Teil noch Deutsch als Muttersprache gelernt und am Gemeindeleben vor der Perestrojka teil3 Ebd., 348–350. 4 Ol’ga A. Licenberger, Evangeličesko-ljuteranskaja cerkov’ i sovetskoe gosudarstvo, Moskau 1999, 279. 5 Benjamin Pinkus / Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert (bearbeitet und herausgegeben von Karl Heinz Ruffmann), Baden-Baden 1987, 315. 6 Susanne Worbs / Eva Bund / Martin Kohls / Christian Babka von Gostomski, (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht 20, Nürnberg 2013, 28+190f. 7 Joachim Willems, Lutheraner und lutherische Gemeinden in Russland. Eine empirische Studie über Religion im postsowjetischen Kontext, Erlangen 2005.

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genommen. Wie man in der Gegenwart zu leben und zu glauben habe, wird aus der Tradition abgeleitet – nicht mehr unbedingt (nur oder vorrangig) aus der Bibel, wie es in den ›alten‹ Brüdergemeinden vor der Perestrojka üblich gewesen wäre. Die Tradition bindet so Vergangenheit und Gegenwart eng aneinander: »Wie ’ne Zeit dann war, wo der Prediger, oder wie der Pastor Jeremia war, wie ’ne Zeiten dann waren, wie die Städt’ auch ham – wie Gott hat vernicht’ die Städt’ was ungläubig waren, wo die Getzen ham, diese, anjebet’. Nun […], jetz jeht auch so ’ne Zeit. Das Wasser kommt und reißt fort,8 und dann hat Gott auch jestraft und hat auch so ’ne Städte fortje – – jestraft, die Leit. Wollten nich glauben, und ham sich jemacht Getter von Gold und von Silber und ham se anjebeten und Kälber und all sowas. […] Vot, grad Jeremias Zeit, das sind grad so ’ne Strafen, wie jetzt jehen. To samolet razbilsja, to – dieses – navodnenie, to požar9 – all sowas war dann. Da wurden ganze Städte wurden verbrennt, hat Gott von Himmel jelassen Feier und hat verbrennt alles.«10

Gott ist für Vertreter des traditionellen Typs Gesetzgeber und Erzieher, die Menschen werden von ihm für ihr Handeln belohnt oder bestraft. Dazu greift er, supranaturalistisch gedacht, unmittelbar ins Geschehen ein. Die Menschen sollen und können sich für Gott entscheiden. Gott ist nicht nur der Herr, der im Leben des Einzelnen wirkt, sondern Er wirkt auch im Leben des Volkes und Landes. Denn nicht nur Einzelne handeln gerecht oder sündigen, sondern auch ganze Völker. Die Einzelnen und die Völker sind aufgerufen zur Bekehrung und zum Gebet.11 (2.) ein ›ethnischer‹ Typ: Für die Vertreter dieses Typs ist die Zugehörigkeit zur Lutherischen Kirche in Russland deshalb wichtig, weil sie durch das Lutherisch-Sein ihre (sich selbst zugeschriebene) nationale Identität bekräftigen können. Für an das Russische assimilierte Russlanddeutsche ergab sich mit der Liberalisierung der sowjetischen Religionspolitik die Option einer Rückbesinnung auf das eigene Deutschsein, indem man sich in einer lutherischen Kirche taufen ließ und/oder am Gemeindeleben teilnahm. Für die Vertreter dieses Typus ist es deshalb wichtig, dass lutherische Gottesdienste in deutscher Sprache gehalten werden, auch wenn sie selbst kaum ein Wort verstehen. Allerdings bedeutet diese starke Akzentuierung des Nationalen nicht, dass es den Vertretern des ›ethnischen Typs‹ ausschließlich um ihr Deutschtum geht. Wichtig sind auch emotionale Momente und Erfahrungen: Befragte berichten, das Abendmahl gebe »Kraft«, die Predigten würden verändern,

8 Zu dieser Zeit war eine schwere Hochwasserkatastrophe in Sibirien, über die in den Medien viel berichtet wurde. 9 Auf Deutsch etwa: »Ein Flugzeug zerschellt, es gibt eine Überschwemmung, ein Feuer.« 10 Willems, Lutheraner (s.o. Anm. 7), 324. 11 Ebd., 313–337.

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der Gottesdienst von der »weltlichen Hast« ablenken, das »Herannahen an den Herrn« das schmerzende Herz beruhigen.12 (3.) ein ›häretischer‹ Typ: Die Bezeichnung ›häretisch‹ soll hier nicht anzeigen, dass die Vertreter dieses Typs Irrlehren anhängen würden. Vielmehr verweist der Begriff im Anschluss an Peter L. Berger13 darauf, dass unter modernen Bedingungen immer weniger als schicksalhaft empfunden wird, sondern Entscheidungen zwischen verschiedenen Optionen nötig werden. Die Vertreter dieses Typs, zu dem nicht nur Russlanddeutsche gehören, schließen sich lutherischen Gemeinden an, weil ihnen diese Religion attraktiver erscheint als andere Religionen und Konfessionen, weil das Luthertum, so eine Befragte, »meinem Charakter entspricht, für meine Seele, für meinen Kopf [richtig ist]«. Oft geschieht das, nachdem sie zahlreiche andere Glaubensgemeinschaften ›ausprobiert‹ haben: Orthodoxie, Baptismus, Pfingstgemeinden, buddhistische, hinduistische und esoterische Gemeinschaften. Das, was sie für das Luthertum einnimmt, ist oft, dass sie in dieser ›westlichen‹ Konfession eine Glaubensrichtung sehen, die in höherem Maße die Freiheit, die Rechte und die Würde des Individuums respektiere als andere Konfessionen und Religionen. Luthertum steht für sie für eine verständliche und intellektuell anspruchsvolle Predigt, flache Hierarchien, Demokratie statt Autoritarismus, Priestertum aller Getauften, Gleichberechtigung der Geschlechter, Bildung statt Ritualismus, aber auch für die Möglichkeit, Gemeinschaft zu erfahren und Sündenvergebung sola gratia zu erlangen.14 1.2 Protestantische Russlanddeutsche in Deutschland Die meisten Russlanddeutschen sind als Aussiedler oder Spätaussiedler in die Bundesrepublik gekommen oder sind Nachkommen dieser Zuwanderer. Als Spätaussiedler gelten nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) ›deutsche Volkszugehörige‹, die bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllen. Als ›deutscher Volkszugehöriger‹ gilt, »wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird« (§ 6 Abs. 1 BVFG). Ehepartner/innen und Nachkommen eines Spätaussiedlers können ggf. in den Aufnahmebescheid »einbezogen« werden. Mehr als zwei Millionen (Spät-)Aussiedler, die große Mehrheit der Russlanddeutschen, sind nach 1990 so aus den Teilrepubliken der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolge-Staaten nach Deutschland übergesiedelt15. Knapp die Hälfte von ihnen verstehen 12 Ebd., 337–357. 13 Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. 14 Willems, Lutheraner (s.o. Anm. 7), 358–384. 15 Worbs, (Spät-)Aussiedler (s.o. Anm. 6), 21–28.

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sich als evangelische Christen (davon die meisten lutherisch, ca. 15% der Spätaussiedler als Baptisten, Mennoniten, Pfingstler oder Adventisten), 19% orthodox und 17% römisch-katholisch. Damit liegt der Anteil an Christen bei über 80%16. In der Gruppe der Orthodoxen sind die mitreisenden Familienangehörigen, die selbst keine deutschen Vorfahren haben, vermutlich deutlich überrepräsentiert. Mit Blick auf diejenigen Familien, die schon vor ihrer Übersiedlung nach Deutschland der Lutherischen Kirche in Russland angehört haben, kann man vermuten, dass der ›traditionelle Typ‹ und die Brüdergemeinden langsam verschwinden bzw. quantitativ noch weniger ins Gewicht fallen werden als schon in den 1990er Jahren.17 Für den ›ethnischen Typ‹ verliert das Lutherisch-Sein in Deutschland seine Funktion als ethnischer Identitätsmarker. Der ›häretische Typ‹, zu dem größtenteils keine Russlanddeutschen gehören, fällt innerhalb der Evangelischen Kirche von Deutschland kaum als eine spezifische Prägung auf. Die meisten russlanddeutschen Kinder und Jugendlichen sind »weder in der Familie noch in einer Gemeinde oder Schule religiös erzogen« worden.18 Etwas anders mag es sich mit Blick auf die russlanddeutschen Mennoniten verhalten, von denen sich immerhin ein knappes Drittel in Gemeinden mit täuferisch-mennonitischem Charakter zusammengeschlossen hat.19 Diese russlanddeutschen Gemeinden werden als weitgehend in sich geschlossene Gemeinschaften beschrieben, die sich von der ›gottlosen‹ Welt abzugrenzen versuchen »Die christliche Erziehung der Kinder wird in einer gottfernen Welt als eine besondere Aufgabe aufgefasst, die den Eltern von Gott aufgetragen ist. Die Lehrpläne an staatlichen Schulen werden, vor allem wegen des Unterrichts in Sexualkunde, kritisiert. […] Aus diesem Grunde haben die Aussiedler in Ostwestfalen fünf Privatschulen errichtet, an denen nach

16 Ebd., 190f. 17 Graßmann arbeitet exemplarisch für den Kirchenkreis Emsland-Bentheim heraus, dass die Brüdergemeinden innerhalb und außerhalb der Landeskirche »eher klein und überaltert« sind. Nimmt man Graßmanns aufwändig recherchierte Zahlen, dann kommt man auf höchstens 700 Mitglieder von Brüdergemeinden bei ca. 20 000 lutherischen Russlanddeutschen im Kirchenkreis. Hinzu kommen ggf. Vertreter/innen des ›traditionellen Typs‹, die sich keinen Brüdergemeinden angeschlossen haben. Diese Personen werden kaum ihre spezifischen religiösen Prägungen an die folgenden Generationen weitergeben. Walter Graßmann, Geschichte der evangelischlutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dokumentenserver der Universitätsbibliothek München 2006, 556–561. 18 Stefanie Theis, Religiosität von Russlanddeutschen, Stuttgart 2006, 228. 19 Diether Götz Lichdi, Mennoniten, in: Lothar Weiß (Hg.), Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen 2013, 96.

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den staatlichen Lehrplänen von christlichen ›wiedergeborenen‹ Lehrern unterrichtet wird.«20 Dass man aber auch in russlanddeutschen täuferischen Gemeinden mit einer Vielzahl an Lebensentwürfen von Jugendlichen rechnen muss, zeigt Arne Schäfer unter anderem am Beispiel eines Jugendlichen, der Gott mit HipHop loben will und sich gegen Widerstände in seiner Gemeinde durchzusetzen versucht.21 Schäfer kommt zu dem Fazit: »Die biografischen Jugendporträts verdeutlichen, dass sich die christliche ›Normalbiografie‹ entstrukturiert und in unterschiedliche Entwicklungswege und Zukunftsperspektiven ausdifferenziert. Die Entstrukturierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse führen dazu, dass die Normalbiografie langfristig nur noch als normatives Leitbild bestehen bleibt, das von vielen Jugendlichen entweder nicht mehr eingelöst werden kann oder erst gar nicht mehr angestrebt wird.«22

2 Russlanddeutsche Protestantismen in bundesdeutschen Schulen? 2.1 Personen mit russlanddeutschem Hintergrund in bundesdeutschen Schulen – als solche kennzeichnen? Genaue Zahlen dazu, wie viele Personen mit russlanddeutschem Hintergrund in bundesdeutschen Schulen sind – sei es als Schüler, als Lehrer oder in einer anderen Funktion, liegen nicht vor. Es stellt sich mir auch die Frage, wie aussagekräftig eine solche Statistik wäre: Sie wäre es ja nur dann, wenn man unterstellt, dass die Gruppe der Russlanddeutschen in sich zu einem gewissen Grad einheitlich ist (oder zumindest aus in sich einigermaßen homogenen Gruppen besteht) und sich zugleich von der Gruppe der ›anderen‹ Deutschen unterscheidet. Die Darstellung oben sollte gezeigt haben, dass das nicht der Fall ist. Dies gilt erst recht, wenn man in Betracht zieht, dass 25 Jahre nach dem Beginn der massenhaften Übersiedlung nach Deutschland die Schülerinnen und Schüler mit russlanddeutscher Familiengeschichte in der Regel in Deutschland geboren worden sind – wie vielleicht schon ihre Eltern. Vielleicht kann man deshalb die Frage besser so formulieren: Wann, wie, warum und von wem werden (protestantische) Russlanddeutsche in bundesdeutschen Schulen als (protestantische) Russlanddeutsche sichtbar (gemacht)? Gefragt wird dann danach, wann und wie eine quasi-ethnische und ›kulturelle‹ Zuschreibung zur Erklärung von Phänomenen verwendet wird. Dies entspricht einem migrationspädagogischen Ansatz, der »die durch Migrationsphänomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen« in den Blick nimmt und fragt, »wie diese Ordnungen in Bildungskontexten wiederholt und produziert, aber auch 20 Ebd., 102. 21 Arne Schäfer, Zwiespältige Lebenswelten. Jugendliche in evangelikalen Aussiedlergemeinden, Wiesbaden 2010, 136. 22 Ebd., 248.

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problematisiert und verschoben werden«.23 Meine Vermutung ist, dass die allermeisten russlanddeutschen Herkünfte in den Schulen unsichtbar bleiben – entweder, weil sie gar nicht erst bemerkt und auch von den ›Betroffenen‹ nicht thematisiert werden, oder, weil sie nicht bzw. nur in ganz seltenen Situationen von Belang sind. Deshalb ist es gerade aufschlussreich, einen der wenigen ›Fälle‹ genauer zu betrachten, in dem das Thema ›Russlanddeutsche Protestanten in bundesdeutschen Schulen‹ öffentlich diskutiert wurde. Im November 2007 berichtete DER SPIEGEL: Im Kreis Paderborn hatten sich mehrere Familien geweigert, ihre Kinder in öffentliche Schulen gehen zu lassen, und dies vor allem damit begründet, dass der Sexualkunde-Unterricht ihrem Glauben widerspreche. Die Eltern entschieden sich letztlich dafür, ihre Kinder auf eine konfessionelle »Ersatzschule« in Baden-Württemberg zu schicken. Nur eine Familie zog, mit Einwilligung des Jugendamtes, nach Österreich, um sich der deutschen Schulpflicht zu entziehen. In Österreich unterrichtete die Mutter ihre Kinder selbst, genehmigt von den zuständigen österreichischen Behörden auf Antrag des Jugendamtes der Stadt Paderborn.24 Die Personen, um die es hier geht, werden schon zu Beginn des Artikels als »Spätaussiedler« gekennzeichnet, die »aus Kasachstan nach Deutschland« gezogen sind und »der freikirchlich-evangelischen Glaubensgemeinschaft der Baptisten« angehörten. Diese Informationen werden im Artikel dadurch gerahmt, dass die Verweigerung des Schulbesuchs in den Kontext ›strenger‹ Religiosität (ohne Bezug zu russlanddeutscher Herkunft) gestellt wird: Erwähnt wird »ein bibelfrommes Elternpaar in Hamburg«, »ein strenggläubiges hessisches Ehepaar« und die »jahrelange[n] Auseinandersetzungen mit der urchristlichen Gemeinschaft ›Zwölf Stämme‹«. Eine weitere Rahmung wird dadurch vorgenommen, dass der Innenpolitiker Hans-Peter Uhl (CSU) mit den Worten zitiert wird: »Wir sind froh über jeden Richterspruch, der Ernst macht mit dem Integrationsprinzip ›fordern und fördern‹.« Wer sich aber »widersetze, müsse Sanktionen erfahren«. Damit nimmt Uhl eine Formulierung des Bundesgerichtshofs zu diesem Fall auf: »Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, dass sich keine religiös oder weltanschaulich geprägten Parallelgesellschaften bildeten […]. Integration setze voraus, dass religiöse oder weltanschauliche Minderheiten sich nicht dem Dialog mit Andersdenkenden verschließen«.25 23 Paul Mecheril u.a., Migrationspädagogik, Weinheim und Basel 2010, 16. 24 Markus Flohr, Schulboykott: Baptisten-Eltern verlieren Sorgerecht, in: DER SPIEGEL, 16.11.2007, online unter: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/ schulboykott-baptisten-eltern-verlieren-sorgerecht-a-517836.html. 25 Uhl, zit. in ebd.; Uhl bezieht sich auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs, Aktenzeichen XII ZB 41/07, vom 11.09.2007, Absatz 9, online unter: http://juris. bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en& sid=485e9e31b8d00d487e187c6082b18b47&nr=41775&pos=2&anz=3.

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Diese Aussagen stellen den Fall in den Kontext von Diskursen um ›Leitkultur‹ und ›Integrationsprobleme‹. Suggeriert wird damit, die aus dem Ausland ›mitgebrachte‹ Religion und Kultur sei mit in Deutschland geltenden Normen nicht zu vereinbaren. Ob es sich dabei um kulturelle, religiöse oder rechtliche Normen handelt, bleibt offen. Angesichts der in Art. 4 Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit ist diese Unterscheidung nicht nebensächlich: Ob religiöse Selbst-Segregation zulässig ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob jemand eine migrantische Familiengeschichte hat (zumal es sich wahrscheinlich um deutsche Staatsbürger handelt), sondern davon, ob gegen Gesetze verstoßen wird. Die zitierten Äußerungen aber suggerieren, dass religiöse Selbst-Segregation per se illegitim und zudem eine Verhaltensweise speziell von Zuwanderern sei. Damit wird ein Bild von Aussiedlern produziert, das an Bilder von ›Ausländern‹, Personen mit ›Migrationshintergrund‹ und speziell von Muslimen erinnert: Auch der medial weit verbreitete Topos der ›strengen‹ Muslime, die ihren Kindern, insbesondere den Töchtern, die Teilnahme am Sexualkunde-, Sport- und Schwimm-Unterricht und an den Klassenfahrten verbieten, vermittelt Vorstellungen von Muslimen auf eine Art und Weise, die diese Muslime als die im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft ›Anderen‹ inszeniert, auch wenn es sich bei den genannten Verhaltensweisen nach Zahlen der Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« um seltene Ausnahmen handelt.26 Man kann diese Art des Umgangs mit Migration auch als einen Akt der Arbeit an Selbstbildern verstehen: Indem in einem bestimmten Diskurs »Migrationsandere«27 als diejenigen gezeichnet werden, die sich als streng-religiöse Menschen nicht ›integrieren‹ wollen, inszeniert dieser Diskurs die ›eigene‹ bundesdeutsche Gesellschaft als ›modern‹, ›aufgeklärt‹, ›gemäßigt‹, ›gebildet‹.

Hier wird ein Problem deutlich, das bedacht werden muss, wenn man die russlanddeutsche Herkunft von Schülern oder auch Lehrern zum Thema macht: Durch die Kennzeichnung als ›russlanddeutsch‹ werden Personen in einen Kontext von Bildern gestellt, die die Massenmedien von dieser Gruppe verbreiten. Denn Bilder von und für eine Gruppe entstehen durch die Informationen, die wir über diese Gruppe bekommen. Solche Informationen sind immer gedeutete Deutungen, die auf eine bestimmte Art gerahmt sind. Für alle, die keine oder kaum persönliche Kontakte mit Russlanddeutschen haben (oder für die bei solchen Kontakten die Zuschreibung ›russlanddeutsch‹ nicht von Relevanz ist), sind die Massenmedien die Quelle, aus der sich ihre Bilder speisen – sei es unmittelbar oder mittelbar, weil man sich mit anderen Personen austauscht, die ihrerseits Bilder in Auseinandersetzung mit massenmedial vermittelten Bildern konstruieren. Vor diesem Hintergrund führt Berichterstattung, die systematisch bestimmte, nicht-repräsentative Einzelfälle hervorhebt, zu 26 Vgl. Sonja Haug / Stephanie Müssig / Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Hg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Forschungsbericht 6), Nürnberg 2009, 183–185. 27 Mecheril, Migrationspädagogik (s.o. Anm. 23), 17.

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gruppenbezogenen Stereotypen; Verhaltensweisen von Einzelnen, die vom üblichen Handeln der Gruppe abweichen, werden dennoch der ganzen Gruppe als ›typisch‹ zugeschrieben. Der SPIEGEL-Artikel, der für sich genommen keinesfalls fremdenfeindlich ist, wirkt so mit an der Produktion von Bildern von Russlanddeutschen, von Baptisten, von ›StrengReligiösen‹, er ordnet diese Bilder mit bestimmten Interpretamenten und verbindet sie mit Begriffen, die Assoziationen von Fremdheit aufrufen (»Kasachstan«).28 Deshalb ist es nicht trivial darauf hinzuweisen, dass man über eine Schülerin oder eine Lehrerin noch nichts weiß, wenn man weiß, dass ihre Familie einen russlanddeutschen Hintergrund hat. Zugleich aber werden diese Personen anders betrachtet werden, wenn sie als ›russlanddeutsch‹ gekennzeichnet werden. Professionell in Schulen tätige Personen müssen dies reflektieren: Welche Bilder werden aufgerufen, wenn jemand als ›russlanddeutsch‹ bezeichnet wird: Fremde, die sich nicht integrieren wollen, kriminelle Jugendliche – oder (auch) die in Sibirien geborene Helene Fischer? Wie werden solche Bilder expliziert, reflektiert, bearbeitet? Die Thematisierung von religiöser und kultureller Diversität und Differenz steht immer in der Spannung, einerseits die/den/das ›Andere(n)‹ als ›anders‹ zu würdigen und damit Pluralität anzuerkennen – und andererseits die/den/das ›Andere(n)‹ zum ›Anderen‹ zu machen und dadurch auszugrenzen, dass er/sie/es im Unterschied zum ›Eigenen‹ definiert wird. 2.2 Russlanddeutsche Protestantismen als Thema in bundesdeutschen Schulen Diese Spannung gilt es auch im Blick zu behalten, wenn man russlanddeutsche Protestantismen im Unterricht oder auch in der Schule außerhalb des Unterrichts thematisiert. Schon die Verbindung von ›russlanddeutsch‹ und ›Protestantismus‹ suggeriert ja Unterschiede zu ›dem‹ bundesdeutschen Protestantismus. Das ist schon deshalb problematisch, weil sich die protestantischen Prägungen der meisten Schülerinnen und Schüler russlanddeutscher Abstammung in Deutschland nicht von den protestantischen Prägungen ihrer nicht-russlanddeutschen Mitschülerinnen und Mitschüler unterscheiden dürften. Und selbst wenn sie sich unterscheiden sollten, stellt sich die Frage, in welchen Kontexten es ange28 Auch die Forschung ist im Übrigen an der Produktion von Bildern über ›Andere‹ beteiligt. So macht Walter Graßmann darauf aufmerksam, dass sich die Forschung über russlanddeutsche Protestantismen schwerpunktmäßig auf Freikirchen und lutherische Brüdergemeinden konzentriert, obwohl diese keinesfalls die Mehrheit der Russlanddeutschen repräsentieren; Graßmann, Geschichte (s.o. Anm. 17), 36. Aber auch eine Reihe von an sich gründlichen, differenzierten Studien kann in der Summe zu dem Bild beitragen, dass ›die Russlanddeutschen‹, soweit sie religiös sind, vor allem traditionell, ja fundamentalistisch seien.

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messen ist, diese Unterschiede speziell mit Verweis auf das ›Russlanddeutsch-Sein‹ zu erklären. Denn damit wird dieser Schüler, diese Schülerin möglicherweise symbolisch exkludiert. Vielleicht bietet sich im jeweiligen Kontext auch eine andere Strukturierung des Feldes an: Geht es mit Blick auf ein bestimmtes Phänomen wirklich um die Unterscheidung ›russlanddeutsch‹ – ›autochthon deutsch‹? Oder geht es um unterschiedliche Bibelhermeneutiken? Frömmigkeitsstile? Normative Konzepte von Tradition? Identitätspolitiken? Sollte dann überhaupt in Schulen über russlanddeutsche Protestantismen gesprochen werden? Und wie könnte dieses Thema konstruktiv und produktiv in der Schule gerahmt werden? Ich sehe in der Thematisierung von russlanddeutschen Protestantismen zunächst die Chance, eine euro- und germanozentrische Verengung des Blickwinkels im Religionsunterricht zumindest ansatzweise zu überwinden und zu reflektieren. Schaut man sich die kirchengeschichtlichen Teile von evangelischen Schulbüchern an (oder auch die entsprechenden Inhalte im Theologie-Studium), dann fällt auf, dass das Christentum in den ersten Jahrhunderten als mediterranes Phänomen erscheint und im Mittelalter als ›lateinische‹ Angelegenheit. Mit dem 16. Jahrhundert verengt sich der Blick und konzentriert sich weitestgehend auf Deutschland.

Die Beschäftigung mit Christentum außerhalb dieser Grenzen kann dafür sensibilisieren, andere Auslegungen des Christentums wahrzunehmen und als legitim anzuerkennen, indem deren geschichtliche und kulturelle Kontingenz erkannt wird. So wird es möglich, Selbstverständlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft zu relativieren und zu überdenken: Was bedeutet es in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten, ›deutsch‹ zu sein? Welche Bedeutung kann Religion in einem multikulturellen Kontext (in Deutschland und in Russland) für Selbstund Fremddefinitionen haben? Und: Wer verwendet ethnische und konfessionelle Selbst- und Fremdzuschreibungen mit welchen Interessen und mit welchen Folgen? Wie lösen sich Zuschreibungen auf, wenn man genauer betrachtet, um wen es sich bei der vermeintlich in sich homogenen Gruppe von Russischsprachigen in Deutschland handelt: Angehörige unterschiedlicher christlicher Traditionen, Agnostiker, Atheisten – aus Russland, Kasachstan, Tadschikistan –, Russlanddeutsche, mit ›deutschen Volkszugehörigen‹ verheiratete Personen, Personen aus ethnisch teils höchst heterogenen Familien, jüdische ›Kontingentflüchtlinge‹ und ihre Nachkommen, ukrainische Arbeitsmigranten unterschiedlichster Bildungsniveaus und Berufe, russische Austausch-Studenten, politische Flüchtlinge aus Tschetschenien (oder ihre Nachkommen)? Inwiefern stimmt die Vorstellung von ›Globalisierung‹ und ›Migration‹ als Phänomene des späten 20. und des 21. Jahrhunderts angesichts der Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und Russland und angesichts der wechselseitigen Kulturtransfers? Wie stellt sich die Erwartung von Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft dar, dass sich Migranten assimilieren sollten, angesichts der Formulierung im Bundesvertriebenengesetz, die gerade davon ausgeht, dass sich ›deutsche Volkszugehörige‹ legitimerweise über Jahrhunderte nicht assimiliert haben? Welche der deutschen Migranten ins Russlän-

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dische Reich waren eigentlich Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge? Was bedeutet ›Parallelgesellschaften‹ mit Blick auf die deutschen – auch die mennonitischen – Kolonien in Russland?29

Kommen solche Fragen in den Blick, dann geht es zwar auch um eine kirchengeschichtliche Beschäftigung mit Christentum außerhalb Deutschlands. Zugleich aber geht es um die bundesdeutsche Gesellschaft als Migrationsgesellschaft, um eine Selbstaufklärung über eigene Bilder von ›den Anderen‹, über ›die Anderen‹ unter uns und ›das Andere‹ in uns, Spuren von Migration und Differenz bei denen, die unhinterfragt dazugehören, und um Vertrautes im vermeintlich Fremden – kurz, um eine Dekonstruktion von Bildern und von Grenzziehungen. Dr. Dr. Joachim Willems ist Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

29 Ähnliche Fragen stellen sich ja auch mit Blick auf muslimische Schülerinnen und Schüler mit und ohne migrantische Familiengeschichte. Gelungen erscheint mir vor diesem Hintergrund der Einstieg in das Kapitel zum Islam im Schulbuch RELi+wir; Ilka Kirchhoff / Siegfried Macht / Helmut Hanisch (Hg.), RELi+wir, Schuljahr 5–7, Göttingen 2007, 87ff. Das ganze Schulbuch personalisiert die Auseinandersetzung mit den Themen des RU: Zwei Schüler und eine Schülerin bringen jeweils ihre Sichtweisen ein. Einer dieser Schüler, Erkan, ist türkeistämmiger Muslim. Wir, die wir mit dem Buch arbeiten, kennen Erkan deshalb schon als individuelle Person, bevor seine Religion im Islam-Kapitel thematisiert wird. Der Einstieg in das Kapitel geschieht über eine Postkarte, die Erkan von seinem Großvater aus Istanbul bekommen hat und die seine Mitschülerin Lisa findet. In diesem Kontext können ethnische und religiöse Zugehörigkeiten und Zuschreibungen auf produktive Weise zur Sprache kommen und werden so reflektierbar: Inwiefern sind Erkan und die unterschiedlichen Generationen in seiner Familie ›türkisch‹ oder ›deutsch‹? Die Religion kommt erst in einem zweiten Schritt ins Spiel mit Erkans Aussage: »Istanbul ist nicht mein Zuhause. Wenn du es unbedingt wissen willst: Der Islam ist mein Zuhause« (90).

4.3 Henrik Simojoki / Annette Scheunpflug

Ökumenische Bildung im Horizont des globalen Christentums Am Beispiel des Projektes »500 Schulen – eine Welt« 1 Zur Zusammengehörigkeit der »kleinen« und »großen Ökumene« in ökumenischen Lernprozessen im Religionsunterricht Der Gesamtzusammenhang von Ökumene und Religionsunterricht ist allein schon deshalb nicht leicht zu bestimmen, weil unter Ökumene theologisch wie religionsdidaktisch Verschiedenes verstanden werden kann. Grob typisierend kann man zwischen zwei dominanten Verwendungsvarianten des Begriffs unterscheiden: Ein weiterer Sprachgebrauch bezieht den Verantwortungshorizont der Ökumene – dem griechischen Ursprungswort gemäß – auf die eine, vielfältig gefährdete Welt, ein engerer – der Alltagsbedeutung des Begriffs folgend – auf das eine, vielfältig fraktionierte Christentum. In dem einen Fall bilden globale Menschheitsprobleme den maßgeblichen Bezugspunkt, in dem anderen steht das Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander im Vordergrund. Weil der ökumenische Referenzrahmen bei der erstgenannten Spielart weiter reicht als bei der zweiten, wird sie in der gegenwärtigen ökumenischen Debatte oft als »große Ökumene« bezeichnet und gleichzeitig, was nicht ganz glücklich ist, von der »kleinen Ökumene« innerchristlicher Verständigung und Einheitssuche abgehoben. Diese zwei Ebenen spiegeln sich auch in der religionspädagogischen Forschung unmittelbar wider. Die pädagogischen Implikationen der »großen Ökumene« stehen im Zentrum der in vielerlei Hinsicht von Ernst Lange inspirierten Debatte um »ökumenisches Lernen«, die im Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der gleichnamigen EKD-Arbeitshilfe von 1985 ihren Höhepunkt erlebte und danach unverkennbar abgeebbt ist.1 Derzeit wird die ökumenische Diskussion in der deutschsprachigen Religionspädagogik jedoch klar von Fragen und Herausforderungen der »kleinen Ökumene« dominiert. Religionsdidaktisch kulminiert diese Akzentverlagerung im ökumenischen Projekt eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts, das in einem nun schon mehrere Jahrzehnte übergreifenden Prozess kontinuierlicher Zusammen1 Vgl. als Überblick Henrik Simojoki, Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft (PThGG 12), Tübingen 2012, 254–263.

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arbeit umfassend konzeptionell reflektiert, empirisch erforscht und auch evaluiert worden ist.2 Überhaupt steht die Wissenschaftskultur der deutschsprachigen Religionspädagogik seit Längerem im Zeichen ökumenischer Durchlässigkeit: Als Gottfried Bitter, Rudolf Englert, Gabriele Miller und Karl Ernst Nipkow vor 14 Jahren ihr »Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe« vorlegten, wurde die ökumenische Ausrichtung dieses Grundlagenwerks von den Herausgebenden nicht als bahnbrechende Innovation inszeniert, sondern als organische Konsequenz einer bereits damals »selbstverständliche[n] Ökumene zwischen der evangelischen und katholischen Religionspädagogik«3 aufgefasst. Seitdem hat sich die ökumenische Zusammenarbeit auf diesem Feld weiter intensiviert, so dass die jüngste Gesamtentwicklung der religionspädagogischen Theorie und Praxis einen eindrücklichen Gegenbeleg gegen das über diesen Zeitraum oft gefällte Verdikt einer »ökumenischen Eiszeit« liefert. Freilich muss aber auch erkannt werden, dass diese erfreuliche Dynamik Fokussierungen einschließt, die gleichzeitig auch Ausblendungen markieren: – Erstens beschränkt sich die ökumenische Annäherung der letzten Jahrzehnte weitgehend auf die evangelisch-katholische Wechselwirkung in Wissenschaft, Schule und Gemeinde. Auf den ersten Blick erscheint diese Konzentration naheliegend, wird doch die gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Situation in Deutschland seit der Reformation maßgeblich durch die Ko-Präsenz dieser beiden Konfessionen geprägt. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch bemerkenswerte Verschiebungen im konfessionellen Gesamtbild, die noch deutlicher werden, wenn man jüngere und jüngste Migrationsströme nach Deutschland in die Betrachtung mit einbezieht. In den Jahren 2014 und 2015 war Syrien mit großem Abstand das zugangsstärkste Herkunftsland der Asyl- und Flüchtlingsmigration,4 während bei der EU-internen Freizügigkeitsmigration Rumänien an der Spitze steht.5 Was diesen Ländern gemeinsam ist: Die Christinnen und Christen, 2 Zum gegenwärtigen Stand vgl. Friedrich Schweitzer, Kooperativer Religionsunterricht: Stand der Entwicklung – Realisierungsformen und Verbreitung – Zukunftsperspektiven, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 65 (2013), 25–33. 3 Gottfried Bitter / Rudolf Englert / Gabriele Miller / Karl Ernst Nipkow, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 13–18, 14. 4 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe: Oktober 2015, abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl. html?nn=1694460 (Zugriff am 22.11.2015). 5 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland. 1. Halbjahr 2015, abrufbar unter: www. bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/freizuegigkeitsmonitoring-jahresbericht-2015.html?nn=2080452 (Zugriff am 22.11.2015).

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die dort leben, sind mehrheitlich weder evangelisch noch katholisch. Bereits jetzt ist die Konfessionslandschaft in Deutschland deutlich bunter, als es die religionspädagogische Diskussion vermuten lässt. Auch wenn Vorausgriffe in die Zukunft riskant sind, spricht doch vieles dafür, dass sich diese Auffächerung künftig weiter fortsetzen wird, zuungunsten besonders des Protestantismus, der lediglich in seinem freikirchlichen Segment Zuwächse verzeichnen dürfte. – Die zweite Engführung ist wiederum kontextueller Art. Noch immer dominiert in der wissenschaftlichen Literatur zum Religionsunterricht wie auch in aktuellen Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien die Tendenz, das Christentum stillschweigend mit seinen (west)europäischen Varianten zu identifizieren. Auch dort, wo Lernprozesse ökumenisch angelegt werden, herrscht oft eine generalisierende Rede von konfessionellen Gemeinsamkeiten und Differenzen vor. Letztlich aber spiegeln sich in dem, was in den gängigen Zuschreibungen als »typisch katholisch«, »typisch evangelisch« oder auch »typisch christlich« gekennzeichnet wird, die hiesigen Verhältnisse wider, während die vielfach ganz anders gelagerten Dynamiken im globalen religiösen Feld zumeist außen vor bleiben. Die Verzerrungen, die sich daraus ergeben, lassen sich besonders gut am Beispiel der Pfingstbewegung veranschaulichen: Während die gegenwärtige Religionsforschung davon ausgeht, dass bis zu ein Viertel des weltweiten Christentums pfingstlich-charismatisch geprägt ist,6 spielt diese Strömung, die ihre Wachstumszentren in Afrika, Asien und Lateinamerika hat, kaum eine Rolle in der religionsdidaktischen Theorie und Praxis im deutschsprachigen Raum. – Naturgemäß wirken sich diese Blickwinkelverengungen auch auf den thematischen Horizont aus, in dem Ökumene religionsdidaktisch verhandelt wird: Jedenfalls fällt auf, dass die für den oben erwähnten Diskurs um ökumenisches Lernen ausschlaggebende Leitperspektiver globaler Gerechtigkeit und Solidarität in neueren Lehrplänen wie in der ökumenebezogenen Unterrichtsmaterialen und Praxisentwürfen tendenziell in den Hintergrund getreten ist. Im Anschluss an eine neue Unterrichtshilfe, die dieser Tendenz zuwiderläuft, ließe sich formulieren, dass die »Suche nach christlicher Gemeinschaft« in der gegenwärtigen Religionsdidaktik eher nicht im Bezugsrahmen der »einen Welt« verhandelt wird.7 Demgegenüber zielt der vorliegende Aufsatz auf den Nachweis, dass beide Zielhorizonte – die Einheit des Christentums und das Wohl der Einen Welt – in ökumenischen Bildungsprozessen konstitutiv aufeinan6 Vgl. Michael Bergunder, Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, in: Ders. / Jörg Haustein (Hg.), Migration und Identität. Pfingstlich-charismatische Migrationsgemeinden in Deutschland, Frankfurt a.M. 2006, 155–169, 163. 7 Marita Koerrenz, Ökumene Lernen. Auf der Suche nach christlicher Gemeinschaft in der einen Welt, Göttingen 2014.

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der verwiesen sind, die »kleine Ökumene« nur in ihrem Zusammenhang der »großen« religionsdidaktisch angemessen zur Darstellung kommt.8 2 Solidarität und Differenzsensibilität. Religionsdidaktische Perspektiven an Beispiel des Projekts »schools500reformation« 2.1 Ökumenisches Lernen im Welthorizont – Eckdaten des Projekts Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim haben vorgeschlagen, bei der Erforschung des Zusammenhangs von Globalisierung und generationalem Wandel zwischen Beobachterperspektive und Akteursperspektive zu differenzieren. Im Unterschied zur sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive, die »Generationen in einem globalen Bezugsrahmen erforscht«, fragt die Akteursperspektive danach, wie Kinder und Jugendliche »sich in einem globalen Bezugsrahmen selbst verstehen«9. Mit gewissen Einschränkungen lässt sich diese Unterscheidung auch auf die religionsdidaktische Auseinandersetzung mit der Globalisierung des Christentums übertragen. Man kann den globalen Gestaltwandel der christlichen Religion von außen beobachten, im Anschluss an aktuelle Daten und Theorien der Religionssoziologie,10 um anschließend den religionspädagogischen Implikationen dieser Transformationen nachzugehen.11 Man kann aber auch die Sichtweisen junger Christinnen und Christen zum Ausgangspunkt nehmen, um von dort aus Perspektiven für eine subjektorientierte Bildung zu entwickeln. Dieser Beitrag geht den letztgenannten Weg, indem er sich an der Subjektdienlichkeit ökumenischer Lernprozesse ausrichtet. Es geht also um die Frage, inwiefern es heutigen Schülerinnen und Schülern zugutekommt, im Religionsunterricht den Welthorizont der christlichen Ökumene zu erschließen. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet das internationale ökumenische Projekt »schools500reformation«. Inspiriert durch das 500. Jubiläum der Reformation im Jahr 2017, zielt diese Initiative darauf, 8 Vgl. zu einer theoretischen Fundierung Barbara Asbrand / Annette Scheunpflug, Zum Verhältnis von interreligiösem, interkulturellem, ökumenischem und globalem Lernen, in: Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch interreligiöses Lernen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, 268–281. 9 Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Generation global und die Falle des methodologischen Nationalismus. Für eine kosmopolitische Wende in der Jugendund Generationensoziologie, in: Dirk Villányi / Matthias D. Witte / Uwe Sander (Hg.), Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim/München 2007, 55–74, 56. 10 Vgl. als Zusammenfassung Theodor Ahrens, Zur Zukunft des Christentums, Frankfurt a.M. 2009. 11 Vgl. Henrik Simojoki, Die Ungleichzeitigkeit religiösen Wandels – Globalisierung, in: JRP 30 (2014): Religionspädagogik in der Transformationskrise. Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014, 23–32.

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evangelische Schulen weltweit miteinander zu vernetzen und Austauschprozesse zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen dieser Schulen zu initiieren.12 Herzstück des Projekts ist eine digitale Internetplattform, über die evangelische Schulen aus verschiedenen Kontinenten, Ländern und Konfessionskontexten ihren Alltag und ihren Glauben teilen, gemeinsame Aktionen entwickeln, Partnerschaft leben, miteinander feiern und Solidarität üben können. Die symbolische Zielmarke von 500 Schulen konnte bereits im September 2015 überschritten werden – mit einer denominationalen Vielfalt, die die Pluralität des globalen Christentums voll abbildet. Wer die Startseite www.schools500reformation.net anklickt, bekommt eine Weltkarte zu sehen – und erlebt erst einmal eine Überraschung: Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Schulen stammt aus SubsaharaAfrika. Auf Länderebene ist die Demokratische Republik Kongo (CD) am stärksten vertreten, ein riesiges Land, von dem viele Schülerinnen und Schüler in deutschen Klassenzimmern noch nie gehört haben dürften und das wohl auch manche Lehrkräfte erst nach einigem Suchen auf dem Globus finden würde. Hätten sie sich aber vorher mit der globalen Topographie des Evangelischen Schulwesens vertraut gemacht, wäre die Überraschung um einiges geringer oder gar ganz anders ausgefallen. Im September 2015 waren in der Demokratischen Republik Kongo über 19 400 Evangelische Schulen registriert, im Vergleich zu 1222 Schulen in Deutschland13 – ein proportionales Ungleichgewicht, das die herkömmlichen Intuitionen hinsichtlich von Zentrum und Peripherie der christlichen Welt kräftig durcheinanderschüttelt. Offenbar sprechen bereits die nackten Zahlen dafür, dem südlichen Christentum religionsdidaktisch mehr Aufmerksamkeit zu zollen. Während etwa in der Wirtschaftslehre und ökonomischen Bildung China als globaler Wachstumsmotor verstärkt Beachtung findet und in der Politikdidaktik kein Weg an den Vereinigten Staaten vorbeiführt, bleiben die Wachstumszentren des globalen Christentums im Religionsunterricht immer noch seltsam unterbelichtet. Noch deutlicher werden die die didaktischen Potenziale der im Projekt angestrebten Horizonterweiterung, wenn man auf der Seite weiterklickt und in dem Bereich »Didactic tools« stöbert. In Vorbereitung des Jahresschwerpunktes 2016 – »Take responsibility and speak up globally and locally!« – wurden Schülerinnen und Schüler der beteiligten Schulen im Sommer 2015 dazu ermutigt, ihre Stimme zu erheben und – wie seiner12 Das Projekt wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem ComeniusInstitut, dem Internationalen Verband für Christliche Erziehung und Bildung, Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Verus (Zentrum für protestantische Schulen in den Niederlanden) und weiteren evangelischen Kirchen und Einrichtungen getragen, von EKD verantwortet und von der Universität Bamberg aus koordiniert. 13 Siehe http://www.evangelische-schulen-in-deutschland.de/api/index.php (Zugriff am 21.11.2015).

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zeit Martin Luther – Thesen für eine bessere Zukunft zu formulieren.14 Sie sollten ihren Protest gegen Missstände in der heutigen Welt, Kirche und Schule in Worte fassen und für alle drei Kontexte Vorstellungen einer besseren Zukunft entfalten. Nach einem erfreulichen Rücklauf besonders aus Afrika und Europa wurden die bis dahin eingesandten Thesen am 16.10.2015 auf der Konferenz »500 Protestant Schools – One World« in Wittenberg erstmals vorgestellt und – in einer Art Zwischenbilanz – von Schulleiter/innen und weiteren pädagogischen Verantwortungsträger/innen aus 24 Ländern intensiv diskutiert.15 20 der insgesamt 31 zumeist mehrseitigen Thesenreihen kamen aus afrikanischen Schulen, die anderen 11 aus Mitteleuropa. Gerade in der Zusammenschau zeigen die eingesandten Thesen eindrücklich, unverblümt und durchaus wortgewaltig, was junge Menschen in ganz unterschiedlichen Kontexten der heutigen Welt bewegt und bekümmert, wogegen sie protestieren und was sie sich erhoffen. Anhand einiger dieser Thesen soll im Folgenden illustriert werden, was Schülerinnen und Schüler im deutschsprachigen Kontext davon haben, wenn sie im Religionsunterricht ihre christentumsbezogene Wahrnehmungsperspektive global ausweiten und den ökumenischen Welthorizont dialogisch erschließen. 2.2 Lebenswirklichkeit teilen und dem Unrecht gemeinsam die Stirn bieten »Wir protestieren dagegen, dass in der heutigen Welt sehr viel Armut herrscht wie z.B. in Afrika. Wir in Deutschland haben zu viel zu essen und Menschen in armen Ländern haben zu wenig Essen.« Diese Protestbekundung aus einer sechsten Klasse einer deutschen Schule ist vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses Aufsatzes in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen steht sie beispielhaft für das, was die an der Aktion beteiligten jungen Menschen am meisten bewegt: Ob aus Ruanda (RW), Kamerun (CM) oder Ghana (GH), ob aus Deutschland (DE), der Schweiz (CH) oder der Slowakei (SK) – in den eingesandten Thesen äußert sich durchgängig eine hohe Sensibilität für die vielfältigen Formen von Ungerechtigkeit und Unrecht in der heutigen Welt. Sodann fällt auf, dass sich diese Kritik bei den europäischen Schülerinnen und Schülern vorwiegend an globalen Unrechtsverhältnissen entzündet – wobei der Rekurs auf die Leidtragenden des Gerechtigkeitsgefälles in den 14 Eine Beschreibung der Aktion sowie die Anschreiben an Schüler/innen und Lehrer/innen finden sich unter http://www.schools500reformation.net/tools/2015/ love-each-other-serve-others-in-the-global-world-today/. 15 Da die Aktion bis zum 31.3.2016 lief, waren die Thesen zum Abfassungszeitpunkt des Beitrages nur in Form einer 64-seitigen Konferenzbroschüre zugänglich. Nach Einsendeschluss und anschließender didaktischer Aufbereitung ist eine Publikation geplant.

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meisten Fällen dann doch eher abstrakt und allgemein bleibt. Oft ist der Hiatus zwischen dem empfundenen Unrecht und den begrenzten individuellen Handlungskapazitäten mit den Händen zu greifen: »Es soll weniger Armut in der Welt geben und keine Menschen dürfen Hunger leiden« (DE). Demgegenüber sind die Gravamina in den Einsendungen aus Afrika weitaus konkreter. Hier erscheint Unrecht als fester Bestandteil der eigenen Lebenswelt und des tagtäglichen Lebens, angefangen von der in vielen Kontexten allgegenwärtigen Korruption (»The clerics should not get fully into politics as it is the root cause of corruption, embezzlement and murder in the church.« [CM]), über politische Willkür (»There is the need to identify the lack of justice in our judicial systems. Many, especially the poor and the vulnerable, are denied justice and are wrongfully incarcerated.« [CM]) bis hin zu sexueller Unterdrückung (»We protest against indignation and disrespect facing female gender: sexual abuse (against women and girls), early marriage.« [GH]) Die zum Teil schockierenden Unrechtserfahrungen werden von den Schülerinnen und Schülern schonungslos beschrieben und den staatlichen, kirchlichen und schulischen Verantwortungsträgern zur Last gelegt. Ökumenische Bildung, so zeigt sich hier, kann sich nicht darin erschöpfen, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen auszuloten. Vielmehr zielt Ökumene im Vollsinne auch didaktisch darauf, im Horizont des christlichen Glaubens Lebenswirklichkeit zu teilen, voneinander zu lernen und »global miteinander Bedingungen verletzender Daseinssituation zu erschließen«16. Aber kann der Religionsunterricht das leisten? Die oben skizzierte Diskussion um ökumenisches Lernen kreist von Anfang an um das Problem, ob und inwieweit sich die auf Ganzheitlichkeit, Partizipation und gelebte Solidarität abzielenden Intentionen dieses Lernansatzes im institutionellen Gefüge der öffentlichen Schule überhaupt realisieren lassen.17 Die diesbezügliche Skepsis ist nicht unbegründet, weil derart ambitioniert angelegte Lernprozesse stets in Gefahr stehen, das an diesem Lernort Mögliche und Zulässige zu überschreiten, sei es durch zu hoch gesteckte Zielsetzungen,18 sei es durch illegitime Integrationsansprüche. Religiöse Bildung an der öffentlichen Schule kann weder globale Gerechtigkeit

16 Engelbert Groß, Eine-Welt-Religionspädagogik. Skizze eines Begriffs, in: Thomas Schreijäck (Hg.), Christwerden im Kulturwandel. Analysen, Themen und Optionen für Religionspädagogik und Praktische Theologie. Ein Handbuch, Freiburg u.a. 2001, 416–440. 17 Vgl. Horst Siebert, Anmerkungen eines Pädagogen zum Konzept Ökumenischen Lernens, in: ru 19 (1989), H. 4, 134–136. 18 Vgl. dazu grundlegend Klaus Seitz, Bildung für ein globales Zeitalter? Mythen und Probleme weltbürgerlicher Erziehung, in: Annette Scheunpflug / Klaus Hirsch (Hg.), Globalisierung als Herausforderung für die Pädagogik, Frankfurt a.M. 2000, 293–318.

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herbeiführen noch darf sie kirchliche Koinonia zu ihrem unmittelbaren Ziel machen. Wenn im begrenzten Rahmen des Religionsunterrichts tatsächlich so etwas wie ökumenische Verbundenheit und Solidarität angebahnt werden soll, bietet es sich daher an, subjektorientiert auf der Ebene existenzieller Alltags-, Grund- und Glaubenserfahrungen anzusetzen. So unterschiedlich sich die Erfahrungswelten in den oben angerissenen Thesen aus Mitteleuropa und Zentralafrika im Konkreten auch darstellen, entzünden sich Protest und Sehnsucht hier wie dort an der Kluft zwischen der erlebten und erhofften Lebenswirklichkeit. Der von Engelbert Groß eingeführte Begriff der »touching realities« bringt schön zum Ausdruck, was mit einer solchen Perspektivenverschränkung religionsdidaktisch gewonnen ist: Die erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit den Protestzeugnissen und Zukunftshoffnungen aus der Ferne kann die fremden Welten so einander zuführen, dass es zum Kontakt kommt, zur Be-Rührung.19 Im konkreten Fall der skizzierten Thesenaktion deutet sich ein solcher Berührungspunkt in der emphatischen Parteilichkeit an, mit der die an der Aktion beteiligten Schülerinnen und Schüler sich auf die Seite der Schwachen stellen, der Armen, der Unterdrückten und besonders der Kinder (»We protest against the abuse of the right of the child to the detriment the rights of parents [RW]; »We protest against people who force children to go to war« [DE]. 2.3 Sich mit Intensivformen christlicher Wirklichkeitsdeutung auseinandersetzen Bei allen impliziten und expliziten Kontaktflächen gibt es eine grundlegende Differenz zwischen den Thesen aus Afrika und Europa: Auch wenn es sich um Evangelische Schulen handelt, wird in den Einsendungen aus Europa in nur ganz seltenen Ausnahmefällen ein Glaubensstandpunkt erkennbar. Dagegen sind die Äußerungen der afrikanischen Kinder und Jugendlichen durchgängig als christliche Wirklichkeitsdeutung erkennbar. So wird die oben angerissene Kritik an grassierenden Missständen in Kirche und Gesellschaft auffällig oft religiös begründet, zumeist mit Bezug auf die Lehre und modellhafte Lebenspraxis Jesu Christi: Some pastors sow hatred and tribalism among Christians, whereas Jesus came for everyone. (DRC). Ähnlich wird auch Martin Luthers Protest gegen die politischen und kirchlichen Missstände seiner Zeit zum Muster gesellschaftskritischer Unbeugsamkeit: »Being corrupted, someone completely loses his dignity, and becomes a person with weak personality. Regardless of my age and my tribe: as Martin Luther, I will fight against corruption until the end« (DC). Manche Thesen gewähren einen 19 Engelbert Groß, Hört, wir schreien! Schaut, wir hoffen! Provozierende Kinderbotschaften aus Dritten Welten, Berlin 2010, 425–434.

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faszinierenden Einblick in die theologische Gedankenwelt und Argumentationsfähigkeit dieser jungen Menschen: »The church must renew itself because of a terminology, which refers to the church as a monument, a great house built by human beings, whereas the church is our body, our heart. Therefore, when you miss to attend that house, they are not hesitating to say that you didn’t pray to God because you were not present. A good church must know that the house we are used to attend is not the church; it is a house where believers meet. Even when they will destroy the building, church will remain« (RW). In Auseinandersetzungen mit solchen authentischen und kritischen Formen christlicher Wirklichkeitsauslegung können deutsche Schülerinnen und Schüler Erfahrungen mit einem Deutungs- und Sprachmodus sammeln, dem sie in ihrem Alltag kaum mehr begegnen, schon gar nicht von Seiten Gleichaltriger. Sie bieten Anlass zur Selbstexploration (»Könnte ich das auch so sagen?«, »Welche Worte würde ich finden?«) und können dialogisch weitergedacht werden (»Schreibe eine Antwort auf diese These und berichte aus Erfahrungen in Deinem Alltag …«), ggf. auch kritisch. Damit werden Perspektivenverschränkungen möglich, die etwa dem derzeit besonders stark diskutierten Konzept einer Jugendtheologie zugutekommen können. Während theologische Denkfiguren bei deutschen Schülerinnen und Schülern vielfach lediglich implizit vorhanden sind und daher, was immer fragwürdig ist, von den deutenden Erwachsenen allererst geborgen werden müssen, liegen sie hier offen zutage.20 2.3 Fremdheit in ökumenischen Lernprozessen konstruktiv-kritisch verarbeiten Der vorige Abschnitt verweist auf eine bislang nur wenig berücksichtigte differenzhermeneutische Schieflage in der aktuellen Debatte um Ökumene und konfessionelle Zusammenarbeit im Religionsunterricht. Differenzen werden dort in der Regel auf positionelle Unterschiede zwischen den Konfessionen bezogen und mit dem in Beziehung gesetzt, was die jeweiligen Konfessionen im Grunde eint. Freilich findet diese religionsdidaktische Akzentuierung in den Selbstzuschreibungen heutiger Schülerinnen und Schülern eher wenig Rückhalt. In ihrer qualitativ-empirischen Studie zur konfessionellen Kooperation in der Sekundarstufe 1 kommt das Tübinger Tübinger Forschungsteam um Albert Biesinger und Friedrich Schweitzer zu einem diesbezüglich ernüchternden, wenn auch erwartungskonformen Fazit: Unterschiede zwischen »evangelisch« und »katholisch« seien den von ihnen befragten Jugendlichen zwar einiger20 Vgl. ausführlicher Henrik Simojoki, Jugendtheologie im Bildungskontext der christlichen Ökumene. Soziologische Hintergründe und didaktische Perspektiven, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer u.a.: Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 35–44.

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maßen präsent, erschienen ihnen aber »allesamt als mehr oder weniger beliebig, weil bedeutungsarm oder -leer«21. In der Tat dürften etwa die kirchentrennenden Differenzen in der Abendmahlslehre für heutige Schülerinnen und Schüler in Deutschland weniger strittig als weitgehend unerheblich sein. Dagegen wird der emphatisch bekundete und praktizierte Glaube ihrer afrikanischen Altersgenoss/innen bei ihnen weitaus stärkere Fremdheitserfahrungen auslösen. Der diesbezügliche Abstand wird in den Thesen besonders dort deutlich, wo die Schülerinnen und Schülern ihre Visionen einer guten Zukunft beschreiben. Während die bessere Welt von den evangelischen Schulklassen in Europa vorwiegend in Kategorien universaler Humanität und Toleranz beschrieben wird (»Eine gute Welt macht Toleranz und Akzeptanz gegenüber Hautfarbe, Religion, Aussehen, Krankheiten und Herkunft aus. Wir müssen probieren, aktiv zu helfen und Respekt herzustellen. Gibst du ihnen dein Herz, geben sie dir ihres.« [DE]), sind die Thesen der evangelischen Schüler/innen aus Afrika weitaus stärker in der partikularen Perspektive ihres entschiedenen Glaubens verankert: »A good world: The peace of the heart, that of people who are born again by the word of God: sustainable and fruitful peace that these people bring to our families, our homes and all the society« (CD). Besonders bei Fragen der Lebensführung sind zuweilen regelrechte Oppositionen erkennbar. Hier zeigt sich: Erfahrungen mit Fremdheit können auch im Kontext der innerchristlichen Ökumene intensiv und potenziell konflikthaft sein. Folglich sollte ökumenische Bildung im Religonsunterricht nicht allein oder einseitig an behaglichen Wärmemetaphern wie »Solidarität«, »Partnerschaft« oder »Gemeinschaft« ausgerichtet werden. Diese bezeichnen zwar zentrale Zielperspektiven einer global dimensionierten ökumenischen Didaktik, drohen aber in unkritischer Rezeption zu verdecken, was ökumenische Begegnungen zwischen Erster und Dritter Welt für beide Seiten so bereichernd, gelegentlich aber auch verstörend macht: Das vermeintlich Vertraute erscheint plötzlich in fremder, zum Teil provokant anderer Gestalt. Wie im Bereich interreligiösen Lernens hat der Religionsunterricht auch hier die Aufgabe, solche Fremdheitserfahrungen kritisch-konstruktiv zu begleiten. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass das, was an den afrikanischen Thesen für deutsche Schülerinnen und Schülern erst einmal befremdlich wirken dürfte – die hohe Glaubenszentralität, die intensive Frömmigkeitspraxis, die Christozentrik, der ethische Rigorismus etc. – nichts Randständiges an sich hat. Vielmehr handelt es sich um Grundcharakteristika des globalen Christentums in seinen derzeit vitalsten Strömungen, die sich, ob durch Migration, Mission oder digitale Kommunikation, künftig verstärkt in den 21 Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger / Jörg Conrad / Matthias Gronover, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg u.a. 2006, 25.

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Lebenswelten und auch Klassenzimmern deutscher Jugendlichen bemerkbar machen werden.22 2.4 Ökumenische Lernpotenziale digitaler Medien grenzbewusst nutzen Die Notwendigkeit, digitale Medien verstärkt in den Religionsunterricht zu integrieren, liegt auf der Hand.23 Auch wenn die diesbezügliche Aufholarbeit in der deutschsprachigen Religionsdidaktik bereits voll im Gang ist,24 sind die Vernetzungs-, Austausch- und Verständigungspotenziale digitalen Lernens im Rahmen ökumenischer Bildung nur rudimentär erprobt. Das skizzierte Projekt dürfte eines der bislang ambitioniertesten Initiativen in diese Richtung sein. Auch wenn dieser Zugang nicht mit überzogenen Erwartungen überfrachtet werden sollte, treten die mit ihm verbundenen Chancen noch deutlicher hervor, wenn man sich die Hürden vergegenwärtigt, die dabei zu überwinden waren. Kaum eine der zum Abfassungszeitpunkt mehr als 300 teilnehmenden Schulen aus Afrika verfügt über die technischen oder infrastrukturellen Rahmenbedingungen, die bei den gängigen Formaten digitalen Lernens als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt werden. Während sich digitale Brückenschläge zwischen deutschen und amerikanischen Schulen die vielfältigen Möglichkeiten des SocialWeb vollumfänglich zunutze machen können, sind die medialen Kanäle bei der Kommunikation mit Schulen aus Entwicklungsländern oft deutlich niedrigschwelliger. Neben Emails kommt vor allem Handys eine Schlüsselfunktion zu. Digitale Medien, das darf nicht übersehen werden, ermöglichen zwar potenziell Kommunikation über Grenzen hinweg, sind aber gleichzeitig ein Indikator globaler Ungleichheit. Angesichts dieser digitalen Kluft ist das Maß an Partizipation und Engagement, das die beteiligten Schulen aus den Entwicklungsländern im Rahmen des Projekts aufbringen, umso beeindruckender. Es zeugt von einem Verständigungswillen, der Religionslehrkräften an deutschen Schulen als Inspiration dienen kann, in der eigenen unterrichtlichen Praxis ökumenische Lernprozesse ähnlich weit anzulegen.

22 Zu den religionsdidaktischen Implikationen dieser Einsicht vgl. Simojoki, Globalisierte Religion (s.o. Anm. 1), 320–346. 23 Vgl. Henrik Simojoki, Religionsunterricht 2.0? Die digitale Revolution als Schlüsselherausforderung einer der Zukunft verpflichteten Religionspädagogik, in: Hartmut Rupp / Stefan Hermann (Hg.), Religionsunterricht 2020. Diagnosen – Prognosen – Empfehlungen, Stuttgart 2013, 167–178. 24 Vgl. pars pro toto JRP 28 (2012): Gott googeln. Multimedia und Religion, Neukirchen-Vluyn 2012.

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3 Ausblick: Ökumenische Lernprozesse im globalen Christentum als Forschungsgegenstand Lernprozesse im globalen Christentum stellen nicht nur im Hinblick auf das Verständnis und die Gestaltung der Globalisierung eine große Lernherausforderung und Lernchance dar, sondern sind darüber hinaus auch als Forschungsgegenstand von hohem Interesse. Die Wahrnehmungen von Christinnen und Christen im globalen Christentum sichtbar zu machen, könnte ein wichtiger Beitrag der Forschung sein, denjenigen, die nicht selber die Chance haben, weltweit in Kontakt zu kommen, die Stimmen der jeweils anderen einzufangen, zu kontextualisieren und zu Gehör zu bringen. Forschung käme dann eine Mittlerfunktion über räumliche, kulturelle und sprachliche Distanzen zu. Dabei ist es aber vor allem wichtig, dass durch die Forschung den beteiligten Personen die Stimme jedoch nicht genommen wird, die Ownership bei ihnen bleibt und auch die Kontextualisierung dialogisch abgesichert wird. Über diese reine Deskription der jeweiligen Wahrnehmungen hinaus bedarf es verstärkt empirisch-analytischer Perspektiven zu Lernprozessen in der globalen Ökumene. Lernprozesse, die zum Verständnis der abstrakten Beziehungen in der Weltgesellschaft führen, sind bisher nur wenig untersucht. Welche Lernanlässe und welche Gestaltung von Lernprozessen führen zu einem ökumenischen Verständnis, und welche Formen von Begegnungen behindern dieses eher? Und wie lassen sich die mit ihnen zusammenhängenden Lernerträge bestimmen?25 Antworten auf diese Fragen dürften für die Weiterentwicklung didaktischer Konzepte, die Planung von Lernanlässen bzw. zusammengefasst für das ökumenische und globale Lernen von zentraler Bedeutung sein. Dr. Annette Scheunpflug ist Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bamberg. Dr. Henrik Simojoki ist Professor für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Bamberg.

25 Vgl. dazu in einem ersten empirischen Zugang Susanne Krogull / Annette Scheunpflug, Citizenship-Education durch internationale Begegnungen im Nord-SüdKontext? Empirische Befunde zu Begegnungsreisen in Deutschland, Ruanda und Bolivien, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 2013 H. 3, 231– 248; vgl. zu einem diesbezüglichen Forschungskonzept Annette Scheunpflug und Rainer Uphues, What do we know about Global education and what do we need to find out?, in: Neda Forghani-Arani / Helmuth Hartmeyer / Eddie O’Loughlin / Liam Wegimont (Hg.), Global Education in Europe, Münster 2013, 177–194.

4.4 Rudolf von Sinner

Weltweites Christentum am Beispiel der Pfingstbewegung in Brasilien 1 Vitalität und Mobilität weltweiten Christentums Die Spezialistin für weltweites Christentum an der Boston University, Dana L. Robert, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie sagt, dass »der typische Christ des späten zwanzigsten Jahrhunderts nicht länger ein europäischer Mann, sondern eine lateinamerikanische oder afrikanische Frau« ist.1 Während in der Diskussion in Deutschland vor allem der Mitgliederverlust der Großkirchen und das Wachstum des Islams im Vordergrund stehen, wächst weltweit gesehen das Christentum vor allem in Afrika südlich der Sahara rasant und wird zugleich immer vielfältiger. Im angelsächsischen Raum spricht man darum heute dezidiert von World Christianity; in Deutschland gehört diese Dimension weltweiten Christentums mit seinen Bewegungen zur Interkulturellen Theologie, die sich aus der Missionswissenschaft entwickelt hat.2 Zunächst geht es dabei um die offene, möglichst vorurteilslose Wahrnehmung der enormen religiösen Vitalität und Mobilität, die das Gesicht des Christentums im 21. Jahrhundert verändert haben und weiter verändern werden. Durch Migration und missionarische Tätigkeit sind diese Veränderungen auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern spürbar.3 Jedoch soll, bei allem Staunen über die enorme religiöse Vitalität und Mobilität, nicht verschwiegen werden, dass das Phänomen mit vielerlei Ambivalenzen behaftet ist, die im Folgenden ebenso deutlich werden sollen. Aus ökumenischer Sicht ist diese enorme Vielfalt einerseits interessant, zugleich aber werden der »Ökumenismus« bzw. die ökumenische Bewegung und ihre Institutionen von den betreffenden Kirchen, Ministerien und Bewe1 Dana L. Robert, Shifting Southward. Global Christianity since 1945, in: International Bulletin of Missionary Research 24/2 (2000), 50–57, hier 50. Ich greife im Folgenden Elemente aus meinem Artikel auf: Rudolf von Sinner, Pfingstbewegung und Bürgerrechte in Brasilien – zwischen Weltflucht und Dominanz, in: Theologische Literaturzeitung 137 (2012), 507–522 (dort weitere Nachweise und Lit.). 2 Vgl. Christine Lienemann-Perrin, World Christianity als Erfahrungsfeld und theoretisches Konzept, in: Theologische Zeitschrift 69/1–2 (2013), 118–145; Ulrich Dehn, Weltweites Christentum und ökumenische Bewegung, Berlin 2013; Henning Wrogemann, Lehrbuch Interkulturelle Theologie/Missionswissenschaft, 3 Bde., Gütersloh 2012–2015. 3 Vgl. Bianca Dümling, Migrationskirchen in Deutschland: Orte der Integration, Frankfurt 2011.

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gungen meist pauschal abgelehnt, gar dämonisiert, besonders, wenn die Römisch-Katholische Kirche mit von der Partie ist. Wie schon bei Organisationen der entstehenden ökumenischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, z.B. der Evangelischen Allianz, gibt es zwar eine verbreitete Transkonfessionalität, weil eine Übereinstimmung etwa in der Bibeltreue, der persönlichen und gemeinschaftlichen Frömmigkeit sowie dem missionarischen Engagement wichtiger ist als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession. Bemerkenswert ist weiterhin dazumal wie heute eine starke Beteiligung von Laien und oft eine Distanz zur akademischen Theologie, die als genuiner Glaubenserfahrung entrücktes Unterfangen betrachtet und darum abgelehnt wird. Ökumene im Sinne eines Dialogs und intensiver Zusammenarbeit ergibt sich dadurch noch nicht, schon gar nicht im Sinne klassischer Konsens- und Konfessionsökumene. Somit entziehen sich diese stetig wachsenden neuen Erscheinungsformen des Christentums den hergebrachten Kategorien. Umso mehr sollte man sich voreiliger Schlüsse und Verurteilungen enthalten. Sehen wir also zunächst noch genauer hin. Lebten vor hundert Jahren noch 80% des weltweiten Christentums in Europa und Nordamerika, so sind es heute gerade noch 40%. In Afrika sind heute nicht mehr nur 9%, sondern 50% der Bevölkerung Christen.4 Auch in Lateinamerika und Asien gibt es großes Wachstum bzw. eine große Umverteilung, vor allem unter den sogenannten Pfingstkirchen, »die am schnellsten wachsende Frömmigkeitsbewegung der Gegenwart«.5 Brasilien, das mir hier als Beispiel gilt, ist heute das Land mit der größten pfingstlichen Bevölkerung in absoluten Zahlen: in der Volkszählung von 2010 wurden ihnen rund 36 Millionen zugerechnet. Freilich ist es nach wie vor auch das katholischste Land mit rund 123 Millionen Menschen, die sich zum Katholizismus bekennen. 2 Pfingstlich-charismatisches Christentum in Brasilien Nun gibt es jedoch Millionen von Christen in der Katholischen Kirche oder den historischen Evangelischen Kirchen (anglikanische, baptistische, lutherische, presbyterianische), die als »charismatisch« bezeichnet werden; gemeinsam machen pfingstlich-charismatische inzwischen wohl die Hälfte aller Christen in Brasilien aus. Es handelt sich dabei um dasselbe Phänomen: Unter Bezug auf das biblische Pfingstereignis, als der Heilige Geist die Jünger Jesu erfüllte und sie anfingen, »zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen« (Apostelgeschichte 2,3–4), entstand ab 1901 in den USA eine Bewegung, für die das spontane Sprechen in unbekannten und unverständlichen oder in nie 4 Todd M. Johnson / Kenneth R. Ross, Atlas of Global Christianity 1910–2010, Edinburgh 2009. 5 Peter Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009, 11.

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Rudolf von Sinner

gelernten real existierenden Sprachen (»Zungenreden«) als Beweis für die Taufe mit dem Heiligen Geist galt.6 In Chicago bei William H. Durham (1873–1912) lernten der Italiener Luigi Francescon (1866– 1964) und die Schweden Gunnar Vingren (1879–1933) und Daniel Berg (1884–1963) diese Bewegung kennen und brachten sie nach Brasilien. Aus dem brasilianischen Bundesland Pará, wohin Vingren und Berg aufgrund einer Eingebung des Heiligen Geistes geschickt wurden, kam der Naturkautschuk, der damals im aufstrebenden Chicago und Umgebung zu Autoreifen verarbeitet wurde, so dass bereits eine materielle Verbindung bestand. Zunächst ließen sie sich die beiden Missionare in der baptistischen Kirche von Belém, der Hauptstadt Parás, nieder, deren Pastor ebenso Schwede war. Am 2. Juni 1911 erhielt die erste Person in Brasilien die Taufe im Heiligen Geist, Celina Albuquerque (1876–1966), die zuvor von einer nicht näher definierten, »unheilbaren Krankheit« auf ihren Lippen durch Gebet geheilt worden sei. Frauen spielten eine zentrale Rolle in der entstehenden Pfingstkirche. Frida Maria Strandberg (1891–1940) wurde als Missionarin aus Schweden nach Brasilien geschickt und heiratete dort Bruder Vingren. Sie war ein Multitalent; sie wirkte als »Krankenschwester, Dichterin, Komponistin, Herausgeberin, Forscherin, Predigerin und Lehrerin«7 und hatte de facto während Vingrens Abwesenheiten und seinen zahlreichen Krankheitsphasen die Kirchenleitung inne.

Nach ihrem Ausschluss aus der baptistischen Kirche nannte sich die Gruppe zunächst »Apostolische Glaubensmission«, später dann »Assembléias de Deus« (1918). Trotz des den USA (Assemblies of God, so seit 1914) angeglichenen Namens hat es sich nur anfangs um eine ausländisch bestimmte Organisation gehandelt. Schon früh wurde die Macht an lokale Pastoren übergeben, was dem Führer der schwedischen Pfingstbewegung, Lewi Pethrus (1884–1974), gerade im Blick auf Brasilien, das er 1930 besucht hatte, am Herzen lag.8 Noch vor Berg und Vingren hatte Francescon 1910 in São Paulo unter italienischen Immigranten die »Christliche Gemeinde Brasiliens« gegründet (Congregação Cristã do Brasil). Gemeinsam mit der Erweckung in Belém entstand so die erste Welle der brasilianischen Pfingstbewegung.9 Für die beiden erwähnten Kirchen waren die Zungenrede, Prophezeiungen und die Scheidung der Geister zentrale Elemente der Glaubenspraxis. Bis heute sind diese beiden, die Congregação und die Assem-

6 Vgl. ebd., 44–73. 7 Isael de Araújo, Dicionário do Movimento Pentecostal, Rio de Janeiro 2007, 903. 8 Vgl. Per Olov Enquist, Lewis Reise, Frankfurt a.M. 2005, 395. 9 Vgl. Leonildo Silveira Campos, Historischer Protestantismus und Pfingstbewegung in Brasilien. Annäherungen und Konflikte, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 81 (1997), 202–243.

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bléias de Deus, mit jeweils rund 2,3 bzw. 12,3 Millionen Mitglieder (2010), die größten Pfingstkirchen geblieben. Eine zweite Welle entstand in den 1950er Jahren durch Missionare der US-amerikanischen Church of the Four-Square Gospel, aber auch schon durch brasilianische Prediger wie Manoel de Mello (Igreja Pentecostal o Brasil para Cristo, 1955) und Davi de Miranda (Igreja Pentecostal Deus é Amor, 1962). Diese Kirchen entstanden vornehmlich in São Paulo und zeichnen sich durch die Betonung der Krankenheilung als Geistesgabe sowie die Benutzung von Massenmedien für die Evangelisierung aus. Die dritte Welle ging von Rio de Janeiro aus und konstituierte die NeoPfingstkirchen. Sie unterscheiden sich erheblich von den früheren Pfingstkirchen, insofern als die klassischen Geistes- oder Gnadengaben ebenso wie die strenge moralische Disziplin hier zugunsten von Heilung, Teufelsaustreibung und (wirtschaftlich und sozialer) Prosperität zurückgetreten sind. Die Welt ist nach dieser Auffassung von bösen Geistern bewohnt, die in einer »geistlichen Schlacht« (batalha espiritual) bekämpft werden müssen. Solche bösen Geister werden mehr oder weniger direkt den afro-brasilianischen Religionen zugeschrieben und erhalten darin einen diskriminatorischen und rassistischen Beiklang. Gottes Gaben sind für die Neo-Pfingstler zur Gänze schon im Diesseits wirksam. Wer nur genügend glaubt und diesem Glauben durch erkleckliche Beiträge an die Kirche Ausdruck verleiht, wird nicht nur wie andere Christen um diese Gaben bitten, sondern soll sie von Gott verlangen können, der durch den »investierten« Glauben und dessen pekuniären Ausdruck zur Antwort verpflichtet ist. Dies kann freilich zu grotesken Situationen führen: Ein Mann verkaufte seinen Wagen, um die damit erzielten 2600,00 Reais einer Neo-Pfingstkirche zu geben. Ein Pastor hatte ihn überzeugt, dass er sich seiner materiellen Güter entledigen und den Verkaufserlös der Kirche zukommen lassen müsse, damit sein Leben eine positive Wendung nehme. Er steckte damals in finanziellen Schwierigkeiten und hatte sich mit seiner Familie überworfen. Als sich nicht erfüllte, was ihm versprochen worden war, verlangte er das Geld von der Kirche zurück. Vor dem Appellationsgericht erhielt er recht. Zwar billigte man ihm nur die Rückzahlung (mit Inflationskorrektur und Zinsen) der Spende und keine Entschädigung für erlittene moralische Schäden zu, weil solche als für nicht ausreichend bewiesen erachtet wurden; jene aber wurde als berechtigt angesehen, weil der Betroffene durch List zur Spende verleitet worden sei. Wenn dies Schule machen sollte, dann wäre hier ein Reflex der von der NeoPfingstkirche selbst betriebenen Merkantiliserung des Glaubens zu sehen: Trotz Investition kein zufriedenstellendes Produkt – Geld zurück. Nicht von ungefähr hat man schon nach einem »religiösen Konsumentenschutz« gerufen.

Zu dieser dritten Welle gehören die Universale Kirche des Reiches Gottes (Igreja Universal do Reino de Deus, IURD, 1977), die Comunidade Evangélica Sara Nossa Terra (1976), die Igreja Internacional da Graça (1980) und Renascer em Cristo (1986).

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3 Menschenwürde und Machtansprüche Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Assembléias de Deus (AD). Das enorme Wachstum der Pfingstbewegung in Brasilien und weltweit erweist, so ihre Generalkonvention, drei »Wahrheiten über die Pfingstbewegung«: 1. Die Pfingstbewegung ist kein »Strohfeuer«, sondern eine permanente Erscheinung; 2. Die »Taufe im heiligen Geist […] bleibt einer der mächtigsten Faktoren zur Dynamisierung der Evangelisierung der Kirche«, und 3. »es ist ein Beweis, dass die Wiederkunft des Herrn Jesu nahe ist«. Hier kommen entsprechend die klassischen theologischen Inhalte der AD zum Ausdruck: die Betonung der Taufe im Heiligen Geist (und der Empfang der Geistesgaben), die Evangelisierung und eine prämilennarische Eschatologie.10 Wie fast alle Pfingstkirchen in Brasilien sind die AD antiökumenisch und vor allem antikatholisch. Dessen ungeachtet gehen sie freilich in den meisten moralischen Fragen mit der Römisch-Katholischen Kirche einig: in der (umfassenden, aber nicht vollständigen) Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs, der Ablehnung der Homosexualität und namentlich gleichgeschlechtlicher Ehen, der Ablehnung der Sterbehilfe und der Disziplinierung ihrer Mitglieder in Folge von Ehescheidung. Eine gewisse ökumenische Kollaboration mit anderen Kirchen, namentlich anderen Pfingstkirchen, ist zudem möglich, etwa mit Siebenten-Tages-Adventisten, Baptisten, Presbyterianern und der Universalen Kirche des Reiches Gottes. Bis zur Demokratisierung Brasiliens nach dem Ende der Militärregierung (1964–85) hielten sich die AD ebenso wie die weiteren Pfingstkirchen weitgehend an das übliche Motto, wonach sich »die Gläubigen nicht in die Politik einmischen«, denn Politik sei »Sache des Teufels«.11 Es fanden sich Tendenzen zur Weltflucht oder zu einem klaren Dualismus zwischen Religion und Politik, so dass letztere als zweifelhaftes, schmutziges Geschäft oder höchstens als notwendiges Übel gesehen wurde. Dies bedeutete empirisch natürlich keineswegs eine völlige Abstinenz von politischer Beteiligung; sie fand aber kaum über Parlamentarier statt und war nicht zentral organisiert. Erst seit Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 1988 kam es zu einer stärker organisierten politischen Tätigkeit namentlich der Pfingst- und Neopfingstkirchen, allen voran der bis heute größten, den AD, und der sichtbarsten, der IURD. Sie begannen nun, aktiv »Brüder« in die politischen Parteien und ins Parlament zu befördern, was in unterschiedlichem Maße auch gelang. Die Welt wurde nun nicht mehr einfach abgelehnt, sondern als Ort der Geltendmachung von Ansprüchen gesehen und benutzt. Man könnte dies empirisch als Aufscheinen »öffentlicher Religion« beschreiben. 10 So der Zeitungsartikel: Pentecostais já são 28 milhões no Brasil segundo pesquisa, in: Mensageiro da Paz 76/1458 (2006), 4f. 11 Vgl. Roberto Schuler, Pfingstbewegungen in Brasilien. Sozio-politische Implikationen der neuen Pluralität, São Leopoldo 2004.

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Die AD haben ihre besonderen Wege entwickelt, eigene Kandidaten zu nominieren und zu unterstützen, und werden von Kandidaten für Exekutivämter jeweils intensiv umworben. Seit den 1990er Jahren, sagt Paul Freston, ist »evangelische Religion in einer Reihe von sozialen Instanzen angekommen, wo sie bisher nur eine bescheidene Präsenz hatte – oder gar keine. Das bekannteste Beispiel ist das Fernsehen […]. Andere Beispiele sind Sportler [z.B. die »Athleten« und »Surfer« Christi], Geschäftsleute, die Polizei, Verbrecher und Zigeuner. Es bildet sich ein Massenprotestantismus heraus, der Funktionen von Volksreligiosität übernimmt: Kirchen anstelle von terreiros [d.h. Häuser, in denen afrobrasilianische Religionen gepflegt werden] in den Slums, Pfingstler mit der Gabe der Heilung statt rezadores [d.h. Beterinnen und Beter] und curandeiros [d.h. Heilerinnen und Heiler]. […] Die neue politische Präsenz ist Teil dieses breiten Prozesses von evangélico Expansion.«12 Es scheint mir wichtig, das Potential der Pfingstler für sozialen Wandel nicht auf formale Politik und namentlich die Wahl von »Brüdern« in die Legislative zu beschränken. Eine solche Konzentration steht in Gefahr, die Pfingstbewegung eo ipso als »entfremdend« zu bewerten. Es gibt einen beträchtlichen Unterschied zwischen »evangélico Politikern« und »der Politik der evangélicos«. Interessant ist freilich schon im Blick auf erstere, dass AD-Mitglieder eine beachtliche Freiheit gegenüber ihren Führungspersönlichkeiten haben, wenn es darum geht, ihren Überzeugungen zu folgen. Obwohl sie dem Diskurs ihrer Kirche stärker ausgesetzt sind als andere Christen, da sie regelmässig an kirchlichen Anlässen teilnehmen und nichtkirchliche Medien nur selektiv wahrnehmen, und obwohl sie zeigen, dass die Kirche als Quelle politischer Anleitung wahrgenommen wird, so ist sie dennoch weder das einzige noch unbedingt das wichtigste Element im Wahlverhalten der Gläubigen. Nach einer empirischen Studie haben zwar 19% der evangélicos angegeben, bedacht zu haben, ob sie die von ihrer Kirche unterstützte Partei wählen sollen, aber das Kriterium, dass es »eine Partei ehrlicher Leute« sei, erfuhr mit 51,8% viel höhere Zustimmung.13 Die Gemeinden der AD wirken im Umfeld großer Armut und sozialer Verlassenheit14 als Katalysatoren für die Bildung von Bürgerinnen und Bürgern im Bewusstsein und der Ausübung ihrer Rechte und Pflichten.15 Gläubige lernen sich so als Menschen sehen, denen zu Recht Würde und Respekt zukommt. Soziologische Studien bestätigen, dass Pfingstkirchen einen sehr wichtigen praktischen Beitrag leisten. Zunächst werden Gläu12 Paul Freston, Evangélicos na Política Brasileira. História Ambígua e Desafio Ético, Curitiba 1994, 15. 13 Simone R. Bohn, Evangélicos no Brasil. Perfil socioeconômico, afinidades ideológicas e determinantes do comportamento eleitoral, in: Opinião Pública 10/2, 2004, 288–338, hier 333. 14 Vgl. João Biehl, Vita. Life in a Zone of Social Abandonment, Berkeley 2005. 15 Dazu ausführlich Rudolf von Sinner, The Churches and Democracy in Brazil. Towards a Public Theology Focused on Citizenship, Eugene, Or. 2012, 240–274.

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bige imstand gesetzt, ihr eigenes Empfinden von Würde (wieder) zu entdecken. Dann werden sie vom Heiligen Geist mit Kraft erfüllt, empowered, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Geschlecht, sozialer Herkunft oder einem anderem Unterscheidungsmerkmal: Sie sind Empfängerinnen und Empfänger des Heiligen Geistes. Drittens können sie in den AD lernen, Führungsqualitäten zu erwerben und auszuüben, sowohl innerhalb wie außerhalb der Kirche, was ihnen auch professionell zugutekommt. Viertens nehmen sie ihr Leben und das ihrer Familien verantwortlich selbst in die Hand und erhalten Möglichkeiten, aus Alkohol- und Drogenabhängigkeit ebenso wie aus der Straffälligkeit herauszukommen. Fünftens schließlich unterwerfen sie sich eher einem Prinzip der Legalität als der Hierarchie – obwohl es diese gibt und eindeutig Macht konzentriert und kontrolliert –, so dass fehlbare Pastoren und von der Kirche nominierte Politiker gleichermaßen diesem Gesetz unterliegen wie die Gläubigen, und dafür auch gerade stehen müssen. Es gibt freilich auch unverhohlenere und wenig gedämpfte Machtansprüche. Sie werden nicht zuletzt durch gigantische Architektur als theologisches und politisches Programm angemeldet. Am 31. Juli 2014 wurde in São Paulo der »Tempel Salomos« eröffnet, gebaut mit aus Israel importierten Steinen. Das bis zu 12.000 Personen Platz bietende Gebäude ist das klar sichtbare Symbol einer Substitutionstheologie und eines Anspruchs auf universale Vor- oder gar Alleinherrschaft. Der Gründer und oberste Bischof der Kirche, Edir Macedo, feierte die Einweihung in jüdischem Tallit und Kippa.16 Eine Bundeslade wurde feierlich hineingetragen. Die israelische Nationalhymne wurde gesungen. Eine Multimedia-Präsentation erzählte eine Erfolgsgeschichte von Abraham zu Salomon und dann Serubbabel bis zu Jesus Christus. Auf Konstantin seien 1.200 Jahre einer »abgefallenen Kirche« gefolgt, die »eher Dunkelheit als Licht verbreitet« habe. Martin Luther, so die Präsentation, habe dann den wahren Glauben wiederentdeckt, die, so die logische Folgerung, in der Kirche des jetzigen Tempels zur Fülle gekommen sei. Entsprechend waren keine Vertreter anderer Kirchen oder Religionen eingeladen oder wurden auch nur erwähnt, dafür hohe Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft. Südafrika, wo sich seit 1993 die zweitgrößte Präsenz der IURD installiert hat, war durch einen Chor vertreten, der auf Englisch und Zulu sang. Hier also, und nur hier, ist die wahre universale – und das hieße ja, nach altem, griechischem Sprachgebrauch, katholische – Kirche präsent, so die Botschaft. Macedo sagte dazu: »Dies ist kein konfessionelles Projekt, erst recht kein persönliches, 16 Die Eröffnungszeremonie kann auf on https://www.youtube.com/watch?v=2D6 neIIZ03I angesehen werden, Zugriff am 20 November 2014; vgl. Rudolf von Sinner, »Struggling with Africa«. Theology of Prosperity in and from Brazil, in: Andreas Heuser (Hg.), Pastures of Plenty. Tracing Religio-Scapes of Prosperity Theologies in Africa – and Beyond, Frankfurt 2015, 117–130; s. auch Paul Freston, Evangelicals and Politics in Asia, Africa and Latin America, Cambridge 2001, 11–60.

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sondern etwas so Großartiges, von einem geistlichen Standpunkt aus gesehen, dass es die Vernunft selbst übersteigt. Ganz gewiss wird es den schlummernden Glauben der kalten oder lauwarmen Gläubigen erwecken und sie in eine nationale und dann in eine globale Erweckung hineinkatapultieren.«17 4 Pfingstkirchen, Ökumene und öffentliche Theologie Wir sehen hier also einige der Ambivalenzen: Auf der einen Seite erreichen Pfingst- und auch Neopfingstkirchen die Ärmsten der Armen. Sie arbeiten, oft als einzige, mit Alkohol- und Drogenabhängigen, Strafgefangenen und Strafentlassenen. Sie schaffen Heimat durch die bedingungslose Annahme des ganzen Menschen, inmitten von Einsamkeit, Armut, Gewalt, Frustration und Abhängigkeit. Auf der anderen Seite nutzen sie politischen Einfluss im eigenen Interesse, suchen Macht und die Durchsetzung der ihnen wichtigen Werte, ohne Rücksicht auf andere Positionen, auch und gerade anderer christlicher Kirchen. Darum muss es innerhalb der ökumenischen Bewegung, die prominent, aber nicht ausschließlich durch den Ökumenischen Rat der Kirchen und das breiter aufgestellte, aber auch unverbindlichere Global Christian Forum18 vertreten wird, ja auch und gerade um die oikoumene, die bewohnte Erde gehen, und damit um das Zusammenleben unter Christen und mit Angehörigen anderer Religionen bzw. religiöser und nichtreligiöser Überzeugungen. Dann kann nicht mehr nur Wahrnehmung stattfinden, sondern es bedarf eines kritisch-konstruktiven Dialogs, in der auch Fragen gestellt werden dürfen, etwa hinsichtlich des biblischen Fundaments des Prosperitätsevangeliums. Aber auch die Frage, welche öffentliche Präsenz von Religionen in einem säkularen, demokratischen Rechtsstaat – und dazu gehört Deutschland ebenso wie Brasilien – angemessen ist, darf und muss verhandelt werden. Dieser Thematik widmet sich die inzwischen international vernetzte Öffentliche Theologie, wie sie in Deutschland theoretisch und praktisch prominent vom derzeitigen Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, vertreten wird.19 Öffentliche Theologie, so wie ich sie verstehe, hat eine reflexive, orientierende, ermutigende und zugleich einschränkende Funktion wahrzunehmen. Eine solche Orientierungsfunktion ist notwendig, um sowohl eine Weltflucht

17 http://www.otemplodesalomao.com/#/otemplo, Zugriff am 14. November 2014. 18 http://www.oikoumene.org; http://www.globalchristianforum.org, Zugriff am 30. Januar 2015. 19 Vgl. dazu jetzt Florian Höhne / Frederike van Oorschot (Hg.), Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig 2015.

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als auch ein Dominanzgebaren von Pfingstkirchen (wie überhaupt von Religionsgemeinschaften) zu verhindern.20 Die AD haben m.E. das Potential zu einer anderen Art von Beitrag, eben zu einer kritisch-konstruktiven öffentlichen Theologie statt einer entweder weltflüchtigen oder zu diesseitigen Wohlstandstheologie.21 Eine solche wird sich auch mit Status und Inhalt des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zu beschäftigen haben, damit dieser nicht der Bestärkung bestehenden Konkurrenzgebarens, sondern zu gegenseitigem Verständnis und Verständigung führt. Für Brasilien kommt m.E. darum nur eine religionskundliche Ausrichtung des Religionsunterrichts in Frage. Es fehlt dort nicht an religiöser Erfahrung und Vitalität, sondern an Kenntnis, Offenheit, Toleranz und Vertrauen. 5 Pfingstkirchen im Religionsunterricht Für den Religionsunterricht scheinen mir folgende Aspekte wichtig, die ich abschließend in drei Thesen zusammenfassen will: 1. Das Christentum ist weltweit in Bewegung. An vielen Orten wächst es und verändert sich sehr stark, im Gegensatz zu dem, was in Deutschland vor sich geht. Die traditionellen Kategorien, namentlich der Konfessions- und Konsensökumene, kommen hier schnell an ihre Grenze. 2. Die weltweit stark wachsenden Kirchen, namentlich die Pfingstbewegung aus Afrika, Asien und Lateinamerika, sind durch Migration und Mission auch in Deutschland präsent. Angehörige solcher Kirchen werden möglicherweise zunehmend auch im Religionsunterricht zu sehen sein. Es ist darum wichtig, ihre Art des Christseins zu kennen und ihnen Interesse und Sympathie entgegenzubringen. 3. Ökumene beinhaltet fruchtbares gegenseitiges Kennenlernen und will ein erfolgreiches Zusammenleben zum Wohle aller fördern, propagiert aber nicht einfach konfliktlose Harmonie. Deswegen ist es richtig, dass an Macht- und Dominanzansprüche auch Fragen gestellt werden und über eine adäquate öffentliche Präsenz von Kirchen im säkularen, demokratischen Rechtsstaat nachgedacht und gesprochen wird. Dr. Rudolf von Sinner ist Professor für Systematische Theologie, Ökumene und Interreligiösen Dialog an der lutherischen theologischen Hochschule (Faculdades EST) in São Leopoldo/RS, Rio Grande do Sul, Brasilien. 20 Vgl. dazu Rudolf von Sinner, Öffentliche Theologie – neue Ansätze in globaler Perspektive, in: Evangelische Theologie 71 (2011) H. 5, 327–343. 21 Einen Ansatz dazu hat etwa der der AD angehörige Jurist Rodrigo Majewski in seiner theologischen Masterarbeit vorgelegt: Assembléia de Deus e teologia pública: o discurso pentecostal no espaço público, São Leopoldo 2010, zugänglich über den Bibliotheksserver der Faculdades EST – http://catalogo.est.edu.br/ pergamum/biblio teca/.

4.5 Niels Logemann

Konfessionsverschiedene Familien Bestandsaufnahme, erzieherische Herausforderungen, sozialisatorische Wirkung

1 Einleitung In den 1960er Jahren erreichte die Zahl der Eheschließungen in Deutschland ihren Höhepunkt; in den Folgejahren entwickelte sie sich kontinuierlich rückläufig. Das gilt vor allem für die Zahl der rein evangelischen oder katholischen Ehen. Im Gegensatz dazu nehmen Eheschließungen mit einem nicht konfessionsgleichen Partner zu. Seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990 übersteigt ihre Zahl die Gruppe der konfessionsgleichen katholischen bzw. evangelischen Eheschließungen. Ist die konfessionsverschiedene Familie, der in den 1960er und 1970er Jahren noch viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, heute Normalität und damit fester Bestandteil einer modernen Gesellschaft? Dieser Beitrag befasst sich mit dem Phänomen konfessionsverschiedener Ehen und Familien und geht der Frage nach der Bedeutung der Konfessionsverschiedenheit und ihrer Wirkung auf die ehelichen und familialen Beziehungen nach. Dazu wird zunächst mit einer statistischen Bestandsaufnahme begonnen. Anschließend geht es um die Bedeutung der Konfessionsverschiedenheit für das Zusammenleben der Partner, für die religiöse Sozialisation ihrer Familienmitglieder und deren religiöse Praxis. In einem weiteren Abschnitt wird der Frage nach der Bedeutung von Konfession, Religion und des Religiösen unter den Bedingungen der Moderne nachgegangen, und das exemplarisch an der Gruppe der Jugendlichen. Der Beitrag endet mit einem Fazit und Ausblick. 2 Bestandsaufnahme 2.1 Statistische Daten zur Konfessionsverschiedenheit Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das Eheschließungsverhalten nach Religionszugehörigkeit in Deutschland geprägt von konfessioneller Homogamie. Auffällig hoch war der Anteil der konfessionshomogamen katholischen und evangelischen Eheschließungen mit knapp zwei Dritteln aller Eheschließungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich hier

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Niels Logemann

ein erster deutlicher Wandel. Die Zahl der konfessionsverschiedenen Eheschließungen stieg stark an, und damit kam es zu einer Annäherung zwischen konfessionsgleichen und konfessionsverschiedenen Eheschließungen. Ursächlich für diese Entwicklung waren die großen Flüchtlingsströme nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die bis 1961 12 Millionen Menschen in der Bundesrepublik eine neue Heimat fanden.1 Ferner führte die gestiegene Mobilität zu einer Erosion konfessioneller Grenzen2. Trotz dieser Annäherung waren die konfessionsverschiedenen Ehen und Familien evangelisch-katholischer Prägung in den 1960er Jahren im Vergleich zu den konfessionshomogamen Ehen immer noch unterrepräsentiert. Kennzeichnend für die 1960er Jahre war, dass sich Ehe, Familie und auch die Kirche in Deutschland als stabile gesellschaftliche Institutionen präsentierten. Die Kernfamilie mit verheirateten Eltern und nicht erwerbstätiger Mutter war das dominierende Modell. Die Zahl der Eheschließungen und Geburten war hoch, die der Scheidungen niedrig. Die beiden Volkskirchen hatten hohe Mitgliedszahlen und die Zahl der Kirchenaustritte war (noch) gering. Diese stabile Ordnung sollte sich in den kommenden Jahrzehnten verändern. Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung und Modernisierung führten zu einer Auflösung konfessionell geprägter Milieus und zur Abnahme kirchlicher Bindungen mit der Folge einer weiteren Annäherung der konfessionsgleichen und konfessionsverschiedenen Familientypen im historischen Verlauf. Das ehemals Besondere wurde immer mehr zum Allgemeinen. Im Gegensatz zu konfessionshomogamen Ehen sind bei den konfessionsverschiedenen Ehen aus kirchlicher Perspektive besondere Entscheidungen zu treffen. So muss bei einer kirchlichen Trauung über die Wahl der Traukonfession und ggf. auch über die Wahl der Taufkonfession der Kinder entschieden werden. Für die Entscheidung zur kirchlichen Trauung evangelisch-katholischer Paare zeigen sich relativ stabile Verhältnisse in beiden Konfessionen. So ist zwar die Bereitschaft zu einer kirchlichen Trauung bei konfessionsverschiedenen Ehen deutlich geringer, gleichwohl ist sie vorhanden3. Im historischen Vergleich näherten sich die Trauziffern konfessionshomogamer und konfessionsverschiedener Ehen einander an, weil insbesondere die Traubereitschaft rein evangelischer und rein katholischer Paare nachließ. 1 Beate Beyer / Jörg Beyer, Konfessionsverbindende Ehe. Impulse für Paare und Seelsorger, Mainz 1986, 17f. 2 Peter Lengsfeld, Das Problem der Mischehe. Einer Lösung entgegen. Freiburg/ Basel/Wien 1970, 23; Peter Neuner, Geeint im Leben – getrennt im Bekenntnis? Die konfessionsverschiedene Ehe. Lehre – Probleme – Chancen, Düsseldorf 1989, 91. 3 Niels Logemann, Konfessionsverschiedene Familien. Eine empirische Untersuchung von unterschiedlichen Entscheidungsbereichen und ihre theoretische Erklärung unter Verwendung des Bourdieuschen Kapitalkonzepts, Würzburg 2001, 28ff.

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Neben den Eheschließungen und Trauungen sind auch die Zahlen der Geburten und Taufen ein wichtiger Indikator der Kohäsion und Stabilität in diesen Gemeinschaften. Lange Zeit gab es kirchliche Vorbehalte gegenüber konfessionsverschiedenen Paaren, weil die Tradierung von Glaube und Konfession erschwert schien und religiöse Indifferenz drohe mit der Folge, dass diese Ehen und Familien der eigenen Kirche verloren gingen (vgl. Kap. 3.1). In absoluten Zahlen betrachtet lagen die Geburten mit konfessionsgleichen Eltern deutlich über denen aus Ehen unterschiedlicher Konfession. Doch ähnlich wie die Entwicklung der Eheschließungen bewegten sich auch die Geburten konfessionsgleicher und konfessionsverschiedener Eltern aufeinander zu. Insbesondere nach der Vereinigung Deutschlands 1990 überwog die Geburtenzahl derjenigen Eltern, die einer anderen oder keiner der beiden großen Kirchen angehörten.4 Bei den Taufen zeigten sich im historischen Verlauf allerdings konfessionell unterschiedliche Bewegungen. Bei rein evangelischen Familien wurden nahezu alle Kinder evangelisch getauft, bei den Kindern aus evangelischkatholischen Familien war die Zahl geringer, aber auch sie stieg im historischen Verlauf an. Diese Annäherung ist bei der Betrachtung der katholischen Familien nicht zu beobachten.5 Gegenwärtig führen Ehe- und Elternpaare, die nicht einer der beiden großen Volkskirchen angehören, die Statistik bei den Eheschließungen und Geburten an. So zeigen Daten der amtlichen Statistik, dass von den 387 423 Eheschließungen in 2012 28% der Eheschließenden beide entweder evangelisch oder katholisch waren, 40% gehörten beide Partner keiner Religionsgemeinschaft an und 32% der Eheschließungen hatten Partner mit unterschiedlicher Konfession oder Religion.6 Bei den Geburten zeigt die Statistik für das Jahr 2012, dass die Hälfte der Eltern keiner Religionsgemeinschaft angehörte, 27% der Kinder hatten konfessionsgleiche evangelische oder katholische Eltern und 23% der Kinder hatten konfessionsverschiedene Eltern.7 Bei den kirchlichen Trauungen und Taufen sind es die konfessionsgleichen Ehe- und Elternpaare, die die Statistik anführen, allerdings kommt es hier zu einer Annäherung, da auch die Traubereitschaft der konfessionsgleichen Paare abnimmt. Bei den Taufen kommt es seitens der ›evangelischen‹ Taufen zu einer deutlichen Annäherung zwischen rein evangelischen und evangelisch-katholischen Elternpaaren. Die Kirchenstatistik weist für 2012 47 161 katholische und 48 833 evangelische Trauungen aus. Der Anteil der konfes-

4 Logemann, Familien (s.o. Anm. 3), 37ff. 5 Logemann, Familien (s.o. Anm. 3), 42f. 6 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2012, Fachserie 1, Reihe 1.1. Wiesbaden 2014. 7 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung (s.o. Anm. 7).

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sionshomogamen katholischen Trauungen lag bei 62%, der Anteil der konfessionsgleichen evangelischen Trauungen bei 56%8. Zusammenfassend lässt sich für die zeithistorische Betrachtung festhalten, dass sich die Eheschließungs- und Geburtenzahlen konfessionsverschiedener Ehepaare im Vergleich zu den Eheschließungen und Geburten konfessionsgleicher Paare einander annähern. Ab den 1990er Jahren kommt es zu einem überproportionalen Anstieg gemischtkonfessioneller Ehen und Geburten, was u.a. bedingt ist durch den Rückgang der kirchlichen Bindungen und damit von Paaren, in denen ein Partner einer der Volkskirchen angehört. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass konfessionsverschiedene Ehen und Familien als Folge gesellschaftlicher Pluralisierungen mittlerweile zu einem gängigen familienstrukturellen Typus geworden sind9. 2.2 Konfessionsverschiedenheit – Chancen und Risiken Insbesondere die Katholische Kirche sah und sieht Konfessionsverschiedenheit als kirchenrechtliche und pastorale Herausforderung. Als Risiken einer Verbindung zwischen konfessionsverschiedenen Paaren wurden die folgenden Aspekte identifiziert:  mangelnde Integration der Familien in die Kirche z.B. durch die Schwierigkeiten bei der religiösen Sozialisation der Kinder;  geringere Geburtenzahlen und höhere Scheidungsraten;  die Frage nach einer kirchlichen Trauung und die Entscheidung über die Wahl der Traukonfession;  die Frage nach der Taufe der Kinder und die Entscheidung über Wahl der Taufkonfession;  religiöser Indifferentismus;  Konfliktanfälligkeit. Kurzum: Die Katholische Kirche sah in gemischtkonfessionellen Ehen eine Gefahr für die Stabilität der Ehe sowie für den Bestand der Religionsgemeinschaft bzw. der Kirche selbst. Um die Zahl der »Mischehen« zu beschränken, sah das katholische Kirchenrecht am Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bekenntnisverschiedenheit der Traubegehrenden ein Ehehindernis. Für die Trauung mit einem nichtkatholischen Partner bestand die Auflage, einen Dispens einzuholen, welcher nur unter Einhaltung bestimmter Auflagen erteilt wur-

8 Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben 2014, Hannover 2014; Katholische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten 2013/14, Bonn 2014. 9 Dimitrij Owetschkin, Konfessionsverschiedene Ehen und Familien als Instanzen der religiösen Sozialisation, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 44 (2010), 59–88.

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de.10 Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) hofften viele konfessionsverschiedene Paare auf eine stärkere kirchliche und auch rechtliche Anerkennung. Es wurde gar von einem Testfall für die Ökumene gesprochen.11 Doch das Konzil konnte diese Hoffnungen nicht erfüllen, und das Ehehindernis der Bekenntnisverschiedenheit blieb weiterhin bestehen. Mit der Neuordnung des katholischen Kirchenrechts 1983 wurde aus dem Ehehindernis ein Trauverbot, die Eheschließung zwischen einem katholischen und einem nichtkatholischen Partner wurde zu einer erlaubnisgebundenen Handlung. Auch die Evangelische Kirche positionierte sich und versuchte dabei der katholischen Rechtsordnung etwas entgegenzusetzen. Die Gründung des Evangelischen Bundes war ein Teil dieser Strategie. Ein anderer Teil waren die Handbücher zur »Mischehe«. In dem von F. von der Heydt herausgegebenen Handbuch lässt sich beispielsweise lesen: »Die Mischehenfrage zwingt dazu, der katholischen Ausprägung des Christentums viel mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als es bisher geschieht. Die evangelische Kirche kann auch nicht umhin, die katholische Mischehenpraxis zu schildern, die die geistige Gemeinschaft der Mischehe zur Unmöglichkeit macht«12. Ab den 1950er Jahren und insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren entstand eine rege Publikationstätigkeit zum Thema konfessionsverschiedene Ehen und Familie.13 Im Zuge dessen rückten die Chancen konfessionsverschiedener Ehen in den Mittelpunkt. Es ging nicht länger um die Legitimation dieser Ehen, sondern um deren positive Ausgestaltung und das Konfessionsverbindende. Die Trennung der christlichen Kirchen wurde deshalb auch als eine verursachende Bedingung für die Schwierigkeiten konfessionsverschiedener Ehen und Familien angesehen.14 Während im vergangenen Jahrhundert die Ehen in der Merkmalsausprägung evangelisch-katholisch im Fokus standen, finden sich in neueren Publikationen stärker religionsverschiedene Beziehungen, und es steht zu vermuten, dass mit der Entwicklung hin zu einer Einwanderungsgesellschaft dieser Typus stärkere Aufmerksamkeit finden wird.

10 Ursula Beykirch, Von der konfessionsverschiedenen zur konfessionsverbindenden Ehe? Eine kirchenrechtliche Untersuchung zur Entwicklung der gesetzlichen Bestimmung, Würzburg 1987. 11 Neuner, Geeint im Leben (s.o. Anm. 2). 12 Fritz von der Heydt, Die Mischehe. Praktisches Handbuch für evangelische Mischehenarbeit, Berlin 1926, 126, zit. nach Neuner, Geeint im Leben (s.o. Anm. 2), 43. 13 Peter Lengsfeld (Hg.), Ökumenische Praxis. Erfahrungen und Probleme konfessionsverschiedener Ehepartner, Stuttgart 1984. 14 Exemplarisch Wiltrud Will / Michael Will (Hg.), Wir leben in Mischehe. Evangelische und katholische Ehepartner reden, um zu helfen, München 1969; Beate Beyer / Jörg Beyer, Konfessionsverbindende Ehe (s.o. Anm. 1).

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Insgesamt gibt das Thema heute wenig Anlass zur publizistischen Auseinandersetzung, und dementsprechend ist die Zahl der Veröffentlichungen stark rückläufig. 3 Herausforderungen Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, stellen sich für die in einer konfessionsverschiedenen Gemeinschaft lebenden Paare und Familien zuweilen neue Herausforderungen. Zu nennen sind die Frage nach einer religiösen Erziehung der Kinder sowie die religiöse Praxis, verstanden als die Ausübung gemeinsamer familialer Rituale – Aspekte, die aus kirchlicher Perspektive lange Zeit als konflikthaft galten, mittlerweile aber im Zuge einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung und Pluralisierung an Konfliktpotenzial verloren haben. 3.1 Religiöse Erziehung Die Entscheidung konfessionsverschiedener Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, ist eine wichtige Frage, an der sich ablesen lässt, wie die mit der Taufe gewählte konfessionelle Anbindung konkret in der Praxis umgesetzt wird. Zum anderen kann sie eine Antwort auf das Verhältnis von Chancen und Risiken einer religiösen Erziehung geben. Das Feld der religiösen Erziehung wurde deshalb als besonders gravierend angesehen, weil der Verzicht auf diese, so die These, zu religiöser Indifferenz führe. Religiöse Indifferenz wiederum könne das Fehlen einer gemeinsamen religiösen Basis sowie religiöser Elemente im familialen Alltag zur Folge haben.15 Ferner müsse über die Frage der Zuständigkeit für diese religiöse Erziehung entschieden werden, d.h. welcher Partner diese Aufgabe übernimmt. Untersuchungsergebnisse dazu zeigen, dass der religiösen Erziehung auch im konfessionsverschiedenen Familiensystem eine Bedeutung zukommt. Auf der strukturellen Ebene der Zuständigkeitsverteilung werden die Modelle paritätische Zuständigkeitsverteilung versus Alleinverantwortlichkeit eines Partners gleichermaßen gewählt, wobei das Modell Alleinverantwortlichkeit ganz überwiegend von der katholischen Mutter umgesetzt wird.16 Auf der inhaltlichen Ebene, also der Frage nach der konkreten Umsetzung dieser religiösen Praxis, lassen sich vielfach positive Effekte feststellen. Sofern die Partner selbst positive religiöse Erfahrungen in der eigenen Vergangenheit gemacht haben, sind diese religiö15 Walter Schöpsdau, Konfessionsverschiedene Ehe. Ein Handbuch. Kommentar und Dokumente zu Seelsorge, Theologie und Recht der Kirchen, Göttingen 1995, 105. 16 Ausführlich dazu Logemann, Familien (s.o. Anm. 3), 231f.

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sen Erziehungselemente auch in der familialen Alltagspraxis der Gegenwart vertreten. Ferner findet ein Austausch zwischen den Partnern über die konkrete Umsetzung der religiösen Erziehung statt, so dass sich hier deutlich positive Effekte zeigen. Religiöse Erziehung vollzieht sich somit stärker innerhalb einer privaten, an der Kernfamilie orientierten Sphäre, wobei den Frauen vielfach die Hauptverantwortung zukommt. Insgesamt lässt sich sagen, dass religiöse Erziehung in konfessionsverschiedenen Familien hohe Akzeptanz genießt. 3.2 Die religiöse Praxis – Gemeinsame Rituale Neben einer religiösen Erziehung ist es insbesondere die religiöse Praxis, die die religiöse Sozialisation prägt. Religiöse Rituale und deren praktische Einübung in Form von Gebeten oder Kirchgängen können deshalb als Vermittlungsinstrumente einer christlichen Tradition verstanden werden. In dieser Frage gibt es nun zwei gegensätzliche Thesen. Die These der De-institutionalisierung nimmt die gesellschaftliche Makroeben in den Blick und stützt sich dabei u.a. auf die Schwächung bzw. abnehmende Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen wie Familie oder Kirche. Für die Familie lassen sich diese Veränderungen anhand sinkender Eheschließungs- und Geburtenziffern bei gleichzeitigem Anstieg der Scheidungsquoten belegen. Auch die Ausdifferenzierung familialer Lebensformen, z.B. in Form von nichtehelichen Lebensgemeinschaften etc., spricht für die De-institutionalisierung. Der kirchliche De-institutionalisierungsprozess selbst lässt sich als Entkirchlichung beschreiben und an den sinkenden Mitgliederzahlen festmachen. Die Gegenthese nimmt hingegen die Mikroebene der Familie in den Blick und sieht diese immer noch als »herausragenden Lernort des Glaubens«17. Die Frage ist also, ob sich der auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu konstatierende De-institutionalisierungsprozess in der religiösen Praxis konfessionsverschiedener Familien niederschlägt. Führt Konfessionsverschiedenheit zu einer Einschränkung der religiösen Ritualpraxis? In der bereits zitierten Untersuchung zu den unterschiedlichen Entscheidungsbereichen in konfessionsverschiedenen Familien zeigen die Ergebnisse18 zur Ritualpraxis am Beispiel von Gebet, Kirchgang, Gesprächen über Religion und Bibellektüre zusammenfassend zwar eine Niveauverschiebung nach unten und damit eine Abnahme, gleichzeitig zeugen sie aber von einer bleibenden Bedeutung dieser religiösen Praxis für die konfessionsverschiedenen Familien. Darüber hinaus zeigt sich, dass die 17 Bernhard Grom, Bedeutung und Bedarf religiöser Erziehung in der Familie, in: Evangelische Akademie Baden (Hg.), Wenn Dich Dein Kind fragt … Erzieherische Kompetenz und religiöse Erziehung in der Familie, Karlsruhe 1996, 24. 18 Ausführlich dazu Logemann, Familien (s.o. Anm. 3), 238ff.

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Frauen in der eigenen Kindheit deutlich stärker mit religiösen Ritualen konfrontiert waren und dass die Mütter diese Praxis auch in stärkerem Maße an ihre Kinder weitergeben. In der Frage des interkonfessionellen Vergleichs in der Ausübung religiöser Rituale zeigt sich ein interessantes Ergebnis, denn die deutlichen Unterschiede zwischen beiden Konfessionen in der eigenen Kindheit nivellieren sich bei der Betrachtung der nachfolgenden Generation der Kinder. Dieses Ergebnis könnte in Bezug auf die Ausübung religiöser Rituale auf eine Angleichung zwischen den Konfessionen innerhalb des familialen Systems hinweisen. Eine milieuspezifische Religiosität wird zur Familienreligiosität.19 Allen Schwierigkeiten zum Trotz kann die moderne Familie hinsichtlich der Etablierung einer religiösen Praxis durchaus eine Vermittlerrolle einnehmen. Insbesondere sind es die Frauen, denen hier eine besondere Bedeutung bei der Tradierung dieser Praxis zukommt. 4 Wirkungen – Konfliktanfälligkeit oder neue Chancen zum Dialog? Betrachtet man die Konfessionsverschiedenheit auf einer theoretisch analytischen Ebene des Ehe- bzw. Familiensystems, so lässt sich das herausfordernde Moment der Konfessionsverschiedenheit als der Umgang mit der eigenen und der fremden konfessionellen Identität20 beschreiben. Berger und Kellner verstehen die Ehebeziehung als das Konstrukt einer gemeinsam entworfenen Wirklichkeit.21 Wie in jeder gesellschaftlichen Beziehung müssen auch in der Ehe die eigenen Erfahrungen objektiviert werden. Dies geschieht, indem die jeweils subjektiven Sinndeutungen in Gesprächen mit dem Partner verständlich gemacht werden, so dass die jeweiligen, biographisch entstandenen Erfahrungen zu einer gemeinsamen Wirklichkeit zusammengeführt werden. Je besser diese Zusammenführung gelingt, desto konfliktfreier gestaltet sich die Ehe. Diese Sichtweise kommt auch in einer anderen, interessanten Deutungsfigur zum Ausdruck. So lässt sich Konfessionsverschiedenheit einerseits als äußeres Gruppenmerkmal verstehen und andererseits als innere Haltung. In der Literatur findet sich diese Differenzierung z.B. in Form einer latenten Konfessionsverschiedenheit (innere Haltung) und einer mani-

19 Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg/Basel/Wien 61998, 170. 20 Dimitrij Owetschkin, Religiöse und konfessionelle Identität in konfessionsverschiedenen Familien, in: ders., Tradierungsprozesse im Wandel der Moderne, Essen (2012), 199–242, hier 206ff. 21 Peter L. Berger / Hannsfried Kellner, Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens, in: Soziale Welt 16 (1965), 220–235.

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festen Konfessionsverschiedenheit (äußeres Merkmal).22 Folgt man dieser Annahme, dass die innere Haltung zur Konfession bedeutsam ist, so wären sogar Konflikte bei latenter Konfessionsverschiedenheit trotz manifester Konfessionsgleichheit denkbar. Bereits in den 1970er Jahren wurden derartige Positionen in der Literatur vertreten.23 Empirische Ergebnisse zur Wirkung der Konfessionsverschiedenheit zeigen, dass die Konfession in der konfessionsverschiedenen Familie durchaus eine Bedeutung und eine identitätsstiftende Funktion auf der Individualebene der Partner hat.24 Konfessionsverschiedenheit führt keineswegs zwangsläufig zu einem Verzicht auf religiöse Praxis, sondern ist durchaus als Chance zum Dialog anzusehen. 5 Die Bedeutung der Religion heute Im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren bietet das Thema der konfessionsverschiedenen Ehen und Familien heute kaum noch Anlass zur publizistischen Auseinandersetzung. Die ehemals auf diese Gruppe bezogenen Einstellungen, Haltungen und (Vor)Urteile haben sich im Zuge gesamtgesellschaftlicher Veränderungen gewandelt. Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung haben dazu beigetragen, dass sich die Funktion der Religion als wichtiges gesellschaftliches Sinn- und Wertesystem verändert hat. Statistisch gesehen sind konfessionsverschiedene Ehen und Familien sogar zum Normalfall geworden, und auch die kirchlichen Haltungen gegenüber diesen Familien haben sich dahingehend verändert, dass nunmehr die Verbundenheit der Konfessionen in der Paar- und Familienbeziehung betont wird. Damit steht nicht länger das Trennende, sondern das Verbindende im Mittelpunkt. Geht mit dieser Normalität gleichzeitig ein Bedeutungsverlust von Religion einher? Auf der Ebene der Zugehörigkeit müssen die beiden großen Volkskirchen bereits seit den 1970er Jahren einen Rückgang ihrer Mitglieder verzeichnen. Insbesondere mit der gesamtdeutschen Vereinigung änderte sich das Verhältnis von Konfessionsgebundenen zu Konfessionslosen, und die relative Zahl der Kirchenmitglieder nahm kontinuierlich ab. Doch dieser Rückgang ist weniger ein Phänomen mangelnder kirchlicher Verbundenheit als vielmehr Ausdruck des demographischen Wandels.25 22 Georg Hermann Dellbrügge, Die konfessionsverschiedene Ehe im Pfarrhaus. Gesichtspunkte für ein Gespräch, in: Pastoraltheologie. Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 74 (1985), 514–527. 23 Reinhard Frieling, »Mischehe« – aber wie? Kommentar und Dokumente zu Seelsorge und Recht bei Ehen konfessionsverschiedener Paare, Göttingen 1971. 24 Logemann, Familien (s.o. Anm. 3), 257ff. 25 Der Verlust an Kirchenmitgliedern wird verursacht durch die hohe Zahl an Sterbefällen und nicht durch Kirchenaustritte. Vgl. Joachim Eicken / Ansgar Schmitz-

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Die Bedeutung der Kirche lässt sich aber nicht allein an der Entwicklung ihrer Mitgliedszahlen festmachen, so dass eine Unterscheidung zwischen Religiosität und Kirchenzugehörigkeit geboten erscheint. So kann es durchaus Kirchenmitgliedschaften ohne religiöse Überzeugungen geben und umgekehrt Mitgliedschaftsverzicht trotz vorhandener Religiosität26. Ein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen einer konfessionellen Anbindung und dem individuellen Glauben ist damit nicht notwendigerweise gegeben. Neben der abnehmenden Bedeutung des Religiösen einerseits gibt es andererseits neue Formen wie Spiritualität oder Fundamentalismus. Abhängig von der Religionszugehörigkeit besitzt die Religion einen unterschiedlichen Stellenwert. Während Muslime ihrer Religion und Religiosität einen hohen Stellenwert zuweisen, ist dieser bei den Christen geringer. Damit ist die Frage nach dem Stellenwert der Religion, gerade in offenen Gesellschaften unter den Bedingungen zunehmender Migration, von zentraler Bedeutung für das Zusammenleben. So wie die Ökumene sich um den Dialog in der christlichen Kirche kümmert, wird in Zukunft möglicherweise der Dialog zwischen Christen, Konfessionslosen und Muslimen in den Mittelpunkt rücken. Vielleicht wird es in diesem Zusammenhang auch zu einer Vitalisierung des konfessionell oder kirchlich geprägten Religiösen kommen als Abgrenzung zu anderen Religionen und Werthaltungen. Wichtig ist hier, neben der Familie, auch die Rolle der Bildungsinstitutionen, die in einer aufklärerischen Haltung einem aufkommenden religiösen Analphabetismus entgegentreten müssen. Ähnlich wie die Globalisierung einen Trend zur Stärkung lokaler Identitäten mit sich bringt, kann es auf dem Feld des Religiösen zu ähnlichen Bewegungen kommen. Toleranz ist eine Werthaltung, die hier bedeutsam ist, aber auch Offenheit und das Interesse an dem Anderen und seinen religiösen Haltungen. Neben dem interkonfessionellen Dialog der Ökumene wird es in Zukunft wohl verstärkt um den interreligiösen Dialog gehen. In diesem Sinne können Familien und Bildungsinstitutionen als zentrale gesellschaftliche Sozialisationsagenturen einen wichtigen Beitrag zu Humanität und Toleranz, Kenntnis und Verständnis in einer vitalen Zivilgesellschaft leisten.

Veltin, Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland, in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 6/2010, 567–589. 26 Rolf Schieder / Hendrik Meyer-Magister, Neue Rollen der Religion in der modernen Gesellschaft, in: APuZ 24/2013, 28–34.

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6 Fazit und Ausblick Der Beitrag konnte zeigen, dass die konfessionsverschiedenen Ehen und Familien im historischen Vergleich ihren Status des Besonderen abgelegt haben und statistisch zu einem Normalfall wurden. Die früheren, insbesondere kirchlicherseits vertretenen Vorurteile der Konflikthaftigkeit und des religiösen Indifferentismus lassen sich weder für die konfessionsverschiedenen Familien noch für die Gesamtgesellschaft durchgängig aufrechterhalten. Religion und das Religiöse, die Suche nach Sinn und die Vermittlung von Werten sind immer noch bedeutsame Fragen, die das Individuum sowohl an sich selbst stellt als auch für die Weitergabe an die nächste Generation. Auch in konfessionsverschiedenen Ehen wirken sich v.a. eigene Kindheitserfahrungen mit Religion bzw. Konfession auf die Erziehung der Kinder aus. Im Zuge weiterer Migrationsbewegungen ist zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und religiösen Überzeugungen im Zusammenleben mit anderen an Bedeutung zunimmt. Insofern kann die konfessionsverschiedene Familie als hilfreiches Modell betrachtet werden, das sich schon lange dieser Auseinandersetzung gestellt hat. Dr. Niels Logemann ist Fortbildungsverantwortlicher am Kompetenzzentrum für Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung der Universität Vechta.

4.6 Andreas Siegmund

Die ökumenische Gemeinschaft von Taizé als Lernort für religiöse Bildung Erfahrungen eines Gymnasiallehrers bei Tagen der Orientierung mit Schülerinnen und Schülern der 10. und 11. Jahrgangsstufe »In den letzten Jahren habe ich oft sehr daran gezweifelt, dass es Gott gibt. Aber die Gottesdienste hier in Taizé haben mich sehr viel zum Nachdenken gebracht über die Art, wie ich mit Gott in Verbindung treten kann. Nach Taizé mitzufahren, war eine wichtige Entscheidung, die sich auch auf mein Leben auswirkt. Denn den Glauben kann ich von Taizé mit nach Hause und überall hin mitnehmen. Hier ist mir plötzlich bewusst geworden, was in meinem Leben wirklich wichtig ist.« Diese Sätze brachte eine unserer Schülerinnen am Ende einer Woche in Taizé zu Papier. Sie beschreibt die Zeit in Taizé als eine Erfahrung, die sie innerlich berührt und verändert hat, die Tage bei der ökumenischen Gemeinschaft der Brüder als eine Zeit, die Relevanz für ihr Leben hat. Sie spricht damit etwas aus, was viele unserer Schülerinnen und Schüler am Ende einer Woche in ähnlicher Weise erzählen. Und sie richtet damit auch den Fokus darauf, dass in Taizé etwas geschieht, was zutiefst zum Auftrag unserer Schule gehört: Die Woche in diesem kleinen Dorf im französischen Burgund ist für unsere Schülerinnen und Schüler ein Ort, an dem sich unsere jungen Menschen sehr intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihr Leben gestalten und verantworten wollen. Sie setzen sich mit ihrer Identität auseinander und erfahren hier, wie ihr Leben zur christlichen Glaubenstradition in Beziehung gesetzt wird. In den Formen der Spiritualität, die in Taizé gelebt werden, spüren unsere Jugendlichen, wie sie der Glaube trägt und hält. Seit dem Jahr 2002 brechen einmal im Jahr Schülerinnen und Schüler unserer 10. und 11. Jahrgangsstufe zusammen mit den Begleitlehrkräften und einer Gruppe von studentischen Betreuern nach Taizé auf, um dort eine Woche lang am Leben der Communauté de Taizé, die vom evangelischen Theologen Frère Roger gegründet wurde, teilzunehmen. Jeder meldet sich freiwillig an. Eingeladen sind Schülerinnen und Schüler aller Konfessionen, aber auch Jugendliche unserer Schule, die keiner Kirche angehören. Jede Woche kommen junge Menschen aus allen Teilen Europas und der ganzen Welt auf dem Hügel von Taizé zusammen, um das Leben der ökumenischen Gemeinschaft von Brüdern zu teilen. Die Jugendtreffen leben von der Begegnung mit anderen jungen Christen aus der ganzen Welt. In zahlreichen Kontakten lernen die Jugendlichen, wie

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andere junge Menschen denken, leben und glauben. Die Entscheidung für die Teilnahme an einer Fahrt nach Taizé muss jede/r Jugendliche frei fällen. Niemand muss besonders religiös geprägt sein, um an den Treffen teilzunehmen; gerade die Vielfalt der Jugendlichen macht eine Woche in Taizé so bunt und lebendig. Der Tagesablauf in Taizé ist durch die drei Gebete mit den Brüdern, die gemeinsamen Essenzeiten, die Mithilfe bei praktischen Arbeiten, die täglichen Bibeleinführungen, die Gesprächen in den Kleingruppen und die Zeit der Begegnung im Oyak nach dem Abendgebet klar strukturiert. Die Lebensart in Taizé wird von unseren Schülerinnen und Schülern als großer Kontrast zu ihrem Leben zuhause und mehr noch zu den Abläufen im Schulalltag empfunden. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, wird diese Woche in der Communauté für die jungen Menschen zu einem echten Lernort für ihr Leben und ihre Religiosität. Das beginnt damit, dass es in Taizé keine Angestellten gibt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Treffen übernehmen ganz selbstverständlich jegliche Arbeiten, die anfallen, wenn viele Menschen zusammenleben: angefangen bei der Zubereitung der Mahlzeiten, dem Austeilen des Essens und dem Abspülen des Geschirrs bis hin zum Putzen der Toiletten, dem Leeren der Mülleimer bis hin zum Herrichten der Kirche für das Gebet oder dem Empfang der Jugendlichen, die während der Woche neu in Taizé ankommen. Bemerkenswert dabei ist, dass die Jugendlichen die gemeinsame Arbeit als etwas beschreiben, das Spaß macht. Viele Schülerinnen und Schüler erzählen uns, dass sie bisher zuhause wenige Aufgaben für die Familie übernommen haben, dass ihnen das gemeinsame Arbeiten in Taizé aber Freude bereitet. So berichtet ein Schüler: »In Taizé macht es Spaß mitzuhelfen. Dabei kann man mit anderen reden und muss nicht alleine arbeiten. Deshalb sehe ich es nicht als Anstrengung an. Ich habe mich sogar öfter als Freiwilliger gemeldet, wenn noch jemand zur Unterstützung bei irgendeiner Arbeit gebraucht wurde.« Somit trägt die gemeinsame Übernahme von Aufgaben zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen ethischen Grundhaltung bei und ermutigt die jungen Menschen, Verantwortung zu übernehmen. Ein weiterer, sehr wesentlicher Aspekt ethischen Lernens ist der schonende Umgang mit Ressourcen und die Auseinandersetzung mit der Frage, wie viel der einzelne Mensch zum Leben wirklich braucht. Ein Schüler schreibt dazu am Ende der gemeinsamen Woche: »Ich bin wirklich überrascht, mit wie wenig ich hier in Taizé auskomme. Die Dinge, die ich sonst im Alltag brauche, treten plötzlich völlig in den Hintergrund. Hier habe ich erkannt, dass man gar nicht viel braucht, um glücklich zu sein: kein Handy, Internet oder perfektes Essen!« Diese Aussage bestätigt die Erfahrung, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fahrt mit der Einfachheit des Lebens in Taizé nicht nur arrangieren, sondern diese als Impuls für ihre Lebensplanung betrachten. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Brüder der Communauté für unsere Schülerinnen und Schüler Vorbilder sind. Das wurde zum Beispiel in einem

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Gespräch deutlich, das die jungen Menschen mit einem Bruder führten und ihn fragten, was ihm als Ordensmann eigentlich alles verboten sei zu tun. In sehr eindrucksvoller Weise überlegte der Bruder zusammen mit unseren Jugendlichen, »was alles möglich wird, wenn man etwas nicht tut.« So war es bemerkenswert, dass ein Schüler am Ende einer Woche berichtete: »Außerdem ist mir aufgefallen, wie wenig man eigentlich braucht, um glücklich zu sein, denn es reichte mir aus, einfach die Gemeinschaft hier zu spüren und zu Gott zu beten.« Diese Aussage zeigt, dass die jungen Menschen das, was in dieser Woche passiert, sehr aufmerksam wahrnehmen, differenziert beurteilen und als Option für die eigene Lebensgestaltung deuten. Sie fühlen sich in der Gemeinschaft getragen von einer Atmosphäre der Achtsamkeit, der Wertschätzung und des Respekts. Eine junge Frau aus unserer Schülergruppe bringt dies auf den Punkt, wenn sie sagt: »Ich finde es so schön, dass man hier mit Leuten über alles reden kann und auch immer ein Lächeln bekommt. Man kann über alles sprechen, über das man sonst nicht reden kann. Es tut gut, dass man hier von allen Leuten ernst genommen wird.« Die Schülerinnen und Schüler erleben in Taizé einen sensiblen, verantwortungsvollen und einfühlsamen Umgang miteinander und entwickeln somit auch ihre sinnliche Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit weiter. Eine fest institutionalisierte Form der Gemeinschaft sind die täglichen Gesprächsgruppen, die an die jeweiligen Bibeleinführungen anknüpfen, welche von den Brüdern angeboten und gestaltet werden. Dabei spricht ein Bruder über eine Bibelstelle, interpretiert sie und versucht dabei, an die Lebens- und Glaubenswelt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzuknüpfen. In den anschließenden Gesprächsgruppen werden die jungen Menschen anhand vorgegebener Impulse ermutigt, selbstständig ihre Erfahrungen und Überzeugungen zu formulieren und einander zuzuhören. Bemerkenswert finde ich, dass unsere Schülerinnen und Schüler immer wieder davon berichten, dass sie sich sehr ernsthaft mit den Bibelstellen beschäftigen. Dabei ist beachtlich, dass die jungen Menschen in hohem Maße auch Bezüge zum eigenen Leben herstellen können. Somit erfahren sie in den Gesprächsgruppen die lebensbedeutsame Kraft des Wortes Gottes in den biblischen Überlieferungen. Ganz nebenbei werden im ungezwungenen Umgang mit Jugendlichen aus allen Teilen der Welt Fremdsprachen angewendet, die in der Schule erlernt wurden. Darüber hinaus setzen sich die Schülerinnen und Schüler auch sehr intensiv mit verschiedenen Lebenskonzepten auseinander und treten damit in einen Austausch ein, in den Dialog verschiedener Überzeugungen, Kulturen und vor allem auch religiöser Prägungen. Damit wird die Woche in Taizé auch zu einem Lernort für interkulturelles und vor allem auch ökumenisches Lernen, und es passiert genau das, was sich die Brüder so sehr wünschen: Die Communauté möchte ein »Gleichnis der Versöhnung« leben in einer Welt, die geprägt ist von Zerrissenheit, Unverständnis und religiöser Intoleranz. Auf der Grundlage der Heiligen Schrift und der

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Traditionen aus den verschieden Kirchen lernen die jungen Menschen, andere Sichtweisen über den Glauben kennen und diese mit der eigenen religiösen Identität in Verbindung zu bringen. Ein Schüler drückt das so aus: »Ich finde hier so schön, dass man völlig offen über seinen Glauben reden kann und von allen Leuten ernst genommen wird. Man wird nicht dumm angeschaut, wenn man anders denkt. Keiner wird ausgegrenzt, egal welche Überzeugung er hat. Man kann hier über alles reden, über das man sonst nicht reden kann.« Ein Leben im Zeichen von Versöhnung, Frieden und Vertrauen zu führen, ist nicht vorstellbar, ohne dafür eine Quelle zu haben, aus der man Kraft schöpfen kann. So ist es sehr beeindruckend zu beobachten, wie sehr unsere Schülerinnen und Schüler die Gottesdienste als einen Ort entdecken, der ihnen guttut, eine Zeit, in der sie durchatmen und zur Ruhe kommen können. Sie fühlen sich von der Liturgie, welche die Brüder von Taizé im Laufe der Jahrzehnte immer weiter entwickelt haben, tief berührt und angesprochen. Dies zeigt, dass in Taizé das mystagogische Lernen eine große Rolle spielt. Die Gebete unterscheiden sich dabei in vielen Aspekten von der Gottesdienstform, die die Jugendlichen überwiegend zuhause erleben. So gibt es in der Kirche keine Stühle, vielmehr sitzen alle Kirchenbesucher auf dem Boden oder auf niedrigen Gebetshockern. Die Liturgie vereint Elemente aller christlichen Konfessionen, Lieder, Texte und Symbolhandlungen aus den christlichen Kirchen dieser Welt und die Heilige Schrift als Grundlage der Einheit. Während des Gottesdienstes wird nur vereinzelt Text gesprochen, es gibt keine Predigt, und auch die wenigen Gebete sind sehr kurz und meditativ. Ein wesentliches Element der Gottesdienste sind die Taizégesänge, deren Liedtext einen knappen Gedanken, einen kurzen Abschnitt aus der Bibel oder einen Text aus der Liturgie der verschiedenen Kirchen in den verschiedensten Sprachen dieser Erde meditiert. Die Liturgie in Taizé lebt davon, dass diese Gesänge immer und immer wieder wiederholt werden. Die kurzen geistlichen häufig repetierten Lieder in Ostinatobzw. Kanon-Form führen den Betenden immer wieder in die Gegenwart Gottes zurück, das ständige Wiederholen lädt stets zum Mitsingen ein. Ein wesentliches Element der Gottesdienste ist auch die etwa fünfzehnminütige Stille, die in jedem Gebet gehalten wird. Diese Erfahrung der Stille so vieler Menschen wird von unseren Schülerinnen und Schülern als sehr kraftvoll beschrieben. Viele sagen, dass sie lange nicht mehr wussten, wie sie beten sollen. In Taizé hätten sie wieder eine Form der Zwiesprache mit Gott gefunden. Eine junge Frau berichtet: »Die Schweigeminuten während des Gottesdienstes haben mich viel zum Nachdenken gebracht über die Art, wie ich mit Gott in Verbindung treten und wie ich beten kann.« Ein Schüler stellt im Gespräch über die Stille fest: »Ich finde es überwältigend, auf welche Gedanken man in der Stille kommt, Sachen, auf die ich vorher noch nie gekommen wäre, zum Beispiel, was ich in meinem Leben anders machen muss.« Viele unserer Jugendlichen erzählen, dass es ihnen anfangs sehr schwerfiel, die Stille zu ertragen.

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Dass sie sich nach einigen Tagen aber wunderten, dass die Zeit der Stille im Gebet schon vorbei sei. All diese Elemente in der Liturgie der Communauté tragen dazu bei, dass die Gottesdienste einen sehr offenen und gleichzeitig auch einladenden Charakter haben. Der täglich dreimalige Gottesdienst gibt den jungen Menschen Raum, ihrer eigenen Spiritualität zu begegnen und sich dadurch mit der Zeit für die Gegenwart Gottes öffnen zu können. So sitzen unsere Jugendlichen im ersten Gottesdienst häufig noch in Gruppen ganz hinten in der Kirche, finden aber sehr bald »ihren« Platz, verweilen dann oft lange beim Beten und Singen und beschreiben die Zeit des Gebets als eine sehr intensive und berührende Erfahrung. Eine Schülerin formuliert das so: »Ich glaube, noch nie, zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben, habe ich Gott so nahe gespürt wie hier in den Gottesdiensten.« Die Tage der Orientierung in Taizé sind seit vielen Jahren Teil des Bildungsangebots unseres Gymnasiums. Die Brüder der Communauté drücken das so aus: »Jede(r) ist hier, um Kraft zu schöpfen und einen Sinn für das eigene Leben (wieder)zu finden. In Taizé bereitet man sich auch darauf vor, zu Hause Verantwortung zu übernehmen, um Frieden und Vertrauen zu stiften.« Und so ist es bemerkenswert, wenn ein junger Mann unserer Schule am Ende der Woche schreibt: »Für mich waren die Tage hier eine Erweiterung sowohl meines spirituellen als auch persönlichen Horizonts. Ich glaube, noch nie, zu keinem Zeitpunkt meines Lebens so viel über mich und meine Beziehung zu Gott nachgedacht zu haben. Für mich selbst habe ich gelernt, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, meine Fehler als Teil von mir anzunehmen. Mir ist klar geworden, dass ich Dinge in meinem Leben ändern möchte. Beispielsweise mein Verhalten gegenüber Menschen, die ich neu kennenlerne, und solchen, die ich schon seit Jahren kenne. Nach Hause mitnehmen möchte ich die Offenheit und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Menschen, und ich möchte mich für andere einsetzen, die meine Hilfe brauchen.« Die Erfahrungen bei den Tagen der Orientierung in Taizé zeigen, dass die Fahrten für unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine große persönliche Bereicherung darstellen. Sie stärken das Selbst- und Verantwortungsbewusstsein, die Motivation zum Engagement für andere, und sie geben Impulse für die Lebensgestaltung, vermitteln die Fähigkeit zur ethischen Urteilsbildung und fördern die Hinführung zu Formen gelebten Glaubens und einer eigenen Spiritualität. Nicht zuletzt unterstützt die Woche in Taizé die sprachfähige Identität und Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen, die zum Beispiel in der Ökumene ihren Ausdruck finden.1 Als Beispiele für viele Aufbrüche wären hier zu nennen, dass es am Gymnasium Königsbrunn seit vielen Jahren ökumenische Gottesdienste und Gebete mit Gesängen aus Taizé gibt, dass sich junge Menschen nach einer Taizéfahrt zu einer geistlichen Gruppe zusammengeschlossen haben und miteinander beten und sich sozial engagieren. 1 Vgl. Fachprofil Katholische Religionslehre am Gymnasium im LehrplanPLUS.

Die ökumenische Gemeinschaft von Taizé als Lernort für religiöse Bildung

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Außerdem wurden einige junge Menschen ermutigt, sich im Ausland für bedürftige Menschen einzusetzen. Darüber hinaus bringen sich viele an der Schule im religiösen und auch sozialen Bereich ein. Es liegt auf der Hand, dass sich die Erfahrungen, die unsere Schülerinnen und Schüler während der Woche in Taizé machen, auf den immer vielschichtigeren Alltag einer Schulgemeinschaft positiv auswirken.2 Andreas Siegmund ist Studiendirektor am Gymnasium Königsbrunn (Bayern) und unterrichtet dort Mathematik und Katholische Religionslehre.

2 Vgl. Merkblatt der Communauté von Taizé zu Schulfahrten nach Taizé.

5 Zwischenrufe

5.1 Fulbert Steffensky

Umzug von München nach Berlin

Ich bin aufgewachsen in einer Gegend, in der man so katholisch war, wie man atmete. Zwei protestantische Familien gab es, die wir mit Scheu wahrnahmen, weil man ja nicht wusste, wie es einmal mit ihnen, den Nicht-Katholiken, endete. Mit 22 trat ich in ein Benediktinerkloster ein, studierte Theologie und wurde Priester. Es war zunächst eine Lebenswelt unmittelbarer Selbstverständlichkeiten, die den Zweifel nicht kannte. Dann kam das Konzil, und der Kontext mit seinen Selbstverständlichkeiten brach zusammen. Ich verließ das Kloster, ohne eine päpstliche Erlaubnis zu erbitten, und heiratete später. Damit war ich exkommuniziert und hatte keinerlei Möglichkeiten, innerhalb der Katholischen Kirche als Theologe zu arbeiten. Ich tat das Naheliegende: Ich trat in die Evangelische Kirche ein. Wieso aber war dieser Schritt nach einer solchen katholischen Kindheit und Jugend und nach 13 Jahre Klosterzeit naheliegend? Ich hatte in meinem Theologiestudium nichts anderes als die dumpfe Neuscholastik kennengelernt. Der Lese- und Lernhorizont war begrenzt. Dennoch geriet ich an Karl Barth und verschlang seine Bände. Das war nicht selbstverständlich, da man für »Protestantica« eine spezielle Leseerlaubnis haben musste. Karl Barth wurde langsam meine Gegensprache zur Neuscholastik, die mir immer blutleerer und abstrakter wurde. Es gab damals unter katholischen Theologen schon andere und neue Entwürfe. Aber in die Abgeschlossenheit meiner klösterlichen Ausbildung waren sie nur bei wenigen meiner Lehrer eingedrungen. Es ist ja immer ein großer Zufall, worauf man mit der Nase stößt. Ich stieß also auf Barth, er wurde mein eigentlicher Lehrer. Damit war protestantisches Denken vorbereitet. Es war aber noch ein Anderes, vielleicht Wichtigeres, was mir den Konfessionswechsel erleichtert hat. Ich stieß auf einen Arbeitskreis von Katholiken und Protestanten in Köln, mit denen wir später das Politische Nachtgebet gegründet haben. Zwei Punkte waren wichtig, der erste: Ich stieß auf lebendige Protestanten und nicht nur auf den »Protestantismus«. Die lebendigen Menschen, mit gleichen Anliegen und Sorgen, haben die Grenzen verblassen lassen. Der zweite Punkt: Wir haben im Nachtgebet versucht, gesellschaftliche Zustände in einem Gottesdienst vor der christlichen Tradition zu bedenken. Wir sprachen über die Ausplünderung der Erde, über Reichtum und Armut und über Rassismus. Über diesen großen Themen verschwanden die kleinen, etwa was die

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Fulbert Steffensky

Konfessionen trennt und was sie miteinander tun oder nicht tun dürfen. Wir hatten keine Zeit mehr für Quisquilien. Ich habe meinen Konfessionswechsel nie als eine innere Notwendigkeit gesehen. Wenn ich im Katholizismus als Theologe hätte arbeiten können, wäre ich katholisch geblieben. Aber da dieser Wechsel so unbedeutend war, konnte ich ihn auch vollziehen. Es war wie ein Umzug von München nach Berlin. Ich halte Konversionen für eine unnötige Kraftverschwendung. Aber gerade darum kann man sie tun, wenn äußere Gründe dafür sprechen; z.B. wenn der Ehepartner katholisch ist und die Partnerin evangelisch, oder wenn jemand den Flair des katholischen Gottesdienstes mehr liebt als den des evangelischen (oder umgekehrt), warum nicht? Es gibt aber auch Menschen, denen eine Konversion ein tiefes religiöses Anliegen ist. Das respektiere ich. Wer kennt die Lebensgänge von anderen? Komisch wird es nur, wenn der Protestant dann ein richtiger Katholik wird oder die Katholikin eine Vollblutprotestantin; wenn man also verbrennt, was man vorher angebetet hat, und wenn man anbetet, was man verbrannt hat. Konversion – Umzug von München nach Berlin? Niemand zieht ungestraft von München nach Berlin. Ein Konfessionswechsel kostet auch ein Stück Heimat. Es bleibt immer eine Spur Sehnsucht nach dem Geruch des alten Stalles, und an den neuen Stall gewöhnt man sich nur langsam. Obwohl ich keinen Augenblick meinen Schritt bedauere, möchte ich diese Sehnsucht nicht verlieren. Ich will nie übersehen, was ich in der Katholischen Kirche gelernt habe und was ihr Reichtum ist. Ein Konvertit sitzt mehr oder weniger zwischen zwei Stühlen, und das ist ein guter Platz. Man verdummt, wenn man einer Heimat völlig verfallen ist. Ich habe im Protestantismus nicht das Reich Gottes gefunden, und ich hatte es nicht im Katholizismus. Übrigens bin ich froh darüber, dass ich evangelisch geworden bin, nachdem ich Kloster und Priestertum verlassen habe. Ich erlebe oft das Gezerre ehemaliger katholischer Priester, die von ihrer Vergangenheit nicht loskommen; sich ständig an der Kirche reiben und sich erschöpfen in der Rechtfertigung ihres Schrittes. Ich bin ausgetreten, ich bin übergetreten und ich habe geheiratet. Ja, es waren große biographische Schritte, aber gerade die Tiefe der Schnitte hat mich vor jedem rückwärtsgewandten Ressentiment befreit. Wieviel Verrat auch immer in meinen Schritten steckt, weiß nur Gott allein. Mir bleibt nur der Humor meinen eigenen Lebensentscheidungen gegenüber. Dr. Fulbert Steffensky war von 1975–1998 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg.

5.2 Jürgen Martin

Mein Weg in die Katholische Kirche »Das Grab ist leer, der Held erwacht, der Heiland ist erstanden …« Seit meiner Kindheit ist mir dieses Lied vertraut, weil meine katholische Mutter es jedes Jahr am Osterfest vor sich hin sang, obwohl sie so gut wie nie mehr in die Messe ging. Nach ihrer katholischen Heirat mit einem evangelischen Mann hatte mein evangelischer Großvater meine Taufe in seiner Kirche durchgesetzt, so dass meine Mutter nach damaligem Kirchenrecht exkommuniziert war. Dennoch prägte sie mich atmosphärisch katholisch z.B. durch die samstäglichen Besuche in der Castroper St. Lambertuskirche. Bevor es auf den Wochenmarkt ging, wurde vor der Muttergottes eine Kerze entzündet. Die Weite, Stille und Erhabenheit des Raumes, für mich als Kind voller Zeichen und Wunder, haben sich mir unauslöschlich eingeprägt. Ganz anders war dagegen meine schlichte evangelische Emmauskirche, wo ich den Kindergottesdienst besuchte und konfirmiert wurde. Hier gab es nicht viel zu sehen, hier aber wurde erzählt. Nicht nur vom Pastor, sondern in Altersgruppen von den Kindergottesdiensthelfern, und die sprachen so, wie sie selbst die Geschichten verstanden: bunt und lebensnah, wohl nicht immer historisch korrekt, aber spannend und mitreißend. So wurde mir die Bibel geöffnet und zu einem lebendigen Buch. Später ging ich lieber in den Hauptgottesdienst der Erwachsenen. Obwohl ich die Predigt eher nur gefühlsmäßig wahrnahm, der Pastor sprach irgendwie gut und freundlich, beeindruckte mich das kräftige Singen der Gemeinde und die feierliche Stimmung. Auch die alten protestantischen Gottesdienste mit ihren festen z.T. noch bortnianskischen Gesängen konnten die Seele erheben, oder wenn am Erntedankfest zum Schluss Posaunen mit Orgel den Gemeindegesang »Nun danket alle Gott« begleiteten und alle Glocken unserer Kirche dazu läuteten. Beunruhigend und fremd blieb mir allerdings das heilige Abendmahl. Es wurde immer nur im Anschluss an den Predigtgottesdienst mit wenigen Gläubigen gefeiert. Wir Kinder mussten dazu die Kirche verlassen, und als ich dann am Sonntag nach meiner Konfirmation selbst das erste Mal an den Altar treten sollte, zitterten mir die Knie vor Aufregung und ich hoffte vor allem, nur nichts falsch zu machen. In den kommenden Jahren wurde ich Kindergottesdiensthelfer, obwohl ich vielleicht lieber so etwas wie Messdiener geworden wäre. Aber das war ja »katholisch«, was so viel bedeutete, wie »veräußerlichte Frömmigkeit«. In der evangelikal orientierten Jugendarbeit meines Kirchenkreises lernte ich Pfarrer kennen, die der Liturgie und Feier des Abend-

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Jürgen Martin

mahles mehr Aufmerksamkeit schenkten und sich dabei durchaus an katholischen Vorbildern orientierten. Es wurde missioniert und zelebriert – eine für mich damals faszinierende Kombination, die mich motivierte, Theologie zu studieren, um Pastor zu werden. Während meines Studiums in Bochum, Heidelberg und Tübingen hatte ich prägende ökumenische Begegnungen: So konnte ich ein Semester lang bei den Benediktinern im Kloster Ziegelhausen (Heidelberg) wohnen und 1975 an einer offiziellen Begegnung von Theologiestudierenden der EKD mit der Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau, Leningrad und Odessa teilnehmen. Vor allem aber lernte ich überzeugende Vertreter eines bewussten Luthertums und evangelischer Kommunitäten kennen. Dabei wuchs meine eigene konfessionelle Identität als Lutheraner. In der lutherischen Tradition fand ich eine hohe Wertschätzung des Sakramentalen wieder und ein Bewusstsein für die Würde der überlieferten Liturgie. Nach meiner Ordination auf die lutherischen Bekenntnisschriften (1982) legte ich einen Schwerpunkt meiner Gemeindearbeit in Gelsenkirchen auf eine würdige Gottesdienstgestaltung, die sich auch an »altkirchlichen« Formen orientierte (um das böse Wort »katholisch« zu vermeiden). Über fast 15 Jahre prägte ich damit die Gemeinde bis hin zu einer sonntäglichen Abendmahlsfeier und einer monatlich stattfindenden »evangelischen Messe«. Auch die Osternacht wurde ein fester Bestandteil des Kirchenjahres. Darüber hinaus hatte ich mit einigen evangelischen Pastoren und Pastorinnen die Aktion »Eucharistische Erneuerung« ins Leben gerufen. Wir versuchten, ein Bewusstsein für die Bedeutung von Gestalt, Form und Ritual auch im evangelischen Gottesdienst zu wecken, stießen damals aber oft auf die polemische Entgegnung, es ginge doch um die Texte und nicht um die Textilien. In dieser Zeit wurde mir sehr deutlich, dass alle mir wichtigen Bemühungen um Gestalten und Gestaltung unter dem Adiaphora-Urteil des Protestantismus standen: Das »satis est« der Confessio Augustana (CA 7) mochte vielleicht ausreichend sein für die Einheit der Kirche, aber nicht für eine lebendige Verkündigung des Evangeliums. Die größere Fülle gottesdienstlicher Wirklichkeit und Wirksamkeit erschien mir daher in der Evangelischen Kirche nicht erreichbar. Eher sah ich mich auf dem Weg in eine Art liturgische Splittergruppe. Da ich meine Gemeinde nicht in ein solches Ghetto führen wollte, beschloss ich schließlich in der Osternacht 1995, meinen Weg als Christ und Pfarrer in der Katholischen Kirche fortzusetzen. Der Abschied von der Gemeinde war traurig-herzlich. Mein Entschluss wurde nicht verstanden, aber die Freiheit dazu räumten mir die meisten ein, was mich bis heute bewegt und berührt. Nach meiner Firmung am 1. Advent 1995 im Kölner Priesterseminar lernte ich katholisches Gemeindeleben intensiver kennen und konnte mein Wissen in katholischer Theologie während eines Begleitstudiums in Bonn vertiefen. Schließlich wurde ich 1997 zum Diakon und im Jahr des Domjubiläums 1998 im Hohen Dom zu Köln zum Priester geweiht.

Mein Weg in die Katholische Kirche

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In meinem priesterlichen Dienst prägt mich bis heute die Freude an der Predigt und an der Schönheit der Liturgie. Was katholischen Mitchristen als selbstverständlich oder bisweilen gar lästig erscheint, erlebe ich immer noch und immer wieder neu als eine kostbare Gabe und Aufgabe, mit der behutsam und würdig umzugehen ist. Liturgischem Minimalismus stehe ich mit Vorbehalt gegenüber, weil ich nur zu gut weiß, dass Abgeschafftes für immer verloren ist. Nach meiner Erfahrung sind die geprägten Formen auch die prägenden, und Rituale verbinden Menschen miteinander und untereinander über den Gottesdienst hinaus; darum kommt ihnen auch eine hohe Verbindlichkeit zu – in der Hoffnung, dass uns Gott durch menschliche Gebärden, Worte und Zeichen nahe bleibt. Ich habe meinen Schritt trotz mancher Durststrecken und Enttäuschungen nie bereut und würde ihn heute noch einmal tun, nicht als einen Schritt weg von dem, was mich als evangelischer Christ geprägt hat, sondern in eine größere Fülle und Dichte der Glaubensgestaltung hinein. Jürgen Martin, Pfarrer; Pfarrvikar an St. Severin zu Köln.

6 Materialien für den Unterricht

6.1 Jürgen Pelzer

Ökumene im Netz Materialien, Wegquests und biographisch-narrative Zugänge im Storytelling

Die Digitalisierung schreitet voran. Wirtschaft und Politik reagieren mit einer Offensive um die Industrie 4.0 und der digital citizenship. Der Bildungssektor steht vor der Frage nach einer Bildung 2.0 angesichts des fundamentalen Wandels, wie vor allem in der Welt der digital natives Wissen konstruiert und tradiert wird. Die Religionspädagogik bleibt davon nicht unberührt. Im Zeitalter der selbstverständlichen Vernetzung, des always-on, in dem nicht zuletzt die Flüchtlingsthematik zeigt, wie sehr die Welt ein »globales Dorf« geworden zu sein scheint, stellt sich die Frage, wie das Internet, vor allem die sozialen Medien, den Religionsunterricht in Bezug auf das Thema Ökumene bereichern können. Gerade angesichts einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft und damit einer deutlich gestiegenen Heterogenität im religiösen Bereich, auch innerhalb der Schulen, wird die Frage nach den Chancen und Möglichkeiten einer religionsdidaktischen Nutzung des Internets für die unterrichtliche Aufarbeitung der Frage nach der Ökumene und damit nach der eigenen religiös-konfessionellen Verortung der Schülerinnen und Schüler zunehmend relevant. Während die Chancen sowie Bedingungen des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts bereits ausführlich in der neueren Literatur und Forschung analysiert und Weiterentwicklungen konzipiert werden,1 avisiert der folgende Beitrag vor allem zwei Ziele: Zum einen soll ein Überblick über die konkreten Anlaufstellen für Unterrichtsmaterialien zur Ökumene im Cyberspace gegeben werden. Die dahinterliegenden didaktischen Konzepte wie etwa das Webquest werden ebenfalls analysiert und vorgestellt. Zum anderen sollen die Entwicklungen im Internet ab 2004 näher in den Fokus genommen werden, die unter Begriffen wie Social Media, Web 2.0 oder soziale Medien firmieren: Das Internet ist 1 Vgl. beispielhaft: Rudolf Englert, Der besondere Reiz des konfessionellen Modells: Warum kein Religionsunterricht für alle?, in: Herder Korrespondenz, 67 (2013) Heft Spezial 2, 23–27 oder auch die Beiträge im Loccumer Pelikan, Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde, 4/2015, URL: http://www. rpi-loccum.de/material/aufsaetze/4-15_lueck, sowie Lothar Kuld / Joachim Weinhardt / Friedrich Schweitzer / Werner Tzscheetzsch, Im Religionsunterricht zusammenarbeiten: Evaluation des konfessionell kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg, Stuttgart 2009.

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durch soziale Netzwerke von einem Informations- zu einem Kommunikationsraum geworden, einer digitalen Agora, einem Marktplatz des sozialen Austausches, ähnlich jener Situation, wie Paulus sie offline zur Zeit seiner Areopagrede vorfand (Apg 17,16–34). Daher werden didaktische Überlegungen vorgestellt, welche die Möglichkeiten der sozialen Medien als Kommunikationsraum der Postmoderne für den Unterricht mit dem Thema Ökumene zusammendenken. Dies geschieht nicht in Form fertig ausformulierter Unterrichtsentwürfe, sondern vielmehr im Sinne eines didaktisch reflektierten Methodenkoffers, den dieser Artikel darstellen möchte. Hinzu kommt der Umstand, dass 2017 das Jahr der Reformation ist. Viele Aktionen der Evangelischen Kirche im Rahmen dieses Jubiläums sind internetgestützt und werden dementsprechend in den folgenden Aufstellungen berücksichtigt.2 1 Fundgrube Internet: Unterrichtsentwürfe im Web 1.0 Begibt man sich als Lehrkraft oder Interessierter auf die Recherche zum Thema Ökumene ins Netz, wird schnell deutlich, dass sich die Materialbeschaffung herausfordernd gestaltet. Unter der Überschrift »Es gibt wenig Ökumene im Netz« fasst das christliche Medienmagazin Pro eine Diskussion im Deutschlandfunk aus dem Jahr 2012 mit Christiane Florin, Redaktionsleiterin der ZEIT-Beilage Christ & Welt, zusammen. Auch auf der größten Agora des Netzes, dem sozialen Netzwerk Facebook, begegnen kaum Gruppen zum Thema Ökumene, während es bei anderen Themen eine große Bandbreite an religiösen Gruppen in sozialen Netzwerken gibt. Die Schwierigkeit bei der Recherche nach Unterrichtsmaterial zum Thema Ökumene besteht in der Auffindbarkeit der Materialien. Unter dem Stichwort »Ökumene« werden meist nur einige ausgewählte Unterrichtsmaterialien gelistet, die sich dezidiert mit der Thematik beschäftigen. Bei vielen Themenfeldern wird die ökumenische Dimension mitthematisiert, ohne dass der Unterrichtsentwurf in der Suchfunktion mittels des Stichwortes Ökumene auffindbar ist. Von daher empfiehlt es sich, bei der Suche auch die Stichwörter »Konfessionen«, »evangelisch« bzw. »katholisch« zu nutzen sowie Stichworte je nach Themenschwerpunkt einzugeben, bspw. »Abendmahl« oder »Eucharistie«. Ausgehend von den großen konfessionellen Portalen zur Unterrichtsgestaltung soll im Folgenden zunächst eine Übersicht der interessantesten Portale für Unterrichtsentwürfe und weiteres Material gegeben werden. Insgesamt fällt dabei auf, dass viele der Materialien eher als Impulse zur Inspiration und Ermutigung gedacht sind denn als komplett 2 Die Evangelische Kirche hat neben einer besonderen Themenseite (https://www. ekd.de/reformationstag) auch viele weitere Seiten mit interessanten Materialien für die religionspädagogische Praxis online gestellt, wie etwa in Sachsen: http://www. impuls-reformation.de/.

Ökumene im Netz

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durchstrukturierte Unterrichtsreihen. Einige vorgestellte Unterrichtsentwürfe tragen diesem Umstand auch Rechnung, indem sie die möglichen Themen für einen konfessionell-kooperativen Unterricht aufzeigen.3 Die beiden großen religionspädagogischen Portale im Internet sind RPP Katholisch (www.rpp-katholisch.de) und RPI-Virtuell (www.rpi-virtu ell.net). RPP Katholisch wird betrieben im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und stellt eine Kooperationsplattform der Erzbistümer und Bistümer sowie diverser Einrichtungen, Verbände und Hilfswerke dar. Die Plattform führt einige Materialien zum Thema Ökumene auf und klassifiziert diese in Nachrichten, Buchvorstellungen, Schwerpunkte sowie nach Mediengattung (Text, Webseite, Film, Audio, Bild). Dabei handelt es sich um Arbeitshilfen, Unterrichtsideen inkl. Arbeitsblättern und stufenspezifische Unterrichtsbausteine des Hilfswerkes Missio unter dem Titel »Aufbauendes ökumenisches Lernen an der Schule«. Diese enthalten neben vielen anderen Themen z.B. auch Anregungen für Kirchraumpädagogische Konzepte sowie Anregungen zur Gestaltung eines ökumenischen Jugendkreuzweges.4 RPI-virtuell.net ist das religionspädagogische Angebot der Evangelischen Kirche, angesiedelt am Comenius-Institut Münster. RPI-virtuell versteht sich dabei vor allem als virtuelles Institut und hat den Fokus darauf gelegt, die Materialien für den Religionsunterricht und die Religionspädagogik vor allem unter dem Aspekt der Nutzung aktueller Internet- und Computertechnologien zur Verfügung zu stellen. Entsprechend findet sich neben den eigentlichen Materialien auch eine Community, die den Nutzern Vernetzung zu verschiedenen Themenbereichen anbietet. Es finden sich einige Gruppen zum Thema Ökumene und Konfessionen. In dem Materialbereich, der über 100 verschiedene Einträge zur Ökumene aufweist, findet sich eine übersichtlich gestaltete spezielle Themenseite sowohl zur Ökumene als auch zum Themenkomplex katholisch – evangelisch.5 Aufgeteilt sind die Quellen nach den Gesichtspunkten Medien, Materialien, Vorbereitung, Praxishilfen, Lernorte, Fachinformationen. Dort werden auch viele Inhalte von katholischen Seiten aufgeführt, wie etwa der Unterrichtsentwurf »Baum der Ökumene« aus dem Bistum Speyer. Dabei handelt es sich um einen Unterrichtsvorschlag, der dazu dient, Kenntnisse über bestehende Konfessionen zu erlangen, für den (katholischen) Religionsunterricht in den Klassen 8–10 an Gymnasien. Es ist eine Unterrichtsreihe, die u.a. nach dem Prinzip des 3 So etwa die Übersicht »Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht im 2. Schuljahr« auf der Plattform RPI Virtuell von Lena Kuhl und Aloys Lögering. URL: www.rpi-virtuell.net/material/2257A463-1504-447D-B09B-92BAFDA7CC88. 4 Die Anregung eines ökumenischen Jugendkreuzweges findet sich in einigen Materialien. Diese nehmen meist Bezug auf das Online Angebot www.jugendkreuzwegonline.de der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. 5 Vgl. die Themenseite Ökumene www.rpi-virtuell.net/tagpage/489AF876-9CF045E8-AE33-06B94F1F432C und die Themenseite katholisch-evangelisch www.rpivirtuell.net/tagpage/BD56D5A9-27D8-4A48-BEC8-1827B19A8C3F.

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Stationenlernens vorgeht. Dabei handelt es sich um einen der meist reflektierten Vorschläge, die momentan im Internet zu finden sind. Anders als bei vielen anderen Vorschlägen wird das Thema Ökumene hierbei nicht nur auf die beiden großen Konfessionen evangelisch – katholisch reduziert. Die Schülerinnen und Schüler lernen die Orthodoxen Kirchen, die Baptisten, die Mennoniten, die Methodisten und die Pfingstgemeinden kennen. Insgesamt finden sich auf RPI-virtuell neben den Unterrichtsreihen und -vorschlägen auch viele Materialien, wie etwa die Ökumene Fibel des 2. Ökumenischen Kirchentages 2010, die sich in den Unterricht oder allgemein die religionspädagogische Arbeit einbinden lassen. Daneben finden sich auch Hinweise auf Aktionen, wie etwa den seit dem 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München eingeführten Tag der Schöpfung am ersten Freitag im September.6 Eine private Initiative ist die Webseite reli-themen.de (Sekundarstufe I & II.) und reli-power.de (5.–12. Klasse). Erstere Seite bietet eine thematische Sortierung und die Möglichkeit, eine direkte Suche je nach Lehrplan auszurichten. Dabei verweist die Seite auf viele andere Quellen im Netz. Als private Initiative der Studienleiterin Andrea Lehr-Rütsche bietet die Webseite www.schuldekan-schorndorf.de Materialien für den konkreten Einsatz im Unterricht. Ein weiteres Portal ist die Seite 4teachers.de, die allerdings zu religiösen Themen allgemein orientiert und das Thema Ökumene nicht direkt angeht. Der Anspruch dabei ist es, Materialien von Lehrkräften für Lehrkräfte zur Verfügung zu stellen. Der AUC-Arbeitskreis für Unterrichtsmedien zum Christentum bietet auf seiner Webseite ebenfalls Material, das meist aus dem freikirchlich-charismatischen Bereich stammt (AUC-online.net). Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Anlaufstellen und Zugänge zum Thema Ökumene.7 Auch im deutschsprachigen Ausland finden sich einige Portale und Quellen. Exemplarisch genannt sei hier beispielsweise der Wiener Bildungsserver, getragen vom Verein zur Förderung von Medienaktivitäten im schulischen und außerschulischen Bereich. Dort findet sich Material in Form von Infokarten mit Hinweisen zu den Unterschieden im Konfessionsverständnis.8 2 Schüler als Internetagenten: die Webquest-Methode zur Ökumene Neben dem Material im Sinne von Arbeitsblättern, Infokarten und Ähnlichem bietet die Methode des Webquests eine sehr interessante Möglichkeit religionspädagogischen Arbeitens. Es kombiniert didaktische Vorteile mit der Nutzung des Internets als Recherchemedium. Ein Web6 Vgl. www.rpi-virtuell.net/material/253414DD-6FD4-4280-985E-2802FCCAD9C0. 7 Eine gute Übersicht bietet Frank Stepper unter http://www.reli-power.de/10links-fuer-reli-unterrichtsmaterial/. 8 www.lehrerweb.at/materials/gs/religion/print/weltrel/kath_ev.pdf.

Ökumene im Netz

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quest, oft auch als Internetralley bezeichnet, stellt eine kooperative Methode dar, bei der Schülerinnen und Schüler sich anhand eines Erarbeitungsrasters ein Themengebiet mittels vorgegebener Internetquellen erschließen und anschließend präsentieren. Bereits der Name »Quest« (engl. Suche) und »Web« (engl. das Internet) spielt auf den aktiven Charakter dieses Formates an. Die Teilnehmenden werden zu Akteuren und Akteurinnen, zu Agenten und Agentinnen im Internet. Darin liegt der große medienpädagogische Mehrwert. Der Fokus dieser um 1995 in den USA von Bernie Dodge und Tom March erfundenen Methode liegt auf der Aktivierung der Schülerinnen und Schüler und deren Kooperation. Insofern wird das Webquest in der Literatur oft als didaktische Methode bezeichnet.9 Sein Grundanliegen ist die Erweiterung des lehrerzentrierten Unterrichts um kooperative Formate. Das Webquest bietet dabei durch die Zuhilfenahme des Internets als Recherchemedium zusätzliche positive Aspekte: Zum einen sind die Schülerinnen und Schüler motiviert durch den Einsatz des Internets, das per se stark in deren Lebenswelt verankert ist. Zum anderen bietet der Einsatz eine Möglichkeit, die medienpädagogischen Implikationen (Quellenauthentizität, Verlässlichkeit von Internetinformationen etc.) mit den Schülerinnen und Schülern zu reflektieren. Am Ende der Erarbeitungsphase, die auch außerhalb der Schule in Heimarbeit stattfinden kann, so dass in der Schule selbst keine Rechner mit Internetzugang benötigt werden, steht die Präsentation der Ergebnisse durch die Gruppen. Ein Webquest besteht aus 6 methodischen Elementen: Im ersten Schritt, der Einleitung, werden die Schülerinnen und Schüler in die Thematik anhand einer Problemstellung eingeführt. Hierfür eignen sich auch Medien wie Videoclips. Der zweite Schritt besteht in der Aufgabenstellung. Diese ist im Idealfall so gewählt, dass die Lösung nicht einfach durch »copy & paste« aus den Internetquellen gelöst werden kann. Diese Quellen stellen das dritte Element dar: Die Lehrkraft wählt im Vorfeld die Internetquellen aus, welche zur Lösungserarbeitung aufgerufen werden sollen. Dies ist neben der Aufgabenstellung das zentrale Element, da die Lehrkraft hierdurch einen Korridor bestimmt, innerhalb dessen die Erarbeitung stattfindet. Zudem kann die Lehrkraft jeweils aktuelle Quellen nutzen, wie sie etwa in dem Kapitel über das Reformationsjubiläum dargestellt werden. Dadurch ist eine einfache und zugleich effektive Methode der Aktualisierung des jeweiligen Webquests gegeben. Einmal konzipiert, bietet ein Webquest somit eine fundierte und zugleich gut aktualisierbare Methode im Repertoire einer Lehrkraft. Der vierte Schritt besteht aus Informationen zum Arbeitsprozess, bei denen die 9 Immer noch aktuell ist das grundlegende Werk von Heinz Moser, Abenteuer Internet. Lernen mit WebQuests, Zürich 2000. Im Primarbereich hat sich vor allem Christof Schreiber mit dem Einsatz der Webquest Methode beschäftgit: Julia Langenhan / Christof Schreiber, PrimarWebQuest – Projektorientiertes Arbeiten mit dem Internet in der Primarstufe, Hohengehren 2012.

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Lehrkraft einerseits Hinweise zur Gruppenarbeit und deren Regeln, aber auch zu der empfohlenen Unterteilung der Aufgabe in einzelne Aufgabenaspekte geben kann. Der fünfte Schritt enthält Angaben zur Präsentation der Ergebnisse. Dies können sowohl formale (bspw. Powerpoint Präsentation mit max. fünf Folien, Webseite mit 3 Menüpunkten etc.) als auch inhaltliche Vorgaben sein. Das letzte Element, die Informationen zur Evaluation, bieten den Schülerinnen und Schülern bereits im Vorfeld Anhaltspunkte zur späteren Bewertung des Webquests durch die Lehrkraft. Der Einsatz eines Webquests kann zwischen zwei bis zehn Unterrichtsstunden und sogar mehr umfassen. Im Internet finden sich einige Webquestsammlungen für die Schule sowie einige Generatoren für Webquests.10 Eine Themensuche zu dem Themenbereich Ökumene/Konfessionen bringt bei vielen Webquestsammlungen Ergebnisse. Ein typisches Beispiel für ein Webquest zum Thema Ökumene ist das Webquest »katholisch-evangelisch« auf der Schweizer Plattform webquests.ch.11 Ein ebenfalls gründlich ausgearbeitetes Webquest bietet die Plattform Lehrer-Online.12 Beide bieten gute Anregungen und sind geeignet für den Einstieg in die Arbeit mit Webquests. Das kooperative Element, das schon bei Webquests zum Tragen kommt, kann noch mehr in den Vordergrund gestellt werden, wenn Schülerinnen und Schüler gemeinsam ein Wiki erarbeiten. Das bekannteste Wiki weltweit dürfte wohl Wikipedia sein. Eine ökumenische Kooperation ist auch der Wikipedia-Eintrag zum Thema Abendmahl. Bis vor ca. 5 Jahren war unter dem Stichwort in der weltweit größten Enzyklopädie kein Hinweis auf das katholische Verständnis der Eucharistie zu finden. Zwar ist der Begriff traditionell von evangelischer Seite aus benutzt worden, allerdings suchen auch viele Nutzer anderer Konfessionen unter diesem Begriff bei Wikipedia Informationen. Mittlerweile existiert unter dem Stichwort Abendmahl und Eucharistie eine Auflistung der verschiedenen konfessionellen Verständnisse. 3 Multimediale Elemente, Videos, Spiele, Quiz Neben den Materialien und der Webquest-Methode bieten Filme und Spiele eine gute Möglichkeit, den Religionsunterricht zu bereichern. Lernen mittels Medien wie Filmen bietet neben der hohen Motivation sei-

10 Eine gute Übersicht zum Thema Webquest bietet die Webseite Lehrer-Online: http://www.lehrer-online.de/webquests.php. 11 Vgl. die Schweizer Internetseite: www.webquests.ch/konfessionen.html?page= 89330. 12 Die kommerzielle Plattform www.lehrer-online.de/konfessionen.php bietet hierfür Materialien.

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tens der Schülerinnen und Schüler auch didaktische Chancen.13 Zum Thema Ökumene bieten sich zahlreiche Kurzfilmclips an. Die Webseite der Deutschen Bischofskonferenz, katholisch.de, produziert eine Reihe von Kurzclips im Internet, die unter dem Titel »katholisch für Anfänger« verschiedene Themenbereiche behandeln.14 Diese können bspw. auch im Unterricht eingesetzt werden, als Impuls oder Diskussionsgrundlage. Eine neuere Sammlung aus der Schweiz listet unter kurzundgut.ch aktuelle Kurzfilme für den unterrichtlichen Einsatz. Neben diesen Angeboten sind natürlich nach wie vor die Landesmedienstellen bzw. Medienzentren erste Anlaufpunkte. Viele dieser Einrichtungen bieten Online-Verleihmöglichkeiten an und sind teilweise, wie in Bayern, auch schon unter einer gemeinsamen ökumenischen Adresse zu finden.15 Auch im Bereich der Online-Spiele bzw. des spielerischen Zugangs fallen einige Angebote ins Auge, die sich für den religionspädagogischen Einsatz eignen. Die Evangelische Kirche hat unter ekd.de/spiele eine Übersicht von thematischen Online-Spielen und Quiz zusammengestellt. Calvin, Jona, Luther und Co. können hier spielerisch den Schülerinnen und Schülern nähergebracht werden. Angesichts des Reformationsjubiläums hat die EKD ein umfangreiches Spiel zu Martin Luthers Wirken unter martin-luthers-abenteuer.de online gestellt. Dieses Spiel steht im Rahmen einer schon länger avisierten Internetstrategie, Kinder über interaktive Angebote im Internet für Glaubensthemen zu begeistern. Im Rahmen der Kirchraumpädagogik ist von daher das Angebot kirchenentdecken.de interessant, das sich gut in den Unterricht einbinden lässt. 4 Social Storytelling als Einsatzszenario Besonders vielversprechend werden Unterrichtsszenarien dann, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst zu Akteuren werden. Dabei ist das Erzählen und Darstellen von Geschichten eine altbewährte didaktische Möglichkeit. Das Storytelling ist bereits seit einiger Zeit im Marketing eine beliebte Methode. Dabei wird die Beziehung des Kunden zum Produkt nicht allein über sachlich-logische Argumentationen aufgebaut, sondern durch das Erzählen einer Geschichte, in die der Kunde im Ideal13 Vgl. zum praktischen Einsatz bspw. Christian Feichtinger, Filmeinsatz im Religionsunterricht, Göttingen 2014 oder Erhart Schröter, Filme im Unterricht. Auswählen, analysieren, diskutieren, Landsberg (2009). Eine gute praxisnahe OnlineÜbersicht bietet die Seite »Reli-Film«: www.reli-film.de/links.htm, eine private Initiative des Religionslehrers Frank Stepper. 14 Die Videosammlung ist frei online zugänglich unter www.katholisch.de/video/ serien/katholisch-fur-anfanger. 15 So etwa das evangelische und katholische Medienzentrum unter: medienzentra len.de. Hier werden beispielsweise 4 Filme zum Thema Ökumene gelistet. Eine Suche in den jeweiligen Online-Portalen der bundeslandesspezifischen Medienzentren ist hilfreich.

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fall noch aktiv miteingebunden ist. Dieses Prinzip ist auch für den Religionsunterricht anwendbar. Dabei ist der narrative Zugang direkt mit dem kreativen Prozess der Erstellung seitens der Schülerinnen und Schüler verbunden. Ein Einsatzszenario ist im MOSS-Projekt der Goethe Universität Frankfurt am Main erprobt worden. Studierende der Theologie haben hierbei die Rolle von verschiedenen biblischen Figuren übernommen und einzelne Perikopen in dem sozialen Netzwerk Facebook nachgestellt. Dabei haben die Studierenden für verschiedenen Figuren und Personen aus der Bibel Profile in Facebook angelegt: etwa einen römischen Soldaten, einen Zeloten, einen Jünger etc. Diese haben anhand des durch die Bibel vorgegebenen Handlungsstrangs miteinander interagiert, gepostet und kommentiert. Die Studierenden mussten sich dazu sehr genau mit der Figur auseinandersetzen, um wie sie interagieren zu können. Was hätte wohl ein Jünger auf die Chronik eines römischen Soldaten gepostet, hätte es damals schon Facebook gegeben? Die Evaluation des Projektes zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Thematik durch den kreativen Anteil und die emotionale Involviertheit sehr hoch war und der Lerneffekt sehr nachhaltig. Im Prinzip ist das Storytelling unabhängig von dem Medium (in diesem Fall Facebook) einsetzbar.16 Für das Thema Ökumene bieten sich hier sehr vielversprechende Möglichkeiten, indem die Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Gruppen konfessionell verschiedene Personen oder Themen darstellen. Dabei ist der entscheidende Ansatz, dass im Storytelling nicht unbedingt nur die eigene Biographie medial narrativ mitgeteilt wird, sondern dass die Schülerinnen und Schüler sich in andere Personen oder Sichtweisen hineinversetzen. Dieses »taking the attitude of the other«, wie Goerge Herbert Mead es beschreibt, ist der didaktische Ansatz dieser Darstellungsform. 5 Facebook als Ökumene-Buch Während die Storytelling-Szenarien sehr anspruchsvolle Methoden für den Unterricht darstellen und ähnlich wie ein Webquest über viele Unterrichtsstunden reichen, findet sich für den Einsatz sozialer Netzwerke für das Thema Ökumene im Religionsunterricht noch eine andere Möglichkeit: Spätestens seit der Begriff des »shitstorms« in der öffentlichen Debatte angekommen ist, kennt man soziale Netzwerke als Orte des meist emotional konnotierten Austausches. 2011 wurde der Begriff zum Anglizismus des Jahres gewählt und in den Duden aufgenommen. Der Duden definiert einen Shitstorm als einen »Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht«. Doch abgesehen von dem shitstorm 16 Vgl. zum MOSS Projekt die Informationen auf der Seite der Goethe Universität: http://www.uni-frankfurt.de/59332743/Storytelling.

Ökumene im Netz

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finden in Facebook sehr viele pädagogisch höchst aufschlussreiche und interessante Diskussionen statt. Bereits bei der Diskussion um die Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben für den Modehersteller PRIMARK hat sich Facebook pädagogisch als wertvoll dargestellt. So wurde auf der Facebook-Seite der Modemarke PRIMARK im Mai/Juni 2015, anlässlich der gefundenen Hilferufe in deren Kleidung, eine hitzige Diskussion geführt. Ausgangspunkt war ein großes mediales Interesse an den Hilferufen angeblicher Arbeiter aus den Zulieferbetrieben. Auch wenn diese sich hinterher als nicht-authentisch herausstellten, so war die Diskussion um die fairen Herstellungsbedingungen doch entfacht. Nun lässt sich solch eine Diskussion (engl. thread), die sich an einem Facebook Post entfacht, gut für unterrichtliche Zwecke einsetzen, indem nämlich die Schülerinnen und Schüler den Diskussionsverlauf analysieren und Argumente sortieren können. Dabei muss noch nicht mal ein direkter Zugang zu Facebook gewährleistet sein, da die Lehrkraft die entsprechenden Textstellen auch ausdrucken kann. In diesen werden so breite und aktuelle Diskussionen geführt, die kein Schulbuch je abdecken könnte. Ein ähnlicher Einsatz bietet sich auch für das Thema Ökumene an. Nahezu alle großen Konfessionen haben eine mittlerweile unüberschaubare Anzahl an Seiten in dem sozialen Medium. Hierbei können auf Facebook-Seiten, z.B. den Hauptseiten der beiden großen Konfessionen, Diskussionen zu ökumenisch relevanten Themen analysiert werden.17 Es kann aber auch ein Auftrag an die Lerngruppe sein, die letzte Woche im Spiegel der katholischen und evangelischen Seite zu reflektieren, um die verschiedenen Blickwinkel zu analysieren. Dazu werden die Posts und Kommentare auf den entsprechenden Seiten untersucht. Dies kann auch im Rahmen eines Webquests geschehen, indem etwa bei der Quellenauswahl auch Facebook-Seiten miteinbezogen werden. Um diese Seiten anzuschauen, müssen die Schülerinnen und Schüler nicht über ein Facebook-Profil verfügen, da Facebook-Seiten im Gegensatz zu Gruppen immer frei zugänglich sind. Dies macht den Einsatz im Unterricht erheblich einfacher. 6 Fazit: Austausch mit anderen Christen Insgesamt bietet das Internet zum Thema Ökumene im Religionsunterricht eher weniger Material in Form von fertigen Unterrichtsentwürfen mit Arbeitsblättern. Darin liegt allerdings auch nicht der Reiz der Verknüpfung des Themas Ökumene mit dem Internet. Auf einer zweiten Ebene wird die Möglichkeit der kooperativen Erarbeitung des Themas durch die Schülerinnen und Schüler mittels Webquests als ein besonde17 Die beiden großen Facebook-Seiten der Konfessionen sind https://www.face book.com/katholisch.de und https://www.facebook.com/evangelischde.

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rer Mehrwert deutlich. Die Anregungen dazu sind, wie aufgezeigt, quantitativ nicht besonders zahlreich, aber qualitativ doch interessant. Auch Portale wie rpp-katholisch, rpi-virtuell, aber auch einzelne Initiativen wie das Blogmagazin relipuls.de, geben immer wieder neue Impulse und greifen auch aktuelle Entwicklungen auf. Auch eine Vernetzung über Facebook gibt gerade im mediendidaktischen Bereich neue Anregungen.18 Eine große Bereicherung stellt die Möglichkeit von Videoclips und interaktiven Webseiten bzw. Spielen dar. Auch die Nutzung von Facebookposts als Analysematerial für die Konkretisierung der unterschiedlichen Aspekte des Themas ist ein großer Mehrwert in Bezug auf die Thematik der Ökumene. In letzter Instanz ist natürlich die eigene kreative biographisch narrative Darstellung der Selbstverortung seitens der Schülerinnen und Schüler pädagogisch sinnvoll, wie sie mittels Storytelling in Blogs oder sozialen Netzwerken vorgenommen werden kann. Allerdings setzt das letzte Szenario voraus, dass die Teilnehmenden über ein entsprechendes Alter sowie Medienaffinität verfügen. Bei der Beschäftigung mit dem Thema Ökumene im Netz wird vor allem eines deutlich: Ökumene ist besonders konkret vor Ort sichtbar und erfahrbar. In dem sozialen Netzwerk Facebook weisen viele Gruppen, die sich mit Ökumene beschäftigen, einen eindeutig lokalen Bezug auf. Von daher sind Unterrichtsideen und Anregungen dann pädagogisch besonders vielversprechend, wenn sie die konkreten Konfessionen vor Ort einbeziehen. Wegweisend sind auch Aktionen, die medial beachtet und rezipiert werden, wie Anfang 2016 in Sankt Augustin. Die Gemeinden der verschiedenen Kirchen in Sankt Augustin haben die konfessionell getrennten Informationsschilder zu den Gottesdienstzeiten vereint. Es gibt zukünftig nur noch ein Schild mit einer gemeinsamen Internetadresse: www.kirche-Sankt-Augustin.de. Die Idee dahinter ist es, gemeinsam als Kirche präsent zu sein. Das Schild zeigt ein Kreuz, das zwar aus zwei farblich getrennten Teilen besteht, aber doch ein gesamtes Ganzes ergibt: Ein treffendes Sinnbild für die Grundidee der Ökumene. Dr. Jürgen Pelzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Religionspädagogik und Mediendidaktik der Goethe Universität Frankfurt.

18 Besonders die Gruppe »Medienpädagogik« eignet sich als Ausgangspunkt: https://www.facebook.com/groups/131402253579323. In der Gruppe »Religionspädagogik« sind zwar wesentlich weniger Mitglieder vorhanden, aber dafür ist sie sehr themenspezifisch: https://www.facebook.com/groups/religionspaedagogik.

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500 Jahre Reformation und ›Kirchenspaltung‹ Unterrichtsmaterialien zu Martin Luthers Leben, Werk und Wirkung

Wer nach neueren Unterrichtsmaterialien zur Reformation und zur Ausdifferenzierung des Christentums in der frühen Neuzeit sucht, stößt nahezu unvermeidbar auf Materialien zu Martin Luthers Leben, Werk und Wirkung. Auch wenn die Fixierung auf Einzelpersonen in einer an Diskursen, Strukturen, Institutionen, Mentalitäten, Medien und Netzwerken orientierten Reformationsforschung heute an Selbstverständlichkeit verloren hat, haben personenbezogene Zugänge weiterhin ihr fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Recht.1 Gleichwohl bleibt zu konstatieren, dass nur wenige Forschungskontroversen der Gegenwart Eingang in die ausgewerteten Materialien gefunden haben. Auch die vielfach in den Klappentexten angekündigte Kompetenzorientierung bleibt, von Ausnahmen abgesehen, ein Etikett. Stattdessen findet sich in den Materialien, was prinzipiell kein Nachteil für die Qualität des Unterrichts sein muss, Altbewährtes (z.B. konfessionelle Stammbäume) und Pseudoinnovatives (z.B. »Recherchiere im Internet!«), aber auch fachwissenschaftlich Veraltetes (z.B. die Konstruktion von »Vorreformatoren«) und didaktisch Zweifelhaftes (z.B. einfache Zuordnungsaufgaben mit Lückentexten). Ein Merkmal zahlreicher Materialien besteht ferner darin, dass strittige Sachverhalte nicht als strittig dargestellt werden. Die Beschäftigung mit der Reformation und dem konfessionellen Zeitalter wird so zur (vermeintlich eindeutigen) Geschichts- und Konfessionskunde, bei der das didaktische Potential konkurrierender Geschichtsbilder nicht zur Entfaltung kommen kann. Auch das Bild, das sich heutige Jugendliche, wenn überhaupt, von Martin Luther machen, spielt in den didaktischen Erwägungen und bei der Konstruktion von Lernaufgaben kaum eine Rolle.2 1 Zuletzt Ulrike Witten, Diakonisches Lernen an Biographien. Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa, Leipzig 2014, 69–88. Zudem Konstantin Lindner, In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht, Göttingen 2007. 2 So auch die Einschätzung von Sabine Blaszcyk, Martin Luther – ein Bild von einem Mann. Meinungsäußerungen von Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt zu Martin Luther, in: Rainer Rausch (Hg.), Martin Luther – ein Bild von einem Mann. Meinungsbilder von Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt. Eine wissenschaftliche Studie und deren religionspädagogische Impulse für die Praxis, Hannover (erscheint 2016).

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Ausgehend von der Unterscheidung einer Ökumene der ersten, zweiten und dritten Art (mit anderen Konfessionen, mit anderen Religionen und mit Konfessionslosen) zeigt sich zudem eine weitere Entwicklungsaufgabe: Es geht, wie im Folgenden zu zeigen ist, in den Materialien meist um die in der Reformation wurzelnde Vielfalt christlicher Konfessionen. Die bis ins 20. Jahrhundert in Zustimmung und Abgrenzung rezipierten Juden- und Islambilder einiger Reformatoren, erst recht jedoch das heutige Gespräch mit Konfessionslosen bedarf noch der didaktisch-methodischen Reflexion. 1 Forschungskontroversen im Spiegel fachdidaktischer Veröffentlichungen In den vergangenen Jahren haben zwei Kontroversen um die Reformation und das konfessionelle Zeitalter Aufmerksamkeit über den Kreis der Fachöffentlichkeit hinaus gefunden: zum einen die Debatte um das 2006 erschienene Lutherbuch Volker Leppins, der den Reformator als einen tief im spätmittelalterlichen Denken verwurzelten Mönch beschreibt, dessen Gelegenheitsschriften kaum dazu geeignet seien, einen Epochenumbruch oder eine kohärente lutherische Theologie zu konstruieren;3 und zum anderen die von Thomas Kaufmann angestoßene Kontroverse um die Reformationsdekade der EKD, die als »Lutherdekade« zur unsachgemäßen Monumentalisierung einer Einzelperson beitrage, statt »die Reformation in der Vielfalt ihrer Ausprägungen und theologischen Orientierungen – auch unter Einschluss der sogenannten radikalen Reformation – in den Blick zu nehmen.«4 Vor dem Hintergrund der seit der Wende vom 19. Jahrhundert geführten Diskussionen um die Rolle Luthers und die »Epochenqualität der Reformation« wird freilich auch deutlich, dass beide Kontroversen bereits eine lange Forschungstradition haben. Diese kann im Folgenden nicht im Einzelnen dargestellt werden.5 Im Mittelpunkt der folgenden Analyse 3 Vgl. Volker Leppin, Biographie und Theologie Martin Luthers – eine Debatte und (k)ein Ende? Ein Nachwort, in: Dietrich Korsch / Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, Tübingen 2010, 313–318, mit Bezug auf Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006. 4 Vgl. Thomas Kaufmann, Zum Bild der Reformation. Historiographische und theologische Überlegungen angesichts des Jubiläums 2017, in: Hannoversches Pfarrvereinsblatt 118 (2013), Heft 2, 12–25, hier 19. 5 Zu diesen und den folgenden Kontroversen vgl. Stefan Ehrenpreis / Ute LotzHeumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002, 22008 (durchges. Aufl.), 32011 (unveränd. Aufl.). Ein Überblick zur neueren Luther- und Reformationsforschung wird wohl (wie schon nach 1983) erst nach dem Reformationsjubiläum 2017 erscheinen. Bis dahin sei verwiesen auf Volker Leppin, Luther-Literatur seit 1983, in: Theologische Rundschau 65 (2000), 350–377, 431–454 und 68 (2003) 313–340.

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von Unterrichtsmaterialien steht vielmehr die Frage, inwieweit wichtige, seit dem Zweiten Weltkrieg geführte Dispute Eingang in die didaktische Reflexion und Aufgabengestaltung gefunden haben. Die Bestandsaufnahme lässt sich dabei von der These leiten, dass der didaktische Gewinn historischen Arbeitens vor allem bei der Beschäftigung mit sich wandelnden Geschichtsbildern zum Tragen kommt: Welche konfessionellen Interessen haben das Lutherbild im deutschen Protestantismus und Katholizismus bestimmt? Welche politischen Interessen beeinflussten das Bild von »der« Reformation als »deutsch-nationale« oder »frühbürgerliche« Revolution in den beiden deutschen Diktaturen? Und welche kommerziellen, kirchenpolitischen oder ökumenischen Interessen sind heute in der mit großem Aufwand inszenierten Luther- bzw. Reformationsdekade wirksam? 2 Die Re- und Dekonstruktion von Geschichtsbildern als Bildungsaufgabe Die umstrittene Deutung der Reformation als Epochenumbruch und Beginn der Neuzeit wird in der von Michael Wermke und Volker Leppin herausgegebenen Reihe Martin Luther – Leben, Werk und Wirkung unterschiedlich thematisiert. In der von Marita Koerrenz erarbeiteten Unterrichtseinheit für die Grundschule stehen altersgemäß nicht Epochenfragen, sondern der »Mensch Martin Luther« im Zentrum, darunter dessen Kindheit, Schulzeit und Leben als Familienvater, aber auch in altersangemessener Dosierung die 95 Thesen, die Ereignisse auf dem Wormser Reichstag oder der Aufenthalt auf der Wartburg.6 Bei diesen (und weiteren) protestantischen Identitätsszenen gelingt es der Autorin, den Stand der Reformationsforschung in die für die Kinder bestimmten »Lesetexte« einfließen zu lassen: Lediglich »der Erzählung nach« habe Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosstür genagelt, und ob der Thesenanschlag »historisch stimmt oder nicht«, sei heute »eigentlich egal« – eine wiederum affirmative Aussage zu einer ›Urszene‹ des Protestantismus, die bereits in einer 4. Grundschulklasse zum Unterrichtsgegenstand werden könnte.7 Auch in der von Wermke und Leppin erarbeiteten Einheit für die Sekundarstufe I kommt Luthers Denken weder implizit noch explizit als Epochenumbruch oder Beginn der Neuzeit in den Blick. Dies entspricht der eingangs erwähnten, wenn auch nicht unumstrittenen Lutherdeutung des an der Reihe beteiligten Reformationshistorikers.8 Im Zentrum der 6 Marita Koerrenz, Der Mensch Martin Luther: eine Unterrichtseinheit für die Grundschule, Göttingen 2011. 7 Koerrenz, Der Mensch Martin Luther, 21–23. 8 Michael Wermke / Volker Leppin, Lutherisch – was ist das? Eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I, Göttingen 2011.

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Unterrichtseinheit stehen Quellentexte, die mit Texterschließungsfragen (meist W-Fragen) analysiert werden sollen. Die Auseinandersetzung mit interessengeleiteten, identitätsstiftenden Geschichtsbildern wird mit wenigen, aber aufschlussreichen Bild- und Filmquellen angebahnt, darunter Hugo Vogels Gemälde zu Luthers Thesenanschlag aus dem Jahr 1882 (»Wie ist die historische Genauigkeit des Gemäldes einzuschätzen?«), eine Sequenz aus dem Film Luther unter der Regie von Eric Till (»Welcher Eindruck von Luther entsteht beim Zuschauer?«) und die marxistische Deutung der Reformation als »frühbürgerliche Revolution« im Bad Frankenhausener Panorama von Werner Tübke (»Wer ist [!] Thomas Müntzer?«).9 Auch wenn sich die wenigen, als Anregung gedachten WFragen zur Text-, Bild- und Filmerschließung im Rahmen des didaktisch Konventionellen bewegen, bahnen sie die Re- und Dekonstruktion von Geschichtsbildern im Religionsunterricht zumindest an. Einen Zugang zur inzwischen gut erforschten reformationshistorischen Erinnerungs- und Inszenierungskultur bieten neben Historienbildern und Lutherfilmen10 auch die Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts.11 Bezogen auf das Lutherdenkmal in Eisleben (von Rudolf Siemering 1883) und das Denkmal in Weißenburg (von Martin Mayer 1983) schlägt Judith Krasselt-Maier u.a. folgende Lernaufgaben vor: 1. »Vergleichen Sie die Gestaltung der beiden Lutherdenkmäler. Gehen Sie dabei auf die jeweiligen Entstehungszeiten ein. 2. Gestalten Sie paarweise Standbilder, in denen Sie Haltung und Gesichtsausdruck der jeweiligen Lutherfigur einnehmen. 3. Entwerfen Sie ein Gespräch zwischen den beiden Lutherfiguren, in dem sich diese darüber unterhalten, was sie beim Betrachter anstoßen wollen.«12 9 Wermke/Leppin, Lutherisch, 14, 28 und 49. 10 Aufschlussreich ist insbesondere der Vergleich der protestantischen Identitätsszenen »Thesenanschlag« und »Worms« in den Spielfilmen Martin Luther (1953, Irving Pichel USA/BRD), Martin Luther (1983, Rainer Wolffhardt BRD) und Luther (2003, Eric Till USA/GB/BRD). Dazu David Käbisch / Johannes Träger, Reformation, in: Christoph Gramzow / Juliane Keitel / Silke Klatte (Hg.), Sechs Unterrichtseinheiten für das 7./8. Schuljahr, Stuttgart 2014, 106–143. Ein rein illustrativer Einsatz der Filmbilder zu Einzelereignissen (Ablasswesen, Thesenanschlag, Worms, Wartburgaufenthalt etc.) nutzt demgegenüber nicht das in diesem Medium bestehende Potential. Vgl. dazu Manfred Karsch / Silvia Kunter, Mit Martin Luther auf der Suche nach Gott. Unterrichtsbausteine zum Inhaltsfeld Entwicklung einer eigenen religiösen Identität. 7.–9. Klasse [mit CD], Buxtehude 2012. 11 Vgl. Otto Kammer, Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme, Leipzig 2004. Stefan Laube / Karl-Heinz Fix (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002. Martin Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, Regensburg 2008. 12 Judith Krasselt-Maier, Luther: Gottes Wort und Gottes Gnade. Bausteine für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II, Göttingen 2012, 51. Die Arbeit mit diesen und weiteren Lutherdenkmalen bietet sich auch in der Gemeindearbeit an. Siehe dazu David Käbisch / Patrik Mähling, Auf den Spuren Martin Luthers. Ein Ge-

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Auch der jüngst produzierte Playmobil-Luther (mit Bibel und Talar) steht in der Bildtradition der Reformationsdenkmäler des 19. Jahrhunderts – und eröffnet damit einen lebensweltnahen Zugang zur heutigen Erinnerungskultur mit (neuen) Medien im Vorfeld des Reformationsjubiläums.13 3 ›Kirchenspaltung‹, ›Zweite Reformation‹ und ›Gegenreformation‹ als problematische Kampfbegriffe Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling forderten bereits Ende der 1970er, die alten Kampfbegriff der ›Kirchenspaltung‹, der reformierten ›Zweiten Reformation‹ und der katholischen ›Gegenreformation‹ durch den Terminus der lutherischen, reformierten und katholischen Konfessionalisierung (als Teilprozess frühmoderner Ausdifferenzierung und Staatenbildung) zu ersetzen.14 Auch wenn das von ihnen formulierte Konfessionalisierungsparadigma keine ungeteilte Zustimmung gefunden hat,15 sollten die alten Kampfbegriffe heute nicht nur aus historiographischen Gründen, sondern auch im Interesse des ökumenischen Dialogs mit Bedacht verwendet werden. Dies ist sicher bei Stephan Sigg der Fall, der mit der Überschrift »Mönche schlagen zurück: Gegenreformation« vor allem die Schülerinnen und Schüler für die Beschäftigung mit dem Thema (hier die Gründung des Jesuiten-Ordens) motivieren will.16 Gleichwohl ist das Arbeitsblatt Teil einer Unterrichtseinheit, in der alte konfessionelle Stereotype eher tradiert als thematisiert werden. Sie beginnt bei dem ebenfalls problematischen Begriff der »Frühreformatoren« um Jan Hus und führt – denkbar knapp – über Luthers Leben, den Ablasshandel, die 95 Thesen, den Reichstag zu Worms, den Augsburger Religionsfrieden schließlich zur meindenachmittag zur Vorbereitung einer Exkursion nach Eisenach, in: Gottfried Orth (Hg.), Martin Luther in der Gemeinde. Ideen, Materialien, Arbeitsblätter [mit digitalem Zusatzmaterial], Göttingen 2013, 87–95. 13 Unterrichtsideen zum Playmobil-Luther bietet u.a. Jens Palkowitsch-Kühl, Reformation und Medien. Oder: Die Bedeutung von Medien für das Zusammenleben von Menschen, in: David Käbisch / Johannes Träger / Ulrike Witten / Jens Palkowitsch-Kühl (Hg.), Luthers Meisterwerk – Eine Bibelübersetzung macht Karriere. Bausteine für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, Göttingen 2015, 65–80. 14 Zu diesem Forschungsparadigma siehe Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter (s.o. Anm. 5), 62–70. 15 Vgl. Harm Klueting, »Zweite Reformation« – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), 309–341. 16 Stephan Sigg, Katholisch – protestantisch: was ist der Unterschied?, Mülheim an der Ruhr 2006, 32. Die Rede von »Gegenreformation« findet sich auch in neueren Materialien, z.B. Michael Landgraf, ReliBausteine Reformation: Martin Luther und die Reformatoren – Zeitgeschehen – Reformation und Kirche heute, Stuttgart 32016, 96.

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»Gegenreformation« und zur zweiten, d.h. von Deutschland ausgehenden Reformation in England, Schweden, Amsterdam und Zürich (»Von Deutschland in andere Länder«).17 Damit wird zwar der ökumenische Horizont des Themas zumindest für Europa aufgezeigt; die vielfältigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Transformationsprozesse in den genannten Ländern haben jedoch kaum von Wittenberg allein ihren Ausgang genommen. Die von Judith Krasselt-Maier erarbeiteten »Bausteine« für den Religionsunterricht sind demgegenüber nicht an der Biographie Luthers und dem Verlauf der Reformation in anderen Ländern, sondern an dogmatischen Topoi orientiert, deren ökumenische Relevanz deutlich wird (Rechtfertigung, Abendmahlslehre und Schriftprinzip). Es folgen zwei »Bausteine«, in denen sich die Schülerinnen und Schüler mit der »Lutherrezeption im 19./20. Jahrhundert« und mit »Luther aus katholischer Sicht« beschäftigen sollen; auch das Kapitel über Luthers Verhältnis zum Judentum beschäftigt sich expressis verbis mit identitätsstiftenden Geschichtsbildern.18 4 Luthers Bilder vom Judentum und Islam Mit Luthers Verhältnis zum Judentum erarbeiten Krasselt-Maier mit den Schülerinnen und Schülern ein Thema, das in den vergangenen Jahrzehnten kontrovers diskutiert wurde.19 Sie selbst plädiert für eine entschlossene Historisierung Luthers und seines Werks unter Einschluss der Rezeptionsgeschichte. Als Beispiele werden von ihr die »Deutschen Christen« und eine Rede Martin Sass’ didaktisch erschlossen, der die Reichspogromnacht am 9. November 1938 (am Vorabend von Luthers Geburtstag) als Erfüllung von Luthers deutscher Mission deutete.20 Als Quelle folgt anschließend die Erklärung »Christen und Juden« der evangelisch-lutherischen Landeskirche Bayerns aus dem Jahr 1998, gefolgt von Informationen zum Bildmotiv der »Judensau« und dem heutigen Umgang mit diesem Bild an der Wittenberger Stadtkirche.21 Diese und weitere Quellen und Unterrichtsidee bieten auch Dieter Petri und Jörg Thierfelder in ihrem Grundkurs Martin Luther und die Reformation.22 17 Sigg, Katholisch, 23–33. 18 Krasselt-Maier, Luther (s.o. Anm. 12), 48–63. 19 Vgl. Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014. 20 Krasselt-Maier, Luther (s.o. Anm. 12), 32f. 21 Krasselt-Maier, Luther (s.o. Anm. 12), 34–37. 22 Dieter Petri / Jörg Thierfelder, Grundkurs Martin Luther und die Reformation. Materialien für Schule und Gemeinde, Stuttgart 2015, 210–228. Einen anderen Akzent setzt Martin Steinhäuser, Antijudaismus bei Martin Luther – Erkundung einer Grenze der Toleranz. Eine Unterrichtssequenz für die Jahrgangsstufe 9/10, in: Roland Biewald / Bärbel Husmann (Hg.), Reformation. Impulse für kirchengeschichtliches Lernen im Religionsunterricht, Leipzig 2014, 54–65.

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Luthers Türken- und Islambild, das sich wie seine Wahrnehmung des Judentums im Laufe seines Lebens gewandelt hat, hat demgegenüber kaum Eingang in die ausgewerteten Unterrichtsmaterialien gefunden. Nach Johannes Ehmanns nicht unumstrittener Deutung steht Luthers frühe Türkenpolemik, nach der diese Feinde des christlichen Glaubens sind, in der Tradition des Mittelalters.23 In seiner späteren Kirchenkritik kann Luther den türkischen Eroberungen (wie auch anderen Nichtchristen) jedoch auch eine bußtheologische Bedeutung zuschreiben: Sie haben seiner Meinung nach in Gottes Heilsplan die Funktion, Bußfertigkeit zu stiften – eine Deutung, die u.a. in dem Holzschnitt des als Türken gestalteten Barmherzigen Samariters von Jost Amman in der sog. Feyerabend-Bibel zum Tragen zu kommen scheint.24 Wie bei der Beschäftigung mit dem völlig anders gelagerten Bildmotiv der »Judensau« bietet dieser Holzschnitt damit die didaktische Möglichkeit, ein anspruchsvolles historisches und theologisches Thema zu erschließen.25 Luthers Bilder vom Judentum und Islam, aber auch die von der Reformation ausgehenden Konfessionskriege gelten vielen Menschen heute als Beispiele für die prinzipielle Intoleranz des Christentums. Ihnen gegenüber (aber keineswegs nur diesen) wird daher gern auf die »unbestreitbaren« Erfolge der Reformation verwiesen. Zu diesen gehören neben der Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung für die deutsche Sprache und Kultur auch die Reform des Schul- und Hochschulwesens. 5 Die Reformation als Bildungsreform Seit Gerald Strauss’ These vom Scheitern aller reformatorischen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen auf dem Land werden in der Forschung konträre Positionen zu dieser Frage vertreten.26 In den ausgewerteten Materialien spielen diese Kontroverse und eine Differenzierung zwischen städtischem Zentrum und ländlicher Peripherie jedoch keine Rolle. Stattdessen wird gelegentlich auf die Bedeutung der Reformation als Bildungsreform in den Städten verwiesen. So thematisiert beispielsweise der letzte Baustein in der Unterrichtseinheit von Wermke und Leppin das 23 Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türkenund Islambild Martin Luthers (1515–1546), Gütersloh 2008, 445. 24 Zur Arbeit mit dieser Bibelillustration vgl. David Käbisch, Die Bibel verstehen. Oder: Darf man Luthers Bibelübersetzung heute ändern?, in: Käbisch/PalkowitschKühl/Träger/Witten (Hg.), Luthers Meisterwerk (s.o. Anm. 13), 50–64, hier 62. 25 Siehe dazu auch Petri/Thierfelder, Grundkurs Martin Luther (s.o. Anm. 22), 20– 24. Diese Materialien zeichnen sich dadurch aus, dass zu allen Themen zeitgenössische Bildquellen einbezogen werden, z.B. pro- und antilutherische Karrikaturen und Flugblätter, siehe ebd., 191–193. 26 Gerald Strauss, Luther’s house of learning. Indoctrination of the young in the German Reformation, Baltimore [u.a.] 1978. Dazu Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation (s.o. Anm. 5), 47–52.

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reformatorische Bildungsverständnis bei Erasmus und Luther, indem die Schülerinnen und Schüler zwei programmatische Bildungstexte erschließen und in einer Tabelle Gemeinsamkeiten (z.B. das Erlernen der alten Sprachen) und Unterschiede (Erasmus: »philologische Interesse«; Luther: »umfassende Bildung«) gegenüberstellen sollen.27 Ein weiterer Zugang zur Reformation als Bildungsreform bietet Luthers Bibelübersetzung, die als ein »Meilenstein in der Geschichte religiöser Bildung« gelten kann.28 Das Bildungswesen vor, während und nach Luthers Lebenszeit bietet zudem einen ›natürlichen‹ Anknüpfungspunkt im Leben der Schülerinnen und Schüler. So hat in den Grundschulmaterialien von Marita Koerrenz der Lesetext zu Luthers Schulzeit u.a. die didaktische Funktion, den Schülerinnen und Schülern den »garstigen Graben« zwischen der Gegenwartskultur und der Vergangenheit zu verdeutlichen (Damals »war es erlaubt, die Kinder durch Schläge zu bestrafen.« »Ein Fahrrad oder gar ein Schulbus gab es ja nicht.«).29 Der kulturelle Wandel seit der Reformation kommt hier in einer altersangemessenen Form zur Sprache. 6 Reformation und kultureller Wandel Seit dem cultural turn in den 1980er Jahren hat auch die Frage nach der Bedeutung der Reformation für den kulturellen Wandel erhöhte Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten. Der neue Umgang mit religiösen Bildern, der im sog. Bildersturm kulminierte, die Verbreitung von illustrierten Flugschriften, die für eine neue Form der Öffentlichkeit auch für Analphabeten sorgte, vor allem jedoch Luthers bebilderte Bibelübersetzung haben die kulturgeschichtlich orientierte Reformationsforschung angeregt.30 Deren Verbreitung und theologische Wertschätzung in bestimmten Regionen hat die Konfessionalisierung in abgrenzbare evangelisch-lutherische, reformierte und katholische Reichsgebiete begünstigt. In ökumenischer Perspektive erweist sich Luthers Bibelübersetzung damit auch als ein Medium der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Christentums.

27 Wermke/Leppin, Lutherisch (s.o. Anm. 8), 62. 28 Bernd Schröder, Luthers Bibelübersetzung – ein Meilenstein in der Geschichte religiöser Bildung, in: Jürgen Schefzyk / Eberhard Zwink (Hg.), Luthers Meisterwerk. Ein Buch wie eine Naturgewalt [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Bibelhaus Erlebnis Museum 2015], Mainz 2015, 26–31. Vgl. dazu auch die aus der Ausstellung erwachsenen Unterrichtsmaterialien von Käbisch/Palkowitsch-Kühl/Träger/Witten (Hg.), Luthers Meisterwerk (s.o. Anm. 13). 29 Koerrenz, Der Mensch (s.o. Anm. 6), 12f. 30 Vgl. Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation (s.o. Anm. 5), 81f. (zur Kunst), 82–89 (zum Bildersturm) und 89–91 (zu Flugschriften als neuer Form der öffentlichen Kommunikation).

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Eine Reihe an Tagungen zur Revision der Lutherbibelrevision von 1964 (Altes Testament) und 1984 (Neues Testament), die zum Reformationsjubiläum 2017 erscheinen wird, hat diese kulturgeschichtlichen Aspekte neu vor Augen geführt.31 Nicht alle Unterrichtsmaterialien haben sich in diesem Zusammenhang jedoch von dem populären, auch von dem jüngst produzierten Playmobil-Luther bestärkten Bild verabschiedet, dass Luther als erster und im Alleingang den hebräischen und griechischen Text übertragen habe. Dessen ungeachtet finden sich in zahlreichen Materialien didaktisch anspruchsvolle und methodisch anregende Unterrichtsideen, mit deren Hilfe Schülerinnen und Schüler die Rezeption dieser Übersetzung in der deutschen Sprache, Literatur, Musik und bildenden Kunst entdecken können.32 Das Thema bietet sich daher in besonderer Weise für das fächerverbindende Lernen an.33 Unter der Überschrift des kulturellen Wandels sei abschließend auf das Geschlechterverhältnis in der Reformation und im konfessionellen Zeitalter verwiesen. Auch wenn die Frage nach den Folgen der reformatorischen Bewegung und der Konfessionalisierung für die Handlungsmöglichkeiten von Frauen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft weiterhin umstritten ist,34 fällt auf, dass diesem Thema trotz einer zunehmend genderbewussten Religionspädagogik kaum Aufmerksamkeit in Unterrichtsmaterialien geschenkt wird. Die Beschäftigung mit dem Thema beschränkt sich meist, wenn überhaupt, darauf, die Bedeutung von Frauenorden und deren Auflösung in der Reformationszeit (in der Regel am Beispiel Katharina von Boras) und die neue Wertschätzung der Familie (Luthers Heirat mit Katharina) zu thematisieren.35 7 Aufgaben zur Konfessions- und Religionszugehörigkeit der Kinder und Jugendlichen Eine konfessionelle bzw. religiöse Identität bildet sich erst im Prozess der Verständigung über andere Konfessionen und Religionen oder – organisatorisch und didaktisch anspruchsvoller – in der persönlichen Be31 Vgl. Melanie Lange / Martin Rösel, »Was Dolmetschen für Kunst und Arbeit sei«. Die Lutherbibel und andere deutsche Bibelübersetzungen. Beiträge der Rostocker Konferenz 2013, Leipzig 2014. Corinna Dahlgrün / Jens Haustein (Hg.), Anmut und Sprachgewalt. Zur Zukunft der Lutherbibel. Beiträge der Jenaer Tagung 2012, Stuttgart 2013. 32 Zum Beispiel Ulrike Witten, Die Lutherbibel in aller Munde. Oder: Luthers Sprachschöpfungen und unsere Bildsprache heute, in: Käbisch/Palkowitsch-Kühl/ Träger/Witten (Hg.), Luthers Meisterwerk (s.o. Anm. 13), 31–49. 33 Dazu demnächst Thomas Breuer / Veit-Jakobus Dietrich, Luther unterrichten: Fächerverbindende Perspektiven für Schule und Gemeinde, Stuttgart 2016. 34 Vgl. Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation (s.o. Anm. 5), 92–99. 35 Zum Beispiel Petri/Thierfelder, Grundkurs Martin Luther (s.o. Anm. 12), 126– 132.

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gegnung. Insbesondere die empirischen und konzeptionellen Arbeiten von Albert Biesinger und Friedrich Schweitzer haben in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass der Unterricht bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Konfessionen bzw. Religionen im Kindes- und Jugendalter beginnen sollte. Denn »Kinder brauchen einen Religionsunterricht, der ihnen die Bedeutung von Konfessions- und Religionszugehörigkeit im Zuge ihrer Welterschließung verstehen hilft und der auch der Frage nach der eigenen Zugehörigkeit Raum gibt.«36 Die Klärung der eigenen Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion geschieht zudem »nicht in ausschließlich abstrakter oder kognitiver Weise, sondern ist stets vermittelt über Identifikationen insbesondere – für die Grundschule gesprochen – mit Erwachsenen.«37 Kurzum: Kinder und Jugendliche »brauchen einen Religionsunterricht, der sie zu einem positiv-wertschätzenden Umgang mit kulturell und religiös bzw. konfessionell anders geprägten Kindern befähigt.«38 Die von Manfred Karsch und Silvia Kunter erarbeiten Unterrichtsbausteine zur »Entwicklung einer eigenen religiösen Identität« zeichnen sich dadurch aus, dass sie ausgehend von den Gottesbildern der Schülerinnen und Schüler das sich wandelnde Gottesbild Luthers erschließen.39 Im Unterschied zu konfessionskundlichen Aufgabenformaten spielen Aufgaben zur eigenen Konfessions- und Religionszugehörigkeit ansonsten nur eine untergeordnete Rolle. So beginnen Manfred Karsch, Silvia Kunter und Christian Rasch in ihren »Unterrichtsbausteine[n] zum Inhaltsfeld Kirche und andere Formen religiöser Gemeinschaft« für die 5./6. Klasse mit einer Diagnoseaufgabe zu dem Thema, was »Schülerinnen und Schüler über Kirche denken«.40 Der anschließende Durchgang durch die Kirchengeschichte bietet vor allem Informationstexte zu den ersten Christen nach Himmelfahrt, zu den altorientalischen, orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirchen einschließlich einer Auswahl an Freikirchen und »Sekten« (z.B. Baptisten und Mennoiten sowie Neuapostolische Kirche ). Zu den Sachtexten gibt es ausschließlich Aufgaben zur Texterschließung und zum Textverständnis, die nur leicht variiert werden, z.B.: – »Lest die Informationen durch und schaut euch die Bilder und das Material an. – Unterstreicht Informationen, die ihr besonders wichtig findet.

36 Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg i.Br./Gütersloh 2002, 84f. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Karsch/Kunter, Mit Martin Luther auf der Suche nach Gott (s.o. Anm. 10). 40 Manfred Karsch / Silvia Kunter / Christian Rasch, Kirche in konfessioneller Vielfalt. Unterrichtsbausteine zum Inhaltsfeld Kirche und andere Formen religiöser Gemeinschaft 5.–6. Klasse, Hamburg 2014.

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– Gestaltet mit dem Material ein Info-Plakat und präsentiert die Ergebnisse im Plenum. – Übertragt den Zeitstrahl auf euer Plakat und beschriftet ihn mit wichtigen Daten, die ihr im Text gefunden habt. – Zusatzaufgabe/Hausaufgabe: Informiert euch mit Lexikon, Internet oder Zeitung über [die altorientalische/orthodoxe/katholische/evangelische Kirche etc.]«41

Die in der Reihe »Kompetenzorientierter Religionsunterricht am Gymnasium« erschienen Aufgaben decken damit die Anforderungsbereiche ab, die bereits vor der Einführung des kompetenzorientierten Religionsunterrichts Standard waren (»unterstreichen«, »gestalten«, »präsentieren« etc.). Die Materialien bieten jedoch keine kompetenzorientierte Anforderungssituationen, mit denen die Schülerinnen und Schüler ihr erworbenes (sachbezogenes, prozeduales, metakognitives etc.) Wissen in einer lebensweltnahen Situation anwenden können sollen. Die Materialien haben zudem nicht den konkreten Umgang mit religiös bzw. konfessionell anders geprägten Gleichaltrigen, sondern das abstrakte ökumenische Gespräch zwischen Konfessionen und Religionen im Blick.42 Der von Marita Koerrenz verfasste »Materialband« Ökumene Lernen verzichtet demgegenüber auf den Kompetenzbegriff und verspricht damit nicht mehr, als was die Aufgaben im Umfeld der eindrücklichen Erfahrungsberichte (u.a. einer anglikanischen Christin in Indien) und verlässlichen Sachinformationen (u.a. zur ökumenischen Bewegung, zur EKD, zum ÖRK und zu Taizé) tatsächlich bieten.43 Die zahlreichen WFragen dienen überwiegend der Texterschließung (»Was ist mit dem Wort ›Ökumene‹ gemeint?« »Wie begründet er seine These?« »Was meint der Autor des Textes mit der Aussage […]?«) und kaum der eigenen, ergebnisoffenen Positionierung zu einem strittigen Sachverhalt.44 Auch diese Materialien gehen damit nicht über die ›klassischen‹, von der KMK formulierten Anforderungsbereiche hinaus. Zu diesen gehören auch die 17 Gestaltungsaufgaben, mit denen die Jugendlichen ihr Wissen 41 Karsch/Kunter/Rasch, Kirche, 52.55.58.61.64.67. 42 Vgl. insbesondere die abschließende »Evaluationsaufgabe«, die nicht den Kriterien einer Aufgabe zur Kompetenzkontrolle am Ende einer Unterrichtseinheit entspricht. Karsch/Kunter/Rasch, Kirche, 84: »Welche Grundsätze könnte es für ein ökumenisches Gespräch unter den Konfessionen und Kirchen geben, damit sich jeder Christ und jede Christin verstanden fühlt? Gibt es auch Grenzen, die eingehalten werden müssen?« 43 Marita Koerrenz, Ökumene lernen. auf der Suche nach der christlichen Gemeinschaft in der einen Welt. Materialien für Klasse 7–10, Göttingen/Bristol, Conn. 2014. Lediglich im methodisch-didaktischen Kommentar ist unspezifisch die Rede davon, dass der Materialband die »Kompetenz der Sprachfähigkeit« und die Wahrnehmungsfähigkeit fördern will: Denn in einem zusammenwachsenden Europa gehöre »die Kompetenz, das Fremde wahrzunehmen und einordnen zu können, zu einer wichtigen Lernerfahrung im Religionsunterricht.« Ebd., 17. 44 Koerrenz, Ökumene, 9.12.14. Weitere W-Fragen 9.12.14.16.24.30.31.35.38.56 (Was?), 9.12.18.22.30.31.35 (Welche?), 12.12.18.35 (Wie?) und 30.30.39 (Warum?).

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in eine andere, in der Regel nicht textbezogene Repräsentationsform transferieren sollen, z.B. – »Denke darüber nach, was dir am Thema Ökumene wichtig ist. Veranschauliche deine Antwort durch ein Symbol oder einen Comic« (9). – »Welche Konflikte müssten gelöst werden, damit der Weg zu einer Einheit der Menschheit gegangen werden kann? Wie könnte ein solcher Weg aussehen? Fertige dazu eine Mind-Map an« (32). – »Fertige ein eigenes Plakat zu ›Frieden‹ an« (28). – »Formuliere ein eigenes Versöhnungsgebet« (32). – »Verdeutliche die Gründe, die zur Kirchenspaltung beigetragen haben, durch ein Schaubild« (42).

Auch wenn sich in allen ausgewerteten Unterrichtsmaterialien viele erprobte und weiterführende Ideen für einen ansprechenden und abwechslungsreichen Religionsunterricht finden, ist die Gestaltung von kompetenzorientierten Anforderungssituationen weithin der Expertise und Vorstellungskraft der Lehrkräfte überlassen. 8 Evidenzbasierte Anforderungssituationen als Desiderat Nach einer fast 15-jährigen Theoriediskussion um die Vor- und Nachteile eines kompetenzorientierten Unterrichts und der Einführung kompetenzorientierter Kerncurricula in den meisten Bundesländern gibt es nach wie vor einen Mangel an Unterrichtsmaterialien, die diese Standards zu erfüllen suchen.45 Es fehlen insbesondere evidenzbasierte Kriterien zur Konstruktion und Evaluation kompetenzorientierter Anforderungssituationen.46 Es mag daher keine Überraschung sein, dass entsprechende Aufgaben in den ausgewerteten Materialien erst nach und nach ›einsickern‹. So bieten die ersten beiden Bände der Reihe Martin Luther – Leben, Werk und Wirkung nur wenige Beispiele für kompetenzorientierte Anforderungssituationen. Diese sollten die Schülerinnen und Schüler mit einer imaginierten Situation konfrontieren, in der sie ihr in der Unterrichtseinheit erworbenes Wissen anwenden sollen, was bei45 Als Ausnahme sei erwähnt Carolin Schaper, »Woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott.« Einladung zum Disput mit Martin Luther, in: Susanne BürigHeinze u.a., Anforderungssituationen im kompetenzorientierten Religionsunterricht. 20 Beispiele, Göttingen 2014, 7–12. 46 Zur empirischen Forschung siehe Friedrich Schweitzer, Vom Desiderat zur evidenzbasierten Unterrichtsgestaltung? Lernaufgaben in fachdidaktischer Perspektive – am Beispiel Religionsdidaktik, in: Susanne Prediger / Bernd Ralle / Marcus Hammann / Martin Rothgangel (Hg.), Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen – Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung (Fachdidaktische Forschungen 5), Münster 2014, 23–32, und zur konzeptionellen Diskussion siehe David Käbisch, Kompetenzorientierte Aufgaben im Religionsunterricht. Kriterien und Beispiele, in: Verkündigung und Forschung 59 (2014), 124–131.

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spielsweise bei der folgenden Aufgabe am Ende der Beschäftigung mit den Zwölf Artikeln der Bauernschaft (1525) der Fall ist: »Stellt euch vor, ihr gehört zur Partei der Bauern. Schreibt eure wichtigsten Forderungen kurz und knapp auf kleine Demonstrationsplakate (DIN A4-Seiten). Es hilft euch, wenn ihr zunächst die wichtigsten Aussagen im Text unterstreicht.«47

Kompetenzorientierte Anforderungssituationen sollten darüber hinaus die Fähigkeit zur Perspektivübernahme und zum Perspektivenwechsel (arm/reich, oben/unten, alt/jung, früher/heute, Mann/Frau etc.) erweitern, z.B.: »Stellt euch vor, ihr habt die Fürstenpredigt [von Thomas Müntzer, D.K.] auf dem Schloss zu Allstedt besucht. Entwerft nun im Anschluss an diesen Besuch ein Flugblatt aus der Sicht der Fürsten, der Bauern oder der Geistlichen.«48

Der Lebensweltbezug beider Aufgaben ist weder authentisch (ein typisches Problem im Kindes- und Jugendalter etc.) noch real (ein tatsächliches Problem in der Klasse etc.), sondern wird allenfalls über die Stichworte »Demonstrationsplakat« und »Flugblatt« vage konstruiert. Beispiele für Anforderungssituationen, in denen Schülerinnen und Schüler ihr erworbenes Wissen in einer imaginierten Gegenwartssituation anwenden sollen, finden sich hingegen im dritten Band der Reihe, z.B »Bilden Sie drei Arbeitsgruppen. Bereiten Sie eine Pressekonferenz vor, in der Luther und Zwingli ihre Standpunkte zum Abendmahlsverständnis darlegen und auf Fragen der anwesenden Journalisten antworten.«49 »Schreiben Sie als Berichterstatter für Ihre Schülerzeitung einen Zeitungsartikel über das Marburger Religionsgespräch mit dem Titel ›Luther und Zwingli im Streit‹«50

Der vierte Band der Reihe ist schließlich aus der Intention heraus erwachsen, den Unterricht stärker von lebensweltnahen Anforderungssituationen her zu planen. Dabei spielen die über Filme vermittelten Geschichtsbilder (und deren Dekonstruktion) eine zentralen Rolle, z.B.: »Folgende Situation ereignet sich am Ende einer Religionsstunde: Die Schüler bitten ihren Lehrer, ihnen in der letzten Stunde vor den Ferien als Belohnung einen Lutherfilm zu zeigen. Der Lehrer lehnt den Wunsch ab und sagt: ›In diesem Film gibt es viele Szenen, die völlig frei erfunden sind. Da kann man nichts über den historischen Luther lernen!‹ Sammelt Argumente, die dem Lehrer klarmachen, was man mit diesem Film dennoch lernen kann.«51

47 Wermke/Leppin, Lutherisch (s.o. Anm. 8), 42. 48 Ebd., 54. 49 Krasselt-Maier, Luther (s.o. Anm. 12), 22. 50 Ebd., 23. 51 Johannes Träger, Solus Lutherus? Oder: Die Entstehung Der Wittenberger Bibel, in: Käbisch/Palkowitsch-Kühl/Träger/Witten (Hg.), Luthers Meisterwerk (s.o. Anm. 13), 9–30, hier 20.

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Das von Luther geschätzte neue Medium des Buchdrucks war, wie am Beispiel von Flugschriften und Luthers Bibelübersetzung gezeigt, ein Faktor für den von der Reformation ausgehenden kulturellen Wandel. Die Beschäftigung mit diesem Thema eröffnet damit auch die Möglichkeit, dass Schülerinnen und Schüler mit einem Gedankenexperiment über die heutige Bedeutung neuer Medien für die Kommunikation des Evangeliums nachdenken, z.B.: »Stelle dir vor, Luther wäre es möglich, einen Tag im Jahr 2017 verbringen zu können. Was würde er deiner Meinung nach über die Bedeutung der neuen Medien (Radio, Fernsehen, Internet etc.) für die Heilige Schrift sagen? Verfasse eine eigene Tischrede.«52

Auch wenn davon ausgegangen wird, dass aufgrund der Überkomplexität von Lehr-Lern-Prozessen eine umfassende Evidenzbasierung von Lernaufgaben nicht möglich sein wird,53 sei abschließend auf die Notwendigkeit verwiesen, kompetenzorientierte Anforderungssituationen im Unterricht zu erproben, zu evaluieren und auf dieser Grundlage weiterzuentwickeln. Auch die eingangs formulierte These, dass der didaktische Gewinn historischen Arbeitens im Religionsunterricht vor allem bei der Beschäftigung mit sich wandelnden, medial geprägten Geschichtsbildern zum Tragen kommt, steht damit unter diesem Evidenzvorbehalt. Dessen ungeachtet lässt sich die Qualität von Lernaufgaben zur Reformation und zur ›Kirchenspaltung‹ auch an fachwissenschaftlichen Kriterien ermessen. Hier hat sich gezeigt, dass zahlreiche Kontroversen Eingang in die didaktische Reflexion gefunden haben, das didaktische Potential einer Beschäftigung mit den Kontroversen selbst jedoch kaum gesehen wird. Dr. David Käbisch ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt a.M.

52 Palkowitsch-Kühl, Reformation und Medien (s.o. Anm. 13), 72. 53 So Schweitzer, Vom Desiderat zur evidenzbasierten Unterrichtsgestaltung? (s.o. Anm. 46), 30f.

6.3 Georg Langenhorst

Konfession literarisch Didaktische Chancen im Blick auf ›katholische‹ oder ›evangelische‹ Gegenwartsliteratur Die Kulturwissenschaften sprechen im Blick auf die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte von einem deutlich wahrnehmbaren ›religious turn‹1, erkennbar unter anderem in der Gegenwartsliteratur2. Bei genauem Hinsehen lassen sich mehrere Strömungen unterscheiden: So findet sich im Blick auf die spezifisch deutsch-jüdische Literatur eine eigenständige ›dritte Generation‹, repräsentiert etwa durch VertreterInnen wie Benjamin Stein, Lena Gorelik, Doron Rabinovici oder Vladimir Vertlib. In ihren Werken spiegelt sich ein Leben im deutschen Sprachraum, in dem auch Religion ein selbstverständlicher Raum zukommt. Daneben entwickelt sich als völlig neuartiges Phänomen eine ›deutschmuslimische Literatur‹, bei so unterschiedlichen Autoren wie SAID, Navid Kermani, Sherko Fatah oder Feridun Zaimoglu. In ihren Werken wird eher das von ihnen bezeugte interkulturelle Spannungsfeld beleuchtet. Religion bleibt jedoch als Hallraum präsent.3 Auch die religiösen und kulturellen Signaturen des Christentums werden literarisch neu produktiv. Dabei fällt eine Tendenz deutlich ins Auge: Wenn christliche Motive, Spuren, Sprachformen oder Traditionen literarisch gestaltet werden, dann meistens in deutlich konfessioneller Prägung. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der 1960er bis 1980er Jahre war das religiöse Element kaum noch auszumachen. Die maßgeblichen kulturellen Strömungen definierten sich weitgehend gegen religiöse Traditionen oder bereits völlig ohne jeglichen Bezug darauf. Das betraf auch jegliche konfessionelle Eigenprägung, die sich lediglich im marginalisierten Segment der katechetischen Gebrauchsliteratur hielt, dort freilich beharrlich. Mit dem Wiedererwachen eines auch literarischen Interesses am Phänomen Religion seit den 1990er Jahren zeigt sich nun jene überraschende Entwicklung: Wenn, dann trägt christlich (mit-)geprägte Literatur sehr häufig ein klares konfessionelles Profil. Nicht im Sinne der Affirmation 1 Vgl. Daniel Weidner (Hg.), Handbuch Literatur und Religion, Berlin 2016. 2 Vgl. ausführlich: Georg Langenhorst, »Ich gönne mir das Wort Gott«. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur, Freiburg 2014. Unmarkierte Zitate im Text sind hier nachlesbar. 3 Vgl. hierzu: Christoph Gellner / Georg Langenhorst, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013.

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bestimmter inhaltlicher Glaubensaussagen, sondern hinsichtlich der lebensweltlichen Prägung. Einige Beispiele: 1 Katholische Prägungen Arnold Stadler, einer der produktivsten heutigen Schriftsteller katholischer Provenienz, die ihre religiösen Prägungen und Gedanken auch immer wieder literarisch fruchtbar werden lassen, konnte 1999 noch schreiben: »Es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein Schriftsteller […] Verbindungen hat zur Kirche. Ich kenne keinen außer mir. Leider.«4 Mit etwas mehr Überblick hätte man auch damals schon zu einem anderen Ergebnis kommen können. Heute stellt sich das Szenario endgültig anders dar. Hanns-Josef Ortheil, erneut einer der wichtigsten der in diesem Zusammenhang zu nennenden Autoren, verwies vor Kurzem darauf, dass es »immer mehr geworden«5 seien, die literarisch vom katholischen Erbe zehren, und nennt Ralf Rothmann, eben Arnold Stadler, Petra Morsbach, Thomas Hürlimann und Andreas Maier. Und weitere wären hinzuzufügen: Ulla Hahn, Felicitas Hoppe und Christoph Peters etwa, auf ihre Weise auch Peter Handke und Martin Walser6, um erneut nur herausragende Repräsentaten zu nennen. Sie bilden keineswegs so etwas wie eine ›Gruppe‹ oder ›Schule‹. Ihr Rückgriff auf Religion erfolgt inhaltlich wie ästhetisch auf ganz unterschiedliche Weise. Sie eint nur, dass der Katholizismus in ihrem Werk produktiv aufgegriffen wird – sei es in Absetzung oder Zustimmung, sprachlicher oder spiritueller Anregung, motivischer oder formaler Weiterschreibung. 1.1 Daniel Kehlmann: Die Sache mit Gott Blicken wir auf zwei aktuelle Beispiele! Der meistdiskutierte Roman des Jahres 2013, bleibend auf dem Buchmarkt präsent, stammt von Daniel Kehlmann (*1975), seit dem Welterfolg des Romans »Die Vermessung der Welt« (2005) der herausragende deutschsprachige Autor seiner Generation. In dem Roman »F« – das unter anderem für »Fatum. Das große F.«7 steht – erzählt er die Geschichte dreier (Halb-)Brüder, die auf je eigene Weise Fälscher, Betrüger und Heuchler sind. Angeregt durch 4 Arnold Stadler, Erbarmen mit dem Seziermesser. Über Literatur, Menschen und Orte, Köln 2000, 182. 5 Hanns-Josef Ortheil, »Durchdringen der Welt von innen her. Gespräch«, in: Herder Korrespondenz 68 (2014), 286–290, hier: 289. 6 Vgl. zu diesen beiden: Jan-Heiner Tück / Andreas Bieringer (Hg.), Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung – theologische Erwiderungen, Freiburg 2013; dies. (Hg.), »Verwandeln allein durch Erzählen«. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft, Freiburg 2014. 7 Daniel Kehlmann, F. Roman, Reinbek 2013, 364.

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Motive der klassischen russischen Literatur wie Bulgakows »Der Meister und Margarita« durchzieht eine Spur satanischer Abgründigkeit den Roman. Kehlmann, dessen Großeltern während der Nazi-Diktatur vom Judentum zum Katholizismus übertraten, hatte bis dahin nur vereinzelt explizit religiöse Motive in seine Werke einfließen lassen. Anders hier! Vor allem über einen der Brüder kommt die religiöse Dimension ins Spiel: über Martin Friedland, katholischer Pfarrer, übergewichtig, der Esslust verfallen, sich nach Glauben sehnend, aber glaubenslos. Aus seiner Sicht werden die Abläufe der Liturgie geschildert, Gottesdienste, Beichten8, Taufgespräche, theologische Dispute. »Gott gibt es nicht. […] Das ist der Fehler«9, hatte der satanische, sich seiner Familie entziehende Vater seinen Söhnen gleich in den Anfangsszene des Romans mit auf den Lebensweg gegeben. Martin wird sich nicht an diese Mahnung halten. Unsicher über seinen Lebensweg erkennt er: Ich aber fühlte mich wohl in halbdunklen Räumen, ich hörte gern Musik von Monteverdi, und mir gefiel Weihrauchduft. Ich mochte die Fenster alter Kirchen, ich mochte das Netz aus Schatten in gotischen Gewölben, ich mochte die Darstellung von Christus Pantokrator, dem goldumfassten Heiland als Herrscher der Welt, ich mochte Holzschnitte des Mittelalters, ich mochte auch die sanfte Menschlichkeit der Madonnen Raffaels. Ich war beeindruckt von den Bekenntnissen des Augustinus, ich fühlte mich belehrt von den Haarspaltereien des heiligen Thomas, ich empfand eine warme Zuneigung zur Menschengattung an sich […].10

Sollte diese Faszination für die ästhetische Welt des Katholizismus, für dessen Theologie in Verbindung mit seiner grundsätzlichen Menschenliebe nicht ausreichen, um sich zum Priester weihen zu lassen, so fragt sich Martin als Student und Priesterseminarist. Aber ist er auch ein gläubiger Mensch? Nun, die »Sache mit Gott würde ich auch noch hinbekommen. Das dachte ich. So schwer konnte es doch nicht sein. Wenn man sich nur ein wenig Mühe gab, musste es zu schaffen sein«11, reflektiert Martin später. Da weiß er längst, dass es ihm nicht gelungen ist. So gut er die Handgriffe, Verhaltensmuster und Sprachspiele eines Pfarrers beherrscht, er glaubt nicht an Gott. »Gott spürte ich nicht. Ich wartete, betete, wartete und betete. Aber ich spürte ihn nicht.«12 Einer der Brüder ein glaubensloser Pfarrer, ein weiterer ein Kunstexperte und Kunstfälscher, der dritte ein zunächst überaus erfolgreicher, dann ruinierter Finanzberater: Lüge und Wahrheit, Schein und Realität, Selbstbild und Täuschung – um diese Dimensionen dreht sich der vielschichtige Roman, der nun auch Kehlmann tief in religiöse und theologische Welten vordringen lässt. Martin, dem glaubenslosen Glaubens8 9 10 11 12

Eindrucksvoll ebd., 93–100. Ebd., 9. Ebd., 75. Ebd., 76. Ebd., 104.

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sucher bleiben die letzten Worte vorbehalten, gesprochen bei der Zeremonie zur Totenfeier für einen der beiden anderen Brüder: »Und jetzt […] das Bekenntnis des Glaubens.«13 1.2 Felicitas Hoppe: Das aufgespannte Ohr Gottes 2012 wurde der Georg Büchner-Preis an Felicitas Hoppe (*1960) verliehen, in deren Werk Religion vor allem im Modus des Skurril-Phantastischen produktiv wird. »Nie gehadert« habe sie mit ihrer katholischen Erziehung, gibt sie im Gespräch mit der Zeitschrift »Theo« im Frühjahr 2014 an, »im Gegenteil«. Diese habe ihr dabei geholfen »eine Innenwelt« zu entwickeln, »die sie heute als kreative Ressource begreifen und nutzen kann«. Die meisten ihrer – in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder als Paradebeispiel postmoderner Prosa angeführten – Texte verweigern sich einer Zuordnung zu den klassischen literarischen Gattungen. In einem beständig mitlaufenden Motivstrang ihres Schaffens setzt sich Felicitas Hoppe mit dem ererbten Katholizismus auseinander. In dem 2004 veröffentlichten Essay »Beichtkinder. Über Bekenntniswahn und Bekenntniszwang« gibt sie ihre religiöse Beheimatung zwar erneut im literarischen Maskenspiel, gleichwohl aber deutlich an: »Um es vorwegzunehmen – ich komme aus einer katholischen Familie von Tag- und Nachtträumern«14, heißt es dort gleich zu Beginn. In die Reflexionen über den öffentlichen Umgang mit persönlichen Bekenntnissen im postmodernen Medienzeitalter fließen Erinnerungen an die Kindheit ein, vor allem über das Sakrament der Beichte: »Meine erste Beichte legte ich im Alter von fünf Jahren ab«, erinnert sie sich. »Damals erschien mir die Möglichkeit einer persönlichen Beichte geheimnis- und verheißungsvoll, der Beichtstuhl als ein Ort, an dem alles gesagt und nichts verraten werden durfte, das aufgespannte Ohr Gottes«15. Der Reiz von Beichte aus heutig-reflektierter Sicht: Das Kind konnte »eine Mischung aus vagem Schuldbekenntnis und Erfindung« loswerden, ein Prozess, in dem »die Schönheit der Diskretion« sich verband mit dem »Glauben an die unendlichen Möglichkeiten der Fiktion einerseits« und der möglichen »Absolution davon andererseits«. Quintessenz: »Ob Gott gnädig ist, sei dahingestellt, dass die Welt keine Gnade kennt, ist hinlänglich bekannt. Niemals wieder hat man mich dermaßen beim Wort genommen wie in den Beichtstühlen meiner Kindheit.«16

13 Ebd., 380. 14 Felicitas Hoppe, Beichtkinder, in: Florian Höllerer / Tim Schleier (Hg.), Betrifft …, Frankfurt a.M. 2004, 88–95, hier: 88. 15 Ebd., 90. 16 Ebd., 91.

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»Beim Wort genommen werden« / »Glaube an die unendlichen Möglichkeiten der Fiktion« – mit diesen Schlagworten deutet Hoppe die für sie gültige literarische Produktivkraft des Katholizismus an. Auch wenn die Aussagen über die Kindheit nicht in die Gegenwart der Erwachsenen zu verlängern sind, bleiben Prägespuren: Gefragt, ob die Religionen heute an ihr Ende gekommen seien, stellt sei klar: »Die Menschen kommen offenbar ohne das nicht aus«, so in einem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk aus dem Jahr 2006. »Wenn man versucht, darauf zu verzichten, entsteht […] eine Leerstelle«. Man könne also »nie nicht glauben«. Das Problem in den aufgeklärten Gesellschaften bestünde darin, dass man »so unglaublich viel Zeit mit Befreien verbracht« habe, »dass man jetzt völlig ratlos in der Landschaft steht und nicht weiß, was zu tun ist«. Es gebe aber nicht einfach einen Weg zurück in die alten Formen von Kirchlichkeit, sondern zunächst eher ein »Aufschrecken darüber, dass man etwas verloren hat«. Sie selbst, die ein »Leben lang mit Religion zu tun hatte«, finde es wichtig »das Alte betrachtend vielleicht neue Formen zu entwickeln« im Blick darauf, »was tatsächlich gelebte Religion ist«. Von all dem ist in ihren literarischen Werken nur indirekt die Rede. Felicitas Hoppe schreibt weder biographische Erinnerungsliteratur noch religiöse Suchprosa. 2006 erschien der Roman »Johanna« um die Heilige Johanna von Orleans, der eine jegliche affimative Lesart aber gerade verweigert. Ähnlich in »Hoppe« (2012), in dem die Autorin ein fiktionales, von Ideen überquellendes Lebensmärchen vorlegt. Die vorgebliche Geschichte der eigenen Kindheit und Jugend ist ein anspielungsreiches, metafiktionales Spiel der freien Phantasie, verwoben mit Versatzstücken des tatsächlich Erlebten. Erneut werden wie nebenbei Reminiszenzen einer katholischen Lebenswelt aufgenommen. Wie folgt schildert die Erzählerin in bewusst erzeugter Schwebe zwischen autobiographischer Spurensuche, erfindungsreicher Phantasie und spielerisch entfalteter Fiktion die Erinnerung an Sonntage als Kind: Ich liebte meine Mutter, und ich liebte die Kirche, weil sie mir jene wenigen Stunden bescherte, in denen ich mit ihr allein sein durfte […], weil ich in einen Raum entführt wurde, in dem nichts zu erfinden war, weil alles schon da war, ein Raum, der uns kurzfristig allein gehört und vom Alltag erlöst.17

Berücksichtigt man, wie sehr die literarische Welt der Felicitas Hoppe von der Kraft der Erfindung lebt, wird die Schilderung des Kirchenraums als Raum, »in dem nichts zu erfinden war, weil alles schon da war« zu einer außergewöhnlichen Aussage. Augenzwinkernd wird an einer anderen Stelle erklärt, warum es einen als Katholik in die große weite Welt treibt, und warum man sich dort nicht fremd fühlen muss. So zumindest legt sie es ihrem imaginären Vater und Reisebegleiter Karl in den Mund: 17 Felicitas Hoppe, Hoppe, Frankfurt 2012, 284.

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Man sei »schlicht und einfach katholisch, also überall auf der Welt zu Haus«18. Mit Daniel Kehlmann und Felicitas Hoppe wurden zwei sehr unterschiedliche AutorInnen aufgerufen, in deren Werk der Katholizismus gegenwärtig literarisch produktiv wird. Schauen wir auf vergleichbare Entwicklungen mit evangelischem Hintergrund. 2 Evangelische Prägungen Auch AutorInnen mit evangelischem Hintergrund bringen ihre religiösen Prägungen produktiv in die Gegenwartsliteratur ein. Adolf Muschg, Sibylle Lewitscharoff, Michael Krüger oder Christian Lehnert stehen für diese – in sich erneut völlig heterogen gestaltete – Tradition. Von Dieter Wellershoff und Ulrike Draesner stammen vieldiskutierte Romane um evangelische Pfarrergestalten19. Zwei Beispiele sollen auch hier als Illustration dienen. 2.1 Friedrich Christian Delius: Versöhnung im Bild der Mutter Als Friedrich Christian Delius (*1943) im Jahr 2009 mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, war das Erstaunen zunächst groß. Er hatte sich unter anderem als Verfasser von harten Abrechnungsbüchern mit der Evangelischen Kirche einen Namen gemacht: In »Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde« (1994) und »Amerikahaus und der Tanz um die Frauen« (1997) hatte er sich kompromisslos von den Zwängen des Aufwachsens in einem evangelischen Pfarrhaus freigeschrieben. Erst mit 50 Jahren war es diesem kritischen Kolumnisten gelungen, seine eigene Verletzungsgeschichte zu Papier zu bringen. Schon der erste Satz der erstgenannten Erzählung gibt Ton und Richtung vor: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, begann wie jeder Sonntag: die Glocken schlugen mich wach, zerhackten die Traumbilder, prügelten auf beide Trommelfelle, hämmerten durch den Kopf und droschen den Körper, der sich wehrlos zur Wand drehte.20

Sprachlich gekonnt symbolisieren die Verben die Atmosphäre von Zwang und Gewalt: »schlugen«, »zerhackten«, »prügelten«, »hämmer-

18 Ebd., 173. 19 Vgl. Ulrike Draesner, Vorliebe. Roman, München 2010; Dieter Wellershoff, Der Himmel ist kein Ort, Roman, Köln 2009. 20 Friedrich Christian Delius, Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung, 11994, Reinbek 2004, 7.

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ten«, »droschen« – die Welt der Religion ist ein zerstörerischer Kosmos von Lebensfeindlichkeit und Bedrohung. Versöhnlichere Töne finden sich bei Delius erst in der 2006 erschienenen Erzählung »Bildnis der Mutter als junge Frau«, in der er eben nicht die eigene Lebensgeschichte literarisch fruchtbar macht, sondern die der Mutter. Wie so oft in seinem Werk konzentriert sich auch hier die Schilderung auf einen Schlüsselmoment: Die junge Frau, verheiratet mit einem evangelischen Militärpfarrer, wandert 1943 durch Rom, unterwegs von dem Diakonissenheim, in dem sie wohnt, zur evangelischen Kirche. Sie ist hochschwanger mit jenem Sohn, der diese Episode viel später erzählen wird. Wie mit einer inneren Kamera folgt der Erzähler der Frau auf ihrem Spaziergang, schildert Gesehenes, Erinnertes, Gedachtes in einem langen, szenisch unterbrochenen Gedankenstrom. In Erzählwelten des vermeintlichen Friedens (1954, 1966) war die Sprachhaltung von Delius die der kriegerischen Wut. Nun, in Welten des Krieges, wird sie friedlich. Auch hier, auf dem Weg der evangelischen Christin durch das katholische Rom, werden Kirchen beschrieben, tauchen Priester und Ordensfrauen auf, werden Assoziationen aus Bibel, Kirchengesang und Liturgie eingespielt, aber nun im Blick auf Hoffnung, Sehnsucht und Geborgenheit. Nun jedoch geht es nicht um Abrechnung, sondern um Nähe. Das Evangelische, die Besinnung auf eingestreute Schriftzitate und vor allem auf die Choräle und Kirchenlieder, gibt als ersehnte und erinnerte Gegenwelt geistige Heimat. So heißt es gegen Ende der Erzählung, als sich die junge Frau in einer Kirche ausruht und einem Bach-Konzert lauscht: »immer höher und herrlicher, als steigerten und formten« sich die Klänge »zu einer hochgewölbten Architektur, da hab ich Adlers Eigenschaft, und sie fühlte sich darin geborgen wie in einem Pantheon der Töne«21. All die geschilderten Motive und Erfahrungen werden noch einmal aufgenommen und neu betrachtet in »Die linke Hand des Papstes« aus dem Jahr 2013. Nur mühsam verkleidet hinter dem stark autobiographisch geprägten Erzähler – einem wie Delius seit Jahrzehnten in Rom lebenden deutschen Archäologen und Fremdenführer – blendet das Buch erneut hinein in dieselbe evangelische Kirche Roms. Zufällig dort zu einer kurzen Rast eingekehrt, bemerkt der Erzähler zu seiner großen Überraschung in einer Kirchenbank wenige Meter neben ihm den deutschen Papst – Benedikt XVI. Zusammen mit zwei Begleitern nimmt er an einem Gottesdienst teil, ganz ohne Aufwand, Pomp und Öffentlichkeit: alt, müde, gebrechlich. Am Ende wird er überraschend zu Boden sinken, den Boden küssen und danach einen lutherischen Choral anstimmen. Die Szene wird dabei durchaus von unterschiedlichen Gefühlsströmen bestimmt: Mitleid mit dem gebrechlichen, sichtlich überforderten Papst; Abscheu vor Amt, Prunk und Macht des Papsttums; Faszination durch 21 Friedrich Christian Delius, Bildnis der Mutter als junge Frau. Erzählung, Berlin 2006, 125.

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die Begegnung; realistische Schilderung der sozialen und politischen Wirklichkeit Roms; Gebanntheit angesichts der uralten Geschichte und Tradition des Ortes. Was für Rom gilt, lässt sich letztlich auch auf den literarischen Umgang von Delius mit Religion übertragen – am Ende bleibt eine radikale Ambivalenz, Zerrissenheit, Unversöhntheit. 2.2 Sten Nadolny: Zwei Sichtweisen Seit seinem Welterfolg »Die Entdeckung der Langsamkeit« (1983) gilt Sten Nadolny (*1942) als Autor, in dessen Werk man kaum mit explizit religiösen Spuren rechnen konnte. Er könne »zwar nicht sagen, dass ich an Gott glaube«, bestimmt er 2012 in einem Gespräch mit dem Domradio seine Position, gleichwohl könne er sich »hineinfühlen in jemanden, der an Gott glaubt«. Im brillant erzählten Roman »Weitlings Sommerfrische« (2012) trifft man überraschend auf zahlreiche bemerkenswerte religiöse Verweise, welche diese Selbsteinschätzung des Autors bestätigen. Sie begegnen in Figurenrede des Erzählers, der sich an einen Bootsunfall auf dem Chiemsee erinnert, der ihn vor 50 Jahren fast das Leben gekostet hätte. Aber ist er damals wirklich gerettet worden? Oder ist sein Leben ganz anders verlaufen? Plötzlich verschwimmen zwei mögliche Lebensoptionen und Zeitdimensionen, werden vom damaligen Ereignis aus zwei verschiedene Lebenswege und Identitätsentwicklungen denkbar. Sie bleiben unaufgelöst nebeneinander stehen. Der eigentliche Erzähler, der pensionierte Richter Weitling, »bezeichnete sich als gläubigen Menschen«22, ist praktizierender evangelischer Christ und arbeitet an einem Buch mit dem Titel »Spes Divina«. Für ihn liegt eine mögliche Erklärung der rätselhaften Ereignisse darin, dass »Gott selbst handgreiflich wurde, und einen Menschen rettete, mit dem er noch Pläne hatte«23. Aber wie könne man überhaupt literarisch von Gott reden? Wie konnte er an Gott glauben? Wenn Menschen Gott bemühten, dann aus Gründen erzählerischen Begreifens: Sinnlosigkeit ließ sich so gut wie nicht erzählen, sie war ja nur das Fehlen von etwas. Man konnte nur vom Etwas erzählen, aber nicht von Nichts. […] Als Anker […] hatte er sich diese höchste Person gedacht, Gott, der die Menschen beobachtete und Hoffnungen in sie setzte. Aber es war sicher schon damals mehr ein Kunstbegriff als ein Glaube gewesen.24

Gott – eine denkerische und erzählerische Notwendigkeit? Eher ein »Kunstbegriff« als lebensbestimmende Realität? Der zweite hier erzählte Lebensweg ist vollends von einem klaren Atheismus geprägt. Er habe »die Konfirmation abgelehnt, weil ich, wie ich sicher zu wissen meinte, 22 Sten Nadolny, Weitlings Sommerfrische. Roman, München/Zürich 2012, 13. 23 Ebd., 39. 24 Ebd., 206.

Konfession literarisch

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nicht an Gott glaubte«25, erinnert sich der Erzähler später.« Was bleibt am Ende? Habe er, wird Weitling gefragt, vielleicht »wie manche seiner Kollegen, altersbedingt«26 zum Glauben zurückgefunden? Entschieden weist er diese Deutung zurück. Nein, für ihn steht fest: »Gott gibt es. Wie wäre ich sonst zu zwei Leben gekommen.«27 Mit diesen wohlkalkuliert ironischen Sätzen, mit bleibender Doppelbödigkeit gerade im Blick auf Religion endet der Roman. 3. Wie können die hier vorgestellten literarischen Beobachtungen fruchtbar in religiöse Lernprozesse eingespeist werden?28 Wie wird einerseits ein konfessionsspezifisches, andererseits darin ein ökumenisches Lernen möglich? Beide Vorgaben sind ja auf der Ebene der meisten heutigen SchülerInnen nicht vorauszusetzen: Das Gefühl einer konfessionellen Prägung fehlt ihnen ebenso wie das Bedürfnis nach ökumenischem Zusammenkommen, das ja ein Bewusstsein von Trennung und der Notwendigkeit von Verständigung voraussetzen würde. In welcher Art werden literarische Texte also in ökumenischer Sicht korrelativ nutzbar? Zwei Leitlinien: Zum Einen muss die im Korrelationsgedanken formulierte Vorstellung einer »Verknüpfung von Glaubensüberlieferung und jeweiliger Lebenserfahrung«29 nicht in jedem Fall die unmittelbare Lebenserfahrung der Lernenden meinen. Die SchriftstellerInnen sind ja selbst in solche Korrelationen eingebunden. Die Texte von Kehlmann, Hoppe, Delius oder Nadolny selbst sind bereits augenfällige Ergebnisse korrelativer Prozesse, die hier in der Tat sowohl »kritisch« als auch »produktiv«30 wurden – und somit zwei weiteren idealtypischen Charaktersierungen von Korrelation entsprechen. In der jeweiligen Lebenserfahrung dieser AutorInnen wurden religiöse Texte und Impressionen so bedeutsam, dass sie diese in eigene, neue Sprachsetzungen gerinnen ließen. Umgekehrt betrachtet befragen ihre heutigen Texte die traditionellen Formulierungen und Vorgaben im Blick auf ihre Validität und Stimmigkeit. Lernende können sich hier – sozusagen ›von außen‹ – in diese Kor25 Ebd., 83. 26 Ebd., 211. 27 Ebd., 219. 28 Zu konkreten Unterrichtsvorschlägen und Methoden vgl. Mirjam Zimmermann, Literatur für den Religionsunterricht. Kinder- und Jugendliteratur für die Primar- und Sekundarstufe, Göttingen 2012; Georg Langenhorst / Eva Willebrand (Hg.), Auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts, Ostfildern 2017. 29 Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht im 5. – 10. Schuljahr, München 1984, 241. 30 Ebd., 242f.

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Georg Langenhorst

relationen einklinken und dem Wechselspiel zwischen traditionellen, in Sprachform gegossenen Erfahrungen und heutigen Erfahrungen hinter und in den literarischen Texten nachspüren. Hier handelt es sich also im Idealfall um eine beobachtete, analysierte, bezeugte Korrelation. Konfession und Ökumene werden hier zu sekundär erschlossenen Lebensbereichen. Genau das entspricht in den meisten Fällen ihrem tatsächlichen heutigen Stellenwert. Aber: Hieraus kann auf einer zweiten Ebene durchaus eine persönlich ausgestaltete Korrelation werden. Sowohl die aufgerufenen intertextuellen Quellen (konfessionelle geprägte Traditionen) als auch die ja bereits aus einer ersten Korrelation hervorgegangenen literarischen Texte unserer Zeit können dabei als jener erster Pol fungieren, der sich dem »Geschehen, dem sich der überlieferte Glaube verdankt«, zuordnen lässt. Zum zweiten Pol wird nun jedoch ganz unmittelbar jenes »Geschehen, in dem Menschen heute ihre Erfahrungen machen«31 – nämlich die konkreten Menschen vor Ort. Ob und wie sich konfessionelle Prägungen auch heute noch finden, ob und wie sie als identitätsstiftend, trennend, überholt oder als Anlass zu neuer Besinnung auf Gemeinsamkeiten erlebt werden, lässt sich aus den aktuellen literarischen Entwürfen bestens herauslesen. Nicht nur die zweckfreie Lektüre dieser Werke lohnt sich, sondern auch der gezielte didaktische Einsatz ausgewählter Passagen. Dr. Georg Langenhorst ist Professor für Didaktik des katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik an der Universität Augsburg.

31 Ebd., 242.

7 Ausblick

7.1 Hans-Josef Becker / Birgit Sendler-Koschel

Das Reformationsjubiläum als Chance und Aufgabe Ein Interview

Sehr geehrte Frau Oberkirchenrätin, sehr geehrter Herr Erzbischof! Frage 1: Welche Herausforderungen für den Religionsunterricht und die kirchliche Bildungsarbeit im Allgemeinen sehen Sie im Moment als besonders dringend an? Becker: Eine zentrale Herausforderung liegt in der Säkularität unserer Gesellschaft. Im Zuge der Modernisierung haben die gesellschaftlichen Teilbereiche wie Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst eigene säkulare Logiken oder Rationalitäten ausgebildet, an denen wir uns auch in unserem Alltag orientieren. Das Zweite Vatikanische Konzil hat unter dem Begriff der »legitimen Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche« diese Entwicklung grundsätzlich positiv gewürdigt. Zu den Errungenschaften der Moderne gehören ja nicht zuletzt die Freiheitsrechte, also auch die Religionsfreiheit. Die Säkularität der Gesellschaft hat aber auch zur Folge, dass der Glaube für viele Zeitgenossen seine lebensweltliche Plausibilität verloren hat. Er ist zu einer individuell wählbaren Option geworden. Heute stellt sich daher verschärft die Frage nach der Bedeutung des christlichen Glaubens für den Alltag des Einzelnen und auch für die Gesellschaft. Hier liegt eine zentrale Herausforderung an die Didaktik und Methodik des Religionsunterrichts. Die Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, den Glauben in Bezug zu dem Wissen und den Denkweisen der anderen Fächer, zu anderen Konfessionen und Religionen und im Dialog mit den Erfahrungen und Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler zu erschließen. Denn nur so können sie religiöse Orientierung gewinnen. Dabei sollten der Mehrwert des christlichen Glaubens gegenüber einer rein säkularen Denk- und Lebensweise und seine Alltagsrelevanz deutlich werden. Im Idealfall können die Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht die Erfahrung machen, dass es der Mühe wert ist, sich über mehrere Jahre mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen, weil sie dadurch eine neue Sicht auf ihr Leben, auf ihre Mitmenschen und die Welt, in der sie leben, gewonnen haben.

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Sendler-Koschel: Christliche religiöse Bildung zu gestalten, zu verantworten und zu begründen, ist eine zunehmend komplexe, spannungsreiche und spannende Aufgabe. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist dankbar für die vielen Tausend Frauen und Männer im religionspädagogischen Dienst im schulischen Religionsunterricht, in Kindertagesstätten, Kirchengemeinden, Erwachsenen- und Familienbildung, Kirchenpädagogik, jugendpolitischer Bildung, Akademien und Kursen zum Glauben. Sie und die ehrenamtlich engagierten Kinder und Jugendlichen, die als Kinderkirchenführer/innen, in Kindergottesdienstteams, als Konfiteamer/innen, in der Leitung von Camps, Jungscharen oder schulnaher Jugendarbeit tätig sind, erleben, wie sinnstiftend, aber auch kommunikativ und fachlich anforderungsreich die Anbahnung und Begleitung religiöser Bildung ist. Für viele Menschen in Kirchen und Gesellschaft sind der Ertrag und die Plausibilität christlicher oder generell religiöser Weltund Lebensdeutung nicht selbstverständlich. Eine größer werdende Gruppe in Deutschland und Europa bestreitet sie. Andere religionslose Menschen fragen neugierig nach ihr. Zugleich wächst der Anteil der Menschen in den Kirchen und in unserer Migrationsgesellschaft, für die ihr Glaube oder auch ihre Weltanschauung sehr lebensbedeutsam ist. Dadurch stehen Christinnen und Christen – nicht nur als Lehrende – ständig in der Situation, ihr persönliches und gemeinsames Gottes-, Selbst- und Weltbild hinterfragen und begründen zu müssen. Das will gelernt sein – in Kommunikation über Religion und in religiöser Kommunikation. Die verschiedenen Lernorte des christlichen Glaubens geben sich gegenseitig Resonanzräume. Sie werden zukünftig konzeptionell stärker aufeinander zu beziehen sein. So können Menschen in jedem Lebensalter entdecken, wie die Welt und das eigene Leben im Licht der christlichen Hoffnung aussehen und was es bedeutet, als Christ zu leben. Frage 2: Für religiöse Bildung in der Schule stehen einerseits das interreligiöse Gespräch, vor allem mit Muslimen bzw. Islamischem Religionsunterricht, und andererseits die Frage nach religiöser Bildung für konfessionslose Schüler/innen auf der Agenda. In welche Richtung möchten Katholische und Evangelische Kirche mit ihrer Bildungsarbeit hier gehen? Sendler-Koschel: »Religiöse Orientierung gewinnen« (2014), die neue Denkschrift des Rates der EKD zum Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, gibt auf Ihre Frage eine Antwort: Das Modell, hinter dem die EKD steht – auch innerhalb Europas –, ist das eines positionierten und dialogischen Religionsunterrichts. Dieses Konzept ist darauf angewiesen, dass wir eine pluralitätsfähige Religionsdidaktik entwickeln und verbessern, die es ermöglicht, rechtskonform zu GG Art. 7,3 entweder in einer konfessionell orientierten Lerngruppe zu arbeiten im positionierten Dialog mit weiteren christlichen, muslimischen, jüdischen oder Ethik-Lerngruppen an der Schule. Hier geht es um

Das Reformationsjubiläum als Chance und Aufgabe

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temporäre und themenbezogene Kooperation. Oder es werden Modelle eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts entwickelt, die religiöses Lernen in einer konfessionell gemischten Lerngruppe mit positioniert und dialogisch unterrichtenden Lehrkräften verschiedener Konfessionen oder Religionen anbahnen. Wir sind überzeugt, dass ein solcher konfessionell positionierter und zugleich dialogischer Religionsunterricht besonders gut zeigen kann, wie es möglich ist, als glaubender oder nicht glaubender Mensch achtungsvoll und reflektiert in Kommunikation zu gehen mit denen, die anders denken und glauben und mit unter dem gemeinsamen Dach einer freiheitlichen Demokratie leben. Becker: Der Islam wie auch andere Religionen sind schon seit mehreren Jahrzehnten Thema im katholischen Religionsunterricht. Dabei geht es um die Vermittlung von Sachinformationen, aber auch darum, Verständnis für Muslime und ihre Religionsausübung und auf diesem Weg religiöse Toleranz zu fördern. Die Einrichtung von islamischem Religionsunterricht eröffnet nun auch die Möglichkeit der Kooperation zu bestimmten Unterrichtsthemen oder etwa in Projektwochen. Allerdings wird islamischer Religionsunterricht derzeit nur an einem kleinen Teil der Schulen angeboten; entsprechend begrenzt sind auch die Möglichkeiten der Kooperation. Was die religiöse Bildung für konfessionslose Kinder und Jugendliche betrifft, so ist zunächst festzuhalten, dass diese Schülerinnen und Schüler am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht teilnehmen können. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern nehmen auch größere Gruppen von Konfessionslosen am konfessionellen Religionsunterricht teil. Allerdings müssen wir respektieren, dass die Mehrheit der Konfessionslosen nicht am Religionsunterricht teilnehmen will. Es ist daher gut, dass in den vergangenen Jahren der Ethikunterricht ausgebaut wurde, der in den meisten Ländern religionskundliche Teile umfasst. Auch hier findet eine Form religiöser Bildung statt, die aber im Unterschied zum konfessionellen Religionsunterricht in einer neutral-distanzierten Perspektive erfolgt. Frage 3: Neben diesen Herausforderungen ist in Schulen auch die konfessionelle Kooperation nach wie vor eine wichtige Gestaltungsaufgabe – Baden-Württemberg und Niedersachsen haben hier schon seit den 1990er Jahren starke Akzente gesetzt, andere Bundesländer sind dem Vernehmen nach drauf und dran zu folgen. Die EKD hat ihre Bereitschaft zur Kooperation in ihrer jüngsten Denkschrift »Religiöse Orientierung gewinnen« (2014) unterstrichen, ein Bischofswort zu dieser Frage wird noch in diesem Jahr erwartet. Wo sehen Sie hier Aufgaben für die Kirchen und diejenigen, die für den Unterricht konkrete Verantwortung tragen? Was sollten die nächsten Schritte sein?

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Sendler-Koschel: Eine mit Bildungsstandards, Lehrkräftefortbildung und konzeptionell begründeten Lehrkräftewechseln verknüpfte Form der konfessionellen Kooperation hat sich bewährt. Hier kann es offenbar gelingen, Gemeinsamkeiten zu stärken und Unterschieden der evangelischen und katholischen Frömmigkeit und Lehre gerecht zu werden. Es ist gut für beide großen Kirchen, wenn Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht in konfessionell-kooperativer Form noch leichter entdecken können, warum es kostbar ist, getauft zu sein und zu einer Kirche zu gehören. Das entscheidende Argument für den von der EKD erhofften Ausbau der konfessionelle Kooperation liefert allerdings der Blick auf die Kinder und Jugendlichen selber und die oben beschriebene gesellschaftliche Entwicklung in Europa: Kinder und Jugendliche heute werden noch mehr als die Generationen ihrer Lehrkräfte um des Friedens willen darauf angewiesen sein, religionssensibel und religiös gebildet wahrnehmen, kommunizieren und gegebenenfalls handeln zu können. Handlungsfähigkeit in dieser Welt inkludiert die religiöse Kompetenz. Der Ausbau konfessioneller Kooperation ist daher kein »Sparmodell« als Alternative zur unverbundenen Ausdifferenzierung in Lerngruppen innerhalb einer Fachgruppe. Sie ist nicht zuerst Rettungsakt christlicher religiöser Bildung an der Schule in der Migrationsgesellschaft, sondern ein chancenreiches Modell religiöser Bildung im 21. Jahrhundert. Schon jetzt müssten im ersten und zweiten Ausbildungsabschnitt Lehrkräfte gut vorbereitet werden, um dialogisch, formbewusst sowie konfessions- und religionssensibel den Religionsunterricht gestalten zu können. Die nächsten Schritte zur Verbreiterung der Möglichkeiten konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts sind in Arbeit. Unsere katholische Schwesterkirche denkt darüber nach, und die neuen Staatverträge mit muslimischen Religionsgemeinschaften eröffnen neue dialogische interreligiöse Formate des Unterrichts. Die Nordkirche in Hamburg lotet mögliche Wege aus und ist hierbei mit der EKD in engem Kontakt. Weitere Modelle werden entstehen. Je nach religiöser und weltanschaulicher Konstellation in einem Bundesland könnten sich verschiedene Organisationsformen nach Art. 7.3 GG anbieten. Die EKD-Konferenz der Bildungs-, Erziehungs- und Schulreferentinnen und -referenten (BESRK) sichtete 2015 alle gegenwärtig begonnenen und abgeschlossenen Studien zum Religionsunterricht. Die Evangelischen Kirchen wollen in allen Änderungsprozessen die Qualität des Religionsunterrichts als positioniert-dialogischen fördern. Becker: Lassen Sie es mich etwas provokativ formulieren: Die Kooperation beider Fächer ist kein Selbstzweck. Wir kooperieren, um angesichts der religionsdemographischen Entwicklung den konfessionellen Religionsunterricht zu sichern und um die Qualität des Religionsunterrichts weiterzuentwickeln. Als Bischof ist es mir wichtig, dass die Kooperation beider Fächer nicht primär unter schulorganisatorischen Aspekten betrachtet wird. Wir müssen sie vielmehr als ökumenische Zusammen-

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arbeit verstehen, die die Schülerinnen und Schüler zu einem besseren Verständnis des Evangeliums führen und zur Nachfolge Christi im Alltag motivieren soll. Die Kooperation darf die unterschiedlichen konfessionellen Prägungen nicht außer Acht lassen oder gar zu einem »Christentum light« führen. Das bedeutet konkret: Wir benötigen eine stärkere theologische Grundlegung der Kooperation, eine entsprechende Religionsdidaktik und Lehrpläne, die eine religionspädagogisch reflektierte Kooperation ermöglichen. Diese konzeptionelle Arbeit muss von den kirchlich Verantwortlichen und nicht zuletzt auch mit Hilfe der wissenschaftlichen Religionspädagogik geleistet werden. Auf diese Weise können wir die Arbeit der Religionslehrerinnen und Religionslehrer in den Schulen effektiv unterstützen. Sodann müssen wir die großen regionalen Unterschiede zur Kenntnis nehmen. Die von Ihnen genannten recht unterschiedlichen Modelle in Baden-Württemberg und Niedersachsen – als Erzbischof von Paderborn möchte ich noch unser Kooperationsmodell mit der Lippischen Landeskirche hinzufügen – zeigen, dass ein bundeseinheitliches Kooperationsmodell nicht sinnvoll ist. Die Diözesen und Landeskirchen müssen vielmehr im Rechtsrahmen von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes Formen der Kooperation entwickeln, die den jeweiligen regionalen Gegebenheiten gerecht werden. Frage 4: Was bedeutet konfessionelle Kooperation für Religion im Schulleben und ggf. auch für Schulen in evangelischer bzw. katholischer Trägerschaft? Becker: Neben dem Religionsunterricht hat sich die Schulpastoral als ein eigener kirchlicher Dienst in der Schule etabliert. An manchen Schulen gibt es eine gute Zusammenarbeit mit der evangelischen Schulseelsorge etwa durch gemeinsame Angebote. Was hier an Kooperation möglich und sinnvoll ist, wird vor Ort entschieden. Wenn an einer kirchlichen Schule katholischer und evangelischer Religionsunterricht parallel eingerichtet wird, ermöglicht dies auch Formen der Kooperation, die sich aber aufgrund des besonderen Schulprofils von der Kooperation an staatlichen Schulen unterscheidet. Sendler-Koschel: Die oft ökumenisch organisierte Schulseelsorge und Schulgottesdienstarbeit sowie die schulnahe Jugendarbeit sind wachsende Arbeitsfelder im Dienst an Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften. Wo die großen Kirchen hier ihre Kräfte bündeln und einander ergänzend handeln, können sie im jeweiligen Sozialraum und dessen Schulen sichtbar präsent sein und für die Menschen einiges bewegen. EKD Texte 123 »Orientierungsrahmen Schulseelsorge in der EKD« (2015) bezieht vor allem die deutsche und unzureichend die weltweite ökumenische Perspektive ein. Schulen in evangelischer und katholischer Trägerschaft nutzen ihre Spielräume pädagogischer Freiheit oft zum Ex-

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perimentieren mit Schulseelsorge und mit dialogisch-evangelischen/ katholischen bzw. religiös-kooperativen und interreligiösen Religionsunterrichtsformaten; dabei bieten sich ihnen besondere Möglichkeiten, Bezüge herzustellen zu gelebtem Glauben, zu Gottesdiensten, Wochenandachten oder diakonischen Aktionen im Schulleben, zu Kirchenräumen oder Jugendarbeit. Der Arbeitskreis Evangelische Schule in Deutschland bietet ein Austauschforum für Erfahrungen und Modelle, um miteinander von Gelingendem zu lernen. Frage 5: Sehen Sie eine Notwendigkeit für die weitere ökumenische Annäherung bzw. engere Kooperation in der kirchlichen Bildungsarbeit außerhalb der Schule (Religiöse Bildung mit konfessionsverschiedenen Familien, Kita, EB, u.a.)? Wo liegen hier Chancen und Grenzen? Sendler-Koschel: Die Netzwerkanalyse im Kontext der Fünften Gesamterhebung über Kirchenmitgliedschaft (erschienen u.d.T. »Vernetzte Vielfalt«, Gütersloh 2015) zeigt für eine Kirchengemeinde, wie tatsächlich vielfältigste ökumenische Beziehungen gelebt werden. Ökumenische Kooperation als evangelisch-katholische Kooperation oder als solche mit Freikirchen ist in zahlreichen Erwachsenenbildungswerken, Familienbildungsstätten, Kursformaten in Kirchengemeinden, in Kooperationen mit Schulen in der schulnahen Jugendarbeit und in Kitaverbänden längst etabliert. Durch die Zuwanderung von Muslimen und die beginnende Institutionalisierung islamischer Verbände, islamischer Theologie und islamischer Religionspädagogik gewinnt die Begrifflichkeit einer »christlichen Religionspädagogik« an Bedeutung in Wissenschaft und kirchlich verantworteter Bildungspraxis. Diese Entwicklung können wir nur ökumenisch gemeinsam gestalten. Bei vielen Religionspädagoginnen und -pädagogen in allen Bildungsfeldern erkenne ich hierzu auch eine hohe Bereitschaft. Becker: Sie sprechen hier sehr unterschiedliche Bildungsbereiche an. In der Erwachsenenbildung gibt es seit vielen Jahren schon eine ökumenische Zusammenarbeit auf der Gemeindeebene etwa in Bibelkreisen oder bei Glaubensgesprächen. Die Jugendarbeit liegt auf katholischer Seite vor allem in der Hand der Jugendverbände, die selbstständig über ihre Angebote entscheiden. Daneben ist die Ministrantenarbeit sehr wichtig, die aber kein evangelisches Pendant hat. Letztlich muss man vor Ort sehen, was an Kooperation möglich und sinnvoll ist. Frage 6: Lenken wir den Blick über den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht hinaus auf Ökumene der beiden Kirchen. Wie sehen Sie den Stand der wechselseitigen Beziehungen, nicht zuletzt im Blick auf »2017«, und was steht im Interesse religiöser Bildung in einem religionspluralen und zunehmend konfessionslosen Kontext auf der Agenda?

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Becker: Die katholisch-evangelische Ökumene hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil große Fortschritte gemacht, ohne die wir gegenwärtig nicht über Formen der Kooperation von katholischem und evangelischem Religionsunterricht reden würden. Wer hätte es vor 50 Jahren für möglich gehalten, dass anlässlich des Reformationsgedenkens der Lutherische Weltbund und die Katholische Kirche gemeinsam zu einem Gottesdienst mit dem Papst ins schwedische Lund einladen? Zu den großen Fortschritten gehört für mich vor allem die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1997/1999), weil wir hier zu einem differenzierten Konsens in der entscheidenden Streitfrage der Reformationszeit gefunden haben. Heute stellt sich uns die Frage, wie wir die gemeinsame Lehre von der Rechtfertigung z.B. im Religionsunterricht kommunizieren können. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat im Frühjahr dieses Jahres dazu einen bedenkenswerten Vorschlag gemacht. Er fragt, ob die Kategorie der Barmherzigkeit, die Papst Franziskus in das Zentrum seiner Verkündigung stellt, nicht die in der Gegenwart geeignete Kategorie ist, um das zur Sprache zu bringen, was in der doch heute schwer zugänglichen Sprach- und Denkwelt des 16. Jahrhunderts unter Rechtfertigung verstanden wurde. Die Rede von der Barmherzigkeit hat nicht nur eine breite Grundlage im Alten und Neuen Testament. Auch säkulare Zeitgenossen verbinden mit diesem Begriff positive Vorstellungen. Schließlich eignet sich die Kategorie der Barmherzigkeit Gottes auch für das christlich-jüdische und das christlich-islamische Gespräch. Dieses Beispiel führt mich zu der grundsätzlicheren Überlegung, ob wir angesichts des religionspluralen und säkularen Kontextes, von dem Sie sprachen, nicht stärker die religionsdidaktische Frage nach den Inhalten des Religionsunterrichts bedenken sollten. Sendler-Koschel: Ja, die Verkündigung der Barmherzigkeit und Gnade Gottes in Christus verbindet uns ebenso wie die Bibel und das Feiern des Reformationsjubiläums als Christusfest. Hier wird deutlich, was durch die Erklärung zur Rechtfertigungslehre und die gegenseitige Anerkennung der Taufe theologisch und für das praktische kirchliche Handeln an ökumenischen Wegen schon angebahnt wurde. Wir Protestanten freuen uns auf den Gottesdienst in Lund mit dem Lutherischem Weltbund und dem Papst, auf den Gottesdienst »Healing of Memories« in Deutschland 2017, auf viele ökumenische Begegnungen mit katholischen und orthodoxen sowie anderen evangelischen Kirchen aus dem ganzen Erdkreis auf der Weltausstellung Reformation in Wittenberg 2017 und auf den bunten Europäischen Stationenweg Reformation mit seinen 67 Stationen, die die vielfältige reformatorische Bewegung erkennbar machen werden. Diese Dynamik der reformatorischen Bewegung, die die ecclesia visibilis überall veränderte, kann uns getrost machen, dass wir lernen werden, hierzulande und weltweit in einer pluralen und globalisierten Welt Zeugnis zu geben von der Liebe Gottes in Christus. Dazu werden wir fun-

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dierte religiöse Bildung und lebendige kirchliche Orte brauchen. Vielerorts wächst schon Neues – wie damals in der Reformationszeit. Und es wird auch wachsen, wenn wir als Christen in Europa eine Minderheit sein werden und der Schwerpunkt des Christentums, eines engagierten, geistlich reichen und bunten Christentums, im globalen Süden liegt. Frage 7: »Ökumene« wird hierzulande häufig mit »evangelisch-katholischen Beziehungen« gleichgesetzt. Welche Herausforderungen für religiöse Bildung sehen Sie im Blick auf a.) die Ökumene mit Kirchen / Konfessionen jenseits der Evangelischen Landeskirchen und der Römisch-katholischen Kirche und b.) die Ökumene weltweit ? Sendler-Koschel: Die »Pilgrimage for Justice and Peace« des Ökumenischen Rats der Kirchen motiviert in gleicher Weise zur globalen ökumenischen Perspektive wie »Laudato si«, die Enzyklika des Papstes. Der Erdenkreis ist der Horizont, auf den uns unser christlicher Glaube verweist, und die globalen Gefährdungen stellen uns in eine gemeinsame christliche Weltverantwortung. Jede lokale Situation wird mitbestimmt durch globale Entwicklungen. Diese ›Glokalität‹ können in Deutschland die Christen vor Ort am besten gemeinsam gestalten. Das in langjähriger ökumenischer Arbeit in Deutschland gewachsene Vertrauen zwischen katholischen und evangelischen Kirchengemeinden, Diözesen und Landeskirchen, Evangelischer Kirche in Deutschland und Deutscher Bischofskonferenz ist ein kostbares Gut, das in Gottesdienstarbeit und Bildungsarbeit wuchs. Oft wird vor Ort auch mit methodistischen, mennonitischen und anderen ACK-Kirchen fruchtbar kooperiert. Dringend weiter aktiv entwickeln sollten wir die weltweite Ökumene in der Bildungs- und Jugendarbeit. Während die Katholische Kirche eine Weltkirche ist, müssen die protestantischen Kirchen ihre weltweite Zusammengehörigkeit erst noch stärker entdecken – nicht nur im gegenseitigen Besuchen von Delegationen, sondern in der Breite der Bildungsund Jugendarbeit. Daher baut die EKD mit vielen Partnern gerade ein »Global Pedagogical Network (GPEN) – Joined in Reformation« (Arbeitstitel) auf. Schulen, Hochschulen, Erwachsenenbildungsinstitutionen, gemeindepädagogische und kirchliche Akteure kultureller Bildung in evangelischer und anglikanischer Trägerschaft sollen sich über 2017 hinaus global vernetzen können, um Partnerschaften und ganz neue, webbasierte globale Lernformate zu entwickeln. Dabei sollen die Verbundenheit mit der Katholischen Kirche und das interreligiöse Lernen nicht aus dem Blick geraten. Auf der Weltausstellung Reformation lädt der Pavillon des »GPEN« und des schon erstaunlich gewachsenen evangelischen Schulnetzwerks »schools500reformation« (Vernetzung über www.schools500reformation.net) zum Staunen, zum globalen ›Bilden‹ und zur Begegnung mit Schwestern und Brüdern aus aller Welt ein. Aktiv entdeckend sollen Besuchende auf einer interaktiven Weltkarte z.B. erforschen können, wie viel hundert evangelische Schulen es in

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Ruanda und im Kongo gibt und wie die lutherische Kirche in Australien für Aborigeneskinder Chancengeber ist. Wechselnde Bildungsbereiche stellen sich auf dem Stand von 20. Mai bis 10. September 2017 vor. Am 23. Juni 2017 – so die Planung – findet der große »Global 500reformation School Day« in Wittenberg mit Liveübertragungen in alle Kontinente statt. Schulen sind mit ihren Partnerschulen aus Europa oder anderen Kontinenten herzlich willkommen. Lehrkräfte und wissenschaftliche Religionspädagoginnen wie -pädagogen können neue, internationale Kollegenbekanntschaften ausbauen oder neu entwickeln. 2017 soll Anlass sein, die globale Ökumene im Bildungsbereich deutlich und dauerhaft zu stärken. Zukunftsbedeutsame Bereiche wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, für Integration und Friedensengagement und eine dialogisch ausgerichtete christliche Bildungsarbeit werden wir Christinnen und Christen nur ökumenisch und global vernetzt wirksam mitgestalten können. Becker: Auf internationaler Ebene führt die Katholische Kirche seit vielen Jahrzehnten Dialoge mit den orthodoxen Kirchen und der anglikanischen Kirchengemeinschaft, aber auch mit kleineren Kirchen wie den alt-katholischen Kirchen der Utrechter Union. Relativ neu sind die Gespräche mit den evangelikalen Gemeinschaften und mit den Pfingstkirchen, die ja außerhalb Europas sehr stark den Protestantismus prägen. Mit Blick auf die religiöse Bildung kann man sicher darüber nachdenken, ob die weltkirchliche Dimension nicht stärker bewusst gemacht werden müsste. Schließlich lebt die große Mehrheit der Christen außerhalb Europas. 2017 feiern die evangelischen Kirchen das 500-jährige »Jubiläum« der Reformation; bei einer Begegnung mit einer Delegation ev.-lutherischer Kirchen im Dezember 2014 regte Papst Franziskus ein gemeinsames »Gedenken« an. Frage 8: Was sollten evangelische Religionslehrende unbedingt über die Katholische Kirche wissen? Becker: Ich möchte die evangelischen Religionslehrerinnen und Religionslehrer gerade mit Blick auf 2017 einladen, sich der katholischen Sicht des Verhältnisses von Glaube und Kirche zu öffnen. Auf evangelischer Seite wird die Freiheit des Einzelnen und seines Glaubens stark betont. Die Kirche gerät dann leicht unter den Verdacht, mit ihren Ordnungen diese Freiheit des Glaubens zu behindern oder einzuschränken. Diese Sicht verdankt sich den Erfahrungen der Reformationszeit, nicht zuletzt der Erfahrung Martin Luthers, und prägt bis heute die evangelische Haltung zur Katholischen Kirche. Aber ist das nicht eine zu enge Sicht? Nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift beruft Gott nicht nur einzelne Menschen, sondern schafft er sich ein Volk, nämlich Israel, das ihm dienen und seinen Namen heiligen soll. Im Neuen Testament sehen

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wir, wie mit der Kirche ein neues Gottesvolk aus den vielen Völkern entsteht, das nicht an die Stelle, sondern an die Seite Israels tritt. Durch die Taufe wird der Einzelne in diese neue weltweite Gemeinschaft aufgenommen. Sein Glaube wächst in dieser Gemeinschaft. Mein Glaube ist gewiss meine persönliche Beziehung zu Gott. Aber mein Glaube bildet sich im Dialog mit anderen, in der Familie, der Gemeinde oder einer christlichen Gemeinschaft, im gemeinschaftlichen Gebet oder im gemeinsamen Dienst an Notleidenden und Verfolgten. Gott kann mir begegnen, wenn ich mich von den anderen und der Welt zurückziehe. Dafür gibt es viele Beispiele in der Kirchengeschichte. Er begegnet mir aber auch in der Gemeinschaft der Kirche, in Menschen, die meinen Glauben stützen oder ihn herausfordern, damit ich mich als Mensch und als Christ weiterentwickeln kann. Er begegnet mir im gemeinsamen Gebet, in der Liturgie, in den Sakramenten, im Dienst an den Armen und Notleidenden. Diese Gemeinschaft – und das ist eine katholische Grunderfahrung – ist ein Wert. Sie ist es wert, erhalten und gestaltet zu werden. Zum christlichen Glauben gehört deshalb auch eine Verantwortung für die Kirche. Diese Verantwortung tragen nicht nur Bischöfe, Priester oder kirchliche Mitarbeiter. Diese Verantwortung trägt jeder Christ. Jeder Einzelne trägt mit seinem Glauben und mit seinem Handeln dazu bei, wie die Kirche sich entwickelt. Wenn man diese gemeinschaftliche oder kirchliche Dimension des Glaubens erfasst hat, wird man die Bedeutung der Sakramente, des Amtes, der Liturgie oder auch des Kirchenrechtes in der Katholischen Kirche besser verstehen können. Deshalb erwarte ich im Blick auf die Kooperation im Religionsunterricht von evangelischen Religionslehrerinnen und Religionslehrern nicht so sehr ein bestimmtes Sachwissen, so notwendig dieses auch ist, sondern vor allem die Bereitschaft, sich auf die Perspektive der Katholischen Kirche einzulassen. Frage 8: Was sollten katholische Religionslehrende unbedingt über die Evangelische Kirche wissen? Sendler-Koschel: Dass unsere Evangelische Kirche in Deutschland Begegnungen und Kooperationen mit ihrer katholischen Schwesterkirche ausdrücklich begrüßt. Wir sind verbunden im schmerzlichen Abbruch christlicher Tradition in Deutschland und in vielen Teilen Europas, gemeinsam beschenkt aber auch mit großer Vitalität zahlreicher kirchlicher Orte, gerade auch in der Bildungsarbeit. Uns im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland ist die Orientierung an Christus und an der Bibel unaufgebbar wichtig, um im Glauben aus der Gnade Gottes heraus mit Trost, Liebe und Hoffnung beschenkt geistlich wachsen zu dürfen. Dabei bleibt das Priestertum aller Getauften für uns bedeutsam: Weil Christus den einzelnen Menschen anspricht und ihn dann in eine Gemeinschaft stellt, in der alle geistliche Verantwortung tragen. Wir wollen und müssen kirchlich der geistgewirkten Kreativität Raum geben, wenn Christenmenschen traditionelle und neue Ausdrucksformen des Glau-

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bens finden und alte und neue Formen nutzen, um bei Gott in Gottesdienst, Bibellese, Gebet und Reflexion einzukehren. Dabei gehört für uns Protestanten die dann folgende Hinterfragung und Hinwendung zur Welt zur Spiritualität. Weltzugewandt und damit weltlich zu sein, erleben wir als Teil unseres Glaubens. Frage 9: Welche Botschaft möchten Sie gerne unseren Leser/innen, vor allem Religionslehrenden beider Konfessionen, für das bevorstehende Jubiläums-/Gedenkjahr 2017 mitgeben? Sendler-Koschel: Nutzen Sie das Reformationsjubiläum als Chance, Religion und christlichen Glauben in Ihrer Schule zu einem wichtigen Thema zu machen. Das 500. Jahr von Luthers Thesenanschlag ermöglicht –, da der Bundestag beschloss, das Reformationsjubiläum sei ein Ereignis von Weltrang – die Monate vor dem bundesweiten Feiertag am 31.10.2017 mit bundesweiten Schulprojekttagen inhaltlich zu begleiten. In der Kooperation der EKD mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, mit evangelischen Religionslehrerverbänden, religionspädagogischen Instituten, Wissenschaftlern und katholischen Religionslehrkräften entstanden Unterrichtseinheiten für fächerverbindenden Geschichts- und Religionsunterricht zum Thema »Reformation heute«. »Reformation reloaded« wird noch in 2016 zum kostenlosen Download freigeschaltet werden. Auch neue Filme und Medien für Unterricht und Projekttage 2017 entstehen. Viel Segen für ihre Arbeit wünsche ich allen für den Religionsunterricht und die kirchliche Bildungsarbeit Engagierten! Und vielleicht haben sie ja die Möglichkeit, den »Reformationssommer 2017« ganz persönlich als geistliche Zeit in Wittenberg mitzuerleben, auf die große Bibel gleich am Bahnhof hinaufzusteigen und den Blick auf diese Stadt und die sie umgebende Weltausstellung Reformation zu richten und dann zu spüren: Reformation ist auch eine Bewegung in mir, mit uns … – die Welt zu hinterfragen und mit Gottes Geist Antworten entdecken zu können … damals … heute. Becker: Katholische und evangelische Christen wollen das Reformationsgedenken gemeinsam als Christusfest feiern. Ich wünsche mir daher, dass die Reformation im Religionsunterricht nicht so sehr unter politischen, gesellschafts- oder kulturgeschichtlichen Aspekten, sondern vor allem als theologisches Ereignis thematisiert wird. Es ging den Reformatoren und ihren Kritikern um das rechte Verständnis des Evangeliums und die Folgen für das Leben der Kirche und des einzelnen Christen. Dieser Streit hat zum Zerwürfnis und zur Kirchenspaltung geführt. Heute ist es unsere Aufgabe, diesen Streit in einen Dialog um das richtige Verständnis des Evangeliums und der Nachfolge Christi im Alltag zu überführen.

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Hans-Josef Becker / Birgit Sendler-Koschel

Die Fragen stellte Bernd Schröder; das Interview wurde schriftlich im April 2016 geführt. Hans-Josef Becker ist seit 2003 Erzbischof von Paderborn und zugleich Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz. Dr. Birgit Sendler-Koschel ist seit 2011 Oberkirchenrätin im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover und Leiterin der dortigen Abteilung Bildung.

7.2 Stefan Altmeyer

Ökumene trifft Identität Eine religionspädagogische Zwischenbilanz

1 Binnenkirchlich, lokal und auf Aprilscherzniveau Ein Jahrbuch der Religionspädagogik zum Thema Ökumene. Muss es das heute geben? Gewiss ist es wünschenswert und noch immer nicht selbstverständlich, dass sich die Praxis und Theorie religiöser Bildung in christlicher Verantwortung des ökumenisch Erreichten beständig vergewissern, es als bleibende Aufgabe begreifen und engagiert betreiben. Denn bei aller berechtigten Zufriedenheit darüber, wie weit die ökumenische Zusammenarbeit und konfessionelle Kooperation in der Religionspädagogik der letzten 40 Jahre vorangekommen ist, wie bei aller selbstverständlichen Übereinstimmung darin, dass die gemeinsamen Herausforderungen religiöser Bildung heute sehr viel größer sind als die konfessionsspezifischen Unterschiede, lässt sich mit Reinhold Boschki doch als weiterhin gültige Messlatte festhalten: »religiöse Bildung [kann] nicht ökumenisch genug sein.«1 Und dennoch: Als ›erstem‹ Leser aller Beiträge dieses Bandes2 hat sich mir die ganz und gar nicht rhetorische, sondern selbstkritische Frage gestellt: Wen beschäftigt eigentlich Ökumene außerhalb der entsprechenden Fachdiskurse und Kirchenkreise, und was sollte dies der Religionspädagogik und allen in der religiösen Bildung Engagierten zu denken geben? Schon ein Blick ins Internet hält interessante Aufschlüsse bereit. Betrachtet man etwa die Suchanfragen in deutscher Sprache zum Stichwort ›Ökumene‹ der letzten gut zehn Jahre, so lässt sich ein stetiger und markanter Abwärtstrend nachzeichnen, der lediglich von einigen extremen ›ökumenischen‹ Ausreißern unterbrochen wird:3 allen voran die Wahl 1 Reinhold Boschki, Wie ökumenisch kann und soll religiöse Bildung sein? Kleine ›Theologie der Wertschätzung‹ für den ökumenischen Dialog, in: Stefan Altmeyer / Gottfried Bitter / Reinhold Boschki (Hg.), Religiöse Bildung – Optionen, Diskurse, Ziele (Praktische Theologie heute 132), Stuttgart 2013, 257–267, hier: 267. 2 Der vorliegende Beitrag versteht sich als kritisch zurück- und vorsichtig vorausschauende Relecture des vorliegenden Bandes. Daher wird auf umfangreiche Literaturverweise in den Fußnoten verzichtet und stattdessen auf die jeweiligen Beiträge verwiesen, wo entsprechende Belege unschwer aufzufinden sind. 3 Für entsprechende Auswertungen hält Google das eigene Analysetool Google trends bereit. Hier der Link zur entsprechenden Anfrage zu den Begriffen ›Ökumene‹ und ›Konfession‹: https://www.google.de/trends/explore#q=%C3%96kumene%2

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von Benedikt XVI. und dessen unmittelbare Ankündigung, die Ökumene nach Kräften fördern zu wollen (April 2005); gefolgt vom Besuch wiederum desselben Papstes im Erfurter Augustinerkloster vom September 2011; dritter Höhepunkt: der Ökumenische Kirchentag in München vom Mai 2010. Schon allein die Art der Ereignisse, die im Internet zu einem gleichermaßen sprunghaften wie kurzzeitigen Anstieg der Suchanfragen nach ›Ökumene‹ führen, ist vielsagend und deutet darauf hin, welche Ereignisse aus dem Bereich Religion und Kirche in der Mediengesellschaft überhaupt Aufmerksamkeitswert besitzen, von Negativschlagzeilen einmal abgesehen. Nimmt man noch hinzu, dass das Interesse an ›Konfession‹ bei vergleichbarem Startniveau im gleichen Zeitraum auf etwa das Vierfache gestiegen ist, lässt sich schon einiges über den (medien-)gesellschaftlichen Stellenwert des Themas ›Ökumene‹ mutmaßen. Exemplarisch vertiefen lässt sich das mit einem Blick in die Internet-News. Während einer ganz normalen Woche im Frühjahr 2016 ohne jegliche kirchliche Großereignisse4 ließen sich unter dem Stichwort ›Ökumene‹ insgesamt 43 Newsbeiträge recherchieren. Thematisch kreisen diese alle um Schlüsselwörter5, die kaum mehr als Kirchenvertreter (Pfarrer, Papst, Bischof, Patriarch) oder Institutionen (EKD, Vatikan, Bistum, Landeskirche, Kirchengemeinde etc.) und deren Veranstaltungen (Liturgie, Gottesdienst, Konzert) umfassen. Stets geht es dabei um die innerchristliche Ökumene als Dialog der Konfessionen, einschließlich übrigens der orthodoxen Kirchen. Absolut aufschlussreich ist auch das Ergebnis, wo überhaupt Ökumene zum Thema wird: Von 43 Texten stammen 28 aus Lokalredaktionen und 14 von kirchlichen Websites. Ökumene ist also gleich doppelt milieuverengt: Sie ist binnenkirchlich und spielt auf der Ebene lokaler Vereinsnachrichten. Da passt es nur allzu gut ins Bild, dass es sich bei einer der auf diese Weise recherchierten Nachrichten um einen Aprilscherz einer fränkischen Lokalredaktion handelt, der zufolge das Bistum Würzburg auf einem stillgelegten Bundeswehrgelände mit dem Bau eines zentralen Simultangotteshauses größeren Ausmaßes begonnen habe.

Binnenkirchlich, lokal und auf Aprilscherzniveau: Sollten dies die Vorzeichen sein, unter denen heute Ökumene wahrgenommen und thematisiert wird, dann sehen sich religiöse Bildungsprozesse in Sachen Ökumene mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Selbst wenn mit ›Ökumene‹ auch gehaltvolle Inhalte wie Konzil, Dialog, Wertschätzung, CKonfession (Zugriff: 19.4.2016). – Wie man mithilfe des Internets im Religionsunterricht zum Thema Ökumene arbeiten kann, zeigt anhand vieler Beispiele der Beitrag von Pelzer in diesem Band. 4 Die Analyse bezieht sich auf den zufällig herausgegriffenen Zeitraum vom 31. März bis 7. April 2016, für den unter https://news.google.de/ nach News zum Stichwort ›Ökumene‹ gesucht wurde. 5 Bei sog. ›Schlüsselwörtern‹ handelt es sich um eine statistische Größe aus der empirischen Sprachwissenschaft. Semantisch kann man es sich vereinfacht als die typischen Inhaltswörter eines Textes bzw. einer Textsammlung (= ›Korpus‹) vorstellen. Eine methodische Einführung samt Anwendung im religionspädagogischen Bereich findet sich bei: Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung (Praktische Theologie heute 114), Stuttgart 2011. – Im Folgenden werden Schlüsselwörter im Text kursiv dargestellt.

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Gemeinschaft und Begegnung verbunden werden – allesamt zählen diese ebenfalls zu den Schlüsselwörtern der untersuchten Newsbeiträge –, so ist doch vorhersehbar, dass solche Differenzierungen außerhalb des auf Kirche und Lokales beschränkten Radius keinerlei Aufmerksamkeit oder gar Relevanz erlangen dürften.6 Vor diesem Hintergrund muss sich der religionspädagogische Umgang mit Ökumene bewähren. In drei Fragekreisen werde ich daher im Folgenden näher untersuchen, (1) worauf man sich in der Religionspädagogik eigentlich bei ›Ökumene‹ bezieht, (2) wie es überhaupt um den religionspädagogischen Stellenwert des Themas bestellt ist und (3) welche Schwerpunkte gesetzt werden. 2 Religionspädagogische Bezüge auf ›Ökumene‹ Würde man in einem Kreis von Religionspädagoginnen und -pädagogen ein Plakat mit dem Stichwort ›Ökumene‹ in die Mitte legen und zum freien Assoziieren einladen, wäre sicherlich kein derart verengtes Bild wie eingangs gesehen zu erwarten. Mit großer Wahrscheinlichkeit könnte man allerdings mit einem ziemlich bunten Panorama inhaltlicher Verknüpfungen und zugleich relativ homogener grundsätzlicher Positionierungen rechnen. Vermutlich ließe sich schnell eine breite Übereinstimmung darüber erreichen, dass Ökumene eine der zentralen Errungenschaften der letzten 30 bis 40 Jahre religionspädagogischer Bemühungen ist und zweifellos zum Grundbestand von Theorie und Praxis religiöser Bildung gehört. Deren konkrete Form und Bedeutung, ihre inhaltliche Ausgestaltung und didaktische Konkretisierung hingegen wären vermutlich sehr viel weniger eindeutig. ›Ökumene‹ wird damit auf elementare Weise klärungsbedürftig. Ähnlich wie andere in sich kaum anzuzweifelnde religionspädagogische Grundbegriffe wie etwa ›Bildung‹ oder ›Geschichte‹ fordert sie zur Verortung und Standortklärung heraus. Zu fragen ist unweigerlich, was mit welcher ›Ökumene‹ jeweils gemeint und gewollt sein soll. Der vorliegende Band zeigt, auf welch vielfältige Weise der Begriff spezifiziert werden kann und damit eine je eigene Verortung erfährt. Ich möchte hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit drei Varianten unterscheiden: (1) Da sind zunächst räumliche Metaphern wie die große und kleine Ökumene oder die deutsche und weltweite/globale Ökumene. In dieser Perspektive geht es vor allem um den Horizont dessen, was vom eigenen Standpunkt aus als ›Ökumene‹ in den Blick kommt. Die räumliche Metaphorik impliziert dabei ein Bild konzentrischer Kreise: angefangen vom Verhältnis zweier Konfessionen vor Ort über die Frage der Beziehungen aller christlichen Konfessionen bis hin zur gemeinsamem christ6 Entsprechende Effekte verstärken sich weiter, wenn dem auf kirchlicher Seite eine Art ›konfessionelle Selbstgenügsamkeit‹ korrespondiert (vgl. hierzu den Beitrag von Bräuer/Oeldemann in diesem Band).

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lichen Verantwortung für die großen weltumfassenden Menschheitsfragen nach Gerechtigkeit und Solidarität (in der bewohnten Welt, der ›Oikumene‹). Religionspädagogisch besteht die Herausforderung gegenwärtig darin, diese unterschiedlichen Perspektiven nicht additiv, sondern in ihrer Verwiesenheit aufeinander wahrzunehmen und zu thematisieren: Die kleine Ökumene braucht den Kontext der größeren, ebenso wie die weltweiten religiösen Themen und Fragen im Zusammenhang mit den lokalen in den Blick zu nehmen sind.7 Die dynamischen Entwicklungen auf dem globalen religiösen Feld, der Blick für die neuen ›Wachstumszentren‹ des Religiösen und Christlichen außerhalb Europas8 ebenso wie für die wachsende Pluralisierung des konfessionellen Feldes auch in Deutschland sind damit Perspektiven, die das Thema ›Ökumene‹ aus seiner binnenkirchlich-lokalen Marginalisierung herauslösen könnten, ohne dass damit die Fragen der konfessionellen Verständigung ›im Kleinen‹ an Bedeutung verlieren. (2) Eine zweite Variante bilden personalisierende Metaphern. Hier ist dann beispielsweise von einer engagierten oder verantwortlichen Ökumene oder generell von einer gelebten Ökumene die Rede, die einer Ökumene der Institutionen gegenübergestellt wird. In dieser auf Akteure bezogenen Perspektive wird grundlegend mit Differenzen gearbeitet, was wiederum zu einer eigenen Verortung herausfordert: Soll es religionspädagogisch um die lebensweltliche oder institutionelle Sichtweise gehen, um eine engagierte oder eine beobachtende? So plausibel solche Gegenüberstellungen klingen, so wenig lassen sie sich konsequent aufrechterhalten. Es ist z.B. schlechterdings nicht zutreffend, dass generell einer (scheinbar) schwierigen Ökumene auf institutioneller Ebene eine (scheinbar) ganz selbstverständliche Ökumene auf lebensweltlicher Ebene entsprechen soll.9 Tatsächlich stellt sich die Wirklichkeit um ein Vielfaches pluraler dar, sodass mancherorts die intrakonfessionellen Differenzen deutlich größer sein dürften als die interkonfessionellen. Religiöse Bildung müsste sich hier auch in Sachen Ökumene als pluralitätsfähig erweisen – einschließlich der Frage, welche Form des Religionsunterrichts gegenwärtig und auf Zukunft hin einer bildungsadäquaten ›Pluralitätsverarbeitung‹ gerecht werden kann.10

7 Vgl. hierzu das Interview mit Oberkirchenrätin Sendler-Koschel und Erzbischof Becker sowie die Beiträge von Simojoki/Scheunpflug, Goijny/Lindner und Boschki/ Schweitzer in diesem Band. 8 Vgl. hierzu auch den Beitrag von von Sinner in diesem Band. 9 Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Ebertz in diesem Band, auch im Beitrag von Logemann geht es am Beispiel konfessionsverschiedener Ehen um einen differenzierteren Blick auf die Lebenswirklichkeiten. 10 Vgl. insbesondere zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in Deutschland den Beitrag von Schröder/Biesinger in diesem Band, zum Stand der Dinge des Orthodoxen Religionsunterrichts berichtet Danilovich.

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(3) Eine dritte Möglichkeit besteht in einer Art domänenspezifischen Einordnung, wonach sich dann z.B. zwischen fachtheologischer und kirchenamtlicher Ökumene unterscheiden lässt. Hiermit wird auf bestimmte Themen und Diskurse verwiesen. Zugespitzt kann man sagen, es geht um Zuständigkeitsfragen, womit noch einmal deutlich wird, dass ›Ökumene‹ generell und im Besonderen als religionspädagogischer Terminus klärungsbedürftig ist. Dass die dritte Frage nach der Zuordnung des Begriffs in ihrer religionspädagogischen Bedeutung gegenüber den ersten beiden nach der Reichweite und der Perspektive zurücksteht, dürfte selbstverständlich sein.

Neben diesen expliziten Verortungen von ›Ökumene‹ mit ihren jeweiligen religionspädagogischen Implikationen findet sich noch viel stärker eine attributive Verwendung des Begriffs. Hier wird ›Ökumene‹ eingesetzt, um andere Themen als ›ökumenisch‹ zu spezifizieren und zu profilieren. Der vorliegende Band präsentiert eine Fülle von solchen Kombinationsmöglichkeiten, von denen sich zwei Gruppen herausheben lassen: (1) Ökumene als Analysekategorie: Das Attribut ›ökumenisch‹ kann benutzt werden, um damit die religiöse und kirchliche Praxis zu analysieren und zu bewerten. Je nach Standpunkt wird dann negativ von einer ökumenischen Eiszeit oder Negation bzw. einem ökumenischen Nebeneinander gesprochen etc. Aber auch positiv ist die Wahrnehmung von ökumenischer Offenheit, Verständigung oder Annäherung möglich. Je nachdem, wer wo welche ökumenische Brille aufsetzt, scheinen sich die Befunde also deutlich zu unterscheiden, zumindest wird eine beachtliche Ungleichzeitigkeit gleichzeitig möglicher Blickwinkel deutlich. (2) Ökumene als pädagogischer Prädikator: Das Adjektiv ›ökumenisch‹ ist mit eigentlich allen pädagogischen Grundbegriffen kombinierbar: bspw. Lernen und Bildung, Didaktik oder Kompetenz. Nimmt man hinzu, dass wie eben gezeigt ›Ökumene‹ selbst schon äußerst vieldeutig ist, tritt die hohe Klärungsbedürftigkeit solcher zunächst höchst einleuchtender Komposita wie etwa ›ökumenisches Lernen‹ zutage: Je nachdem lässt sich dies als Lernen über, mit und von andere/n Konfessionen auffassen oder aber auch als Lernen an und mit den Themen des Menschlichen in der Welt von heute in gemeinsamer christlicher Verantwortung, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen.11 Im Blick auf religiöse Bildung stellen sich damit sehr konkrete Fragen nach tauglichen didaktischen Konzepten. Die religionspädagogische Plausibilität ökumenischen Lernens steht kaum in Frage; was bislang noch weitgehend fehlt, wäre eine entsprechende eigene Didaktik, besser eigene Didaktiken je nach Reichweite und Perspektive des mit ›Ökumene‹ jeweils Gemeinten.12 11 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Merkel, Mette und Simojoki/Scheunpflug in diesem Band. 12 Vgl. zu dieser Forderung und einem Vorschlag entsprechender Leitlinien den Beitrag von Boschki/Schweitzer sowie mit besonderem Fokus auf Gemeindepädagogik bzw. Katechese den Beitrag von Gojny/Lindner in diesem Band. Ergänzend weist Käbisch in seinem Beitrag darauf hin, dass in Materialien für den Unterricht immer noch konfessionelle Stereotype aufzufinden sind.

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Ein erstes Zwischenfazit: Mit der einfachen Frage, was meint eigentlich ›Ökumene‹ in religionspädagogischen Zusammenhängen, ist ein komplexes Verweisgefüge zutage getreten. ›Ökumene‹ erscheint als Grundbegriff der Religionspädagogik, der zugleich äußerst polyvalent ist und auch ohne inhaltliche Festlegung verwendet werden kann. Die aufgezeigte Bedeutungs- und Verweisfülle zeigt jedoch, dass es sich hierbei wohl eher um eine oberflächliche Einstimmigkeit und Fraglosigkeit handelt, die im Konkreten sehr unterschiedlich gefüllt und vor allem didaktisch realisiert werden kann und muss. 3 Religionspädagogischer Stellenwert von ›Ökumene‹ Ist Ökumene im religionspädagogischen Bereich also in einem gewissen Sinne schon zu selbstverständlich oder zu alltäglich geworden? Jedenfalls lässt sich feststellen, dass mit diesem Band des Jahrbuchs für Religionspädagogik nicht die einzige religionspädagogische Veröffentlichung der jüngsten Zeit vorliegt, die Ökumene wieder ausdrücklich auf die Tagesordnung setzt.13 Um die hier angesprochenen Fragen zuverlässig zu beantworten, bedürfte es einer auf die jüngere Disziplingeschichte gerichteten religionspädagogischen Wissenschaftsforschung, die bislang allerdings nicht vorliegt.14 Ich nehme das zum Anlass, hier exemplarisch ein wenig nachzuforschen. Philipp Klutz hat für ein laufendes Forschungsprojekt zum religionspädagogischen Diskurs der Jahre 1975 bis 2004 ein aufwändiges digitales Zeitschriftenkorpus erstellt.15 Mittels einer kriteriengeleiteten Zufallsauswahl hat er insgesamt 480 wissenschaftliche Aufsätze aus religionspädagogischen Zeitschriften aus Deutschland und Österreich zusammengestellt. Diese sind gleichmäßig nach Fünfjahresschritten verteilt und nach Konfession ausgewogen. Berücksichtigt wurden die diskursprägenden Fachorgane beider Länder in deutscher Sprache. Ohne hier auch nur ansatzweise eine 13 Vgl. etwa die thematischen Zeitschriftenhefte »Danke Luther« (Katechetische Blätter 142 [2016], H. 4) sowie (wechselseitig aufeinander bezogen) »Religionspädagogik ökumenisch« (Theo-Web 13 [2014], H. 2) und »Religionspädagogik konfessionell« (Religionspädagogische Beiträge 72/2015). 14 Vgl. Friedrich Schweitzer, Gibt es noch eine evangelische und katholische Religionspädagogik – oder sind wir ökumenisch? In: Religionspädagogische Beiträge 72/2015, 43–55, hier: 44–47. 15 Ich danke Philipp Klutz für den Zugriff auf sein umfangreiches Datenmaterial. – Zum Forschungsprogramm der religionspädagogischen Diskursforschung vgl. Stefan Altmeyer, »Deine Sprache verrät dich.« Schlüsselbegriffe der Religionspädagogik im Spiegel ihrer Wissenschaftssprache, in: Religionspädagogische Beiträge 66/2011, 31–46. Maßgeblich und wegbereitend für entsprechende Fragestellungen sind die großen Studien: Friedrich Schweitzer / Henrik Simojoki, Moderne Religionspädagogik. Ihre Entwicklung und Identität (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaf 5), Freiburg u.a. 2005; dies. / Sara Moschner / Markus Müller, Religionspädagogik als Wissenschaft. Transformationen der Disziplin im Spiegel ihrer Zeitschriften (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 15), Freiburg u.a. 2010.

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detaillierte Auswertung vorwegnehmen zu wollen, lassen sich doch schon in einem ersten Zugriff höchst interessante Befunde erheben. Allein schon die Nennungen der Lemmata ›Ökumene‹ und ›ökumenisch‹ lassen eine Entwicklung erkennen: Während Ökumene im Jahrzehnt 1975–84 fast gar nicht thematisiert wird (n = 36 Nennungen im gesamten Begriffsfeld), lässt sich ab Mitte der 1980er Jahre ein rasanter Anstieg feststellen (n = 171 in der zweiten Hälfte der 80er Jahre), der seinen Höhepunkt in den Jahren 1990–94 findet (n = 312). Seither geht das Thema stetig zurück: Waren es Ende der 1990er noch 201 Nennungen, halbiert sich die Zahl zu Beginn des neuen Jahrtausends (n = 93 für 2000–04). Was bedeuten solche absoluten Zahlen? Sie lassen jedenfalls deutlich erahnen, auf welchem Diskursniveau das Thema jeweils angesiedelt ist. Für das Jahrzehnt 1975– 84 wird Ökumene in den religionspädagogischen Zeitschriften in etwa so häufig angesprochen wie Erstbeichte oder Brot, während ein Begriff wie Tradition eine etwa 10-fache Häufigkeit aufweist (n = 308). Auf dem ökumenischen Höhepunkt 1990–94 liegt das Thema auf etwa gleicher Augenhöhe mit zentralen Begriffen wie Unterricht und Bildung mit einem Vorkommen in 29% aller Texte. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends (2000–04) geht dann die Verwendung zurück auf das Niveau von Begriffen wie Qualität oder Kompetenz, wobei allerdings immer noch 26% der Texte Ökumene in ihrem Wortgebrauch führen.

Wenn mit den vorliegenden Daten natürlich kaum mehr als Hinweise gegeben sind, so lässt sich doch die Hypothese einer Entwicklungslinie aufstellen: Sie reicht von der Entdeckung der Ökumene als religionspädagogischem Topos über eine sehr ausdrückliche Thematisierung hin zur diskursiven Normalisierung.16 Ökumene erlebt einen Aufstieg zu einer heißen Diskussionsphase, verschwindet danach aber nicht einfach wieder von der Bildfläche, sondern geht in das Kernvokabular und den religionspädagogischen Grundbestand über. Damit ist Ökumene als Perspektive gesichert, wenngleich sie als Thema zurückgeht: Es ist normal und selbstverständlich, von Ökumene zu sprechen, eine ausdrückliche Verortung und Konkretisierung wird allerdings nicht weiter eingefordert (= diskursive Normalisierung). 4 Implizite Schwerpunktsetzungen Fehlen aber ausdrückliche Verortungen, sind gerade jene Interpretationen und Positionen in den Blick zu nehmen, die nicht ausdrücklich, sondern implizit geschehen. Der vorliegende Band gibt hier wiederum interessante Einblicke in die aktuelle Religionspädagogik. Was beschäftigt eigentlich die Autorinnen und Autoren des Jahrbuchs, wenn sie ›Öku16 Die hier präsentierten Daten sind natürlich in Verbindung zu bringen mit den entscheidenden Veröffentlichungen der entsprechenden Jahre und der damit verbundenen konzeptionellen Entwicklung, wobei eine besondere Bedeutung der EKDArbeitshilfe »Ökumenisches Lernen. Grundlagen und Impulse« (1985) sowie den Arbeiten von Ernst Lange auf evangelischer und Richard Schlüter auf katholischer Seite zukommen dürfte (vgl. den hilfreichen Überblick: Ulrich Becker / Richard Schlüter, Art. Ökumenisches Lernen, in: LexRP 2 [2001] 1443–1451).

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mene‹ sagen? Auskunft auf diese natürlich hoch komplexe Frage (man stelle sich wiederum ein Kolloquium der beteiligten Personen vor) sollen hier die Schlüsselwörter der Beiträge geben.17 Aufschlussreich ist dabei zunächst, dass sich die Bezüge zu ausdrücklich theologischen Themen auf nicht mehr als vier Kernthemen beschränken: Es handelt sich dabei um Kirche/n, Konfession/en, Religion/en (jeweils im Singular und Plural) sowie die Bibel. Man kann daher von einer theologischen Konzentration, wenn nicht Reduktion des Themas sprechen, was umso deutlicher wird, wenn man die theologischen Bezüge mit dem Zeitschriftenkorpus von Philipp Klutz vergleicht: Hier finden sich noch Verbindungen zu weiteren inhaltlichen Schlüsselwörtern wie Botschaft und Verkündigung, Heil und Offenbarung, Ethik und Schöpfung. Wenn theologisch-inhaltliche Bezüge auf wenige Kernpunkte zurückgehen, bleibt zu fragen, ob etwas anderes deren Platz einnimmt. Hierbei halte ich eine Gruppe von offeneren, aber gleichwohl normativ geladenen Begriffen für einen Schlüssel zum Verständnis: Es sind dies vor allem Vielfalt und Einheit, Gemeinschaft und Unterschiede, Tradition, Gegenwart und Zukunft sowie vor allem Identität. Mit diesen Begriffen wird zum einen eine zeitliche Perspektive eröffnet: Ökumene ist ein Thema der Gegenwart, das stets mit Fragen nach Herkunft und Zukunft zu tun hat. Zum anderen tritt eine räumliche Unterscheidung hinzu, in der Aspekte der Differenz eine wichtige Rolle spielen: Ökumene setzt voraus, dass es Unterschiedenes und Unterscheidbares gibt. Beides macht m.E. darauf aufmerksam, dass gegenwärtig ›Ökumene‹ nicht immer ausdrücklich, aber doch implizit sehr deutlich mit dem Thema Identität zusammengebracht wird. Denn Identität betrifft ja im Kern gerade jenes Ausbalancieren der Fragen nach Zugehörigkeit und Differenz. Ökumene ist damit religionspädagogisch eine Frage von Identität geworden.18 Eine These, für die ich zunächst noch einige Belege aufführen, die ich jedoch anschließend vor allem in ihren durchaus ambivalenten Implikationen diskutieren möchte. Zunächst einmal ist die Verknüpfung von ›Ökumene‹ mit ›Identität‹ keineswegs neu. Auch im Zeitschriftenkorpus taucht das Schlüsselwort von Beginn an gemeinsam mit ›Ökumene‹ auf – wie alle übrigen gerade diskutierten Begriffe (bis auf Unterschiede) auch. Interessant ist, dass Bezüge wie Begegnung, Beziehung, Kommunikation, Dialog oder Freiheit zurückgetreten sind. Zugleich ist das Konzept ›Identität‹ über die 17 Zum Analyseinstrument der Schlüsselwörter s.o. Anm. 5. Für diese Analyse wie schon beim Verwendungsprofil des Ökumenebegriffs wurde der vorliegende Band als Textkorpus verwendet und korpuslinguistisch ausgewertet. 18 Möglicherweise hängt dies zusammen mit einem gegen alle Erwartungen zunehmenden Gebrauch »konfessioneller Identitätsmarker« und »konfessionelle[r] Profilierungen« in Wissenschaft und Bildungspolitik, wie ihn Rudolf Englert jüngst diagnostiziert hat (Gibt es [eine] spezifisch katholische bzw. evangelische Religionspädagogik? Die Rolle konfessioneller Differenzen in religionspädagogischer Theorie und Praxis, in: Religionspädagogische Beiträge 72/2015, 31–42, hier: 36).

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im Korpus repräsentierten dreißig Jahre stetig an Bedeutung gestiegen: von einem kaum vorkommenden (1975–84) über einen gelegentlichen verknüpften (1985–94) hin zu einem mit ›Ökumene‹ höchst signifikant verbundenen Begriff (1995–2004). Die Frage nach Identität scheint also für das Thema Ökumene bedeutsamer geworden zu sein. Auch in diesem Band des Jahrbuchs für Religionspädagogik ist Identität ein Fokuspunkt, bei dem sehr viele Perspektiven zusammenlaufen. Dies wird auf sehr plastische Art und Weise in den biografischen Beiträgen deutlich, in denen zwar kaum ausdrücklich von Identität gesprochen, dieses Thema jedoch im narrativen Modus präsent ist.19 »Treffen dann inneres und äußeres Bild zusammen, dann weiß ich, manchmal urplötzlich, wohin ich gehöre, was mich hält«20, so schreibt Winfried Nonhoff sehr persönlich und doch fast im Sinne der klassischen Identitätsdefinition. Aber auch ganz ausdrücklich kommt Identität zur Sprache, und zwar interessanterweise dort, wo auf Differenzen bei gleichzeitigem Bemühen um Gemeinsamkeiten hingewiesen wird: Ökumene soll nicht bedeuten, dass dogmatische Unterschiede verwischen, auch wenn gemeinsames Handeln ganz selbstverständlich ist. Denn diese gehören zur konfessionellen Identität, und Einheit wäre nicht mit Einheitlichkeit zu verwechseln.21

Differenz hat als Bedingung von Identität aber nicht nur im interkonfessionellen Gespräch ihren bleibenden Wert, in Bildungsprozessen gewinnt sie darüber hinaus ihre ganz eigene Bedeutung, ja unhintergehbare Würde.22 Ziel von Bildungsprozessen kann unter den Bedingungen von Pluralität nicht die Negation oder Überwindung von Differenz sein, sondern deren Bewusstmachung und Bearbeitung im Sinne der eigenen Identitätsarbeit. In diesem Zusammenhang kommt dem Zusammenspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle zu, über die auch konfessionelle Zugehörigkeiten erst bewusst und thematisch werden können. Dies gelingt nicht ohne Identifikationsprozesse, wie nicht zuletzt die empirischen Untersuchungen zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht herausstellen konnten.23 19 Vgl. hier die Beiträge von Merkel, Nonhoff, Stogiannidis, Härtner, von Bubmann, Steffensky und Martin sowie von Hagemann und Mette. 20 Zitat aus dem Beitrag von Nonhoff in diesem Band. Auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lassen sich gegen die vordergründige Erwartung konfessionelle Profile ausmachen, die im Sinne lebensweltlicher Prägungen mit dem Identitätsthema zusammenhängen – so Langenhorst in seinem Beitrag. 21 Vgl. etwa die Beiträge von Lampe und Jung in diesem Band, in denen historische und biblische Begründungszusammenhänge aufgezeigt werden. Zur Bedeutung der Differenzkategorie für den ökumenischen Dialog, inner- wie interkonfessionell, vgl. im Überblick: Ulrike Link-Wieczorek, Ökumenische Herausforderungen für die Religionspädagogik, in: Theo-Web 13 (2014), H. 2, 117–125; Annemarie C. Mayer, Perspektiven der Ökumene. Herausforderungen für die Religionspädagogik in katholischer Sicht, in: Religionspädagogische Beiträge 72/2015, 78–88. 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Boschki/Schweitzer in diesem Band. 23 Vgl. Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002, hier: 84f.; zu den didaktischen Implikationen vgl. auch den Beitrag von Käbisch in diesem Band.

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So nachvollziehbar die Gründe für ein Zusammendenken von Ökumene und Identität auch sind, so diskussionswürdig wäre m.E. jedoch folgendes Denkmuster: Ökumene setzt scheinbar die Existenz von Differenz zwischen verschiedenen (konfessionellen) Ausdrucksformen des Christlichen voraus, die es zunächst anzuerkennen und für die es in Bildungsprozessen zu sensibilisieren gilt, bevor Ökumene überhaupt sinnvoll zum Thema werden kann.24 Mit einem solchen Denkmuster liegt eine differenzlogische Verknüpfung des Themas Ökumene mit Identität und Konfession vor, deren Logik dann in eine Schieflage gerät, wenn die vorausgesetzte und anerkannte Differenz in den Augen der Lernenden weder wahrgenommen noch wertgeschätzt wird.25 Im Gegenteil muss gegenwärtig in Deutschland eine entdifferenzierende Wahrnehmung der meisten religiösen und erst recht konfessionellen Fragen als der überwiegende Normalfall gelten. Konfessionelle Differenzen gehören zu den allenfalls sekundär erschlossenen Lebensbereichen, die für private wie öffentliche Alltagszusammenhänge nur in seltenen Ausnahmefällen relevant werden: am häufigsten wohl noch bei der Zuteilung zur ›passenden‹ Variante des schulischen Religionsunterrichts.26 Es besteht auf diese Weise zumindest die Gefahr, dass beim Thema Ökumene ein doch schon eigentlich überwunden geglaubtes essentialistisches Verständnis von Identität27 wieder Einzug in Theorie und Praxis religiöser Bildungsprozesse hält: Konfessionelle Differenz wird als konstitutiver Bestandteil religiöser Identität gedacht, der nicht übergangen werden kann und zu dem man sich verhalten muss.28 Ziel und Aufgabe religiöser Bildung wäre dann, konfessionelle Differenzwahrnehmung zu schärfen, um Ökumene zu profilieren. Wäre es jenseits dieser konfessionellen Differenzlogik aber nicht dringlicher zu fragen, auf welche Weise Ökumene als Perspektive der Welt- und Lebensgestaltung aus gemeinsamer christlicher Verantwortung für die Identifizierungsprozesse von Kindern und Jugendlichen bedeutsam werden kann? Damit stünde dann das Ziel im Mittelpunkt, Ökumene als Thema und Perspektive identitätswirksam werden zu lassen – auch und gerade als Dekonstruktion konfessioneller Grenzziehungen.29 Es würde zugleich bedeuten, religiöse Identität nicht statisch, sondern als offenen Prozess zu verstehen, in dem jeder Einzelne die Relevanz angebotener Differenzprofile (seien es Kon24 Vgl. auch Schweitzer, Religionspädagogik (s.o. Anm. 14), 53. 25 Vgl. den Beitrag von Simojoki/Scheunpflug in diesem Band. 26 Vgl. hierzu in aller Deutlichkeit den Beitrag von Ebertz in diesem Band. 27 Vgl. zum Überblick über den Forschungsstand: Stefan Altmeyer, Art. Identität, religiöse, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon, 2016, http:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100197/ (Zugriff: 28.4.2016). 28 Im Blick auf weltweite kirchliche Entwicklungen verweist Mayer (Perspektiven [s.o. Anm. 21], 80) auf eine zunehmend »exzessive Behauptung religiöser Identitäten, die dem TINA-Prinzip folgt, dem Akronym für: ›There is no alternative‹.« 29 Wie sich in diesem Kontext am Beispiel des migrationspädagogischen Diskurses einiges lernen ließe, verdeutlicht Willems in seinem Beitrag zu diesem Band.

Ökumene trifft Identität

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fession, Ökumene oder ganz andere) für die Artikulation der eigenen Identifizierungsmuster zu prüfen vermag. Wenn dabei auch »überraschend[e] Konstellationen quer zu den überkommenen konfessionellen und religiösen Identitäten«30 entstehen, zeigt dies nur deren produktives Potenzial für identitätsrelevante religiöse Lernprozesse. In diesem Sinne wäre es Zeit, dass Ökumene wieder zu einem religionspädagogischen Thema wird, das auch jenseits gleichwohl begründeter Sorgen um konfessionelle Identitäten diskutiert und weitergedacht werden kann. Gut, wenn mit dem vorliegenden Band des Jahrbuchs für Religionspädagogik ein entsprechender Anfang gemacht wäre. Dr. Stefan Altmeyer ist seit 2016 Professor für Religionspädagogik, Katechetik und Fachdidaktik Religion an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

30 Zitat aus dem Beitrag von Mette in diesem Band. Ein sprechendes Beispiel solcher offener Identitätsprozesse in Sachen Religion beschreibt Siegmund in seinem Erfahrungsbericht zu Tagen religiöser Orientierung in Taizé.