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German Pages 361 [364] Year 1999
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR R O M A N I S C H E PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER
Band 294
UDO THELEN
Sprachliche Variation und ihre Beschreibung Zur Markierungspraxis in der französischen Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 1999
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 235 der Universität Trier entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
D 385 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie / begr. von Gustav Gröber. Tübingen: Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift für romanische Philologie Bd. 294. Thelen, Udo: Sprachliche Variation und ihre Beschreibung. - 1999 Theten, Udo: Sprachliche Variation und ihre Beschreibung: zur Markierungspraxis in der französischen Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum 18. Jahrhundert / Udo Thelen. - Tübingen: Niemeyer, 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; Bd. 294) ISBN 3-484-52294-1
ISSN 0084-5396
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck- und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Le Stile n'est autre chose que la maniere d'exprimer ses pensees, par le choix & par l'arrangement des paroles & des diuerses figures ou fa^ons de les employer ä cet effet. Les stiles sont aussi differents que les visages & les voix des hommes: chacun voulant enoncer ses sentiments interieurs, selon son inclination & selon son esprit. Laurent Chiflet (Essay d'vne parfaite grammaire de la langve franfoise, Anvers 1659, 147)
Dieses Corollarium gehet alle Außländer an / insonderheit aber die Teutschen / die Flandern / und noch etliche ander Niederländer / Lothringer &c. Dieweilen es ein ganzen Schwarzwald mit wilden Red-Arten in sich enthaltet; welches daher rühret / daß sie das Französische nach ihrer Mutter-Sprach einrichten [...]. Jean Claude Verdun (L'art de bien parier & de bien ecrire, Dillingen 1737, 521)
Vorwort
Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 235 der Universität Trier (Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum ig. Jahrhundert). D e m Leiter des Teilprojektes Grundzüge der französischen Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum ig. Jahrhundert, Prof. Dr. Günter Holtus, gilt mein ganz besonderer Dank. Aufgeschlossen, kritisch und mit wertvollen Ratschlägen begleitete er alle Phasen der Entstehung dieser Arbeit. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den Mitgliedern des Trierer Sonderforschungsbereichs, insbesondere den Sprechern Prof. Dr. Franz Irsigler und Prof. Dr. Lutz Raphael, gilt ein herzliches Wort des Dankes für die ausgezeichneten Arbeitsbedingungen und die großzügige Unterstützung bei der Publikation der Ergebnisse. Zahlreiche Anregungen und freundschaftlichen Rat über drei Jahre hinweg verdanke ich Monika Becker. Wichtige Hinweise erhielt ich auch von Prof. Dr. Dieter Kremer, Prof. Dr. Pierre Swiggers und Dr. Norbert Weinhold. Die kritische Durchsicht des abgeschlossenen Manuskripts übernahmen Florian Gläser und Franck Meyer. Dem Max Niemeyer Verlag in Tübingen und Prof. Dr. Drs. h.c. Max Pfister danke ich abschließend für die sorgfältige verlegerische Betreuung sowie die Bereitschaft, die Arbeit in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie aufzunehmen. Die Aktualität des behandelten Themas scheint ungebrochen, wie die Publikation der Kommentare der Academie fransaise über die Quintus Curtius-Übersetzung von Vaugelas zeigt (Wendy Ayres-Bennett/Philippe Caron, Les «Remarques» de l'Acadimie frangaise sur le «Quinte-Curce» de Vaugelas, iyig-1720. Contribution ά une histoire de la norme grammatical & rhitorique en France, Paris, Presses de l'Ecole normale superieure, 1996). Die Methodenvielfalt, die für historisch orientierte Untersuchungen zur Markierung und Kommentierung von sprachlicher Variation kennzeichnend ist, ermöglicht eine zunehmend detaillierte Sicht auf diesen komplexen Gegenstand; die Hoffnung ist gerechtfertigt, daß sich in näherer Zukunft in diesem reizvollen Bereich der Sprachwissenschaft einige Fäden zusammenführen lassen. VII
Inhalt
ι. Sprachen, Sprachgeschichte und Sprachenunterricht Maas und Rhein
zwischen ι
2. Sprachliche Variation 2.1. Dimensionen sprachlicher Variation 2.2. und 2.3. Klassifizierung diasystematischer Markierungen 2.3.1. Modelle und ihre Anwendung in Lexikographie und Grammatikographie 2.3.2. Makromodell der Markierung in Sprachlehrwerken und Grammatiken 2.3.3. Schematische Übersicht zum Makromodell
7 7 10 12 12 17 26
3. Zur Anlage der Untersuchung 3.1. Auswahl der Werke 3.1.1. Systematisch ausgewertete Werke 3.1.2. Weitere Werke 3.2. EDV-Erfassung von Kontextbelegen und Korpuserstellung 3.3. Arbeitsschritte 3.3.1. Korpusauswertung auf mikrostruktureller Ebene . . 3.3.2. Korpusauswertung auf makrostruktureller Ebene .
29 29 31 34 37 38 38 39
4. Diasystematische Markierungen I: Phonie/Graphie 4.1. Phonie 4.1.1. Abgrenzung von Vokalqualitäten bzw. von Vokal und Nullstelle 4.1.2. Abgrenzung von Konsonanten bzw. von Konsonant und Nullstelle 4.1.3. Satzphonetische Faktoren 4.2. Graphie 4.2.1. Notation von Vokalen 4.2.2. Notation von Konsonanten 4.2.3. Verwendung nicht-alphabetischer Hilfszeichen . . .
40 40 41 59 72 76 77 82 83 IX
5- Diasystematische Markierungen II: Morphologie/Morphosyntax 5.1. Determination und Repräsentation 5.1.1. Artikel 5.1.2. Pronominalsystem 5.2. Nominalmorphologie 5.2.1. Genusmarkierung 5.2.2. Numerusmarkierung 5.2.3. Komparation 5.2.4. Bildung von Adverbien 5.3. Verbmorphologie 5.3.1. Indikativ Präsens 5.3.2. Konjunktiv Präsens 5.3.3. Futur und Konditional 5.3.4. Imperfekt 5.3.5. Passe simple 5.3.6. Partizipien 5.3.7. Zusammengesetzte Zeiten 5.3.8. Defektive Verben 5.4. Gebrauch der Tempora und Modi 5.5. Unflektierbare und nicht satzgliedfähige Wortarten . . . . 5.5.1. Präpositionen 5.5.2. Konjunktionen 5.6. Kongruenz
85 85 85 91 110 110 m 112 114 116 116 121 122 125 126 128 130 132 133 139 139 142 145
6. Diasystematische Markierungen III: Syntax 6.1. Negation 6.2. Präsentationsformen 6.3. Rektion 6.4. Wort- und Satzgliedstellung
149 150 153 154 159
7. Diasystematische Markierungen IV: Lexik 7.1. Abgeleitete Varianten 7.1.1. Substantive mit gemeinsamem Basislexem 7.1.2. Verben mit gemeinsamem Basislexem 7.1.3. Substantiv und Verb mit gemeinsamem Basislexem 7.1.4. Einzelfälle 7.2. «Synonymische» Varianten 7.2.1. Einfache Synonymenscheidung 7.2.2. Semantisch motivierte Synonymenscheidung . . . . 7.2.3. Pragma- und soziolinguistisch motivierte Synonymenscheidung 7.3. Markierung von Lexien ohne Variantennennung 7.4. Idiomatik
165 165 166 168 169 170 171 172 173
X
176 180 182
74· 1 · 7.4.2. 7.4.3. 7.4.4. 7.4.5.
Zeit- und Aspektangaben Orts- und Richtungsangaben Konversationelle Wendungen Verbale Wendungen Einzelfälle
183 185 187 191 194
8. Markierung, Norm und Unterricht: Distribution und Funktion der Markierungen 8.1. Praxisorientiertheit und Zurückhaltung: die Frühphase . . 8.2. Diversifizierung und Funktionserweiterung 8.3. Kontinuität und Dimensionsverlust
197 198 202 218
9. Rückschau und Ausblick
225
10. Verwendete Abkürzungen
229
11. Literaturverzeichnis
231
12. Kontextbelege diasystematischer Markierungen
256
13. Personen-, Sach- und Wortregister
335
XI
ι.
Sprachen, Sprachgeschichte und Sprachenunterricht zwischen Maas und Rhein
Wie für kaum eine andere romanische Sprache wurde gerade für die französische die Evolution vom Gallolatein bis zur modernen Weltsprache in den letzten hundert Jahren immer wieder untersucht. Es besteht daher kein Mangel an Sprachgeschichten; wenn man zu einzelnen Epochen wie dem Alt-, Mittel- oder Neufranzösischen nach Darstellungen sucht, hat man eher die Qual der Wahl, so umfangreich erweist sich das Schrifttum, das heute zur Verfügung steht. Wer unter den gegebenen Umständen ein Thema der französischen Geschichtsschreibung aufgreift, muß daher zunächst begründen, warum die Behandlung der gewählten Fragestellung gerechtfertigt scheint [...]. (Schmitt 1995, 32if.)
Der in diesem Zitat aufgebrachte «Rechtfertigungsdruck» für die Beschäftigung mit einem Thema der französischen Sprachgeschichte bietet die Gelegenheit, gleich zu Beginn einige orientierende Hinweise über den speziellen Blickwinkel der sich anschließenden Untersuchungen anzubringen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der dem Trierer Sonderforschungsbereich 235 {Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum ig. Jahrhundert)' zugrundeliegende Begriff des historischen (s. hierzu Heit 1993 und Irsigler 1987); personale, institutionelle und intellektuelle Austauschvorgänge im Überschneidungsbereich zweier dominanter europäischer Kultur- und Sprachräume stehen im Mittelpunkt der übergeordneten, interdisziplinär ausgerichteten Fragestellung. Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Untersuchung, aus romanistischer Sicht unternommen, als ein Beitrag zur historischen Varietätenlinguistik und Sprachkontaktforschung, zur Geschichte des Sprachnorm(en)bewußtseins, zur Geschichte der französischen Sprachlehre und zur historischen Lehrwerkforschung. Die Region zwischen Maas und Rhein bietet sich für eine exemplarische Untersuchung der Behandlung linguistischer und didaktischer Probleme sprachlicher Variation in Sprachlehre und Grammatikographie in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in besonderem Maße an. Seit frühester Zeit verläuft die Sprachgrenze zwischen Romania und Germa-
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Die vorliegende Studie entstand im Rahmen der Arbeit am Teilprojekt D8 dieses Sonderforschungsbereichs (Grundzüge der französischen Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum ig. Jahrhundert, Projektleiter: Prof. Dr. Günter Holtus).
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nia durch diesen Raum (vgl. Kleiber/Pfister 1992)2; Überlagerungen zwischen der relativ festen romanisch-germanischen Sprec/isprachgrenze und der als flexibler zu betrachtenden Sc/ira'ftsprachgrenze ergeben sich jedoch ab dem 12./13. Jahrhundert, als das Lateinische seinen Rang als unangefochtene Schriftsprache zu verlieren beginnt und die Volkssprachen beiderseits der Grenze nun auch für den Schriftverkehr verwendet werden (vgl. die einschlägigen Beiträge in den Sammelbänden Gärtner/Holtus 1995 und 1996). Der einsetzende große Schriftlichkeitsschub bedingt vor dem Hintergrund der zahlreichen französischen Dialekte des Mittelalters (vgl. Dees 1985 und Pfister 1993) in der Folgezeit eine zunehmende Standardisierung des Französischen, ausgehend von den parlers von Paris und der Ile-de-France (s. Pfister 1973, Settekorn 1979 und 1988a sowie Winkelmann 1990). Die besonderen territorialen Gegebenheiten des romanisch-germanischen Grenzgebietes zwischen Maas und Rhein lassen diesen Raum jedoch weiterhin, bis in die Neuzeit hinein, als einen kulturellen Brennpunkt erscheinen, in dem die Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Kultur Notwendigkeit und Bereicherung gleichermaßen darstellt. Aus sprach- und mentalitätsgeschichtlicher Sicht sind dabei für den Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, der in den sich anschließenden Untersuchungen im Mittelpunkt stehen wird, zwei Überlegungen von besonderer Bedeutung; die erste ist historisch-soziologischer, die zweite soziolinguistischer Art: a) Die historisch-politische und wirtschaftliche Bedeutung dieses europäischen Kernraumes bedingt für diejenigen Bevölkerungsgruppen, die an der Machtausübung beteiligt sind (Adel, Verwaltungsbürgertum, Kaufleute) die Notwendigkeit umfassender Bildung und sprachlich-kultureller Mobilität (vgl. dazu grundsätzlich Francois 1985 und die Beiträge in Gall 1993 sowie spezieller auch Gerteis 1987 und Schilling 1985). Vor dem Hintergrund der Dominanz französischer Kultur im europäischen Kontext ist davon auszugehen, daß dem Französischunterricht im Rahmen des Erziehungswesens der höhergestellten Bevölkerungsschichten eine zentrale Rolle zukam (vgl. auch Dorfeid 1905). Die materielle Grundlage dieses Französischunterrichts (Grammatiken und Sprachlehrwerke) bietet - soweit sie erhalten oder zumindest dokumentiert ist - reichhaltiges Material für die Untersuchung von Sprache(n) und ihrer Vermittlung in einem begrenzten und durch seine ausgeprägte Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit charakterisierten Raum (vgl. Kramer 1984 und grundsätzlich auch Ferguson 1959 sowie Holtus 1990c). 2
Wulf Müller (1985) bietet einen kurzen, aber lesenswerten wissenschaftsgeschichtlichen Uberblick zum Begriff der und zur Sprachgrenzenforschung allgemein im galloromanisch-germanischen Kontext.
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b) Französisch, Niederländisch bzw. Flämisch und Deutsch spielen in diesem Grenzgebiet zwischen Romania und Germania jeweils als Mutterund/oder Zweit- bzw. Fremdsprache eine wichtige Rolle; vor dem Hintergrund der sich im Laufe der Jahrhunderte ständig weiter ausprägenden und bis heute kaum erschöpfend zu erfassenden Interferenzbeziehungen zwischen diesen Sprachen haben sich zahlreiche sprachliche Mischformen bilden können, die häufig einen nicht genau zu definierenden Status zwischen den psycholinguistisch-lerntheoretischen Konzepten von L i - und L2-Sprache einnehmen3 (vgl. Lüdtke 1988, Stehl 1988 und Tabouret-Keller 1985). Die solchermaßen außerordentlich komplexe sprachliche Situation zwischen Maas und Rhein läßt für den Bereich des gesteuerten Zweit- und Fremdsprachenerwerbs - gemeint ist damit jede Form von öffentlich oder privat organisierter (zweit-/fremd-)sprachlicher Ausbildung - klare Abgrenzungen und Festlegungen seitens der Sprach(ver)mittler erwarten, entsprechend den für die jeweilige Sprache herrschenden oder angestrebten Normvorstellungen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, daß möglicherweise auftretende Veränderungen in diesen Normvorstellungen sich anhand der materiellen Grundlage des Unterrichts (Grammatiken und Sprachlehrwerke) nachweisen lassen. Die Auswertung der in beiden Überlegungen erwähnten materiellen Grundlage des Sprachenunterrichts ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Im Rahmen der historischen Lehrwerkforschung und als Bestandteil der Geschichtsschreibung zur französischen Sprachlehre sind Analyse und Interpretation der im Unterricht verwendeten grammaires und manuels als ein eigenständiges Arbeitsfeld mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse zu betrachten: Wesentliche Aspekte dieses Erkenntnisinteresses sind etwa Herkunft, Ausbildung und sozialer Status des Autors, Zielpublikum/Adressaten des Werkes, Makro- und Mikrostruktur des Werkes sowie explizit oder implizit verwendete Quellen und theoretische 3
Z u r Terminologie: In der Sprachlehrforschung hat sich die Unterscheidung zwischen («Muttersprache») und («Nicht-Muttersprache») für Erwerb und Verwendung natürlicher Sprachen inzwischen weitgehend etablieren können (vgl. etwa Edmonson/House 1993, 8 - 1 1 ) ; der Oberbegriff wird dabei weiter differenziert in (Erwerb und Verwendung einer L2-Sprache in der «natürlichen» Umgebung dieser Sprache; Französisch wäre beispielsweise als Zweitsprache zu betrachten für einen Deutschen, der in Frankreich lebt und dort die Sprache erlernt und verwendet) und (Erwerb und Verwendung einer L2-Sprache in einer anderssprachigen Umgebung; für einen Niederländer beispielsweise, der in den Niederlanden zur Vorbereitung auf eine Frankreichreise Französisch lernt, wäre das Französische als Fremdsprache zu betrachten). In vielen Fällen ist eine klare, eindeutige Abgrenzung zwischen L i - und L 2 - sowie zwischen Zweit- und Fremdsprache jedoch nicht möglich, wie sich im Verlauf der Untersuchung anhand konkreter Beispiele zeigen wird.
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Modelle (vgl. Holtus 1996, 180). Die materielle Grundlage des Sprachenunterrichts ist unter diesem Blickwinkel als ein selbständiger Gegenstand der Untersuchung zu betrachten. Im Rahmen der historischen Varietätenlinguistik und Sprachkontaktforschung sowie der Erforschung soziolinguistischer Fragestellungen des Sprachnorm(en)bewußtseins kommt den ausgewerteten Lehrwerken und Grammatiken eine andere Funktion zu: Die im jeweiligen Werk manifesten Aussagen zu einzelnen Punkten der französischen Grammatik und ihrer Veränderung im Laufe der Zeit, zu Varietäten des Französischen und ihrer Bewertung, zum Sprachvergleich sowie zur Rolle außer- oder parasprachlicher Kommunikationsstrategien (Mimik, Gestik etc.) sind Anhaltspunkte für die Bearbeitung übergeordneter, interdisziplinärer Fragestellungen (vgl. Holtus 1996, i82f.). Unter diesem Blickwinkel, dem für die folgenden Betrachtungen die größere Bedeutung zukommt, ist die materielle Grundlage des Sprachenunterrichts als Medium der Untersuchung zu betrachten. Für ein kurzes Resume zum Forschungsstand der einleitend genannten Themenkreise muß unterschieden werden zwischen Arbeiten allgemein zur Geschichte des Französischen im germanophonen Raum, spezielleren Arbeiten zum Französischen im Gebiet zwischen Maas und Rhein, Überblicksdarstellungen zur Geschichte des (Fremd-)Sprachen- bzw. des Französischunterrichts sowie weiteren Beiträgen zu untergeordneten spezielleren Fragestellungen. Allgemein zur Geschichte des Französischen im deutschsprachigen Raum liegen bisher eine Einführung von Johannes Kramer (1992) sowie inhaltlich breit gefächerte Sammelbände von Johannes Kramer und Otto Winkelmann (Kramer/Winkelmann 1990) bzw. Wolfgang Dahmen et al. (1992 und 1993) vor. Mit deutlicherem Bezug zum Gebiet zwischen Maas und Rhein ist eine systematisch gegliederte Monographie von Johannes Kramer (1984) zu nennen, die die Frage der Zweisprachigkeit in den Benelux-Ländern in den Mittelpunkt rückt. Für die Geschichte des Französischunterrichts in den Niederlanden ist nach wie vor die umfangreiche Darstellung von Kornelis J. Riemens (1919) ausschlaggebend; ergänzt wird dieser Klassiker durch die neueren Arbeiten von Willem Frijhoff (1989 und 1990) sowie Jan Noordegraaf und Frank Vonk (Noordegraaf/ Vonk 1993). Allen diesen Publikationen ist jedoch gemeinsam, daß Problemen des linguistisch-didaktischen Hintergrundes des Sprachenunterrichts nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Neben diesen allgemeineren Arbeiten zur Situation des Französischen ist daher vor allem auch eine Reihe weiterer Beiträge von großer Bedeutung, die sich spezieller mit der Frage der Geschichte des Französischunterrichts befaßt. Unter bibliographischen und auch inhaltlichen Gesichtspunkten sind für die Erforschung des Französischunterrichts im nicht-französischsprachigen oder mehrsprachigen Grenzgebiet zwischen 4
Galloromania und Germania in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach wie vor die Grundlagen werke von Ferdinand Brunot (1905-1953/ 1966-1972, besonders vol. 5), Heinrich Breitinger (1868 und 2 i885), Karl Dorfeid (1892 und 1905), Edmund Stengel (1890/1970, 1976 neu herausgeben von Hans-Josef Niederehe, sowie ferner 1879, 1888 und 1890), Alwin Lehmann (1904), Albert Streuber (1914, 1914/1915, 1962-1969) sowie mit Einschränkungen auch die Dissertation von Bernhard Schmidt (1931) maßgeblich; weiter wären auch etwa die kürzeren Beiträge von Walter Kuhfuß (1976) und Reiner Lehberger (1989) zu konsultieren. An neueren Arbeiten sind besonders hervorzuheben die umfangreichen Darstellungen von Konrad Schröder (1989-1995), mit nützlichen biographischen Angaben zu Fremdsprachenlehrern des deutschsprachigen Raumes, und Jean Antoine Caravolas (1994; s. hierzu auch Thelen 1995) mit einem auch das Französische berücksichtigenden materialreichen Überblick über die Geschichte der Didaktik des Sprachenunterrichts in Europa von 1450 bis 1700; mit Sprachenunterricht im Zeitraum von 1500 bis 1800 befaßt sich ein von Konrad Schröder (1992a) herausgegebener übereinzelsprachlich ausgerichteter Sammelband, in dem sich auch Beiträge zum Französischen finden. Unter den kleineren Beiträgen zum Thema sind die Aufsätze von Herbert Christ (1983, 1987 und 1990), Bernd Spillner (1985 und 1986), FranzRudolf Weller (1980, 1989 und 1990), Konrad Schröder (1994) und, in bibliographischer Hinsicht, Pierre Swiggers und Frans Jozef Mertens (Swiggers/Mertens 1984) hervorzuheben. In ihrer methodischen Anlage aufschlußreich sind eine dokumentarische Arbeit von Elisabet Hammar (1985) zu französischen Grammatiken und Lehrwerken in Schweden von 1808 bis 1905 sowie zahlreiche Beiträge von Pierre Swiggers (besonders 1990a, 1990b und 1995) 4 . Ausdrücklich mit der Geschichte des Französischunterrichts zwischen Maas und Rhein befassen sich die Überblicksartikel von Günter Holtus (1996) sowie von Monika Becker, Günter Holtus, Udo Thelen und Harald Völker (Becker/Holtus/Thelen/Völker 1997); beide Beiträge behandeln überwiegend methodologische Fragestellungen, versuchen jedoch auch eine Anwendung der vorgestellten Ansätze auf ausgewählte Beispiele wie etwa die linguistisch-didaktische Konzeption eines einzelnen Grammatikers, die Situation des Sprachenunterrichts im begrenzten Mikroraum 4
Z u allgemeinen methodologischen Fragen der Beschäftigung mit und dem E r kenntnisinteresse von historischer Sprachwissenschaft s. Fisiak 1990 und R o maine 1982 sowie die breit angelegten Sammelbände von Lehmann/Malkiel 1968, Bynon/Palmer 1986 und Davis/Iverson 1992; Probleme der Historiographie der Linguistik greifen Auroux 1994b sowie die thematisch breit gestreuten Beiträge in den Sammelbänden von Hüllen 1990, Niederehe/Koerner 1990 und Schmitter 1987 auf. A l s kurzer Überblick speziell zur Geschichte der französischen Grammatik ist Chevalier 1994 lesenswert.
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einer Stadt oder die Nutzbarmachung des Instrumentariums neuerer linguistischer Teildisziplinen für die historische Lehrwerk- und Grammatikographieforschung. Eine Vielzahl von kleineren Arbeiten beschäftigt sich mit ausgewählten Aspekten des Themenkreises und behandelt beispielsweise theoretisch-methodologische oder sonstige allgemeinere Probleme (s. Ahlqvist 1987, Auroux 1994a, Benasse/Strauß 1992, Caravolas 1984, Christmann 1976, Coste 1990a, 1990b und 1990c, De Vooys 1947, Düwell 1986, 1989 und 1990, Hammar 1988 und 1992, Holtus 1991, Puren 1988 und 1990b, Radtke 1991, Reboullet 1987, Swiggers i984d, 1987, 1988 und 1992), einzelne Grammatiker bzw. Lehrbuchautoren und deren Werke (s. Aubert 1993, Briesemeister 1992, Christ 1991, Culliere 1987, Greive 1992, 1993 und 1995, Kaitz 1988, 1992 und 1993, Kemmerer 1 9 1 1 , Loonen 1993, Macht 1989, Matthieu 1904, Neriinger 1900, Radtke 1989, Schröder 1992b, Specht 1980, Spillner 1992, Swiggers 1984c, 1985b, 1989 und 1991) oder spezielle Teilprobleme der Grammatik, der Linguistik oder der Didaktik und Pädagogik des Französischunterrichts (s. Ayres-Bennett 1990 und 1994, Ayres-Bennett/Carruthers 1992, Besse 1991, Boone 1993, Brandt 1957, Christ 1988a, 1988b und 1993, Düwell 1990, Ettinger 1984, Melka 1994, Pellat 1985, Puren 1990a, Schmitt 1995, Swiggers 1983, 1984b, 1984ε, 1985a und 1986, Thelen 1997). Die in diesem kurzen dokumentarischen Überblick vorgestellten Ansätze und Publikationen berücksichtigen Fragen der sprachlichen Variation im Gebiet zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gar nicht oder nur aus einem sehr untergeordneten Blickwinkel. Die Verbindung von Ansätzen der historisch ausgerichteten Untersuchung von Sprachlehre und Grammatikographie mit Ansätzen der neueren Sozio- und Varietätenlinguistik soll im Laufe der Arbeit versucht werden (zur Problematik dieses Ansatzes vgl. auch Albrecht 1990, 45); die erforderlichen Arbeitskriterien werden im weiteren noch zu bestimmen sein. Zunächst ist aber die Auseinandersetzung mit einigen grundlegenden Fragen der sprachlichen Variation und ihrer linguistischen Beschreibung angebracht.
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2. Sprachliche Variation
2.1. Dimensionen sprachlicher Variation In der sprachlichen Wirklichkeit begegnen immer nur verschiedene Französisch: les frangais. (Müller 1975, 3 4 )
Mit dieser Erkenntnis vollzog Bodo Müller die Abkehr von der strukturalistischen Maxime, natürliche Sprachen ungeachtet ihrer Vielschichtigkeit in der Realität als homogene Gebilde zu betrachten; seiner These liegt die Auffassung zugrunde, daß an einer Sprache Teilhabende sich je nach Situation, Bildungsstand, sozialen Gegebenheiten und einer Reihe weiterer Faktoren unterschiedlicher Teilsysteme (Varietäten)* des Systems der Gesamtsprache (Diasystem, «System von Systemen»; s. Weinreich 1954, Labov 1971, Müller 1975 und 1985, Coseriu 1988a, Holtus 1990a und Prüßmann-Zemper 1990) bedienen. Die sich in der Folge dieses Modelles stetig intensivierende und immer kontrovers geführte Diskussion um die verschiedenen (s. Albrecht 1986, 80) beschäftigt sich mit der naheliegenden Frage, welche und wieviele Teilsysteme sich innerhalb des komplexen Diasystems der Gesamtsprache unterscheiden lassen. Die Entwicklung dieser Diskussion soll im folgenden in groben Zügen resümiert werden. Die Unterscheidung zweier grundlegender Dimensionen der Variation geht auf den Norweger Leiv Flydal zurück. Nach seiner Vorstellung setzt sich die aus mehreren zusammen, welche diatopische (unterschiedliche regionale Ausprägungen der Sprache) und diastratische (Zugehörigkeit der Sprecher zu unterschiedlichen sozialen Schichten) Strukturunterschiede aufweisen können (Flydal 1951, 255f.). Coseriu ergänzt Flydal um ein weiteres Kriterium, welches er für die Beschreibung der verschiedenen Dimensionen der Variation innerhalb einer historischen Sprache 2 für notwendig hält: Durch Situation
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Z u der uneinheitlich gehandhabten Terminologie rund um die Begriffe , , etc. s. A m m o n 1986 und 1987 sowie Wandruszka 1982. Unter historischer Sprache> versteht Coseriu in Abgrenzung zu eine Nationalsprache in ihren verschiedenen, historisch gewachsenen Ausprägungen (s. Coseriu 2 i 9 7 i , 5 1 ) .
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und Kontext bedingte Unterschiede in der Modalität des Ausdrucks nennt er diaphasisch\ unter Situation und Kontext läßt sich dabei eine Vielzahl von Faktoren wie Geschlecht und Alter des Sprechers, Rollenbeziehung zwischen Sprecher und Adressaten sowie die konkrete Sprechsituation zusammenfassen (vgl. Albrecht 1986, 75). Vier Dimensionen der Variation unterscheidet Wolfgang Klein (1974) mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Sprache: die diachrone, die räumliche, die soziale und die situative Dimension. Klein verstand das in seinem Beitrag entwickelte «Verfahren zur Beschreibung sprachlicher Variation im Bereich der Grammatik als einen Versuch, diesen Methoden einen größeren empirischen Bereich als bisher üblich zu erschließen, ohne ihre Genauigkeit und Strenge aufzugeben» (Klein 1974, 5). In der germanistischen Sprachwissenschaft wurde dieser Vorschlag mit großem Interesse aufgenommen, da die Unzulänglichkeit von Chomskys «idealem Hörer-Sprecher» als Medium für die Untersuchung der Vielgestaltigkeit natürlicher Sprachen bereits recht offensichtlich geworden war (vgl. Nabrings 1981, 9f.). Ein weiterer Beitrag aus der germanistischen Linguistik stammt von Kirsten Nabrings (1981): Sie greift die vier Dimensionen auf, die bis zu jenem Zeitpunkt erarbeitet worden waren, unterteilt jedoch die diastratische Dimension weiter nach Soziolekten, Sondersprachen, geschlechts- und altersspezifischen Varietäten sowie Berufs- und Gruppensprachen, und die diasituative (oder diaphasische) Dimension nach Fachsprachen und «Stilniveaus». Ein sehr umfassender Vorschlag zur Beschreibung der Dimensionen sprachlicher Variation speziell im Französischen stammt von Bodo Müller (1975, frz. 1985); Müller erweitert das Modell Flydals und Coserius - die Aufnahme der diachronen Dimension bei Klein (1974) wurde offenbar nicht berücksichtigt - auf nun insgesamt sieben «Aspekte»: 1. den chronologischen Aspekt; 2. den formalen Aspekt (betrifft geschrieben und gesprochen); 3. den quantitativen Aspekt; 4. den diatopischen Aspekt; 5. den diastratischen Aspekt; 6. den qualitativen Aspekt (entspricht bei Coseriu) und 7. den normativen Aspekt (s. Müller 1975, 34f.). Das Modell war in der Theoriediskussion nicht unumstritten hinsichtlich der Frage, ob die sieben Aspekte tatsächlich gleichberechtigte Dimensionen sprachlicher Variation darstellen; die Kritik bezog sich vor allem auf die vier neu hinzugekommenen Dimensionen, welche den drei «klassischen» Dimensionen entweder vorgeordnet (chronologischer Aspekt), nachgeordnet (normativer und formaler Aspekt) oder nebengeordnet (quantitativer Aspekt) seien (s. Albrecht 1986, 81; zur Diskussion um die neu hinzugekommenen Dimensionen s. auch Koch 1988, Koch/Oesterreicher 1990 und Oesterreicher 1988). Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985) beispielsweise schlagen vor diesem Hintergrund eine Systematik zur Strukturierung des Varietätenraums hinsichtlich der «nähe-» oder «distanz-»sprachlichen Markierung einzelner Varietäten
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vor; die Unterscheidung zwischen Medium (graphischer und phonischer Code) und Konzeption (kommunikative Strategien) sowie das Ansetzen einer Skala von «textinternen Merkmalen» (vgl. Ludwig 1986), die bei der sprachlichen Gestaltung von Nähe oder Distanz eine Rolle spielen, bieten eine sinnvolle Ergänzung zu den sieben «Aspekten» Müllers. Unabhängig von der Frage, inwiefern die Kritik am Modell B o d o Müllers gerechtfertigt ist oder nicht, sind die eingeführten terminologischbegrifflichen Unterscheidungen von großer Bedeutung für die varietätenlinguistische Theoriediskussion und vor allem auch für die Entwicklung eines beschreibungstechnischen Begriffsapparates. Spätere, an B o d o Müller anschließende Arbeiten versuchen eine noch weitergehende Subklassifizierung der verschiedenen Dimensionen sprachlicher Variation, sind jedoch eher als Versuch der Bereitstellung eines praktischen Beschreibungsinstrumentariums zu verstehen und erheben nicht den wissenschaftlichen Anspruch, gleichberechtigte Dimensionen der Variation zu erfassen; diese anwendungsbezogenen Modelle sollen daher an anderer Stelle (Kap. 2.3.1.) diskutiert werden. In zahlreichen Überblicksbeiträgen haben sich sowohl Allgemeine Sprachwissenschaft als auch Einzelphilologien mit weiterführenden methodologischen und angewandten Fragestellungen der sprachlichen Variation beschäftigt 3 . Überlegungen zu Variation, Sprachprestige und diesbezüglichen Ansätzen der Soziolinguistik aus der Sicht der Allgemeinen Sprachwissenschaft finden sich in den von David Sankoff herausgegebenen Sammelbänden Linguistic Variation. Models and. Methods (Sankoff 1978) und Diversity and Diachrony (Sankoff 1986) sowie in den von Manuel Alvar zusammengestellten Estudios sobre la variacion lingüistica (Alvar 1990; spezieller zu den romanischen Sprachen s. auch Sobrero 1988); Probleme der theoretisch-empirischen Grundlage von Sprachwandel behandeln Uriel Weinreich, William Labov und Marvin I. Herzog in dem Beitrag Empirical Foundations for a Theory of Language Change (Weinreich/Labov/Herzog 1968). Besonders der Sub- und der Nonstandard haben die Aufmerksamkeit vieler Forschenden auf sich gezogen: Übereinzelsprachlich orientierte und aus verschiedenen Einzelphilologien stammende Beiträge zum sprachlichen Substandard haben Günter Holtus und Edgar Radtke in drei Bänden zusammengestellt (Holtus/Radtke 1986, 1989, 1990a); von denselben Herausgebern liegen auch ein Band speziell zur Umgangssprache in der Iberoromania (Holtus/Radtke 1984) sowie zwei weitere Bände zur
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Auch seitens der Schulen ist ein neues Interesse für dieses Thema zu erkennen: s. für das Deutsche den Band Vielerlei Deutsch. Umgang mit Sprachvarietäten in der Schule von Peter Klotz und Peter Sieber (Klotz/Sieber 1993) und für das Französische den Beitrag von Franz-Joseph Meißner Sprachliche Varietäten im Französischunterricht (Meißner 1995).
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Varietätenlinguistik des Italienischen bzw. zum Thema Gesprochenes Italienisch in Geschichte und Gegenwart vor (Holtus/Radtke 1983 und 1985). Aus germanistischer Sicht befaßt sich Beate Henn-Memmesheimer (1986) mit Nonstandardmustern; zu Varietäten des Deutschen in der Sprachhistoriographie ist ein von Rudolf Große, Gotthard Lerchner und Ulla Fix herausgegebener Sammelband (Große/Lerchner/Fix 1995) zu konsultieren. Ebenfalls mit Sub- und Nonstandard, aber einzelsprachlich auf das Französische ausgerichtet, befaßt sich der umfangreiche Sammelband Grammaire des fautes et frangais non conventionnels, herausgegeben vom Groupe d'Etude en Histoire de la Langue Fran^aise (GEHLF 1992). Speziell zum Französischen sind weiter zu nennen der posthum von P. Rickard und T. G. S. Combe neu herausgegebene Band Uncertainties in french grammar von L. C. Harmer (Harmer 1979) sowie aus jüngerer Zeit die breit angelegte Übersicht Variation and Change in French, herausgegeben von John N. Green und Wendy Ayres-Bennett (Green/Ayres-Bennett 1990); in der Themenstellung begrenzter, aber aufgrund vieler Detailuntersuchungen sehr nützlich sind die im Bändchen La variation dans la langue en France du XVIe au XIXe siecle (La variation dans la langue 1989) vereinigten Einzelstudien von S. Baddeley, N. Catach, J. Chaurand, Th. Magot, L. Pasques, M.-R. Simoni und H. Walter. Einen methodologisch interessanten Ansatz verfolgen Alain Berrendonner, Michel Le Guern und Gilbert Puech mit der Zusammenführung von Arbeiten über variation phonologique, variation syntaxique und variation simantique zu den Principes de grammaire polylectale (Berrendonner/Le Guern/Puech 1983)· 2.2. und le son de l'e masculin, & non pas celui de l'e ouvert, ce qui rendroit la prononciation trop rude. (De la Touche 1696, 22)
Die Liaison mit /R/ bei Verben, die auf -er oder -ir auslauten, wird in diesem Beleg dianormativ (Typ a) und diatextuell mit der Poesie in Verbindung gebracht (ebenso Beleg Nr. 114 aus dem 18. Jahrhundert; zur Frage des Hiatus in Prosa und Poesie s. auch Beleg Nr. 61); der dianormative Kommentar on doit prononcer doucement l'r finale devant une voi'elle en lisant kann in der Weise als zusätzlich diamedial markiert aufgefaßt werden, daß sich die Vorschrift der Liaison auf die akustisch-mündliche 74
Realisierung () eines schriftsprachlich konstituierten Textes () bezieht, also etwa auf den mündlichen Vortrag eines Briefs oder eines Gedichts (vgl. Kapitel 2.3.2. und Söll 31985, 17-29). 4.1.3.2. Gleitkonsonanten Vier Belege betreffen den Einschub eines Bindungs-ί bei der Inversion von Subjektpronomen und Verb im Present und im Passe simple der Verben auf -er und im Futur simple aller Verben. Der früheste Korpusbeleg zu diesem Phänomen stammt aus dem 16. Jahrhundert (Nr. 22): [Aucuns accompaignent ledit-a, du-h, & escriuent-ha; mais ilz faillent, attendu que la prononciation n'en demonstre rien:] Autres aussy l'accompaignent du-t, deuant vne voyelle, & le prononce(n)t, pour euiter l'euphonie, ainsy-at-il? ou-iraty? & ia^oit quilz le proferent, sy est il redicule de l'escrire. (Bosquet 1586,4)
Bosquet akzeptiert die Formen mit Bindungs-/ (at-il, ou-ira-ty) für die gesprochene Sprache, «pour euiter l'euphonie» (evtl. «pour euiter l'hiatus»?), schließt sie aber diamedial für die geschriebene Sprache aus (s_y est il redicule de l'escrire)', die diamediale Markierung betrifft allerdings lediglich die Ebene der graphischen oder phonischen Realisierung des Phänomens ( vs. ), nicht die Ebene der Konzeption eines sprachlichen Elementes für konkrete Anlässe der gesprochenen Sprache oder der geschriebenen Sprache ( vs. ). Hinsichtlich der Verteilung der Varianten mit und ohne Bindungs-i auf die gesprochene oder die geschriebene Sprache finden sich ähnliche diamediale Kommentare wie bei Bosquet auch noch in der ersten und zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (s. die Belege Nr. 25 und Nr. 76). Der Gebrauch mit Bindungs-ί in der geschriebenen Sprache scheint bis ins 18. Jahrhundert hinein umstritten gewesen zu sein: D e la Touche schreibt bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts parle-t-il (s. D e la Touche 1696, 17), 1737 fordert Verdun explizit das «T zwischen zwey Strichel» (Verdun 1737, 11), und doch findet sich noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts beispielsweise in einem Französischlehrwerk für deutschsprachige Oberschüler die Variante y a-il (s. Chapuset 1747, 74; zur Grammatikerdiskussion um das Phänomen s. Thurot 1883, 240-243). Der Kölner Grammatiker Basforest sieht das Bindungs-ί in einem viel weiteren Kontext als dem der Inversion von Verb und Subjektpronomen (Beleg Nr. 25): Vornehmlich vor dem Pronomine il, und eile; und nach den dritten personen verborum in eine vocal endigend: als aime il, donne eile, α il, α eile, II a ouy, II va ou i'ay diet, aura on paix; soltu außsprechen aime-til, donne-telle, α-til, atelle, II a-touy, II va-tou i'ay diet, aura-ton paix &c. (Basforest 1624, 3)
Neben den bereits betrachteten Fällen fordert der Autor die Verwendung des Bindungs-ί (dianormativer Marker: soltu außsprechen) auch in den
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Beispielen II a-touy (für II a ouy) und II va-tou i'ay diet (für II va ou i'ay diet)·, möglicherweise dient das -t per Analogiebildung zur Aussprache bei der Subjekt-Verb-Inversion als eine Art praktischer Hiatustilger auch bei nicht-invertierten Formen, möglicherweise handelt es sich aber auch um ein in dieser bestimmten phonetischen Umgebung in der Aussprache überlebendes Relikt der für das 16. Jahrhundert nachgewiesenen Varianten at für α bzw. vat für va4° in der Konjugation der Verben avoir und aller. Auch De la Touche erwähnt diesen Gebrauch, weist ihn jedoch als eher hoforientierter Grammatiker in der Tradition von Vaugelas und Chiflet ganz anders als der praktische «Gebrauchsgrammatiker» Basforest (vgl. Greive 1992 und 1993) gleich in die Schranken (Beleg Nr. 107): Quelques Provinciaux qui parlent mal, disent, par exemple, il va tä l'Eglise, il α tun habit neuf, &c. Cette prononciation est tres vicieuse; jamais on n'insere de t qu'en interrogeant. (De la Touche 1696, 39)
Die Negativvarianten il va tä l'Eglise und il α tun habit neuf schreibt der Autor «schlecht» sprechenden Provinzlern zu; den Einschub eines Bindungs-ί gestattet er offenbar auschließlich im Falle der Subjekt-Verb-Inversion («jamais on n'interfere de t qu'en interrogeant»). Insgesamt scheint das in den beiden letzten Belegen beschriebene Phänomen von recht großer Verbreitung gewesen zu sein (vgl. Thurot 1883, 240-243).
4.2. Graphie Auf das Gebiet der Graphie entfallen insgesamt 37 Belege; bei einer Gesamtzahl von 474 Kontextbelegen entspricht dies einem Anteil von 7,78%. Allerdings darf dies nicht etwa als ein Hinweis auf die geringe Bedeutung der Graphie im Vergleich zur Aussprache verstanden werden. Vielmehr muß betont werden, daß die Gruppe der Graphiebelege nur diejenigen Belege umfaßt, deren Markierungen sich schwerpunktmäßig auf Fragen der (Recht-)Schreibung, der Diakritik oder der Verwendung weiterer nicht-alphabetischer Hilfszeichen beziehen. In den vorangegangenen Unterkapiteln ist jedoch deutlich geworden, daß eine große Anzahl der Belege zur Aussprache auch die Graphie betrifft, je nach Fall explizit oder implizit; 19 der 37 Graphiebelege des Korpus sind daher bereits bei der Untersuchung der Aussprachebelege in Kapitel 4.1. ergänzend in die Diskussion einbezogen worden; sie werden im Graphiekapitel nicht mehr berücksichtigt.
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Vgl. etwa Pillot 1550, 49v: «il va vel il vad»; möglicherweise kannte Basforest auch die Hypomneses de gall, lingva von Henri Estienne, vgl. etwa die folgenden Beispiele: «[...] praesertim verö in At & Vat. vt II at ouy : & II vat ou i'ay diet» (H. Estienne 1582, 73).
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Die verbleibenden 18 Belege, die sich ausschließlich mit Problemen der Graphie bzw. der Diakritik und der Verwendung nicht-graphischer Hilfszeichen beschäftigen und die nicht in direktem Zusammenhang mit einem der Phänomenbereiche des vorangegangenen Kapitels stehen, lassen sich alle dem komplexen Themenkreis der Orthographiereform zurechnen; sie verteilen sich der Frequenz nach wie folgt auf die behandelten Phänomenbereiche: Notation von Vokalen Notation von Konsonanten Verwendung nicht-alphabetischer Hilfszeichen Übersicht 2: Belegfrequenz
12 Belege 4 Belege 2 Belege
im Teilgebiet Graphie
4.2.1. Notation von Vokalen Ein umfassender Beleg aus dem 16. Jahrhundert betrifft die Entwicklung der Digramme (aa), (ae) und (ao) (Nr. 120): Mais ces trois-aa-ae-ao, ne sont-elles pas Francoises? Elles ne sont (selon aucuns) seulement dites impropres, & non Franfoises, mais abusiues; D'autant que-aage, baailler, & semblables auec deux-aa, sont mal escris; mais qu'vn seul marque de l'accent circonflex, ainsy-äge, bäiller, suffiroyt, ä demonstrer-l'a, estre tenu-lon, &-ouuert. Quant ä-äer, äesles, äerin, &c. ilz les veulent escrire selon leur prolation, comme-air, aisles, airin. Aussy en-paon, paonesse; & autres frappez de mesme coin; ilz reiectent-l'o, comme superflu; d'autant qu'on ne prononce sinon-pan, panesse, fan, &c. (Bosquet 1586, 15)
War der accent circonflexe in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch recht wenig in Gebrauch (vgl. Baddeley 1993, 31), so weist der Beleg doch bereits deutlich auf die steigende Bedeutung dieses diakritischen Zeichens in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hin. Bosquet nennt die Varianten baailer vs. bäiller und aage vs. äge, die jeweils mit beiden Graphien bis ins 18. Jahrhundert hinein belegt sind (s. Diet. hist, de Vorth, fr. 1995), läßt aber nur indirekt {selon aucuns) eine dianormative Ablehnung der Varianten mit doppeltem Vokalgraphem erkennen {non Francoises, abusiues, mal escris). Diese generell bei Bosquet erkennbare Zurückhaltung bei normativen Urteilen hinsichtlich graphischer Schwankungen muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß der Übergang zwischen orthographe ancienne und orthographe nouvelle41 in mehreren Stufen verlief und als ein Übergang zwischen jeweils «differents systemes d'orthographe en usage» 41
Z u dieser Terminologie s. Baddeley 1993, 19; die Begriffe » (Recherche, vol. 2, 21), doch dieser isolierte Beleg kann kaum als repräsentativ für die Realität des sprachlichen Diasystems gelten (vgl. auch Englebert 1992, 142). Den Gebrauch von de und des als unbestimmtem oder partitivem A r tikel kommentiert De la Touche im folgenden Beleg (Nr. 17): Les Gascons mettent ordinairement des pour de, & ils disent, Voila des savans hommes, j'ai veu des belles femmes, &c. Iis doivent bien prendre garde ä cela. (De la Touche 1696, 174t)
Der diatopisch-dianormative (Typ a) Hinweis (Les Gascons mettent ordinairement des pour de) schreibt die Verwendung von de anstelle des amalgamierten des bei einem Substantiv mit voranstehendem Adjektiv wiederum den Gaskognern zu. Die diatopische Zuordnung scheint dabei unter philologischem Blickwinkel auch hier etwas weit hergeholt; zwar weist D e la Touche an anderer Stelle darauf hin, daß Gaskogner die «monosylabes me, te, se, ce, le, que, de, ne» aussprächen «comme s'il y avoit, me, ti, se, &c.» (Beleg Nr. 108) - auf den möglichen Interferenzzusammenhang mit dem gaskognischen ke «enonciatif» wurde bereits hingewiesen (vgl. Kapitel 4.1.1.4.) - , doch eine genauere Überprüfung des genannten Phänomens führt weit über dieses phonetische Kriterium und die Gascogne hinaus. Tatsächlich ist die Schwankung zwischen einfachem partitiven de und vollem partitiven des vor Adj. + Subst. trotz zahlreicher Normierungsversuche seitens der Grammatiker des 17. Jahrhunderts vom 16. Jahrhundert bis heute durchgehend und ohne ernstzunehmende diatopische Einschränkungen belegt (vgl. Sancier-Chateau 1993b, 23, Englebert 1992, 174, HLF 111:2, 433, und Harmer 1979, 244t, 271-278). Konnte Harmer (1979, 273-276) allerdings für das 17. Jahrhundert ein Überwiegen von de gegenüber des feststellen, so ist die Situation heute eher umgekehrt: Grevisse weist zwar noch auf die Standardregel (Konstruktionstypus «DE bons fruits») hin, beschränkt sie jedoch diamedial und diaphasisch auf den Bereich der «langue ecrite» sowie der «langue parlee de type soigne» und ergänzt: «Mais des [...] prevaut dans la langue parlee et se repand dans la langue ecrite» (Grevisse I 3 i993, § 569a). Ebenso wie Grevisse geben auch Wagner/Pinchon ( 4 i99i, 99) und Hanse ( 3 i994, 97) eine diamediale Begründung für die Distribution der Varianten de und des·, sie unterscheiden sich damit grundsätzlich von der Auffassung Gamillschegs (1957, 83), der semantisch-satzperspektivische Unterschiede anführt {de bei Fokussierung des voranstehenden ipithete, des bei Fokussierung des Substantivs). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Überlagerung der Variante de durch des im modernen Französisch (vgl. auch Müller 1975, 90
4i, und 1985, 60) wirkt eine satzsemantische Begründung ohne den Nachweis entweder eines Funktionsausfalls für de oder aber der Übernahme des entsprechenden semantischen Inhalts durch andere Versprachlichungsstrategien allerdings nicht mehr überzeugend (vgl. Englebert 1992, I74) 6 . 5.1.2. Pronominalsystem Das komplexe Gebiet des französischen Pronominalsystems betreffen 56 der insgesamt 69 Belege zum Bereich Determination und Repräsentation. Als zum Pronominalsystem gehörig werden dabei sowohl Klitikum als auch syntaktisch autonome Vollform (zur Problematik der Terminologie und ihrer Tradition s. Hunnius 1990, 62f., Kaiser 1992, 1 5 - 1 9 , und besonders Krenn 1995, ißiff.) der bekannten Doppelreihen pronom personnel conjoint/disjoint, adjectif'/pronom demonstratif adjectiflpronom possessif, adjectiflpronom relatif, adjectifl pronom indifini und adjectifl pronom interrogatif betrachtet. 5.1.2.1. Personalpronomina 11 Belege befassen sich mit klitischen und syntaktisch autonomen Formen des Personalpronomens; 8 Belege entfallen dabei auf Subjektpronomina, die restlichen 3 Belege auf Objektpronomina. Mit den syntaktisch autonomen Subjektpronomina der 1. und 2. Person des Singular sowie ihrer Abgrenzung von den entsprechenden klitischen Formen befaßt sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Du Vivier (Beleg Nr. 362): Item Moy, & Toy, werden gebraucht / im fragen / antworten und verwundern / als. Quy respondra? wer sol antworten. Antwort / Moy, und nicht le, es sey dann das ir sagt, le respondray. ich sol antworten. ( D u Vivier 1568, 2 7 )
Der Autor hebt dianormativ (Typ c) die «korrekte» Verwendung der betonten Pronomina Moy bzw. toy als syntaktisch autonome Kategorie im Kontext der deiktisch geprägten Antwort auf eine hervor; die Verwendung der klitischen Form le in dieser Position schließt er ausdrücklich aus. Die Motivation für diese Markierung und der mit ihr einhergehenden Abgrenzung läßt sich ganz offensichtlich zunächst einmal im didaktisch-kontrastiven Bereich festlegen: Vor dem Hintergrund des deutschen «einreihigen» Pronominalsystems muß eine Grammatik, die sich vorwiegend an die Söhne deutscher Kaufleute richtet (vgl. Caravolas 1994, vol. 1, 151), die französische Doppelreihe der pronoms conjoints und pronoms disjoints mit ihren komplementären Funktionen klar erläu6
Einen kurzen Überblick über die Forschungslage zum Thema «de oder des vor pluralischem Adjektiv» gibt Krassin 1994, 9 9 - 1 0 6 .
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tern und «betonte» von «unbetonten» Formen abgrenzen; es ist naheliegend, die Negativvariante Ie (anstelle von Moy) im genannten Kontext als ein von Du Vivier an deutschsprachigen Lernern beobachtetes Interferenzphänomen zu interpretieren. Darüber hinaus kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß sich die von Du Vivier vorgenommene dianormative Abgrenzung auch auf das Auftreten von afr. gii, jo und je in betonter Stellung, d. h. mit einer größeren syntaktischen Autonomie, als dies in späterer Zeit der Fall ist, bezieht (vgl. Wolf/Hupka 1981, i2of., Kaiser 1992, 152, und Sancier-Chateau 1993b, 40); in diesem Fall müßte man sich allerdings zum einen fragen, warum Du Vivier die Markierung nicht zusätzlich mit einem diachronischen Kommentar versehen hat, und zum anderen wohl auch, an wen sich eine solche Information überhaupt richten könnte, da bei den Söhnen deutscher Kaufleute nicht unbedingt eine Kenntnis altfranzösischer Texte oder nur ein Interesse für derlei «Bildungsballast» anzunehmen ist. Ein Hinweis auf die Problematik der Unterscheidung von Klitikum und syntaktisch autonomer Form für französischlernende Ausländer findet sich auch im folgenden Beleg aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert (Beleg Nr. 379): Les Etrangers qui commencent ä aprendre la Langue disent ordinairement, Moi parle, toi paries, lui parle; Eux parlent. &c. au lieu de, Je parle, tu paries & c. ils doivent bien prendre garde ä cela. (De la Touche 1696, 203f.)
D e la Touche markiert die Verwendung der syntaktisch autonomen Formen moi, toi, lui und eux als Subjektpronomen im verbalen Syntagma dianormativ (Typ b) als lernersprachliches Phänomen 7 ; wie bereits im vorher untersuchten Beleg von Du Vivier ist auch hier diese Charakterisierung durchaus plausibel, da sich D e la Touche ebenfalls an ein germanophones Zielpublikum wendet, dem die französischen Doppelreihen fremd sind. Nicht nachprüfbar, aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist eine weitere These für das Zustandekommen von Negatiwarianten wie moi parle, toi paries etc.: Die Interpretation dieser Formen als , d.h. als Elemente eines simplifizierten Sprechverhaltens von natives gegenüber Ausländern (vgl. hierzu Cook 1993, 56), würde durch die im Beleg vorgenommene Zuordnung durchaus gestützt; Studierende von D e la Touche könnten einen solchermaßen beeinflußten
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Cook (1993, 69) weist auf interessante Parallelen zwischen intersprachlichen Phänomenen des L2-Erwerbsprozesses und Charakteristika von Kreolsprachen hin; für das im Beleg genannte L2-orientierte Beispiel der Aufgabe der Doppelreihung im Pronominalsystem zugunsten der «stärkeren», d.h. syntaktisch autonomen Form finden sich entsprechende Li-Parallelen beispielsweise im französischbasierten Kreolischen Haitis mit Formen wie mwen ραΐέ «je parle», mwen mangi «je mange» etc. und im nordamerikanischen cadien mit etwa eux les vend pour vingt-huit trente piastres (vgl. Stäbler 1995, 91).
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Sprachgebrauch etwa nach einem Frankreichaufenthalt in den Französischunterricht am Heimatort eingebracht haben. Um Besonderheiten bei der Verwendung des klitischen Pronomens innerhalb des verbalen Syntagmas geht es auch in weiteren Belegen: In Beleg Nr. 364 aus dem 16. Jahrhundert kommentiert Bosquet diaphasisch-diafrequent (parlant l'inferieur ά son superieur (ou ävn seul personnage, en familiere reuerence, ou respect) le commun vsage du parier Frangois, vie du Pronom-vous) die diaphasische Distribution der klitischen Formen vous und tu\ Chiflet äußert sich in Beleg Nr. 377 dianormativdiaevaluativ ablehnend (cela auroit mauuaise grace) hinsichtlich der Verwendung von Von in beispielsweise einem Ausdruck wie lä l'on vit. In komplexerer Form kommentiert Chiflet die Ellipse des Subjektpronomens vous im Verbalsyntagma von mit que eingeleiteten Nebensätzen (Beleg Nr. 367): Le desir qu'auez de me voir: Les lettres que m'auez escrites; & autres semblables antiquailles, ne sont plus en vsage. II faut exprimer ces pronoms personnels, & dire, le desir que vous auez &c. (Chiflet 1659, 40)
Die dianormative (Typ a) Ablehnung der Negativvarianten Le desir qu'auez de me voir: Les lettres que m'auez escrites ist diachronisch-diafrequent durch ihre Markierung als nicht mehr in Gebrauch befindliche «antiquierte» Formen (& autres semblables antiquailles, ne sont plus en vsage) begründet. Die Möglichkeit der Ellipse des klitischen Pronomens im Verbalsyntagma ergibt sich aus dem pro-drop- oder Null-Subjekt-Charakter des Altfranzösischen (vgl. Kaiser 1992, 153) und ist bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bei Autoren und Grammatikern teils akzeptiert, teils abgelehnt (s. Haase 51965, 13t, und Sancier-Chateau 1993b, 40). Der dianormative Hinweis Chiflets deutet auf den Wandel in der Grammatikerbewertung des Phänomens zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hin (ebenso der dianormative Marker barbarisme in Beleg Nr. 407 von D e la Touche); das Klitikum wird im Verbalsyntagma nun durchgängig als obligatorisch 8 dargestellt, und seine Auslassung gilt als «style burlesque ou marotique» ( H L F 111:2, 478). Der diafrequent-diachronische Marker ne sont plus en vsage jedoch kann wohl kaum als deskriptiver Kommentar einer Ist-Norm verstanden werden; die Belegfrequenz dieses Phänomens ist noch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein so hoch (s. z.B. Spillebout 1985, 1 4 3 145; zum Auftreten dieses Phänomens im Sprachgebrauch des Dauphin 8
Zur Verurteilung der Ellipse von il in unpersönlichen Ausdrücken s. auch Beleg Nr. 376 von Chiflet; die diatopische Zuordnung (comme parlent les Prouenςaux) kann aufgrund der bereits erwähnten großen - im übrigen auch bis heute belegten (s. etwa Prüßmann-Zemper 1990, 837) - Verbreitung des Phänomens allerdings nur in dem Maße als philologisch begründet gelten, daß die Ellipse im Süden unter dem Einfluß des okzitanischen Substrats besonders häufig auftritt (s. Steinmeyer 1979, 211).
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und späteren Louis XIII vgl. auch Ernst 1985, 70), daß der Hinweis vielmehr als Formulierung einer Soll-Norm anzusehen ist. Die Möglichkeit der Ellipse des Subjektpronomens im Verbalsyntagma hat sich bis heute in substandardorientierten Wendungen wie sais pas, connais pas oder m'en fous erhalten (s. Steinmeyer 1979, 210). Zur pleonastischen Verwendung der klitischen Subjektpronomen der dritten Personen äußert sich D e la Touche im folgenden Beleg (Beleg Nr. 380): Iis [Les Etrangers] font assez souvent une autre faute, qui est de mettre le pronom de la troisieme personne, lors qu'il y a deja un Nominatif. Iis disent, par exemple, Le Roi il est brave, la Reine eile est venüe, nos amis ils viendront, &c. II, eile, ils, elles, sont superflus dans ces endroits-lä, & on ne les met avec un autre Nominatif, que lors qu'on interroge, comme on le va voir tout presentement. (De la Touche 1696, 204)
Häufig belegt ist der pleonastische Gebrauch der genannten Pronomen für zwei nicht ganz mit der Beschreibung von De la Touche übereinstimmende Kontexte: das Subjekt steht weit links vom Verb und wird neu aufgegriffen, oder ein mit einem Indefinit- oder Relativpronomen begonnener Relativsatz wird vor dem Verb neu aufgegriffen (vgl. Haase 5 1965, 8ff., Sancier-Chateau 1993b, 41, Spillebout 1985, 145t.); für die von De la Touche dianormativ (Typ b) abgelehnten Negativvarianten Le Roi il est brave und la Reine eile est venüe bzw. den beschriebenen Konstruktionstypus finden sich im 17. Jahrhundert keine weiteren Belege. Die Motivation für die Bewertung des Phänomens als lernersprachliche Fehlleistung ist ebenfalls nur schwer zu erkennen; die Erklärung der Konstruktionen als interferenzgeleitete Analogbildung vor dem Hintergrund der Ausgangssprachen der von D e la Touche angesprochenen germanophonen Französischlernenden scheint nicht überzeugend. Viel näher liegt eine Interpretation der Negativvarianten als segmentierte Sätze im Sinne einer linksgerichteten Aktantenprojektion mit syntaktischer Isolierung eines Aktanten, der im Satzrahmen durch ein Pronomen vertreten wird (zur Definition des Phänomens im gesprochenen Französisch der Gegenwart s. Honnigfort 1993, 7 1 - 8 7 , Krassin 1994, 3 1 40, und allgemeiner auch Hunnius 1995); das Phänomen ist bereits für das Altfranzösische dokumentiert (vgl. Priestley 1950) und findet im 17. Jahrhundert häufig Verwendung (zum Auftreten dieses Konstruktionstypus etwa im Sprachgebrauch des Dauphin und späteren Louis XIII s. Ernst 1985, 92f., und Prüßmann-Zemper 1986, 1 7 4 - 1 7 7 ) . Erstaunlich ist allerdings, daß der ansonsten aufmerksame Beobachter D e la Touche dieses Phänomen, anzutreffen vermutlich auch im 17. Jahrhundert überwiegend in informellen und mündlich geprägten Kontexten (zur Mündlichkeit des Phänomens im Gegenwartsfranzösischen s. z.B. Söll 21985, 148-158, und Hunnius 1995), in seiner diasystematischen Distribution offenbar vollkommen fehldeutet.
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Die Verwendung des syntaktisch autonomen Subjektpronomens moi als Objektpronomen vor dem Infinitiv kommentiert D e la Touche im folgenden Beleg (Nr. 381): Lors que le Verbe qui est ä l'Imperatif, est neutre, & qu'il suit un autre verbe ä l'Infinitif, il faut se servir de me & te, & non pas de moi & toi. On doit dire, par exemple, Venez me voir, va te pendre, & non pas, Venez moi voir, va toi pendre, &c. parce que ces pronoms ne sont pas gouvernes par les verbes neutres, venir & aller, mais par les actifs voir & pendre. (De la Touche 1696, 210)
A l s lernersprachliches Phänomen wären die dianormativ (Typ c) markierten Negatiwarianten Venez moi voir und va toi pendre ohne große Schwierigkeiten erklärbar: Die weiter oben bereits erwähnten Probleme germanophoner Sprecher mit der Komplexität des französischen Pronominalsystems lassen derartige Schwankungen als durchaus plausibel erscheinen 9 . Für den Grenzbereich zwischen L i und L2 im elsässischen Französisch sind sie in der phrase imperative negative (pousse-moi pas, regarde-moi pas comme ςα) belegt (s. Wolf 1983a, 191). Ernst (1985, 70) weist die Schwankung zwischen moi und me in der genannten Position jedoch auch im Sprachgebrauch des Dauphin und späteren Louis XIII nach (15.11.05: vene moi endomi)\ D e Kok (1985, 329t) nennt weitere Beispiele aus der Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Die Verwendung des betonten Pronomens moi vor dem Infinitiv ist jedoch vor allem für das Altfranzösische belegt (vgl. Menard 4 i994, 6if., Rheinfelder 1967, 99, und Wolf/Hupka 1981, 162). Möglicherweise hat De la Touche Relikte derartiger älterer Konstruktionen noch beobachten und als Negativvarianten in seine Grammatik einarbeiten können; allerdings ist erstaunlich, daß der ausgesprochen analytisch veranlagte Beobachter seiner Erklärung des Phänomens keinen diachronischen oder gegebenfalls diatopischen Hinweis hinzufügt und daß der Konstruktionstypus bei anderen Grammatikern des 16. bis 18. Jahrhunderts weitgehend unerwähnt bleibt. Vielleicht liegt aber auch D e la Touche selbst mit seiner Erklärung für diesen «Fehler» (parce que ces pronoms ne sont pas gouvernes par les verbes neutres, venir & aller, mais par les actifs voir & pendre) nicht ganz falsch: Die Schwankung bei der Verwendung des Pronomens ist unter Umständen tatsächlich durch eine irregeleitete Rektionsinterpretation zu erklären, hervorgerufen durch die Verwendung zweier Verben mit unterschiedlicher Valenz und verstärkt durch die oben bereits erwähnte Tendenz zur Verwendung des «stärkeren» Pronomens in Zweifelsfällen; der Sprecher der von D e la
9
Vgl. aus der Gruppe der Syntaxbelege auch die Belege Nr. 445 und Nr. 451 von D e la Touche zu den Negativvarianten Iis donnent ά moy, je donne ά lui, II voit moi, je regarde vous etc. bzw. II me passa par dessus, II lui vint au devant und Elle s'en est fait pour cent pistoles, die der Autor französischlernenden Ausländern (Beleg Nr. 445) und den Gaskognern (Beleg Nr. 451) zuschreibt.
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Touche abgelehnten Negativvariante Venez moi voir beispielsweise hätte in diesem Fall das intransitive bzw. einwertige Verb venir irrtümlich möglicherweise analog zu einer Konstruktion wie etwa fais-moi dormir als transitiv indirekte bzw. zweiwertige Konstruktion interpretiert und das nachfolgende normalerweise transitiv direkt angeschlossene zweiwertige Verb voir nicht als solches erkannt. Eine solche Erklärung könnte als gleichermaßen gültig für den Li-Erwerbsprozeß des kleinen Dauphin und den L2-Erwerbsprozeß 10 des von De la Touche anvisierten germanophonen Zielpublikums betrachtet werden. Auch im Zusammenhang mit den tatsächlichen Objektpronomina zeigen sich Schwankungen: De la Touche verurteilt dianormativ (Typ c) die Verwendung der syntaktisch autonomen Formen lui und eux anstelle von le bzw. V und les zum Referieren auf unbelebte Gegenständen in Syntagmen wie ce l'est oder ce les sont (als Antwort auf die Fragen Est ce lä votre coüteau? Sont-ce Ιά vos gans?\ s. Beleg Nr. 382); die hier von De la Touche aufgeworfene Frage nach der «Korrektheit» der Negativvarianten C'est lui bzw. Ce sont eux findet ihre moderne Entsprechung in der Suche von Grammatikern der generativen Richtung nach «Grammatikalitätsurteilen» hinsichtlich einer Konstruktion wie ses livres, il ne pense plus ά eux (vgl. Kayne 1975, 86, und Kaiser 1992, 90). Chiflet beschäftigt sich mit einem Standardfall der Instabilität im französischen Pronominalsystem der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Beleg Nr. 368): On ne dit plus soy au plurier; mais eux, ou elles: comme; Ces gents Ιά se flattent eux mesmes: & non pas, se flattent soy mesmes. (Chiflet 1659, 39f.)
Die Konkurrenz zwischen soi einerseits und lui/elle bzw. eux/elles andererseits in der Verwendung als «pronom personnel reflechi» ist für das 17. Jahrhundert umfangreich dokumentiert (s. Haase 5 i965, 29-32, De Kok 1985, 293, Spillebout 1985, 1 4 7 - 1 4 9 , Sancier-Chateau 1993b, 45f.). Die diachronisch-dianormative (Typ a) Markierung weist jedoch darauf hin, daß das Referieren auf ein determiniertes pluralisches Subjekt mittels soi bereits zur Mitte des 17. Jahrhunderts als veraltet galt und abgelehnt wurde (vgl. auch Vaugelas 1647, i66f. und 574f.). Die von Chiflet ausdrücklich befürwortete Variante Ces gens Ιά se flattent eux mesmes läßt bereits die Normauffassung erkennen, die auch heute noch in neueren normativ ausgerichteten Gebrauchsgrammatiken zu finden ist: «II est anormal d'employer soi ou soi-meme pour renvoyer ä un sujet pluriel comme ceux qui. On dira: Ceux qui ne pensent qu'a eux ou qu'ä euxmemes» (Hanse 3 i994, 825).
10
Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten von L i - und L2-Erwerbsprozeß s. Cook 1993, 6 5 - 6 8 , und Edmonson/House 1993, 1 4 1 - 1 6 2 .
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5-1.2.2. Demonstrativa 15 Belege entfallen auf klitische und syntaktisch autonome Demonstrativa. Aufgrund ihrer Herkunft aus dem Mittelfranzösischen - die Ausbildung der Unterscheidung zwischen «toniques pronominales» und «atones determinantes» gilt erst ab etwa 1630 als abgeschlossen (s. Sancier-Chateau 1993b, 27f.) - nehmen die Formen iceluy, icelle, iceux und icelies mit prothetischem i-initial eine Mittelstellung zwischen klitischen und syntaktisch autonomen Demonstrativa ein. Chiflet äußert sich zu diesen Formen folgendermaßen (Beleg Nr. 371): Ie n'ay point fait icy de mention de ces vieux mots, iceluy, icelle, iceux, icelies; parce qu'il [sie] sont tout ä fait bannis du bon langage, & ne se trouuent plus que dans le stile des Notaires. (Chiflet 1659, 48)
Chiflets diachronische (vieux mots), dianormative (Typ a; sont tout ά fait bannis du bon langage) und diatextuelle (ne se trouuent plus que dans le stile des Notaires) Charakterisierung der Varianten iceluy, icelle, iceux und icelies kann für die Mitte des 17. Jahrhunderts durchaus als zutreffend gelten (als weiteren diachronisch markierten Beleg zu diesem Phänomen vgl. auch Nr. 399 von D e la Touche); D e e s (1971) bestätigt diese Einschätzung, weist jedoch darauf hin, daß die genannten Formen bereits seit ihrem A u f k o m m e n im 14. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Distribution sehr eng begrenzt waren und als ein eigenes «systeme de formes solennelles» mit dem «systeme de formes courantes» koexistierten: «S'il est vrai que ces formes lourdes sont caracteristiques de la langue ecrite et du style administratif, il est necessaire de ne pas les confondre avec les demonstratifs de la langue courante» (Dees 1971, 146). Möglicherweise hat sich der Gebrauch dieser Formen in begrenztem Umfang bis ins 18. Jahrhundert hinein halten können, auf jeden Fall aber glaubt Perger noch auf sie hinweisen zu müssen (Beleg Nr. 409): Icelui, iceux, icelle, icelies, derselbige und dieselbige, werden mit dem Articulo indefinito declinirt, aber sie seynd nicht viel mehr im gebrauch, sondern celui, ceux, celle, Celles, an ihre stelle. (Perger 1727, 38)
Perger beschränkt sich jedoch auf einen diachronisch-diafrequenten Kommentar (sie seynd nicht viel mehr im gebrauch) ohne weitere G e brauchsspezifizierung; ob dieser Einschätzung tatsächlich ein begrenzter Gebrauch in der sprachlichen Realität gegenübersteht oder ob sie lediglich als Übernahme bzw. Übersetzung aus einer älteren Grammatik zu werten ist, müßte anhand von Verwaltungstexten, Gesetzestexten etc. aus dem entsprechenden Zeitraum überprüft werden. PRob. (1995) markiert icelui, icelle, iceux und icelies für den heutigen Gebrauch als «vx o u PLAISANT» (vieux ou plaisant), es scheint jedoch tatsächlich, als ob die Formen noch bis in das 20. Jahrhundert hinein in schriftlich-formell-administrativ geprägten Kontexten Verwendung finden (vgl. Haase 51965, 44).
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Mit den «pronoms demonstratifs» cettuy/cette vs. celuy/celle beschäftigt sich Chiflet im folgenden Teilbeleg (Nr. 369a): Mais ces Pronoms, cettuy-cy, cette-cy, cettuy-Ιά, cette-Ιά, ne sont plus guere en vsage; & l'on se sert de celuy-cy, celuy-lä, celle-cy, celle-Ιά. (Chiflet 1659, 40)
Die diachronisch-diafrequente Markierung (ne sont plus guere en vsage) der Negativvarianten cettuy-cy, cette-cy, cettuy-lä und cette-Ιά muß vor dem Hintergrund der altfranzösischen morphologischen Serien eist (aus lat. ECCE ISTE) und eil (aus lat. ECCE ILLE) gesehen werden: Das Prinzip «CIST = proximite : CIL = eloignement» (Dees 1971, 155) findet zur Mitte des 14. Jahrhunderts mit den Formen cestui vs. celui bzw. ceste vs. cele seine mittelfranzösische Fortsetzung; diese semantischen Oppositionen verblassen jedoch im Laufe des 15. Jahrhunderts in zunehmendem Maße, und die Funktionen proximiteliloignement gehen auf die nachgesetzten Adverbien -ci und -Ιά über (s. Dees 1971, 155). Die so entstehende Konkurrenz zwischen den redundanten Serien cestui-cil-Ιά und celui-cU-la bzw. ceste-cülä und cele-cil-Ιά wird im 17. Jahrhundert durch eindeutige Grammatikerkommentare zugunsten der Formen celui bzw. celle beeinflußt 11 (s. zusätzlich zum oben genannten Beleg auch die Belege Nr. 378 von Duez und Nr. 390 von D e la Touche; zur komplexen Grammatikerdiskussion um das Phänomen s. Demaiziere 1983, 679-682, für das 16. und Haase 51965, 43-46, für das 17. Jahrhundert), findet jedoch bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein Erwähnung (s. Beleg Nr. 408 von Perger). In vereinzelten Fällen finden sich im 17. Jahrhundert Hinweise auf einen komplementären Gebrauch von cettuy-cy und celuy-la als Anaphorika, die in einem Kontext mit zwei Referenzobjekten jeweils auf das letztgenannte (cettuy-cy) bzw. das erstgenannte (celuy-la) referieren (vgl. etwa Duez 1669, 141). Die Schwankung zwischen ce und cela in syntaktisch autonomer Position steht im Mittelpunkt eines weiteren Chiflet-Belegs zu den Demonstrativpronomen (Nr. 370): Les vsages suiuants de Ce, ne valent plus rien; Α cause de ce; Non content de ce; Sur ce il luy dit. Et pour ce. Outre ce. Pour ce faire. Ce faisant. Ce dit il &c. Mais il faut dire, Α cause de cela: Non content de cela: Sur cela il luy dit: Et pour cela: Outre cela: Pour faire cela: Faisant cela: Dit il &c. (Chiflet 1659, 43)
Die von Chiflet diachronisch-dianormativ (Typ a; ne valent plus rien) markierten Negativvarianten sind häufig belegt (vgl. Sancier-Chateau 1993b, 53f., und Spillebout 1985, 7of.) und lassen sich darauf zurückführen, daß ce in derartigen Kontexten seine syntaktische Autonomie bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert bewahren und über diesen Zeitpunkt hinaus in 11
Der kleine Dauphin empfindet zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch die Variante cestuy cy als «richtig» und kritisiert den abweichenden Sprachgebrauch einer Person seiner Umgebung (s. Ernst 1985, 73t)
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weitgehend lexikalisierten Wendungen fixieren konnte (s. Berschin/Felixb e r g e r / G o e b l 1978, I28f., u n d S a n c i e r - C h a t e a u 1993b, 53). Z u r M i t t e d e s
17. Jahrhunderts bezeichnet Vaugelas Wendungen wie a ce faire oder en ce faisant dementsprechend zwar noch als «commode» (Vaugelas 1647, 310), wird in seiner grundsätzlichen Ablehnung dieser Varianten aber durch die Bewertungen von Chiflet und weiterer Grammatiker der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gestützt (s. etwa die Belege Nr. 396 und Nr. 398 von D e la Touche) 12 . Die Situation im heutigen gesprochenen Französisch ist durch die eindeutig größere Intension von cela gegenüber ce g e k e n n z e i c h n e t (s. M a n o l i u - M a n e a 1990, 99). G r e v i s s e ( I 3 i993, § 676b/
c) läßt einige der Konstruktionen mit ce als «formules stereotypes» zu (ce disant, ce faisant, pour ce faire, sur ce), andere empfindet er als «archäique» bzw. «vieillie» (ce dit-on, pour ce). Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß die dem Pronomen nachgestellten Adverbien -ci und -Ιά die semantischen Funktionen proximitü eloignement der altfranzösischen morphologischen Serien eist und eil übernommen haben. Die Konkurrenz zwischen zusammengesetzten (celui-cil-Ιά etc.) und einfachen (celui, celle etc.) Formen besteht auch insofern, als noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts jeweils beide Varianten auch durch einen Relativsatz determiniert werden können (vgl. SancierChateau 1993b, 56; zu celui-Ιά mit einer nachfolgenden durch de eingeleiteten präpositionalen Ergänzung s. Beleg Nr. 391). Dieses Phänomen greifen Basforest in der ersten Hälfte und D e la Touche in der ausgehenden zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf (Belege Nr. 365 und Nr. 392): Wan du recht sprechen wilst / hindersetzt Ime nimmer ci, noch la: dan sie seind aduerbia, bedeutent eine sichere platz: D e r o w e g e n wurdestu unrecht Frantzösisch reden / wann du sagtes / celuy la est homme de biert, qui &c. D a n man muß sagen; celuy est homme &c. (Basforest 1624, 47) O n ne met point aussi le relatif qui immediatement apres ces Pronoms. II faut dire, par exemple, Celui qui veut etre heureux; ceux que vous demandez, &c. & non pas, celui-la qui, ceux-Ιά que, [...]. ( D e la Touche 1696, 217)
Die dianormative (Typ c) Ablehnung (wurdestu unrecht Frantzösisch reden, on ne met point, II faut dire) der Negativvarianten celuy la est homme de bien qui und celui-lä qui veut etre heureux in beiden Beispielen läßt vermuten, daß dieser Gebrauch über die gesamte Dauer des 17. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt haben muß - tatsächlich nennt Haase (5i905, 45-47) für beide Konstruktionstypen Beispiele 1 3 - , jedoch auch 12
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Z u ce in der Konstruktion quoy que c'en soit anstelle von quoy qu'il en soit s. Beleg Nr. 375 von Chiflet. Z u r Verwendung von Ce que antelle von si s. B e l e g Nr. 395 von D e la Touche. Selbst der strenge Jesuit Chiflet hat nichts gegen diesen G e b r a u c h einzuwenden; in B e l e g Nr. 433 verwendet er unkommentiert celuy-Ιά und kritisiert lediglich hinsichtlich der Satzgliedstellung den versetzten Anschluß des Relativsatzes.
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bereits sehr früh kritisiert und als «unrecht Frantzösisch» dargestellt wurde. Die Bewertung der Verwendung einer Konstruktion wie celui-lä qui scheint bis heute Probleme zu bereiten. Grundsätzlich eher dianormativ-ablehnend klingt beispielsweise Hanse ( 3 i994, 203) im ersten Teil seiner Einschätzung des Phänomens: «On entend parfois substituer sans raison Celui-Ιά qui ä celui qui: Celui-lä qui l'a dit ferait bien de l'avouer»; doch im Anschluß daran findet der erstaunte Leser ein offensichtlich widerwilliges «C'est admis», gefolgt von der diamedial-diaphasisch-diatextuell blumigen Eingrenzung «Mais la langue litteraire dit, en separant celui-Ιά de qui: Celui-Ιά sera puni qui... Apres c'est on emploie tres bien celui-lä qui: C'est celui-lä qui l'a dit». Dianormativ (Typ c) weist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Du Vivier auf die korrekte Stellung des Adverbs ci nach dem durch ein klitisches Pronomen («adjectif demonstratio) referierten Substantiv hin (Beleg Nr. 363: Ce liure cy,..., und nit/Ce cy liure). Diese Gegenüberstellung ist wohl als ein impliziter Versuch der Abgrenzung zwischen klitischer Form (ce ... cy) und syntaktisch autonomer Form (cecy, celuy-cy etc.) zu verstehen und damit als ein weiterer Hinweis auf die Probleme germanophoner Lerner im Umgang mit dem zweireihigen französischen Pronominalsystem. Allerdings darf dabei nicht die bereits erwähnte Tatsache vergessen werden, daß sich das zweireihige Pronominalsystem zu diesem Zeitpunkt noch im Frühstadium seiner Entwicklung befindet; vor diesem Hintergrund ist eine weitergehende Behandlung der Problematik von einem Grammatiker des 16. Jahrhunderts nicht unbedingt zu erwarten. Chiflet hat mit dem nachgestellten -cy bei dem klitischen Pronomen ce(t) ebenfalls Schwierigkeiten (Teilbeleg Nr. 369b): En parlant, on dit cet komme icy, plustot que cet homme-cy. Mais en escriuant, on ne sert ny de l'vn, ny de l'autre; & l'on se contente de dire, cet komme, ce temps, ce royaume, cette annee. Toutefois on peut escrire, cet komme icy, ce temps icy, dans le stile comique, satyrique, ou burlesque, qui represente le stile populaire du langage familier. (Chiflet 1659, 40f.)
Der diamediale Hinweis (En parlant, en escriuant) schließt die Verwendung von cet homme-cy für die gesprochene und die geschriebene Sprache aus; in der gesprochenen Sprache läßt eine vorsichtige diafrequentdianormative Markierung (on dit..., plustot que ...) eine Präferenz des Autors für die Variante cet homme icy erkennen, die er unter bestimmten Umständen - die vielfach markierte Textstelle dans le stile comique, satyrique, ou burlesque, qui represente le Stile populaire du langage familier bewegt sich im kaum abgrenzbaren Umfeld von Diaphasik, Diastratik und Diatextualität - auch in der geschriebenen Sprache toleriert. Diese Bewertung muß als eher konservativ gelten, da die Variante mit icy im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in ihrer Distribution bereits eingeschränkt war (s. Spillebout 1985, 68f.), während sich für die «moderne» 100
Form mit nachgestelltem -cy eine größere Verbreitung annehmen läßt; Vaugelas kennzeichnet genauer als Chiflet die diatopisch-diastratische Distribution der beiden Varianten zur Mitte des 17. Jahrhunderts: Tout Paris dit, par exemple, cet homme-cy, ce temps-cy, cette annee-cy, mais la plus grand' part de la Cour dit, cet komme icy, ce temps icy, cette αηηέε icy, & trouue l'autre insupportable, comme reciproquement les Parisiens ne peuuent souffrir icy, au lieu de cy. Ce qu'il y a ä faire en cela, est ce me semble, de laisser le choix de l'vn ou de l'autre ä celuy qui parle [...]. (Vaugelas 1647, 366)
5.1.2.3. Possessiva 11 Belege 1 4 entfallen auf klitische und syntaktisch autonome Possessiva. Die Verwendung der «formes toniques» mien und sien als «veritables adjectifs qualificatifs precisant un rapport d'appartenance» (Spillebout 1985, 61) greift D e la Touche auf (Beleg Nr. 387): Les Pronoms Possessifs absolus ne se joignent jamais avec un substantif. Ainsi c'est mal parier de dire, par exemple, un mien ami, un sien frere, &c. il faut dire, un de mes amis, un de ses frires, &c. (De la Touche 1696, 216)
Die dianormative (Typ c) Markierung (c'est mal parier de dire, il faut dire) der Negativvarianten un mien ami und un sien frere brandmarkt einen sich aus dem Altfranzösischen (Typus ) herleitenden typischen Gebrauch des 16. Jahrhunderts, der sich auch im 17. Jahrhundert halten konnte I S (s. Berschin/Felixberger/Goebl 1978, 127, und SancierChateau 1993b, 25). Die adjektivisch-klitische Verwendung von mien und sien erlaubt die zusätzliche Voranstellung eines weiteren determinierenden Elementes (Demonstrativum, Indefinitum, Artikel, Numeral; vgl. Belegstellen bei Haase 51965, 35, und Spillebout 1985, 67) und ist mit der bereits erläuterten Instabilität bzw. der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung des Pronominalsystems hinsichtlich der Distribution von klitischen und syntaktisch autonomen Elementen zu erklären. Auch als «fonction attribut» können die genannten Formen auftreten, werden in dieser Verwendung von D e la Touche jedoch gleichermaßen dianormativ (Typ c) abgelehnt (Beleg Nr. 389): On ne dit point non plus, par exemple, Je cro'iois que ce livre fut mien; il disoit qu cette maison itoit sienne, &c. Dites, Je cro'iois que ce livre füt ä moi; il disoit que cette maison etoit ά lui, &c. (De la Touche 1696, 216)
Die aus den Negatiwarianten der letzten beiden Belege ersichtlichen Konstruktionstypen scheinen in so hohem Maße populär gewesen zu sein, 14
15
Beleg Nr. 388 von D e la Touche wurde bereits in Kapitel 5.1.1. in die Argumentation einbezogen. Z u en anstelle von son, sa, ses s. Beleg Nr. 386 von D e la Touche. Posner (1990, 339) weist darauf hin, daß dieser Konstruktionstypus im Unterschied zu den meisten anderen romanischen Sprachen im heutigen Französisch nur noch in «archaizing contexts» zu finden sei.
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daß sie in lexikalisierter Form bis heute - wenn auch mit eindeutig archaisierendem Parfüm - Verwendung finden (s. Wilmet 1990, 499t, und Sancier-Chateau 1993b, 25); des gleichen weisen allerdings bis heute praxisorientierte normative Grammatiker darauf hin - bisweilen sogar im Wortlaut identisch mit ihren Vorläufern daß sie diesen Gebrauch ablehnen: «Mais plutöt qu'wn mien ami, eile est mienne ou vötre, on dit: un de mes amis, eile est ά moi ou ά vous» (Hanse 3 1994, 41). Eine weitere für das 17. Jahrhundert häufig belegte Schwankung erwähnt Chiflet im folgenden Beleg (Nr. 366): Parlant de maladie, ou de blessure, ou de qualite interieure de quelque partie du corps, on n'use pas du pronom, mais de l'article defini: comme: La teste me fait mat; & non pas, comme disent les Allemands, Ma teste me fait mal. (Chiflet
1659, 16) Die Verwendung des klitischen Possessivums in der Negativvariante Μα teste me fait mal wird vom Autor dianormativ verurteilt; mit dem Hinweis auf die semantische Redundanz dieser Konstruktion wird das Beispiel in unveränderter Form und Bewertung durch die Jahrhunderte gereicht (s. Beleg Nr. 385 von D e la Touche und aus dem 18. Jahrhundert Beleg Nr. 410 von Verdun). Hanse (21994, 38) reiht sich zum ausgehenden 20. Jahrhundert unverdrossen in diese Tradition ein und spottet dianormativ: «II sera toujours ridicule de dire, avec avoir: [J'ai mal ä ma tete]. On dit: J'ai mal ά la tete [...]». Chiflets Bewertung der Negatiwariante als lernersprachliche Interferenzerscheinung («comme disent les Allemands») wird jedoch weder von D e la Touche (s. Beleg Nr. 385) noch von Verdun (s. Beleg Nr. 410) aufgegriffen; die Möglichkeit eines germanischen Interferenzeinflusses für einzelne der genannten Negativvarianten oder gar den gesamten Konstruktionstypus (Sancier-Chateau 1993b, 26) scheint allerdings in Anbetracht der Belegfrequenz des Phänomens in der französischen Literatur und Grammatikographie (vgl. Haase 5 i905, 33, Spillebout 1985, 64, und Sancier-Chateau 1993b, 26f.) sowie des geringen Grades an Idiomatizität der anzunehmenden deutschen Parallelkonstruktionen tatsächlich nicht unbedingt naheliegend. Auch die dianormativ abgelehnten Negatiwarianten Ma lettre que je vous ai ecrite und II faut laver ses mains aus den Belegen Nr. 383 und Nr. 384 von D e la Touche zur Verwendung des Possessivums vor einem Relativsatz und «ä la place d'un datif» (Haase 51965, 33) können hier illustrierend herangezogen werden; in beiden Fällen wären - entsprechend den Verhältnissen im Französischen - jeweils zwei deutsche Parallelkonstruktionen denkbar: Mein Brief, den ich Ihnen!Euch geschickt habe vs. Der Brief, den ich Ihnen!Euch geschickt habe und Man muß sich seine Hände waschen vs. Man muß sich die Hände waschen. In beiden Sprachen kann also von der Existenz einer nicht-redundanten Standardvariante und einer redundanten eher substandardorientierten Variante ausgegan102
gen werden, ohne daß sich eine Interferenzbeziehung zwingend als Erklärung anböte. Z u m Vergleich: Auf eine plausible lernersprachliche Interferenzbeziehung im Zusammenhang mit den genannten Negativvarianten weist etwa Palsgrave (1530, ιοητ) hin, der ausdrücklich frz. II me lava les mains mit engl. He wassheth my handes (Hervorhebung U. T.) kontrastiert und so das Auftreten der Negativvariante il lava mes mains bei englischsprachigen Französischlernern motiviert. Die diatechnisch-dianormative (Typ a) Verurteilung der Verwendung von la vötre anstelle von votre lettre in den Belegen Nr. 393 von D e la Touche (II n'y a que les Marchans qui, il faut dire) und Nr. 411 von Verdun (Sage ..., und nicht..., wie bey denen Kauffleuten gemein ist) kann bis heute als ein «Dauerbrenner» unter den normativen Grammatikerkommentaren gelten (vgl. HLFV 1:2, 1637). Auch Grevisse weist mit dem Zeichen 0 (für «mot, tour, etc. n'appartenant pas au franfais regulier») dianormativ darauf hin, welcher der beiden Varianten der Vorzug zu geben ist: «Dans la correspondance commerciale negligee, on ecrit parfois °la vötre pour votre lettre alors que le nom lettre n'a pas ete exprime anterieurement» (Grevisse I 3 i993, § 6646). Im Italienischen ist dieser Gebrauch ebenfalls belegt und hinsichtlich seiner Verwendung diasystematisch begrenzt; im Unterschied zum Französischen jedoch wird er in der italienischen Grammatikographie ohne dianormativ-ablehnende Markierungsanteile verzeichnet. Renzi beispielsweise markiert die entsprechende Konstruktion lediglich diatextuell-diaphasisch: «(l'uso e limitato alio stile epistolare, soprattutto burocratico): (72) H o ricevuto la tua/Sua in data ...» (Renzi 1988-1995, vol. 1, 616). 5.1.2.4. Relativpronomina Auf die Relativpronomina entfallen 12 Belege. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Unterscheidung zwischen belebtem und unbelebtem Referenzobjekt bzw. zwischen Referenzobjekten mit dem Merkmal [-menschlich] oder [+menschlich]. Chiflet äußert sich folgendermaßen (Beleg Nr. 372): Mais si vous parlez d'vn animal, ou d'vne chose inanimee; ce seroit vne faute de dire; le cheual ά qui i'ay donne du foirr, pour qui i'ay paye trente pistoles: la riuiere de qui nous auons parli. Car il faut dire, auquel i'ay άοηηέ du foin\ pour lequel i'ay paye trente pistoles; la riuiere de laquelle, ou, dont nous auons parle. (Chiflet 1659, 49f.)
Die dianormative (Typ c) Ablehnung (ce seroit vne faute de dire, car il faut dire) der Negativvarianten le cheval ά qui i'ay donne du foin, pour qui i'ay paye trente pistoles und la riuiere de qui nous auons parli reflektiert die Distribution der Pronomina, wie sie zur Mitte des 17. Jahrhunderts von Vaugelas in den Remarques fixiert wurde (ebenso die Belege Nr. 401 von D e la Touche und aus dem 18. Jahrhundert Nr. 416 von D u Fourc): qui als indirektes und präpositionales Objekt («au genitif, datif, & 103
ablatif, en l'vn & en l'autre nombre», Vaugelas 1647, 55) ist nur auf Personen zu beziehen, für choses inanimees und choses morales16 ist die Verwendung der Konstruktion kommt möglicherweise auch eine gewisse attributive Funktion zu, analog zu Konstruktionen wie tout malade qu'il estoit, tout afflige qu'il 136
estoit, die in den Remarques in diesem Kontext auch angeführt werden (s. Vaugelas 1647, 139). Das von Duez so genannte «ander Pauloplusquamperfectum» entpuppt sich schließlich als Beispiel für den von Ayres-Bennett definierten «usage principal des formes surcomposees» 54 : «L'usage principal des formes surcomposees se trouve dans une subordonnee temporelle qui marque l'anteriorite relativement ä une autre action elle-meme exprimee d'habitude dans la principale par la forme composee correspondante» (Ayres-Bennett 1994, i49f.) (Beleg Nr. 457): Das ander Pauloplusquamperfectum kompt nicht so offt vor als das erste / und wird nicht vil gebraucht in erzehlung einiger historie oder sache / die schon längst geschehen seyn / sondern meistentheils nur in gemeinen gesprachen und reden / da man etwas von einem erzehlet / das er nun erst gestern / heut / diese nacht / oder nicht längst gethan hat; und solches zwar mit den Adverbiis, welche bey dem ersten Pauloplusquamperfecto seind angedeutet worden / oder aber auch mit andern. Als / Quand il a eu desjune, il s'en est αΙΙέ, als er hat gefrüstückt gehabt / ist er weg gegangen. (Duez 1669, 295)
Das Passe surcompose markiert Duez diafrequent (kompt nicht so offt vor als das erste) und diaphasisch (sondern meistentheils nur in gemeinen gesprachen und reden), wobei der diaphasische Hinweis auf die Verwendung des Tempus in eher informellen Sprechsituationen sprachgeschichtlich möglicherweise als der erste dieser Art gelten kann (vgl. Ayres-Bennett 1994, 156); der Autor deutet den perfektiven Aspekt des Tempus an («da man etwas von einem erzehlet / das er nun erst gestern / heut / diese nacht / oder nicht längst gethan hat») - das zeitliche Abfolgeschema wird allerdings erst in den Beispielen ganz klar - und weist ausdrücklich darauf hin, daß sich die entsprechenden Formen nach denselben Zeitadverbien bzw. temporalen Konjunktionen finden wie das Passe anterieur. Der solchermaßen implizit vorhandene Hinweis auf die Ersetzung des Passe anterieur durch das Passe surcompose in der gesprochenen Sprache findet im folgenden Beleg von Verdun aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bestätigung (Beleg Nr. 462): Es gibt zwey Praeterita composita Indicativi, J'ai eu, und J'eus wan ein Supinum eines anderen Verbi darzu kommt, als J'eus icrit. [...] als Aussi-tot que j'eus hier icrit ma lettre, je vous l'envoyai, Aussi-tot que j'ai eu ce matin ecrit ma lettre, je vous l'ai envoyee. [...] J'ai eu ist mehr im Gebrauch / als J'eus. (Verdun 1737, 21 of.)
Der diafrequente Hinweis auf die höhere Frequenz der Passe surcompose-Form j'ai eu icrit gegenüber dem Passe anterieur j'eus icrit ist nur durch den anzunehmenden Bezug auf die Verhältnisse in der gesprochenen Sprache plausibel; «Dans la langue parlee, le passe surcompose remplace [...] le passe anterieur» (Grevisse I 3 i993, § 855). 54
Zu den verschiedenen Bezeichnungen (Terminologie und Begriffsgeschichte) für diese Tempusgruppe in den romanischen Sprachen s. auch Holtus 1995, 85ff.
137
Z u Frequenz und medienspezifischer Verwendung der beiden «Pauloplusquamperfecta» äußert sich Duez folgendermaßen (Beleg Nr. 455): O b wohl die Pauloplusquamperfecta von vilen nicht groß geachtet werden / so muß man sie gleichwohl nicht verwerffen / sondern ihre eigenschafft fleissig erforschen / weil sie auch vil / so wohl im reden / als in schrifften / gefunden und gebraucht werden; und insonderheit das erste / welches so offt vor kömpt / daß man in allen büchern exempeln darvon findet. (Duez 1669, 294)
Der Beleg berücksichtigt zwar vor allem das Passe anterieur, das «erste Pauloplusquamperfectum» («[...] und insonderheit das erste / welches so offt vor kömpt / daß man in allen büchern exempeln darvon findet»), bezieht jedoch das Passe surcompose deutlich mit ein. Der diafrequentdiamediale Hinweis auf das häufige Auftreten der Formen in der geschriebenen und der gesprochenen Sprache (weil sie auch vil / so wohl im reden / als in schrifften / gefunden und gebraucht werden) sowie der wissenschaftsethisch hochaktuelle Kommentar «Ob wohl die Pauloplusquamperfecta von vilen nicht groß geachtet werden / so muß man sie gleichwohl nicht verwerffen / sondern ihre eigenschafft fleissig erforschen» lassen die Herzen heutiger surcompose-Forscher höher schlagen. Die (vermeintlichen) «ewigen» Vorurteile gegenüber dieser Tempusgruppe faßt Cornu zusammen: «le passe surcompose [...] est reste ä travers toute revolution de la langue fran?aise plus ou moins suspect d'incorrection grammaticale» (Cornu 1953, 12); Duez jedenfalls zeigt sich mit seinen Kommentaren als ein «liberaler» und neugieriger Erforscher des Passe surcompose 55 . Sehr skeptisch hingegen gibt sich D e la Touche 56 bei der Diskussion der formes surcomposees (Beleg Nr. 460): On peut en ajoüter deux autres qu'on nomme le Preterit Difini double, & le Pritirit Indifini double. Mais comme ces Terns ne sont pas si usites que les autres je ne les mettrai point dans les Conjugaisons, afin d'eviter l'embaras. (De la Touche 1696, 114)
Mit einem diafrequenten Hinweis auf das seltene Auftreten dieser Formen (comme ces Tems ne sont pas si usites que les autres) begründet er ihre Aussparung im Kapitel zur Konjugation; möglicherweise ist diese Reduktion im Hinblick auf die germanophonen Schüler des Autors auch didaktisch motiviert («afin d'eviter l'embarras»; vgl. dazu auch AyresBennett 1994, 156). A n anderer Stelle wird er jedoch konkreter (Beleg Nr. 461): 55
56
Ayres-Bennett/Carruthers ( 1 9 9 2 ) bezweifeln die These Cornus ebenfalls und nennen Gegenbeispiele aus der französischen Grammatikographie vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (vgl. auch Ayres-Bennett 1994, 150). In zwölf von fünfundzwanzig Grammatiken des 17. Jahrhunderts fand AyresBennett Erläuterungen zu formes surcomposies\ offensichtlich war De la Touche dabei der einzige Autor, der sich explizit ablehnend äußert (s. Ayres-Bennett 1 9 9 4 , I 5 4 f . ) .
138
Du Parfait Indefini Double. On emploie ce Tems dans le meme sens que le Preterit indefini compose. II est toujours joint ä un autre Preterit & precede des memes conjonctions que je viens de marquer. Exemples: Je suis sorti des que j'ai eu dine. Aussi tot qu'il a eu ecrit sa lettre il l'a envoiee, &c. Comme ce Tems a queique chose de fort dur on s'en sert bien plus rarement que du precedent. (De la Touche 1696, 242t)
Für das seltenere Auftreten der surcompose-Formen gegenüber dem Passe anterieur führt D e la Touche eine diaevaluative Erklärung an: «Comme ce Tems a queique chose de fort dur on s'en sert bien plus rarement que du precedent». Aus dem 16. Jahrhundert liegen im Rahmen des ausgewerteten Korpus von Sprachlehrwerken und Grammatiken mit Bezug zum Gebiet zwischen Maas und Rhein keinerlei diasystematische Markierungen zu den formes surcomposees vor; daß dieser Befund durchaus als repräsentativ angesehen werden kann, wird aus der folgenden Beobachtung von AyresBennett ersichtlich: «Les surcomposes sont principalement discutes dans les textes metalinguistiques ecrits pour les F r a n c i s et, ä l'exception de Cauchie (1570), ne sont pas examines en detail dans les grammaires ä l'usage des etrangers ou Celles qui ont un but plutöt pratique, peut-etre parce qu'ils ne figurent pas dans les modeles latins utilises par leurs auteurs ou parce qu'ils sont consideres trop difficiles ou trop recherches pour ceux qui ne sont pas de langue maternelle franijaise» (Ayres-Bennett 1994, 151)57.
5.5.
Unflektierbare und nicht satzgliedfähige Wortarten
5.5.1. Präpositionen Elf Kontextbelege befassen sich mit der unflektierbaren und nicht satzgliedfähigen Kategorie der Präpositionen. Zur Bewertung von fors (lat. FORIS/FORAS) äußern sich Basforest, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und zum Ende des Jahrhunderts D e la Touche (Belege Nr. 348 und Nr. 356): Fors vor hors wirt an etlichen ortern gebraucht uff Französisch / sagende / Allez fors. (Basforest 1624, 128) Fors pour hormis ne se dit plus ni en vers ni en prose. (De la Touche 1696, 261) 57
Eine knappe diafrequente Markierung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einigen Tempora des Konjunktivs und des Konditionals findet sich in Beleg Nr. 463 von D u Fourc. Z u Grammatikerattitüden hinsichtlich der formes surcomposies s. auch Holtus 1984. Einen kurzen Überblick über die Forschungslage zu den formes surcomposies gibt Krassin 1994, 60-64, allgemein mit Vergangenheitstempora in der französischen Sprachgeschichte befaßt sich Blumenthal 1986.
139
Das im ersten Beleg genannte Beispiel Allez fors deutet darauf hin, daß Basforest offenbar für die Variante fors noch ausschließlich von einer sich aus dem Altfranzösischen herleitenden (afrz. fuers) adverbialen Bedeutung als Richtungsangabe ausgeht (vgl. FEW III, 700b). Die unpräzise diatopische Markierung (an etlichen ortern gebraucht) läßt sich nicht weiter verfolgen; eine archaisierende Verwendung von fors nur in bestimmten Dialektgebieten scheint nicht belegt zu sein. Die Variante hors (rückgebildet aus dehors, lat. D E FORIS/FORAS) ist in adverbialer Verwendung bedeutungsgleich mit fors belegt (vgl. FEW III, 701b); noch PRob. (1993) führt das Beispiel allez hors an, allerdings mit dem diachronischen Zusatz «vieux». Brunot stellt bereits für das 16. Jahrhundert ein Überwiegen der Variante hors fest (s. HLF II, 380!). Im zweiten Beleg begreift D e la Touche zum ausgehenden 17. Jahrhundert fors mit der Bedeutung «excepte», «sauf» diachronisch als eine ältere Variante (ne se dit plus) von hormis (als feste Bildung aus hors + Part. Perf. von mettre seit dem 16. Jahrhundert belegt, s. Grevisse I3 i993, § 257b) und stimmt in dieser Bewertung mit Vaugelas überein (vgl. Vaugelas 1647, 254); Vaugelas jedoch weist diatextuell auf die Verwendung von fors in der «Poesie» und von hors in der Prosa hin. Fors ist in dieser Verwendung auch heute noch anzutreffen, allerdings überwiegend in festen Wendungen und meist mit den Markern vieux, vieilli etc. versehen 58 (s. PRob. 1993 und Grevisse I3 i993, § 988); die Variante hormis wird in heutigen Standardwerken als «vieilli ou litteraire» kommentiert (s. PRob. 1993 und ebenso Hanse 3 1994). Z u Konstruktionen mit lors nimmt De la Touche im folgenden Beleg Stellung (Nr. 350): On ne se sert point de lors avec un genitif, comme, lors de sa mort, lors de son mariage; ce n'est que dans la chicane qu'on emploie presentement ces fagons de parier. (De la Touche 1696, 257t.)
In den implizit dianormativ (On ne se sert point de) und diaphasisch (ce n'est que dans la chicane qu'on emploie) markierten Negativvarianten lors de sa mort und lors de son mariage stört den Autor offensichtlich die Verwendung von lors mit «genitivischem» de als locution präpositive; bereits Vaugelas kritisiert dianormativ-diaevaluativ derartige Konstruktionen, erkennt jedoch auch den ökonomischen Vorteil ihrer Kürze als möglichen Grund für die häufige Verwendung: Lors, auec vn genitif, par exemple, lors de son election, pour dire, quand il fut eleu n'est gueres bon, ou du moins, gueres elegant; plusieurs neanmoins le di-
58
Der Beispielsatz Tout est perdu, fors I'honneur, Francois I er zugeschrieben und offensichtlich kulturhistorisch als besonders wertvoll erachtet, wird in fast allen Quellen genannt (vgl. etwa Grevisse I3 i993, § 988, Hanse 3 i994, 411 ohne Quellenangabe, und PRob. 1993).
140
sent & l'escriuent, parce qu'il abrege souuent vn grand tour qu'il faudroit prendre sans cela. (Vaugelas 1647, 115)
D e r von D e la Touche und Vaugelas kritisierte Gebrauch von lors als locution prepositive war im 17. Jahrhundert offenbar bereits geläufig, in der Grammatikerdiskussion jedoch noch nicht anerkannt; die seit d e m 12. Jahrhundert belegte Verwendung von lors mit der Bedeutung «alors» (aus lat. ILLA HORA «Ä ce moment-lä», vgl. FEW IV, 475a) scheint allerdings im gesamten 17. Jahrhundert zumindest in der geschriebenen Sprache noch zu überwiegen (zu literarischen Belegstellen s. Spillebout 1985, 293). Auf eine mögliche diaphasisch-diamediale Distribution von lors de - das Auftreten der Konstruktion wäre dann vor allem für mündlichinformelle Kommunikationssituationen anzunehmen - verweist auch der ansonsten schwer einzuschätzende diaphasische Kommentar am E n d e des D e la Touche-Belegs: «ce n'est que dans la chicane qu'on emploie presentement ces fagons de parier». Ein «Dauerbrenner» der Grammatikerdiskussion ist die Schwankung zwischen sur und dans in der Konstruktion sur la rue, von D e la Touche folgendermaßen kommentiert (Beleg Nr. 357): Sur la rüe, est une fa^on de parier gasconne, il faut dire dans la rile. (De la Touche 1696, 261)
Die diatopische Einordnung der dianormativ (Typ a) abgelehnten Negativvariante sur la rue als Gaskognismus ist nicht leicht zu bewerten; ein besonderer Gebrauch der Wendung im Gaskognischen, der einen Interferenzeinfluß vermuten lassen könnte, scheint zwar nicht vorzuliegen (vgl. etwa Rohlfs 2 i970, 201), doch wird diese Konstruktion im allgemeinen zu den «regionalismes communs ä plusieurs regions» (Pellat 1992, 264) gezählt. Sur la rue sowie weitere Ausdrücke mit einer Verwendung von sur entsprechend etwa dt. auf oder ndl. op (vgl. dt. auf der Straße und ndl. op de straat) sind allerdings - geliebt oder gehaßt - für das galloromanischgermanische Grenzgebiet besonders häufig belegt (vgl. Baetens Beardsmore 1971, 283-288, Hanse/Doppagne/Bourgeois-Gielen 1971, 138, Lengert 1994, 509, und Wolf 1983a, I7iff.). Grevisse, der auch Kanada zum Einflußgebiet derartiger Konstruktionen zählt und niederländische sowie englische Substrateinflüsse als Ursache angibt, weist ausführlich auf semantische Unterschiede zwischen sur la rue, dans la rue und ά la rue hin: «Le fran^ais regulier distingue, d'une part, dans la rue (les maisons qui la bordent formant un volume) et sur le chemin, sur la route, sur I'avenue (ou dans I'avenue), sur la place, sur le boulevard. II distingue, d'autre part, dans la rue pour les emplois ordinaires; - sur la rue lorsqu'il s'agit d'une maison, d'une fenetre, d'une porte donnant sur la rue; - ά la rue pour quelqu'un qui est sans logis, dans la misere»; Abweichungen von diesem «Standard» nimmt er allerdings mit einem Unterton des Bedauerns zur Kenntnis: «L'usage regulier qui vient 141
d'etre decrit n'est pas universellement respecte» (Grevisse I3 i993, § iooia). Hanse ist da lakonischer und spricht von «emplois incorrects, dont plusieurs paraissent influences, en Belgique, par le neerlandais, mais dont certains se retrouvent au Quebec»; jouer sur la rue beispielsweise führt er in seiner langen Beispielliste unmißverständlich unter der Rubrik «Emplois fautifs» an (s. Hanse 3 i994, 848f.)59. 5.5.2. Konjunktionen 21 Kontextbelege befassen sich mit der ebenfalls unflektierbaren und nicht satzgliedfähigen Kategorie der Konjunktionen. Bedauernd stellt Chiflet hinsichtlich der Verwendung von voire bzw. voire mesmes folgendes fest (Beleg Nr. 255): C'est vn grand dommage que Voire, & Voire mesmes, ont vieilli: Ton dit maintenant Mesmes, ou Et mesmes. (Chiflet 1659, 125)
Voire, aus lat. V E R A als neutraler Pluralform von lat. V E R U S «vrai» (s. FEW XIV, 329b), wird bis ins 18. Jahrhundert hinein häufig mit diachronischen Markern wie vieilli, vieux etc. versehen (s. Diet. hist, de Vorth, fr. 1995, io89f.); oft ist dabei allerdings nicht ganz klar ersichtlich, ob sich die Markierung auf die adverbiale Verwendung mit der Bedeutung voire «vraiment» (vgl. afrz. substantivisch la voire «la verite») bezieht oder auf die erst ab dem 17. Jahrhundert belegte Verwendung von voire bzw. pleonastischem voire mesme mit der Bedeutung «et meme» als Konjunktion mit modalem Wert. Mit Einschränkungen bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Grevisse I3 i993, § 1042), spätestens aber seit Acad. 1935 (vgl. Diet. hist, de Vorth, fr. 1995, 1090) werden voire und voire meme ohne einschränkende diasystematische Markierungen verzeichnet. In der heutigen Lexikographie und Grammatikographie finden sich für den Gebrauch als Konjunktion mit modalem Wert in der Regel kurze Einträge des folgenden Typs: für voire « M O D . (employe pour renforcer une assertion, une idee) Et meme. [...]», für voire meme jedoch «[...] tour critique comme pleonasme» (PRob. 1993); «Voire s'emploie avec le sens de [...]. On trouve plus souvent dans le meme sens voire meme, parfois condamne comme pleonastique, mais qui peut alleguer en sa faveur son anciennete [...]» (Grevisse I3 i993, § 1042); «Voire a d'abord signifie , puis est devenu une conjonction ayant le 59
Z u is vs. aux s. Beleg Nr. 349 von Chiflet. Z u Schwankungen zwischen en und dans s. die Belege Nr. 351 und Nr. 352, zu au long de la riviere vs. le long de la riviere Nr. 353, zu ρ res de vs. aupres de Nr. 354, zu vers vs. envers vs. devers Nr. 358 und zu der bekannten Schwankung zwischen adverbialer und präpositioneller Verwendung von dedans, dehors, dessus, dessous etc. Nr. 355 von D e la Touche.
142
sens de ; d'oü l'emploi pleonastique de voire meme, aujourd'hui admis [...]» (Hanse 3 i994, 945). Chiflet greift weiter die Konstruktion avant/devant que (de) + Inf. auf und äußert sich hinsichtlich möglicher Varianten recht streng (Beleg Nr. 261): Auant que, & Deuant que, regissent l'Infinitif, aussi bien que l'Optatif: mais il y faut ajouter vn De: comme, Auant que de mourir. Et non pas; Auant que mourir, beaucoup moins Auant mourir. (Chiflet 1659, 128)
Die dianormative (Typ c) Ablehnung der Negativvarianten auant que mourir und vor allem auant mourir läßt die restriktive Normauffassung deutlich erkennen. De la Touche vertritt dieselbe Ansicht, nennt jedoch als zusätzliche Negativvariante die seit dem 18. Jahrhundert als Standardform verwendete Konstruktion avant de (s. Beleg Nr. 271). Alle vier Varianten haben im 17. Jahrhundert koexistiert; Spillebout markiert jedoch das aus dem Altfranzösischen stammende avant + Inf. als «rare» (vgl. auch Grevisse 1 3 i993, § 991a), avant de + Inf. hingegen als «tres usuel» (Spillebout 1985, 288f.). Avant que de und devant que de im heutigen Gebrauch werden von Grevisse diamedial, diatopisch, diaphasisch und diachronisch kommentiert: «Des ecrivains varies et la langue parlee de certaines regions utilisent encore avant que de pour avant de»\ «Devant que de peut aussi paraitre fort archai'que» (Grevisse I 3 i993, § 991a). Bei der Versprachlichung von Kausalität und Finalität mittels der Konjunktionen parce que und afin que hat Chiflet bei den Flamen Schwächen festgestellt (Beleg Nr. 262): Parce que, & Afin que, sont fort differents en nostre langue. Les Flamands les confondent souuent, ä cause que leur Langue vse pour tous les deux de Om dat. [...] Parce que, exprime la cause de quelque effet: comme; II est mort, parce qu'il s'est laisse accabler de melancolie. On la bien chastie, parce qu'il auoit fait de grands crimes. Mais Afin que, signifie le dessein & la fin que pretend celuy qui fait quelque chose: comme; II s'en est fiiy, afin d'eschapper le supplice. On la bien chastie, afin qu'il s'amandast. Le Flamand eust dit: On la bien chastie, parce qu'il s'amenderoit. (Chiflet 1659, 129t)
Die dianormativ (Typ b) markierte Verwechslung der beiden Konjunktionen (Les Flamands les confondent souuent) - als Beispiel nennt er die Negatiwariante On la bien chastie, parce qu'il s'amenderoit - beschreibt Chiflet als ein lernersprachliches Interferenzphänomen, das er möglicherweise bei seinen flämischen Schülern beobachtet hat. Seine Erklärung des Interferenzeinflusses durch die kausale und finale Bedeutung von ndl./fl. omdat («ä cause que leur Langue vse pour tous les deux de Om dat») ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen - De Vooys ( 7 i907, 391) beispielsweise weist auf die semantische Vielschichtigkeit von omdat im Laufe der Sprachgeschichte hin - , grundsätzlich besteht jedoch im Flämischen durchaus eine eigenständige Möglichkeit zum Ausdruck des finalen Verhältnisses zwischen zwei Satzteilen, und zwar mittels der Konjunktion 143
opdat (vgl. etwa ndl./fl. De draak bewaakte de schat, opdat niemand die zou roven, s. dazu De Vooys 7 1967, 391t). Das Auftreten von Negatiwarianten des genannten Typs im L2-Erwerbsprozeß ist durchaus denkbar, die von Chiflet angebotene linguistische Interpretation des «Fehlers» ist allerdings nur eingeschränkt aussagekräftig. Für Li-Varietäten des Französischen scheinen Schwankungen im Gebrauch von parce que und afin que nicht belegt zu sein. Der Ausdruck von Finalität beschäftigt auch De la Touche. Im folgenden Beleg findet sich hinsichtlich der Konstruktion pour que + Konj. eine interessante diachronisch-sprachprognostische Einschätzung (Beleg Nr. 269): Pour que s'est etabli comme l'avoit predit Mr. de Vaugelas, & de bons Auteurs s'en servent presentement sans scrupule. Exemple: II y a des pensees qui sont des impressions trop foibles sur notre corps pour que nous puissions nous en apercevoir, &c. Cette conjonction est tres commode & fort expressive, ce qui me persuade que les personnes trop delicates ne feront plus de dificulte de l'emploier ä l'avenir. (De la Touche 1696, 262)
De la Touche greift explizit Vaugelas' Überlegungen zu diesem Thema auf und übernimmt auch dessen diaevaluative Markierung des Phänomens (Cette conjonction est tres commode & fort expressive): Pour que. Ce terme est fort vsite, particulierement le long de la riuiere de Loire, & mesme ä la Cour, oü vne personne de tres-eminente condition a bien ayde ä le mettre en vogue. On s'en sert en plusieurs fagons, qui ne valent toutes rien. Premierement, ils en vsent pour dire affin que, comme ie luy ay escrit pour qu'il luy pleust auoir esgard, au lieu de dire affin qu'il luy pleust. Secondement, en vn autre sens, par exemple, il est trop honneste homme pour qu'il me refuse cela, au lieu de dire pour me refuser cela. En troisiesme lieu, ils s'en seruent d'vne faijon si commode & si courte, que si l'on auoit ä le dire, il faudroit que ce ne fust que de cette sorte; comme, Iis sont trop de gens pour qu'vn homme seul les attaque. (Vaugelas 1647, 1 7 ! )
Auf den von Vaugelas beschriebenen dritten Typ beziehen sich auch Beispiel und sprachprognostische Einschätzung im De la Touche-Beleg. Die stark dianormative Komponente im Vaugelas-Beleg (On s'en sert en plusieurs fagons, qui ne valent toutes rien) hat De la Touche jedoch deutlich abgeschwächt. Sowohl De la Touche als auch Vaugelas geben sich in ihren Kommentaren insgesamt skeptisch, lassen aber einen gesunden Pragmatismus erkennen; der strenge Jesuit Chiflet dagegen hat für den beschriebenen Gebrauch - wie grundsätzlich für alle «Neuerungen» in der Sprache (vgl. Chiflet 1659, 94) - nur Verachtung übrig (Beleg Nr. 257): Pour que, au lieu d'Afin que, n'est qu'vne barbarie. (Chiflet 1659, 125)
Spillebout (1985, 33of.) weist darauf hin, daß sich in literarischen Texten - möglicherweise als Folge auf die Verbote in Grammatiken und Lehrwerken - keine Belege für die finale Verwendung von pour que + Konj. finden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war dieser Gebrauch in 144
Anlehnung an Acad. 1718 nur in Korrelativkonstruktionen mit vorangehendem trop oder assez zulässig, wie in den Beispielen von D e la Touche und Vaugelas angeführt (vgl. auch Grevisse I 3 i993, § 1088a); nach wie vor taucht er jedoch fast ausschließlich in metalinguistischen Texten auf. Heute werden die einfache finale Konstruktion pour que + Konj. und die Korrelativkonstruktion assezltrop ... pour que + Konj. gelegentlich als voneinander unabhängige Verwendungen dargestellt, sind aber beide durchaus gebräuchlich und offenbar nicht in auffallender Weise markiert (vgl. etwa Hanse 3 i994, 702t). Weitere überwiegend diachronisch-dianormative und diaphasische Markierungen finden sich zu den Konjunktionen bzw. Adverbien auparauantlalorslcependant {que) (Beleg Nr. 254), ά tel silpar tel si que (Beleg Nr. 256), en outre vs. de plus (Beleg Nr. 258), au surplus/au demeurant/ dabondant (Beleg Nr. 259), par ainsi vs. ainsi (Beleg Nr. 260), et vs. ny (Beleg Nr. 263), dautantlentantlsi est-ce que (Beleg Nr. 265), cependant que vs. pendant que (Belege Nr. 267 und Nr. 273), comme ainsi soit quel pour ce que/ά raison que/ά celle fin que/tant y a que/ά ce que/considere que/atendu que (Beleg Nr. 268), premier que vs. avant que (Beleg Nr. 270) und encore bien que (Beleg Nr. 272)60. Bereits D e la Touche fand die Vielzahl an einschränkenden Grammatikerkommentaren hinsichtlich der Verwendung von Konjunktionen offenbar bemerkenswert; mit einer gewissen Süffisanz läßt er sich über Versuche zur Beschränkung des Gebrauchs von car, mais und parce que aus (Beleg Nr. 274): Je remarquerai ici qu'il y a des personnes d'une si grande, & si je l'ose dire, d'une si ridicule delicatesse qu'elles voudroient bannir de la Langue les car, les mais, & les parce que. II est vrai qu'il ne faut pas repeter trop souvent ces Conjonctions, & on doit meme s'en servir rarement dans le stile concis, comme est celui des lettres, des maximes & des reflexions; mais ailleurs c'est une folie de vouloir s'en abstenir, lors que ces particules sont necessaires pour la connexion du discours. (De la Touche 1696, 262t.)
5.6. K o n g r u e n z Sieben Belege haben verschiedene morphosyntaktische Aspekte vor allem der Verbkongruenz zum Gegenstand. Mit zwei bis heute uneinheitlich gehandhabten Fällen des Accord des Partizips Perfekt beschäftigt sich Chiflet. Im folgenden Beleg greift er die Frage des Accord in einem Relativsatz bei vorangehendem präsentativ eingeleiteten untune des + Subst. (Plur.) auf (Beleg Nr. 198): 60
Beleg Nr. 264 von Duez zu mais que anstelle von quand wurde bereits in Kapitel 5.4. ausgewertet. Z u que + Konj. anstelle der Wiederholung von si in Konditionalsätzen s. Beleg Nr. 266 von De la Touche.
145
II faut dire; C'est vne des plus belles actions qu'il ait jamais faites. Et non pas, faite. Parce que, faites, se rapporte ä actions, & non pas ä vne. (Chiflet 1659,
134)
Einmal mehr läßt Chiflet erkennen, daß er «seinen Vaugelas» beherrscht; das Beispiel, von Vaugelas in derselben Weise kommentiert, stammt aus den Remarques (s. Vaugelas 1647,153f.)· Die dianormative (Typ c) Ablehnung des Accord mit dem femininen Singularartikel - die Negativvariante lautet C'est vne des plus belles actions qu'il ait jamais faite - trifft jedoch im 17. Jahrhundert nicht auf ungeteilte Zustimmung; Haase ( 5 i905, 154) führt zahlreiche widersprechende Belegstellen an. Grevisse verweist grundsätzlich auf den Accord mit dem Substantiv bzw. dem Pronomen im Plural: «Ordinairement, le pronom relatif a pour antecedent logique le nom ou le pronom pluriels, et, par consequent, le verbe, l'attribut ou le participe passe qui s'accordent avec ce pronom relatif se mettent au pluriel: [...] C'est l'une des plus belles legons qu'il nous ait laissees [...]» (Grevisse I3 i993, § 425). Er führt darüber hinaus einzelne Fälle des Accord mit dem Singular an («II arrive quelquefois que l'antecedent logique soit un, qu'on pourrait remplacer par celui [...]. Cela entraine naturellement le singulier [...].»), ist sich jedoch über die nicht immer eindeutig zu bestimmende Referenz vieler Konstruktionen im klaren: «Mais le singulier n'a pas toujours cette justification logique, et il faut reconnaitre [...] qu'il s'agit souvent d'un phenomene mecanique, le locuteur ou le scripteur ayant dans l'esprit l'idee qu'ils s'expriment ä propos d'un etre ou d'une chose particuliers» (Grevisse I3 i993, § 425). Hanse verzichtet weitgehend auf Erläuterungen; er nennt verschiedene Fallbeispiele und verweist ansonsten semantisch auf «le sens qui doit regier l'accord» (Hanse 3 i994, 643). An anderer Stelle kommentiert Chiflet weitere «Zweifelsfälle», die er von Vaugelas übernommen hat (Beleg Nr. 199): Le peu d'affection qu'il m'a temoigne\ est mieux dit que Temoignie. D e mesme il faut dire, Γ ay plus perdu de pistoles que vous n'en auez gagne. & non pas, gagnies, parce que gagne, se rapporte ä plus, & non pas ä pistoles. Apr is six mois de temps escoule; est plus elegant qu'Escoulez. quoy que celuy-cy soit plus grammatical. (Chiflet 1659, 1 4 6 t )
Die dianormative Höherbewertung von temoigni gegenüber temoignie (ebenso in Vaugelas 1647, 384ff.) im ersten Beispiel - Grevisse definiert diesen Fall folgendermaßen: «Le donneur [der Kongruenzmerkmale, U. T.] est un syntagme forme d'un adverbe et d'un pseudo-complement» - ist auch heute noch umstritten; Grevisse führt zwei Beispiele von Littre an, die er als gleichermaßen korrekt bezeichnet: «Le peu de confiance que vous m'avez temoigne m'a öte le courage» und «Le peu de confiance que vous m'avez temoignee m'a rendu le courage» (Grevisse I3 i993, § 421). Die Sätze weisen in der Tiefenstruktur keinen Unterschied 146
auf, der die morphosyntaktisch uneinheitliche Handhabung des Partizips rechtfertigte. Auch für den Typus des sich im Beleg anschließenden Beispiels mit en als direktem Objekt (I'ay plus perdu de pistoles que vorn η'en auez gagne/ gagnies) sind bis heute Schwankungen belegt (vgl. Grevisse I 3 i993, § 910, und Hanse 3 i994, 644), die im sogenannten Arrete Haby von 1976 61 als «tolerances grammaticales» quasi institutionalisiert wurden (s. Grevisse I2 i986, 1701). Chiflet lehnt die nach Genus und Numerus angeglichene Variante gagnies wie Vaugelas dianormativ (Typ c) ab (s. Vaugelas 1647, 384)· Im Zusammenhang mit dem nachfolgend kommentierten Konstruktionstyp (Zeitangabe + de temps + Part. Perf.) (Apres six mois de temps escoule/escoulez) ist das Zusammenspiel von diaevaluativer Markierung (est plus elegant) der einen Variante (escoule) und dem graduellen Zusatz «quoy que celuy-cy soit plus grammatical» hinsichtlich der anderen (escoulez) bemerkenswert: Offensichtlich unterscheidet Chiflet nicht nur verschiedene Grade der Grammatikalität von sprachlichen Konstruktionen, sondern bewertet unter bestimmten Voraussetzungen Varianten mit «geringerer» Grammatikalität sogar ästhetisch höher (zur «Eleganz» als einer «Entscheidungshilfe bei Gebrauchsnormen» vgl. auch Radtke 1986b, 112). Die Beurteilung der Variante apres six mois de temps escoulez mit dem Accord des epithete nach six mois als «plus grammatical» ist möglicherweise vor dem Hintergrund pluralischer Konstruktionen wie ά dix heures sonnantes, il est dix heures et demie passees etc. zu sehen (vgl. Grevisse I3 i993, § 926ε); die ästhetische Höherbewertung von apres six mois de temps ecoule dürfte mit der positiv bewerteten direkten A b f o l g e von Substantiv und («schein-»)regiertem ipithite (temps ecoule) zusammenhängen. Zur Frage des Accord bei der Verwendung von se trouver mit Kopulafunktion äußert sich D e la Touche (Beleg Nr. 203): On dit, par exemple, Elle s'est trouvee montee, ou eile s'est trouve montie; elles se sont trouvi grosses, & elles se sont trouvees grosses; elles s'etoient crües perdües, & elles s'etoient cru perdües, &c. Les fa^ons de parier ou le Participe est indeclinable ont plus de partisans que les autres: [...]. (De la Touche 1696, 254)
Die Funktion von se trouver (Passe comp.) + Part. Perf./Adj. als Kopula (vgl. Grevisse I 3 i993, § 242b 5 0 ) sowie mit passivischer Bedeutung (vgl. Grevisse I3 i993, § 7910/3013) ist in der heutigen Grammatikographie analog zu se voir mit dem Accord nach Genus und Numerus für beide Partizipien bzw. für Partizip und Adjektiv verzeichnet: Elle s'est vue menacee (Hanse 3 i994, 944, s. weitere Beispiele bei Grevisse I3 i993, § 7910). De la Touche nennt im ausgehenden 17. Jahrhundert zwei Varianten (eile
61
Der Erlaß ist als Anhang von Grevisse
12 1986,
1696-1708, leicht zugänglich.
147
s'est trouvee montee und eile s'est trouve montee, elles se sont trouvees grosses und elles se sont trouv0 grosses etc.), markiert jedoch diejenige mit dem Accord nur des zweiten Partizips bzw. des Adjektivs diafrequent (ont plus de partisans) als die häufigere (zu Schwankungen im 17. Jahrhundert s. Haase 5 i9Ö5, 22o). Eine weitere für das 17. Jahrhundert umfänglich belegte und bis heute existierende Schwankung greift De la Touche im folgenden Beleg auf (Beleg Nr. 202): Enfin quand le Relatif qui est le Nominatif du Verbe, le Verbe doit etre ä la meme personne que le Pronom qui precede. Exemples: C'est moi qui ai fait cela; c'est toi qui as fait cela; c'est lui, c'est eile qui a fait cela; c'est nous qui avons fait cela; c'est vous qui avez fait cela; ce sont eux, ce sont elles qui ont fait cela. Cependant il y a d'habiles gens qui pretendent que quelque pronom qui precede, il est plus elegant de mettre toujours le Verbe ä la troisieme personne lors qu'il est au Conjonctif & au singulier. Exemples: Si c'etoit moi qui eüt fait cela; si c'etott toi qui eüt fait cela-, &c. mais il faut toujours dire au plurier si c'etoit nous qui eussions fait cela, si c'etoit vous qui eussiez fait cela, &c. & non pas qui eussent fait cela. (De la Touche 1696, 249)
Die im ersten Teil des Belegs angeführte Regel vom Accord des Verbs entsprechend dem Subjektpronomen, das durch subjektivisches qui im Relativsatz aufgegriffen wird, gilt grundsätzlich auch heute noch (vgl. Grevisse I3 i993, § 896a, und Hanse 3 i994, 9i9f.). Die Ersetzung der 1. und der 2. Person des Singulars und des Plurals durch die 3. Person Singular im Relativsatz (C'est moi qui a fait cela, C'est toi qui a fait cela etc.) ist für das 17. Jahrhundert häufig belegt (s. Haase 5 i905, i49f.) und tritt bis heute in Varietäten des Substandards auf (vgl. Bauche 21929, 102t). Probleme deutschsprachiger Lerner mit diesen Konstruktionen sind vor dem Hintergrund der deutschen Entsprechung (vgl. dt. Ich bin es, der das gemacht hat) vorprogrammiert (vgl. Krenn 1995, 233f.), werden jedoch von D e la Touche nicht ausdrücklich erwähnt. Die Variante der im zweiten Teil des Belegs erwähnten «habiles gens qui pretendent que quelque pronom qui precede, il est plus elegant de mettre toujours le Verbe ä la troisieme personne lors qu'il est au Conjonctif & au singulier» wird auch von Vaugelas erwähnt: La pluspart asseurent, qu'il faut dire, si c'estoit moy qui eusse fait cela, & non pas, qui eust fait cela. Car pourquoy faut-il que moy regisse vne autre personne que la premiere? Cette raison semble conuaincante; mais outre la raison, voyons l'Vsage de la langue en la premiere personne du pluriel, a-t-on jamais dit, si c'estoient nous qui eussent fait cela. (Vaugelas 1647, 88f.)
Im Unterschied zu D e la Touche jedoch, der die Singular-Negativvarianten Si c'etoit moi qui eüt fait cela und si c'etoit toi qui eüt fait cela offenbar gelten läßt und die 3. Person lediglich für den Plural dianormativ (Typ c) ablehnt (& non pas qui eussent fait cela), spricht sich Vaugelas mit einer diafrequenten Begründung {La pluspart asseurent, qu'il faut dire) prinzipiell gegen die Verwendung der 3. Person aus. 148
6. Diasystematische Markierungen III: Syntax
Auf den Bereich der Syntax entfallen 52 der insgesamt 474 Korpusbelege; dies entspricht einem Anteil von 11 % . Z u berücksichtigen ist dabei allerdings, daß diese quantitative Einschätzung der Verhältnisse von einem engen Syntaxbegriff in Anlehnung an die traditionelle Auffassung von der Syntax als Satzlehre ausgeht: «Syntax in diesem Sinn wird dabei abgegrenzt gegenüber einer Beschreibung der syntaktisch bedingten Variation der Wörter (Morphosyntax [...]) [ ist hier im Sinne von zu verstehen und nicht als varietätenlinguistischer Begriff, U. T.] als auch gegenüber der Beschreibung transphrastischer grammatischer Erscheinungen (Textlinguistik [...])» (Kleineidam 1990, 125) 1 . Solchermaßen inhaltlich eingegrenzt, spielt die Darstellung syntaktischer Phänomene in den Lehrwerken und Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts tatsächlich eine wesentlich geringere Rolle, als dies etwa für die Gebiete Phonie/ Graphie und Morphologie/Morphosyntax der Fall ist. Der vergleichsweise geringe Anteil an Belegen zu diesem Thema bestätigt diesen häufig erwähnten Befund weitgehend und weist darüber hinaus darauf hin, daß die Syntax bei den Autoren offenbar in geringerem Maße als «anfällig» für Variation galt. Dennoch läßt sich sagen, daß syntaxbezogene Phänomene für Lehrbuchautoren und Grammatiker über den gesamten Zeitraum des 16. bis 18. Jahrhunderts in qualitativer Hinsicht eine Herausforderung gewesen zu sein scheinen: Ausgehend von der an den Wortklassen ausgerichteten constructio der lateinisch-humanistischen Tradition über die Weiterentwicklung der Worfabfolgeschemata zu Safzg/i'edabfolgeschemata bis hin zu der aus varietätenlinguistischer Sicht fruchtbaren Verbindung des Syntaxbegriffs mit dem Stilbegriff zeigen sich in der Behandlung syntaktischer Phänomene häufig besonders deutlich Originalität und Kreativität eines Autors sowie seiner Epoche (vgl. Thelen 1997). Die Korpusbelege zur Syntax verteilen sich der Frequenz nach folgendermaßen auf die untersuchten Phänomenbereiche:
1
Eine Vollständigkeit anstrebende Analyse der syntaktischen Konstituenten des Gegenwartsfranzösischen im Sinnes dieses traditionellen Syntaxverständnisses versucht Eriksson 1993.
149
Wort- und Satzgliedstellung Rektion Negation Inversion2 Präsentationsformen
24 12 10 3 3
Belege Belege Belege Belege Belege
Übersicht 4: Belegfrequenz im Teilgebiet Syntax
6.1. Negation Chiflet befaßt sich in einem komplexen Beleg mit den syntaktischen Eigenschaften der zusammengesetzten Negationsformen ne... point und ne ...pas (Beleg Nr. 337): Point, deuant les Noms, veut Γ Article Indefini du Genitif. le n'ay point de mal: & non pas, du mal. Ie n'ay point d'argent, & non pas, de l'argent. Ainsi; II n'a pas d'argent; II n'y a pas de remede &c. ne sont qu'vne barbarie. Dites done; Iln'y a point de moyen: ou, II n'y a pas moyen. Et non pas, II n'y a point moyen. Car e'est vn mauuais langage, aussi bien que celuy-ci; Pour ne vous ennuyer. Dites, Pour ne vous point ennuyer. (Chiflet 1659, 113) B e i der Verwendung von tie... point im Zusammenhang mit einem transitiven Verb oder den unpersönlichen Wendungen il y a/il est schreibt Chiflet die Verwendung des «Article Indefini du Genitif» vor, d.h. die Verwendung von de in der einfachen partitiven Form, wenn der Skopus der Negation nur das nachfolgende konkrete Substantiv umfaßt; die Varianten Ie n'ay point du mal und Ie n'ay point de l'argent mit der vollen partitiven Form lehnt er dianormativ (Typ c) ab. Bei der Verwendung von ne ... pas jedoch führt er analoge Konstruktionen mit der einfachen partitiven Form als dianormativ (Typ c) markierte Negativvarianten an («II n'a pas d'argent; II n'y a pas de remede &c. ne sont qu'vne barbarie»). D i e anschließend genannten «korrekten» Beispiele II n'y a point de moyen und II n'y a pas moyen illustrieren die von Chiflet befürwortete syntaktische Struktur der jeweiligen Negationsform. D e r konservative Autor vertritt hier hinsichtlich des Typus eine Position - selbstverständlich wieder in Anlehnung an Vaugelas, von dem einige der genannten Beispiele stammen (vgl. Vaugelas 1647, 409) - , die in ihrer vollen Konsequenz vermutlich nur für sehr viel ältere Sprachstadien 3 gültig gewesen sein dürfte (ebenso D e la Tou2
3
Die drei Belege Nr. 194 von De la Touche und Nr. 195 und Nr. 196 von Verdun zum Thema Inversion wurden inhaltlich bereits in Kapitel 5.1.2.6. im Zusammenhang mit den Interrogativpronomina in die Diskussion einbezogen. Allgemein zur Entwicklung der Formen (ne) ... point und (ne) ... pas von substantivischen «quantifieurs indetermines» über den Status als «semi-negations» bis hin zu den «Operateurs de negation» vgl. Muller 1991, 223-227. Einen kurzen Überblick über die Forschungslage zur Negation im Gegenwartsfranzösischen gibt Krassin 1994, 13-18. 150
che noch zum Ende des Jahrhunderts, vgl. Beleg Nr. 341). Mit altfranzösischen Beispielen belegt Englebert die syntaktischen Eigenschaften verschiedener « nominaux de la negation» und weist für die Kontexte, die auch von Chiflet beschrieben werden, auf den Unterschied zwischen (ne) ... point und (ne) ... pas hin: «seul point est tout ä fait regulierement suivi d'une sequence en D E + NOM [...]»; «eile [la situation] se presente differemment dans le cas de la negation ne ... pas, qui n'apparait jamais suivie de D E dans notre corpus [...]» (Englebert 1992, 148). Es ist jedoch anzunehmen, daß sich mit den Veränderungen im gesamten System der Negation ab dem 16. Jahrhundert (vgl. Muller 1991, 223) auch die syntaktischen Struktureigenschaften von ( n e ) . . . pas im von Chiflet beschriebenen Kontext dem heutigen generellen Gebrauch anzugleichen beginnen: «Lorsqu'on transforme une forme affirmative en forme negative, on remplace par de les articles indefinis ou partitifs accompagnant un objet direct ou un sujet reels [...]» (Grevisse I 3 i993, § 569c). Die im Beleg genannten Negativvarianten II n'a pas d'argent und II n'y a pas de remede deuten diese Tendenz möglicherweise an4. Die den Beleg beschließende Diskussion der Varianten Pour ne vous ennuyer vs. Pour ne vous point ennuyer - Chiflet lehnt die erstere dianormativ (Typ c) ab und übernimmt damit die Ansicht Vaugelas' (s. Vaugelas 1647, 405) - kritisiert den Ausfall von point5 und bestätigt eine generelle Tendenz: «ä la fin du X V I e siecle la negation composee tend ä remplacer la negation simple» ( H L F II, 472; vgl. dazu auch HLF 111:2, 614) 6 . Vor dem Hintergrund der im 16. und im 17. Jahrhundert noch üblichen Wortstellung pour ne vous ennuyer paslpoint wäre im Zusammenhang mit den genannten Beispielen eventuell ein zusätzlicher Kommentar hinsichtlich der Stellung der beiden Verneinungselemente im Verhältnis zum Infinitiv denkbar gewesen 7 ; dieser Kommentar unterbleibt jedoch erstaunlicherweise sowohl bei Chiflet als auch bei Vaugelas. Die von beiden Autoren befürwortete Konstruktion repräsentiert zwar den für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts am häufigsten belegten Gebrauch, es existie4
5
6
7
Zur höheren Frequenz von ne ... pas gegenüber ne ... point bereits im 16. Jahrhundert vgl. die Belege Nr. 334 und Nr. 335 von Bosquet; zur Frequenz der beiden Negationsformen in der Sprache des kleinen Dauphin und späteren Louis XIII zu Beginn des 17. Jahrhunderts s. Ernst 1985, 87. Zum Ausfall von pas und point in Konditionalsätzen s. Beleg Nr. 338, zum Ausfall im Zusammenhang mit den Verben oser und pouvoir Nr. 342 von Chiflet (vgl. dazu auch HLF 111:2, 6 1 5 - 6 1 9 , Muller 1991, 2 2 9 - 2 4 4 , und Spillebout 1985, 369^). Zu den doppelten Negationen pas rien und pas gueres s. Beleg Nr. 340 von Chiflet (vgl. dazu auch Grevisse I 3 i993, § 979b), zur Wiederholung der Negation in untergeordneten Sätzen nach je ne nie pas que Beleg Nr. 343 von Perger (vgl. dazu auch Haase 51965, 266). In Beleg Nr. 446 geht Chiflet auf diesen Punkt ein.
Ϊ5Ι
ren jedoch durchaus auch Varianten (s. Haase s i9Ö5, 426; zum heutigen Gebrauch vgl. auch Muller 1991, I48f.). D i e Verwendung von point in der Konstruktion sans point de kommentiert Chiflet in Beleg Nr. 339: A p r e s la Preposition Sans, ne mettez jamais Point. Dites, Sans faute; Sans difficulte; Sans mentir, & non pas, Sans point de faute: Sans point de difficulte; Sans point mentir. (Chiflet 1659, 114)
Bis heute erlaubt sans in der Verwendung als semi-negation das Auftreten zusätzlicher Negationselemente, wenn diese im entsprechenden Kontext als ihr positives Bedeutungsäquivalent interpretierbar sind (sans aucune amertume, sans personne etc.); Chiflets dianormative (Typ c) Ablehnung der Varianten Sans point de faute, Sans point de difficulte und Sans point mentir schließt diese Funktion für point aus, läßt jedoch vermuten, daß derartige Konstruktionen bis zu einem gewissen Zeitpunkt möglich gewesen sind. Weitere Belege bei Haase ( 5 i905, 260) und Spillebout (1985, 367) zeigen, daß sans point de tatsächlich bis etwa in die Mitte des 17. Jahrhunderts belegt ist, dann jedoch vor dem Hintergrund der das positive Äquivalent zunehmend überlagernden negativen Bedeutung von point von den Grammatikern vehement abgelehnt wird (vgl. auch Muller 1991, 264; zur Verwendung von point mit positiven Bedeutungsanteilen im heutigen Französisch s. Grevisse I 3 i993, 981 1°). Auf das positive Bedeutungsäquivalent des Negationselements guere weist Basforest im folgenden Beleg hin (Beleg Nr. 336): Guere, bedeutet viel / es sey zeit oder etwas anders / und wirt nimmer gesetzt ohne vorgehende Verneinung: als II n'y α guere, qu'il est venu, vor II n'y a point moult de temps. II n'y α guere de vin. D i e Sauoyer gebrauchen dessen ohne Verneinung / fragend; Guere cela? als wan sie sagen / Cela coustera il beaucoup? daß ist / wort zu wort gesagt / sol daß vill kosten? (Basforest 1624, 123t.)
Basforest greift damit in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ganz offensichtlich die aus dem Altfranzösischen stammende (s. Rheinfelder 1967, 70) positive Bedeutung von guere auf, zu deren Verwendung sich Haase folgendermaßen äußert: «Guere, affirmatif, signifiait beaucoup, tres, au X V I e siecle, et s'emploie encore exceptionnellement dans ce sens au X V I I e » (Haase 51965, 246; vgl. auch Grevisse I 3 i993, § 954d 2 0 , und § 965a). D e r dianormative (Typ a) Hinweis auf die Verwendung von guere zusammen mit einer Negation (und wirt nimmer gesetzt ohne vorgehende Verneinung) ist nicht außergewöhnlich (s. weitere Belege bei Haase 5 1965, 246). Interessant ist jedoch der diatopische Hinweis auf die Verwendung des A d v e r b s ohne Negation in der Region Savoyen (Die Sauoyer gebrauchen dessen ohne Verneinung)·, das Beispiel Guere cela?, von Basforest als regionale Variante für «Cela coustera il beaucoup? daß ist / wort zu wort gesagt / sol daß vill kosten?» interpretiert, verweist auf eine mögliche 152
Bedeutungsvariante «combien» für alleinstehendes guere. Es ist durchaus denkbar, daß ein in einzelnen Dialekten des 16. und 17. Jahrhunderts überlebender Gebrauch von afrz. guaire «wieviel» (vgl. ζ. B. FEW X V I I , 469b, «soun gaire? »; s. auch 470b) 8 von Basforest wahrgenommen und als diatopischer Hinweis in seiner Grammatik verarbeitet worden ist; diese Bedeutungsvariante von guere ist in zahlreichen Dialektgebieten (Frankoprovenzalisch, westl. Piemontesisch, einige Gebiete im okzitanischen Raum) belegt (s. die /ILF-Karten Nr. 1513 (Combien de personnes> und Nr. 1514 ).
6.2. P r ä s e n t a t i o n s f o r m e n Chiflet erläutert in einem knappen Beleg seine Auffassung zur Bildung der verneinten Präsentativkonstruktion mit voilä (Beleg Nr. 359): Dites, Ne voila pas quelque chose de beau? Et ne dites jamais, Ne voila-t'il pas; ou, qui est encore plus barbare, Ne voila-ie pas. (Chiflet 1659, 110)
Die Konstruktion des von Chiflet als «korrekt» bewerteten ersten Beispiels (Ne voila pas quelque chose de beau?) wird von anderen zeitgenössischen Grammatikern ebenfalls befürwortet (zu Belegstellen s. Grevisse 13 1993, § 387) und ist in literarischen Textbelegen häufig anzutreffen (s. Spillebout 1985, 233). Grevisse führt jedoch auch für die Negativvariante Ne voila-t'il pas Belege mit und ohne ne an (s. Grevisse I3 i993, § 387); er erklärt das Zustandekommen der Konstruktion mit der berühmen «espece de particule» [ti] in Interrogationen, etwa nach dem Muster von voulez-vous-t-y que je vous embrasse, vous etes-t-y preis? etc. (zu diesem Fragetyp vgl. auch Behnstedt 1973, 13-32). Interessant ist seine diasystematische Einschätzung hinsichtlich des heutigen Gebrauchs der Wendung (ne) voilä-t'il pas, die von derjenigen der Grammatiker des 17. Jahrhunderts deutlich abweicht: «Ceci n'est plus particulier ä l'usage populaire; il s'agit d'une interrogation oratoire, et l'on omet souvent le point d'interrogation» (Grevisse I 3 i993, § 387). Für das dianormativ abgelehnte Beispiel Ne voila-ie pas scheinen keine weiteren Belege zu existieren; die Konstruktion ist vermutlich als Analogbildung mit der 1. Person Singular zu der pronominalen Lesart von Ne voila-t'il pas zu deuten. In einem weiteren Beleg kommentiert Chiflet eine Präsentativkonstruktion mit voilä, und auch dieses Phänomen ist bis heute nachweisbar (Beleg Nr. 360):
8
Von Wartburg vermutet, daß die ΒedeutungsVariante guaire «wieviel» möglicherweise bereits aus anfrk. *WAIGARO in das Galloromanische entlehnt wurde (s. FEW XVII, 469a); vgl. dazu auch DEAF, , 56-58.
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Le voila qui vient: & non pas, qu'il vient. La voila qui vient; & non pas, qu'elle vient. Le voyez-vous qui vient? La voyez-vous qui vient? & non pas, qu'il vient, ny qu'elle vient. (Chiflet 1659, n o )
Die dianormativ (Typ c) markierte Schwankung zwischen qui und qu'il ist als ein Standardfall phonetisch-morphologischer Variation im 17. Jahrhundert umfassend dokumentiert (vgl. etwa Sancier-Chateau 1993b, 58, und Spillebout 1985, 168; zum phonetisch bedingten Ausfall von l\l im Wortauslaut s. Kapitel 4.1.2.2.); Spillebout führt das Auftreten der von Chiflet dianormativ (Typ c) markierten Negativvariante Le voila qu'il vient auf diese phonetisch bedingte Schwankung zurück und interpretiert die Konstruktion la voila qu'elle vient entsprechend als eine Analogbildung zum maskulinen Beispiel (vgl. Spillebout 1985, 239). Grevisse weist auf das Auftreten dieser Konstruktionen auch im Gegenwartsfranzösischen hin, erklärt ihr Zustandekommen jedoch anders: «Par confusion avec le tour Voilä Q U ' I L vient [...], Voilä Q U ' E L L E vient, on entend °Le voila qu'il vient. °La voilä qu'elle vient» (vgl. Grevisse I3 I993, § 1046b)9. Wie bereits Chiflet und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Verdun - beide Belege sind fast identisch im Wortlaut (s. Beleg Nr. 361) so läßt auch Grevisse noch im ausgehenden 20. Jahrhundert durch die Kennzeichnung mit dem Symbol 0 («mot, tour, etc. n'appartenant pas au fransais regulier») dianormativ seine Ablehnung der mit que + Pron. gebildeten Varianten erkennen. Erstaunlicherweise finden sich im Zusammenhang mit den Präsentativen in den für das Korpus ausgewerteten Werken keine weiteren diasystematischen Markierungen 10 ; der Konstruktionstypus als solcher ist jedoch hinlänglich bekannt (zu Präsentativen im 17. Jahrhundert s. etwa Spillebout 1985, i66f., und Prüßmann-Zemper 1986, 186-196, zu Präsentativen im heutigen Französisch Krenn 1995, 233-235, und Schiller 1992).
6.3. R e k t i o n Die folgenden zwölf Belege haben die syntaktischen Eigenschaften verschiedener Verben zum Gegenstand. Das Problem der Transitivität im weiteren Verständnis, als Frage nach den Valenzeigenschaften der Verben (vgl. Busse 1974, H7f., allgemein zu Geschichte und Verwendung der Begriffe und s. Busse 1974, 108-116), und die Präpositionenverwendung bei sich anschließenden Präpositionalgruppen stehen dabei im Vordergrund.
9
10
Gelegentlich wird der Typus als eine «Umschreibung» der Relativsatzkonstruktion lella voilä qui angesehen (vgl. Krenn 1995, 235). Vgl. jedoch Beleg Nr. 202 von D e la Touche aus der Gruppe der Kongruenzbelege und die entsprechende Auswertung in Kapitel 5.6.
154
Einen bekannten Hinweis von Vaugelas (1647, 298) auf die Schwankung zwischen einwertiger («intransitiver») und zweiwertiger («transitiver») Verwendung des Verbs cesser greift Chiflet im folgenden Beleg auf (Nr. 420): Cesser est neutre: mais on commence ä le faire actif; Cessez vos plaintes. (Chiflet 1659, 95)
Chiflet markiert den Gebrauch von cesser als zweiwertiges Verb mit direktem Objekt (Cessez vos plaintes) ebenso wie Vaugelas diafrequentdiachronisch (mais on commence ά le faire actif); er grenzt ihn gegenüber dem unmarkierten Gebrauch als intransitives Verb («Cesser est neutre») deutlich ab (vgl. auch die Anmerkung von Haase 5 i905, 139), gibt jedoch keinen Hinweis auf die diasystematische Distribution der Valenzinstabilität (vgl. auch Busse 1974, I32ff.). Die heutige Grammatikographie verzeichnet cesser als intransitives (Le vent a cesse), transitiv indirektes (Cesser d'agir) und transitiv direktes (Cessez ce vacarme) Verb (vgl. etwa PRob. 1993); Busse (1974, 194) zählt cesser als Aspektverb zu den periphrasierenden verba adjecta. Ausdrücklich gegen die zweiwertige Verwendung mit direktem Objekt spricht sich Chiflet im Fall des Verbs sortir aus (Beleg Nr. 418): Sortir, n'est jamais Actif: comme, Sortez ce cheual de l'estable: Sortir le royaume: dites, Tirez ce cheual &c. (Chiflet 1659, 94)
Die dianormative (Typ c) Markierung wird auch hier diasystematisch nicht weiter begründet und ist ausgesprochen kompromißlos im Vergleich zur Haltung Vaugelas'; zwar lehnt der Autor der Remarques die zweiwertige Verwendung mit direktem Objekt grundsätzlich ebenfalls ab, zeigt jedoch ein gewisses Verständnis für das häufige Auftreten der Negativvariante und vermutet als Grund dafür die Ökonomizität der Konstruktion: [...] il faut remarquer, que de toutes les erreurs qui se peuuent introduire dans la langue, il n'y en a point de si aisee ä establir, que de faire vn verbe actif, d'vn verbe neutre; parce ce que cet vsage est commode, en ce qu'il abrege l'expression, & ainsi il est incontinent suiuy & embrasse de ceux qui se contentent d'estre entendus sans se soucier d'autre chose [...]. (Vaugelas 1647, 39)
De la Touche teilt die ablehnende Auffassung von Chiflet und Vaugelas hinsichtlich der zweiwertigen Verwendung von sortir mit direktem Objekt und schlägt eine Alternativkonstruktion vor (Beleg Nr. 427): Les Verbes neutres ne gouvernent jamais l'Acusatif. On ne dit point, par exemple, sortir un cheval, tomber une personne, mourir quelqu'un, &c. mais pour rendre ces verbes actifs il faut y joindre le verbe faire, comme, faire sortir un cheval, faire tomber une personne, faire mourir quelqu'un, &c. (De la Touche 1696, 251)
Die von D e la Touche vorgeschlagene Strukturerweiterung der Verbalgruppen um das Kausativauxiliar faire (faire sortir, faire tomber etc.) er155
höht die Valenz der jeweiligen Konstruktionen um eine Wertigkeitsstelle. Die «Verbes neutres» sortir, tomber und mourir werden damit zu Bestandteilen von «divalenten Verbalperiphrasen» (Seelbach 1983, 83)", die pragmatisch-semantisch die zweiwertige Konstruktion mit direktem Objekt ersetzen, ohne daß das traditionelle Postulat der «Intransivität» von sortir, tomber etc. aufgegeben werden müßte. Für das Gegenwartsfranzösisch verzeichnet PRob. (1993) sortir und tomber mit transitivem und intransitivem, mourir lediglich mit intransitivem Gebrauch. Grevisse erwähnt im Zusammenhang mit sortir und tomber «Variations dans la construction dues au fait qu'un verbe non factitif devient factitif [...], ou inversement» (Grevisse I3 i993, § 282); hinsichtlich der diasystematischen Bewertung der zweiwertigen Verwendung von sortir mit direktem Objekt verweist er auf eine diaphasische Begrenzung durch die Academie und Littre, scheint sich aber selbst nicht genau festlegen zu wollen: «L'emploi transitif de sortir, encore discute par certains puristes, est mentionne comme familier par l'Acad. (depuis 1718!) et sans reserves par Littre» (Grevisse I3 i993, § 282 10°); bei tomber wird er deutlicher: «Tomber son adversaire, ä la lutte, , dejä Signale par Littre [...], est admis par l'usage, meme distingue» (Grevisse I3 i993, § 282 II°). Busse stimmt mit dieser Einschätzung offensichtlich nicht ganz überein und klassifiziert sortir als ein- und zweiwertiges Verb mit explizitem oder kontextuell ergänztem Adverbialbezug - ein direktes Objekt wird nicht erwähnt - , geht für tomber jedoch grundsätzlich von der Einwertigkeit aus; die zweiwertige Verwendung von tomber mit direktem Objekt wird lediglich in Klammern als Klassifizierungsalternative berücksichtigt (s. Busse 1974, 221 f. und 253f.). Für das Verb inonder markiert Chiflet in Übereinstimmung mit Vaugelas (1647, 543) die zweiwertige Verwendung mit direktem Objekt dianormativ (Typ c) als «besser» (Beleg Nr. 419): Inonder, est mieux Actif que Neutre. La riuiere α ίηοηάέ nos terres: plutot que Sur nos terres. (Chiflet 1659, 95)
PRob. (1993) verzeichnet nur noch die transitive Variante. Busse zählt inonder zu den dreiwertigen Verben, «deren dritter Bezug reduziert wird» (Busse 1974, 227), und geht von einer Grundkonstruktion aus, die das direkte Objekt ebenfalls nicht in Frage stellt. Vaugelas dagegen vermutet hinsichtlich der Schwankung inonder la terre vs. inonder sur la terre eine Parallele zu Verben wie frapper, «qui s'employent 11
Blinkenberg (i960, 118) weist auf die «bivalence des verbes diathetiquement neutre» im Gegenwartsfranzösischen hin, die für die Verben dieser Gruppe sowohl eine Objektivierung des Subjekts als auch eine Subjektivierung des Objekts zuläßt (vgl. le bruit cesse vs. cessez ce bruit und la jeune fille sort avec son ami vs. l'ami de la jeune fille la sort souvent).
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actiuement, & neutralement auec la preposition sur, car on dit par exemple, frapper la cuisse, & frapper sur la cuisse» (Vaugelas 1647, 543). Tolerant zeigt sich Chiflet im Zusammenhang mit den Valenzeigenschaften des Verbs echapper (Beleg Nr. 422): Eschapper les embusch.es, ou, des embusches; est bien dit. Eschapper aux embusches, est encore plus elegant. (Chiflet 1659, 97)
Die der heutigen Valenzstruktur entsprechende Variante Eschapper aux embusches (vgl. Busse 1974, 222) wird gegenüber den ebenfalls akzeptierten Varianten Eschapper les embusches und des embusches diaevaluativ als «encore plus elegant» bezeichnet. Chiflet geht damit weiter als Vaugelas, der lediglich zwischen den beiden ersten Varianten eine diaevaluativdianormative Abstufung vornimmt und ansonsten auf die «trois regimes differens» des Verbs verweist: C e verbe a trois regimes differens pour vne mesme signification, on dit eschapper d'vn grand danger, & eschapper vn grand danger, qui est plus elegant que l'autre, & l'on dit aussi, eschapper aux ennemis, eschapper aux embusches, qui est encore vne fort belle fagon de parier. (Vaugelas 1647, 337)
Die zweiwertige Verwendung mit direktem Objekt ist vor allem für das 16. Jahrhundert belegt - Brunot führt unter den «Verbes employes en qualite de transitifs» Beispiele an (s. HLF II, 438) - , scheint aber auch im 17. Jahrhundert durchaus noch üblich gewesen zu sein (vgl. Haase 51965, I3if.). Die genannten Belege lassen jedoch bereits die Tendenz zur zweiwertigen Verwendung von echapper mit indirektem, durch ä angeschlossenem Objekt (vgl. Busse 1974, 222) erkennen 12 . Grevisse markiert den Anschluß mit de für das heutige Französisch diachronisch als «archa'fque», den Anschluß mit direktem Objekt läßt er nur für die lexikalisierte Wendung ichapper belle («noch einmal davonkommen») gelten (s. Grevisse I3 i993, § 285b). Die vorstehend diskutierten Belege bestätigen weitgehend die These von der diachronischen «hierarchisation progressive du syntagme verbal» (Combettes 1994, 143): Die relativ große Flexibilität der Valenz- und sonstigen syntaktischen Eigenschaften von Verben bzw. Verbgruppen im 16. Jahrhundert läßt ihre Nachwirkung bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein deutlich erkennen, wird aber im Laufe des Jahrhunderts durch dianormativ-präzisierende Grammatikerkommentare zunehmend eingeschränkt. Die folgenden Belege lassen deutlich eine methodisch-didaktische Ausrichtung mit Blickrichtung auf den L2-Unterricht erkennen. Mit einem Hinweis zu den syntaktischen Eigenschaften des Verbs demander wendet sich Chiflet speziell an die Flamen (Beleg Nr. 423): 12
Z u etre vs. avoir echappi aide in der Lexikographie des 19. und des 20. Jahrhunderts s. Glatigny 1994, 200f.
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Adjonction particuliere pour les Flamands. [...] voicy leurs plus ordinaires fautes que i'ay remarquees. [...] Demander apres quelcun: Apr is qui demandez vous? Dites, Demander quelcun: ou, Demander de parier ά quelcun. Qui demandez vous? ou, A qui voulez vous parier? (Chiflet 1659, 161)
Die dianormativ (Typ b) abgelehnten Negativvarianten Demander apris quelcun und Apris qui demandez vous? (s. auch Beleg Nr. 428 von Verdun) lassen sehr schnell den Verdacht des germanischen Interferenzeinflusses aufkommen (vgl. ndl./fl. naar iemand vragen, dt. nach jemandem fragen); tatsächlich ist dieser Typus im Grenzbereich zwischen L i - und L2-Sprache entlang der galloromanisch-germanischen Sprachgrenze bis heute besonders ausgeprägt vertreten (vgl. Baetens Beardsmore 1971, 212, und Wolf 1983a, 74f.), belegt ist er jedoch auch für diaphasische L i Substandardvarietäten (vgl. Bauche 31929, 141, und Grevisse I3 i993, § 280 4 0 ). O b der Konstruktionstypus nun tatsächlich auf germanischen Interferenzeinfluß zurückzuführen ist oder nicht - von Wartburg bezweifelt diesen Einfluß beispielsweise (s. FEW XXIV, 180a; vgl. auch Pellat 1992, 263t, und Wolf 1985, 89f.) - , kann hier nicht definitiv geklärt werden; die Markierung der entsprechenden Negativvarianten als lernersprachliches Phänomen ist jedoch durchaus begründet, da eine gewisse «Anfälligkeit» germanophoner Sprecher für diesen Konstruktionstypus nicht von der Hand zu weisen ist. Ebenso begründet ist die Einschätzung als lernersprachliches Phänomen im Zusammenhang mit den beiden folgenden Belegen zu den Verben parier und dire (Belege Nr. 424 und Nr. 425): Adjonction particuliere pour les Flamands. [...] voicy leurs plus ordinaires fautes que i'ay remarquees. [...] Ie le veux parier. I'en parleray mon pere &c. Dites, Ie luy veux parier. I'en parleray ά mon pere. Parier, regit tousjours le Datif de la personne ä qui l'on parle. (Chiflet 1659, 161) Adjonction particuliere pour les Flamands. [...] voicy leurs plus ordinaires fautes que i'ay remarquees. [...] II a dit centre moy, qu 'il me vouloit venir voir: & i'ay dit contre luy; qu'il seroit le tres bien venu: Dites, II m'a dit qu'il me vouloit venir voir: & ie luy ay dit qu'il seroit le bien venu. (Chiflet 1659, 161)
Die dianormativ (Typ b) abgelehnten Negativvarianten Ie le veux parier und I'en parleray mon pere sowie II α dit contre moy und i'ay dit contre lui (ebenso auch in Beleg Nr. 429 von Verdun) scheinen allerdings im Gegensatz zu demander apres quelcun weder für Li-Varietäten des Französischen noch für den Grenzbereich zwischen L i - und L2-Sprache an der galloromanisch-germanischen Sprachgrenze belegt zu sein. Chiflet führt die Beispiele unter den «plus ordinaires fautes» der Flamen an; tatsächlich gibt es eine große Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei den Negatiwarianten um lernersprachliche Fehlleistungen handelt, die auf Interferenzen zwischen L i - (Flämisch/Niederländisch) und L2-Sprache (Französisch) zurückzuführen sind. Für den Typus kann dabei ein Interferenzeinfluß von ndl. und mndl. iemand spreken (vgl. dt. jemanden sprechen) angenommen werden («Met den acc. van
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den persoon», s. Verwijs/Verdam 1 9 1 2 , 1 8 1 3 ) , für den Typus