Sprache und Tabu: Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen 9783484971219, 9783484523463

Taboos are expressive indicators of the location of a society in its cultural history. Linguistic taboos in particular c

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German Pages 467 [468] Year 2009

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung
2. Begriffl iche Vorklärungen
3. Tabubereiche im französischen und italienischen Wortschatz
4. Auswertung der Korpora
5. Zur Einteilung und Raison d’être der Euphemismen
6. Schlussbetrachtungen
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Sprache und Tabu: Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen
 9783484971219, 9783484523463

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRNDET VON GUSTAV GRBER HERAUSGEGEBEN VON GNTER HOLTUS

Band 346

URSULA REUTNER

Sprache und Tabu Interpretationen zu f ranzçsischen und italienischen Euphemismen

n MAX NIEMEYER VERLAG TBINGEN 2009

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-52346-3

ISSN 0084-5396

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: Hubert & Co., Gçttingen

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . .

1

2.

Begriffliche Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Tabu und Tabuisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zum Tabubegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Vom Themen- zum Lauttabu. Ein Kontinuum . . . . . . 2.1.3 Tabuisierung aus zeichentheoretischer Sicht . . . . . . . . 2.2 Tabuisierung und Enttabuisierung. Der Euphemismus . . . . . . . 2.2.1 Auswertung historischer und aktueller Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Über Motive und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Zu Euphemismen aus soziolinguistischer Sicht . . . . . 2.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 7 7 12 14 19

3.

Tabubereiche im französischen und italienischen Wortschatz . . . . . 3.1 Technische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zur Wahl lexikographischer Korpora . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zur Erstellung und Darstellung der Korpora . . . . . . . 3.2 Euphemismen einzelner Bereiche im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Glaube, Aberglaube und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Krankheiten und andere Einschränkungen . . . . . . . . . 3.2.4 Eigenschaften und Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Liebes- und Sexualleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Körperteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Weiblicher Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8 Toilettengang und Toilette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9 Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär . . . . . . 3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 37 39 42 42 47 53 56 61 69 74 76 80 83

4.

Auswertung der Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Zur lexikographischen Behandlung von Euphemismen . . . . . 85 4.1.1 Zur Systematik der Markierungskennzeichnung . . . . 85 4.1.2 Markierungsangaben im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.1.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V

20 27 31 35

4.2

4.3

5.

Vergleiche zu den von Sprachtabus belegten Themenbereichen der Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.1 Der euphemistische Ertrag beider Korpora im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.2 Sprachtabus als Ergebnisse von Umfragen . . . . . . . . . 109 4.2.3 Weitere Aufstellungen zu Euphemismen . . . . . . . . . . . 116 4.2.4 Resüme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Zum Kontinuum der Arten euphemistischer Neuperspektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3.1 Formale Modifikationen des Signifikanten . . . . . . . . 121 4.3.1.1 Kürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.1.2 Deformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 4.3.2 Semantischer Ersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3.2.1 Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.3.2.2 Vom Lexikon zur Morphosyntax . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Zur Einteilung und Raison d’être der Euphemismen . . . . . . . . . . . . . 5.1 «Ethik und Religion». Sprachliche Verhaltenskodizes zwischen Furcht und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Mythisch-religiöses Sprachdenken und Wortverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Blasphemie auf der Basis von Christentum, Kirche und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Das Alte Testament. Vom Dekalog bis Hiob . . . . . . . 5.1.2.2 Über Blasphemie in Kirchengeschichte und weltlicher Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Psychologische Aspekte blasphemischen Fluchens. Zur Funktion tabuisierter Ausdrücke und zur Genese von Euphemismen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.4 Zu Veränderungen im Charakter der Flüche. Le mot de Cambronne als Wendepunkt. . . . . . . . . . . . 5.1.3 Sprachtabus bei Krankheit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3.1 Krankheiten zwischen Furcht und Scham . . . . . . . . . . 5.1.3.2 Das Ende des Lebens. Zwischen Furcht und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 «Ethik und Ästhetik». Rücksichtnahme im Verhalten und Sprachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Epoche von Renaissance und Humanismus als Markstein im Zivilisationsprozess. Italien als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1 Zum Stellenwert der Sprache in Castigliones Cortegiano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI

155 157 157 161 161 163

170 176 182 182 190 193 194

195 201

5.2.1.2

5.3

Giovanni della Casas Galateo als Schule der Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.3 Stefano Guazzos Civil conversazione . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.4 Zwischenresümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Entwicklung in Frankreich. Von der Kritik am Hofleben zum Preziösentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Heinrich IV. und das Hôtel de Rambouillet . . . . . . . 5.2.2.2 Sprachethik, Ästhetik und Distinktionswille. Die Preziösität und der Euphemismus . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3 Zwischenresümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zur allgemeinen Charakteristik der weiteren Entwicklung der Manieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.1 Die Verinnerlichung des Schamgefühls . . . . . . . . . . . . 5.2.3.2 Das Abstecken der Schamgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Achtung und Selbstachtung im Spiegel des Wortschatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.1 Liebes- und Sexualleben im Wandel des Schamgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.2 Nacktheit und Prüderie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.3 Der weibliche Lebenszyklus zwischen Dämonisierung und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.4 Skatologie. Von der Unbefangenheit zur Scham . . . . 5.2.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Ethik und Sozialpolitik». Die Politische Korrektheit und vergleichbare Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Entstehung und Geschichte. Die Wurzeln in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.1 Der soziokulturelle Kontext der Entstehung . . . . . . . 5.3.1.2 Die Gesellschaft der Opfer sowie Ridikülisierung und Erweiterung des Ausdrucks politically correct . . 5.3.2 Zur Kontroverse um den Sinn «politisch korrekten Sprachgebrauchs» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Die Macht der Sprache und ihre Ideologiebesetztheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Die Frage der Wertepräferenz innerhalb einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Der Euphemismus zwischen Sprache und Denken . . 5.3.3 Vom politically correct zum politiquement correct bzw. politicamente corretto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Der unterschiedliche soziokulturelle Kontext . . . . . . . 5.3.3.2 Die Ausweitung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Politisch korrekte Euphemismen thematisch geordnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.1 Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

207 212 214 216 216 222 233 234 234 240 246 247 252 257 261 264 265 269 270 275 279 279 286 296 309 312 318 324 325

5.4

6.

5.3.4.2 Physische Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.3 Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.4 Sexuelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.5 Geringes Sozialprestige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Ethik ohne Moral». Profit- und Profilierungsdenken im öffentlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Definitorische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.1 Die Notwendigkeit der Abgrenzung zur Politischen Korrektheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.2 Die Unterschiede zum doublespeak . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.3 Sprachtäuschung, Lüge und die Frage der Relation zwischen Bezeichnung und Realität . . . 5.4.1.4 «Ethik und Sozialpolitik» oder «Ethik ohne Moral» als Frage der Perspektive . . . . . 5.4.2 Euphemismen ohne Moral unter thematischem Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 Arbeit, Arbeitslosigkeit und die neue Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2 Kriegsereignisse und kriegerische Handlungen . . . . . 5.4.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Rückblick: Lexikographische und kulturhistorische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Reflexe: Qualis homo, talis eius oratio?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Resümee: Das Phänomen Euphemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338 343 354 360 366 367 368 368 370 372 374 377 377 383 390 393 393 398 400

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Wortregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

VIII

1. Einleitung. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung

Sprachwissenschaft, richtig verstanden, ist Erforschung der Welt mit allem, was darin ist, allem Irdischen und allem Seelischen, ist Form und Inhalt des menschlichen Denkens. Elise Richter

Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Tabus in einer Gesellschaft ist ein exzellentes Kriterium, um Aussagen zum Entwicklungsstand ihrer civilité und zu ihrem kulturellen Selbstverständnis zu treffen, und kann als Ausdruck ihrer Mentalität und ihrer Wahrnehmung der Realität interpretiert werden. Es handelt sich dabei um Verhaltensgebote mythischreligiöser oder profaner Natur, teilweise sogar um strafbewehrte Verbote, deren Existenz und Stellenwert dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen und daher je nach Gesellschaft und Zeitraum unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Als Bestandteile eines Verhaltenskodexes betreffen Tabus immer auch sprachliches Verhalten, in dem sie in einem Kontinuum greifbar werden, das vom Schweigen oder vom Verschweigen tabuisierter Themen oder Ausdrucksweisen bis zu deren vielfältigen euphemistischen Ersatzmöglichkeiten reicht. Aufgrund der soziokulturellen Bedingtheit von Tabus impliziert dies eine in jeder Sprachkultur unterschiedlich erfolgende Entwicklung von Bezeichnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe die jeweils wirksamen Arten sprachlicher Tabuisierung in der Gesellschaft umgangen werden können. Dabei drängt sich zunächst die Frage auf, ob angesichts der heute weitgefassten Semantik von Tabu, die ursprünglich auf den kultischen Bereich begrenzt war, (2.1.1) die verschiedenen Arten sprachlicher Äußerungsbeschränkungen immer noch unter einem einzigen Begriff, dem des sprachlichen Tabus, subsumiert bzw. auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können (2.1.2). Schließlich handelt es sich dabei um Phänomene, die entweder aus der Tradition heraus oktroyiert erscheinen oder mit unterschiedlicher Zielsetzung und Begründung meist zeit- und gesellschaftsspezifisch neu oder wiederholt selbstauferlegt werden. Zu Ersteren gehören vor allem die Tabus des magischen und religiösen Bereichs, zu Letzteren, den profanen Tabus, so unterschiedliche Erscheinungen wie das vielleicht zuviel belächelte Preziösentum im Frankreich des 17. Jahrhunderts oder neueren Datums die Politische Korrektheit. Dazu stellt sich auch die von der Dis1

kussion oft auf Sach- oder Sprachtabu zentrierte Frage, was denn eigentlich tabuisiert wird, eine Frage, die zeichentheoretisch klar beantwortet werden kann (2.1.3). Die damit präzisierte sprachliche Tabuisierung hängt genetisch eng mit der von ihr ausgelösten Enttabuisierung zusammen. Letztere findet ihren Ausdruck in den vielfältigen Erscheinungsformen, die unter dem Begriff des Euphemismus zusammengefasst werden. Dieser vielschichtig gesehene Begriff ist auf der Basis der bestehenden Definitionen nicht einfach zu greifen (2.2.1) und in seinen Motiven und Funktionen (2.2.2) sowie soziolinguistisch (2.2.3) zu erfassen, kann aber unbestritten als der geeignetste Maßstab für das Erkennen und Bewerten sprachlicher Tabuisierung im Wortschatz gelten. Denn er dient dazu, den sprachlichen Tabubruch zu vermeiden, der eben erst durch die euphemistische Bezeichnung als onomasiologische Umgehung von Sprachtabus greifbar wird. Obwohl diese Sachverhalte weitgehend bekannt sind, fanden der Vergleich zweier Sprachen und damit auch die sich aus ihm möglicherweise ergebenden Erkenntnisse in der Sprachtabuforschung bislang noch keine systematische Beachtung. Hierfür wurden die französische und italienische Sprache ausgewählt, deren Sprecher sich zwar in ihrem Sprachverhalten und ihrer Mentalität sowie in ihren traditionellen Sitten und Gebräuchen klar unterscheiden, die aber gleichzeitig zu zwei für die europäische Kulturgeschichte phasenweise besonders richtungsweisenden Sprachkulturen gehören, deren Entwicklung über Jahrhunderte eng miteinander vernetzt war, so dass sich die jeweils zivilisatorische Bedingtheit von Tabu und Euphemismus hier in exemplarischer Weise auftut. Dabei lässt sich sehr schnell erkennen, dass die Euphemismusforschung in den beiden Sprachen bisher sehr unterschiedlichen Stellenwert hat. Seit Nyrop (1913) im siebten Buch des vierten Bandes seiner Grammaire historique eine ausführliche und materialreiche Behandlung des Themas vorgelegt hat, sind zum Französischen keine vergleichbaren Darstellungen mehr erschienen, sondern lediglich Aufsätze zu Einzelphänomenen oder -fragen. Lebsanft bezeichnet es daher zu Recht als «parent pauvre romanistischer Sprachtabu- und Euphemismusforschung» (1997, 112) und gibt selbst einen sehr anregenden «Anstoß zu einer neuen Form der Analyse von Sprachtabu und Euphemismus als sprach- und kulturhistorischen Phänomenen» (1997, 125). Für das Italienische ist als umfassende Untersuchung v.a. diejenige von Nora Galli de’ Paratesi (1964) zu nennen, ferner die thematisch auf Ersatzmechanismen begrenzte Arbeit von Widłak (1970) und die dem Teilbereich des sexuell-erotischen Vokabulars gewidmete Studie von Radtke (1980), die auch Hinweise auf andere romanische Sprachen enthält. Es handelt sich also durchweg um ältere Arbeiten, die angesichts der Ent- und Neutabuisierung, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte, den aktuellen Euphemismenstand nicht mehr belegen können.1

1

Zum Stand in anderen romanischen Sprachen cf. zum Portugiesischen die material-

2

So liegt es nahe, Bereiche, in denen in den beiden Sprachen Euphemismen auftreten, sowie deren qualitative und quantitative Aspekte und die damit zusammenhängenden Fragen anhand zweier Korpora von Euphemismen näher zu betrachten, die bei allen Vorbehalten gegenüber der lexikographischen Präzision nur lexikographischer Art sein können (3.1). Ihre Gliederung nach denjenigen Sachgebieten, denen die Anstößigkeit der Ausdrücke entspringt (3.2), erlaubt es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Anzahl und Art der tabuisierten Bezeichnungsweisen herauszuarbeiten. Hierfür ist zunächst die Behandlung des Euphemismus in den zugrunde gelegten lexikographischen Quellen zu betrachten und dabei auf unterschiedliche Markierungsangaben bei mehrfach angeführten Ausdrücken, auf technisch nicht eindeutige Markierungskennzeichnungen und auf fragliche Angaben von nur historischer Markierung einzugehen (4.1.1). Im Hinblick auf die Aussagekraft der einzelnen Lexika sind auch die in den Wörterbüchern einer Sprache voneinander abweichenden Angaben zu thematisieren, die illustrieren, wie sehr das Euphemismenverständnis divergieren kann, sowie die unterschiedliche Bewertung äquivalenter Ausdrücke, die wiederum die Grenzen einer möglichen Korpuserstellung mit einem rein linguistischen Euphemismenverständnis aufzeigt. Zudem sind anderweitige Markierungsangaben zu berücksichtigen, die das Phänomen des Euphemismus besser verstehen helfen (4.1.2). Unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Vergleichbarkeit beider Korpora erfolgt sodann die Synthese der Übereinstimmungen und Divergenzen, auf deren Grundlage die infolge sprachlicher Enttabuisierungen in Form von Euphemismen ermittelten Tabubereiche durch Ergebnisse von direkten Umfragen und weiteren Aufstellungen ergänzt werden können (4.2). Unerlässlicher Bestandteil einer Arbeit über Euphemismen sind schließlich ebenfalls die vielfältigen Möglichkeiten, die tabuisierte Ausdrucksweise formal zu verändern oder zu ersetzen. Die Zielsetzung der vorliegenden Studie, alle Euphemismen der Korpora systematisch einzelnen Bildungsmechanismen zuzuordnen, erlaubt dabei erstmals klare Aussagen zur Korrelation zwischen bestimmten Verfahren und Tabuthemen (4.3). Im Sinne einer befriedigenden Erklärung des lexikographisch markierten Euphemismenbestandes erweist es sich v.a. als sinnvoll, die Materialien aus historischer Perspektive zu betrachten und dafür wesentliche Fakten der

reichen Darstellungen von Mansur Guérios (1979) und Heinz Kröll (1984); zum Spanischen die Untersuchung von Miguel Casas Gómez (1986a), die vor allem auf die verschiedenen euphemistischen Substitutionsarten zentriert ist, und weitere Aufsätze des Autors, u.a. zu definitorischen Aspekten (1993) und zur lexikographischen Berücksichtigung von Euphemismen (1989), die auch Gegenstand von Reutner (2008c) ist; zur kulturgeschichtlichen Einbettung cf. Reutner (im Druck a). Hervorzuheben ist ferner das Wörterbuch Creatividad lingüística. Diccionario de eufemismos von Rodríguez Estrada (1990) sowie das Diccionario de eufemismos von Lechado García (2000).

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Entwicklung der einzelnen Euphemismus- bzw. Tabubereiche heranzuziehen. Der Blick auf ausgewählte Kapitel der Geschichte zeigt, inwieweit sich die Euphemismen beider Sprachkulturen auch als Ergebnis des öfter feststellbaren Wechsels von epochen- oder gruppenspezifischen Tabuisierungs- und Enttabuisierungsschüben erkennen und einordnen lassen. Dadurch kann sich ebenfalls ein Beitrag zur Beschreibung der Raison d’être, des Aufkommens und Nachlassens solcher Schübe ergeben. Dies wird zunächst anhand der Genese magisch-religiös verankerter Euphemismen darzustellen sein, die sowohl im Zusammenhang mit einem ursprünglichen Namens- und Wortverständnis zu betrachten ist (5.1.1) als auch im Bezug auf ihren Stellenwert im christlich-kirchengeschichtlichen Kontext, wo vor allem eine Interpretation als enttabuisierende Reaktion auf das Verbot blasphemischer Schwüre und Flüche nahe liegt. Dabei ist auch zu erklären, wieso der heutige Euphemismenbestand in Fluchformeln und Interjektionen andere inhaltliche Akzente setzt als jene auf magisch-religiöser Basis und wie sich die diesbezüglichen Unterschiede im Euphemismenbestand der beiden Sprachen erklären lassen (5.1.2). In den Zusammenhang der in Glaube und Aberglaube motivierten Euphemismen sind neben den Flüchen auch euphemistische Umschreibungen direkter Bezeichnungen aus den traditionell zum Walten Gottes gerechneten Bereichen «Krankheit» sowie «Sterben und Tod» einzuordnen (5.1.3), die u.a. auch aufgrund gebotener Rücksichtnahme gegenüber den Betroffenen unverzichtbar sind. Dies führt zur Betrachtung eines zweiten sprachlichen Tabuisierungsschubs mit Veränderungen, die mit Norbert Elias im sozialgeschichtlichen Zusammenhang am Beginn der Neuzeit anzusetzen sind und durch den Renaissancehuma nismus nicht zuletzt sprachliche Orientierung im sozialen Miteinander bewirken. Die neue kulturelle Strömung hat ihre wesentliche Ausgangsbasis denn auch in Italien, wo die Traktate Baldassare Castigliones (Cortegiano), Giovanni della Casas (Galateo) und Stefano Guazzos (Civil conversazione) erschienen, die auch unter Hinweis auf Erasmus’ Civilité puerile auf ihren sprachkulturellen Inhalt hin auszuwerten sind (5.2.1). Im Anschluss daran wird die Rezeption der neuen Umgangsformen in Frankreich zu thematisieren sein, wo sie zunächst und besonders stark in der entstehenden Salonkultur mit ihrem ethisch-ästhetischen Hintergrund erfolgt, dann aber auch in der aus dieser Kultur erwachsenen Preziosität, in der die vorwiegend durch die Molièresche Übertreibung bekannt gewordene euphemistische Ausdrucksweise eine Hochzeit eigener Prägung durchläuft (5.2.2). Die durch den Renaissancehumanismus bewirkten Modifi kationen sind daraufhin in ihrer weiteren Entwicklung zu verfolgen, wobei es in erster Linie darum geht, Veränderungen im Stellenwert des Schamgefühls nachzuzeichnen (5.2.3), das als Motiv für euphemistische Umschreibung beim Sprechen über Sexualität, intime Körperteile, den weiblichen Lebenszyklus oder Skatologie wirksam ist und als solches einen größeren Teil zentraler Euphemismusbereiche abdeckt, die für den 4

früheren wie heutigen Gebrauch beider Sprachen relevant und somit im Einzelnen darzustellen sind (5.2.4). Doch Enttabuisierungsschübe, wie sie z.B. als Auswirkungen der Ereignisse von 1968 erfolgten, sind weit davon entfernt, eine Art tabufreier Zeit zu bewirken, zumal auch neue Sprachtabus entstehen und entsprechende Euphemismen kreiert werden, wie z.B. im Zuge der Politischen Korrektheit, die aufgrund ihrer Aktualität trotz geringer Rezeption in der Lexikographie größere Aufmerksamkeit verdient. Dabei wird mit der Anpassung der Curricula durch die Berücksichtigung minderheitenspezifischer Themen und mit der Quotierung der Hochschulzulassung zugunsten Farbiger zunächst der sozialgeschichtliche Kontext ihrer Entstehung in den USA darzustellen und auf Ridikülisierungserscheinungen einzugehen sein (5.3.1). Sodann erfordert die im Rahmen der Politischen Korrektheit immer wieder thematisierte Frage nach dem Nutzen sprachlicher Veränderungen für die entsprechenden Minderheiten die Auseinandersetzung mit der Infragestellung ideologiefreier Sprache, mit der Gewichtung des Grundwertes freier Meinungsäußerung gegenüber einer eventuellen Beeinträchtigung des Minderheitenschutzes sowie mit dem Verhältnis von Sprache und Denken und dem Stellenwert des Euphemismus zwischen beiden (5.3.2). Im Anschluss werden Facetten der spezifischen Ausprägung Politischer Korrektheit in Frankreich und Italien dargestellt (5.3.3) und als einzelne Gebiete die Bereiche «Rasse», «Physische Einschränkungen», «Alter» und «Sexuelle Identität» sowie aufwertende Berufs- und Länderbezeichnungen kulturgeschichtlich und lexikologisch thematisiert (5.3.4). Die bis dahin behandelten und teilweise auch als verhüllend bezeichneten Euphemismen entspringen Motiven wie Ehrfurcht, Scham, Rücksichtnahme. Im Dienste der Höflichkeit stehend, wahren sie den Realitätsbezug, was sie von einer zweiten Kategorie von Euphemismen unterscheidet, bei denen die Intention des Sprechers darauf abzielt, von der Masse der Gesellschaft als unmoralisch verurteilte Gegebenheiten oder Handlungen zu verschleiern. Diese werden im Rahmen einer im Sinne einer Verhaltensorientierung definierten «Ethik ohne Moral» behandelt, die zunächst von Politischer Korrektheit, von doublespeak und dem Phänomen der Lüge abzugrenzen ist (5.4.1), bevor am Beispiel von Kündigung, Arbeitslosigkeit, Teuerung oder Schmiergeld und insbesondere Kriegsgeschehnissen einzelne Bereiche in ihrer Entwicklung genauer betrachtet werden (5.4.2). Nach einem Rückblick, der die zusammengefassten Ergebnisse des Vergleichs enthält (6.1), und Gedanken zur soziokulturellen Lokalisierung des sich euphemistisch ausdrükkenden Individuums (6.2) wird das Phänomen Euphemismus in Form einer nach Sprecherintention, Ursachen, Motiven und Funktionen gegliederten absteigenden Abstraktionshierarchie dargestellt und auf dieser Grundlage einer umfassenden Definition zugeführt werden können (6.3).

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2.

Begriffliche Vorklärungen

Liberis dare operam re honestum est, nomine obscenum. Marcus Tullius Cicero

2.1

Tabu und Tabuisierung

2.1.1 Zum Tabubegriff Das Wort Tabu, das aus den polynesischen Sprachen der Südseeinseln stammt, ist durch die Beschreibung von Stammesreligionen bekannt geworden und zunächst über das engl. taboo (Erstbeleg 1777)1 aus den Reiseberichten von James Cook nach Europa gelangt. Fr. tabou ist seit 1785 belegt,2 it. tabù (in der Form taboo) seit 1795.3 Es bedeutet wörtlich ungefähr ‘gemerkt, gekennzeichnet’, d.h. gekennzeichnet als heilig oder als verboten;4 «etwas (ein Ding, ein Mensch, ein Ort) ist mit geheimnisvoller ‹Kraft› […] geladen und aus dem Bereich des Profanen herausgehoben; die Berührung damit ist äußerst gefährlich und grundsätzlich zu vermeiden, sofern dabei nicht bestimmte strenge kultische Vorschriften berücksichtigt werden».5 Dieses ursprüngliche Tabuverständnis, das kein Nachschlagewerk und keine Studie als Ausgangspunkt in dieser oder ähnlicher Formulierung

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Cf. aus Cooks Voyage to Pacific u.a.: «[Taboo] has a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden» (OED, s.v.). FEW (20, 115a); in der Form taboo ist es seit 1782 belegt (PR, s.v.), als tatoo seit 1782 (TLF, s.v.). DHLF verweist auf die Frequenzsteigerung durch Sigmund Freuds Totem und Tabu, so dass nicht zuletzt die Kritik an der Ausweitung des Ausdrucks Tabu durch E. Durkheim fruchtlos sein sollte, der die Verwendung von interdits und interdictions vorschlug (s.v.), die zudem unpassend erscheint (cf. infra p. 10s.). GE, ebenso DELI: «1795, G. Cook ‹questo spazio era allora taboo, parola che qui come nelle isole precedenti, significa un luogo interdetto›, Viaggio intorno al mondo, IV, Venezia, p. 315». Die Form tabu ist seit 1895 belegt, tabù seit 1905 (s.v.). Ob die religiöse Bedeutung ‘heilig’ oder die profane ‘verboten’ die ursprüngliche war, ist umstritten; cf. F. Pfister (1937, 629). Roloff (1965) in LAW; cf. dazu ausführlich auch Greschat (2000) in TRE.

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übergeht,6 ist im Laufe der Zeit7 sowohl in der Allgemeinsprache weit über den kultisch-religiösen Bereich hinaus auf tabuisierte Verhaltensweisen im menschlichen Zusammenleben ausgedehnt worden,8 als auch in einzelnen Gebieten und Berufen (wie z.B. bei Seeleuten) zu spezifischen Ausprägungen gekommen, wobei der Aberglaube nach wie vor eine maßgebliche Rolle spielt.9 Dabei werden das Tabuverständnis und seine Erscheinungsformen als Indikatoren der zeit- und gesellschaftsspezifischen Verhältnisse hervorgehoben, da Tabus meist zu den religiös und sittlich orientierenden Verhaltensmustern einer Gesellschaft gehören und ihre Existenz ebenso wie der Grad ihrer Bedeutung dem politischen, kulturellen und sozialen Wandel dieser Gesellschaft unterliegen, was sowohl für ihre Befolgung als auch für ihren Bruch gilt. Gemäß dem volkstümlichen Denken wurde ein solcher Bruch im religiösen Bereich lange Zeit durch die davon betroffenen übernatürlichen Mächte geahndet, was entweder individuell erfolgen konnte, z.B. durch eine Erkrankung, oder auch kollektiv, z.B. durch eine Epidemie. So ist es verständlich, dass neben den übernatürlichen Mächten als bestrafender Instanz auch die betroffene Gruppe selbst auftreten kann, die im Falle einer Epi-

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Cf. z.B. Balle (1990, 17–21) sowie die ausführliche Behandlung der verschiedenen Ansätze zur Definition des Tabubegriffs durch Rada (2001, 20–34). Zur Antike cf. z.B. Roloff (1965) in LAW oder auch Frazer: «Taboo is only one of a number of similar systems of superstitions which among many, perhaps among all races of men have contributed in large measure, under many different names and with many variations of detail, to build up the complex fabric of society in all the various sides or elements of it which we describe as religious, social, political, moral and economic» (1976, V). Zu Recht meint daher Seibel, die den Tabubegriff aus soziologischer Perspektive ausführlich behandelt, dass der Ausdruck «eine semantische Leerstelle» besetze, da es für «soziale Verbote mit magischem Charakter, die sich als Verhalten, als Nicht-Handeln, äußerlich präsentierten» und im «Modernisierungsprozeß der Gesellschaft» herausgebildet hatten, kein Wort gab (1990, 265). Als Beispiel sei – neben Bräuchen wie an Neujahr Kaminkehrerfiguren und Glücksklee zu verschenken – auf den Glauben an die Kraft bestimmter Zahlen verwiesen. In einem neueren Verhaltensratgeber werden noch bestimmte Tage als dies mali, Unglückstage, aufgelistet (Fink 2007, 315). V.a. aber ist an die Aussparung der Zahl 13 bei der Nummerierung von Straßen, Straßenbahn- und Buslinien, Hotelzimmern und Etagen zu denken (Bandini/Bandini 1998, s.v. dreizehn). Zu den «Erz-Triskaidekaphobikern» gehören sowohl Napoleon, der für den Dreizehnten keine Schlachten zu planen pflegte, als auch Gabriele d’Annunzio, der seine Korrespondenz im Jahre 1913 mit «1912+1» datierte (Gerlach 1998, s.v. dreizehn). In Italien gilt zudem die 17 als Unglückszahl, da u.a. ein Anagramm der römischen Zahl XVII die Perfektform VIXI ergibt oder die Sintflut «am siebzehnten Tag» hereinbrach (Gen 7,11). Unglückstag ist dort daher Freitag (Todestag Jesu), der Siebzehnte; in Gebäuden wird teilweise keine 17. Etage gezählt, in Flugzeugen der Alitalia fehlt die 17. Reihe, bei den autostrade die A17, und das Model R17 von Renault wurde in Italien als R177 vertrieben. In China herrscht hingegen Tetraphobie (sì ‘vier’, Lautähnlichkeit mit ‘Tod’), während als Glückszahl dort wiederum die acht gilt (bā ‘acht’, Lautähnlichkeit mit ‘Reichtum’).

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demie den oder die Tabubrecher als Verursacher sucht und ihm bzw. ihnen gegenüber Sanktionen ergreift, die bis zu gerichtlichen Verurteilungen und legislativen Maßnahmen führen können. Für die heutige Verwendung des Wortes im Französischen und Italienischen mögen die hier interessierenden, d.h. die Sprache einbeziehenden Definitionen10 aus den den Korpora zugrunde liegenden Wörterbüchern Petit Robert (PR) und Zingarelli (Z) und den vergleichsweise herangezogenen Lexika Trésor de la langue française (TLF) und Grande dizionario della lingua italiana (GDLI) stehen. PR bringt nur eine sehr knappe Definition: «1. Système d’interdictions de caractère religieux appliquées à ce qui est considéré comme sacré ou impur; interdiction rituelle [...] – Adj. Qui est soumis au tabou, exclu de l’usage commun par le tabou. Des armes taboues 2. (1908) Ce sur quoi on fait silence, par crainte, pudeur. Les tabous sexuels. – Adj. (parfois inv.) [...]. Sujets tabous» (PR, s.v. tabou).

TLF enthält in komplexer Struktur differenziertere Angaben, die im Folgenden ohne Beispiele aufgeführt sind. Mit den Ausdrücken langage (I.B.1) und prononcé (II.A.2.b), die allerdings nur als Elemente innerhalb von Aufzählungen erscheinen, wird auch speziell die sprachliche Seite von Tabus thematisiert: «I. – Subst. masc. A. – Anthropologie 1. Personne, animal, chose qu’il n’est pas permis de toucher parce qu’il (elle) est investi(e) momentanément ou non d’une puissance sacrée jugée dangereuse ou impure [...] 2. P. méton. Interdiction de caractère sacré qui pèse sur une personne, un animal, une chose [...] B. – 1. Interdit d’ordre culturel et/ou religieux qui pèse sur le comportement, le langage, les mœurs [...] 2. P. ext. Règle d’interdiction respectée par une collectivité [...] II. – Adjectif A. – [En parlant d’un inanimé abstr. ou concr.] 1. [Corresp. à supra I A 2] Qui est l’objet d’un tabou [...] 2. [Corresp. à supra I B] a) Qui est interdit par une crainte sacrée, surnaturelle [...] b) Qui ne peut être fait, prononcé, touché par crainte, par respect, par pudeur [...] B. – [En parlant d’une pers.] Qui est l’objet d’une considération, d’un respect qui ne se discute pas [...]» (TLF, s.v. tabou).

Ausführlicher geht Zingarelli auf Sprachtabus ein: «1 Presso i Polinesiani [...] | Presso tutte le religioni primitive e, talvolta, in quelle superiori, ciò che è sacro, proibito | (est.) Situazione, oggetto, tempo, luogo,

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Die Tabubegriffe anderer Disziplinen, wie sie in Nachschlagewerken ebenfalls thematisiert sind, können hier unberücksichtigt bleiben. Cf. dazu auch Kapitel 1.2 in Rada (2001).

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persona carichi di presenza religiosa o di cautela cerimoniale. 2 (est.) Proibizione ingiustificata | T. linguistico, proibizione o censura, da parte della comunità, dell’uso di parole identificate, secondo una concezione quasi magica del significato, con l’oggetto designato o evocato e appartenente di solito alle sfere dei termini riguardanti divinità, organi e attività sessuali, malattie temibili [...] | (scherz.) Cosa non nominabile, argomento, tesi che non si possono criticare o persona che non si deve o non si può avvicinare» (Z, s.v. tabù).

Und auch GDLI enthält eine spezielle Erklärung zu Sprachtabus: «Tabù lessicale, linguistico o verbale: divieto di pronunciare il nome di certi oggetti se non con perifrasi, per motivi di ordine religioso o superstizioso, o, per estens., eufemismi determinati da ragioni morali o di convenienza sociale» (GDLI, s.v. tabù).

Insgesamt zeichnet sich als Ergebnis dieser Definitionen das Verständnis des Tabus als einer Verhaltenseinschränkung ab, die mehr oder weniger Sollnormcharakter hat. Die dafür verwendeten Bezeichnungen thematisieren das Tabu oder Sprachtabu oft als fr. interdiction, it. proibizione, also als Verbot.11 Bei «Verbot» handelt es sich jedoch um einen strafrechtlichen Begriff, nach dem ungeachtet der Person jeder Übertritt geahndet wird. Ein Tabu ist dagegen Teil eines interiorisierten Verhaltenskodexes einer jeweiligen Gesellschaft, ideologisch oder sozialpsychologisch ausgelegt und somit letzten Endes ethisch begründet. Ein Verbot trifft beim Sprachtabu nur die magisch-religiösen Worttabus, für deren Übertretung in Form blasphemischer Äußerungen in der königlichen Legislation früherer Zeiten schlimme, bis zur Todesstrafe reichende Sanktionen vorgesehen waren, da solche Tabuverletzungen nach dem lange verbreiteten Volksglauben dem Volke insgesamt Unheil bringen (cf. 5.1.2.2). Abgesehen von heutigen Überlegungen, die Blasphemie (in bildlichen Darstellungen und Worten) u.a. zur Wahrung des sozialen Friedens im Zusammenleben verschiedener religiöser Gemeinschaften wieder unter Strafe zu stellen,12 sind alle anderen Wort- und Aus-

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Cf. dazu z.B. Radtke (1980, 191), Danninger (1982, 237) oder Lebsanft (1997, 114s.). Zur weiteren Differenzierung der beiden Begriffe seit Freud cf. Rada (2001, 26s.). Es sei in erster Linie an manch eine Argumentationsweise im 2006 eskalierten Streit um die besonders scharfe Proteste auslösenden Mohammed-Karikaturen erinnert, die 2005 in der dänischen Zeitung Jyllands Posten erschienen, ferner auch an die Kritik an der 2007 in der schwedischen Zeitung Nerikes Allehanda abgedruckten Darstellung Mohammeds als Rondellhund (Nachbildung eines Hundes auf der Mittelinsel eines Kreisverkehrs) durch Lars Vilk (cf. z.B. Meissl-Årebo 2007), zudem an den umstrittenen Einfall Madonnas, sich auf ihrer ConfessionsTournee (2006) mit einer Dornenkrone am Kreuz zu zeigen, was bei Katholiken und russisch-orthodoxen Christen starke Empörung auslöste, und an generelle Fragen wie die der Akzeptanz der Darstellung von sexuellen Handlungen an/durch Gott oder Jesus in der Kunst, der Instrumentalisierung religiöser Symbolik in der Werbung und (teilweise damit verbunden) der Verfremdung bekannter Bilder

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druckstabus vorwiegend sprachethischer Natur. Sie sind im genannten Sinne also keine Verbote mit strafrechtlichen Folgen, sondern Verhaltensgebote für eine Gesellschaft oder eine bestimmte Gruppe von Menschen dieser Gesellschaft in einer bestimmten Epoche. Eine Ausnahme bilden gegebenenfalls autoritäre Systeme, wie die ehemalige DDR, in deren offiziellem Sprachgebrauch z.B. ein Worttabu wie Engel durch Geflügelte Jahresendfigur ersetzt wurde,13 was unzweifelhaft zu entsprechend starker Polemik führte. Die Übertretung von nicht strafbewehrten Geboten hat für den Sprecher aber nur Folgen sozialer Art, wie es u.a. im Dictionnaire de linguistique formuliert ist: «Dans les cultures des communautés des pays développés, il existe aussi des mots tabous (tabous sexuels, tabous religieux, tabous politiques): la transgression des tabous a pour conséquence le rejet du locuteur du groupe social ou, du moins, la dépréciation qui s’attache alors à son comportement» (Dubois et al. 1994, s.v. tabou).

Die Strenge des Gebotes, ein Worttabu zu beachten, ist dabei unterschiedlich, «[…] nécessairement variable, conditionnée par l’attitude d’une société donnée: par la valeur, d’une part, que cette société attache aux mots en tant que mots, d’autre part, par son état de raffinement, sa sensibilité à l’égard des choses et des actes et, par conséquent, des mots qui les désignent» (Orr 1963, 25).

Die Verwendung von Euphemismen ist selbstredend von negativen Folgen ausgeschlossen, da durch sie die Übertretung von Sprachtabus umgangen wird, denn: «L’euphémisme […] est essentiellement un fait social, étant donné qu’il trouve son origine dans l’action, la pression exercée par la collectivité sur l’individu» (Orr 1963, 25). Es handelt sich beim Sprachtabu also um einen soziolinguistischen und daher auch soziokulturellen Begriff, der als Tabu zum Sozialverhalten gehört und dessen Nichtbeachtung sich im Allgemeinen negativ auf das Sozialprestige des Sprechers auswirkt und gegebenenfalls auch auf jenes des ihn anhörenden oder den Tabubruch gar akzeptierenden Adressaten.

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mit religiöser Thematik. Als Beispiel für Letzteres sei auf die Umgestaltung des Cenacolo Leonardo da Vincis für Werbezwecke verwiesen: Auf einem Plakat der Modemarke Otto Kern von 1993 ist Jesus von barbusigen Models umgeben; in einer Anzeige des Modehauses Girbaud von 2005 sind ein männlicher Apostel mit nacktem Rücken und zwölf weibliche Models zu sehen, von denen eine offensichtlich Christus darstellen soll. Die Kampagnen mussten wegen einer Rüge des deutschen Werberats bzw. einer Klage der katholischen Kirche in Frankreich eingestellt werden. Andere Beispiele zitiert Rada, so u.a. Spreerosette anstelle von Schokoladenkuss (cf. auch infra p. 310 n. 274) und v(or) u(nserer) Z(eitrechnung) anstelle von v(or) Chr(istus), aber auch Krusta oder Fahrerlaubnis (2001, 57–59), obwohl auch Pizza und Führerschein in Gebrauch waren. Bezeichnend ist hingegen die Umkehrung der Bedeutung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber (cf. infra p. 282).

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2.1.2 Vom Themen- zum Lauttabu. Ein Kontinuum Ganz abgesehen wird hier von reinen Handlungs- und Sachtabus,14 die keine tabuisierte sprachliche Komponente enthalten.15 So geht es im Folgenden nur um jene Tabus, die den schriftlichen oder mündlichen Diskurs von längeren Texten bis hin zur Laut- oder Buchstabenebene einzelner Ausdrücke betreffen. Am weitesten greift die Tabuisierung ganzer Bücher, deren Lektüre aufgrund einzelner oder mehrerer Themen untersagt wurde und die im Rahmen der Inquisition auf die Indizes verschiedener Länder gesetzt wurden, die im 16. Jahrhundert aufkommen, so z.B. 1543 in Venedig, 1544 in Paris, 1546 in Louvain. 1559 erscheint der Index des Vatikans, Index librorum prohibitorum, welcher 1571 durch einen Index expurgatorius librorum ergänzt und erst 1966 abgeschafft wurde.16 Ähnlich wie in Büchern betrifft das Tabu auch in der mündlichen Kommunikation Themen, über die generell oder zumindest in bestimmten Situationen aus unterschiedlichen Gründen geschwiegen wird oder geschwiegen werden soll. Dies gilt auch völlig unabhängig

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Hierzu können traditionell z.B. das Betreten von Kultstätten und das Jagen, Schlachten oder Essen heiliger Tiere gehören, aber heute auch Rauchen in der Öffentlichkeit z.B. in Quebec, Spucken auf der Straße z.B. in Augsburg, selbständige Platzwahl im guten französischen Restaurant oder Verstöße gegen (jeweils kulturspezifisch definierte) Tischsitten; ebenso ist z.B. öffentliches Telephonieren mit dem Handy oder dessen Sichtbarkeit für den kultivierten Franzosen tabu, während der Italiener es im Restaurant vor sich ungeniert auf den Tisch legt (zur Omnipräsenz des Handys in Italien cf. auch Simone 2000). Handlungstabus schließen sicherlich auch einen Großteil der Berührungs- und Wahrnehmungstabus ein, die der Psychoanalytiker Kraft (2004, 59–68) davon abzugrenzen sucht. Als «bekanntestes Handlungstabu der Welt» nennt Kraft Inzest (2004, 59), als Beispiel für Berührungstabus die (z.B. als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz strafrechtlich verfolgte) unerlaubte Berührung des weiblichen Gesäßes und Busens in der Öffentlichkeit. Wahrnehmungstabus teilt er weiter auf in Sprach-, Bild-, Geschmacks-, Geruchs- und Tasttabus und gibt als Beispiele für Bildtabus das erste Gebot des Christentums und das generelle Abbildungsverbot von Menschen und Tieren im Islam sowie bestimmte – je nach Kontext unterschiedliche – Bildtabus im Fotojournalismus; für Geschmackstabus den Verzehr von Rindfleisch bei Hindus, Schweinefleisch bei Juden oder Moslems und Hunden oder Maden in Westeuropa, für Geruchstabus Körpergeruch (ein schönes Beispiel für ein Sachtabu) und das Ansprechen von Körpergeruch beim Gegenüber (im engeren Sinne ein Thementabu und damit Teil der Sprachtabus, ebenso wie Tasttabus, zu denen Kraft keine Beispiele nennt, wohl Teil der Berührungstabus sind). Cf. Bologne (1986, 253 und 270). Auf dem vatikanischen Index erschienen in der Folge z.B. Werke von Erasmus, Montaigne, Descartes, Lafontaine, Lamartine, Dumas, Hugo, Balzac, Flaubert, Sand, Heine, Sartre und «Comble de l’ironie: depuis le 22 mars 1745, le Vatican a mis à l’Index… tout simplement la Bible» (Bologne 1986, 253; cf. auch H. Wolf 2006). Die bekannt gewordene Lektüre der entsprechenden Werke implizierte für den Katholiken die Exkommunikation.

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von eventuell tabuisierten Wörtern, die dabei zu vermeiden wären. Solche Themen- oder Konversationstabus (cf. Schröder 2000) sind im kultivierten Umgang wirksam; ihnen unterliegen z.B. Gespräche über den Toilettengang oder Inkontinenz beim Essen im Restaurant in guter Gesellschaft, sorgloses Reden über Geschwüre ausgerechnet mit einem Krebskranken oder aber im Bereich der interkulturellen Kommunikation eine Diskussion über die Stellung der Frau und der Religion mit einem traditionell denkenden arabischen Geschäftspartner17 bzw. ein vertiefter fachlicher Monolog beim abendlichen Empfang französischer Kollegen.18 Im öffentlichen politischen Diskurs gelten wieder andere Konversationsmaximen,19 wobei in Frankreich auf traditionelle Thementabus wie das Vichy-Regime, bestimmte Ereignisse im Algerienkrieg oder das erst jüngst20 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangte Privatleben französischer Präsidenten zu verweisen ist. Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden demgegenüber die sprachlich fassbaren Tabuisierungen unterhalb der lexikographisch nicht erfassten Text- und Satzebene und nicht das Schweigen über bestimmte Dinge und Sachverhalte oder deren Verschweigen, das unabhängig davon zu sehen ist, dass die entsprechenden sprachlichen Ausdrucksweisen meist dennoch existieren, aber tabuisiert sind, was seinen Niederschlag nicht zuletzt auch in der Lexikographie finden kann:21

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Cf. z.B.: «Im Irak gilt es nicht nur als Tabu, sondern auch als provokativ, die Probleme zwischen den Religionsgemeinschaften und Bevölkerungsgruppen offen auszudiskutieren» (Bergmann 2005). So Röseberg, die resümierend festhält: «In einer französischen conversation steht nicht der Informationsaustausch oder das Diskutieren eines Themas im Vordergrund, sondern der Auf- und Ausbau bzw. die Pflege eines sozialen Netzwerkes, also der sozialen Beziehungen der Gesprächsteilnehmer» (2001, 162), wobei lange Ausführungen zu eigenen Projekten ohne Bekundung von Interesse am Gesprächspartner im Rahmen eines geselligen Beisammenseins auch deutschen Höflichkeitskonventionen widersprechen, das immer wieder festgestellte geringere Interesse vieler Franzosen an bloßen Fakten, wie es z.B. Hall im Rahmen seiner Theorie zu high- bzw. low-context cultures dokumentiert (u.a. Hall 1977, 91; Hall/ Hall 1990, 35, 49s., 102, 107), deren Informationsbedarf aber zweifelsohne früher decken lässt. Cf. z.B.: «Über das, was nach dem Fall der Enklave geschehen sei [Massaker und Überfälle von beiden Seiten], so sagt ein anderer Serbe, werde hier [in Srebrenica, wo heute wieder Serben und Muslime nebeneinander leben] nicht gesprochen, das sei ein Tabu-Thema, es herrsche das ‹Gesetz des Schweigens›» (Stieger 2005). Cf. hierzu auch 5.4 sowie Themen, wie sie in 5.3 behandelt werden. Cf. Nicolas Sarkozy: «Cette évolution vers la transparence de la vie privée, inimaginable il y a seulement dix ans, est devenue inéluctable aujourd’hui» (2006, 47). So vermisst z.B. Galli de’ Paratesi (1992, 86) im etymologischen Wörterbuch von Cortelazzo/Zolli (1980) fica, fregna und fottere. Zur Tabuisierung von Wörtern in der französischen Lexikographie cf. u.a. Girardin (1979), die am Beispiel von con, couille und cul verschiedene Arten lexikographischer Zensur illustriert; Feldman

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«Il dizionario poggia cioè su un complesso di norme e sanzioni di ordine linguistico e culturale, che si rivelano conformi ai valori dominanti di una società. Le sanzioni sono presenti, in modo più o meno scoperto, sia attraverso il gioco dell’indicazione dei registri di lingua (es. volgare, ingiurioso, familiare, popolare, gergale, regionale ecc.), sia attraverso la censura di un termine o di una accezione particolare omessi dal dizionario. […] Termini utilizzati da tutti i parlanti di una comunità sono esclusi […], perché toccano argomenti ed aspetti tabù, sopratutto di ordine sessuale, politico o religioso, su cui la società dominante ha posto un veto in nome di un presunto ordine già costituito che non va messo in discussione» (Sgroi 1981, 403).

Tabuisierte Ausdrucksweisen schließen Sprechakte mit ein, die z.B. dann von einem Tabu belegt sind, wenn es sich um die blasphemische Verwendung religiösen Wortschatzes handelt wie beim Fluchen, und bilden ein Kontinuum, das vom Syntagma einer Fluchformel bis hin zum einzelnen Wort reicht. In der Sprachgeschichte lassen sich zudem Beispiele für Tabuisierungserscheinungen finden, die unterhalb der Wortgrenze liegen und damit einfache Laute oder Silben umfassen, die aufgrund ihres Vorkommens in vulgären Ausdrücken negativ konnotiert sind und daher auch im an sich unverfänglichen Kontext Anstoß erregen (cf. infra p. 231). 2.1.3 Tabuisierung aus zeichentheoretischer Sicht Die Diskussion über die Frage nach dem Gegenstand sprachlicher Tabuisierung wird kontrovers geführt, denn auf der einen Seite steht die Auffassung, dass alle Tabuisierungen die zu nennende Sache, den Gegenstand, die Person oder den zu nennenden Sachverhalt betreffen, auf der anderen diejenige, die nur die sprachliche Seite vom Tabu betroffen sehen will. Die Grenze zwischen beiden zu ziehen, ist insofern schwierig, als die Haltung gegenüber der zu bezeichnenden Realität in der Regel schwerlich von der Verwendung einer bestimmten Bezeichnung zu trennen ist. So lautet denn auch eine Art Kompromiss, der auf Porzig zurückgeht und dem sich Rada anschließt, wenn sie festhält,

(1980), die mit ihrer Untersuchung der Larousse-Ausgaben von 1906–1978 eine Lockerung von Tabus im Hinblick auf die Auswahl der Lemmata und die Gestaltung der Definitionen aufzeigt; Sgroi (1981), der anhand der Sexualterminologie mehrere Wörterbücher vergleicht; A. Lehmann (1989), die verschiedene Arten des Umgangs mit Sexualtabus in Mikro- und Makrostruktur einsprachiger einbändiger Lexika inventarisiert; und Boulanger (1986), der neben der «interdiction sexuelle» auch die «interdiction culturelle, sociale, politique, religieuse, artistique, littéraire und onomastique» behandelt und jüngst besonders die Politische Korrektheit (bei ihm néobienséance; cf. Boulanger 1999, 2000, 2001) im Blick hat, «[qui] veut faire croire que la justice sociale passe par l’élimination du vocabulaire incriminé» (2000, 312).

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«[…] daß es die Sachen, Themen sind, die dem Tabu unterliegen, aber die Anstößigkeit dieser läßt sich auf die entsprechenden Bezeichnungen übertragen, so daß eine Umschreibung notwendig wird» (2001, 41).

Dieser Aussage widersprechen allerdings jene Euphemismen, die sich auf durchaus geschätzte «Sachen» beziehen. Ein einfaches Beispiel möge als Illustration dienen: Kartoffelpüree ist sachlich etwas, das überall gegessen und geschätzt wird, aber die volkstümlichen Bezeichnungen Kartoffelstampf und v.a. Kartoffelbrei sind durch -stampf bzw. -brei negativ konnotiert, so dass auf Verkaufspackungen und Speisekarten von Restaurants gehobener Kategorie eher Bezeichnungen wie Kartoffelpüree oder Kartoffelstock verwendet werden. Im Französischen lässt sich als vergleichbares Beispiel der Ersatz von amuse-gueule durch amuse-bouche anführen, dem keine Tabuisierung der bezeichneten «Gaumenfreuden», sondern die bloße Anstößigkeit von gueule zugrunde liegt.22 Dt. Kartoffelbrei und fr. amuse-gueule widerlegen neben dem von Rada angebotenen Kompromiss aber v.a. klare Stellungnahmen zugunsten eines Sachtabus, so z.B. diejenige Ch. Lehmanns, der kompromisslos ausführt: «Der Mechanismus der Ersetzung eines Tabuwortes durch einen Euphemismus beruht darauf, dass das Designatum anstößig ist. Dieses wiederum hat mit Sprache gar nichts zu tun, sondern beruht auf moralischen Konventionen einer Gemeinschaft (oder von Teilen davon)» (2008, 1s.).

Doch diese Position liegt wohl auch im Dictionnaire de linguistique zugrunde, demzufolge es «verboten» ist, die Sache zu nennen, anstatt ihre Benennung durch Verwendung der direkten Bezeichnung zu vermeiden: «Il existe des contraintes sociales qui, dans certaines circonstances, empêchent ou tendent à empêcher l’utilisation de certains mots: ces tabous linguistiques sont caractérisés par le fait que le mot existe bien mais qu’on ne peut pas l’employer: il est interdit de ‹nommer› la chose» (Dubois et al. 1994, s.v. tabou).

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Außerhalb der Kulinarik lässt sich auf die Tabuisierung der Wendung dt. etwas bis zur Vergasung tun verweisen, deren konkrete aus der Physik entstammende Bedeutung ebenso wenig anstößig ist wie die metaphorische ‘etwas bis zum Überdruss tun’, die aber allein aufgrund sekundärer Remotivierung durch die Assoziation mit der Massenvernichtung von Juden unaussprechbar wurde (cf. resümierend Müller 2002). Dass Tabuisierungen zunächst harmlosen Ausdrücken aufgrund späterer Verwendungsweisen auferlegt werden können, zeigt in diesem Kontext auch antikes Mens sana in corpore sano, dessen Stigmatisierung auf die Umdeutung im NS-Regime zurückgeht, ferner in der westlichen Kulturtradition fest verwurzeltes Suum cuique, Jedem das Seine, dessen Erscheinen als Inschrift des Lagertors von Buchenwald noch im Januar 2009 eine PR-Aktion von Tchibo und Esso stoppen ließ, in der mit dem Slogan Jedem den Seinen für Kaffeesorten geworben wurde. Zur Tabuisierung originär die Judenverfolgung bezeichnender Ausdrücke cf. infra p. 293 n. 249.

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Natürlich könnte hier auch von einer undifferenzierten Ausdrucksweise ausgegangen werden, doch wird die Annahme der Zugrundelegung einer Tabuisierung des Referenten dort auch s.v. euphémisme bestätigt, in dessen Definition sich die «crudité» eindeutig auf die «faits» oder die «idées» bezieht (cf. p. 21). Gegenüber ähnlichen Formulierungen der Auffassung, wonach die Sache tabuisiert wird, lässt sich schon auf einen Passus aus De officiis verweisen, in dem zwischen dem, was der Sache nach schändlich ist, aber dennoch offen bezeichnet wird, und dem, was der Sache nach nicht schändlich ist, wohl aber in Worten als verwerflich gilt, unterschieden wird. Zur Illustration von Letzterem wird erklärt, dass es ehrenvoll sei, Kinder zu zeugen; dies aber beim Namen zu nennen, sei anzüglich.23 Die mit diesem Beispiel verbundene zeichentheoretische Grundaussage ist bis heute aktuell und verlangt – trotz der Nähe des Beispiels zu Thementabus – nähere Betrachtung. So vertritt z.B. auch Hjelmslev die Position: «[…] es ist nicht die Sache selbst, sondern das Zeichen, das unter Tabu steht, und wenn man ein fremdes Zeichen benützt, fällt der garstige Beigeschmack weg. Oder man wählt willkürlich ein anderes Zeichen, das eigentlich etwas ganz anderes bedeutet, aber in seiner äußeren Form hinlänglich an das unter Tabu stehende Wort erinnert, so dass die Andeutung verstanden wird» (Hjelmslev 1968, 81).

Hjelmslev spricht also klar von einer Tabuisierung des Zeichens, was vor dem Hintergrund seines Zeichenmodells und dessen semiotischen Implikationen zu verstehen ist,24 ohne dass er jedoch eine explizite Antwort auf die Frage gibt, was der «garstige Beigeschmack» ist. Lanza betrachtet diese Frage unter Einbezug des Zeichenmodells von Peirce25 und kommt dabei zu folgendem Ergebnis:

23

24

25

Cf. im Original: «Nec vero audiendi sunt Cynici […] qui reprehendunt et irrident, quod ea, quae re turpia non sint, verbis flagitiosa ducamus, illa autem, quae turpia sunt, nominibus appellemus suis. Latrocinari, fraudare, adulterare re turpe est, sed dicitur non obscene; liberis dare operam re honestum est, nomine obscenum» (De officiis I, 35, 128 – 2003a, 110). Als weiteres Beispiel ließe sich die Menstruation anführen, deren Benennung tabuisiert ist, obwohl sie der Sache nach als natürliches Vorgehen im weiblichen Körper nicht kritisiert werden kann, auch wenn sie gegebenenfalls als abstoßend empfunden wird, was aber auch im Falle des «Kinder-Zeugens» der Fall sein kann, das z.B. für Montaigne nur sündig oder lächerlich vorstellbar ist: «Par tout ailleurs vous pouvez garder quelque decence: toutes autres operations souffrent des reigles d’honnesteté: cette-cy ne se peut pas seulement imaginer, que vicieuse ou ridicule» (Essais III, v – 2007, 921). Im Hinblick auf die nachfolgenden Ausführungen sei daran erinnert, dass Hjelmslev zwischen gedanklicher und artikulatorischer amorpher Masse unterscheidet, die als organisierte, perspektivierte Inhalts- und Ausdruckssubstanz in jeweiliger Inhalts- und Ausdrucksform das sprachliche Zeichen konstituiert und so die ungegliederten außersprachlichen Kontinua einzelsprachlich selektiert, ordnet und perspektiviert. Nach Peirce hat das Zeichen bekanntlich zwei Objekte, zum einen «das Objekt, das es selbst zu haben darstellt, sein Unmittelbares Objekt» (Peirce 1990, 402), das

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«Das, was unter Tabu steht, ist das Zeichen, wie Hjelmslev zutreffend in Die Sprache behauptet. Aber dieses Zeichen repräsentiert die Realität, den Referenten, und zwar in einer bestimmten Beziehung, unter einem bestimmten Gesichtspunkt, organisiert und subsumiert eine bestimmte Substanz […]; diese bestimmte Art und Weise ein Objekt zu repräsentieren, zu erkennen und mitzuteilen: genau das ist es nämlich, was tabuisiert wird» (Lanza 2002, 33).

Das Zeichen wird somit aufgrund seines Signifikats, dessen denotativer Selektion und der damit evozierten Konnotationen, Assoziationen und sozialen Wertungen tabuisiert, da in ihm die Hjelmslevsche Substanz und ihre verschiedenen Ebenen in einer bestimmten Inhaltsform als geformte Substanz erfasst ist, die den Referenten aus dem Realitätskontinuum in einer bestimmten Weise auswählt und perspektiviert. So formuliert z.B. Hagège: «Les stratégies verbales d’évitement que, depuis la fin du XVIIIe siècle, on appelle tabous […] n’ont pas pour cible l’objet tabouisé lui-même, mais bien le signifié, automatiquement convoqué par la seule profération du signifiant. En proscrivant les sons du mot tabou, on refoule du même coup son sens, et toutes les notions que son évocation réveille» (Hagège 1986, 100s.).

Die daran logischerweise anzuschließende Frage, warum gerade Zeichen mit einer bestimmten Perspektivierung tabuisiert werden, kann unter Hinweis auf die von Hjelmslev26 und Peirce thematisierten kulturellen Gewohnheiten, sozialen Wertungen und kollektiven Vorstellungen beantwortet werden. Nach Peirce werden diese vom (noch weiter untergliederten) «Interpretanten» erfasst, in dem als wichtige Inhaltssubstanz eine zusätzliche kulturell und sozial kontextualisierte Komponente27 vorliegt, die mit dem Zeichen

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27

ungefähr der «Inhaltsform» Hjelmslevs entspricht, und zum anderen «das Reale Objekt, das wirklich das Zeichen determiniert hat, das [Peirce] normalerweise das Dynamische Objekt [nennt]» (Peirce 1990, 402) und das Hjelmslevs «amorpher Masse» entspricht. Hjelmslevs «Ausdrucksform» ist bei Peirce das «Repräsentamen», während er die Art der Darstellung und Perspektivierung eines Objektes durch ein Zeichen (Hjelmslevs Inhaltssubstanz), den «ground of the representamen» nennt: «The sign stands for something, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reference to a sort of idea, which I have sometimes called the ground of the representamen» (Peirce 1965, 135 bzw. CP 2.228; cf. auch Lanza 2002, 32s.). So sagt Hjelmslev deutlich, dass je nach Sprache und Gesellschaft die Substanzebene als Ebene der Wertung aufzufassen ist, und präzisiert z.B., «que à l’intérieur de cette substance le niveau primaire, immédiat, parce que seul directement pertinent du point de vue linguistique et anthropologique, est un niveau d’appréciation sociale» ([1954] 1970, 53; cf. z.B. auch [1957] 1970, 109s.). Cf. Lanza: «Die zusätzliche, spezifische, kontextualisierte Substanz, die die kulturelle Bedeutung prägt, wird in einer Gemeinschaft und von einer Gemeinschaft akzeptiert, fixiert, kodifiziert: es besteht Konsens über allgemein anerkannte soziale Wertungen und kollektive Vorstellungen, wie Hjelmslev sagt. Die kulturelle Bedeutung gilt jetzt als Gewohnheit: dies ist der Logische Finale Interpretant bei Pierce» (2002, 40).

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verbunden ist und durch seine Nennung evoziert wird. Sie umfasst die sozialen und soziokulturellen Wertungen, Normen und Ideologien, die in einer Gemeinschaft oder Gruppe allgemein akzeptiert werden und deren Verhalten bestimmen. Daraus folgt im hier interessierenden Kontext: «Das Vermeiden eines sprachlichen Zeichens, weil dieses den Referenten in einer Hinsicht repräsentiert, die als nicht ‹angemessen› gilt, und der Gebrauch eines zweiten Zeichens (eines Euphemismus z.B.), das das erste Zeichen ersetzt und somit die ‹unangemessene› Hinsicht verdunkelt, sind Handlungen, die für eine Gewohnheit stehen. Es handelt sich um eine Standardisierung der Kommunikation, die für eine Standardisierung des Denkens bzw. des Empfindens steht» (Lanza 2002, 41).

Mit diesen zeichentheoretisch präzisierenden Überlegungen28 kann ein Abschluss der Diskussion erreicht werden. Denn es dürfte klar geworden sein, dass der Gegenstand der Tabuisierung nicht die außersprachliche Wirklichkeit ist, sondern die Art und Weise, wie die Realität im Signifikat des sprachlichen Zeichens denotativ selektiert und perspektiviert ist. Dabei kann die unter Gewohnheit(en) subsumierte zusätzliche kontextualisierte Substanz, die auch alle im weiteren Sinne konnotativen Elemente eines Sprachzeichens, d.h. die mit ihm bzw. seiner Verwendung evozierten und implizierten soziound ideolinguistischen kulturspezifischen Komponenten umfasst, in die Perspektivierung oder – in anderen Worten – in die Gesamtaussage des Zeichens miteinbezogen werden. Im Prinzip besteht somit für jede der möglichen Konstituenten der Aussage eines Sprachzeichens die Möglichkeit, für dessen Tabuisierung und euphemistischen Ersatz verantwortlich zu sein. Gerade im Hinblick auf den Euphemismus muss bei einem so weit gefassten Verständnis der Perspektivierung des sprachlichen Zeichens die oft als unangemessen genannte Direktheit der Ausdrucksweise, die Verwendung eines «mot propre», eigens herausgestellt werden, da sich hinter ihr eine oder mehrere der zahlreichen Facetten verbergen können, die eine Tabuisierung auslösen. Dabei mag diese direkte Art der Benennung u.a. tabuisiert sein, wenn die Namen übernatürlicher Mächte oder ihnen zugeordneter Erscheinungen aufgrund übergeordneter Normen nicht ausgesprochen werden dürfen (cf. 5.1), wenn die direkte Bezeichnung als unästhetisch empfunden und damit als sozial stigmatisierend betrachtet wird oder ihr die Verbindlichkeit wechselseitiger Rücksichtnahme (cf. 5.2-3), aber auch die Täuschungsabsicht des Sprechers entgegensteht (cf. 5.4). So kann die Frage nach dem «Was» der Tabuisierung abschließend mit der im sprachlichen Zeichen denotativ und/oder konnotativ im obigen

28

D. Hartmanns Frage, «warum es genau jene Sachbereiche sind, die sprachlich tabuisiert werden» (1990, 147), kann somit nur in kulturhistorischen Ausführungen beantwortet werden, die die landes-, gesellschafts- und epochenspezifisch determinierten Interpretanten darstellen und in Kapitel 5 erfolgen.

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weiteren Sinne als unangemessen betrachteten und daher stigmatisierenden Perspektivierung einer tatsächlichen oder auch nur imaginären Realität beantwortet werden, wobei die negative Wertung dieser Perspektivierung in Gemeinschaften oder Gruppen dauerhaft perpetuiert werden kann oder zu bestimmten Zeiten der Kultur- und Sprachentwicklung schubweise aus den unterschiedlichsten Motiven auftreten und auch wieder verschwinden kann.

2.2

Tabuisierung und Enttabuisierung. Der Euphemismus

Angesichts der Bedeutung von Tabus für die Orientierung des individuellen Verhaltens und des sozialen Handelns in einer Gesellschaft, der Vielzahl an sprachlich Tabuisiertem und der oft gegebenen Notwendigkeit oder auch nur dem Wunsch, trotzdem über bestimmte Dinge zu sprechen, ist der Euphemismus eine ideale Verfahrensweise, wenn es darum geht, Tabus zu respektieren, ohne die eigenen Gesprächsbedürfnisse zu negieren.29 Er wird dadurch auch zu einem idealen Gradmesser für ihren Stellenwert in der betreffenden Gesellschaft oder Gruppe, denn es ist anzunehmen, dass sich die Tabuisierung von Ausdrucksweisen in der Quantität entsprechender enttabuisierender Sprachformen, also Euphemismen, niederschlägt. Ebenso kann sich gerade im Umstand, dass bestimmte Sachen oder Sachverhalte nur indirekt benannt werden, ganz direkt die tatsächliche Haltung der Sprecher diesen Themen gegenüber manifestieren,30 was den Euphemismus als Zeichen tiefer verankerter Auffassungen interpretieren lässt.31 Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass die Tabuisierung die im Signifikat einer Bezeichnung vorhandene Perspektivierung der Realität betrifft, die durch die Nennung des Signifikanten evoziert wird. Durch dessen Vermeidung im zivilisierten Umgang mit dem Gesprächspartner wird der Sprache eine Bezeichnungsmöglichkeit entzogen, die durch einen Euphemismus

29

30

31

Cf. z.B. Nyrop: «Il ne faut pas oublier, que c’est grâce à l’euphémisme que plus d’un publiciste, littérateur ou poète audacieux, a pu imprimer ce que chacun pensait et éviter la prison» (1913, 316), wobei auf die in 5.1.2 (infra p. 240) erwähnten Fälle von gerichtlich belangten Autoren zu verweisen ist, die sprachlich gegen Tabuisiertes verstoßen hatten. Cf. z.B. Bertram: «[…] euphemistic expressions […] are alleged to reveal what people really think and to show to the outside world bits of deep-seated modesty lurking in the remote corners of the subconsciousness. Euphemisms, though, represent all sorts of verbal avoidances and sincere efforts to avoid producing negative reactions to one’s words – a big order these days» (1998, V). Cf. z.B. Rawson: «Thus, euphemisms are society’s basic lingua non franca. As such, they are outward and visible signs of our inward anxieties, conflicts, fears, and shames. They are like radioactive isotopes. By tracing them, it is possible to see what has been (and is) going on in our language, our minds, and our culture» (1995, 1).

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ersetzt werden kann, der den Verlust wieder ausgleicht und durch die Modifikation oder den Ersatz des «corpus delicti» eine sprachliche Enttabuisierung bewirkt. Dadurch kann der Adressat oder der Betroffene, sofern es sich um Lebewesen oder übernatürliche Mächte handelt, beispielsweise nicht verletzt, beleidigt oder provoziert, sondern eher besänftigt, aufgewertet oder günstig beeinflusst werden. Das Phänomen selbst ist von alters her in den meisten Sprachen bekannt,32 erscheint in der heutigen Bezeichnung in den europäischen Sprachen aber relativ spät. It. eufemismo (in der Form eufimismo)33 ist immerhin seit 1603 belegt (DELI, GE, GRADIT), fr. euphémisme erst seit 1730 (PR, TLF).34 Das Wort geht auf gr. εὐφηµεῖν zurück, bestehend aus εὐ ‘gut’ und φημί ‘sage’, also ‘gute Worte sagen’.35 2.2.1 Auswertung historischer und aktueller Definitionen Nach den zeichentheoretischen Ausführungen unter 2.1.3 konnte der Euphemismus als eine tabufreie Bezeichnung definiert werden, die eine andere ersetzt, die durch ihre denotative und/oder konnotative Perspektivierung als anstößig gewertet wird. Hiermit prinzipiell konform gehen auch manche Definitionen aus der Literatur und so z.B. die folgende auf den Bezeichnungsprozess ausgerichtete Erklärung: «È la sostituzione di parole (verba propria), bandite dall’uso per effetto di interdizione linguistica che può avere cause psicologiche o essere prodotta dalle convenzioni sociali e culturali: paura, decenza, pudore, rispetto dell’altrui, sensibilità» (Beccaria 1996, s.v.).36

32

33 34

35

36

Cf. z.B. zum Lateinischen Uría Varela (1997), das Zitat aus Cicero aus 2.1.3 (supra p. 16) sowie die zahlreichen Beispiele und Stellungnahmen im Artikel euphémisme der Encyclopédie (Dumarsais 1756) und zum Mittelalter Zumthor (1952). Cf. «eufimismo: 1603, P. Segni e av. 1604, M. Adriani; eufemismo: 1820, Bonav.» (DELI, s.v. eufemia). Synonym oder mehr oder weniger synonym stehen daneben fr. (littér.) demi-mot ‘mot choisi dans le dessein d’atténuer une expression trop brutale’ (PR, s.v. demimot) mit dem Verweis auf «euphémisme». Auch expression pudique ‘qui ne dit pas les choses brutalement’ (PR, s.v. pudique) erfüllt diesen euphemistischen Zweck und verweist auf die «pudeur» als diskrete Reserviertheit des Sprechers. In der Antike hatte der Ausdruck noch seine volle Bedeutung: «Insbesondere im Kontext von Opferritualen stehen Appelle der Priester an die Menge, kein unglückbringendes Wort zu sprechen: ‹Euphēmeíte, euphēmeíte›» (Dietl 1996, 3). Cf. ebenso prozessorientiert z.B. Galli de’ Paratesi: «Eufemismo è quel fenomeno linguistico per cui alcune parole vengono evitate e sostituite con altre. […] A volte nel linguaggio comune, si intende per eufemismo il termine che viene usato al posto di quello colpito da interdizione: in questo senso preferiremo usare sostituto eufemistico o semplicemente sostituto» (1964, 17; 1969, 25), Widłak: «L’euphémisme est un phénomène consistant dans une action linguistique plus ou moins consciente, ayant pour but, sur le plan linguistique, de remplacer la syllabe, le mot

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In anderen Definitionen wird hingegen von einer Tabuisierung der bezeichneten Sache oder des bezeichneten Sachverhalts ausgegangen. So formulierte z.B. Vendryes, «[le mot] atténue la brutalité de la chose qu’on veut exprimer» (1921, 257s.), und auch in der neueren Definition aus dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik, die sich auf Luchtenberg (1975, 296) stützt, werden «unangenehme Dinge oder Sachverhalte» als Tabuisierungsgrund genannt (Dietl 1996, 1) und damit z.B. Euphemismen für Gott, das Kinderzeugen oder auch den durchaus geschätzen Kartoffelbrei nicht erfasst. Ähnlich unzulänglich ist die Definition aus dem Dictionnaire du français contemporain, in dem «certains faits ou certaines idées» für die Tabuisierung verantwortlich gemacht werden: «On appelle euphémisme toute manière atténuée ou adoucie d’exprimer certains faits ou certaines idées dont la crudité peut blesser. C’est par euphémisme qu’on dit il a disparu, il est parti pour un monde meilleur à la place de il est mort. L’euphémisme, comme figure de rhétorique, peut aller, dans l’antiphrase, jusqu’à l’emploi d’un mot ou d’un énoncé qui exprime le contraire de ce que l’on veut dire. Ainsi, dire de Pierre qu’il est très prudent peut être un euphémisme pour indiquer qu’il est très peureux» (Dubois et al. 1994, s.v. euphémisme).37

37

ou le groupe de mots interdits, par une forme euphémistique indirecte, formellement atténuante, voilant et masquant le contenu ‹non convenable›» (1970, 26), Papini: «Le parole tabuate […] vengono modificate o sostituite con altre parole […]. Questo procedimento linguistico si chiama eufemismo [….]: è una sorte di esorcismo, di scaramanzia o anche soltanto una forma di ossequio nei riguardi di un codice di rapporti sociali, come quando si evitano quelle parole che in un determinato ambiente sono avvertite come sconvenienti e oscene» (1977, 143) oder Dardano/Trifone: «Consiste nel sostituire un’espressione troppo cruda o realista con un’altra equivalente ma attenuata: così, invece di è morto, si preferisce è passato a miglior vita, non è più con noi, ha cessato di vivere, ha finito di tribolare, se n’è andato in cielo, si è spento, è scomparso ecc. Altri esempi di eufemismo sono: è in stato interessante per ‘è incinta’, cribbio per ‘Cristo’, le estremità per ‘i piedi’, donna di facili costumi per ‘prostituta’» (1996, 418). Als Beispiel für eine frühe zeichentheoretisch korrekte französische Definition sei hingegen auf die Erklärung Henri Freis verwiesen, der formale wie semantische Ersatzmechanismen berücksichtigt, wenn er festhält: «Tous les euphémismes sont des substitutions expressives» (1929, 269) und die Ausdruckskraft aus dem Gegensatz zum tabuisierten Zeichen ableitet: «L’essence de l’expressivité est de jouer avec la norme – sémantique ou formelle – exigée par la logique ou la grammaire normative. Quand on dit d’un homme: c’est un chiffon, on remplace la notion de qualité demandée par la logique (‹il est mou›) par celle de substance; mais si l’on dit de lui: c’est un ramollo, au lieu de: c’est un ramolli, on ne heurte plus la norme de la signification mais celle du signe […] Le signe normal est retenu par la mémoire et remplacé, dans la chaîne du discours, par un signe imprévu qui se charge d’expressivité grâce à cette opposition plus ou moins consciente» (1929, 237, 267).

21

Vor diesem Hintergrund sind nun zunächst die Definitionen in den Wörterbüchern zu betrachten, aus denen die Materialien der Korpora stammen. PR definiert euphémisme als: «Expression atténuée d’une notion dont l’expression directe aurait qqch. de déplaisant, de choquant» (PR, s.v. euphémisme).38

Die Definition steht bei aller Kürze im Einklang mit den obigen zeichentheoretischen Ausführungen zum Tabuisierungsgrund. Interessant ist (neben dem Verweis auf adoucissement und litote) auch das unter euphémiquement angegebene Antonym crûment, das seinerseits als «d’une manière crue […], sèche et dure, sans ménagement» definiert und mit dem Verweis auf brutalement, durement, rudement, sèchement angegeben ist. Der zum Abgleich des französischen Korpus konsultierte Trésor de la langue française formuliert seine Definition ähnlich bezeichnungsorientiert: «A. – Figure de pensée par laquelle on adoucit ou atténue une idée dont l’expression directe aurait quelque chose de brutal, de déplaisant [...] B. – P. méton. Prudence n’est que l’euphémisme de peur (Renard, Journal, 1895, p. 279). Le terme ‹inadapté› est un euphémisme qui abrite les diverses catégories de déficients physiques, d’arriérés mentaux, de déséquilibrés psychiques (Encyclop. éduc., 1960, p. 197) [...]» (TLF, s.v. euphémisme).

Für das Italienische ist die Definition in Zingarelli ebenso ganz auf den Ersatz der unangebrachten Bezeichnung bezogen: «Figura retorica mediante la quale si attenua l’asprezza o la sconvenienza di un’espressione usando una perifrasi o sostituendo un vocabolo con un altro: ad es. l’uso di ‹doloroso passo› per ‹morte› in: quanti dolci pensier, quanto disio/menò costoro al doloroso passo! (Dante Inf. V, 113–114)/La parola o l’espressione usata al posto di quella propria» (Z, s.v. eufemismo).

In GDLI, der zum Italienischen vergleichsweise herangezogen wurde, findet sich die folgende ausführlichere Definition, die ausdrücklich auch die formalen Deformationen der tabuisierten Bezeichnung mit einschließt: «Figura retorica consistente nel sostituire, per ragioni di convenienza sociale o per preoccupazioni di carattere religioso o morale o anche per motivi politici, parole o locuzioni di significato attenuato all’espressione propria, per addolcirne o mascherarne l’eccessiva violenza e crudezza; o anche nell’alterare e nel trasformare la parola propria, soprattutto quando si tratti di un termine che interessa l’ambito della religione o della morale, per renderlo non immediatamente riconoscibile e censurabile» (GDLI, s.v. eufemismo).

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Wenn auch leicht erweitert, gibt auch Grand Robert diese Definition: «Expression atténuée d’une notion dont l’expression directe est évitée (comme déplaisante, brutale, vulgaire)» (GRLF, s.v.).

22

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Definitionen von Euphemismus in den für die Erstellung der Korpora zugrunde gelegten französischen und italienischen Wörterbüchern übereinstimmend zum Ausdruck bringen, dass jeweils eine direkte Bezeichnung (in den Definitionen fr. «expression directe», it. «espressione propria») tabuisiert ist und ersetzt wird, wobei die italienischen Definitionen zeichentheoretisch klarer als die französischen formuliert sind, nur in der Definition aus GDLI Deformationen explizit erwähnt werden und v.a. in der Definition aus TLF zahlreiche Euphemismusbereiche definitorisch ausgeschlossen sind. Ein Blick in weitere Nachschlagewerke und Wörterbücher ergibt wiederum unterschiedliche Positionen in Bezug auf den Tabuisierungsgrund sowie die Vernachlässigung zentraler Aspekte. In chronologischer Reihenfolge sei zunächst der Artikel euphémisme aus der Encyclopédie betrachtet, in dem Dumarsais das Phänomen wie folgt gliedert und definiert: «L’euphémisme est un trope, puisque les mots n’y sont pas pris dans le sens propre: c’est une figure par laquelle on déguise à l’imagination des idées qui sont ou peu honnêtes, ou desagréables, ou tristes, ou dures; & pour cela on ne se sert point des expressions propres qui exciteroient directement ces idées. On substitue d’autres termes qui réveillent directement des idées plus honnêtes ou moins dures; on voile ainsi les premieres à l’imagination, on l’en distrait, on l’en écarte; mais par les adjoints & les circonstances, l’esprit entend bien ce qu’on a dessein de lui faire entendre. Il y a donc deux sortes d’idées qui donnent lieu de recourir à l’euphémisme. 1°. Les idées deshonnêtes. 2°. Les idées desagréables, dures ou tristes» (Dumarsais 1756, 207a/b).39

Mit «des idées qui sont ou peu honnêtes […]» nennt er als Stein des Anstoßes die tabuisierte Sache oder den tabuisierten Sachverhalt, sofern mit den idées nicht im Einklang mit der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Definition die tabuisierte Perspektivierung der Realität bzw. deren direkte Evozierung durch die zu vermeidende Bezeichnung («expressions propres qui exciteroient directement ces idées») gemeint ist, wofür auch der genannte Ersatz durch eine neue Perspektivierung in Form von «termes qui réveillent directement des idées plus honnêtes ou moins dures» sprechen würde. Ähnlich doppelt interpretierbar40 ist auch die Definition aus dem Larousse des 19. Jahrhunderts:

39

40

Auf Dumarsais bezieht sich auch Littré in seiner Definition: «Figure de rhétorique qui consiste dans l’adoucissement d’un mot dur [soweit auch der Eintrag in Nouveau Littré, s.v.]. L’euphémisme est une figure par laquelle on déguise des idées désagréables, odieuses ou tristes, sous des noms qui ne sont point les noms propres de ces idées, Dumarsais, Tropes, II, 15. Un ouvrier qui a fait la besogne pour laquelle on l’a fait venir, et qui n’attend plus que son payement pour se retirer, au lieu de dire payez-moi, dit par euphémisme: n’avez-vous plus rien à m’ordonner?» (DLF, s.v. euphémisme). Allerdings ist vor diesem Ausschnitt aus dem enzyklopädischem Teil des Eintrags im Grand dictionnaire universel du XIXe siècle zeichentheoretisch klar formuliert:

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«Il est certaines idées désagréables, odieuses, tristes ou déshonnêtes que le respect de soi-même et des autres empêcherait d’exprimer par les noms qui leur appartiennent en propre. On éprouve le besoin de déguiser ces idées, et l’on se sert dans ce but d’euphémismes, qui leur servent comme de voile et en adoucissent l’effet» (GDU, s.v.).

Das französische Akademie-Wörterbuch verzeichnet das Wort erstmals in der fünften Auflage von 1798 und lässt ebenso beide Auslegungen zu, da mit «idée» auch hier die im Signifikat einer Bezeichnung perspektivierte Sicht des Bezeichneten bzw. seine direkte, anstößige Nennung nicht ausgeschlossen werden kann: «Adoucissement d’expression, par lequel on voile des idées désagréables, ou tristes, ou déshonnêtes, par d’autres plus agréables, plus douces, ou plus honnêtes, qui laissent deviner les premières» (DAF 1798, s.v.).

Diese Definition bleibt in ihrer Aussage bis zur erweiterten achten Edition von 1932–1935 unverändert, die lediglich voile durch déguise ersetzt und noch mehrere Beispiele anfügt, darunter auch parbleu!, das prinzipiell zu Recht erscheint, obwohl die Akademie die Erklärung schuldig bleibt, wieso Dieu unter die «idées désagréables, ou tristes, ou déshonnêtes» einzuordnen ist: «Adoucissement d’expression par lequel on déguise des idées désagréables, ou tristes, ou déshonnêtes, sous d’autres plus douces, plus indulgentes, plus décentes, qui laissent deviner les premières. Parbleu pour Par Dieu; Mettre au secret pour Mettre en prison; L’exécuteur des hautes œuvres pour Le bourreau; Probité douteuse; Goût contestable; Avoir des démêlés avec la justice; N’être qu’un médiocre admirateur de quelqu’un sont des euphémismes» (DAF 1932–35, s.v.).

Die aktuelle neunte Auflage ersetzt déguiser durch atténuer, bringt dann auch teilweise andere Beispiele und ergänzt die definitorischen Merkmale durch effrayants oder choquants, die sich auf die stigmatisierten faits oder idées beziehen. So kann paradoxerweise gerade in dieser neuen Auflage die bei den Definitionen der fünften bis achten Auflage noch möglich erscheinende Interpretation eines zugrunde gelegten Sprachtabus nicht mehr aufrecht erhalten werden, denn in der neuen Formulierung wird klar, dass mit «l’expression de faits ou d’idées considérés…» die Tabuisierung der faits oder idées gemeint ist und nicht die des Sprachzeichens, wie es zeichentheoretisch adäquat wäre: «Figure de pensée et de style par laquelle on atténue l’expression de faits ou d’idées considérés comme désagréables, tristes, effrayants ou choquants. On dit par euphémisme: ‹l’exécuteur des hautes œuvres› pour ‹le bourreau›; ‹il est bien fatigué› pour ‹il va très mal›. ‹Probité douteuse›, ‹goût contestable›, ‹avoir des démêlés avec la justice› sont des euphémismes» (DAF, s.v.).

«Figure qui consiste à adoucir par l’expression ou par le tour de la phrase ce qu’un mot aurait de choquant» (GDU, s.v.).

24

Der Grand Larousse de la langue française beschränkt sich auf «quelque chose de déplaisant ou de choquant» und bezieht sich ebenfalls auf eine sprachlich zu verhüllende Sache: «Figure de mots consistant à adoucir par l’expression ou par le tour qu’on emploie, une idée, un jugement, l’énoncé d’un fait qui pourrait avoir quelque chose de déplaisant ou de choquant (par ex.: ‹Il est disparu› au lieu de ‹Il est mort›): Salavin, lui, ne cultivait pas l’euphémisme. Il appelait un chat un chat (Duhamel)» (GLLF, s.v.).41

In der Tradition der wenig eindeutigen Definitionen steht mit «idee tristi, odiose, o disoneste» auch das italienische Akademiewörterbuch, in dessen fünfter Auflage das in der vierten Auflage noch fehlende Stichwort eufemismo (VAC 1731) wie folgt erklärt wird: «Figura retorica, e altresì Proprietà del parlar comune, mediante la quale si esprimono con più mite o decente maniera idee tristi, odiose, o disoneste. Ed anche Il vocabolo, o La locuzione, che per tale figura si adoperano. […] Manz. Prom. Spos. 303: E in fretta in fretta gli legano i polsi con certi ordigni, per quell’ipocrita figura d’eufemismo, chiamati manichini›» (VAC 1886, 429b).

Auch das achtbändige italienische Wörterbuch des 19. Jahrhunderts von Nicolo Tommaseo und Bernardo Bellini ist mit «imag.» kaum expliziter: «Modo di parlare, nel quale un’imag. o trista o sconveniente è velata da un’altra che par dica cosa diversa o contraria, ma lascia trasparire il vero senso, e talvolta gli dá più risalto» (1865, s.v. eufemia).

Im Gegensatz hierzu ist im Novo Vocabolario della lingua italiana der Bezug auf das Sprachzeichen bzw. sein Signifikat deutlich formuliert: «Detto di alcuni vocaboli che hanno un significato indecente, e che pure si adoprano in alcuni traslati alternandone il suono, in guisa che la forma originaria non vi si possa riconoscere» (NovoVoc, s.v. eufemia).

Auch die Enciclopedia italiana (1932) gibt eine Definition, die ganz die Tabuisierung der Bezeichnung vertritt: «Espressione attenuata a cui si ricorre in luogo dell’espressione usuale per riguardi religiosi ovvero sociali» (Migliorini 1932, 553).

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Dies ähnelt der Definition im Grand dictionnaire encyclopédique Larousse: «Atténuation dans l’expression de certaines idées ou de certains faits dont la crudité aurait quelque chose de brutal ou de déplaisant» (GDEL, s.v.). Demgegenüber ist in einbändigen Wörterbüchern aus dem Hause Larousse klar die Tabuisierung der Bezeichnung formuliert, cf. z.B.: «Adoucissement d’un mot ou d’une expression qui pourraient choquer par leur brutalité, leur vigueur» (Lexis, s.v.) oder «Adoucissement d’une expression jugée trop crue, trop choquante» (PLI, s.v.).

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Ebenso beschreibt der Grande dizionario enciclopedico UTET den Euphemismus als: «[…] sostituzione di un’espressione attenuata all’espressione propria per ragioni religiose o di convenienza sociale» (GDE, s.v.).42

Die Durchsicht der Definitionen zeigt zum einen, dass der Euphemismus unter verschiedenen Genera proxima erscheint, wie «expression atténuée» (PR), «espressione attenuata» (Migliorini), «adoucissement d’expression» (DAF 1798–1935), «manière atténuée ou adoucie d’exprimer […]» (Dubois et al.), «sostituzione di un’espressione attenuata» (GDE), «sostituzione di parole (verba propria)» (Beccaria, ähnlich Dardano/Trifone), «fenomeno linguistico» (Galli de’ Paratesi), «procedimento linguistico» (Papini), «action linguistique» (Widłak), «modo di parlare» (Tommaseo/Bellini), «figura retorica» (Z, GDLI, VAC), «figure de pensée» (TLF), «figure de pensée et de style» (DAF), «figure de mots» (GLLF), «trope» (Dumarsais), «Sonderfall einer umschreibenden Periphrase» (Bußmann). Dabei fällt einerseits auf, dass v.a. die zuerst aufgezählten Genera auch den Modifikationen des Signifikanten gerecht werden, während z.B. eine Angabe als Tropus primär lexikalische Ersatzformen umfasst, andererseits, dass in manchen Definitionen der Ersatzprozess, in anderen der ersetzende Ausdruck genannt ist. Zum anderen wird ersichtlich, dass der Euphemismus als Ersatz von Ausdrucksweisen gesehen wird, die unterschiedlich charakterisiert sind: als «expression directe [qui] aurait qqch. de déplaisant, de choquant» (PR), als «[id.] de brutal, de déplaisant» (TLF), durch «l’asprezza o la sconvenienza» (Z), als «espressione propria» (GDLI, GDE), als «espressione usuale» (Migliorini), als «des expressions propres qui exciteroient directement ces idées», die als «deshonnêtes», «désagréables, dures ou tristes» qualifiziert werden (Dumarsais 1756, ähnlich DAF 1798–1935, GDU), als «expression de faits ou d’idées […] effrayants ou choquants» (DAF), als «l’énoncé d’un fait qui pourrait avoir quelque chose de déplaisant ou de choquant» (GLLF), als Bezeichnungen von «idées désagréables, odieuses ou tristes» (DLF), als Ausdruck einer «imag. o trista o sconveniente» (Tommaseo/Bellini), von «idee tristi, odiose, o disoneste» (VAC), als «espressione troppo cruda o realista» (Dardano/Trifone), als «parole […], bandite dall’uso per effetto di 42

Am Rande seien auch die folgenden Definitionen aus sprachwissenschaftlichen Lexika erwähnt: «Bedeutungsverhüllung, Form der höflichen Umschreibung; verhüllende Bezeichnung mildernder oder beschönigender Art» (Lewandowski 1994, s.v. Euphemismus); «Bez. für sprachliche Ausdrücke, die in Folge gesellschaftl., ideolog. oder religiöser Konventionen das Bezeichnete beschönigen, ‹verhüllen›» (Schaeder 2000 in MLS); «Sonderfall einer umschreibenden → Periphrase: beschönigender Ersatz für ein anstößiges Wort (→ Tabuwort) mit → pejorativer Konnotation, z.B. einschlafen, heimgehen für ‘sterben’, hinter Gittern, Gottseibeiuns, oft mit persuasiver Absicht im politischen Sprachgebrauch: Nullwachstum, Entsorgung, Befriedung» (Bußmann 2008, s.v. Euphemismus).

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interdizione linguistica» (Beccaria), als «ein anstößiges Wort» mit «pejorativer Konnotation» (Bußmann). Im Hinblick auf den jeweils genannten Tabuisierungsgrund lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die eingesehenen italienischen Werke bis auf VAC und Tommaseo/Bellini zu Recht auf den Ersatz der Bezeichnung konzentriert sind und den Referenten unberücksichtigt lassen, während in den französischen Lexika teilweise «notions», «faits» oder «idées» als Tabuisierungsgrund genannt werden, die in manchen Fällen zwar auf die im Signifikat perspektivierte Realität bezogen werden können, in anderen aber eindeutig die Tabuisierung des Referenten zum Ausdruck bringen, wie sie zeichentheoretisch unzulässig ist. 2.2.2 Über Motive und Funktionen Auch wenn in der Praxis ein Ineinandergreifen von Motiven und Funktionen nicht völlig ausgeschlossen werden kann und sich Funktionen auch prinzipiell aus den Motiven ableiten lassen, ist die Ausdifferenzierung zwischen beiden theoretisch notwendig und grundsätzlich möglich, in der Literatur aber nicht selbstverständlich. So fehlt z.B. bei Holders Erklärung, «[…] we use euphemism not for a single purpose, but for four: it is the language of evasion, of hypocrisy, of prudery, and of deceit» (1995, VII), eine prinzipielle Trennung der beiden Aspekte, wenn er unter dem Oberbegriff «purpose» mit «hypocrisy»43 und «prudery» zwei negativ konnotierte Motive des Sprechers für die Verwendung von Euphemismen subsumiert, während «evasion» und «deceit» eher den Euphemismus in seiner verhüllenden («evasion») oder auch irreleitenden («deceit») Funktion betreffen. (i) Motive der Verwendung von Euphemismen Als Motive für die Verwendung eines Euphemismus werden in den obigen Definitionen genannt: «le respect de soi-même et des autres» (GDU), «riguardi religiosi ovvero sociali» (Migliorini), «ragioni di convenienza sociale o […] preoccupazioni di carattere religioso o morale o anche […] motivi politici» (GDLI), «timore, […] pudore, […] sentimento d’inferiorità sociale, […] senso di disgusto fisico, […] ripugnanza morale» (Galli de’ Paratesi),44 «paura, decenza, pudore, rispetto dell’altrui, sensibilità» (Beccaria) oder «ge43

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Zur Heuchelei als Motiv ist anzumerken, dass sie sich natürlich hinter Höflichkeit verbergen kann, aber – ebenso wie eine Lüge (cf. 5.4.1.3) – als solche sprachlich nicht greifbar, sondern nur im weiteren außersprachlichen Kontext zu bestimmen ist; dies gilt auch für Prüderie als überempfindliche Reaktion auf sexuell Anstößiges. «Il disagio che s’accompagna a certe parole può derivare dal timore, come nell’interdizione religiosa, o dal pudore, come in quella sessuale, o da un sentimento d’inferiorità sociale, come quando si rinobilitano i nomi di mestieri che sono decaduti, o infine può derivare da un senso di disgusto fisico, come nell’interdizione

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sellschaftl., ideolog. oder [religiöse] Konventionen» (Schaeder).45 Dabei fällt auf, dass in allen Definitionen zusammen zwar viele Motive genannt werden, in den einzelnen Definitionen für sich alleine aber jeweils wichtige Bereiche ausgespart bleiben. So formuliert Galli de’ Paratesi in ihrer vergleichsweise umfassenden Erklärung z.B. den Wunsch nach Rücksichtnahme auf den Adressaten nicht,46 wie er sich in Bereichen wie «Sterben und Tod» oder «Krankheiten» als wesentlich herausstellt, und lässt ebenso die Rücksichtnahme des Sprechers auf sich selbst, die Selbstachtung, unbeachtet, zu der auch die Wahrung des eigenen Gesichts durch Vermeidung gesichtsgefährdender Sprechakte gehört.47 Insgesamt reichen die genannten Motive von Furcht und Scham über die Selbstaufwertung und Politische Korrektheit bis hin zu egoistisch-rücksichtslosen Haltungen. Im Hinblick auf die Zuordnung zu bestimmten Euphemismusbereichen lösen sie einander im Laufe der Geschichte auch ab, so z.B. wenn die Scham teilweise an die Stelle der Furcht tritt, und sind auch

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scatologica, o di ripugnanza morale, come in quella che riguarda i vizii e i difetti» (Galli de’ Paratesi 1964, 19; 1969, 27). Ferner ist auf die speziell ästhetische Begründung zu verweisen, wie sie Nyrop betont: «[…] rappelons surtout qu’en dernier ressort il [l’euphémisme] est dû à un souci très louable des belles formes. La société polie demande certains égards de langage, et c’est pourquoi une périphrase telle que maison honnête et toutes les autres de la même sorte ont leur droit à l’existence. L’euphémisme est une concession aimable, gracieuse et riante faite à l’urbanité. Il provient pour une grande part de cette qualité que les Italiens appellent cortesia, et il aide à son tour à la developper. Il constitue une forme particulière de la recherche de la beauté; il sert dans une certaine mesure à embellir la vie» (Nyrop 1913, 316). Luchtenberg (1975, 171) nennt die Rücksicht auf die Gefühle des Hörers als Motiv auf Seiten des Sprechers, sprachliche Tabus zu umgehen. Doch Rada widerspricht Luchtenberg und meint, dass sich aus dem «Normcharakter des Tabus und dem daraus folgenden Umschreibungszwang» ergibt, «dass sowohl Sprecher als auch Hörer das Tabu kennen, anerkennen und demgemäß einen entsprechenden Euphemismus wählen» (2001, 80s.). Ihr Einwand betrifft den funktionalen Stellenwert des Euphemismus in der Gesellschaft, seine Lokalisierung auf der Normebene. Dies ist aber insofern kein Widerspruch zu Luchtenbergs Aussage, als diese mit Rücksichtnahme doch das Motiv meint, das einen bestimmten Sprecher (aber nicht alle Sprecher) gegenüber einem bestimmten Hörer (aber nicht gegenüber allen Hörern) beim Reden über einen bestimmten (aber nicht jeden) Gegenstand oder Sachverhalt dazu veranlasst, sich euphemistisch auszudrücken, und zwar nicht aufgrund eines normativen Automatismus, sondern aufgrund einer Ausdruckswahl, die von den Komponenten der jeweiligen Gesprächssituation abhängt. Von einem normativen Zwang kann z.B. bei aufwertenden Euphemismen wie dt. Hairstylist gegenüber Friseur weniger die Rede sein, und mit dem normativen Postulat sind auch Tabubrüche wie z.B. vulgäre Ausdrucksweisen à la Berlusconi (cf. infra p. 226) undenkbar. Cf. Allan/Burridge: «A euphemism is used as an alternative to a dispreferred expression, in order to avoid a possible loss of face: either one’s own face or, through giving offense, that of the audience, or some third party» (1991, 11).

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synchron nicht strikt voneinander zu trennen, sondern gehen teilweise ineinander über oder sind gemeinsam wirksam. Prinzipiell erklären z.B. Furcht und Ehrfurcht die Vermeidung der direkten Benennung im Bereich «Glaube, Aberglaube und Magie», in dem die Namen überirdischer Mächte tabuisiert sind, der traditionell aber auch Phänomene wie Sterben und Tod und die oft zum Walten Gottes gerechneten Krankheiten umfasst, bei denen als Motive heute jedoch v.a. die Rücksicht, das Takt- und Schamgefühl wirksam sind, die besonders die Euphemismusbereiche «Liebes- und Sexualleben», «Körperteile» und zusammen mit einem durch die faktische Anstößigkeit hervorgerufenen Ekel das Gebiet «Toilettengang und Toilette» motivieren. Ein soziales Minderwertigkeitsgefühl wird durch die aufwertenden Bezeichnungen von Eigenschaften und Tätigkeiten auszugleichen versucht und spielt auch in der von diesem Gefühl mit ausgelösten sozialpolitischen Reaktion im Rahmen der Politischen Korrektheit eine sprachliche Rolle. Doch entspringen die euphemistischen Umschreibungen hier wiederum insbesondere der Rücksicht auf die Gefühle und Wertvorstellungen der Gesprächsteilnehmer. Beim Vermeiden vulgärer und daher sozial stigmatisierender Flüche und Interjektionen mag daneben ein Distinktionswille mit starker ästhetischer Komponente wirksam sein, der Wunsch nach Gesichtswahrung, wie er auch bei vielen Euphemismen aus den Gebieten «Politik, Wirtschaft und Werbung» gegeben ist, deren primäres Motiv wiederum die Absicht der Täuschung oder Hörerbeeinflussung ist. (ii) Funktionen der Verwendung von Euphemismen Die Funktionen des Strebens, tabuisierte Bezeichnungen zu vermeiden, lassen sich im Kern von den jeweiligen Motiven ableiten und ebenso konkret beschreiben (cf. 6.3, 6. Ebene). In den obigen Definitionen finden sich allerdings primär bezeichnungsorientierte Aussagen allgemeiner Art wie adoucir, atténuer, déguiser, voiler bzw. attenuare, addolcire, mascherare, velare, rendere un termine non riconoscibile, sostituire48 oder mildern, beschönigen, verhüllen

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Cf. «on adoucit ou atténue une idée dont l’expression directe aurait quelque chose de brutal, de déplaisant» (TLF, ähnlich auch PR), «on atténue l’expression de faits […] considérés comme desagréables […] ou choquants» (DAF), «on déguise à l’imagination des idées qui sont ou peu honnêtes, ou desagréables, ou tristes, ou dures» (Dumarsais; ähnlich DLF neben «adoucissement d’un mot dur»), «déguiser ces idées [désagréables, ….]» (GDU); «si attenua l’asprezza o la sconvenienza di un’espressione» (Z), «si esprimono con più mite o decente maniera idee tristi, odiose, o disoneste» (VAC), «un’imag. o trista o sconveniente è velata da un’altra» (Tommaseo/Bellini), «sostituire una espressione troppo cruda o realista» (Dardano/Trifone), «per addolcirne [dell’espressione propria] o mascherarne l’eccessiva violenza e crudezza, […] per renderlo [un termine che interessa l’ambito della religione o della morale] non immediatamente riconoscibile e censurabile» (GDLI); durch eine Änderung des Lautkörpers der tabuisierten Bezeichnung wird bewirkt, «che la forma originaria non vi si possa riconoscere» (NovoVoc).

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(cf. supra p. 34 n. 42). Solche generell formulierten Funktionen lassen sich noch in Unterfunktionen aufteilen, wobei die Gliederungsversuche in der eingesehenen Literatur ein sehr uneinheitliches Bild zeigen, wie es die im Folgenden angeführten drei Beispiele illustrieren. Zunächst sei die Differenzierung von positiven und negativen Euphemismen betrachtet: «The positive ones inflate and magnify, making the euphemized items seem altogether grander and more important than they really are. The negative euphemisms deflate and diminish. They are defensive in nature, offsetting the power of tabooed terms and otherwise eradicating from language everything that people prefer not to deal with directly» (Rawson 1995, 1).

Zu den positiven zählt Rawson u.a. die aufwertenden Bezeichnungen für Berufe (wie die inflationäre Verwendung von engl. engineer) oder Institutionen (wie universities für colleges), zu den negativen u.a. jene für den gesamten magisch-religiösen, den sexuellen und den skatologischen Bereich. Bei beiden Typen differenziert er noch zwischen unbewussten und bewussten Euphemismen, die der infra (4.1.1iii) noch anzusprechenden Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen entspricht. Eine andere Gliederungsmöglichkeit unterscheidet in verhüllende und verschleiernde Euphemismen (cf. z.B. Luchtenberg 1975, 75; Dietl 1996, 1), wobei die dafür verwendeten Bezeichnungen verhüllend und verschleiernd aufgrund ihrer semantischen Nähe nicht gerade glücklich gewählt sind. Erstere «stellen die – oft unbewusste – Reaktion des Einzelnen auf die Tabuisierung einer bestimmten Bezeichnung in der Gesellschaft dar. Durch sie gelingt es auszusprechen, was nach allgemeiner Übereinkunft nicht ausgesprochen werden soll». Letztere dienen der «Täuschung oder Beeinflussung des Hörers» und sind daher vor allem in Bereichen zu finden, wo das Individuum «Einfluß auf die Gemeinschaft» (Dietl 1996, 1) nimmt, wie im Falle von Politik, Wirtschaft oder auch Werbung. Nach der Intention des Sprechers und der Rezeption durch den Hörer differenziert Rada die Funktionen in einem Kapitel ihrer Untersuchung zu den Euphemismen im Deutschen über «die kommunikative Funktion des Euphemismus» (2001, 64–87). Aus der Perspektive des Sprechers unterscheidet sie zwischen Tabueuphemismen, verschleiernden Euphemismen und Renommiereuphemismen. Mit Tabueuphemismen werden Tabuwörter bzw. tabuisierte Zeichen aus Bereichen wie u.a. «Sterben», «Krankheiten» und «Sexualität» umschrieben, wie es z.B. mit der Verwendung der Fachtermini Tumor oder Hepatitis durch den Arzt gegenüber einem Patienten geschieht. Verschleiernde Euphemismen dienen dazu, gewisse peinliche oder gefährliche Sachverhalte und auch Fehler oder Mängel onomasiologisch harmloser erscheinen zu lassen, wobei sich der Terminus in seiner Definition und den gegebenen Beispielen aus Politik (z.B. Pazifikation, friedensschaffende Maßnahmen ‘kriegerischer Einsatz’, Asylbewerber, Farbige), Wirtschaft (z.B. Preisanpassung, Tarifkorrektur, Kernenergie, Entsorgung) und Werbung (z.B. 30

preiswert, Haarglanzmittel ‘Haarfärbemittel’) mit dem obigen Verständnis von «verschleiernden» Euphemismen deckt. Renommiereuphemismen sollen einen banalen Gegenstand oder Sachverhalt oder auch den Sprecher selbst aufwerten (z.B. Hairstylist, Verwaltungsassistent ‘Pedell’, Thermotherapeut ‘Masseur’). Im Hinblick auf den Hörer thematisiert Rada die Aufnahme dieser vom Sprecher intendierten Funktionen. Im Falle der Tabueuphemismen stimmen «die Erwartungen des Sprechers […] mit denen des Hörers überein. Es herrscht ein prinzipielles Einverständnis der Gesprächspartner über die gesellschaftliche Verbindlichkeit des Euphemismusgebrauchs» (2001, 80). Bei den verschleiernden Euphemismen und Renommiereuphemismen sollen «für den Hörer bestimmte Sachverhalte/Gegenstände in einer für den Sprecher günstigen Weise» (2001, 82) dargestellt werden. Sie haben manipulativen Charakter und werden vom Hörer zumindest anfänglich anders bewertet. Insgesamt kann die Frage einer Gliederung des Phänomens Euphemismus insbesondere unter Einbezug konkreterer Motive und Funktionen noch nicht als konsensfähig gelöst gelten,49 so dass das hier zu betrachtende Material und seine kulturhistorische Einbettung einen Beitrag zu ihrer Lösung leisten kann und in einer Synopse münden wird, die auch eine Kategorie «Ursachen» mit Gründen für die Ausformung der Motive enthält und die abschließende Formulierung einer umfassenden Definition mit prinzipieller Unterscheidung von Motiven und Funktionen erlaubt (6.3). 2.2.3 Zu Euphemismen aus soziolinguistischer Sicht An die Betrachtung der Motive und Funktionen von Euphemismen bleibt die Frage anzuschließen, von welcher Sprechergruppe bzw. auf welchem Sprachniveau euphemistische Ausdrucksweisen vorzugsweise verwendet werden. Die daraus entstehende Teilfrage nach den Registern, in denen sie typischerweise auftreten, erweist sich in doppelter Hinsicht als Herausforderung. Einerseits zeigt bereits die Variation innerhalb der Lexikographie einer Sprache die Unmöglichkeit endgültiger und konsensfähiger Registergliederungen,50 was an der Künstlichkeit der entsprechenden linguistischen Kategorien liegt, die letztendlich nur Punkte innerhalb eines Kontinuums darstellen können.

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Zur kontroversen Diskussion über die Definition des Euphemismus, die aufgrund der vielen dabei zu berücksichtigenden Aspekte und fachspezifischen Ansätze bislang größte Schwierigkeiten bereitet hat, cf. ausführlich u.a. auch Bohlen (1994, 97–137) und Rada (2001, 61–127 und die textspezifischen Ausführungen 129–194). Cf. z.B. die Fälle unterschiedlicher Bewertungen, die Bodo Müller (1985, 232) am Beispiel der französischen Wörterbücher anführt, die Darstellung der unterschiedlichen Registergliederungen in spanischen Wörterbüchern in Reutner (2008c) und die Ausführungen zur Subjektivität solcher Bewertungen von Casas Gómez (1986a, 229).

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Andererseits können Euphemismen prinzipiell auf allen Stilebenen und in allen Schichten auftreten:51 «[…] les euphémismes se rencontrent partout, dans la langue parlée aussi bien que dans la langue écrite, dans le style soutenu comme dans le parler le plus vulgaire. […] L’emploi qu’on fait des expressions euphémiques varie en effet avec le temps, les lieux et les classes sociales, mais personne ne peut s’en passer tout à fait; elles nous accompagnent de la naissance jusqu’à la mort, et même [...] audelà de la mort» (Nyrop 1913, 260).

Wenn auch grundsätzlich auf allen Ebenen der Sprache und der Gesellschaft präsent, ist die Häufigkeit des Vorkommens von Euphemismen innerhalb der Sozialhierarchie doch unterschiedlich52 und nach bisherigen Erkenntnissen, die primär auf Euphemismen aus dem Bereich «Ethik und Ästhetik» basieren bzw. zu basieren scheinen, auf die mittleren Schichten zentriert. Weniger frequent sind die entsprechenden Sprachtabus in unteren Schichten, was Nyrop für Frankreich beobachtet: «L’interdizione […] scatologica o di decenza è più forte nella società urbana borghese che in quella contadina o proletaria» (Galli de’ Paratesi 1964, 6; 1969, 12);

und Radtke mit seiner Aufstellung soziolinguistisch markierter Bezeichnungen für Italien bestätigt, wenn er aus ihr den Schluss zieht: «Es ist also anzunehmen, dass untere Sprachregister den Euphemismus als Ausdrucksmittel ablehnen, weil sich das Sprachverbot in unteren Milieus abschwächt [...]. Folglich kommen untere Sprachschichten mit einem Minimum an Prüderie aus» (Radtke 1980, 196).

Geringere Verbreitung haben Euphemismen nach Nyrop aber auch in der Oberschicht, die ihm zufolge «bourgeoise» Euphemismen verachtete: «Il est utile d’ajouter qu’en général le nombre des euphémismes diminue à mesure qu’on s’élève dans la société. Les gens intelligents et cultivés dédaignent les euphémismes bourgeois» (Nyrop 1913, 260).53

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Am Rande sei angemerkt, dass kindersprachliche Ausdrücke, die ja meist von Erwachsenen stammen (z.B. fr. zizi, it. pisellino), keine Euphemismen sind, auch wenn sie möglicherweise in euphemisierender Absicht Verwendung finden. Cf. neben dem obigen Zitat von Nyrop für das Französische auch Galli de’ Paratesi für das Italienische: «Le interdizioni linguistiche sono diverse, cioè variano i loro oggetti e il loro potere coercitivo, da una società all’altra. All’interno di una stessa società variano nei diversi momenti del suo sviluppo. Nello stesso momento storico cambiano da una classe sociale all’altra sotto l’influsso delle differenze di cultura e di costume» (Galli de’ Paratesi 1964, 21; 1969, 30). Nyrop (1913, 308) nennt hier auch – aber in besonderem Bezug auf die Preziösen – die «faux euphémismes», definiert als «expressions euphémiques provenant moins d’un souci de correction dans le langage et de bienséance, que d’une fausse pruderie qui se fait un plaisir de trouver de l’indécence partout, et qui sous le

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Ähnlich äußert sich Galli de’ Paratesi bezüglich der Verwendung tabuisierter Bezeichnungen in den «classi più alte», wobei die Nähe zum Thementabu evident ist: «I termini proibiti per educazione, per esempio, cioè soprattutto quelli che appartengono alla sfera sessuale o scatologica, nel linguaggio colloquiale delle classi più alte sono impronunciabili, mentre in altri ambienti possono essere usati» (Galli de’ Paratesi 1964, 45; 1969, 57).

Doch beziehen sich die Erkenntnisse der drei zitierten Autoren auf eine bestimmte Art von Euphemismen, so dass nicht auszuschließen ist, dass z.B. religiöse und abergläubische Tabus in den unteren Volksschichten mehr (und aus anderen Gründen) berücksichtigt werden als im oberen Teil der Sozialhierarchie (cf. auch Galli de’ Paratesi 1964, 21; 1969, 30) oder dass Euphemismen, die den Bereichen «Politische Korrektheit» und «Ethik ohne Moral» zugeordnet werden können, wiederum in manchen Teilen der Oberschicht stärker verbreitet sind. Die Frage nach der Sprechergruppe, die Euphemismen typischerweise verwendet, ist somit nicht generell, sondern nur unter prinzipieller Berücksichtigung der Ursachen des Phänomens zu beantworten, an die sich die Betrachtung der Gültigkeit eines «Dimmi quali eufemismi usi e ti dico chi sei» bzw. «Dis-moi quels euphémismes tu utilises et je te dirai qui tu es» anschließen lässt (cf. hierzu auch 6.2). Diese soziolinguistischen Überlegungen seien durch Hinweise zur Kombination der Wertung «Euphemismus» mit weiteren Wertungen ergänzt. Dabei ist der humoristische Effekt mancher Euphemismen in der Volkssprache anzusprechen, den Nyrop z.B. bei einigen Bezeichnungen des Gesäßes feststellt (u.a. fr. face du grand Turc, département du Bas-Rhin, Prussien, Waterloo; cf. 1913, 295), während Radtke darauf hinweist, dass vordergründig aufwertend erscheinende Bezeichnungen im Milieu der Prostituierten dysphemistisch «anstelle von Humor oft Zynismus» bieten (z.B. it. nave scuola; Radtke 1980, 210), so dass die Euphemisierung «ganz nach Umständen […] ernst und würdig, demütig-einschmeichelnd, schonend und verdeckend, spöttisch ausgelassen oder geziert ausfallen» kann.54 Letztendlich ist zu unterstreichen, dass viele Euphemismen erst im Kontext der Kommunikationssituation als solche aktiviert werden,55 von dem

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masque de la pudeur s’acharne contre des inconvenances imaginaires», cf. infra 5.2.2.2. Nyrop (1903, 2). Spanische Beispiele für scheinbar widersprüchliche Wertungen sind (Hond.) grencho, das in DRAE gleichzeitig als eufemismo und despectivo markiert ist, oder (Ur.) valija ‘trasero’ mit den Wertungen eufemismo und irónico. Cf. auch Casas Gómez (1993, 81–84) und infra (p. 120 n. 17). An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass bestimmte Kontexte Tabus aufheben und gleichzeitig neue Tabus einsetzen können. Im Bereich des Wissenschaftsdiskurses (cf. Reutner 2008d) wäre inhaltlich z.B. an die Aufhebung bestimmter Sexualtabus zu denken, bei gleichzeitiger (stilistischer) Instaurierung von Ich- oder Erzähl-Tabus.

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in der vorliegenden Untersuchung zu lexikographisch verzeichneten Euphemismen notwendigerweise abstrahiert werden muss, und dass natürlich auch Differenzierungen wie z.B. sprecher-,56 alters- oder geschlechtsspezifische Unterschiede hier nicht erfasst werden können. Letztere erscheinen in der Literatur meist in der generellen Formulierung einer häufigeren Beachtung von Tabus bzw. Verwendung von Euphemismen durch Frauen als durch Männer, wie z.B. bei Robin Lakoff, die in ihrer Zusammenfassung der Merkmale von women’s language festhält, «[that] women are the experts at euphemism» (1975, 55).57 Eine Differenzierung des euphemistischen Sprachgebrauchs nach seinen Ursachen könnte zeigen, dass Frauen traditionell z.B. Tabus im Bereich «Ethik ohne Moral» weniger beachten als Männer, was sich aber mit ihrem Vorrücken in Entscheidungspositionen von Politik, Wirtschaft und Militär verändern dürfte. Die allgemeine Feststellung bezieht sich wohl aber v.a. auf Tabus im Bereich von Religion, Anstand und Rücksichtnahme, wo die Annahme eines gepflegteren weiblichen Sprachgebrauchs durch die traditionelle Rolle der Frau im Zivilisationsprozess sowie durch den an sie gestellten Anspruch als Trägerin guter Manieren nahe liegt.58 Doch ist zu vermuten, dass die zunehmende Emanzipation der Frau auch Auswirkungen auf den geschlechts-

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Die in der vorliegenden Untersuchung folgenden Euphemismen aus der Gegenwartssprache sind in ihrer Beurteilung auf Sprecher des Standards bezogen, denen ebenso die jeweiligen «neutralen» Ausdrücke bekannt sein dürften. Bei fehlender Kenntnis alternativer Versprachlichungsstrategien kann die Beurteilung einer ansonsten euphemistisch markierten Ausdrucksweise beim einzelnen Sprecher natürlich divergieren. Cf. auch «women use diminutives and euphemisms more than men» (Lakoff 1990, 204) sowie Autoren von Tagliavini (1938 bzw. das Zitat infra p. 240) über Galli de’ Paratesi (1964, 24ss; 1969, 33ss.; 1992), Balle (1990, 59) bis Jungbluth/SchliebenLange (2001, 236s.). Dabei könnte darauf verwiesen werden, dass Frauen eher als Männer negativ konnotierte Aussprachevarianten, Sprachen oder Dialekte meiden bzw. sie gemäß traditionellen Vorstellungen eher meiden sollten. Hinsichtlich stigmatisierter Ausspracheformen cf. z.B. den Überblick zu englischen Studien aus den 1970er Jahren in Fischer (2001), aber auch wieder Lakoff, die anmerkt, «[that] women are not supposed to talk rough» (1975, 55), Galli de’ Paratesi, die die Tendenz von Frauen zur Meidung des Dialektes festhält, «perché è ‹grossolano›» (1977, 181), oder Bierbach, die im Hinblick auf neuere Untersuchungen von «Tendenzen zu ‹korrekter›, standardnaher Aussprache bei Frauen» spricht (2002, 333). Bezüglich stigmatisierter Sprachen cf. z.B. die 2002 von Reutner befragten Guadelouper und Martinikaner, die – bei teilweiser Überwindung der generellen Brandmarkung des Kreolischen – zumeist doch vulgäre Ausdrucksweisen bei einer Frau weniger akzeptieren als bei einem Mann und z.B. erklären: «Il y a certaines choses qu’on peut entendre un homme parler, mais quand on entend une femme dire la même chose, ça fait un peu vulgaire»; in Reutner 2005, 205). Haase bestätigt die zurückhaltendere Ausdrucksweise von Frauen auch für das Japanische, wo «Frauen fast ausnahmslos respektvolle bzw. (wo möglich) sehr respektvolle Formen gebrauchen» (1994, 25).

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spezifischen Sprachgebrauch (inklusive der Beachtung und Nicht-Beachtung von Tabus) haben wird, zumal Charest schon 1974 in Quebec zu bedenken gab, dass die Missachtung alter Tabu-Traditionen als Zeichen der weiblichen Emanzipation gewertet werden kann: «Le droit de sacrer ne fait pas partie des revendications formelles des femmes, il est plutôt une manifestation extérieure de leur libération. Sacrer, c’est confirmer un nouveau statut» (Charest 1974, 63).59 Die Tendenz zur Angleichung bestimmter Sprachverhaltensmuster ist im 21. Jahrhundert sicherlich fortgeschritten, was sich nicht zuletzt in der ungenierten Verwendung von coglioni bei manch einer italienischen Akademikerin zeigt und in 5.2.4 noch zu betrachten sein wird.

2.3

Resümee

Nach ihrer Übernahme in den europäischen Kulturkreis gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat die Bezeichnung Tabu ihr Bedeutungsspektrum weit über den ursprünglichen magisch-religiösen Bereich hinaus erweitert und findet inzwischen auf alle möglichen tabuisierten Phänomene menschlicher Verhaltenskodizes Anwendung, wie sie seit der Antike in zeitlich und gesellschaftlich unterschiedlichen Ausprägungen bekannt sind. Diese haben – wie z.B. blasphemische Äußerungen vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert – zwar teilweise Verbotscharakter, doch handelt es sich dabei heute im Allgemeinen um soziokulturelle Gebote, deren Übertretung im Wesentlichen Sanktionen sozialer Art nach sich zieht, und nicht um Verbote, d.h. um strafrechtlich zu verfolgende Verhaltensweisen, so dass die Definitionen, die von fr. interdiction bzw. it. proibizione sprechen, den Begriff wenig adäquat erfassen (2.1.1). Dementsprechend ist das Sprachtabu denn auch ein soziolinguistischer Begriff, der in der Sprachethik anzusiedeln ist. Er umfasst ein Kontinuum, das sich von der Tabuisierung ganzer Bücher, wie jener auf dem vatikanischen Index aufgeführten, über Themen- oder Konversationstabus bis hin zu den lexikographisch erfassten Ausdrucksweisen und Wörtern erstreckt, die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden (2.1.2). Die Betrachtung der in der Literatur kontrovers diskutierten Frage, was durch den Euphemismus enttabuisiert wird, zeigt, dass es die im sprachlichen Zeichen denotativ und/oder im weitesten Sinne konnotativ evozierte und als unangemessen betrachtete Perspektivierung der tatsächlichen oder fiktiven Realität ist, wobei unter Perspektivierung auch besonders die onomasiologische Direktheit miteingeschlossen ist (2.1.3).

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Doch folgert Charest im Jahre 1974 noch: «Sacrer, pour une femme, demeure encore aujourd’hui un acte préjudiciable. Mais il ne faut pas croire que tout le monde partage cette opinion et c’est ce qui prouve qu’il y a eu évolution» (1974, 64).

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Die ideale Lösung für die Umgehung eines Tabubruchs bietet der Euphemismus, der durch Modifikation oder Ersatz der tabuisierten Bezeichnung eine indirekte und nicht mehr unangemessene Perspektivierung enthält. Zu seiner Definition erweist es sich als notwendig, die Unterscheidung von Motiven und Funktionen seiner Verwendung zu thematisieren, die nicht immer getrennt gesehen werden und praktisch oft ineinandergreifen (2.2.1s.). Anhand einiger vorliegender Beobachtungen wird auch die Frage des Vorkommens der Euphemismen in soziolinguistischer Sicht angesprochen (2.2.3), die von der bisherigen Forschung noch nicht systematisch im Detail und nach Bereichen bearbeitet ist, wie es in den Reflexen im Ansatz versucht wird (cf. 6.2). Doch abgesehen von dieser letzten Frage, die ebenso wie andere soziolinguistische Aspekte durch ein lexikographisch basiertes Korpus nicht abschließend beantwortet werden kann, wird ein solches auf den bisherigen Erkenntnissen aufbauend das Verständnis vom Euphemismus weiter vertiefen können (cf. 6.3).

36

3.

Tabubereiche im französischen und italienischen Wortschatz

3.1

Technische Vorbemerkungen

3.1.1 Zur Wahl lexikographischer Korpora Die Frage, welche Art von Korpus zugrunde gelegt werden könnte, lässt zunächst einen Blick auf andere Untersuchungen zu Einzelsprachen werfen (cf. u.a. supra p. 2s. n. 1, infra p. 119 n. 14), deren Autoren Material zusammenstellen, das sie als euphemistisch betrachten. Dabei gehen sie meist von einem sprachwissenschaftlichen Euphemismenverständnis aus und unterscheiden nicht zwangsläufig zwischen historischen und vitalen euphemistischen Ausdrucksweisen. Sie verlassen sich auf ihr eigenes metasprachliches Bewusstsein, das zwar sprachwissenschaftlich geschärft ist, aber gerade deswegen vielleicht nicht erkennen lässt, dass z.B. dt. Pfui Deixel! oder Verflixt! nur noch – wenn überhaupt – von wenigen Sprechern bewusst als Entstellungen von Pfui Teufel! bzw. Verflucht! empfunden werden. Dies bietet natürlich die Möglichkeit, viele Ausdrücke inventarisieren zu können, die aus Gründen der Registerzugehörigkeit oder der Tabuisierung in allgemeinsprachlichen Lexika nicht verzeichnet sind, wie z.B. die zahlreichen von Radtke (1980, 90–125) für das Italienische oder von Casas Gómez für das Spanische (1986) gesammelten Bezeichnungen der Prostituierten, erscheint aber wenig ergiebig im Hinblick auf eine Arbeit, die einen Überblick der Euphemismen einer Sprachkultur im Allgemeinen im Blick hat. Auf die Ziele dieser Arbeit abgestellte Textkorpora wären sicherlich für einzelne Bereiche euphemistischer Sprachverwendung zu erstellen: auf dem Gebiet des Glaubens z.B. durch die Analyse von Todesanzeigen in verschiedenen Sprachregionen und ihrer Evolution im Laufe der Geschichte (in Zeitungen, aber neuerdings auch im Internet) oder durch die verwendeten Interjektionen in Theaterstücken oder Kinofilmen; im Bereich «Ethik und Ästhetik» mit einem Korpus von Frauenzeitschriften (und ihrer Darstellung von Sexualität und Nacktheit), Werbetexten (z.B. von Mitteln gegen Körperbehaarung, Blähungen oder zur Empfängsnisverhütung) oder modernen Manierenbüchern; auf dem Gebiet der Politischen Korrektheit durch ein Korpus entsprechender Vorgaben von offizieller Seite sowie von Zeitungsartikeln mit farbigen Protagonisten im Allgemeinen und zur Einwanderungsproblematik im Besonderen, zum Generationenvertrag, zum Leben von Behinderten und 37

von Maßnahmen zu ihren Gunsten; und im Bereich «Ethik ohne Moral» mit einem Korpus aus Zeitungstexten zum Verlauf eines bestimmten Krieges oder zum wirtschaftlichen Geschehen. Solche durch entsprechende Textkorpora vorgenommene, für sich höchst interessante Untersuchungen können aber eben immer nur Teilbereiche von Euphemismen erfassen und sind damit im Hinblick auf einen allgemeinen Euphemismenbestand kaum zu erstellen bzw. zu analysieren. Doch selbst wenn die textbasierte Erstellung der Korpora realisiert werden könnte, bliebe die Tatsache, dass Texte in der Regel keine metasprachlichen Angaben enthalten. Dies bedeutet, dass – wie bei den oben genannten Studien – aufgrund des eigenen Sprachbewusstseins über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen eines Euphemismus im Textkorpus subjektiv entschieden werden müsste, was natürlich per se fraglich und im Falle des Linguisten besonders problematisch ist, da sich die Auffälligkeit, die «Abweichung von der Normalität», als Kriterium für Markierungen «auf die spontanen und intuitiven Reaktionen eines Durchschnittssprechers» bezieht und nicht «erst nach eingehender linguistischer Analyse zutage» treten sollte (Hausmann 1989, 649), wie sie der Linguist automatisch vorzunehmen geneigt ist. So wirft dieses Verfahren v.a. dann Schwierigkeiten auf, wenn es um die Frage der Vitalität und Valorisierung eines Euphemismus als solchen im Bewusstsein einer ausreichenden Anzahl von Sprechern geht, deren Berücksichtigung essentiell ist, um den heutigen Bestand und Stellenwert der Euphemismen soziokulturell zu erfassen und für den Vergleich beider Sprachen fruchtbar zu machen. Theoretisch ließe sich genau dieses Problem durch eine Enquete unter ausgewählten Sprechern lösen, die jedoch schon methodisch kaum einfach zu realisieren ist. V.a. aber erbringt sie – wie schon wenige Befragungen zeigten – viele unterschiedliche Kommentare zu den einzelnen Euphemismen und erreicht damit keineswegs die für den Vergleich erforderliche und tendenziell unbestreitbare Repräsentativität eines lexikographisch basierten Korpus. Gegenüber textbasierten Korpora oder Umfragen bieten Korpora, die auf zwei in ihrem Umfang und Inhalt vergleichbaren Wörterbüchern basieren, den Vorteil, für den gesamten Sprachbestand repräsentativ zu sein, wie es auch die Wörterbücher grundsätzlich für den Sprachgebrauch realiter oder ihrem Anspruch nach sind. Dabei kann zumindest theoretisch davon ausgegangen werden, dass hinter den Markierungsangaben die für das Wörterbuch verantwortliche Equipe steht, die für das Sprachbewusstsein des Durchschnittssprechers besonders sensibilisiert sein sollte. Dass die kommerzielle Lexikographie1 in der Praxis zeitlichen Zwängen unterworfen ist, die in 1

Cf. u.a. Thibault, der zwar betont, dass ein weiterer Leserkreis in PR «quelque chose comme la parole de Dieu ou approchant» sieht, aufgrund seiner Erfahrung bei der Überarbeitung der aufgenommenen Helvetismen aber erwartungsgemäß festhält, «[que] le Robert est une entreprise commerciale qui travaille à toute allure

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manchen Fällen eine Spontaneität bei der Zuweisung von Markierungsangaben begünstigen, muss nicht immer von Nachteil sein. Damit ist keinem Objektivitätsmythos der Lexikographie das Wort geredet oder die Unfehlbarkeit lexikographischer Redaktion vorausgesetzt (wie auch die Anmerkungen unter 4.1.1 zeigen werden), damit soll auch nicht eskamotiert werden, dass «die Markierungssysteme der Wörterbücher […] in der Regel auf schwachen Füßen» stehen (Hausmann 1985, 377), denn dadurch wird nicht der Anspruch erhoben, eine absolute, aber doch zumindest die – verglichen mit den anderen Vorgehensweisen – bestmögliche Objektivität zu erreichen. Für die Interpretation der Präsenz von Euphemismusbereichen in einer bestimmten Sprache und die Darstellung ihrer zivilisationsgeschichtlich erklärbaren Raison d’être ist der lexikographische Ansatz daher – bei entsprechender Umsicht im Umgang mit den lexikographischen Quellen – eine wesentlich repräsentativere und geeignetere Basis, als es subjektive Auswahlmodi aus Textkorpora je sein können. 3.1.2 Zur Erstellung und Darstellung der Korpora Den Kern der Korpora bilden daher die beiden wissenschaftlich repräsentativsten2 Wörterbücher unter den einbändigen, regelmäßig aktualisierten und gleichzeitig digital konsultierbaren Lexika des Französischen und Italienischen: Petit Robert (PR) und Zingarelli (Z).3 Erstellt wurden sie durch Konsultation der zu den beiden Wörterbüchern jeweils vorliegenden CD-ROM 2007.4 Sofern nicht anders angemerkt, stammen die Belege hieraus, wobei auch die vorangehenden Printausgaben mit einer jeweiligen Kennzeichnung mitverwertet wurden. Die so ermittelten Materialien wurden vergleichsweise in anderen Standardwerken nachgesehen, die die Markierungsangabe Euphemismus verwenden. Im Französischen sind dies der Trésor de la langue française (TLF) und die bisher vorliegenden Faszikel der neuen Auflage des Aka-

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et qui ne recherche pas nécessairement l’exactitude à tout prix» (in Eichenberger 2006). Cf. dazu z.B. Antonelli, der – unter Einbeziehung der jüngeren Datums erschienenen Werke DLI und GRADIT – die italienische Lexikographie der Gegenwart vergleicht und bestätigt: «Non c’è dubbio: il più celebre tra i dizionari dell’italiano è senz’altro lo Zingarelli» (2004, 30). Die Printversion beider Wörterbücher erscheint jährlich neu; ebenso die digitale Version des Zingarelli, nicht aber die des Petit Robert. Hier kam nach der CDVersion von 2001 die neueste aktualisierte Fassung der CD-ROM 2007 auf den Markt, weswegen für das Endkorpus beider Sprachen die jeweilige CD-ROM von 2007 zugrunde gelegt wurde. In PR wurde unter «recherche par critères» > «texte intégral» > «euphémisme», «euphém» eingegeben; in Z unter «ricerca avanzata» > «limiti d’uso» > «(eufem)» bzw. «tutto testo» > «eufemismo», «eufem».

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demie-Wörterbuchs Dictionnaire de l’Académie française (DAF), die beide auch auf CD-ROM konsultiert werden können. Für das Italienische wurde der Grande dizionario della lingua italiana (GDLI) von Battaglia als das ausführlichste Wörterbuch herangezogen, während das italienische AkademieWörterbuch Vocabolario degli Accademici della Crusca (VAC) bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eingestellt wurde und damit als Referenzwerk für die Gegenwart ausfiel. Die Konsultation anderer Wörterbücher zeigt u.a. auch, ob Einmütigkeit in der Bewertung und Markierung als Euphemismus innerhalb der Lexikographie einer Sprache besteht oder nicht (cf. 4.1.2i). Systematische Verweise auf etymologische Wörterbücher – wie v.a. auf das FEW für den galloromanischen oder auch auf DEI bzw. das neu entstehende LEI für den italienischen Wortschatz – erwiesen sich nicht als sinnvoll, da dort euphemistische Markierungsangaben unüblich sind, so dass sie – ebenso wie DHLF für das Französische oder DELI für das Italienische – nur gegebenenfalls zur Klärung historischer Fragen konsultiert wurden. Um den allgemeineren Charakter bestimmter euphemistischer Verfahrensweisen zu unterstreichen, wurde sporadisch auch auf ähnliche Ausdrucksweisen im Deutschen oder Spanischen verwiesen. Auf die systematische Angabe «markiert»5 wird im Materialteil verzichtet, da alle unkommentiert aufgeführten Bezeichnungen aus PR und Z dort als Euphemismen markiert sind. Ihre Nennung erfolgt gegebenenfalls nur zur Klarstellung. Dagegen wird die Angabe «unmarkiert» (besonders in den Hinweisen auf TLF und GDLI) systematisch im Sinne von «nicht mit der Markierungsangabe Euphemismus versehen» verwendet, da der Hinweis auf oft unmarkierte Entsprechungen der jeweils anderen Sprache zum Materialteil gehört (cf. den übernächsten Abschnitt). Die Angabe erübrigt sich natürlich in den Fällen, in denen eine markierte Bezeichnung durch Formulierungen wie «anstelle von; statt; steht für» mit der tabuisierten Bezeichnung konfrontiert wird. Andere vorhandene Markierungen, meist soziolinguistische Zuweisungen wie «pop.» oder «fam.», sind regelmäßig in Klammern beim jeweiligen (auch euphemistisch nicht markierten) Ausdruck berücksichtigt. Metasprachliche Zitate aus TLF, die im Zusammenhang mit einer euphemistischen Verwendung gesehen werden können, ohne sie jedoch ent-

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Grundsätzlich wird terminologisch zwischen Markierungsangaben (und synonym dazu verwendet -hinweisen, -kennzeichnungen, -etiketten, -prädikaten, Markern; cf. Hausmann 1989, 649), also lexikographischen Markierungen, und Markierungen im Sprachbewusstsein der Sprecher (bzw. bestimmter Sprecher oder eines Sprechers), also Verwendungsrestriktionen in der Allgemeinsprache (bzw. in Gruppensprachen oder beim Individuum), unterschieden. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Arbeit wird hier und im Folgenden aber der gekürzte Ausdruck (un)markiert anstelle von präzisem «(nicht) mit der lexikographischen Angabe Euphemismus markiert» verwendet, während bei anderen Markierungsangaben wie «vulg./volg.», «pop.» oder «fam.» sowie bei Markierungen im Sprachbewusstsein die notwendigen Präzisierungen erfolgen.

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sprechend zu qualifizieren, z.B. «par litote», «par antiphrase», haben lediglich ergänzenden Charakter zu den Angaben im französischen Korpus. Sie sind jeweils in Klammern nach dem betreffenden Ausdruck angefügt, gegebenenfalls auch in einer Fußnote. Die Hinweise «auch TLF» oder «auch GDLI» (beziehungsweise «unmarkiert in TLF» oder «unmarkiert in GDLI») bedeuten, dass der betreffende euphemistisch markierte (oder unmarkierte) Ausdruck auch in TLF oder GDLI markiert (bzw. unmarkiert) ist. Fehlen Hinweise auf TLF bzw. GDLI, so besagt dies, dass die betreffenden Einzelbedeutungen weder markiert noch unmarkiert darin enthalten sind.6 Bei der vergleichenden Betrachtung der beiden Sprachen werden nicht nur die euphemistisch markierten Ausdrücke berücksichtigt (z.B. fr. nonvoyant und it. non vedente), sondern – ausgehend von einem Euphemismus in einer der beiden Sprachen – auch Hinweise auf eventuelle in PR bzw. Z unmarkierte Entsprechungen zu einem Euphemismus in der jeweils anderen Sprache gegeben. Angesichts des Synonymenreichtums auf manchen Gebieten müssen sich diese Hinweise jedoch zwangsläufig auf – im Text oder in Fußnoten sowie besonders in den synoptischen Tabellen – sinnvollerweise zu erwähnende Äquivalenzen oder Teiläquivalenzen beschränken,7 die in der Form (z.B. it. riposare in pace vs. unmarkiertes fr. reposer en paix) oder im Bezeichnungsmotiv (z.B. it. casa di salute vs. unmarkiertes fr. maison de santé) nahe liegen. Fehlende Hinweise bedeuten, dass keine Entsprechungen der genannten Arten in PR oder Z vorlagen, was nichts über ihre grundsätzliche Existenz im Französischen oder Italienischen aussagt.8 Letzteres betrifft besonders Ausdrucksweisen, die in den untersten Registern angesiedelt sind und daher eigentlich außerhalb der von den beiden verglichenen Lexika berücksichtigten Sprachverwendung stehen.9 Doch fallen darunter natürlich auch Ausdrucksweisen, die im jeweils anderen Wörterbuch nicht aufgeführt sind, obwohl sie nicht den untersten Registern entstammen. Die Euphemismen der einzelnen Gebiete sind in synoptischen Tabellen zusammengefasst. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Sprachkorpora werden in 3.3 resümiert und in 4.2.1 genauer betrachtet.

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Auf DAF wird mit «auch DAF» nur verwiesen, wenn die Bezeichnung dort markiert vorhanden ist. Sonst müssten z.B. im Bereich «Prostituierte» u.a. alle Bezeichnungen hierfür aus Radtke (1980) oder Boggione/Casalegno (2000) angeführt werden, im Bereich «Gesäß» alle aus Colin (1989) etc. Daher wird z.B. bei acte d’amour (3.2.5c) nicht auf das im Italienischen vorhandene, in Z aber nicht enthaltene atto d’amore verwiesen. So z.B. die bei Radtke (1980) fast 35 Seiten füllenden französischen Bezeichnungen der Prostituierten, die im Wesentlichen aus Argotquellen stammen.

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3.2

Euphemismen einzelner Bereiche im Vergleich

Zunächst ist das Material aus den Korpora in Einzelgebiete zu gruppieren, die in der einen oder anderen Weise häufig als Tabubereiche figurieren:10 «Glaube, Aberglaube und Magie», «Sterben und Tod», «Krankheiten und andere Einschränkungen», «Eigenschaften und Verhaltensweisen», «Liebesund Sexualleben», «Körperteile», «Weiblicher Lebenszyklus», «Toilettengang und Toilette» sowie «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär».11 3.2.1 Glaube, Aberglaube und Magie Der Bereich umfasst auf dem Gebiet des Glaubens vor allem Ausdrucksweisen, die – dem zweiten der Zehn Gebote entsprechend – das direkte Aussprechen des Namens Gottes vermeiden sollen (a–e), was u.a. unter Rückgriff auf einen fiktiven Heiligen (c) oder antike Gottheiten (d) ermöglicht wird. Ferner schließt er auch Christus und Maria (f) sowie weitere religiöse Begriffe wie Sakristei und Hostie (g), aber auch Teufel und Hölle (h–i) mit ein. Der «reine» Aberglaube ist hier lediglich durch eine Bezeichnung für das Wiesel repräsentiert (k). Der Name Gottes (a) Die einfache Aussparung des tabuisierten Gottesnamens liegt in den Interjektionen fr. nom!  nom de Dieu! (auch TLF) und it. poffare!  può fare Dio!12 vor sowie mit Reduplikation auch in fr. cré13 nom de nom! (auch TLF), das daher nicht (b) zugerechnet werden muss, aber auch eine Art Übergangsform hierzu darstellt.

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Cf. z.B. auch die infra (p. 156s. n. 1–3) genannten Unterkapitel der Gliederungsvorschläge von Nyrop, Ullmann und Galli de’ Paratesi und ferner die Gliederungen in der supra (p. 2s. n. 1) und infra (p. 119 n. 14) angeführten Literatur. Die Zuordnung der Ausdrücke zu einzelnen Bereichen erfolgt auf der Basis der Semantik der Ausgangswörter bzw. der in den Ausgangswörtern anstößigen Elemente; so sind z.B. enguirlander (für engueuler) oder incacchiarsi (für incazzarsi) nicht unter «Eigenschaften und Verhaltensweisen», sondern unter «Körperteile» eingeordnet, da der Stein des Anstoßes gueule bzw. cazzo ist. Es versteht sich von selbst, dass im Einzelfall auch andere Zuordnungsmöglichkeiten bestehen, die nicht weniger akzeptabel wären. Ferner sind Überschneidungen sowohl innerhalb der Gebiete als auch innerhalb der Aspekte nicht immer auszuschließen. Poffare! erscheint als markiertes Synonym unter poffardio!, ist aber s.v. nicht markiert. In GDLI ist poffare! nicht markiert. Als markiert erscheint dort poffare il zio! ‘poffardio’. Fr. cré  sacré; cf. z.B. auch Flüche aus Quebec wie cré bateau!  sacré baptême!, cré boire!  sacré ciboire! (Légaré/Bougaïeff 1984, 56) und den Hinweis in PR (s.v. sacré), wo unmarkiert cré nom! angeführt ist. TLF nennt zu fr. (pop.) cré unmarkiert noch crébleu!, crédié!, crédieu! und crénom! (s.v. sacré).

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(b) Der Ersatz des Gottesnamens kann ferner durch nichtssagende Appellativa erfolgen wie in fr. nom d’un petit bonhomme! (auch TLF), nom d’un chien! (auch TLF) und nom d’une pipe! (auch TLF).14 Aus dem Italienischen lässt sich hier auch it. per zio! für per Dio! (auch GDLI) anführen, das durch die lautliche Assoziation als eine Art Wortspiel zu verstehen ist. (c) Der Ersatz des Namens Gottes durch einen beliebigen, in diesem Fall fiktiven Heiligennamen ist durch fr. Saint-Gris in ventre-saint-gris! (auch TLF) erfolgt.15 (d) Außerdem kommen Namen von römischen Gottheiten als Ersatz für den christlichen Gottesnamen in Frage, wie der Name des Weingottes in it. per bacco!, (fam.) corpo di bacco!16 und poffarbacco! (auch GDLI), das für (†) poffardio! (può fare Dio!) steht, sowie in giurabbacco! (s.v. giuraddio; unmarkiert in GDLI) für giuraddio! (giuro a Dio!).17 Ebenso erscheint die Göttin der Jagd im Ersatz von it. perdio! durch per Diana! bzw. perdiana! (auch GDLI «per non dire ‹per Dio›») und deformiert in (pop.) perdina!, (tosk.) perdinci! sowie mit Reduplikationen in per dindirindina! (auch perdindirindina!), per dirindina! (alle auch in GDLI, der noch per dindiriddio! nennt) und per dirindindina! (cf. auch dt. Herkules noch mal! für Herrgott noch mal!). (e) Hinzu kommen als Ersatz zunächst die Bildungen mit -bleu, die eine lautlich naheliegende Wortspielerei darstellen und Dieu unkenntlich machen,

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Neben den hier aufgezählten Flüchen und Interjektionen nennt TLF (teilweise nur in Belegen) als Euphemismen noch nom de ça!, nom de deux!, triple nom!, saperlotte! Ausdrücke wie das von Benveniste (1974, 257), der ebenfalls die Deformationen und den Ersatz des Gottesnamens zu gliedern versucht, zitierte bon sang! fehlen im Korpus. Cf. auch palsambleu!  par le sang de Dieu! infra sub (e). Oder ist hier an eine Deformation von Christ zu denken? Heinrich IV., der das Fluchen nicht lassen konnte, war dieser «Phantasie-Fluch» nahegelegt worden (cf. Trevoux 1771, s.v. bzw. infra p. 169 n. 34; zu den Sitten am Hof von Heinrich IV. cf. noch 5.2.2.1 und speziell zum Fluchen 5.1.2.2). In alternativer Gliederung könnte hier auch eine Fluchkategorie mit Bestandteilen (Bauch, Blut, Körper, Tugend) von Gott, Göttern oder Heiligen erstellt werden, die neben fr. ventresaint-gris! noch palsambleu!, ventrebleu! (e) und it. corpo di bacco! (d) umfassen würde. Beide erscheinen unter Bacco euphemistisch markiert, während unter corpo der Ausdruck corpo di Bacco! nicht markiert ist. In GDLI sind beide (s.v. Bacco) nicht markiert, doch s.v. perbacco! steht: «In forma di peggior.: per bacconaccio […] = Voce eufemistica, comp. da per et bacco», und s.v. eufemismo nennt GDLI als Beispiele noch per baccone!, per bacco baccone!, die aber s.v. bacco ebenfalls unmarkiert sind. Unter giurabbacco nicht markiert; cf. 4.1.1i. GDLI führt als euphemistischen Ersatz für poffardio! die Interjektionen poffareddina!, poffario! und poffarmio! und nennt unmarkiert giuraddia!, giuraddiana! Z 1996 enthielt noch als euphemistisch markierte Synonyma (neben giurabbacco!) giuraddina!, giuraddiana! und giuraddinci!, die 2006 auch als Lemmata fehlen.

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fr. parbleu!  par Dieu! (auch TLF), sacrebleu!  sacredieu (auch TLF), (vx) ventrebleu!  (par le) ventre de Dieu! (auch TLF)18 und (vx) morbleu!  (par la) mort de Dieu!19 (auch DAF). «Dieu aussi a eu son époque bleue» sagt Prévert (zitiert in PR), obwohl nicht alle Ausdrücke als «vx» markiert sind. Fr. (vx) vertubleu!  par la vertu de Dieu! (auch TLF) und mit Aphärese unter Beibehaltung von -dieu in tudieu! sind nur indirekt markiert.20 Fr. (vx) palsambleu! (auch TLF) ist über die schon enttabuisierte Zwischenstufe par le sang bleu! (Molière) statt par le sang de Dieu! entstanden; ferner finden sich mit Reduplikation die Interjektion scrogneugneu!  sacré nom de Dieu! (auch TLF) und apokopiertes pardi!21 Aus dem Italienischen lässt sich unter Erhalt von Dio noch (lett.) viva Dio! bzw. vivaddio! anschließen (unmarkiert in GDLI). Sohn und Mutter Gottes (f) Euphemistisch deformiert wird auch der Name von Gottes Sohn in it. cribbio! für per Cristo! (auch GDLI) und der der Gottesmutter Maria in madosca! für per Madonna! (auch GDLI). Aus dem weiteren sakralen Bereich: Sakristei und Hostie, Ungläubiger (g) Im weiteren sakralen Bereich ist als Deformation von fr. sacristi! noch (fam. et vieilli) saperlipopette! nennen, das in TLF unmarkiert genannt und als «synon. atténué de sapristi» bezeichnet wird, und als Umgestaltung für tabuisiertes it. (volg.) ostia! unter Rückgriff auf die venezianische Bezeichnung für die Auster ostrega! (auch GDLI,22 ähnlich sp. ¡ostras!  ¡hostias!).

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22

PR und TLF geben bei Interjektionen kein Genus an, doch findet Enckell beide Genera in den Texten: «Il arrive souvent qu’on lise dans les textes des formes comme [...] par la ventrebleu, et même, par abréviation, par la ventre [...]» (2004, 26). PR verweist auch noch auf corbleu! aus cœur de Dieu! (s.v. parbleu), das aber als Lemma fehlt, in TLF und DAF jedoch als euphemistische Umgestaltung markiert erscheint. DAF nennt noch mordieu! als «(veilli) euphemisme du juron Par la mort de Dieu». Fr. tudieu! und vertubleu! sind s.v. nicht markiert, doch indirekt kann der Hinweis s.v. vertubleu! «on disait aussi vertuchou autre euphémisme» als Markierung auch für vertubleu! verstanden werden. Außerdem werden im Artikel (encadré) «Dieu» vertubleu! und tudieu! als euphemistische Interjektionen und Flüche aufgezählt. Letzteres gilt auch für scrogneugneu!, das s.v. nicht markiert ist. Das auch bei Benveniste genannte fr. pardi! ist s.v. in PR unmarkiert, wird aber im Artikel «Dieu» in PR bei den Euphemismen aufgezählt, so dass es hier berücksichtigt wird; in TLF (s.v.) steht nur im historischen Teil «altération euphémique de pardieu». Cf. auch sp. ¡pardiez! GDLI erklärt zur Verwendung von ostrega! «talvolta come eufemismo di un imprecazione blasfema: ed è per lo più un uso dei dialetti ven.»; in Z 1996 war auch noch it. osteria! markiert, das als vitaler Euphemismus in Lanza bestätigt wird (2005, 27), in Z 2006 aber unmarkiert erscheint (ebenso unmarkiert in GDLI).

44

Fr. hostie! ist in PR als Ausruf nicht verzeichnet, u.a. in frankokanadischen Quellen aber gut belegt.23 Ferner enthält das italienische Korpus lontano, -a (relig., †) ‘miscredente’ (unmarkiert in GDLI: «per antonomasia: non credente»). Teufel und Hölle (h) Die althergebrachte Furcht, durch Nennung seines Namens das Erscheinen des Teufels zu provozieren, lebt in verschiedenen Deformationen von diable/diavolo weiter. Der Ersatz des zweiten Wortteils liegt in der Veränderung von it. diavolo! zu diacine!, (disus.) diancine! und diamine! vor sowie ohne Ausrufcharakter auch in (tosc., scherz.) diascolo (alle vier auch in GDLI),24 während fr. (vieilli) diantre! im Hinblick auf die obigen Markierungen in PR seltsamerweise unmarkiert bleibt (cf. auch dt. Pfui Deixel!, sp. u.a. ¡diantre!, ¡demonche!).25 (i) It. frate steht für die Abgeschiedenheit des Klosters, was sich für weniger direktes andare a farsi frate eignet: Và a farti frate! ‘togliti di torno, và al diavolo, và in malora’ (unmarkiert in GDLI; cf. dt. Geh’ zur Hölle!). Für inferno steht auch it. quel paese (s.v. quello), das Z im Kontext von mandare a quel paese, andare a quel paese aufführt.26 Sonstiges (j) Für ein unvorhergesehenes Ereignis, ein Unglück, eine unangenehme Sache liegen italienische Deformationen von accidente bzw. des Plurals accidenti vor, die (ebenso wie accidenti! selbst) als Interjektion verwendet werden. Es handelt sich dabei um accidempoli!, was an den Namen der toskanischen Stadt Empoli anklingt, acciderba!, worin auch erba gesehen werden kann, und accipicchia!, wohl mit Anklang an picchiare. Alle drei sind auch in GDLI markiert. Dardano 1989 sieht den Ausgangspunkt der euphemistischen Umgestaltung in Verwünschungen, d.h. in Verwendungsweisen des Wortes in Ausdrücken wie mandare un a[ccidente] a qlcu. ‘augurargli

23

24 25

26

Cf. DQA (s.v.) und auch Deformationen von hostie! in Quebec wie sti!, titi!, esti!, estique!, estile!, ospite!, ostin!, ostination! (Vincent 1982, 51; Légaré/Bougaïeff 1984, 35, 47, 55). Meney (1999) bringt als verstärkte Ausdrucksweisen noch hostie toastée! und hostie toastée de deux bords! GDLI sieht in diamine! eine Kreuzung von diavolo! mit domina! und nennt außerdem noch dialektales diantine! und diascone! als Euphemismen für diavolo! Nur im historischen Teil wird auf die euphemistische Entstehung hingewiesen. In TLF und DAF ist es als Euphemismus markiert (zum Problem der Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen cf. 4.1.1iii). In GDLI unmarkiert, der noch l’altro paese, quell’altro paese für ‘l’aldilà’ nennt.

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Tabelle 1: Glaube, Aberglaube und Magie

markiert a

in Petit Robert nicht markiert

markiert

in Zingarelli nicht markiert

nom! poffare!

b

cré nom de nom! nom d’un petit bonhomme! nom d’un chien! nom d’une pipe! per zio!

c d

ventre-saint-gris!

e

parbleu! sacrebleu! ventrebleu! morbleu! vertubleu! tudieu! palsambleu! scrogneugneu! pardi!

per bacco! corpo di bacco! poffarbacco! giurabbacco! perdiana! perdina! perdinci! per dindirindina! per dirindina! per dirindindina!

vivaddio! f g

cribbio! madosca! saperlipopette! ostrega! lontano, -a

h diantre! i j

diacine! diancine! diamine! diascolo andare a farsi frate quel paese accidempoli! acciderba! accipicchia! donnola

k

46

del male’: «con riferimento a questa accezione l’inter. accidenti!, che esprime irritazione, collera e fam. anche stupore e ammirazione; è usata sia ass. sia in espressioni più forti come a[ccidenti] a te, a lui, a voi, spesso è attenuata nelle forme euf. accidempoli, acciderba, accipicchia».27 (k) Aufgrund seiner tiefen Verwurzelung in ängstlichen abergläubischen Vorstellungen ist das Wiesel in vielen Sprachen mit euphemistischen Bezeichnungen versehen worden (cf. u.a. fr. belette, dt. Schöntierchen, sp. comadreja); aus den Korpora ist it. donnola nennen (unmarkiert in GDLI), das mit dem Hinweis auf die «grazia di questo animale» (Z) erklärt wird, denn «s’il faut qu’on en parle, il est absolument nécessaire d’employer des termes caressants ou flatteurs» (Nyrop 1913, 276). 3.2.2 Sterben und Tod Ähnlich wie die Namen von Göttern und Dämonen sind schon von alters her direkte Bezeichnungen im Bereich von Sterben und Tod tabuisiert. Dabei stand ähnlich wie bei der Vermeidung der Nennung des Namens des Teufels lange Zeit die verbreitete Angst im Vordergrund, durch das direkte Nennen von Ereignissen das entsprechende Geschehen heraufzubeschwören. Komplettiert und weitgehend abgelöst ist diese Furcht heute durch die sprachliche Rücksichtnahme gegenüber den Betroffenen, die z.B. die Todesnachricht durch ein sanftes it. non è più tra noi oder ein in italienischen Todesanzeigen dominantes è mancato (all’affetto, alla gioia dei suoi cari) mitteilen lässt. Furcht und Rücksicht erklären die Entstehung vieler euphemistischer Ausdrucksweisen im Hinblick auf den Vorgang des Sterbens (a–l), auf das Sterben unter Einwirkung äußerer Gewalt (m–p), den daraufhin eingetretenen Zustand (q, r) sowie die Vorstellung vom Tod als Person (s) und den Toten mit seiner Ruhestätte (t, u). Bezeichnungen für ‘sterben’ und ‘das Sterben’ Verschiedene Bilder und Perspektiven bedingen die Vielfalt der euphemistischen Ausdrücke für ‘sterben’: (a) Das unerwartet eintretende Lebensende kommt in vorsorglicher Formulierung in fr. s’il m’arrive quelque chose ‘si je meurs’ zum Ausdruck (cf. it. se dovesse capitarmi qlco., dt. wenn mir etwas passieren, zustoßen sollte).

27

Nicht vergleichbar damit ist der spanische Euphemismus accidente: «La palabra es comodín aplicable a casi cualquier situación desagradable y trágica» (Rodríguez Estrada 1990, s.v.).

47

(b) Das ‘Verlassen, Fortgehen auf eine Reise’ liegt in fr. quitter ce monde28 und décéder,29 it. dipartire30 und scomparire (beide auch in GDLI) zugrunde und konkreter in sparire dalla (faccia della) terra31 oder in (lett.) uscire dalla vita, dal mondo. Mit Ziel- bzw. Ortsangabe versehen sind die Ausdrücke salire in paradiso, al cielo (fr. aller au paradis, au ciel sind unmarkiert), wobei auch das ‘Hinfliegen’ in volare in/al cielo, volare in paradiso, volare alla gloria dei beati onomasiologisch vorhanden ist (cf. auch sp. volar al cielo). Speziell für das Jenseits findet sich noch mondo immortale ‘oltretomba’ und bene immortale ‘paradiso’. (c) Der ‘Übergang in ein anderes Leben’ ist in fr. passer ‘mourir’ (unmarkiert in TLF, «vieilli ou région.») und it. transire (unmarkiert in GDLI), expliziter in it. passare nel numero dei più, passare a miglior vita32 ausgedrückt (cf. schon lat. abire ad plures). Hierzu gehört ebenso andare a Patrasso (auch GDLI), das auf eine scherzhafte oder euphemistische Deformation des biblischen ire ad patres zurückgeht, vielleicht unter Einfluss des Namens der griechischen Stadt Patras (it. Patrasso). Zudem sind it. (†) passamento (in GDLI unmarkiert) und trapasso ‘morte, decesso’33 bzw. fare trapasso ‘morire’ zu nennen; fr. (vx. ou littér.) trépas und trépasser sind nicht markiert. (d) Das ‘Übergeben der Seele an Gott’ ist in it. rendere l’anima a Dio, rendere lo spirito a Dio als Motiv vorhanden (beide in GDLI nicht markiert). Unmarkiert und semantisch abweichend sind fr. rendre l’âme, rendre l’esprit. (e) Das christliche ‘Einschlafen’ im Zustand der Gnade ist in it. addormentarsi nel bacio del Signore (unmarkiert in GDLI) ausgedrückt, während einfaches addormentarsi nel Signore ebenso wie fr. s’endormir dans le Seigneur ‘mourir en état de grâce’ (auch TLF; cf. dt. sanft im Herrn entschlafen) nicht markiert sind.34

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30 31

32

33 34

TLF gibt an: «P. métaphor. Quitter le monde, la lumière, la terre, la vie» (TLF, s.v.). PR erklärt zur Verwendung: «Employé surtout dans l’Administration ou par euphémisme, au passé composé et au participe passé» (PR, s.v.). In TLF steht es unmarkiert, ebenso wie it. decesso, decedere, die nur mit den Markierungsangaben «burocratico» bzw. «letterario» in Z erscheinen. Entsprechendes fr. partir ‘mourir’ ist (auch in TLF) nicht markiert, ebenso fr. (vx) s’en aller, it. andarsene. Cf. auch sp. irse ‘morir’. GDLI nennt absolut gebrauchtes sparire, markiert mit «valore eufem.», während die supra folgenden Ausdrücke mit uscire, salire und volare unmarkiert bleiben. Fr. disparaître ‘mourir’ ist nur in TLF und DAF markiert, nicht aber in PR. Cf. auch sp. pasar a mejor vida. Die italienischen Ausdrücke stehen unmarkiert in GDLI, der noch – ebenso unmarkiert – passare di questa vita, di questo mondo, a miglior vita, all’altra vita, all’altro mondo, al Signore, a Dio, andare tra di più nennt. GDLI betrachtet diese Verwendungsweise als mehrheitlich euphemistisch: «morte, decesso (e ha per lo più valore eufem.)». DAF nennt jedoch markiert s’endormir dans la paix du Seigneur, ebenso s’endormir de son dernier sommeil.

48

(f) Das ‘Gerufenwerden von Gott’ ist in fr. Dieu l’a rappelé à lui (auch TLF) festgehalten. It. Dio l’ha chiamato a sé ist in Z unmarkiert, in GDLI (zusammen mit Dio l’ha chiamato alla sua gloria) allerdings markiert.35 (g) Schließlich wird auch das einfache ‘Erlöschen des Lebens’ in fr. s’éteindre (auch DAF, aber unmarkiert in TLF) ausgedrückt (cf. z.B. un vieillard qui s’éteint), was mit dem Beispiel it. si è spento serenamente unmarkiert auch in Z erscheint. (h) Vom Bild des Fehlens über das Erlöschen geht auch it. mancare ‘morire’ aus (unmarkiert in GDLI), z.B. è mancato all’improvviso. (i) Das Beenden des Lebens ist in it. terminare la vita (unmarkiert in GDLI) festgehalten,36 mit dem Hintergrund einer Krankheit oder auch der christlichen Vorstellung vom «irdischen Jammertal» und dem besseren Jenseits zudem in terminare di soffrire und (fam.) finire di tribolare ‘detto spec. di persona che ha molto sofferto’.37 Aber auch die Naturgegebenheit des Sterbens wird nicht übersehen, so in it. pagare il proprio tributo alla natura, während fr. payer tribut à la nature (auch in TLF) unmarkiert ist . (j) Ein sehr konkretes Bild liegt in it. andare sottoterra vor (unmarkiert in GDLI).38 (k) Das Sterben wird teilweise mit den jeweiligen Substantiven zu den Ausdrücken für ‘sterben’ bezeichnet, so in it. (lett.) dipartenza, dipartimento, dipartita und scomparsa (alle auch in GDLI).39 (l) Der Tod als Vorgang kommt in it. (lett.) passo doloroso ‘la morte’ zum Ausdruck, das in Z s.v. eufemismo als Beispiel (mit Zitat aus Dante) angeführt wird, s.v. passo aber nicht markiert ist,40 und in fr. malheur ‘mort’ (s’il lui arrivait malheur ‘s’il mourait’; en cas de malheur),41 das in PR markiert ist, während Z ähnlich definiertes disgrazia ‘avvenimento improvviso e luttuoso’ unmarkiert enthält (è successo una disgrazia, è morto in seguito a una disgrazia).

35 36 37 38 39

40

41

Das Bild des ‘Geholtwerdens’ ist markiert nur in la mort vient de l’emmener, la mort l’a emporté und enlever (DAF) enthalten. Unmarkiert in GDLI; auch fr. terminer la vie ist weder in TLF noch in DAF markiert, ebenso fr. cesser de vivre. In GDLI heißt es: «cessare, finire di tribolare ‘morire’ (ed è di uso enfatico)». Auch der folgende Ausdruck ist unmarkiert. DAF nennt markiert descendre au tombeau ‘mourir’. In DAF ist markiert noch disparition und fin angeführt, ebenso heure ‘moment où une personne doit mourir’ und il n’en a plus pour longtemps ‘il lui reste peu de temps à vivre’ (Letzteres unmarkiert in TLF). GDLI gibt s.v. passo ‘morte’ die Entsprechungen «anche nelle espressioni Passo doloroso, dubbioso, fatale, mortale, terribile, ultimo», markiert den Eintrag aber nicht. DAF notiert markiert il lui est arrivé malheur ‘il est mort’, aber unmarkiert in TLF. Cf. auch supra unter (a).

49

Sterben durch äußere Gewalt (m) Ebenso wie oben (j), andare sottoterra, ist auch mandare sottoterra euphemistisch markiert42 (in GDLI nicht markiert) und ebenso wie oben (c), andare a Patrasso, auch mandare a Patrasso (auch GDLI; zur Erklärung cf. oben unter c). Hierzu ist auch fr. se débarrasser de qqn ‘le faire mourir’ zu stellen (cf. dt. sich jmds. entledigen); it. sbarazzarsi di qlcu. ist in der allgemeineren Bedeutung ‘liberarsi da chi procura impiccio o fastidio’ in Z angegeben, was die (im Italienischen vorhandene) Bedeutung des Tötens nicht ausschließt, aber auch nicht direkt nennt. (n) Das Bild des Ausschaltens liegt in it. eliminare ‘sopprimere, ammazzare’ zu Grunde, z.B. eliminare un rivale, un testimone scomodo (in GDLI nicht markiert), während fr. éliminer in vergleichbarer Bedeutung unmarkiert ist. Cf. auch sp. eliminar ‘matar, asesinar’. (o) It. (centr.) ammappalo! bzw. ammappelo! ist als Interjektion für ‘meraviglia, sorpresa, ammirazione o energica affermazione’ eine Deformation von ammazzalo!, wodurch ihm die Assoziation mit der Grundbedeutung des gewaltsamen Tötens genommen wird. Ebenso ist die gleichermaßen definierte Interjektion it. (centr.) ammappete! anstelle von ammazzete! zu verstehen. (p) Eine Sonderstellung nimmt hier zweifellos das Töten durch Abtreibung ein. Für die diese Handlung heimlich praktizierende Klinik existiert im Italienischen das markierte it. (disus.) fabbrica degli angeli ‘clinica ove si praticano aborti clandestini’. Dasselbe Bild, das die getöteten Kinder zu Engeln werden lässt, liegt auch in dt. Engelmacherin43 vor und in euphemistisch nicht markiertem fr. (vieilli) faiseuse d’anges (fam., TLF; pop., DAF). Bezeichnungen für ‘tot sein’ und ‘das Tot-Sein’ Nicht ganz so vielfältig wie für ‘sterben’ sind die Bezeichnungen für ‘tot sein’ und das ‘Tot-Sein’: (q) Für ‘tot sein’ enthält das italienische Korpus das Bild des ewigen Friedens, ewigen Schlafes in it. riposare in pace (in GDLI unmarkiert), wo-

42

43

DAF nennt in dieser Bedeutung markiert liquider ‘tuer, assassiner un individu; exterminer, anéantir une catégorie sociale ou un groupe ethnique’; außerdem ist expédier quelqu’un dans l’autre monde markiert angeführt. Die Verwendung von ‘Engel’ in diesem Sinnkontext wird im Deutschen Wörterbuch ‘auf der grundlage des christlichen volkslaubens, daß verstorbene kinder engel werden’ (Grimm/Grimm 1999, s.v.) erklärt. Zu Grimms Zeiten war der Begriff noch nicht mit Abtreibung verbunden: ‘Engelmacherinnen nennt das volk solche frauen, unter deren händen die ihnen in pflege gegebenen kinder, aus mangel an nahrung, bald sterben, d.h. frühzeitig engel werden müssen’ (Grimm 1862, s.v.), doch findet sich in der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von 1999 auch die mit der Verwendung im heutigen Italienisch konforme Bedeutung ‘Frau, die illegale Abtreibungen vornimmt’, die ebenso im Duden erscheint (1993, s.v.).

50

hingegen fr. reposer en paix in PR (und in TLF) nicht markiert ist44 (cf. die lateinische Grabinschrift requiescat in pace und im Spanischen neben RIP auch DEP, descanse en paz). Daneben steht im Anschluss an oben (j und m) it. essere sottoterra ‘essere morto’ (unmarkiert in GDLI). (r) Das ‘Tot-Sein’ ist entsprechend mit it. eterno riposo (‘con metonomia: la morte stessa’, GDLI) umschrieben, während fr. (relig.) repos éternel in PR (und auch in TLF) nicht markiert ist (auch nicht sommeil éternel in PR, wohl aber in TLF); cf. auch dt. ewige Ruhe, sp. descanso eterno. Der personifizierte Tod (s) Anders als im Deutschen (cf. Gevatter Tod) ist der Tod in den betrachteten Sprachen – sicher genusbedingt (it. la morte, fr. la mort) – in weiblicher Gestalt personifiziert, so z.B. in it. (pop.) la comare (GDLI markiert mit «scherz.»; cf. auch 3.2.3e für die Bedeutung ‘Wechselfieber’ und 4.1.1ii).45 Der Tote und seine Ruhestätte (t) Der Tote selbst wird mit it. assente ‘persona defunta’ als der oder die Abwesende46 und mit scomparso, -a als der oder die Verschwundene bezeichnet (cf. (b) scomparire und (k) scomparsa). Beide sind auch in GDLI markiert. (u) It. riposo steht – außer in eterno riposo ‘Tod’ (r) – auch euphemistisch für (†) sepoltura (‘luogo di sepoltura’ unmarkiert in GDLI; cf. auch dt. Ruhestätte).47

44

45

46

47

TLF enthält markiert auch dormir du sommeil éternel, was in PR – ebenso wie die italienische Entsprechung dormire il sonno eterno in Z und GDLI – unmarkiert ist. DAF nennt noch markiert dormir (de) son dernier sommeil, manquer à l’appel und il a cessé de vivre ‘il est mort’, il n’est plus (là). Im Französischen erscheint der Tod als Mäher(in) in (littér.) la Faucheuse (unmarkiert in PR, auch in TLF; cf. dt. Sensenmann), was als Bild schon in der Antike und in der Bibel zu finden ist, aber in Z onomasiologisch nicht markiert erscheint. Etymologisch und metaphorisch anderer Herkunft als it. comare ist fr. la camarde (eigentlich ‘plattnasig’, da der Totenkopf als Skelett keine Nase hat). Daher kann es, obwohl ohne Majuskel, auch als Personifikation gesehen werden, ist aber unmarkiert. Unter den entsprechenden französischen Bezeichnungen fehlt absent in dieser Bedeutung in PR, markiert aufgeführt ist es aber in TLF; auch in DAF sind un absent ‘un mort’ und disparu, -ue ‘personne défunte’ markiert. PR nennt unmarkiert troubler le repos des morts ‘violer leur tombe’ und TLF (ebenfalls unmarkiert) champ de repos ‘cimetière’; DAF nennt noch markiert le dernier asile ‘le cimetière, la tombe’.

51

Tabelle 2: Sterben und Tod in Petit Robert markiert a b

nicht markiert

markiert

partir disparaître

dipartire scomparire sparire dalla (faccia della) terra uscire dalla vita uscire dal mondo salire in paradiso salire al cielo volare in/al cielo volare in paradiso volare alla gloria dei beati mondo immortale bene immortale

passer

trépas trépasser cf. rendre l’âme

d

cf. rendre l’esprit e f g

nicht markiert

s’il m’arrive quelque chose quitter ce monde décéder

aller au paradis aller au ciel

c

in Zingarelli

cf. s’endormir dans le Seigneur

transire passare nel numero dei più passare a miglior vita andare a Patrasso passamento trapasso fare trapasso rendere l’anima a Dio rendere lo spirito a Dio addormentarsi nel bacio del Signore

Dieu l’a rappelé à lui s’éteindre

Dio l’ha chiamato a sé spegnersi

h

mancare

i

terminare la vita terminare di soffrire finire di tribolare pagare il proprio tributo alla natura andare sottoterra

payer tribut à la nature j

52

in Petit Robert markiert

nicht markiert

k

in Zingarelli markiert

nicht markiert

dipartenza dipartimento dipartita passamento scomparsa passo doloroso

l malheur

disgrazia

m

mandare sottoterra mandare a Patrasso se débarrasser de qqn

n o

éliminer

eliminare ammappalo! ammappete! fabbrica degli angeli

q

reposer en paix

r

repos éternel

riposare in pace essere sottoterra eterno riposo

p

s

comare

t

assente scomparso, -a riposo

u

repos

3.2.3 Krankheiten und andere Einschränkungen Der von alters her tabuisierte Bereich der Krankheiten umfasst körperliche Einschränkungen (a, b) und physische (c–g) wie psychische Erkrankungen inklusive der entsprechenden Heilanstalt (h, i) und als klinische Maßnahme – am Rande erwähnt – die sterilisierende Operation bei Haustieren (j). Physische Einschränkungen (a) Das aus dem Englischen entlehnte fr. handicapé, -ée,48 das euphemistisch anstelle von infirme verwendet wird, wirkt als Fremdwort weniger direkt – zumindest solange es als solches vom Sprecher wahrgenommen wird. It.

48

Fr. handicapé, -ée wird nur s.v. euphémisme als Beispiel zitiert, während es unter handicapé selbst (ebenso wie in TLF) nicht entsprechend markiert ist, sondern nur mit dem Verweis auf die Tendenz zum Ersatz von infirme hingewiesen versehen ist (cf. 4.1.1i). Fr. handicapé, -ée visuel, -elle umfasst auch ‘aveugle’, aber ebenso andere Sehbehinderungen. Entsprechendes gilt für handicapé, -ée auditif, -ve.

53

handicappato, -a ist in der entsprechenden Bedeutung in Z und GDLI unmarkiert. Markiert ist in Z hingegen it. diversamente abile, das in rücksichtsvoller Formulierung die Andersartigkeit der Fertigkeiten über das Fehlen bestimmter, als «normal» betrachteter körperlicher oder geistiger Fähigkeiten stellt. Das 2006 in Z neu aufgenommene und mit dem Erstdatum 1999 belegte it. diversabile stellt eine weitere Ersatzform dar. (b) Blinde werden in beiden Sprachen heute aus Rücksichtnahme auch weniger direkt als «Nichtsehende» bezeichnet, fr. non-voyant, -ante,49 it. non vedente (auch GDLI), wobei mehr Verständnis oder auch Politische Korrektheit mitklingt als bei einem inzwischen mit vielen Konnotationen belasteten «mot propre» wie fr. aveugle bzw. it. cieco, -a. Entsprechend sind auch Gehörlose, sordi, im italienischen Korpus mit non udenti vertreten.50 Daneben steht duro, -a d’orecchio ‘sordo o che sente molto poco’, während fr. dur, dure d’oreille nicht markiert ist. Physische Krankheiten und ihre Begleiterscheinungen (c) Ein Tabu sind oft zweifellos direkte Bezeichnungen für Krebskrankheiten. Im Korpus findet sich it. brutto male für it. tumore (maligno),51 das unmarkiert seinerseits bereits das direkte cancro vermeidet (cf. die ähnliche Verwendung von fr. tumeur maligne oder dt. bösartiger Tumor). (d) Im Bereich der Geschlechtskrankheiten stehen fr. maladie honteuse52 und vilaine maladie (unmarkiert in TLF, «vieilli») markiert anstelle von fr. (vieilli) maladie vénérienne,53 während Umschreibungen für die einzelnen Krankheiten in beiden Sprachen (wie z.B. für ‘Syphilis’ fr. mal de Naples, mal napolitain, mal français bzw. it. malfrancese) unmarkiert angeführt sind.54 (e) Für das Wechselfieber steht it. comare ‘febbre intermittente’ (unmarkiert in GDLI; cf. auch 3.2.2s für die Bedeutung ‘Tod’ und 4.1.1ii zur Problematik der Markierungsangabe).

49 50

51 52

53

54

Fr. non-voyant, -ante steht unmarkiert in TLF. DAF nennt noch markiert fr. (fam.) avoir une coquetterie dans l’œil ‘avoir un léger strabisme’. It. non-udente ist im Gegensatz zu it. non vedente in GDLI nicht markiert, ebenso wie das folgende it. duro d’orecchi [sic] ‘alquanto sordo (anche insensibile, che non vuol capire)’. GDLI nennt unmarkiert u.a. it. mal brutto ‘epilepsia’ und it. male brutto ‘sifilide’. Unmarkiert in TLF. It. vergognoso ist nur in Verbindung mit it. (disus.) parti vergognose ‘Sexualorgane’ (cf. auch fr. parties honteuses) verzeichnet, hier aber nicht markiert. Ebenso wie fr. maladie vénérienne in PR steht malattia venerea in Z unmarkiert, während sich it. Venere selbst auch in markiertem sacrificare a Venere bzw. sacerdotessa di Venere findet (3.2.5). Alle genannten französischen Bezeichnungen stehen unmarkiert auch in TLF; zum Italienischen cf. noch ebenfalls unmarkiert in GDLI it. male dei Franchi, di Napoli, di San Giobbe, it. male spagnolo, universale und die vorangegangene Fußnote.

54

(f) In Bezug auf eine tödliche Krankheit wird das aus lat. infaustus ‘unheilvoll, Unglück bringend’ entlehnte Adjektiv it. infausto, -a euphemistisch in der Bedeutung ‘mortale’ verwendet (auch GDLI). (g) Auch die unangenehmen Folgen z.B. einer Magenverstimmung sind hier mit it. (raro) rovesciare (il pranzo) ‘vomitare’ anzuschließen,55 dessen übertragene Bedeutung ‘riversare’ als semantischer Ausgangspunkt betrachtet werden kann. Psychische Erkrankungen (h) It. malato, -a di mente (fr. malade mental) wird indirekt mit it. (est.) deviante ausgedrückt, bei dem eine semantische Spezialisierung des «comportamento deviante», des «vom Normalen abweichenden Verhaltens» vorliegt, die den Kranken weniger direkt bezeichnet.56 Ähnlich indirekt steht fr. malade anstelle von fou, folle ‘qui agit, se comporte d’une façon peu sensée, anormale’.57 (i) Für eine Privatklinik, v.a. für eine Nervenheilanstalt, steht im Italienischen (disus.) casa di salute,58 das eine Lehnübersetzung von (auch in TLF) unmarkiertem fr. maison de santé ist. Sonstiges (j) Im Hinblick auf die Sterilisation (v.a. in Bezug auf Haustiere) findet sich in fr. faire opérer anstelle von faire stériliser ebenfalls eine neutralere, d.h. allgemeinere Ausdrucksweise.

55

56

57 58

GDLI enthält nur unmarkiert rovesciare il proprio stomaco. Zur Tabuisierung des Sprechens über das Sich-Übergeben cf. das Zitat aus Erasmus in 5.2.4.4 (infra p. 262). Unmarkiertes fr. déviant, -ante ist nur in der allgemeinen Bedeutung (psychol.) ‘personne dont le comportement s’écarte de la norme sociale admise’ in PR (auch in TLF) verzeichnet. So der markierte Hinweis s.v. fou, folle, auch wenn s.v. malade keine entsprechende Markierungsangabe vorliegt (cf. 4.1.1i). Bei Galli de’ Paratesi wird it. casa di salute außer als Ersatz für it. manicomio auch als Entsprechung für it. ospedale genannt (1964, 131; 1969, 158). Cf. auch sp. casa de salud ‘manicomio, hospital de dementes’.

55

Tabelle 3: Krankheiten und andere Einschränkungen in Petit Robert markiert a

nicht markiert

in Zingarelli markiert

handicapé, -ée

b

handicappato, -a

non-voyant, -ante dur, dure d’oreille

c d

nicht markiert

diversamente abile diversabile non vedente non udente duro, -a d’orecchio brutto male

maladie honteuse vilaine maladie

e f g

comare infausto, -a rovesciare

h

déviant, -ante

deviante

maison de santé

casa di salute

malade i j

faire opérer

3.2.4 Eigenschaften und Verhaltensweisen Der Bereich umfasst aktive wie passive Seiten des Menschen und reicht von bestimmten negativ gewerteten Eigenschaften (a–g) und Verhaltensweisen, die z.B. als Bacchushuldigung, Doppelleben oder Jugendsünden umschrieben werden (h–k), bis zu rücksichtsvollen Ausdrucksweisen, die in verschiedenen Kontexten Anwendung finden, um das Sozialprestige von Sprecher oder Adressat nicht zu beeinträchtigen (l–q). Eigenschaften Ein höheres Alter sowie als unangenehm eingeordnete physische und geistige Eigenschaften erfordern je nach Gesprächssituation eine entsprechende auch sprachlich greifbare Rücksichtnahme auf die davon betroffenen Personen, wenn darüber überhaupt gesprochen werden muss. (a) In der Ära Politischer Korrektheit besonders zeitgemäß sind die euphemistischen Umschreibungen von Altersstufen. Anstelle von fr. vieillards wird z.B. von personnes âgées gesprochen, ebenso wie weniger höflichem it. vecchio, -a prinzipiell (in Z unmarkiertes) anziano, -a ‘persona di età avanzata’ vorzuziehen ist. PR markiert noch fr. n’être plus de la première jeunesse für ‘nicht mehr jung sein’, was it. (in Z nicht verzeichneten) non essere più nella fiore della giovinezza, non essere più giovanissimo, -a teilweise entspricht. Anstelle von ‘l’âge de la retraite’ wird fr. le troisième âge verwendet 56

(auch TLF, «souvent par euphém.»; unmarkiert it. la terza età; cf. auch sp. tercera edad) und für ‘la vieillesse au-delà de 75 ans’ fr. le quatrième âge.59 (b) Mit einer Litotes werden auch weniger geschätzte physische Eigenschaften ausgedrückt, wie z.B. anstelle von ‘eher hässlich sein’ it. non essere una Venere, das Z markiert, während PR ce n’est pas une Vénus (s.v. Vénus) unmarkiert bringt. It. robusto, -a (auch GDLI) ist z.B. in it. una ragazza un po’ robusta ein weniger direktes und dadurch eher positiv zu sehendes Synonym für grasso, -a.60 Ähnlich wird fr. fort, forte (auch TLF) für zu direktes gros, grosse verwendet: une femme forte oder erneut mit weiterer Abschwächung une femme un peu forte (cf. it. ben messo, -a und neben dt. vollschlank, stattlich auch die direkte Entsprechung dt. stark ‘beleibt’ z.B. in Kleider für stärkere Damen). (c) Ein schlechter Eigengeruch ist vornehmer ausgedrückt fr. (spécialt) une odeur sui generis («avec une valeur nég.», TLF).61 (d) Fr. vif, vive qualifiziert jemanden beschönigend als ‘lebhaft’, der sich leicht heftig erregt, ‘qui s’emporte facilement’.62 (e) Im Hinblick auf die geistige Eigenschaften wird eine ‘persona scarsamente dotata dal punto di vista intellettivo’ im Italienischen mit minus habens bezeichnet (auch GDLI, «l’espressione ha di solito valore eufemistico»), das zwar ebenfalls das Defizitäre ausdrückt, aber als Fremdwort gebildeter klingt oder klingen soll und wohl nicht für jedermann direkt verständlich ist.63 (f) Als Metaphern unmissverständlich sind hingegen it. (pop.) testa di cavolo ‘persona stupida, inabile, sprovveduta’ oder (lett.) torso di cavolo (beide unmarkiert in GDLI) und testa di rapa.64

59

60 61 62 63

64

Fr. quatrième âge steht unmarkiert (zur Markierungsfrage in PR cf. 4.1.1ii) in TLF, der wie folgt definiert: «période de la vie au cours de laquelle les personnes âgées ne peuvent plus vivre seules». DAF bringt im Zusammenhang mit dem Alter noch markiertes fr. hiver für année, «surtout en parlant de personnes d’un âge avancé»: Il comptait déjà soixante-dix hivers. Als Litotes nennt DAF markiert fr. il n’est pas bien gras ‘il est maigre’. Cf. die unmarkierte Verwendung von sui generis in it. un tipo sui generis; sapore/ odore sui generis, das ohne diese Beispiele auch GDLI unmarkiert nennt. Fr. vif, vive steht in dieser Bedeutung unmarkiert in TLF. It. vivo, -a, ebenfalls als persona viva im Sinne von ‘vivace’, ist in ähnlicher Verwendung nicht verzeichnet. Nach PR, der daneben auch einfaches minus nennt, ist minus habens wohl geläufiger und nur als «fam.» markiert (auch TLF). DAF nennt in ähnlicher Bedeutung markiert fr. ce n’est pas un aigle ‘il n’est pas très intélligent’, il n’est pas fort, pas très fort ‘il manque d’habileté, de discernement’, il n’est pas très futé ‘il est sot’, un faible d’esprit ‘une personne dont les fonctions intellectuelles sont plus ou moins gravement déficientes’, l’innocent du village ‘une personne à l’esprit faible, borné’ und elle est bien brave ‘gentille, mais naïve et sans finesse’. Semantisch ähnliche Metaphern im Französischen sind unmarkiert, cf. fr. bête comme (un) chou, (arg.) chou ‘tête’, (loc. fam.) ne rien avoir dans le chou, wobei bei it. cavolo auch immer an tabuisiertes cazzo zu denken ist.

57

(g) Zu nennen sind ferner die Interjektionen fr. (vieilli) bigre! (auch TLF, DAF), eine «forme attenuée, par euphémisme, de bougre, employé comme juron» (DAF), und it. (colloq.) urca! zum Ausdruck großen Erstaunens, das Z als euphemistische Umgestaltung von (p)orca (miseria)! erklärt. Verhaltensweisen (h) Um nicht gleich als Trinker dazustehen, wird mildernd it. sacrificare a Bacco, wörtlich ‘dem Bacchus opfern’ (cf. dt. Bacchus huldigen) für ‘bere vino più di solito, gustandolo’ (unmarkiert in GDLI) verwendet, das ebenso wie im Bereich «Sexualverhalten» it. sacrificare a Venere (cf. 3.2.5d) und im Bereich «Glaube, Aberglaube und Magie» die Flüche mit it. bacco (3.2.1d) im euphemistischen Bild die antike Götterwelt weiterleben lässt.65 (i) Als it. sbaglio di gioventù wird früheres moralisches Schuldverhalten abgetan; fr. faute, péché, folie, erreur de jeunesse sind unmarkiert.66 (j) Euphemisierend steht auch it. avere una doppia vita ‘nascondere dietro una faccia di irreprensibilità azioni e comportamenti viziosi, disonesti, oltremodo riprovevoli’ (doppia vita ist unmarkiert in GDLI; zur Markierung in Z cf. 4.1.1ii); fr. mener une double vie ist in PR unmarkiert (cf. auch dt. Doppelleben). (k) Fr. (fam.) rien à secouer ‘rien à faire, à branler, à foutre’ im Beispiel J’en ai rien à secouer (fr. n’en avoir rien à secouer de qqc., unmarkiert in TLF, très fam.) bringt zum Ausdruck, dass jemanden die entsprechende Sache nicht kümmert. It. infischiarsi ‘non curarsi, non fare alcun conto, ridersi di qlco. o qlcu.’ wird auf fr. s’enficher zurückgeführt: «(da ficher ‘ficcare’, ma anche, eufem. e con passaggio analogo all’it., ‘fregarsene’) con sovrapposizione di fischiare». Fr. repli ‘recul, retraite’ (unmarkiert in TLF) geht in der allgemeineren Einzelbedeutung auf eine Übertragung aus dem militärischen Bereich zurück, wo es einen freiwilligen Truppenrückzug bezeichnet. Gegeben wird ein Zitat von Gide: «Devrons-nous, par un ‹repli stratégique› tourner le dos à tout ce que l’art français a produit de délicat». Sprachliche Höflichkeit Die folgenden Euphemismen helfen generell, d.h. ohne prinzipiell auf engere semantische Bereiche beschränkbar zu sein, sprachliches Verhalten, das 65

66

Ferner nennt GDLI in gleicher Bedeutung libare a Bacco; außerdem effetti di Bacco ‘ubriachezza’, devoto di Bacco ‘dedito al vino’ (s.v. Bacco). Auf Bacchus bezogenene Bezeichnungen (z.B. un adorateur, disciple, enfant, suppôt de Bacchus ‘un ivrogne’) sind in TLF unmarkiert. Cf. auch dt. Jugendsünden. Die Ausdrücke colpe, errori di gioventù sind in Z nicht markiert. DAF nennt noch markiert (pop.) blaque ‘erreur, faute’ (z.B. il a fait bien des blaques dans sa jeunesse), außerdem in diesem Kontext faire des bêtises ‘commettre des imprudences, des malhonnêtetés’. An Charaktereigenschaften verzeichnet DAF markiert noch indélicat, -ate ‘malhonnête en affaires’ und entsprechend indélicatesse.

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als unangenehm empfunden werden könnte, zu vermeiden oder zumindest angenehmer zu gestalten. Die vorzustellenden Gesprächsstrategien haben somit insbesondere die Achtung anderer und die Selbstachtung zum Ziel und ermöglichen, das eigene Sozialprestige oder dasjenige anderer nicht in Frage zu stellen, sondern es zu wahren oder gegebenenfalls sogar aufzuwerten. Sie reichen vom indirekten Ausdruck einer Aufforderung über vorsichtige, schonende Formulierungen zur unzureichenden Qualifizierung oder Qualität des Bezeichneten bis hin zu nur andeutenden Ausdrücken und Umschreibungen eines weniger goutierten Verhaltens. (l) Die Verwendung von fr. prier (z.B. in je vous prie de ne pas insister) anstelle von exiger ist Ausdruck einer höflicheren, aber nicht weniger deutlichen Aufforderung, einer Bitte nachzukommen67 («avec une nuance impérative», TLF). Demgegenüber ist it. pregare in vergleichbarer Verwendung, aber doch ohne die imperative Nuance unmarkiert in Z (cf. GDLI und die ähnliche Verwendung von dt. bitten). Ähnlich hat imperatives fr. tâche, tâchez z.B. in tâchez d’être à l’heure! eindeutig weniger Befehlston als die direkte Verwendung des betreffenden Verbs in soyez à l’heure! («p. euphém., pour inciter qqn à se comporter de telle ou telle façon», TLF). (m) Anstelle einer direkten Aussage kann die Negation rücksichtsvoller mit fr. pas exactement umschrieben werden (cf. z.B. Il n’est pas exactement ce qu’on appelle un grand travailleur), aber auch mit pas vraiment (cf. z.B. La situation n’est pas vraiment drôle)68 oder pas précisément (cf. z.B. Flaubert: Ma vie «n’est pas précisément folichonne»). Affirmative Aussagen können durch (fam.) plutôt ‘très’ («par litote», TFL) unterstrichen werden (z.B. Il est plutôt barbant, celui-là!). Der entsprechende Gebrauch existiert auch im Italienischen,69 ist aber in Z nicht aufgeführt. (n) Fr. ce n’est pas fameux steht für ‘c’est mauvais’ (zit. s.v. litote als Beispiel für «euphémisme par litote»; cf. auch dt. nicht berühmt): «La négation donne à fameux une nuance défavorable» (TLF), «par euphémisme»

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Das in DAF markiert genannte fr. dispenser, mit dem jemand darum gebeten wird, etwas nicht zu sagen oder zu tun (z.B. Dispensez-moi de vos réflexions), klingt nur bedingt euphemistisch. Cf. dt. Ersparen Sie mir Ihre Überlegungen. Zu einigen «höflicheren Formulierungen» anstelle des einfachen Imperativs im Italienischen cf. Galli de’ Paratesi (1964, 144s.; 1969, 172s.) und 4.3.2.2iii. TLF (s.v. vraisemblable) meint lediglich: «Pour exprimer la difficulté à admettre pleinement qqc.». Cf. it. non esattamente, non proprio, non precisamente, piuttosto. Letzteres steht in dieser Bedeutung unmarkiert in GDLI. Zu it. non esattamente bringt Widłak in seiner Aufzählung von Litotes das Beispiel: «le condizioni mondiali non sono esattamente valutate (Il Popolo 14 VI 62)» (1970, 102); Galli de’ Paratesi führt den Ausdruck als Beispiel für mildernde Verneinung anstelle des direkten no an (1964, 146; 1969, 175). Für non precisamente zitiert Widłak mehrere Beipiele (1970, 103).

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Tabelle 4: Tabuisierung von Verhalten, Eigenschaften und Vorkommnissen in Petit Robert markiert a

nicht markiert

in Zingarelli markiert

cf. anziano, -a

personnes âgées n’être plus de la première jeunesse troisième âge quatrième âge

b

terza età ne pas être une Vénus

non essere una Venere robusto, -a

fort, forte sui generis vif, vive

c d e f

sui generis minus habens

g

nicht markiert

minus habens testa di cavolo torso di cavolo testa di rapa

bigre! urca!

h i

faute, péché, folie, erreur de jeunesse double vie

j k

sacrificare a Bacco sbaglio di gioventù doppia vita

rien à secouer infischiarsi repli

l

prier tâche, tâchez pas exactement pas vraiment pas précisément plutôt pas fameux discutable regrettable que vous savez je ne suis pas raciste, mais...

m

n o p q

(DAF).70 Solche Verwendung ist auch im Italienischen möglich, wird aber in Z (wie in GDLI) nicht eigens aufgeführt.

70

DAF nennt markiert ähnliche Litotes mit fr. brillant, -ante und fort, -e, außerdem moins que brillant ‘très médiocre’ und ne pas être mécontent, -ente de quelqu’un, de quelque chose.

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(o) Fr. discutable (auch DAF; unmarkiert in TLF, «douteux») bezeichnet aus Rücksichtnahme auf den Gesprächspartner z.B. einen Vorschlag oder einen Sachverhalt, der eigentlich ‘criticable, plutôt mauvais’ ist71 (cf. jedoch dt. diskutabel ‘erwägenswert, annehmbar’). Unter it. discutibile findet sich nur der Eintrag (est.) ‘dubbio, incerto’, und das Wort bleibt auch in GDLI unmarkiert. Ähnlich wird z.B. ein Fehler, ein Missverständnis oder ein als ärgerlich empfundenes Verhalten als fr. regrettable bezeichnet. (p) Fr. que vous savez vermeidet das Nennen einer dem Gesprächspartner bekannten Person oder Sache («p. euphém.», «pour qualifier qqn, qqc. qu’on ne veut pas nommer, de connivence avec le locuteur», TLF; cf. dt. Sie wissen schon, wen/was ich meine oder von wem/von was ich spreche). Vergleichbare Umschreibungen sind auch im Italienischen üblich, in Z aber nicht eigens aufgeführt. (q) Unter raciste findet sich in PR der euphemistisch markierte Teilsatz je ne suis pas raciste, mais… mit dem Zitat: «Je ne suis pas raciste, non, je ne le suis pas, mais, franchement – qu’est-ce qu’ils viennent foutre chez nous tous ces bougnoules? Hein?» (J. Vautrin in PR). 3.2.5 Liebes- und Sexualleben Der Bereich umfasst einerseits die Liebesbeziehung generell und speziell den Liebesakt (a–d) sowie den Liebespartner und das unehelich gezeugte Kind (e–f), ferner Homosexualität (g–h), Enthaltsamkeit und bestimmte sexuelle Praktiken, die von intimen Liebkosungen über Analverkehr bis hin zur Vergewaltigung reichen (i–l). Andererseits wird das umfangreiche Gebiet der käuflichen Dienste mit Bezeichnungen für das Gewerbe insgesamt, das Bordell, die Prostituierte und weitere Personen wie der Zuhälter und die Leiterin eines Bordells berücksichtigt (m–y). Liebesbeziehung und Liebesakt (a) Illustriert durch die bekannte Passage aus dem Cid, in der Chimène Don Rodrigue entgegnet: «Va, je ne te hais point» (Cid III, 4 – 1980, 747), wird fr. ne pas haïr (‘ne pas être indifférent à’, TLF) als euphemistisch markierte Litotes für aimer angegeben und in PR noch mit Marivaux «L’amour qu’il a pour la comtesse, qui peut-être ne le hait pas» belegt, in TLF mit Balzac «Mademoiselle Angélique Bontems a perdu sa sœur, la voilà fille unique, et nous savons qu’elle ne te hait pas». Als weitere Euphemismen für Liebesbeziehungen, die physische Kontakte implizieren, nennt Z it. affettuo-

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Ähnliche Vorbehalte werden durch das in DAF markierte fr. mesuré, -ée (z.B. un éloge mesuré) und auch fr. modéré, -ée (z.B. un programme modéré) ‘médiocre’ sowie modérément ‘peu, médiocrement’ ausgedrückt.

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sa amicizia ‘relazione amorosa’ und esperienza ‘un’intensa vita sentimentale’ (in GDLI unmarkiert ‘avventura amorosa’). (b) Ein Stelldichein kann mit it. intimo colloquio umschrieben werden,72 ein ‘desiderio sessuale’ kommt in bedeutungsverengtem it. voglia zum Ausdruck, z.B. soddisfare le proprie voglie (unmarkiert in GDLI; cf. auch dt. jemandem zu Willen sein). Den sinnlichen Stimulus bezeichnet euphemistisch it. pizzicore ‘stimolo sensuale’, was sich durch die Übertragung der allgemeinen Bedeutung ‘sensazione prodotta da ciò che è piccante, frizzante e sim.’ auf ‘desiderio o voglia improvvisa e capricciosa’ erklärt (mit der Bedeutung ‘stimolo erotico’ unmarkiert in GDLI). (c) Für die intimere Beziehung kennt das Französische einfaches fr. amour, das in amour physique sowie in (vieilli) l’acte d’amour spezifiziert wird (alle drei unmarkiert in TLF und DAF), das Italienische rapporti intimi73 (auch GDLI) und das von der Grundbedeutung der Vertrautheit ausgehende (lett.) dimestichezza bzw. seltener domestichezza ‘intimità carnale’ (auch GDLI). Daneben steht ein auf den Austausch von Zärtlichkeiten spezifiziertes fr. chose z.B. in être porté, -ée sur la chose (sexuelle) ‘aimer les plaisirs de l’amour physique’.74 Außerdem finden sich das aus ‘échange de caresses’ bedeutungsverengte câlin ‘rapports sexuels’ und die unausgesprochen den Liebesakt einschließende Umarmung, fr. étreinte,75 it. amplesso (unmarkiert in GDLI). (d) Für die entsprechende Handlung findet sich fr. amour ebenfalls in faire l’amour (it. fare l’amore ist in Z nicht markiert) und steht neben einfachem fr. aimer76 auch it. dormire insieme, andare a letto con qlcu. (beide auch in GDLI), portarsi a letto qlcu.77 und sacrificare a Venere.78 Liebespartner und die «Frucht unehelicher Liebe» (e) Der Liebespartner wird nach Aussage der Korpora unverfänglich als fr. ami, -e (unmarkiert in TLF), it. amico, -a ‘amante’ bezeichnet. Häufiger

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76 77 78

GDLI erklärt s.v. intimo: «confidenziale. – Anche: sentimentale, galante. – Con valore di eufemismo: amoroso, sessuale (intimo colloquio, relazione intima, ecc.)». Fr. (absolt) rapports und rapports sexuels sowie (specialt) relations intimes sind in PR unmarkiert. Cf. auch sp. relaciones (íntimas) gleicher Bedeutung, das Rodríguez Estrada (1990) aufführt. Auch TLF, der faire la chose ‘faire l’amour’ nennt. Fr. ça, z.B. in il ne pense qu’à ça, ist in dieser Bedeutung auch vorhanden, aber nicht markiert. TLF führt alleiniges étreinte ‘union (physique) totale’ markiert an und enthält im Beispiel étreintes conjugales. PR nennt étreinte amoureuse und führt im Beispiel alleiniges étreinte an. Z nennt wiederum amplesso und führt im Beispiel amplesso coniugale . Alle Ausdrücke erscheinen unmarkiert in TLF. Cf. auch sp. hacer el amor, das Rodríguez Estrada (1990) nennt. GDLI nennt unmarkiert portare a letto una donna ‘possederla’. It. sacrificare a Venere fehlt in GDLI s.v. Venere, doch wird darauf s.v. sacrificare verwiesen.

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steht sicherlich markiertes fr. petit ami, petite amie (ebenso wie unmarkiertes it. ragazzo, -a oder fidanzato, -a) und im Gegensatz zu petite copine ‘petite amie’ markiertes fr. petit copain.79 (f) Anstelle von unmarkiertem it. figlio naturale80 steht auch (disus.) figlio dell’amore, während fr. enfant de l’amour unmarkiertes Synonym von unmarkiertem enfant naturel ist (beide unmarkiert auch in TLF und DAF). Homosexualität (g) Auf die homosexuelle Orientierung beziehen sich fr. (vieilli) mœurs spéciales ‘homosexuelles, déviantes par rapport à la norme sociale’ (doch cf. 4.1.1i; unmarkiert in TLF) und it. omofilia (unmarkiert in GDLI), während fr. homophilie in PR fehlt (in TLF unmarkiert). (h) Für die betreffenden Personen stehen it. diverso, -a bzw. (†) deverso, -a und it. omofilo, -a markiert in Z (unmarkiert in GDLI), während fr. homophile lediglich als «équivalent mélioratif de homosexuel» und mit dem Hinweis kommentiert ist, «ne se dit pas des femmes homosexuelles» (auch in TLF unmarkiert, dort aber «(celui, celle) qui est attiré(e) par un individu du même sexe»), der sich wohl durch die Assoziation von homo mit ‘Mann’ statt mit ‘gleich’ erklären mag, wie sie teilweise auch in Italien erfolgt.81 Von der Enthaltsamkeit zu weiteren sexuellen Praktiken (i) Sexuelle Enthaltsamkeit wird mit fr. abstinent, -ente ‘continent’ und abstinence ‘continence’ (beide unmarkiert in TLF) qualifiziert; it. astinente und astinenza sind in Z unmarkiert in dieser Bedeutung verzeichnet. (j) Für sexuelle Liebkosungen stehen fr. attouchement in der Bedeutung ‘caresse sexuelle; masturbation’ (unmarkiert in TLF als attouchement illicite, déshonnête), mauvaises habitudes (markiert in TLF in der Bedeutung ‘onanisme’) und it. toccarsi ‘eccitarsi sessualmente, masturbarsi’ (unmarkiert in GDLI). (k) It. buscherare steht euphemistisch für buggerare82 ‘praticare la sodomia’ und ferner für ‘sciupare’ und ‘ingannare’ (auch GDLI in der Bedeutung ‘mandare a male, sciupare, guastare’).

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TLF nennt nur copain und petite copine unmarkiert. DAF markiert noch connaissance für maîtresse. Sp. hijo natural erscheint in Rodríguez Estrada (1990) indessen als Euphemismus. Unmarkiert ist in Z und in PR das aus dem amerikanischen Euphemismus gay entlehnte fr./it. gay, das bisweilen auch als gai französiert ist. In Z steht dabei je nach Bezugsperson der maskuline oder feminine Artikel, in PR ist nur das maskuline Genus verzeichnet. Für beide Geschlechter ist in PR wiederum fr. inverti, -e angegeben, das jedoch hier (und auch in TLF) nicht markiert ist, während z.B. sp. invertido, -a in DRAE markiert ist. It. buggerone wird meist auf bulgaro zurückgeführt; cf. z.B. Galli de’ Paratesi: «Poiché questo popolo aveva abbracciato l’eresia patarina, il loro nome, pare per l’identità della pena imposta agli eretici e ai sodomiti, passò ad indicare la pede-

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(l) Der Einsatz von Gewalt kommt in fr. violenter (unmarkiert in TLF) zum Ausdruck, einer Ableitung von violent als neu motivierter Ersatz für das direkte violer. Demgegenüber ist it. violentare unmarkiert. Daneben steht fr. abuser ‘violer’ (auch TLF), das den Vorgang ebenfalls weniger direkt ausdrückt (cf. auch dt. missbrauchen). Prostitution und Ausübung des Gewerbes (m) Das käufliche Gewerbe wird mit dem Syntagma it. la professione più antica del mondo (cf. fr. le plus vieux métier du monde, dt. das älteste Gewerbe der Welt) und unter dem Käuflichkeitsaspekt mit fr. amour tarifé (unmarkiert in TLF) umschrieben. (n) Die Ausübung des Gewerbes wird euphemistisch mit it. fare la vita83 (unmarkiert in GDLI) und it. fare il mestiere bezeichnet. Bordell (o) Für einen Ort der Prostitution nennt Z it. casa di tolleranza, casa chiusa und casa equivoca.84 Außerdem kennt das Italienische mit der (auch telephonischen) ‘Verabredung’ als Bezeichnungsmotiv casa di appuntamenti85 und casa squillo, das auf in Z unmarkiertes ragazza squillo ‘prostituta avvicinabile mediante appuntamento telefonico’ (Lehnprägung zu engl. callgirl) verweist. Ferner enthält Z noch das markierte Lehnwort it. maison, das im Französischen in ähnlicher Bedeutung vorkommt (cf. z.B. La Maison Tellier von Maupassant), in PR aber unmarkiert erscheint. Prostituierte (p) Die Prostituierte selbst wird in besonderem Maße unspezifiziert und dennoch klar verständlich als it. una di quelle bezeichnet und etwas direkter mit dem aus fr. cocotte (unmarkiert) entlehnten it. cocotte.86 (q) Des Weiteren ist it. (pop.) lucciola zu nennen, das eigentlich ‘Glühwürmchen’ bedeutet und hier wohl auf die Laternen oder Lampions anspielt, mit denen die auf der Straße arbeitenden Damen offensichtlich auf

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rastia» (1964, 110; 1969, 133) und zu von Ethnien abgeleiteten Bedeutungen auch infra (268s. n. 188). Fr. (fam. et vx) faire la vie ‘mener une vie de plaisirs’ ist hiermit nicht gleichzusetzen. GDLI nennt alle unmarkiert, ebenso casa di piacere «o semplicemente casa». Die entsprechenden französischen Ausdrücke maison de tolérance und maison close sind in PR (und auch in TLF) unmarkiert. Cf. fr. (unmarkiert) maison de rendez-vous (auch TLF) ‘qui accueille des couples de rencontre ou procure des rendez-vous’. GDLI bringt cocottesco ‘che ha l’aspetto di una prostituta’ und schreibt s.v. cocottina ‘giovane donna di scarso pudore’ zu cocotte, das als eigenes Lemma fehlt, «termine assai diffuso nell’italiano comune».

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ihren Standort hinzuweisen pflegen.87 Speziell auf die Straße verweisen it. donna di strada (unmarkiert in GDLI), dem unmarkiertes fr. fille des rues entspricht, und it. (disus.) donna da trivio.88 Mit der Straße in Verbindung steht auch die Spaziergängerin besonderer Art, it. passeggiatrice (auch GDLI), und das mit unmarkiertem fr. fille publique vergleichbare it. (disus.) donna pubblica (cf. auch sp. mujer pública).89 (r) Ferner sind it. (disus.) donna galante90 und das die Spezialisierung auf «ambienti socialmente alquanto elevati» ausdrückende (disus.) mondana zu nennen (unmarkiert in GDLI).91 (s) Als angeblich fröhlich wird die Prostituierte in it. donnina allegra, ragazza allegra und donna allegra perspektiviert (alle drei unmarkiert in GDLI). Ferner sind it. donna di vita (cf. auch dt. Lebedame, sp. mujer de la vida) und ragazza di vita92 sowie (lett.) etera (unmarkiert in GDLI) zu nen-

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Radtke (1980, 241) gibt unter den Insektennamen keine nähere Erklärung und begrenzt das Wort auf die südliche Lombardei, während in Z keine geographische Markierung angegeben wird. In GDLI steht s.v. trivio unmarkiert «da, di trivio […]: dedito alla più bassa forma di prostituzione». It. donna pubblica ist in GDLI ebenso unmarkiert wie das supra, sub (o) nicht erscheinende it. casa pubblica, dessen französische Entsprechung fr. maison publique auch in TLF unmarkiert steht. Die unter (q) bis (u) aufgeführten Bezeichnungen mit donna sind in GDLI – wenn vorhanden – unmarkiert, der mit der Bedeutung ‘prostituta’ s.v. donna it. donna da prezzo, donna di malaffare, donna di strada, donna di partito, donna di mondo, donna perduta, donna pubblica, donna galante nennt. Markiert ist in GDLI antiphrastisches buona donna, das in Z wiederum unmarkiert ist; cf. auch sp. dama de buena voluntad (Gfrorer 1975, 96). It. donna galante steht unmarkiert in GDLI. Im Französischen kann hier bestenfalls auf markiertes galanterie ‘activité des femmes galantes; amours vénales’ (DAF) verwiesen werden. Das Adjektiv galant, -ante ist trotz entsprechender Verwendungen nicht markiert. Cf. auch sp. (mujer) galante ‘persona de pocos escrúpulos sexuales, libertina en este campo’ (Rodríguez Estrada 1990, s.v.). Cf. auch sp. mujer mundana (unmarkiert in DRAE). Zur Motivation von mondana cf. schon im Galateo (XXII – 1993, 53): «[…] e più dicevole è a donna […] nominare le meretrici femmine di mondo» (in völlig anderer Bedeutung stehen fr. mondaine und femme du monde). Auch das von Baumgart (1960, LXV) erwähnte, aber unabhängig von it. cortegiano zu sehende cortegiana ‘Dirne’ kann hierher gestellt werden (cf. auch unmarkiert in GDLI ‘mondana, prostituta’ – zudem dort aber auch: «Nelle società del Cinquecento: donna di raffinata educazione e di qualità intellettuali, che concede i propri favori in un rapporto di reciproco rispetto e stima»). Cf. auch sp. cortesana ‘manceba, ramera, prostituta’ (Rodríguez Estrada 1990, s.v.). It. ragazza di vita steht unmarkiert in GDLI, der s.v. ragazza neben ragazza di vita noch ragazza di marciapiede und absolut gebrauchtes ragazza angibt. PR verzeichnet unmarkiert fille de vie, aber femme nur mit dem Attribut mauvaise zu vie: femme de mauvaise vie, während in DAF auch dame erscheint, und zwar markiert als dame de petite vertu ‘prostituée’, ebenso demoiselle de petite vertu ‘une fille galante’.

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nen, dem formal unmarkiertes fr. hétaïre (auch in TLF) entspricht, das eine ‘prostituée d’un rang social élevé’ bezeichnet. (t) Das Bezeichnungsmotiv der Käuflichkeit liegt it. (disus.) donna da prezzo (unmarkiert in GDLI), (scherz.) professionista del sesso (als einfaches professionista unmarkiert in GDLI) und venditrice d’amore ,93 wobei Letzteres auf die unmarkierten Ausdrücke fr. marchande d’amour, marchande de plaisir (cf. auch unmarkiert it. donna di piacere) verweisen lässt. (u) Als eher depreziativ erscheinen in Z markiert it. donna di malaffare und (disus.) donna perduta,94 dem teilweise das in PR unmarkierte fr. (vieilli) fille perdue entspricht. (v) Außer in den unmarkierten Bezeichnungen der Prostituierten als it. venere da marciapiede, venere vagante, venere pandemia erscheint die Venus95 auch in markiertem sacerdotessa di Venere (auch GDLI, der ebenso markiertes sacerdotessa d’amore nennt). Das entsprechende fr. prêtresse de Vénus ist in PR unmarkiert (TLF). Weitere Personen des Milieus (w) Der Zuhälter bezeichnet sich positiv als fr. (fam.) protecteur (auch TLF) bzw. it. protettore (unmarkiert in GDLI). (x) Für die ‘tenutaria di una casa di tolleranza’ steht euphemistisch das wohl anspruchsvoller klingende fr. maîtresse, obwohl das Wort im Französischen diese Bedeutung nicht hat. (y) Während it. donnina allegra und ragazza di vita unter (s) als Euphemismen für die Prostituierte eingeordnet wurden, steht einfaches donnina für eine «donna molto disponibile a relazioni amorose» und wird ragazzo di vita (unmarkiert in GDLI) als ‘adolescente già sulla strada del vizio et della corruzione’ definiert.96

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Erstaunlich ist, dass der gelehrte Ausdruck it. (lett.) meretrice, der sich als Euphemismus anbieten würde, unmarkiert bleibt. Er erscheint auch im Galateo (XXII – 1993, 53) als Normalwort. Cf. auch it. peripatetica, fr. péripatécienne. It. donna di malaffare und donna perduta sind in GDLI unmarkiert, der ebenso die Varianten femmina/ragazza di nome perduto sowie einfaches perduta nennt. Cf. auch in DRAE unmarkiertes sp. mujer perdida. Cf. auch unmarkiertes einfaches it. Venere «Per antifrasi: prostituta» (in GDLI; gleichfalls unmarkiert fr. Vénus ‘prostituée’, TLF), ebenso donna da marciapiede, ragazza da marciapiede. Französische Ausdrücke mit vergleichbaren Bildern sind in PR unmarkiert (z.B. das aus dem Griechischen entlehnte péripatéticienne – auch it. peripatetica, «calco sul fr. péripatéticienne» – und battre le trottoir ‘se prostituer’) oder gar nicht aufgeführt (wie z.B. die in Radtke 1980, 206 verzeichneten baladeuse, batteuse). GDLI erklärt: «L’espressione deriva dal titolo del romanzo di P. P. Pasolini, pubblicato nel 1955» (s.v. ragazzo). In verschiedenen Berichten über einen in Anführungszeichen gesetzten «omo-cidio», einem Mord an einem älteren Mann mit homosexuellen Neigungen, erscheint für die beiden Täter, Strichjungen, neben

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Tabelle 5: Liebes- und Sexualleben in Petit Robert markiert a

nicht markiert

nicht markiert

ne pas haïr affettuosa amicizia esperienza intimo colloquio voglia pizzicore

b c

in Zingarelli markiert

amour amour physique acte d’amour cf. rapports, rapports sexuels, relations intimes

rapporti intimi

dimestichezza

d

chose câlin étreinte faire l’amour

amplesso fare l’amore con qlcu.

aimer cf. coucher avec qn dormire insieme andare a letto con qlcu. portarsi a letto qlcu. sacrificare a Venere e

f

g

ami, -e petit ami, petite amie petit copain cf. enfant de l’amour

figlio dell’amore

mœurs spéciales

h i

amico, -a

homophile abstinent, -ente abstinence

omofilia omofilo, -a diverso, -a astinente astinenza

prostituti und in einfachen Anführungszeichen gesetzten puttani als dominierender Ausdruck ragazzi di vita (cf. La Repubblica, 18. April 2006, I und V).

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in Petit Robert markiert j

nicht markiert

in Zingarelli markiert

nicht markiert

attouchement mauvaises habitudes toccarsi buscherare

k l

violenter abuser

m

violentare abusare plus vieux métier du monde

professione più antica del mondo

amour tarifé

n

fare la vita fare il mestiere maison de tolérance maison close

o

maison de rendezvous maison p cocotte

q

cf. fille des rues cf. fille publique

r s

cf. fille de vie fille de vie t

cf. marchande d’amour

u

cf. fille perdue prêtresse de Vénus

v w x y

protecteur

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casa di tolleranza casa chiusa casa equivoca casa di appuntamenti casa squillo maison una di quelle cocotte lucciola donna di strada donna da trivio passeggiatrice donna pubblica donna galante mondana donnina allegra ragazza allegra donna allegra donna di vita ragazza di vita etera donna da prezzo professionista del sesso venditrice d’amore donna di malaffare donna perduta sacerdotessa di Venere protettore maîtresse donnina ragazzo di vita

3.2.6 Körperteile Eng mit dem Schamgefühl verbunden sind auch diejenigen Körperteile, die in der Öffentlichkeit bedeckt gehalten werden, d.h. die Sexualorgane (a–n) und das Gesäß (o–s). Hinzu kommen als Gegenstände euphemistischer Umschreibung die Körperbehaarung bei Frauen (t) und die Kehle (u). Intimbereich generell (a) Sowohl bei Männern als auch bei Frauen werden onomasiologisch wenig präzisierte Umschreibungen intimer Körperteile verwendet: fr. bas-ventre (auch TLF), it. basso ventre bzw. bassoventre (unmarkiert in GDLI; cf. ähnlich auch dt. Unterleib) und parti basse,97 fr. (rare) entrecuisse.98 (b) Für die männlichen Sexualorgane findet sich im italienischen Korpus attributi ‘gli organi sessuali maschili, spec. intesi come simbolo di grinta, di decisione’, während fr. attributs in PR unmarkiert und in Bezug auf beide Geschlechter (z.B. atttributs féminins, attributs masculins) verzeichnet ist. Skrotum (c) Für die Hoden erscheint anstelle von (volg.) coglioni das markierte (pop.; in Z 1996 noch «volg.») cordoni (auch GDLI, dort ist cordone aber als ‘membro virile’ definiert), das auch übertragen im Kontext (fig.) rompere i cordoni a qlcu. ‘importunarlo, infastidirlo’ verwendet wird (unmarkiert in GDLI). (d) In semantischer Anlehnung an ‘contenitore’ gehört hierher zudem it. tasche in (fam.) rompitasche ‘chi dà noia, fastidio’ bzw. (fam.) rompere le tasche a qlcu. ‘seccare, infastidire’99 und (pop.) scatole ‘testicoli’ (auch in GDLI, dort aber als ‘organo genitale femminile’ definiert), das auch in den Komposita (colloq.) rompiscatole und (fam.) giramento di scatole ‘irritazione, noia, seccatura’ sowie in Verbindungen wie (pop.) rompere, far girare le scatole a qlcu. ‘infastidirlo, seccarlo’, levarsi, togliersi dalle scatole ‘andarsene, lasciare in pace’; averne piene le scatole ‘non poterne più di qlco. o di qlcu.’ erscheint (unmarkiert in GDLI). (e) Vom Bild des Behältnisses her anzuschließen ist mit dem des Korbes regionales tosk. corbello ‘testicolo’, das jedoch anders als scatola und tas-

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It. parti basse in Z s.v. parte mit der Bedeutung ‘il sedere e gli organi sessuali’ angegeben und steht unmarkiert in GDLI, der ebenso unmarkiert noch parti disoneste, genitali, pudibonde, utili, vergognose, di sotto, nascoste sowie auch einfaches parti anführt und nur paesi bassi markiert. Fr. entrecuisse steht unmarkiert in TLF; DAF nennt noch markiert intime ‘qui a rapport aux organes génitaux’: parties intimes (unmarkiert auch in TLF), toilette intime. S.v. rompere ist (fam.) rompere le tasche ‘seccare, infastidire’ markiert; während es s.v. tasca nur als «volg.» angegeben ist, doch wird tasca ‘testicolo’ s.v. rompitasche als semantischer Ausgangspunkt für den Euphemismus bestätigt.

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ca gleichzeitig als Deformation unter Beibehaltung des Anlauts zu verstehen ist und z.B. in dem Ausruf der Verwunderung und Überraschung (tosc. disus.) corbelli! oder in (fig.) rompere i corbelli a qlcu. ‘infastidirlo, annoiarlo’ erscheint. Aus der euphemistischen Funktion von corbello ist zudem (pop.) scorbellato, -a ‘che non ha riguardo o pazienza per nessuno, intrattabile; bizzarro, estroso’ abgeleitet (jeweils unmarkiert in GDLI). (f) Durch Pronominalisierung wird die direkte Bezeichnung bei fr. (fam.) les casser (z.B. tu nous les casses, auch TLF) vermieden, das sich ebenso wie fr. (fam.) se les geler ‘avoir très froid’100 markiert s.v. le, la, les findet, wo es mit der in Bezug auf Frau oder Mann unspezifizierten Angabe «désignant les parties sexuelles» versehen ist, doch zielen die dahinterstehenden Redensarten wie z.B. (vulg.) casser les couilles, les burettes, (fam.) les bonbons à qqn klar auf die männlichen Sexualorgane ab. Im Italienischen beinhaltet cosiddetti eine ähnlich unausgesprochene Andeutung, erscheint aufgrund des anlautenden co- aber gleichzeitig euphemistisch umgestaltet aus coglioni. (g) Eine weitere Bezeichnung ist das auf die (in Mt 20, 20–28 und Mk 10, 35–45 als «Söhne des Zebedäus» erwähnten) Apostel Jakobus und Johannes verweisende (pop.) zebedei ‘testicoli’, das speziell in rompere gli zebedei ‘seccare, annoiare’ verwendet wird (auch GDLI). Die Erklärung in den meisten Nachschlagewerken lässt die Frage des Motivs offen,101 erst diejenige als «interpretazione scherzosa» in Duro und GDLI führt weiter102 und findet ihre genauere Erläuterung in La Stella: «[…] spesso, la desinenza in -eo suona ridicola e determina un peggioramento semantico del vocabolo nell’uso popolare […] l’innocente frase del Vangelo di Matteo ‹…duobus filiis Zebedei…› ha probabilmente costituito il cavallo di Troia che ha portato Zebedeo nel lessico» (1995, s.v. maccabeo). Glied (h) Anstelle von (volg.) cazzo! wird (lett., volg.) cazzica! («con occultamento eufem.») verwendet (unmarkiert in GDLI) und für die verschiedenen Verwendungsweisen von cazzo euphemistisch cacchio (auch GDLI). Zudem

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S.v. geler ist on se les gèle auf les fesses bezogen und nicht markiert. Cf. «deviazione espressiva del n. biblico (dei due figli) di Zebedeo» (Dardano 1989) oder «voce di natura espressiva, da Zebedeo, nome del padre degli apostoli Giacomo e Giovanni, più volte nominati nei Vangeli come filii Zebedaei ‘figli di Zebedeo’» (GDLI – identisch in GRADIT, bis auf hier: «voce di orig. espressiva» statt «deviazione espressiva»). Cf. «interpretazione pop. scherz. del nome di Zebedeo, padre degli apostoli Giacomo e Giovanni, che sono più volte nominati nei Vangeli come filii Zebedaei» (VOLIT) und «interpretazione scherz. del nome di Zebedeo, padre degli apostoli Giacomo e Giovanni, più volte nominati dai Vangeli come filli Zebedaei ‘figli di Zebedeo’» (GDLIM).

70

wird ca(zzo) paraphonisch in (pop.) cavolo ,103 das eine Interjektion darstellen kann, aber auch für Wert- oder Bedeutungsloses steht (z.B. un film del cavolo oder Ma che cavolo fai? etc.), als Negationspartikel verwendet wird (z.B. non importare, sapere, sentire, valere un cavolo etc.) oder in (volg.) cavoli amari, acidi ‘pasticci, guai’ sowie in (volg.) fare, farsi i cavoli propri ‘affari, fatti’ auftritt (alle Ausdrücke unmarkiert in GDLI). Des Weiteren sind hier cappero als Negationspartikel (in non valere un cappero) sowie die Interjektionen (fam.) capperi! (auch GDLI, «alterazione eufemistica di una voce oscena») und caspita! (auch GDLI) anzuschließen. Abgesehen von der bei cappero theoretisch möglichen Interpretation als Metapher handelt es sich wie bei cacchio oder cavolo primär um Deformationen auf der Basis des tabuisierten cazzo, was als Konvergenzerscheinung ebenfalls bei dem aus fr. casserole entlehnten (volg.) cazzarola! (unmarkiert in GDLI) eine Rolle spielt, das auch in der weniger deutlich ans Französische angelehnten Variante cazzeruola! erscheint. Die Entlehnung der Interjektion caramba! aus dem Spanischen wird als «deviazione eufem. di cara(jo) ‘membro virile’» angegeben; doch erfolgte dieser Vorgang bereits im Spanischen,104 während für die Markierungsangabe im Italienischen wiederum primär auf die phonetische Anlehnung an cazzo zu verweisen und eventuell an (wenn auch später belegtes) it. (sett., gerg.) caramba (mit der Variante carabba) als expressive Deformation von carab(iniere) zu erinnern ist. Ebenso ist auch bei dem aus dem Deutschen entlehnten it. (pop.) kaiser, das für ‘niente, nulla’, ‘di nessuna importanza’ steht, z.B. in non capisci un kaiser, sono argomenti del kaiser der Anlaut ausschlaggebend für die Entstehung (auch GDLI, der für die Bedeutung ‘coglioni’ die historische Erklärung «nel gergo militare della prima guerra mondiale» gibt). (i) Der Ersatz von cazzo durch cacchio bzw. cavolo erfolgt auch in den Ableitungen it. incacchiarsi und incavolarsi (incavolare auch GDLI) anstelle von (volg.) incazzarsi ‘adirarsi, arrabiarsi’ sowie in den Substantivierungen incavolatura (auch GDLI) anstelle von (volg.) incazzatura ‘arrabbiatura’ und in (colloq.) cavolata (Zing 1996: pop.), cacchiata anstelle von (volg.) cazzata ‘balordaggine, sciocchezza’, so z.B. in fare, dire una cavolata (auch GDLI). (j) Auch bei der regionalen markierten Interjektion it. (merid.) cocuzze! bzw. cucuzze! ist wieder an einen rein aufgrund des anlautenden c- bzw. co- erfolgten Ersatz für cazzo bzw. coglioni zu denken, ferner mag auch semantisch mit cocuzza ein metaphorischer Bezugspunkt vorliegen. Eine ähnliche Interpretation ist bei der Negationspartikel (pop.) corno ‘niente, nulla’ (unmarkiert in GDLI) nicht auszuschließen, die auch in der Interjektion Un corno! ‘assolutamente no’ steht. 103

104

Nach Lanza wird «cavolo ‘Kohl’ als Ersatz für das Wort cazzo im Sinne von ‘Penis’ verwendet» (2005, 18; cf. auch Galli de’ Paratesi 1964, 92; 1969, 112); die genannte Verwendung als ‘pene’ fehlt jedoch in Z und auch in GDLI. Cf. z.B. s.v. caramba in DRAE «eufem. por carajo», id. u.a. auch unter caray.

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(k) Eine Umbildung von it. (merid., volg.) minchia ‘pene’ ist die Interjektion (merid.) mizzica! zum Ausdruck von ‘stupore, sorpresa, ammirazione’. (l) Als Metaphern treten ferner it. (lett.) manico auf, das ebenso wie unmarkiertes fr. manche vom Bild des (Geräte)stiels geprägt ist, und it. (fam.) tubo (nur als «scherz. membro virile» in GDLI). Weibliche Körperteile (m) In Bezug auf die entsprechenden weiblichen Sexualorgane findet sich lediglich im italienischen Korpus (raro) fessura (unmarkiert in GDLI) als allgemeiner Ausdruck für ‘Spalt, Furche, Rinne’ in spezifizierter Bedeutung. Ferner ist it. (pop., centr.) frescaccia nennen, eine euphemistische Deformation von (volg., centr.) fregnaccia (auch GDLI), das mit der Bedeutung ‘stupidaggine, sciocchezza’ angegeben ist und aufgrund von (volg., centr.) fregna ‘vulva’ tabuisiert ist; außerdem it. (pop., centr.) frescone ‘sciocco, stupido’ anstelle von (volg., centr.) fregnone (auch GDLI), das in Z ebenfalls auf fregna zurückgeführt wird, in GDLI hingegen auf das als Bezeichnung für das männliche Sexualorgan angegebene fregno, das in Z nur als (pop., centr.) ‘persona o cosa di poca importanza o dall’aspetto inconsueto e strano’ definiert ist. (n) Für den Mutterleib steht euphemistisch die Bezeichnung des Busens it. seno in der Bedeutung ‘utero, ventre materno’ (auch GDLI), so z.B. in Wendungen wie frutto del suo seno, portare un figlio in seno (cf. 3.2.7c), während das entsprechende fr. sein in dieser Bedeutung nicht (mehr) als euphemistisch, sondern lediglich als «vieilli ou littér.» (so auch in TLF) markiert ist. Gesäß (o) Als allgemeinere Bezeichnung wird fr. quelque part z.B. im monosemisierenden Kontext (fam.) un coup de pied quelque part ‘un coup de pied au derrière’ für das Gesäß verwendet,105 für das auch où je pense steht (auch TLF, z.B. il lui a flanqué un coup de pied où je pense). (p) Etwas konkreter im Bild sind it. (anche scherz.) fondoschiena (auch GDLI, «uso eufem. o scherz.») und posteriore, während fr. (fam.) postérieur in PR (wie in TLF) unmarkiert ist.106 (q) Weniger direkt ist die Bezeichnung it. messere (†) ‘deretano’ (auch GDLI), das ursprünglich aus prov. mes(s)er ‘mio signore’ entlehnt ist und in Italien neben dem Ehrentitel auch scherzhaft für ‘signore’ verwendet wird (cf. auch dt. Allerwertester als ursprüngliche Anredeform). (r) Allgemein und unverfänglich ist fr. os anstelle von cul in (vulg.) l’avoir dans l’os ‘ne pas obtenir ce qu’on voulait; être possédé, refait’ (unmarkiert 105

106

Obwohl es keine direkte Entsprechung darstellt, lässt sich hier auf das nur in GDLI in den Bedeutungen ‘deretano; apparato sessuale’ angeführte quel posto hinweisen, das Z jedoch nur als ‘gabinetto’ nennt (cf. 3.2.8a). DAF nennt markiert noch coccys ‘les fesses, le derrière’ und le bas du dos.

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Tabelle 6: Körperteile in Petit Robert a

markiert bas-ventre

nicht markiert

in Zingarelli markiert bassoventre parti basse

nicht markiert

entrecuisse b

attributi

c

cordoni rompere i cordoni a qlcu. tasche rompitasche rompere le tasche a qlcu. scatole rompiscatole giramento di scatole rompere, far girare le scatole a qlcu.; levarsi, togliersi dalle scatole; averne piene le scatole corbelli! rompere i corbelli a qlcu. scorbellato, -a

d

e

f g h

i

j k l m

les casser se les geler cosiddetti zebedei cazzica! cacchio(!) cavolo(!) cappero, capperi! caspita! cazzarola! caramba! kaiser incacchiarsi incavolarsi incavolatura cavolata cacchiata cocuzze! corno mizzica! manico tubo fessura frescaccia frescone

73

in Petit Robert markiert n o

in Zingarelli

nicht markiert sein

markiert seno

postérieur

fondoschiena posteriore messere

nicht markiert

quelque part où je pense

q r s

l’avoir dans l’os vaffa!

t u

poils superflus amuse-bouche enguirlander

in TLF), auch wenn für (vulg.) l’avoir dans le cul (cf. it. prenderlo in culo, nelculo) die damit nicht ganz identische Bedeutung ‘être trompé, attrapé’ angegeben ist. (s) Als Abkürzung der Interjektion it. (volg.) vaffanculo! ist vaffa! (auch GDLI) zu sehen, in der die Bezeichnung des tabuisierten Körperteils vollständig ausgespart ist. Sonstiges (t) Als fr. poils superflus wird elegant die Achsel-, Bein- oder Gesichtsbehaarung von Frauen umschrieben. (u) Für das als «fam.» markierte fr. gueule wird in amuse-gueule «au restaurant» euphemistisch amuse-bouche verwendet und so das negativ konnotierte fr. gueule vermieden.107 Für heftiges Tadeln steht fr. (fam.) enguirlander anstelle von (fam.) engueuler, wobei der Anlaut des zu ersetzenden Wortes zweifellos bewirkt hat, dass als Ergebnis die übertragene Bedeutung von enguirlander in ihr semantisches Gegenteil verkehrt wurde (TLF: «par antiphrase, fam. faire des reproches (à quelqu’un)»; DAF: «par antiphrase»). 3.2.7 Weiblicher Lebenszyklus Von den verschiedenen Stadien oder Vorgängen spezifisch weiblicher Biologie sind in den Korpora terminologisch die Jungfräulichkeit (a), die Menstruation (b), die Schwangerschaft (c) und die Menopause (d) erfasst.

107

Doch cf. auch die Unterscheidung, die z.B. Bocuse trifft, wenn er in seinen Menus beide Termini benutzt und dabei zwischen den im Stehen beim Aperitif servierten amuse-gueules und den substanzielleren, bereits sitzend eingenommenen amusebouches unterscheidet.

74

(a) Mit fr. intacte (auch TLF) wird eine Frau aus traditioneller männlicher Sicht als ‘vierge’ qualifiziert.108 (b) Fr. indisposée (auch TLF, DAF) bzw. indisposition ‘période des règles’ (auch DAF)109 ist die Spezifizierung einer allgemeinen Bezeichnung für Unpässlichkeiten jedweder Art auf die Menstruation,110 die auch allgemeiner gehaltenen it. giorni critici111 oder (fam.) cose112 umschrieben wird. (c) Eine schwangere Frau ist aus mancherlei Perspektive in einer fr. (vieilli) position intéressante (auch TLF, DAF).113 Im Italienischen findet sich in dieser Bedeutung eher stato statt posizione: essere in stato interessante ‘essere incinta’.114 Auf das kommende Ereignis verweisen anstelle des schon lange direkten it. incinta,115 das ähnlich wie das ebenso direkte fr. enceinte in der jüngeren Generation kaum mehr tabuisiert ist, it. (colloq.) essere in attesa, essere in dolce attesa ‘aspettare un bambino’, was als ‘Erwartung’ auch zu dem unmarkierten, aber expliziten fr. attendre un enfant passt.116 Markiert ist in Z ebenfalls it. portare un figlio in seno (auch in GDLI: portare in seno 108 109

110

111

112

113

114 115

116

Z nennt nur die unmarkierten Ausdrucksweisen (est.) verginità, innocenza intatta. Das Substantiv ist im Gegensatz zu indisposée in TLF unmarkiert. It. indisposizione ist nur in der allgemeinen Bedeutung in Z verzeichnet, was der allgemeinen Darstellungsweise der italienischen Lexikographie entspricht, die it. indisposizione nur generell und nicht auf die Frau spezifiziert darstellt; cf. «disturbo passeggero e non grave» (DLI, s.v.), «malattia lieve, malessere passeggero, infermità non grave; malore, disturbo» (GDLIM, s.v.), «lieve malessere, infermità non grave» (GRADIT, s.v.). Cf. auch sp. indispuesta, indisposición und dt. indisponiert. Fr. règles und it. regole selbst sind unmarkiert (cf. auch dt. Regel und sp. regla, in dem z.B. Rodríguez Estrada wiederum einen Euphemismus sieht; 1990, s.v.). DAF führt markiert elle a eu ses affaires ‘ses règles’ an. GDLI enthält diese Bedeutung nicht, führt s.v. critico aber «età critica: la pubertà, la menopausa, il climaterio» an. Fr. jours critiques ist ohne Bedeutungsangabe in PR verzeichnet, wohl aber nur allgemein zu verstehen, da es vor jours heureux in der Aufzählung der Verwendungsbeispiele von jour steht. TLF kennt jedoch auch die obige engere Bedeutung aus den älteren Akademie-Wörterbüchern, während es im heutigen Sprachgebrauch häufig gerade für die Tage möglicher Empfängnis Verwendung findet (cf. auch dt. seine Tage haben vs. kritische Tage). Galli de’ Paratesi spricht von le sue cose «dove pare che l’aggettivo sue abbia una funzione attenuativa» (1964, 82; 1969, 99). Verwendung findet auch fr. choses, das in dieser Einzelbedeutung in PR aber nicht verzeichnet ist. S.v. position ist être dans une position intéressante mit den Markierungsangaben «vx, plaisant ou région. [Belgique]» versehen; s.v. intéressant wird die Wendung nur mit der Angabe «vieilli» ohne nähere Ausführung unter der Bedeutung ‘qui touche moralement, qui est digne d’intérêt, de considération’ angeführt; in DAF erscheint être dans un état intéressant unmarkiert. Unmarkiert in GDLI. In Z 1996 ist der Ausdruck nur als «fam.» markiert. Cf. auch sp. estado interesante (Rodríguez Estrada 1990, s.v.). It. incinta, fr. enceinte, die ja auf das Partizip Perfekt von lat. incingere, incincta, zurückgehen, sind diachron betrachtet ebenfalls Euphemismen, aber als solche heute nicht mehr vital. Cf. auch fr. (Belgien, Schweiz) attendre (de la) famille (PR, s.v. famille; Bal et alii 1994, s.v. famille), fr. (Quebec) être en (voie de) famille ‘être enceinte, attendre un

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‘essere incinta’; zu seno cf. oben 3.2.6n), während die entsprechende Verwendung von sein in PR als «vieilli et littér.» markiert ist (fr. porter un enfant dans son sein ist in TLF verzeichnet; PR nennt nur porter un enfant). (d) Die Zeit der Menopause wird im Französischen umschrieben mit fr. âge critique und fr. retour d’âge (doch cf. 4.1.1ii zur Markierungsfrage). Tabelle 7: Weiblicher Lebenszyklus in Petit Robert markiert a b

nicht markiert

in Zingarelli markiert

nicht markiert

intacte indisposée indisposition giorni critici cose

c

position intéressante stato interessante essere in attesa essere in dolce attesa cf. porter un enfant portare un figlio in seno

d

âge critique retour d’âge

3.2.8 Toilettengang und Toilette Der Toilettengang und der Ort selbst (a, b), das Bedürfnis und die dort zu verrichtenden Tätigkeiten (c, d), die Fäkalien (e, f) und Verdauungsphänomene (g) gehören zweifellos zur Intimsphäre des Menschen. Nach Möglichkeit wird es daher vermieden, Entsprechendes überhaupt anzusprechen. Wenn aber doch bestimmte Details angesprochen werden (müssen), wählt der kultivierte Sprecher umschreibende Ausdrucksweisen, wie es bei Tisch z.B. das den konkreten Vorgang unspezifiziert lassende it. devo andare in bagno sein kann oder das einen anderen Zweck vorgebende it. vado a lavarmi le mani, wenn nicht wie z.B. durch it. se volete scusarmi die Aufmerksamkeit ganz vom Ziel des Aufbruchs wegverlagert wird. Gang zur Toilette und Ort (a) Fr. (fam.) quelque part (auch TLF), (fam.) petit coin (auch TLF, DAF), (fam.) petit endroit (auch TLF, DAF; cf. auch dt. Örtchen) sind gängige Umschreibungen für die unmarkierten konkreteren Bezeichnungen wie (vieilli) cabinet d’aisance, de toilette bzw. elliptisch (cour.) cabinets (unmarkiert auch

enfant’ (Meney 1999, s.v. famille) oder auch dt. ein Kind erwarten, guter Hoffnung sein.

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in TLF) in aller quelque part, aller au petit coin, aller au petit endroit. Ähnlich allgemein gehalten sind it. quel posto (auch GDLI, cf. auch supra p. 72 n. 105) und quel certo posto; z.B. in devo andare in quel posto; dov’è quel posto? It. (andare al) gabinetto (aus gabinetto di decenza) ist in Z 1996 noch markiert, jedoch nicht mehr in Z 2006 (auch nicht in GDLI), der aber noch das Diminutivum stanzino ‘gabinetto’ (unmarkiert in GDLI) und als verhüllende Ortsangabe, da heute wohl doch unabhängig von der Realität, giardino (†) ‘latrina’ in andare al giardino (auch GDLI) markiert. Bei it. toilette ‘stanza munita di servizi igienici’ ist keine Markierung angegeben, während fr. toilettes ‘lieux d’aisances’ (auch TLF) vermutlich aufgrund der vergleichsweise geläufigeren Verwendungsweisen von singularisch gebrauchtem toilette als euphemistisch markiert ist. Ferner steht fr. lavabos in aller aux lavabos (unmarkiert in TLF), da Toiletten (etwa im Gegensatz zu fr. latrines, fosse) normalerweise auch mit einem Waschbecken117 ausgestattet sind. Situationsspezifisch wird der vorsorgliche Toilettengang mit dem Ausdruck fr. (fam.) prendre ses précautions (‘aller aux toilettes en prévision de situations qui ne le permettront pas’; auch TLF) bezeichnet. Auf die lateinische Schülerbitte um Erlaubnis, austreten zu dürfen (licet…?), geht it. (disus.) licet ‘gabinetto, latrina’ (unmarkiert in GDLI) zurück. (b) Zu erwähnen bleibt noch it. necessario in der Bedeutung (†) ‘ritirata’, das in GDLI als ‘latrina, cesso’ unmarkiert ist. In Z bezeichnet es zudem mit ‘vaso da notte’ das entsprechende nächtliche Utensil (cf. aber 4.1.1ii). Bedürfnis und Vorgang (c) Das Bedürfnis selbst wird mit it. (spec. al pl.) bisogno ‘necessità corporale’ benannt (unmarkiert in GDLI), während fr. besoin in dieser Bedeutung unmarkiert ist (cf. 4.1.1i). Mit dem Attribut ‘dringend’ steht ‘Bedürfnis’ jedoch in beiden Sprachen markiert: fr. (fam.) besoin pressant (s.v. pressant) und entsprechend it. bisogno urgente. Vor allem in pluralischer Verwendung findet sich ‘Bedürfnis’ in markiertem it. le necessità118 und unmarkiertem fr. (vx) nécessités, aber auch singularisch in it. necessità impellente ‘bisogno fisi-

117

118

It. lavabo ist als gelehrte Entlehnung aus dem sakralen Bereich ins Italienische gelangt und in profaner Verwendung in Z 2006 nur als lavandino bzw. lavamano elegante angegeben; die Bedeutung ‘stanza per lavarsi’ fehlt hier, war aber in Z 1996 noch unmarkiert aufgeführt, während sp. lavabo ‘retrete dotado de instalaciones para orinar y evacuar el vientre’ auch in DRAE und DUE markiert ist. Die Bedeutungsangabe ‘la defecazione o la minzione’ kann nur extensional verstanden werden, denn die Verwendungsbeispiele sind eindeutig als ‘Bedürfnis’ bzw. ‘Bedürfnisse’ festgelegt: le necessità naturali, corporali; ho una necessità urgente. Es steht unmarkiert in GDLI, der s.v. naturale noch nennt: «Necessità, opportunità, servizio naturale: necessità fisiologica di liberare l’organismo dalle sostanze non assimilate; evacuazione. – In partic. defecazione. – Anche: la sostanza da eliminare».

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ologico’. Des Weiteren ist it. comodità (†) ‘bisogno corporale’119 zu nennen, das sich aufgrund der allgemeineren Bedeutung, ‘ciò che procura benessere, agio e sim.’, semantisch letztlich als Beitrag zum Wohlbefinden erklärt. Außerdem kennt das Italienische noch servizio ‘bisogno corporale’ (auch GDLI, ‘defecazione’) als eine Angelegenheit, die von der Ausgangsbedeutung her (‘faccenda, affare’) zu erledigen ist: vai a fare quel servizio. (d) Auch der Vorgang selbst wird umschrieben, so mit fr. faire ses besoins (s.v. faire; auch TLF, neben satisfaire à un besoin naturel, satisfaire un besoin) und entsprechend it. fare i propri bisogni oder auch elliptisch mit einfachem fr. faire (un enfant qui fait au lit, dans sa culotte; un vieillard qui fait sous lui ‘incontinent’; cf. auch dt. ins Bett, in die Hose machen) und ebenso s’oublier ‘faire ses besoins là où il ne le faut pas’ (auch TLF). Z nennt in Bezug auf das Gegessene noch andare di corpo ‘defecare’,120 was auch antonymisch zu unmarkiertem mettere in corpo ‘mangiare’ zu sehen ist. Eine ähnliche absolute Ausdrucksweise liegt bei se retenir ‘différer de satisfaire ses besoins naturels’ (auch TLF) vor: Retiens-toi, on va arriver! Für den speziellen Vorgang des Wasserlassens ist fr. éliminer zu nennen, was wohl auch das erhoffte Loswerden z.B. von Toxikalien impliziert, sowie it. (fam.) spandere,121 das sich semantisch durch ‘versare, spargere’ erklärt. Skatologie (e) Bei den Bezeichnungen für Fäkalien wird zur Vermeidung von zu konkretem fr. (fam.) crotte das Syntagma ce que je pense (auch TLF) herangezogen, das in logischer Verbindung mit der bereits genannten, vergleichbaren Verwendung von où je pense für ‘Hinterteil’ steht (cf. 3.2.6o): Il a marché dans ce que je pense ‘dans la crotte’. Etwas konkreter ist der Ausdruck saletés (auch TLF), z.B. für die Exkremente einer Katze in der Küche. Metasprachlich erklärbar sind fr. le mot de Cambronne (auch DAF, unmarkiert in TLF) und (fam.) les cinq lettres (auch TLF, DAF), das in PR unter lettre ohne Bedeutungsangabe erwähnt ist, aber unter cinq, wo es jedoch nicht als «fam.» markiert ist, als Ersatz für merde angeführt wird und sich damit in seiner Bedeutung sowohl von it. cinque lettere ‘cazzo’ als auch von ähnlich gebildetem dt. vier Buchstaben ( Popo) unterscheidet. Speziell die heute als «fam.»122 markierte Interjektion merde! wird im kultivier-

119 120 121 122

Unmarkiert in GDLI, der ferner auch die Bedeutung ‘luogo di decenza’ anführt. It. andare di corpo erscheint unmarkiert in GDLI, wo ebenso unmarkiert als Varianten noch andare del corpo und avere il bisogno del corpo genannt werden. It. spandere steht unmarkiert in GDLI, der in dieser Bedeutung sollevare markiert anführt. Cf. auch sp. eliminar ‘orinar, cagar’ (Rodríguez Estrada 1990, s.v.). Während in der ersten Auflage des PR von 1967 das Wort insgesamt als «vulg.» markiert ist, wird später differenziert zwischen der Fäkalienbezeichnung, die bis heute als «vulg.» markiert ist, und der Interjektion, die inzwischen als «fam.» markiert ist.

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Tabelle 8: Toilettengang und Toilette in Petit Robert markiert a

nicht markiert

in Zingarelli markiert

nicht markiert

quelque part petit coin petit endroit quel posto quel certo posto stanzino giardino toilettes lavabos prendre ses précautions

toilette

licet necessario

b c

besoins besoin pressant nécessités

d

faire ses besoins

bisogni bisogno urgente necessità necessità impellente comodità servizio fare i propri bisogni

faire s’oublier andare di corpo se retenir éliminer spandere e

f

ce que je pense saletés mot de Cambronne cinq lettres mercredi! miel! mince! zut! emmieller enquiquiner enquiquinant, -ante enquiquineur, -euse

g

cf. estomac paresseux vent

intestino pigro vento

bruit incongru

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ten Umgang vermieden und gegebenenfalls zu mercredi! umgestaltet123 oder antiphrastisch durch fr. miel! (unmarkiert in TLF, «interject. pop. et fam.») oder auch fr. (fam.) mince! (auch TLF, «adj. et interj.») ersetzt, in denen das anlautende m- zusammen mit dem situationellen Kontext als Anspielung auf das tabuisierte Wort ausreicht.124 Fr. (fam.) zut! ‘exclamation exprimant le dépit, la colère’ ist als «euphémisme pour merde devenu néanmoins plus courant» charakterisiert (unmarkiert in TLF). (f) Von miel abgeleitet ist fr. (fam.) emmieller (auch TLF, «pop.», DAF), das anstelle des gleich anlautenden (fam.) emmerder steht. Fr. (fam.) enquiquiner (auch TLF, «pop.») geht auf das Argotwort quiqui ‘gorge, cou’ und teilt «tous les sens figurés» von emmerder. Hiervon abgeleitet sind (fam.) enquiquinant, -ante (z.B. un type enquiquinant) statt (fam.) emmerdant, -ante und das Substantiv (fam.) enquiquineur, -euse entsprechender Bedeutung.125 Verdauungsphänomene (g) It. pigro wird in der übertragenen Bedeutung ‘lento, tardo’ in intestino pigro (‘con rallentata o insufficiente evacuazione’) verwendet, in PR finden sich ummarkiertes intestin atone und estomac paresseux. Assoziativ gehören auch it. vento (unmarkiert in GDLI; cf. dt. Wind und unmarkiert fr. vent) für das konkrete peto und fr. bruit incongru für pet und rot hierher. 3.2.9 Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär Nicht zuletzt sind in den Korpora noch einige wenige aufwertende sowie irreleitende Ausdrucksweisen markiert enthalten. Wirtschaft: Arbeit, Arbeitsleben und Entlassung (a) Im Berufsleben spiegelt die Verwendung von fr. assistante anstelle von secrétaire die weitverbreitete onomasiologische Aufwertungsintention in vielen Sparten wider.126 Ähnlich motiviert ist it. operatore carcerario für ‘secondino, guardia carceraria’, bei dem anders als beim «Normalwort» die Idee des Fachmanns und der selbständigen Verantwortung mitschwingt.127

123

124 125

126 127

Cf. auch it. mercoledì! (in Widłak 1970, 61), sp. ¡miércoles! (markiert in DRAE) sowie ¡mi hermana! (Gfrorer 1975, 94) und die ähnliche Umgestaltung in dt. Scheibenhonig! sowie die sakralen Flüche und Interjektionen in 3.2.1. DAF nennt noch markiert die Interjektion bernique! als «dérivé, par euphémisme, de bren, autre forme de bran, ‘excrément, ordure’». Fr. enquiquineur ist in TLF s.v. nicht markiert (nur als «pop.»), während enquiquinant, -ante ohne eigene Markierung nur im Artikel enquiquiner genannt wird, der insgesamt markiert erscheint. Cf. auch sp. asistente administrativa ‘secretaria’ (Rodríguez Estrada 1990, s.v.). Nicht in der gleichen Bedeutung, aber auch zur Aufwertung einer beruflichen Tätigkeit steht sp. operador ‘chofer’ nach Rodríguez Estrada (1990, s.v.), der ähnlich

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(b) Fr. emploi précaire steht für eine Interimstätigkeit;128 it. lavoretto beschönigend für ‘attività poco pulita, disonesta e sim.’.129 (c) It. sollevare in Kontexten wie sollevare qlcu. da un incarico ‘allontarlo, licenziarlo’ ist von der Grundbedeutung her eine Befreiung von einer Aufgabe, die positiv eine Kündigung verklausuliert. Der Verharmlosung gegenüber Arbeitnehmerinteressen dient auch fr. restructuration für Kostenreduktion durch Entlassungen größeren Umfangs in einem Unternehmen.130 Finanzen (d) Im Bereich der Finanzen ist zunächst auf it. dazione für eine Schmiergeldzahlung ‘compenso illecito, tangente’ zu verweisen. (e) Mit it. ritocco (dei prezzi, delle tariffe) (auch GDLI) lässt sich eine Preiserhöhung kaschieren, mit it. riflessivo, -a, das eigentlich einen ruhigen Börsenhandel bezeichnet, ein verlustreicher Markt ‘(est.) che è in flessione, in perdita’: le vendite hanno un andamento riflessivo. (f) Ebenfalls euphemisierend ist it. allegro, -a ‘superficiale, irresponsabile’ z.B. im Kontext una gestione finanziaria un po’ allegra (doch cf. 4.1.1ii).131 Verwaltung (g) Aus der Verwaltungssprache ist fr. (admin.) obligé, -ée (unmarkiert in TLF) zu nennen, das freundlicher klingt als das juristisch belastete obligatoire (z.B. Vous devez composter votre billet, c’est obligé).132 (h) Als Verwaltungseinheit sei das Land angeführt, das im Begriff ist, sich zu entwickeln, was in dieser Formulierung eine dynamischere Ausdrucksweise darstellt, als wenn von einem unterentwickelten Land gesprochen wird. Sie impliziert eine positiv-optimistische Sichtweise, betont die Veränderbarkeit des Zustandes und findet sich sowohl in it. paese in via di sviluppo (unmarkiert in GDLI) als auch in fr. (unmarkiert, aber: «on dit plutôt

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auch den Euphemismus operario ‘obrero’ nennt, der als Latinismus «parece ponderar y ennoblecer la actividad» (1990, s.v.). Doch cf. 4.1.1i. Auch im Italienischen hat precario, -a die Bedeutung ‘temporaneo, incerto, provvisorio’ und ist als Attribut von impiego oder lavoro möglich, in Z als solches aber nicht eigens verzeichnet; dort findet sich nur lavoratori precari (cf. auch fr. travailleurs précaires). Fr. un petit boulot z.B. ist nur im Sinne von ‘de peu d’importance’ zu verstehen. DAF nennt im Bereich des Arbeitslebens noch markiert demandeur d’emploi ‘chômeur’. S.v. ristrutturazione ist diese Bedeutung in Z (noch) nicht in einer speziellen Definition erfasst. DAF markiert im Bereich «finanzielle Schwierigkeiten» noch embarras ‘gêne résultant du manque d’argent’, matériel (soucis matériels), être dans la gêne ‘manquer d’argent’ und gêner ‘mettre ou être en difficulté financière’. Für it. obbligato, -a gegenüber obbligatorio, -a ist trotz sonstiger Gemeinsamkeiten (cf. it. passaggio obbligato, fr. passage obligé) nichts Vergleichbares verzeichnet.

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aujourd’hui») pays en voie de développement (unmarkiert in TLF; cf. auch dt. Entwicklungsland). Militär (i) Bei kriegerischen Handlungen werden die Verluste unter der Zivilbevölkerung irreleitend als fr. dégâts, dommages collatéraux ‘conséquences secondaires non maîtrisés d’une opération militaire, notamment pertes civiles’ bezeichnet.133 (j) Fr. événements (auch DAF) in Bezug auf den Algerienkrieg oder auch auf die Ereignisse vom Mai 1968 ist ein willkommenes Genus proximum zur unverfänglichen Bezeichnung konkreter Vorkommnisse, die nicht direkt benannt werden sollen.134 (k) Auch die positive Sicht von Handlungen, die nicht unbedingt friedlich sind, als friedenssichernd, wie in fr. pacifier ‘rétablir l’ordre, réduire la rébellion’ (unmarkiert in ähnlicher Bedeutung in TLF; cf. auch dt. befrieden, sp. pacificar), ist kein ungewöhnliches Bezeichnungsmotiv. Die entsprechende Einzelbedeutung von it. pacificare ist in Z nicht und in GDLI nur unmarkiert aufgeführt. (l) Ferner ist die Verwendung eines abschwächenden fr. reconduire (des immigrés à la frontière) anstelle von expulser nennen, ähnlich dt. rückführen anstelle von abschieben. Macht und Ohnmacht (m) Den Ruin und Verlust bezeichnet euphemistisch it. (†) malorcia anstelle von malora (auch GDLI). Für ‘crise, mécontentement larvés’ einer sozialen Gruppe kann fr. malaise stehen (z.B. le malaise paysan). (n) Jemand, der drastische oder autoritäre Maßnahmen bei der Ausübung politischer oder wirtschaftlicher Macht benutzt, wird im Italienischen als uomo forte bezeichnet (cf. unmarkiert fr. homme fort und dt. starker Mann). (o) Eine italienische Besonderheit ist der in einer Mafiaorganisation zu Macht gelangte uomo d’onore135 oder uomo di rispetto.

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Natürlich wurde engl. collateral damage wie in andere europäische Sprachen (cf. u.a. dt. Kollateralschaden, sp. daño colateral, perjuicio colateral) auch ins Italienische entlehnt, doch erscheint it. danno collaterale in Z nicht, während effetto collaterale (est.) ‘conseguenza dannosa indiretta, spec. in referimento a operazioni militari (bombardamenti, ecc.)’ angegeben ist, aber in Z nicht in Bezug auf zivile Opfer spezifiziert ist und im Sprachgebrauch für Nebenwirkungen unterschiedlichster Art verwendet wird. DAF nennt noch markiert incident ‘évènement qui peut être lourd de conséquences; évènement violent, affrontement’; ebenso den Ausdruck normalisation zunächst für ‘la restauration autoritaire de l’ordre en Tchécoslovaquie, en 1968’, dann auch für vergleichbare Vorgänge in anderen Staaten. It. uomo di onore erscheint in GDLI ohne Markierung. Fr. homme d’honneur und bandit d’honneur sind semantisch nicht damit zu vergleichen.

82

Tabelle 9: Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär in Petit Robert markiert a

nicht markiert

in Zingarelli markiert

nicht markiert

assistante operatore carcerario

b

emploi précaire lavoretto sollevare

c restructuration d e

dazione ritocco riflessivo, -a allegro, -a

f g h

obligé, -ée

i

dégâts, dommages collatéraux événements pacifier reconduire

j k l

pays en voie de développement

m

paese in via di sviluppo

malorcia malaise

n o

3.3

homme fort

uomo forte uomo d’onore uomo di rispetto

Resümee

Im Rahmen der Reflexion über geeignete Korpora wurden die Vorteile der Zugrundelegung lexikographischer Korpora aufgezeigt (3.1.1) und im Anschluss die Materialien der gewählten Lexika, PR und Z, in Teilbereiche gegliedert. Dabei zeigte sich auf dem Gebiet «Glaube, Aberglaube und Magie», dass das Verbot der Aussprache des Gottesnamens in beiden Sprachen zu einer Vielzahl lexikographisch markierter Euphemismen geführt hat, wobei das Französische nach Aussage der Korpora den Ersatz durch offenbar beliebige Lexeme vorzieht, während das Italienische den Namen Gottes durch Namen der antiken Gottheiten Bacchus und Diana ersetzt, die in Italien in diesem Bereich offenbar noch präsenter sind als in Frankreich. Auffallend ist ebenfalls, dass indirekte Bezeichnungen von Christus und Maria, aber auch des Teufels und der Hölle nur im italienischen Korpus in euphemistisch markierten Deformationen enthalten sind. Das Gebiet außerreligiösen Aberglaubens hingegen ist abgesehen von einer italienischen Bezeichnung 83

des Wiesels in keinem der beiden Korpora vertreten (3.2.1). Der Bereich «Sterben und Tod» umfasst Bezeichnungen für ‘sterben’ und ‘das Sterben’, Sterben durch äußere Gewalt, ‘tot’ und ‘Tot-Sein’, den personifizierten Tod sowie den Toten und seine Ruhestätte, wobei in allen Teilbereichen die italienischen Euphemismen dominieren (3.2.2). Euphemismen zur Bezeichnung physischer und geistiger Einschränkungen sowie physischer Krankheiten enthalten beide Korpora auf dem Gebiet «Krankheiten und andere Einschränkungen» (3.2.3). Der Bereich «Eigenschaften und Verhaltensweisen» umfasst in beiden Korpora indirekte Bezeichnungen negativ gewerteter physischer und geistiger Eigenheiten sowie Verhaltensweisen, während generell anwendbare Versprachlichungsstrategien zur Vermeidung rücksichtslosen Sprachverhaltens nur im französischen Korpus eigens Erwähnung finden (3.2.4). Im Bereich «Liebes- und Sexualleben» ist besonders das italienische Korpus reich an euphemistischen Ausdrücken für die physische Liebe, für leichtlebige Mädchen oder Damen und für solche, deren Dienste käuflich sind, sowie für den Ort und das Ausüben des Gewerbes (3.2.5). Eine große Vielfalt euphemistisch markierter Bezeichnungen enthält das italienische Korpus ebenfalls auf dem Gebiet «Körperteile» mit Ersatzwörtern für direkte Bezeichnungen der Sexualorgane (auch in abgeleiteten Ausdrücken) sowie zahlreichen Deformationen von cazzo als Interjektion oder Negationspartikel, während im französischen Korpus das Phänomen markierter Bezeichnungen der Sexualorgane und darauf basierender Ausdrücke nicht auftritt und lediglich das Pronomen les erscheint (3.2.6). Im Bereich «Weiblicher Lebenszyklus» gehören, nach den lexikographisch markierten Euphemismen zu schließen, Menstruation und Schwangerschaft in beiden Sprachen zu traditionellen Tabuthemen (3.2.7). In beiden Korpora in etwa die Waage halten sich auch Ausdrücke für Ort und Vorgang auf dem Gebiet «Toilettengang und Toilette», während euphemistisch markierte Ausdrücke für die Fäkalien im italienischen Korpus fehlen (3.2.8). Auffälligerweise enthalten beide Korpora nur wenige Euphemismen aus dem Bereich «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» (3.2.9).

84

4.

Auswertung der Korpora

Nous, lexicographes, nous avons donc toujours tort […] Tort comme le juge, comme le flic? Je ne pense pas. Plutôt comme l’arbitre du match de rugby. Alain Rey

Nach der Darstellung der Korpora in Kapitel drei und vor ihrer kulturgeschichtlichen Einbettung in Kapitel fünf sind die Euphemismen zunächst im Hinblick auf lexikographische und sprachvergleichende Aspekte zu betrachten, die Informationen der Korpora zu präzisieren und die euphemistischen Bildungsverfahren zu dokumentieren.

4.1

Zur lexikographischen Behandlung von Euphemismen

In der Arbeit dient der in Petit Robert und Zingarelli ausgewiesene Euphemismenbestand des Französischen und Italienischen als Ausgangspunkt für kulturpsychologische Überlegungen zu seiner Genese. Diesen ist eine genauere Betrachtung und Wertung der lexikographischen Praxis voranzustellen, die das Verständnis der Korpora einerseits durch die Dokumentation von Inkonsequenzen bei der Markierungskennzeichnung, andererseits durch den Vergleich der Angaben in PR und Z untereinander und mit anderen Lexika sowie durch Berücksichtigung weiterer Markierungsangaben zu vergrößern hilft. 4.1.1 Zur Systematik der Markierungskennzeichnung Zunächst sind einige Beispiele aufzuzeigen, die auf gewisse Irregularitäten bei der Redaktion hindeuten. Auch wenn dabei lexikographiekritische Aspekte nicht ganz auszusparen sind, gilt der Schwerpunkt der Anmerkungen dem in der vorliegenden Arbeit gewählten Umgang mit den lexikographischen Informationen bei der Erstellung der Korpora, d.h. (i) der Wertung unterschiedlicher Angaben bei mehrfach angeführten Ausdrücken, (ii) Problemen der Zuordnung von Markierungsangaben, (iii) der Art der Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen und nicht zuletzt (iv) diskutablen Markierungsangaben. 85

(i) Markierungsangaben bei mehrfacher Anführung des Ausdrucks Ein Blick auf Ausdrücke, die an verschiedenen Stellen im Lexikon erscheinen,1 zeigt, dass Beispiele, die zur Veranschaulichung der theoretischen Definition von Euphemismus oder von euphemistischen Verfahrensweisen wie Litotes genannt werden, unter ihrem eigenen Lemma nicht zwangsweise als solche markiert sind. So steht in PR z.B. das unter dem Lemma euphémisme angeführte Beispiel «Handicapé pour infirme est un euphémisme», doch ist fr. handicapé, -ée s.v. nicht als Euphemismus markiert, sondern lediglich mit der Bemerkung versehen, «handicapé ou handicapé physique tend à remplacer infirme».2 Ein weiteres Beispiel ist das unter litote für «euphémisme par litote» genannte fr. Ce n’est pas fameux ‘C’est mauvais’, das s.v. fameux nicht als Euphemismus markiert ist, während das unter litote als zweites Beispiel angegebene Corneille-Zitat «Va, je ne te hais point» unter negiertem haïr für ‘aimer’ mit der entsprechenden Angabe versehen ist. Als italienisches Beispiel lässt sich das unter eufemismo genannte it. doloroso passo (‘morte’, mit einem Zitat aus Dante) anführen, das s.v. passo nicht markiert ist. Ist dies so zu verstehen, dass es als Euphemismus nicht mehr vital und die Definition von eufemismo im Hinblick auf den Gegensatz zwischen historischen und vitalen Euphemismen nicht differenziert ist und panchronisch gesehen wird? Ansonsten kommt es bei mehrgliedrigen Ausdrücken, die unter verschiedenen Lemmata figurieren, häufig vor, dass sie jeweils nur unter einem der beiden markiert aufgeführt sind. Zur Illustration mögen aus dem Französischen folgende Beispiele genügen: Fr. emploi précaire ist s.v. emploi markiert, nicht aber s.v. précaire und auch nicht s.v. travail, obwohl die Kollokationen travail/emploi précaire (s.v. précaire) und travail précaire (s.v. travail) aufgeführt sind. Fr. être porté, -ée sur la chose ist s.v. chose markiert, nicht aber s.v. porter. Auf markiertes fr. malade, das anstelle von fou, folle verwendet werden könne, wird unter fou, folle verwiesen; s.v. malade fehlt jedoch die Markierungsangabe. Fr. mœurs spéciales ist s.v. spécial markiert, nicht aber s.v. mœurs. Fr. personnes âgées ist weder unter personne noch unter âgé, -ée markiert, wohl aber findet sich s.v. vieillard der Hinweis «on dit volontiers

1

2

Bei allen unter 4.1.1i zitierten Beispielen wird ihre an einer der Stellen, an der sie angeführt sind, unterlassene Markierungsangabe (sei es unter dem Lemma selbst, sei es an einer anderen Stelle, wo sie nochmals erscheinen) als Versehen gewertet, so dass sie in den Korpora generell berücksichtigt werden. Auch andere Wörterbücher zeigen dieses «Versehen»: TLF z.B. bringt s.v. euphémisme Beispiele wie prudence als Euphemismus für peur (cf. auch prudent für peureux bei Dubois et al. 1994, s.v. euphémisme) oder inadapté, -ée als Euphemismus «qui abrite les diverses catégories de déficients physiques, d’arriérés mentaux, de déséquilibrés psychiques», doch sind beide Ausdrücke s.v. jeweils nicht markiert (s.v. prudence steht allerdings wiederum als Zitat aus Renards Journal: «prudence n’est que l’euphémisme de peur»); DAF zitiert unter euphémisme Beispiel fatigué für malade, doch s.v. fatigué ist keine entsprechende Markierung verzeichnet.

86

personnes âgées par euphémisme» und s.v. vieux: «les vieilles gens, les vieilles personnes (plus aimable: Les personnes âgées)». Fr. besoin pressant ist s.v. pressant markiert, ebenfalls faire ses besoins s.v. faire, aber s.v. besoin (un besoin naturel, des besoins naturels, ses besoins) ist kein Markierungshinweis angebracht. Fr. cré nom de nom! ist s.v. nom markiert, nicht aber das s.v. sacré angeführte cré nom! Fr. vertubleu!  par la vertu de Dieu! ist s.v. nicht markiert, doch indirekt kann der Hinweis «on disait aussi vertuchou, autre euphémisme» als Markierungsangabe auch für vertubleu! verstanden werden. Außerdem werden im Kasten-Artikel «Dieu» vertubleu! und tudieu! als euphemistische Interjektionen und Flüche aufgezählt. Letzteres gilt auch für fr. scrogneugneu!  sacré nom de Dieu!, das s.v. jedoch ebenfalls nicht markiert ist. Eine solche fehlende Systematik zeigt sich auch im Italienischen: It. donna di malaffare ist s.v. donna markiert, doch die Markierungsangabe fehlt s.v. malaffare; ebenso ist bei it. donna di strada, donna di vita, donna da trivio, donna perduta der Markierungshinweis jeweils nur s.v. donna zu finden. It. parti basse ist s.v. basso, nicht aber s.v. parte markiert. S.v. giuraddio wird auf it. giurabbacco als euphemistisches Synonym verwiesen, doch ist s.v. giurabbacco keine Markierungskennzeichnung verzeichnet, während diese z.B. s.v. poffarbacco und im Verweis auf dieses Wort s.v. poffardio konsequent vorhanden ist. It. uomo d’onore, uomo di rispetto ‘chi è diventato potente in una organizzazione mafiosa e ne osserva le leggi’ sind s.v. uomo euphemistisch markiert, doch s.v. rispetto ist der mit gleicher Definition angeführte Ausdruck it. uomo di rispetto unmarkiert (lediglich «gerg.» ist angegeben) und auch s.v. onore steht uomo d’onore ‘galantuomo; (gerg.) chi è affiliato alla mafia, chi non tradisce le regole mafiose’ ohne euphemistische Markierungsangabe. It. passare a miglior vita ist s.v. passare als euphemistisch markiert, aber derselbe Ausdruck findet sich unmarkiert s.v. vita. It. corpo di bacco! ist s.v. Bacco markiert, bleibt s.v. corpo aber unmarkiert. It. ragazzo di vita, ragazza di vita sind s.v. ragazzo, -a markiert, aber s.v. vita fehlt die Markierung. It. rendere l’anima a Dio ist s.v. rendere markiert, nicht aber s.v. anima. It. giramento di scatole ist s.v. giramento als Euphemismus verzeichnet, doch far girare le scatole ist s.v. girare nicht markiert – liegt hier tatsächlich ein je nach Wortart divergierender Grad der Beschönigung vor? (ii) Probleme der Zuordnung von Markierungsangaben Die folgenden Beispiele aus Petit Robert und Zingarelli zeigen die Schwierigkeiten auf, die sich bei der Entscheidung ergeben, wie weit die Markierungsangabe fr. «euphém.» bzw. it. «eufem.» jeweils reicht oder reichen soll.3 Dies ist zunächst mittels folgender Einträge aus PR zu verdeutlichen.

3

Ähnliche Probleme stellen sich auch bei den infra (4.1.2iii) genauer betrachteten soziolinguistischen Markierungskennzeichnungen. So ist z.B. unklar, ob die Anga-

87

(1) «Le troisième âge: l’âge de la retraite (euphém. pour vieillesse). Le troisième âge commence à 60 ans. ‹Une autre génération me repoussait vers le troisième âge› (H. Bazin). Le quatrième âge: la vieillesse au-delà de 75 ans. Femme à l’âge critique, à l’âge de la ménopause. Retour d’âge» (PR, s.v. âge). (2) «Par euphém. Être rappelé à Dieu: mourir. Un homme de Dieu: personne consacrée à Dieu; saint homme, pieux, dévot» (PR, s.v. dieu). (3) «Spécialt (Par euphém.) Les événements d’Algérie: la guerre d’Algérie. Les événements de Mai, de 68, de Mai 68. – Fam. Lorsqu’il part en vacance, c’est un événement» (PR, s.v. événement). (4) «Euphém. Faire ses besoins, et absolt Faire. Enfant qui fait au lit, dans sa culotte. Vieillard qui fait sous lui, incontinent. – Fam. (lang. enfantin) faire caca, faire pipi» (PR, s.v. faire). (5) «Par euphém. Il a marché dans ce que je pense, dans la crotte. Il lui a flanqué un coup de pied où je pense, au derriére» (PR, s.v. penser). (6) «Loc. fam. (Euphém.) Prendre ses précautions: aller aux toilettes en prévision de situations qui ne le permettront pas. – Prendre des précautions: éviter de concevoir (femmes), de faire concevoir une femme (hommes)» (PR, s.v. précaution).

In PR hat der Punkt offenbar grundsätzlich keine trennende Funktion, wie die Beispiele 3–5 zeigen. Im Gegensatz dazu steht das Beispiel 2, wo es nicht einsichtig ist, homme de Dieu als Euphemismus zu deklarieren. Bei Beispiel 1 ist aufgrund der Positionierung von «euphém. pour vieillesse» streng genommen nur le troisième âge markiert. Aus semantischer Sicht nicht unbedingt nahe läge dabei aber eine damit implizierte unterschiedliche Markierung von quatrième âge und damit auch von âge critique und retour d’âge. Während der Punkt als Satzzeichen die Angabe der euphemistischen Markierung also insgesamt nicht unterbricht, ist diese in den Beispielen 3–4 (ebenso wie in den hier nicht genannten Fällen aus dem Korpus) gegenüber den vorher und nachher genannten Daten klar durch einen Gedankenstrich abgetrennt, der in der digitalen Ausgabe als Absatz erscheint. Aus linguistischer Sicht überraschend ist gemäß dieser Interpretation aber der Gedankenstrich (bzw. Absatz) bei Beispiel 6 nach prendre ses précautions und vor prendre des précautions, derzufolge der zweite Ausdruck im Sprachgefühl der lexikographischen Equipe seine ursprüngliche euphemistische Funktion bereits verloren hat. Ähnliche Mängel bei der Abgrenzungen von Markierungsangaben enthält auch Z:

be «volg.» bei den Bedeutungen unter dem Lemma «cazzata o (eufem.) cacchiata» auch für das Letztere Gültigkeit hat. Da im Falle einer höheren Stilebene des Euphemismus gegenüber dem tabuisierten Ausdruck in vergleichbaren Fällen aber «pop.» oder «fam.» folgt und nicht davon auszugehen ist, dass cacchiata neutral eingestuft ist, liegt die Annahme des Bezugs von «volg.» auch auf cacchiata nahe.

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(1) «Spensierato: fare vita allegra | (eufem.) Donna, donnina, allegra, donna molto disponibile a relazioni amorose | Superficiale, irresponsabile: una gestione finanziaria un po’ allegra» (Z, s.v. allegro). (2) «(pop., eufem.) La morte: la c. secca | La febbre intermittente» (Z, s.v. comare). (3)

«3 (eufem.) †Ritirata | Vaso da notte» (Z, s.v. necessario).

(4) «(eufem.) R. allegra, molto disponibile a relazioni amorose | R. squillo, prostituta avvicinabile mediante appuntamento telefonico | (eufem.) R. di vita, prostituta» (Z, s.v. ragazza). (5) «(eufem.) R. di vita, adolescente già sulla strada del vizio e della corruzione | Figlio maschio: ha tre ragazzi e una bambina» (Z, s.v. ragazzo). (6) «(fam., eufem.) r. le scatole, l’anima, le tasche, seccare, infastidire; (anche assol.) smettila di r.! |» (Z, s.v. rompere). (7) «(al pl.) (eufem.) Testicoli | (pop., fig.) Rompere, far girare le scatole a qlcu., infastidirlo, seccarlo | Levarsi, togliersi, dalle scatole, andarsene lasciare in pace | Averne piene le scatole, non poterne più di qlco. o qlcu.» (Z, s.v. scatola) (8) «(eufem.) Morte, decesso: accertare l’ora del t. | †Fare t., morire» (Z, s.v. trapasso). (9) «fare la v., (eufem.) esercitare la prostituzione | Ragazza di v., prostituta | Ragazzo di v., giovane malvivente o vizioso, proveniente spec. da un ambiente sociale degradato dalla miseria e dalla violenza | Avere una doppia v., nascondere dietro una faccia di irreprensibilità azioni e comportamenti viziosi, disonesti, oltremodo riprovevoli | La dolce v., vita che trascorre nell’ozio e nel divertimento (dal n. del film di F. Fellini La dolce vita, 1959) | Cambiar v., mutare la propria condotta, spec. dal male al bene: ha deciso di cambiar v.» (Z, s.v. vita).

Im Beispiel 8 (trapasso) ist davon auszugehen, dass sich die lexikographische Markierung nicht nur auf ‘morte’, sondern auch auf fare trapasso ‘morire’ bezieht. Ebenso liegt diese Interpretation, in der der vertikale Längsstrich die euphemistische Markierungsangabe nicht aufhebt, in den Beispielen 2 (comare) und 3 (necessario) nahe. Auch der Umstand, dass rompere le scatole s.v. rompere (Beispiel 6) explizit markiert ist, während s.v. scatola (Beispiel 7) der Markierungshinweis nur vor dem Längsstrich steht, spricht dafür, eine vor dem Längsstrich stehende Markierungskennzeichnung generell auch auf das Nachstehende zu beziehen. Dies ist auch bei Beispiel 1 anzunehmen.4 Doch wenn dies so ist, warum wird dann in Beispiel 4 (ragazza) vor ragazza di vita der Markierungshinweis (eufem.) wiederholt? Und wie weit reicht in Beispiel 9 die Markierungsangabe, wenn der Längsstrich keine trennende Funktion hat? Die beiden folgenden Ausdrücke (ragazza di vita und ragazzo di vita) sind immerhin s.v. ragazza bzw. ragazzo markiert, während

4

S.v. donnina ist die Markierungsangabe deutlich, da sie sich zweifellos auf die beiden folgenden Ausdrücke bezieht: «(eufem.) Donna molto disponibile a relazioni amorose | D. allegra, sgualdrina».

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die anschließenden Ausdrücke (avere una doppia vita und la dolce vita) s.v. doppio bzw dolce nicht markiert aufgeführt werden. Bei ragazzo di vita (Beispiel 5) ist ebenso völlig ausgeschlossen, dass die lexikographische Markierung nach dem Trennstrich weitergehen soll. Vor dem Hintergrund solcher Irregularitäten war das Problem der Bewertung der Markierungszuordnungen als Euphemismen im Zweifelsfalle nur noch nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» zu lösen. Demnach wurden die betreffenden Ausdrücke in die Korpora aufgenommen, so dies linguistisch einleuchtend war, was als Verfahrensweise v.a. in den Fällen ein zusätzliches Argument bekam, in denen die vergleichsweise herangezogenen Lexika (TLF, DAF; GDLI) ebenfalls Markierungsangaben anführen. (iii) Angaben zu historischen und vitalen Euphemismen Die Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen betrifft grundsätzlich die Frage der Dauer der Vitalität eines Euphemismus, schließlich können Euphemismen durch ihren häufigen Gebrauch bekanntermaßen ihre ursprüngliche Funktion verlieren, zum Normalwort werden, und dann ihrerseits durch neue Euphemismen Ersatz finden.5 Dementsprechend sind nach PR fr. trépas und trépasser zum Normalwort für ‘mort’ und ‘mourir’ geworden6 und daher nicht mehr lexikographisch markiert, während it. transire, dem dieselbe Metapher zugrunde liegt, seine euphemistische Funktion nach Z noch erfüllt.

5

6

Cf. zunächst die Unterscheidung in transparente und opake Euphemismen (cf. Ullmann 1969, 259) und v.a. die Erklärung: «Il arrive que le sens primitif d’un mot disparaisse tout-à-fait et que l’emploi euphémique l’emporte; le mot cesse par là même d’être un euphémisme et demande parfois à son tour à être remplacé» (Nyrop 1913, 318), was eine «Spirale des Ersatzes» in Bewegung setzen kann, wie sie genauer in 5.3.2.3i (infra p. 296ss.) zu behandeln sein wird. Als Beispiele nennt Nyrop boucon (< it. boccone) und poison (< lat. potionem), die im Französischen zunächst eine Leckerei aus Italien bzw. einen Arzneitrank (heute fr. potion) bezeichneten und dann für vergiftete Speisen und Getränke bzw. das Gift selbst verwendet wurden (1913, 288); zudem imbécile (zunächst wie lat. imbecillus ‘schwach’), soûl (zunächst wie lat. satullus ‘gesättigt’), malade (< vlat. male habitus), tuer (< lat. tutari ‘beschützen’, anstelle von ocir < occidere) sowie poudrette und trépasser (1913, 318). Ähnlich äußert sich Blank (1997, 403s.), nach dem die «Fortexistenz eines Euphemismus» davon abhänge, ob «jene andere Bedeutung, welche seine Basis bildet, die dominante Bedeutung des Wortes bleibt». Dieses Kriterium kann jedoch z.B. auf Fremdwörter in euphemistischer Funktion nicht unbedingt angewandt werden, wie z.B. die italienische Verwendung von maîtresse zeigt. Blank nennt neben trépasser auch décéder (1997, 404), das in PR jedoch mit der Bemerkung versehen ist: «Employé surtout dans l’Administration ou par euphémisme, au passé composé et au participe passé», während das von ihm als Euphemismus zitierte disparaître, bei dem «die Bedeutung ‘verschwinden’ noch dominiert», in PR nicht markiert erscheint, wohl aber in TLF und DAF.

90

Bei der Zusammenstellung des Korpus ging es zunächst um die Frage, an welcher Stelle der Markierungshinweis stehen muss, um die Aufnahme des jeweiligen Wortes zu rechtfertigen. Dabei gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: (i) Markierungen, die sowohl im historischen wie im Verwendungsteil angegeben sind, kommen in beiden Wörterbüchern selten vor (cf. neben dem infra erwähnten it. diacine! accidempoli!, acciderba!, caspita!, cribbio!, perdinci!). Die Aufnahme solcher Euphemismen in die Korpora ist ebenso unstrittig wie die Berücksichtigung von (ii) nur im Verwendungsteil markierten Ausdrücken. (iii) Doch immer wieder ist der Hinweis auf das Vorliegen eines Euphemismus z.B. nur im kleingedruckten historischen Teil des Wörterbuchartikels zu finden, was eigentlich bedeutet, dass die heutige Verwendung nicht mehr euphemistisch zu verstehen ist. Anhand einiger Beispiele wird nun aber deutlich, dass eine klare Trennung zwischen beiden Einordnungen nicht in allen Fällen unstrittig ist, so dass der jeweilige Ausdruck im Korpus im Zweifelsfall mitberücksichtigt wurde. Fr. supplice, «lat. supplicium ‹supplication›, d’où ‹sacrifice religieux célébré à l’occasion d’une exécution, pour laver le sang versé›, par euphém. ‹supplice›» (PR), stellt einen im Latein angesiedelten euphemistischen Vorgang dar, der schon bei Plautus in der Bedeutung «körperliche Züchtigung (die man als ‹Opfer›, als Kompensation für begangenes Unrecht auf sich nimmt)» mündet (Benveniste 1969, 251s.). Damit scheidet das Wort für das Französische als noch vitaler Euphemismus aus. Doch kann von diesem eindeutig zu beurteilenden Beispiel noch keine generelle Regel abgeleitet werden, derzufolge eine ausschließliche Markierungskennzeichnung im historischen Teil Ausschlusskriterium für das Korpus ist. So sind z.B. fast alle sakralen Flüche und Interjektionen s.v. nur im historischen Teil als Euphemismen deklariert: fr. morbleu! «euphém. pour mort de Dieu», sacrebleu «de sacre et Dieu, altér. par euphém.», ebenso fr. palsambleu!, parbleu!, saperlipopette!, ventrebleu!, ventre-saint-gris!, während bei fr. vertubleu! im historischen Teil nur von «altération de vertu Dieu» die Rede ist und im Verwendungsteil zwar keine direkte Markierungsangabe gesetzt wird, doch mit der Anmerkung «On disait aussi vertuchou, autre euphémisme» ist vertubleu! indirekt als Euphemismus früherer Zeiten markiert. Außerdem sind alle Ausdrücke nicht nur mehrheitlich auch in TLF markiert, sondern auch im Kasten-Artikel «Dieu» des PR als «interjections et jurons euphémiques» aufgezählt, was eindeutig (trotz teilweiser Markierungskennzeichnung als «vieilli») auf die Verwendung bezogen ist. Fr. bigre!, «euphém. pour bougre» (auch TLF und DAF), und diantre!, «altér. euphémique de diable», sind nur im historischen Teil des PR als Euphemismen vermerkt; doch ist letzteres in TLF in beiden Teilen markiert (auch als «vieilli ou fam.») und in DAF wiederum nur in der Verwendung («Entre dans des expressions d’où l’on a banni, par euphémisme, le mot diable»; auch «vieilli ou litt.»), während bei der historischen Aussage nur von «Altération de diable» die Rede ist. Beide sind im Korpus trotz der bloßen Markierungsangabe im Herkunftsteil des PR aufgenommen. Bei fr. gay «mot angl. gai par euphém.» bezieht 91

sich die euphemistische Angabe eindeutig auf das Englische, weshalb es aus dem Korpus ausgeklammert bleibt, obwohl hier im Französischen ebenso die euphemistische Funktion des Fremdwortes zu Buche schlagen kann (cf. 4.3.2.1v) wie die euphemisierende Assoziation mit fr. gai und damit die Reintegration in das Wortfeld, aus dem engl. gay ursprünglich stammt (cf. infra p. 358). Wenig einsichtig ist auch die ausschließlich historische Angabe bei fr. non-voyant, -ante «par euphém., de non et voyant» in PR, da dieser im Korpus aufgenommene Ausdruck, ebenso wie das im Verwendungsteil des Z eindeutig markierte it. non vedente zweifelsohne eine aktuelle Verwendung tangiert, die mit der Politischen Korrektheit zusätzliche Bedeutung erlangt. Ähnliche Feststellungen lassen sich auch in Z machen. It. (vc. dotta) evonimo bezeichnet eine Giftpflanze, deren euphemistische Bezeichnung im Herkunftsteil erklärt wird (gr. euōnymos ‘di buon nome’; cf. dt. Evonymus). Im Verwendungsteil weist aber nichts darauf hin, dass mit dem gelehrten Ausdruck eine euphemistische Funktion verbunden würde. Ähnlich ist it. sinistrocherio als heraldischer Terminus mit der Bedeutung ‘braccio sinistro uscente dal fianco destro dello scudo’ ebenfalls nur historisch als Euphemismus zu verstehen, obwohl 1960 als Erstdatum für den Gräzismus im Italienischen angegeben ist; «parziale traduzione del gr. aristerócheir, propr. ‘mancino’, comp. di aristerós ‘sinistro’ (propr. ‘migliore’, denominazione eufemistica, essendo ritenuta la parte sinistra sfavorevole) e chéir ‘mano’, ma anche ‘braccio’». Beide Ausdrücke bleiben im Korpus daher unberücksichtigt. Ebenso wie im französischen Korpus kann aber auch im italienischen eine ausschließliche Markierungsangabe im historischen Teil kein automatisches Ausschlusskriterium für die Aufnahme in das Korpus sein. So fällt z.B. in den folgenden Beispielen auf, dass alle Varianten der Positionierung von Markierungsangaben auftreten, von der bloßen Kennzeichnung im historischen Teil bei it. diamine! über die Angabe euphemistischer Relevanz in Genese und Verwendung bei it. diacine! bis hin zum bloßen Markierungshinweis im Verwendungsteil bei it. diancine!: «†diacine [da dia(volo), stornato nella seconda parte a fine eufemistico; av. 1520] inter. • (eufem.) Diamine, diancine» (Z, s.v. diacine). «diamine [sovrapposizione eufem. di domine (domineddio) a diavolo, 1587] inter. • […] SIN. Diacine, diancine, diavolo» (Z, s.v. diamine). «diancine [V. diamine; av. 1555] inter. • (eufem., disus.) Esprime meraviglia, impazienza, disapprovazione e sim. SIN. Diacine, diamine, diavolo» (Z, s.v. diancine).

Ist nur ein Markierungshinweis im historischen Teil angeführt, müsste dies in rigoroser Interpretation bedeuten, dass der Ausdruck heute nicht mehr als Euphemismus verstanden wird. Ebenso sollte die Markierungsangabe im Verwendungsteil ein Indiz für das Vorliegen eines Euphemismus im Bewusstsein der Sprecher sein oder zumindest in dem, was der Lexikograph für das Sprachbewusstsein der Sprecher hält, wenn er nicht nur sein metasprachliches Bewusstsein befragt, das natürlich nicht durch historische Kenntnisse 92

«verbildet» sein sollte. Liegt bei diamine! aber tatsächlich nur eine historische Information vor, die einen Euphemismus im heutigen Bewusstsein der Sprecher ausschließt, in dem es einen vollkommen anderen Stellenwert hat als diancine!? (iv) Diskutable Markierungsangaben: Versehen oder Absicht? Sind im Korpus bestimmte Euphemismen oder euphemistische Wortbedeutungen der Allgemeinsprache nicht vorhanden, so besteht die Möglichkeit, dass sie entweder nicht aufgenommen sind, oder dass sie aufgenommen und nicht lexikographisch als Euphemismen markiert sind. Aus der Lexikographiekritik dieser Arbeit bleibt die Diskussion um unterlassene Markierungsangaben und zusätzlich aufzunehmende einzelne Euphemismen allerdings weitgehend ausgeklammert,7 zumal die Positionen individuell unterschiedlich ausfallen dürften und damit Alain Rey in seiner eingangs zitierten Aussage bestätigen würden: «Nous, lexicographes, nous avons donc toujours tort […] Tort comme le juge, comme le flic? Je ne pense pas. Plutôt comme l’arbitre du match de rugby» (Rey 2005, 14). Exemplarisch sei auf einige wenige Beispiele fraglicher Markierungsangaben verwiesen, die teilweise unterstreichen, wie schwierig die Einteilung als Euphemismus ist, und die weiter zu diskutieren wären: In PR erscheint fr. personne à mobilité réduite als politisch korrekter Terminus der Sécurité sociale so unmarkiert wie défavorisé, -ée, exclu, -ue oder érémiste, die aus linguistischer Sicht sicherlich Euphemismen darstellen. Unmarkiert ist ebenfalls maladies sexuellement transmissibles, MST, obwohl es wertneutraler ist als maladie honteuse. Dass petite copine nicht markiert ist, petite amie und petit copain es aber sind, wirft ebenso Fragen auf, wie warum amitié particulière ‘homosexuelle Beziehung’ und le troisième sexe nicht markiert sind, wohl aber mœurs spéciales. In Z ist s.v. rompere it. (fam.) rompere le scatole, l’anima, le tasche a qlcu. markiert, nicht aber (fam. o volg.) rompersi le scatole, l’anima, le tasche a qlcu., was die Frage aufwirft, womit die fehlende Markierungsangabe bei der reflexiven Verwendung zu erklären ist. Bei den Bezeichnungen der Prostituierten ist zu überlegen, weshalb z.B. passeggiatrice als Euphemismus markiert ist, nicht aber das aus dem Französischen adaptierte peripatetica, das

7

Wichtiger als die Überlegung nach fehlenden Bedeutungen oder Markierungsangaben ist natürlich die Frage, ob vorhandene Kennzeichnungen immer korrekt sind. Dabei zeigt sich, dass die italienischen Ausdrücke essere tutto naso, bocca, occhi, gambe e sim. ‘avere il naso, la bocca, gli occhi, le gambe che acquistana grande spico su tutta la persona’ und valere per tre ‘assommare in sé le capacità di tre’ offensichtlich aus Versehen markiert sind, zumal im ersten Fall eher eine Übertreibung vorliegt und in zweiten Fall die gegebene Definition auch z.B. den Gedanken an ein bambino che vale per tre im Sinne von ‘ein Kind, das Arbeit für drei macht’, ausschließt.

93

nach Lanza «passeggiatrice ersetzt und adelt» (2005, 8). Aus dem Bereich der Politischen Korrektheit gibt Z z.B. portatore, -trice di handicap, motuleso, -a und audioleso, -a sowie die Berufsbezeichnungen colf und operatore ecologico unmarkiert an, was Aussagen anderer Quellen (cf. 5.3.4.2/5) widerspricht; aus dem Gebiet «Ethik ohne Moral» ist fuoco amico verzeichnet, ein schon fast klassischer militärischer Euphemismus. Außer der eindeutigen Markierungskennzeichnung als Euphemismus erscheinen bisweilen Formulierungen, bei denen von Fall zu Fall zu prüfen wäre, ob sie als synonym oder annähernd synonym betrachtet werden können. So nennt PR fr. homophile als «équivalent mélioratif de homosexuel», was zweifellos eine euphemistische Tendenz erkennen lässt, aber homosexuel, -elle wird dadurch nicht tabuisiert. Der Kommentar zu pays sous-developpé «dits plutôt aujourd’hui en voie de développement» (s.v. sous-développé) ist im Rahmen der nicht zuletzt mit der Politischen Korrektheit zunehmend geforderten Rücksichtnahme auf weniger Begünstigte zu sehen, die bestimmte, als unsensibel empfundene Ausdrucksweisen stigmatisiert. Dementsprechend ist das italienische Äquivalent in Z als Euphemismus markiert, während sich PR mit der obigen Formulierung diesbezüglich nicht festlegt. Aufgrund der äußeren Erscheinung junger Leute «à la mode» werden sie meliorativ mit fr. (spécialt) minet, -ette bezeichnet, ‘jeune fille (parfois jeune homme) au physique attrayant par sa grâce ambiguë, à la fois juvénile et adulte’, wobei die positive Erscheinung antonymisch zu fr. nymphette, lolita gesehen werden kann. Der Ausdruck ist auch dementsprechend nicht als Euphemismus markiert, sondern als «mélioratif». Ganz verzichtet wird an dieser Stelle auf eine pedantische Auflistung nicht aufgenommener Euphemismen; Beispiele für einzelne Ausdrücke bzw. euphemistische Einzelbedeutungen werden in den entsprechenden Unterkapiteln zu 5 folgen, Beispiele für die im Hinblick auf ein Gesamtbild noch wichtigeren in den Korpora nicht berücksichtigten Bereiche euphemistischer Umschreibung in 4.2.3. 4.1.2 Markierungsangaben im Vergleich Im Folgenden werden (i) der in PR und Z ermittelte Euphemismenbestand mit anderen Wörterbüchern der jeweiligen Sprache verglichen, was die Schwierigkeiten eines lexikographischen Konsenses in Bezug auf euphemistische Markierungen zeigt, (ii) die Markierungsangaben zu äquivalenten Ausdrücken in PR und Z betrachtet und damit noch einmal verdeutlicht, wie schwer es ist, aus rein sprachwissenschaftlicher Perspektive über das Vorliegen von Euphemismen zu entscheiden, und (iii) ein Blick auf Hinweise zu weiteren Markierungen geworfen, die das Gesamtbild vom Euphemismus abzurunden helfen.

94

(i) Unterschiede zwischen Wörterbüchern einer Sprache Die bisherigen Ausführungen konzentrierten sich v.a. auf das Aufzeigen von nicht einwandfreien Formalia, die teilweise aber auch bereits inhaltliche Unstimmigkeiten bei der Zuweisung der Markierungsangabe Euphemismus durchscheinen lassen. Dass die Beurteilung einzelner Wörter als Euphemismus auch innerhalb der Lexikographie einer Sprache variiert, zeigt ein Vergleich von PR mit TLF bzw. von Z mit GDLI, der sinnvollerweise nur so erfolgen kann, dass zunächst die in PR und Z markierten Euphemismen vollständig aufgeführt und mit einem Plus-Zeichen versehen werden, wenn sie in der entsprechenden Bedeutung auch in TLF bzw. GDLI markiert sind, und mit einem Minus-Zeichen, wenn sie in TLF bzw. GDLI ohne Markierungsangabe erscheinen. Weder berücksichtigt werden somit (a) in TLF bzw. GDLI markierte, aber in PR bzw. Z formal und/oder semantisch nicht verzeichnete oder (b) nicht markiert verzeichnete Ausdrücke, wie sie auch nicht Teil des Korpus sind, noch (c) in PR bzw. Z markierte, aber in TLF oder GDLI formal und/oder semantisch nicht verzeichnete Ausdrücke. Solche Divergenzen ließen sich außer durch Unterschiede in der Redaktion und im Umgang mit Euphemismen theoretisch einfach (a) durch die reduzierte Makro- und Mikrostruktur von PR und Z erklären und durch die größere Aktualität von PR und Z, die es leichter ermöglicht, (b) das Verblassen einer euphemistischen Perspektivierung festzustellen, und (c) neu aufgekommene Einzelbedeutungen zu integrieren. Sicherlich bringt auch hier die Suche nach der richtigen Interpretation im konkreten Einzelfall Schwierigkeiten mit sich.8 Schon deduktiv schwer zu erklären ist es aber, wenn ein Wort in PR bzw. Z markiert und in TLF bzw. GDLI in dieser Bedeutung unmarkiert aufgenommen ist, wie es bei den in der Tabelle 10 mit Minus-Zeichen gekennzeichneten Ausdrücken der Fall ist. Tabelle 10: Vergleich von PR mit TLF und Z mit GDLI – Einzelgebiete PR

TLF

Z

GDLI

PR/TLF und Z/GDLI – Glaube, Aberglaube und Magie nom! cré nom de nom! nom d’un petit bonhomme! nom d’un chien! nom d’une pipe! ventre-saint-gris! parbleu! sacrebleu! ventrebleu! morbleu!

8

+ + + + + + + + + –

poffare! per zio! per bacco! corpo di bacco! poffarbacco! giurabbacco! perdiana! perdina! perdinci! per dindirindina!

– + – – + – + + + +

Cf. als Beispiel für (b) die in TLF und DAF markierten, aber in PR nicht markierten Bezeichnungen fr. disparaître ‘mourir’, fr. le sommeil éternel oder fr. l’absent ‘un mort’.

95

PR

TLF

Z

GDLI

vertubleu! tudieu! palsambleu! scrogneugneu! pardi! saperlipopette!

+ – + + – –

per dirindina! vivaddio! cribbio! madosca! ostrega! lontano, -a diacine! diancine! diamine! diascolo andare a farsi frate quel paese accidempoli! acciderba! accipicchia! donnola

+ – + + + – + + + + – – + + + –

dipartire scomparire uscire dalla vita uscire dal mondo salire in paradiso salire al cielo volare in/al cielo volare in paradiso volare alla gloria dei beati transire passare nel numero dei più passare a miglior vita andare a Patrasso passamento trapasso rendere l’anima a Dio rendere lo spirito a Dio addormentarsi nel bacio del Signore mancare terminare la vita terminare di soffrire finire di tribolare pagare il proprio tributo alla natura andare sottoterra dipartenza dipartimento dipartita scomparsa passo doloroso mandare sottoterra mandare a Patrasso eliminare riposare in pace essere sottoterra eterno riposo

+ + – – – – – – – – – – + – + – – –

PR/TLF und Z/GDLI – Sterben und Tod quitter ce monde décéder passer Dieu l’a rappelé à lui s’éteindre malheur

96

– – – + – –

– – – – – – + + + + – – + – – – –

PR

TLF

Z comare assente scomparso, -a riposo

GDLI – + + –

PR/TLF und Z/GDLI – Krankheiten und andere Einschränkungen handicapé, -ée non-voyant, -ante maladie honteuse vilaine maladie

– – – –

non vedente non udente duro, -a d’orecchio brutto male comare infausto, -a rovesciare

+ – – – – + –

PR/TLF und Z/GDLI – Eigenschaften und Verhaltensweisen troisième âge quatrième âge fort, forte sui generis vif, vive bigre! rien à secouer repli prier tâche, tâchez pas vraiment plutôt pas fameux discutable que vous savez

+ – + – – + – – – + – – – – +

robusto, -a minus habens testa di cavolo torso di cavolo urca! sacrificare a Bacco doppia vita

+ + – – + – –

PR/TLF und Z/GDLI – Liebes- und Sexualleben ne pas haïr amour acte d’amour chose étreinte aimer ami, amie petit ami, petite amie mœurs spéciales abstinent, -ente abstinence attouchement mauvaises habitudes violenter abuser amour tarifé protecteur

– – – + + – – – – – – – + – + – +

intimo colloquio voglia pizzicore rapporti intimi dimestichezza amplesso dormire insieme andare a letto con qlcu. portarsi a letto qlcu. sacrificare a Venere amico, -a omofilia omofilo, -a toccarsi buscherare fare la vita casa di tolleranza casa chiusa casa equivoca casa di appuntamenti casa squillo donna di strada donna da trivio

+ – + + + – + + + – – – – – + – – – – – – – –

97

PR

TLF

Z

GDLI

passeggiatrice donna pubblica donna galante mondana donnina allegra ragazza allegra ragazza di vita etera donna da prezzo professionista del sesso donna di malaffare donna perduta sacerdotessa di Venere protettore donnina ragazzo di vita

+ – – – – – – – – – – – + – – –

bassoventre parti basse cordoni rompere i cordoni a qlcu. rompitasche scatole rompiscatole rompere, far girare le scatole a qlcu.; levarsi, togliersi dalle scatole; averne piene le scatole corbelli! rompere i corbelli a qlcu. scorbellato, -a zebedei cazzica! cacchio(!) cavolo(!) capperi! caspita! cazzarola! kaiser incavolarsi incavolatura cavolata cacchiata corno tubo fessura frescaccia frescone seno fondoschiena messere vaffa!

– – + – – + – –

PR/TLF und Z/GDLI – Körperteile bas-ventre entrecuisse les casser où je pense l’avoir dans l’os enguirlander

98

+ – + + – –

– – – + – + – + + – + + + + + – – – + + + + + +

PR

TLF

Z

GDLI

PR/TLF und Z/GDLI – Weiblicher Lebenszyklus intacte indisposée indisposition position intéressante âge critique

+ + – + –

stato interessante portare un figlio in seno

– +

PR/TLF und Z/GDLI – Toilettengang und Toilette quelque part petit coin petit endroit toilettes lavabos prendre ses précautions besoin pressant faire ses besoins s’oublier se retenir ce que je pense saletés mot de Cambronne cinq lettres miel! mince! zut! emmieller enquiquiner enquiquinant, -ante enquiquineur, -euse

+ + + + – + – + + + + + – + – + – + + + –

quel posto stanzino giardino licet necessario bisogni necessità comodità fare i propri bisogni servizio andare di corpo spandere vento

+ – + – – – – – – + – + –

PR/TLF und Z/GDLI – Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär obligé, -ée pacifier malaise

– – –

ritocco paese in via di sviluppo malorcia uomo d’onore

+ – + –

Nach dieser Einzelbetrachtung stellt die folgende Tabelle 11 eine Synopse aller neun Bereiche und ihrer jeweiligen quantitativen und proportionalen Verteilung dar. Die Spalten 1a und 1b enthalten die jeweilige Gesamtzahl der Ausdrücke, die in PR (bzw. in Z) euphemistisch markiert sind und gleichzeitig auch in TLF (bzw. GDLI) erscheinen; die Spalten 2a und 2b besagen, wie viele dieser Ausdrücke auch in TLF (bzw. GDLI) mit der Markierungsangabe Euphemismus versehen sind, die Spalten 3a und 3b, wie viel diese Übereinstimmungen in der Markierungspraxis (2a/b) prozentual zum Gesamtvorkommen der Euphemismen aus den Korpora in TLF und GDLI (1a/b) ausmachen, und die Spalten 4a und 4b, auf welchen Gebieten innerhalb einer Sprache die stärksten Übereinstimmungen auszumachen sind.

99

(1b) in GDLI enthalten

(2b) in GDLI markiert

(3b) markiert/enthalten

12

75 %

1

26

17

65 %

1

6

1

17 %

7

39

11

28 %

7

4

0

0%

8

7

2

29 %

6

15

5

33 %

5

7

3

43 %

4

17

5

29 %

6

39

10

26 %

8

6

3

50 %

4

32

17

53 %

2

5

3

60 %

3

2

1

50 %

3

21

15

71 %

2

13

4

31 %

5

3

0

0%

8

4

2

50 %

3

93

44

47 %

/

169

67

40 %

/

(4b) Rangliste

(4a) Rangliste

16

(3a) markiert/enthalten

(2a) in TLF markiert

Glaube, Aberglaube und Magie Sterben und Tod Krankheit und andere Einschränkungen Eigenschaften und Verhaltensweisen Liebes- und Sexualleben Körperteile Weiblicher Lebenszyklus Toilettengang und Toilette Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär gesamt

(1a) in TLF enthalten

Tabelle 11: Vergleich von PR mit TLF und Z mit GDLI – Synopse

Diese Zusammenschau zeigt mit insgesamt 47 % im Französischen und 40 % im Italienischen keine mehrheitliche Übereinstimmung der Markierungsangaben der Wörterbücher einer Sprache, was vor dem Hintergrund der oft festgestellten Markierungsdifferenzen in der Lexikographie nicht überrascht.9 Bei den Euphemismen aus dem Gebiet «Glaube, Aberglaube und

9

Hausmann gibt als Beispiel, dass der Hälfte der Markierungsangaben «fam.» in PR (1977) andere Etiketten in DFC (1966) gegenüberstehen, und urteilt bei Divergenzen lexikographischer Markiertheit, dass «das markierende Wörterbuch dennoch gut daran getan hat, zu markieren. Denn niemand wird leugnen, daß der Einheit irgendeine Art von Auffälligkeit anhaftet» (1989, 650).

100

Magie» ist sowohl im Französischen als auch im Italienischen mit 75 % bzw. 65 % der größte Konsens zwischen den jeweiligen Lexika festzustellen, was u.a. daran liegen mag, dass es sich hier um einen traditionell besonders verankerten Bereich tabuisierter Bezeichnungen handelt. Auf dem nicht weniger traditionellen Gebiet «Sterben und Tod» ist allerdings eher das Gegenteil der Fall; im Französischen stimmen nur 17 % überein, im Italienischen 28 %, wobei sich die absolute Zahlendifferenz zwischen den italienischen Lexika vor allem dadurch erklärt, dass GDLI hier die vielen metaphorischen Ausdrucksweisen nicht als Euphemismen markiert. Prozentual gesehen nimmt dieser Bereich in der Rangliste beider Sprachen den vorletzten Platz ein. Im Bereich «Krankheiten und andere Einschränkungen» und der Kategorie «Eigenschaften und Verhaltensweisen» sind die Übereinstimmungen im Italienischen mit 29 % bzw. 43 % (gegenüber 0 % bzw. 33 % im Französischen) höher, während sich auf dem Gebiet «Liebes- und Sexualleben» in beiden Sprachen etwa ein Viertel decken (29 % bzw. 26 %), wobei die absolute Zahlendifferenz im Italienischen v.a. darauf beruht, dass GDLI die Bezeichnungen für das Bordell und die im Gewerbe tätigen Damen mehrheitlich unmarkiert lässt. Eine Übereinstimmung von 50 % bzw. 53 % zeigt sich in beiden Sprachen im Bereich «Körperteile» und ebenfalls 50 % decken sich im Italienischen auf dem auf der Rangliste beider Sprachen drittplatzierten Gebiet «Weiblicher Lebenszyklus», wo der Prozentsatz im Französischen mit 60 % etwas höher liegt. Besonders starke Divergenzen zwischen beiden Sprachen sind in dem Bereich «Toilettengang und Toilette» zu beobachten, in dem im Italienischen mit 31 % ein eher geringer Prozentsatz zu vermerken ist, während im Französischen mit 71 % die zweithöchste Übereinstimmung vorliegt. Gleichzeitig ist hier mit 15 Euphemismen, die sowohl in PR als auch in TLF verzeichnet sind, die absolute Zahl am höchsten, was die euphemistische Bedeutung dieses Bereichs im Französischen unterstreicht. Bei der durch die geringen absoluten Zahlen weniger aussagekräftigen und zudem heterogenen Kategorie «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» gibt es mit 50 % nur Übereinstimmungen im Italienischen. (ii) Die Korpora im Vergleich. Unterschiedliche Bewertung äquivalenter Ausdrücke Wie in 3.1.2 erwähnt, wurden in 3.2 unmarkierte Ausdrucksweisen aus PR oder Z dann aufgeführt, wenn sie formal und/oder von der semantischen Motivierung her einem markierten Euphemismus in der jeweils anderen Sprache entsprechen, wie z.B. fr. maison de santé, aus dem markiertes it. casa di salute sogar übersetzt ist. Dabei zeigten sich zahlreiche unterschiedliche Markierungsangaben zu äquivalenten oder teiläquivalenten Ausdrücken in PR und Z, was aus einem linguistisch-panchronischen Verständnis von Euphemismus heraus überraschen mag, aber synchronisch-lexikologisch durchaus nicht ungewöhnlich sein muss. Dahinter steht im Falle lexikographisch unmarkierter Äquivalenzen – neben einem unterschiedlichen Euphemismusverständnis 101

Tabelle 12: In Z markierte und in PR unmarkierte Ausdrücke (Z + / P –) Z+

PR –

Glaube, Aberglaube und Magie dia(n)cine!, diamine!, diascolo

diantre!

Sterben und Tod dipartire scomparire salire in paradiso salire al cielo trapasso fare trapasso rendere l’anima a Dio rendere lo spirito a Dio addormentarsi nel bacio del Signore pagare il proprio tributo alla natura eliminare riposare in pace eterno riposo riposo

partir disparaître aller au paradis aller au ciel trépas trépasser cf. rendre l’âme cf. rendre l’esprit cf. s’endormir dans le Seigneur payer tribut à la nature éliminer reposer en paix repos éternel repos

Krankheiten und andere Einschränkungen duro, -a d’orecchio deviante casa di salute

dur, -e d’oreille déviant, -iante maison de santé

Eigenschaften und Verhaltensweisen non essere una Venere minus habens sbaglio di gioventù doppia vita

ne pas être une Vénus minus habens faute, péché, folie, erreur de jeunesse double vie

Liebes- und Sexualleben rapporti intimi dormire insieme figlio dell’amore omofilo, -a professione più antica del mondo casa di tolleranza casa chiusa casa di appuntamenti maison cocotte donna di strada donna pubblica donna di vita ragazza di vita venditrice d’amore donna perduta sacerdotessa di Venere

cf. rapports, rapports sexuels, relations intimes cf. coucher avec qn cf. enfant de l’amour homophile plus vieux métier du monde maison de tolérance maison close maison de rendez-vous maison cocotte cf. fille des rues cf. fille publique cf. fille de vie fille de vie cf. marchande d’amour cf. fille perdue prêtresse de Vénus

Körperteile seno posteriore

102

sein postérieur

Weiblicher Lebenszyklus portare un figlio in seno

cf. porter un enfant

Toilettengang und Toilette bisogni necessità intestino pigro vento

besoins nécessités cf. estomac paresseux vent

Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär paese in via di sviluppo uomo forte

pays en voie de développement homme fort

und lexikographischen Mängeln, wie sie in 4.1.1 angesprochen wurden – eine weitgehende Enteuphemisierung durch die Abnützung der euphemistischen Funktion, also eine «Normalisierung» bei den unmarkierten Bezeichnungen. So ist z.B. it. seno in Z markiert, aber nicht fr. sein in PR, obwohl dasselbe semantisch-euphemistische Verfahren dahintersteht. Ähnlich sind auch die folgenden Ausdrücke in Z markiert, ihre französischen Äquivalente in PR jedoch nicht: Die aufgezeigten Vorkommen von in Z markierten Euphemismen und in PR unmarkierten Äquivalenten sind etwa drei Mal so häufig wie der umgekehrte Fall einer Markierungsangabe des PR und keinem Markierungshinweis des Z: Tabelle 13: In PR markierte und in Z unmarkierte Ausdrücke (P + / Z –) PR +

Z–

Sterben und Tod Dieu l’a rappelé à lui s’éteindre malheur

Dio l’ha chiamato a sé spegnersi disgrazia

Krankheiten und andere Einschränkungen handicapé, ée

handicappato, -a

Eigenschaften und Verhaltensweisen personnes âgées troisième âge sui generis

cf. anziano, -a terza età sui generis

Liebes- und Sexualleben faire l’amour abstinent, -ente abstinence violenter abuser

fare l’amore astinente astinenza violentare abusare

Toilettengang und Toilette toilettes

toilette

103

Der Unterschied zwischen den vielen in Z markierten und in PR unmarkierten Bezeichnungen ist gegenüber den wenigen umgekehrten, in PR markierten und in Z unmarkierten Fällen eklatant und geht so Hand in Hand mit der Feststellung, dass das italienische Korpus mit fast der doppelten Anzahl wesentlich mehr markierte Euphemismen als das französische enthält (4.2.1). Die besonders auffallenden Differenzen in den Bereichen «Sterben und Tod» sowie «Liebes- und Sexualleben» zeigen, dass im Französischen (ursprünglich) euphemistisch markierte Ausdrucksweisen zumindest im Sprachbewusstsein der lexikographischen Equipe nicht (mehr) als solche gespeichert sind, sondern als Normalwort empfunden werden, so dass die ursprünglich indirekten Ausdrucksweisen, die vielfach unmarkiert den markierten italienischen entsprechen, als üblicher Ersatz der tabuisierten direkten Ausdrucksweisen lexikographiert sind. (iii) Anderweitige Markierungsangaben im Vergleich Neben der Markierungskennzeichnung als Euphemismus gibt es in Wörterbüchern noch weitere Etiketten, die Hausmann in diachronische, diatopische, diaintegrative, diamediale, diastratische, diaphasische, diatextuelle, diatechnische, diafrequente, diaevaluative und dianormative unterteilt (1989, 651). Hiervon treten bei den in PR und Z markierten euphemistischen Einzelbedeutungen selten (a) weitere Wertungshinweise (nach Hausmann diaevaluative Marker) und häufiger zusätzliche Registerangaben (nach Hausmann diastratische Marker) auf. Beide Kategorien sind im Folgenden zu betrachten, wobei bei Letzteren (b) zum einen der Vergleich zwischen den Korpora beider Sprachen interessiert, (c) zum anderen der Vergleich zwischen der Kennzeichnung des jeweiligen Euphemismus mit der des jeweils ersetzten Ausdrucks. (a) Als Beispiele für Euphemismen mit lexikographisch gekennzeichneter scherzhafter Konnotation seien it. diascolo, professionista del sesso und fondoschiena genannt. (b) Die hohe Anzahl der in den Wörterbüchern soziolinguistisch nicht markierten Euphemismen bestätigt die Aussagen aus 2.2.3, die Euphemismen auf die Verwendung durch die Mittelschicht zentrieren, spiegeln aber auch die lexikographische Berücksichtigung des «neutralen» Sprachgebrauchs dieser Sprecher wider. Unter den auftretenden soziolinguistischen Markierungen fällt auf, dass – mit Ausnahme von fr. l’avoir dans l’os – zusätzlich mit «pop.» (und selten auch mit «volg.»: it. cacchiata, cazzarola und cazzica) markierte Euphemismen nur im italienischen Korpus und hier wiederum besonders im Bereich der Körperteile vorkommen (cavolo, corno, kaiser, tubo; cordoni, scorbellato, zebedei; frescaccia, frescone; ferner comare). Dies kann in dem Sinne zu erklären sein, dass auch noch beim Euphemismus eine starke Distanzierung des kultivierten Italieners gegenüber der direkten Nennung dieser Körperteile vorhanden ist. Mit «fam.» markierte Euphemismen sind in verschiedenen Bereichen des italienischen Korpus zu finden (corpo di bacco; 104

finire di tribolare; capperi!; giramento di scatole, rompere le scatole a qlcu., rompitasche etc.; cose; spandere), während sie im französischen Korpus zwar nicht ausschließlich (cf. saperlipopette; rien à secouer; plutôt; protecteur), aber doch mehrheitlich im Bereich der Körperteile und der Skatologie erscheinen (quelque part, cinq lettres, les casser, se les geler; précautions, besoin pressant, mince!, zut!, emmieller, enquiquiner). (c) Beim Vergleich der Registerangaben der Euphemismen mit denjenigen der jeweils zu vermeidenden Ausdrücke belegen viele Beispiele die gemeinhin vermutete Zuweisung des Euphemismus zu einer gegenüber dem Niveau des zu vermeidenden Ausdrucks höheren Stilebene. So zeigen den Übergang von «volg.» zu «pop.» z.B. it. puttana  lucciola; cazzo  cavolo, kaiser, corno; fregnaccia  frescaccia oder fregnone  frescone, den Übergang von «volg./vulg.» zu «fam.» it. cazzo  cappero, fr. merde les cinq lettres bzw. von «pop.» zu «fam.» it. cazzo  tubo und den Übergang von einer soziolinguistisch markierten Bezeichnung zu einem lexikographisch unmarkierten Euphemismus die «vulg.» markierten Ausdrücke it. ostia! ostrega!, puttana  una di quelle, vaffanculo!  vaffa!, incazzarsi  incavolarsi, incazzatura  incavolatura, minchia  mizzica oder «pop.» markiertes it. per Dio!  perdina! und «fam.» markierte fr. amuse-gueule  amuse-bouche, merde  le mot de Cambronne und  mercredi! Doch ist der Euphemismus als der vorzuziehende Ausdruck nicht immer auf einer höheren Stilebene angesiedelt als der zu vermeidende Ausdruck, so dass zum einen auch der umgekehrte Fall auftritt, in dem Euphemismen soziolinguistisch niedriger markiert sind als das durch sie ersetzte Normalwort. Ein Beispiel aus dem Korpus hierfür ist it. (pop.) zebedei anstelle von unmarkiertem testicoli. Zum anderen finden sich auch Beispiele dafür, dass die Ebene unverändert beibehalten wird, was für den überwiegenden Teil der soziolinguistisch unmarkierten Euphemismen gilt; ferner bleiben innerhalb des «vulgären» Registers z.B. it. cazzata  cacchiata oder fr. l’avoir dans le cul  l’avoir dans l’os und innerhalb des «familiären» Registers fr. merde!  miel!, mince!; emmerder  emmieller, enquiquiner oder engueuler  enguirlander. 4.1.3 Resümee Bei der Darstellung der lexikographischen Praxis im Bezug auf Euphemismen stand nicht die komplexe Frage ihrer Aufnahme ins Lexikon zur Diskussion, die sich angesichts ihrer oft nur vorübergehenden Vitalität und ihres nicht lexikalisierten Status stellt (cf. genauer u.a. Casas Gómez 1989). Vielmehr ging es darum, die in PR und Z inventarisierten und als Euphemismen markierten Ausdrucksweisen im Hinblick auf ihren Stellenwert in der vorliegenden Arbeit unter einem lexikographiekritischen Blickwinkel zu beleuchten. Hierbei ergab sich insbesondere das Problem unsystematischer Markierungsangaben bei Ausdrücken, die unter verschiedenen Lemmata aufgeführt waren, ferner zeigten sich einige Fälle, bei denen die Reichweite einer eu105

phemistischen Markierungsangabe innerhalb der aufgeführten Verwendungsweisen eines Lemmas nicht eindeutig abgegrenzt ist, und solche, bei denen dem Wörterbuchbenutzer die Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen nicht leicht gemacht wird. Abschließend wurde auch die Frage möglicherweise fehlender Markierungsangaben angesprochen (4.1.1). Hinsichtlich der lexikographischen Markierung als Euphemismus im Vergleich der beiden Wörterbücher mit einem jeweils umfassenderen Lexikon der jeweiligen Sprache wird die Schwierigkeit einmütiger Beurteilung innerhalb der Lexikographie einer Sprache offenkundig, obwohl die fehlende (TLF) oder teilweise fehlende (GDLI) Gleichzeitigkeit der Redaktion einige Unterschiede erklären mag. Der Vergleich zwischen PR und Z führt schließlich zu der Feststellung, dass Z semantisch äquivalente, nur in einem der beiden Lexika markierte Ausdrucksweisen etwa drei Mal so häufig mit einer Markierungsangabe versieht wie PR, woraus möglicherweise auf eine breitere Enteuphemisierung im Französischen geschlossen werden kann, d.h. auf eine normal gewordene indirekte Ausdruckswahl. Zudem zeigte die Betrachtung anderweitiger Register- und Wertungsangaben, dass der Euphemismus zwar in mehreren Fällen ein höheres Stilniveau impliziert als der tabuisierte Ausdruck, die Mehrheit der Euphemismen beider Korpora von den Lexikographen soziolinguistisch aber ebenso neutral gewertet werden wie die durch sie ersetzten Ausdrücke (4.1.2).

4.2

Vergleiche zu den von Sprachtabus belegten Themenbereichen der Korpora Je préfère parler de sexe que d’argent. Anonym befragte Pariserin

Nach diesen Anmerkungen zur Behandlung von Euphemismen in PR und Z können die Ergebnisse miteinander und mit den Erkenntnissen von Untersuchungen zu Sprachtabus verglichen sowie durch weitere Thementabus ergänzt werden. 4.2.1 Der euphemistische Ertrag beider Korpora im Vergleich Im Folgenden geht es um den Vergleich der Auslastung der einzelnen Euphemismen-Bereiche in beiden Korpora, dem natürlich die Frage der Vergleichbarkeit der zugrunde gelegten Quellen voranzustellen ist. Dabei ist zunächst auf die jeweilige Makrostruktur beider Lexika zu verweisen, die mit 60 000 Lemmata in PR und 135 000 Lemmata in Z stark divergiert. Weniger unterschiedlich ist allerdings die Zahl der Einzelbedeutungen, auf die sich die Markierungskennzeichnung im Zweifelsfall bezieht, und die in PR mit 300 000 und in Z mit 370 000 angegeben wird (jeweils Buchrückseite). Neben 106

dieser Präzisierung zu den einbändigen lexikographischen Standardwerken sind bei der Evaluierung der im Folgenden zu vergleichenden Daten auch die supra angebrachten Anmerkungen zur Systematik der Markierungskennzeichnung zu berücksichtigen (4.1.1), deren kritische Punkte sich in beiden Lexika in etwa die Waage halten, sowie die Möglichkeit einer unterschiedlich fokussierten Aufmerksamkeit der Redakteure beider Equipes gegenüber Euphemismen, die besonders dann Fragen aufwirft, wenn es darum geht, Rückschlüsse vom Vergleich beider Korpora auf den Vergleich beider Sprachgemeinschaften zu ziehen. Bei sehr enger Interpretation können nur Aussagen zu Unterschieden in der Markierungspraxis beider Lexika getroffen werden, hinter der aber eben auch die metasprachliche Beurteilung der Redakteure beider Nationen steht, die wiederum repräsentativ für die des Standardsprachesprechers sein sollte. Auf dem Hintergrund dieser Anmerkungen ist die nachstehende Tabelle 14 zu betrachten, die die Themenbereiche aus den Korpora quantitativ erfasst und miteinander vergleicht. Tabelle 14: Verteilung der Themenbereiche in den Korpora gesamt Glaube, Aberglaube und Magie Sterben und Tod Krankheiten und andere Einschränkungen Eigenschaften und Verhaltensweisen Liebes- und Sexualleben Körperteile Weiblicher Lebenszyklus Toilettengang und Toilette Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär alle Gebiete

Französisch

Italienisch

Differenz F–I

43

16

13 %

27

12 %

– 11

+1%

55

8

7%

47

21 %

– 39

– 14 %

17

6

5%

11

5%

–5

+0%

32

21

17 %

11

5%

+ 10

+ 12 %

74

21

17 %

53

23 %

– 32

–6%

53

10

8%

43

19 %

– 33

– 11 %

12

6

5%

6

3%

+0

+2%

42

25

20 %

17

7%

+8

+ 13 %

22

10

8%

12

5%

–2

+3%

350

123

100 %

227

100 %

– 109

0

Sie zeigt mit 123 Markierungsangaben in PR gegenüber 227 in Z zunächst einen klaren Unterschied in der Gesamtzahl beider Korpora. Im Vergleich der einzelnen Bereiche betreffen die auffälligsten Unterschiede bei der absoluten Euphemismenanzahl drei «klassische» Gebiete, die auch jeweils die meisten Euphemismen aufweisen. Der größte Unterschied liegt mit 8 : 47 (+ 39) beim Thema «Sterben und Tod» vor, gefolgt von «Liebes- und Sexu107

alleben» (+ 32) und «Körperteile» (+ 33). Das italienische Übergewicht in den ersten beiden Bereichen überrascht zunächst angesichts der hier doch auch im Französischen vorhandenen Vielzahl indirekter Ausdrucksweisen (cf. z.B. die unzähligen Umschreibungen für das Sterben) und kann einerseits damit erklärt werden, dass in PR manche hier zu verortende Euphemismen der französischen Sprache überhaupt nicht aufgenommen sind.10 Andererseits zeigte sich aber auch, dass die französischen Redakteure bei vielen als Äquivalent auch in PR vorhandenen, aber nur in Z markierten Ausdrücken keine Auffälligkeiten mehr sehen (cf. 4.1.2ii), was als mögliche Interpretation nahelegt, dass die entsprechenden direkten Bezeichnungen im metalinguistischen Bewusstsein der italienischen Lexikographen stärker tabuisiert sind, so dass diese einen sprachlich respektvollen (wie bei «Sterben und Tod») oder schamhaft zurückhaltenden («Liebes- und Sexualleben») Umgang mit den Bereichen angemessener erachten als die französischen Lexikographen. Nicht erklärt werden können auf diese Art die quantitativen Unterschiede im Bereich «Körperteile», der im Italienischen die häufige und vielschichtige Verwendung von cazzo(!) oder coglioni(!) aufweist, die bei den Äquivalenten im Französischen fehlt, das daher auch keine dem Italienischen vergleichbare Vielzahl von Euphemismen aufweisen kann bzw. muss, so dass die Interpretation der absoluten und prozentualen Zahlen im Hinblick auf einen zu etablierenden Tabuisierungsgrad hier nicht ohne Berücksichtigung der Frequenz der vermiedenen Ausdrücke erfolgen kann. Bei drei weiteren Themen «Glaube, Aberglaube und Magie» (+ 11), «Krankheiten und andere Einschränkungen» (+ 5) sowie «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» (+ 2) sind die Unterschiede zwischen beiden Sprachen in absoluten Zahlen schon weniger ausgeprägt und lassen nicht unbedingt tendenzielle Schlüsse zu. Aussagekräftig sind vor dem Hintergrund der insgesamt geringeren Anzahl von Euphemismen im französischen Korpus jedoch zweifelsfrei diejenigen Bereiche, in denen dieses trotzdem mehr Euphemismen als das italienische enthält. Diese sind einerseits «Eigenschaften und Verhaltensweisen» (+ 10), ein heterogenes Gebiet, auf dem die unterschiedliche Berücksichtigung von Einzelkategorien mitentscheidend für die französische Dominanz ist, sowie «Toilettengang und Toilette» (+ 8), bei

10

Cf. z.B. cesser de souffrir, fermer les yeux (pour toujours), endormir dans la paix du Seigneur, wie sie sich gegenwärtig in französischen Todesanzeigen finden. Um diesbezüglich weiterführende Interpretationen anstellen zu können, müsste allerdings das gesamte Wortfeld «Sterben» in beiden Sprachen unter Berücksichtigung der heutigen Frequenz der einzelnen Ausdrücke etabliert und seine Berücksichtigung in PR und Z überprüft und verglichen werden. Doch überschreitet dies die Grenzen dieser Arbeit, zumal vorliegende Analysen des Wortfeldes «Sterben» in den hier interessierenden Sprachen (cf. z.B. Grafschaft 1974) keine Auskunft über die aktuelle Frequenz enthalten. Als Beispiel eines Abgleichs zwischen den Aussagen von Wörterbüchern und Muttersprachlern im Englischen cf. Anders (1995, 145–166).

108

dem auf die zahlreichen aufgenommenen Euphemismen zu merde(!) und entsprechenden Ableitungen zu verweisen ist, und das alleine schon dadurch hervorsticht, dass es auch innerhalb des Französischen die meisten indirekten Ausdrucksweisen aufzeigt. Aufgrund der unterschiedlichen absoluten Zahlen ist der Vergleich zwischen beiden Sprachkorpora auch auf der Basis der Prozentzahlen anzustellen. Besonders auffällig ist hier die prozentual beinahe identische Auslastung auf dem Gebiet «Glaube, Aberglaube und Magie» und der minimale bzw. geringe Unterschied im Bereich «Krankheiten und andere Einschränkungen» sowie «Weiblicher Lebenszyklus». Themengebiete mit prozentual deutlich mehr Markierungsangaben im italienischen als im französischen Korpus sind «Sterben und Tod» mit + 14 %, «Körperteile» mit + 11 % und «Liebes- und Sexualleben» mit + 6 %. Umgekehrt sind im französischen Korpus die Bereiche «Toilettengang und Toilette» mit + 13 %, «Eigenschaften und Verhaltensweisen» mit + 12 % und «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» mit + 3 % stärker vertreten. Während die letzten beiden Gebiete sehr heterogen und daher im Vergleich weniger aussagekräftig sind, fallen auch hier wieder das supra schon besprochene Übergewicht der Euphemismen zu «Toilettengang und Toilette» im französischen und von «Sterben und Tod» und «Körperteile» im italienischen Korpus ins Auge. 4.2.2 Sprachtabus als Ergebnisse von Umfragen Nach der soeben erfolgten differenzierten Betrachtung beider Korpora sind die Ergebnisse noch einmal zusammenzufassen, um einen Vergleich zwischen der vorliegenden auf Euphemismen basierenden Untersuchung zu Sprachtabus mit den Ergebnissen von Umfragen zu Tabubereichen anzustellen. Dabei sind in Adaption der Tabelle 14 zunächst die Themenbereiche beider Korpora nach der Anzahl der darin jeweils enthaltenen Euphemismen zu hierarchisieren: Tabelle 15: Hierarchie der Themenbereiche aus den Korpora 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Liebes- und Sexualleben Sterben und Tod Körperteile Glaube, Aberglaube und Magie Toilettengang und Toilette Eigenschaften und Verhaltensweisen Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär Krankheiten und andere Einschränkungen Weiblicher Lebenszyklus

74 55 53 43 42 32 22 17 12

Tabelle 15 zeigt das Übergewicht «klassischer» Tabubereiche, allen deutlich voran «Liebes- und Sexualleben» mit insgesamt 74 Euphemismen. Mit etwas Abstand folgen «Sterben und Tod» sowie «Körperteile» mit 55 bzw. 53 109

Euphemismen, danach «Glaube, Aberglaube und Magie» und «Toilettengang und Toilette» mit 43 bzw. 42 Euphemismen. Insgesamt ebenfalls noch gut vertreten ist der Bereich «Eigenschaften und Verhaltensweisen» mit 32 Euphemismen. Die Aufzählung wird abgeschlossen von dem Gebiet «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» mit 22 Euphemismen sowie einem weiteren Kernbereich der Tabuisierung, «Krankheiten und andere Einschränkungen» mit 17 und dem kleineren Gebiet «Weiblicher Lebenszyklus» mit 12 Euphemismen. Diese Hierarchisierung mag zunächst problematisch erscheinen, da die Bereiche vom begrifflichen Umfang her sehr unterschiedlich sind und z.B. «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» einen sehr weiten Bereich umfasst, der im klaren Gegensatz zur Begrenztheit des Gebietes «Weiblicher Lebenszyklus» steht, doch kann sie dessen ungeachtet als Vergleichsparameter mit anderen Ranglisten von Tabuthemen interessante Ergebnisse liefern. Dafür wurden Arbeiten aus der Psychologie und Soziologie ausgewählt, die auf der Basis von Umfragen im deutschen Sprachraum Thementabus im Blick haben, über die entweder geschwiegen oder gegebenenfalls mit Euphemismen kommuniziert wird, was allerdings nicht explizit thematisiert wird. Im ersten Fall wird der Vergleich helfen, Unterschiede zwischen Wort- und Thementabus aufzuzeigen. Im letzten Fall können (immer unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Kulturraums) die Umfrageergebnisse die euphemistisch relevanten Gebiete der vorliegenden Arbeit ergänzen und ihrerseits durch die vorgenommene Hierarchisierung der Themen nach der Anzahl darin enthaltener Euphemismen sprachwissenschaftlich ergänzt werden, zumal «von der Einstellung zu Tabus [wie sie die Umfrage erbringt] auf Tabus generell» nicht unbedingt geschlossen werden kann (Seibel 1990, 309). Die zehn in Deutschland am meisten tabuisierten Themen enthält eine Hierarchisierung des Psychologen Gasch, die auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorgestellt wurde. Sie basiert auf einer Untersuchung, in der Personen für eine fingierte Hauptstudie mit der Bitte angefragt wurden, anzugeben, für welche Themen sie zur Verfügung stünden, was teilweise Vorteile gegenüber direkten Fragen aufweist wie «Worüber sprechen Sie nicht?» oder auch «Wie schwer würde es Ihnen fallen, über das Thema X zu sprechen?» (Gasch 1987). Gemäß einem Bericht über den Vortrag von Wingen (1987, 12), der ebenso wie die Ausführungen von Gasch (1987) leider keine genaueren Zahlen zur Gewichtung der einzelnen Gebiete enthält, ergab die Studie die folgenden Themen, die wie supra in absteigender Reihenfolge aufgeführt sind: Tabelle 16: Tabuthemen in Deutschland nach Gasch 1. 2. 3. 4.

110

Toilettengewohnheiten Sexualverhalten als Erwachsener Sexualverhalten als Kind Beschämende Vorgänge, Blamagen

5. 6. 7. 8. 9. 10.

Politische Meinungen Phantasien, Tagträume Aggressive Gedanken Menstruation Körperbild Parapsychologie

«Themen wie Drogen, Tod, Religion und Früherfahrungen werden dagegen recht wenig tabuisiert». Im Gegensatz zu amerikanischen Untersuchungen meiden nach Gasch deutsche Frauen Tabuisiertes mehr als Männer, mit Ausnahme von «Weinen als Erwachsener» und «Menstruation», worüber Männer noch weniger sprechen wollen als Frauen. In Australien stellt Gasch eine ähnliche Reihenfolge fest, doch seien dort «Weinen als Erwachsener» und «Krankheiten» erheblich stärker tabuisiert als in Deutschland, was ihn vermuten lässt, dass dort «das Klischee vom ‹harten Mann› wohl noch ausgeprägter ist als bei uns» (nach Wingen 1987, 13). Dabei wird deutlich, dass sich Konversationstabus ebenso auf Handlungstabus wie auf Sachtabus beziehen können. So ist «Weinen als Erwachsener» etwas, das v.a. Männer traditionell weder tun noch thematisieren sollten, während die Menstruation zwar in vielen Gesellschaften ungeachtet ihrer biologischen Notwendigkeit per se tabuisiert ist, im westlichen Kulturkreis aber lediglich das Gespräch über sie unstatthaft erscheint. Im französisch-italienischen Gesamtkorpus sind die von Gasch genannten Themen «1. Toilettengewohnheiten», «2. Sexualverhalten als Erwachsener», «8. Menstruation», «9. Körperbild» und mit fr. bruit incongru auch «4. Beschämende Vorgänge, Blamagen» ausreichend oder teilweise vorhanden, während «3. Sexualverhalten als Kind», «6. Phantasien, Tagträume» und «10. Parapsychologie» fehlen, «7. Aggressive Gedanken» nur bedingt in euphemisierten Flüchen vorkommen und «5. Politische Meinungen» nur im Ansatz vertreten sind, der in fr. je ne suis pas raciste, mais… und den gegebenenfalls auch für den höflicheren Ausdruck politischer Kritik anwendbaren unter 3.2.4 l–q genannten Euphemismen gesehen werden kann. Natürlich lässt sich bei den obigen Themen nicht immer sagen, was die Probanden genau unter ihnen subsumierten, doch unter dem Vorbehalt einer nur intuitiven Inhaltsvorstellung der zehn Bereiche sind im Gesamtkorpus gegenüber der Gaschschen Tabelle noch die darin wohl eher nicht enthaltenen Bereiche «Glaube, Aberglaube und Magie», «Sterben und Tod», «Krankheiten», «Wirtschaft und Arbeit(slosigkeit)» vorhanden (sowie eventuell «Vergewaltigung» und «käufliche Liebe», die bei Gasch aber möglicherweise unter 2 enthalten sind), was als Ergebnis dahingehend interpretiert werden kann, dass über diese Themen grundsätzlich geredet wird, aber eben nicht direkt. Im Hinblick auf die Themenhierarchie der deutschen Untersuchung fällt auf, dass das Gebiet der Toilette, das bei Gasch an erster Stelle steht, im französisch-italienischen Korpus erst an fünfter Stelle zu finden ist. Die erste Stelle nimmt aufgrund der italienischen Euphemismenanzahl im Korpus 111

das «Liebes- und Sexualleben» ein, das bei Gasch mit «2. Sexualverhalten als Erwachsener» auch gleich an zweiter Stelle folgt, wobei im Korpus der Unterbereich der Prostitution mehr als die Hälfte der Euphemismen enthält, während seine Proportionen in der deutschen Umfrage nicht ersichtlich sind. Im französisch-italienischen Korpus folgt darauf der Bereich «Sterben und Tod», dessen Fehlen in der Tabelle des Psychologen Enquête-bedingt sein mag, aber auch bedeuten könnte, dass darüber grundsätzlich gesprochen wird, was auch die alltäglichen Medienmeldungen über Unfalltote, Attentate, Gefallene etc. zeigen, während die zahlreichen sprachlich fassbaren Euphemismen bezeugen, dass v.a. bei persönlicher Betroffenheit häufig das Bedürfnis nach indirekter Ausdruckswahl besteht. Eine weitere Aufstellung von Tabuthemen in Deutschland enthält die soziologische Dissertation von Seibel (1990, 285). Den 82 Befragten wurde die folgende, in einer Voruntersuchung ermittelte Themenliste alphabetisch geordnet vorgelegt, und die Frage gestellt, «welches dieser Themen [ihnen] gleich als erstes einfällt, wenn sie das Wort ‹Tabu› hören, welches als zweites und welches als drittes» (1990, 284). Als Ergebnis wurden die folgenden Prozentzahlen ermittelt: Tabelle 17: Tabuthemen in Deutschland nach Seibel 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Sexualität Inzest Tod/schwere Krankheit Körperbehinderung Nazizeit Gefühle Mord/Töten Vergewaltigung Abtreibung Alkohol/Drogen Katastrophen/Krieg Geld/Vermögen Macht/Einfluss Sauberkeit/Hygiene Aussehen/Figur Religion/Kirche Familie/Herkunft

53 49 25 24 21 17 17 17 15 14 12 11 7 7 3 3 1

% % % % % % % % % % % % % % % % %

Diese Tabelle ist umfangreicher an Themen als die obige, aber auch hier ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob z.B. das euphemistisch im französisch-italienischen Korpus hochrelevante Thema «Toilettengang und Toilette» darin überhaupt vorkommt, es sei denn, es wäre in dem selten genannten Bereich «14. Sauberkeit/Hygiene» eingeschlossen. Im Gegenzug fehlt das nach Seibel stark tabuisierte Thema «2. Inzest» im euphemistischen Gesamtkorpus völlig, was zeigen könnte, dass darüber eher geschwiegen als euphemistisch gesprochen wird. Trotz Übereinstimmungen zwischen dem Tabuisierungsgrad 112

von Themen wie «1. Sexualität» oder dem im Gegensatz zur Gaschschen Untersuchung nun erscheinenden Bereich «3. Tod/schwere Krankheit» bei Seibel und im französisch-italienischen Korpus sind hier gegenüber Seibel neben dem bereits genannten Inzest die Themen «12. Geld/Vermögen» und «17. Familie/Herkunft» sowie die Teilthemen «10. Drogen» und «11. Katastrophen» absent und «6. Gefühle», «7. Mord/Töten», «8. Vergewaltigung», «9. Abtreibung» oder «13. Macht/Einfluss» kaum euphemistisch repräsentiert, was im nächsten Kapitel genauer zu betrachten sein wird. Die eklatanten Unterschiede zwischen den Ergebnissen beider Untersuchungen zeigen, wie sehr die Ergebnisse von der Art des Forschungsinteresses abhängen. Zusammen mit der Begrenzung dieser Studien auf den deutschsprachigen Raum legte diese Einsicht die Durchführung einer spontanten eigenen Umfrage unter Franzosen und Italienern nahe, die natürlich nicht repräsentativer sein kann als die Umfragen der Soziologen, dafür aber im Sinne dieser Arbeit sowohl euphemistisch relevante Kernbereiche als auch den französisch-italienischen Vergleich im Blick hat. Hierfür wurden im Frühjahr 2006 sechzig nach Alter, Geschlecht, Beruf und Religion differenzierte Einwohner Roms und im Herbst 2006 ebenso ausgewählte Bürger der französischen Hauptstadt direkt befragt. Anders als das Verteilen eines schriftlichen Fragebogens erlaubte dies Nachfragen und Präzisierungen, in denen sich die einer Fremden gegenüber eingenommene Haltung zu den Tabuthemen direkt zeigte. Tabelle 18: Hierarchie bestimmter Tabuthemen in Frankreich 1. Sexualität 2. Geld 3. Probleme im Privatleben 4. Krankheiten 5. Religion 6. Politik 7. Tod 8. Arbeit

21 23 12 8 4 2 2 2

♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂

24 20 11 7 3 3 2 1

♀ ♀ ♀ ♀ ♀ ♀ ♀ ♀

Auf die Fragen «Parlez-vous ouvertement de politique?», «… de religion?», «… de la mort?», «… de vos maladies?», «… des problèmes de votre vie privée?», «… de votre travail?», «… de votre vie sexuelle?», «… d’argent?» gaben sieben Personen an, nicht offen über das Thema «Religion» (7) zu sprechen, zwei Männer und eine Frau unter ihnen waren Moslems. Die muslimischen Männer und drei weitere Personen meinten auch, das Thema «Politik» (5) nicht offen anzusprechen, und begründeten dies z.B. mit den Worten: «Les gens que je rencontre sont de droite et moi, je suis plutôt de gauche». Nur drei Personen, unter ihnen ein derzeit Arbeitsloser, verneinten, offen über ihre «Arbeit» (3) zu sprechen, und nur vier tendenziell ältere Personen zeigten Schwierigkeiten im offenen Umgang mit dem Thema «Tod» (4). Dagegen gaben 15 Probanden eigene «Krankheiten» und 23 «Probleme 113

im Privatleben» als prinzipielle Tabuthemen an, die bestenfalls im engsten Freundeskreis angesprochen werden: «Avec mes meilleurs amis je parle de mes problèmes, mais surtout pas au travail». Mit insgesamt 45 Personen am besten vertreten ist aber das Gebiet «Sexualität», zu dem erklärt wird: «J’en parle exclusivement avec mon petit copain», «c’est un sujet privé, trop intime, trop personnel», «un sujet qui me met mal à l’aise», «c’est très mal vu dans ma religion d’en parler» (muslimische Frau), «famille catholique, donc on evite d’en parler», «mon éducation ne me permet pas d’en parler». Direkt auf die Sexualität folgt mit insgesamt 43 Nein-Stimmen der Bereich «Geld», «à cause des connotations: matérialisme, égocentrisme, jalousie», «parce que c’est mal vu d’en parler», «ça fait superficiel, c’est pas intéressant», «c’est un sujet trop délicat», «ça ne m’intéresse pas du tout», «parce qu’il faut jamais demander à un Français combien il gagne». Eine Pariserin erklärte sogar: «Je préfère parler de sexe que d’argent». Tabelle 19: Hierarchie bestimmter Tabuthemen in Italien 1. Sexualität 2. Krankheiten 3. Probleme im Privatleben 4. Tod 5. Geld 6. Politik 7. Religion 8. Arbeit

20 7 5 4 3 1 1 0

♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂

27 ♀ 5♀ 3♀ 3♀ 3♀ 2♀ 1♀ 1v

Bei den befragten Römern ergaben die Fragen «Parla apertamente di politica?», «… di religione?», «… della morte?», «… delle Sue malattie?», «… dei problemi della Sua vita privata?», «… del Suo lavoro?», «… della Sua vita sessuale?», «… di soldi?» eine im Vergleich zur Pariser Umfrage unwesentlich größere Tabuisierung der «Sexualität» (47), die bei den Befragten beider Hauptstädte den ersten Platz der Rangliste einnimmt, was insofern auch Enquête-bedingt ist, als die hier wie bei den Bereichen «Krankheiten» sowie «Probleme im Privatleben» besonders häufig aufgetretenen abwägenden Antworten wie «dipende dalla persona con cui parlo», «dipende dall’interlocutore», «dipende da chi mi ascolta», als prinzipielles «Nein» gewertet wurden, da sie zwar eine auf bestimmten Kontexten vollzogene Enttabuisierung dokumentieren, nicht aber einen bedingungslos freien Umgang mit den Themen. Weniger tabuisiert als bei den französischen Probanden erscheinen bei den italienischen die Gebiete «Krankheiten» (12) und «Probleme im Privatleben» (8), wobei hier wie bei den Franzosen die Antwort natürlich davon abhängt, ob überhaupt gravierende private Probleme oder Krankheiten vorliegen, die die Befragten verschweigen wollen. So dachte ein Befragter, der auf die Frage der Thematisierung von Problemen im Privatleben mit «Sì» antwortete, an die häusliche Arbeitsverteilung zwischen ihm und seiner Gattin; während sich bei einem anderen, der «No» wählte, 114

herausstellte, dass er den Drogenkonsum des eigenen Sohnes im Blick hatte. Eigene Krankheiten nicht zu tabuisieren, sagten wiederum viele jüngere Probanden aus, bei denen nicht mit allzu tabuisierungsbedürftigen Leiden zu rechnen ist. Mit sieben Nein-Stimmen wurde das offene Sprechen über «Tod» (7) in Rom häufiger genannt als in Paris, während v.a. «Religion» (2), aber auch «Politik» (3) und «Arbeit» (1) seltener angegeben wurden. Eine eklatante Diskrepanz zwischen Tabuisierungsgraden zeigte hingegen das Thema «Geld» (6), das sich auch nach Nachfragen sowohl im Hinblick auf den Geldwert des eigenen Besitzes als auch auf das eigene Einkommen fast durchweg als akzeptierter Gesprächsstoff der Römer bewies. Diese Anmerkungen zu einer Studie, die nur Pilotcharakter haben kann, deuten bereits an, wie komplex eine solide Untersuchung zu Tabus angelegt sein müsste, die nicht nur jeden Teilaspekt der weit gefassten Begriffe einzeln abfragen und kategorisieren sollte (z.B. abweichende religiöse Überzeugungen und Praktiken als Teilaspekte der Religion oder psychische Leiden und Geschlechtskrankheiten als Teilaspekte von Krankheiten), sondern gleichzeitig berücksichtigen müsste, welche Rolle diese Teilaspekte für den Sprecher haben (z.B. häufiger Kontakt mit Anhängern von Minderheitenreligionen, eigene Kritik an der Mehrheitsreligion, Vorliegen akuter schwerwiegender eigener Erkrankungen). Gleichzeitig wäre eine Matrix von Diskursanlässen (z.B. im Hinblick auf das Thema Tod u.a. Trauerrede und Kondolenzschreiben, Besuch oder eigener Aufenthalt im Krankenhaus, aber auch Mitteilung von Kriegsgeschehnissen, Straßenunfällen und Filminhalten) und Gesprächspartnern (z.B. Gespräch mit dem Partner, mit Eltern, mit Freunden, Arbeitskollegen, Unbekannten, mit Ausländern,11 mit dem Arzt oder Pfarrer), deren Alter und Geschlecht zu erstellen, und jeder Teilbereich unter Berücksichtigung der konkreten Lebenssituation des Probanden in jedem Verwendungskontext einzeln zu betrachten. Eine solche in verschiedenen Ländern durchzuführende repräsentative Studie ist sicherlich nicht einfach zu realisieren, könnte aber unzweifelhaft wertvolle Feinheiten im Kontinuum der Thementabus herausarbeiten, wie sie dann auch im Hinblick auf den Umgang mit Kommunikationspartnern fremder Kulturen zu vermitteln sind.

11

Sofern Personen befragt werden, die Erfahrungen mit mindestens zwei Kulturkreisen haben und sich speziell zu Themen äußern können, die im Gespräch zwischen diesen beiden Kulturen nicht sorglos angeschnitten werden, ermöglicht diese Differenzierung es dann auch, interkulturelle Tabus zu beschreiben, wie sie auf den Raum zwischen zwei bestimmten Kulturen begrenzt sind (cf. z.B. zur deutschpolnischen Kommunikation im Ansatz Trad 2001).

115

4.2.3 Weitere Aufstellungen zu Euphemismen Die bisherigen Ausführungen und insbesondere 4.1.1iv verdeutlichen die eigentlich selbstverständliche Einsicht, dass die Korpora zwar einen möglichst umfassenden Einblick in den in Standardlexika grundsätzlich berücksichtigungsfähigen französischen und italienischen Euphemismenbestand vermitteln, diesen aber natürlich nicht erschöpfend darstellen können. Dabei ist es auch weder Ziel der Arbeit noch grundsätzlich möglich, eine exhaustive Inventarisierung von Einzelausdrücken zu erstellen, wohl aber wird ein kurzer Blick auf einige in den Korpora nicht vertretene Bereiche das Gesamtbild von euphemistisch relevanten Tabuthemen in der französischen und italienischen Kultur abrunden12 und dabei gleichzeitig eine wertende Betrachtung der in Kapitel drei dargestellten Gebiete erfolgen. In den Korpora nicht berücksichtigt sind Tabus im Umgang mit anderen Religionen, wie sie im christlich geprägten Europa im Hinblick auf das Judentum gut bekannt sind und inzwischen mutatis mutandis auch auf den Islam ausgeweitet werden. Die dennoch vergleichsweise gute Repräsentanz des Tabugebietes «Glaube, Aberglaube und Magie» (3.2.1) ist durch meist christlich motivierte Euphemismen mit langer Tradition begründet, weniger in ihrer aktuellen Bedeutung, deren Nachlassen nicht zuletzt in den zahlreichen Markierungen einzelner Ausdrücke als «vieilli» dokumentiert ist. Dabei fällt auf, dass der engere Bereich des Aberglaubens im Gesamtkorpus mit Ausnahme einer Bezeichnung des Wiesels ganz fehlt, was bestätigt, dass, trotz weiterhin verbreiteter abergläubischer Verhaltensweisen (cf. supra p. 8 n. 9), auf derartigen Vorstellungen basierende Versprachlichungsstrategien deutlich zurückgegangen sind. Im Bereich «Sterben und Tod» (3.2.2) sind in den Korpora zahlreiche euphemistische Kategorien berücksichtigt, im Hinblick auf ihre hohe Tabuisierung aber noch Unterbereiche wie «aktive und passive Sterbehilfe» zu ergänzen, den z.B. Merle nennt (1993, 9), ebenso «(heimliche) Abtreibung» (nur die Abtreibungsklinik ist vorhanden) oder «Freitod», zu dem z.B. Balle festhält, dass «Selbstmord ein hochtabuisiertes Thema» bei den Franzosen ist (1990, 90).13 Ferner ist an den Bereich «Leichnam» zu denken, zumal PR 12

13

Die Hinweise entstanden durch einen vorsichtigen, jeweils unter Berücksichtigung der Anwendbarkeit auf das Französische und Italienische erfolgten Abgleich mit Aufstellungen zu Euphemismen in anderen Sprachen, wie den englischen Euphemismenwörterbüchern von Rawson (1995), Holder (1995) und Bertram (1998) mit thematischem Wortindex sowie den spanischen von Rodriguez Estrada (1990) und Lechado García (2000); ferner durch Sichtung der französischsprachigen Aufstellungen insbesondere von Merle (1993) und Santini (1996) sowie allgemein der in Kapitel 5 herangezogenen Literatur. In diesem Zusammenhang zitiert sie aus einer Untersuchung: «Ce refus de vivre, massivement exprimé, est totalement occulte dans la société française. On n’en fait plus des romans. Les médias n’en parlent que lorsqu’il vient clore le destin d’une star. La courbe du taux de suicide n’a jamais été objet d’un débat publique.

116

s.v. cadavre vermerkt, «ce mot est brutal et on lui préfère souvent corps», und z.B. fr. dépouille (mortelle) oder it. spoglie mortali (cf. auch dt. sterbliche Hülle) durchaus euphemisierend wirken. Unzählige Einzelbeschwerden sind auf dem Gebiet «Krankheiten und andere Einschränkungen» (3.2.3) zu ergänzen, die z.B. die Bezeichnungen der Aids-Krankheit betreffen mögen (cf. infra p. 186) und stärker noch «Läuse, Pilze und Hämorrhoiden», die von Wrobel (2003) bei ihrer Betrachtung des Umgangs mit Tabuthemen in der Online-Produktwerbung gewählten Leiden, die zur Genesung Entlausungspräparate, Antimykotika und Präparate gegen Hämorrhoidalleiden nahelegen. Im weiten Bereich «Eigenschaften und Verhaltensweisen» (3.2.4) ist thematisch z.B. noch an durch Kosmetika oder auch durch Operationen erfolgte «Schönheitskorrekturen» zu denken und v.a. an kriminelle Taten wie «Diebstahl», «Betrug» oder «Körperverletzung» (nur «Mord» ist in it. eliminare, mandare sottoterra, mandare a Patrasso vorhanden), an Laster wie «Lügen», «Hochmut und Arroganz», «Schmeichelei», «Angeberei», «Spielsucht und Spielbetrug», «Geiz», «Feigheit», auch «Völlerei». Nur das «über den Durst Trinken» ist einmal für das Italienische (cf. it. sacrificare a Bacco) erwähnt, was aber den Großbereich «Drogen- und Alkoholkonsum» nur beschränkt abbildet. Unberücksichtigt sind ferner Euphemismen, wie sie in beiden Ländern nicht nur in der Diskussion um die Ausgestaltung des Unterrichtswesens zur Bezeichnung «minderentwickelter Intelligenz» häufig fallen, sondern auch vieles, was im weitesten Sinne dem Bereich «Bildungsnotstand» zuzuordnen ist, darunter auch «Analphabetismus». Im Bereich «Liebes- und Sexualleben» (3.2.5) ist noch auf Unterbereiche wie «Empfängnisverhütung, insbesondere Kondome», «uneheliche Zeugung und Bastarde», «Betrug und Gehörnte», «Impotenz», «Unfruchtbarkeit», «Sterilisation», «Libidoverlust», «Erektion und Ejakulation», «Bi- und Transsexualität» oder «Pädophilie» und «Stalking» hinzuweisen; auf dem Gebiet «Körperteile» (3.2.6) ganz generell auf «Nacktheit», im weiteren Bereich der Körperlichkeit aber auch auf «Transpiration und Körpergeruch», «Mundgeruch», «Blähungen», «Fettleibigkeit», «Hautunreinheiten» und «Falten», deren Versprachlichung auch Gegenstand der Überlegungen von Marketingstrategen ist; auf dem Gebiet «Weiblicher Lebenszyklus» (3.2.7), zumal nach der berücksichtigten «Jungfräulichkeit», auf eine Unterkategorie wie «Defloration», aber auch auf «Geburt» und v.a. «Fehlgeburt» sowie auf das besonders aktuelle Thema «künstliche Befruchtung» bzw. – mit mehr Sensibilität für die zunehmende Anzahl der Betroffenen – «außerkörperliche

‹Intime, bouleversante, gênante, c’est une affaire qui donne trop de remords›, explique le sociologue Jean-Claude Chesnaies» (Remy 1987, 29). DAF nennt markiert se détruire ‘se donner la mort’, das in PR unmarkiert bleibt; Boulanger das in Anlehnung an IVG für den Schwangerschaftsabbruch gebildete interruption volontaire de vieillesse (2000, 322).

117

Befruchtung». Ein wichtiger Unterbereich von «Toilettengang und Toilette» (3.2.8) ist sicherlich «Diarrhöe», aber auch das Thema «Inkontinenz», das wiederum insbesondere in der Werbung für mit ihm in Verbindung stehenden Produkten eine hohe euphemistische Relevanz hat, wie es sich erneut bei Wrobel (2003) zeigt, die neben der Vermarktung der supra genannten Präparate auch diejenige von Hygieneartikeln bei Menstruation und Inkontinenz analysiert. Im Hinblick auf das Gebiet «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» (3.2.9) fällt gerade angesichts der vielen, in den Medien ausführlich berücksichtigten Fälle von unerlaubten Preisabsprachen, feindlichen Übernahmen, sozialen Unruhen oder Mißachtungen des Umweltschutzes auf, dass davon in den Korpora nichts erscheint. Absent sind ferner die Bereiche «Gefängnis und Strafvollzug» (cf. nur it. operatore carcerario), «Polizei», «Spionage und Spionageabwehr» oder «Folter». Auch die Tendenz, die Bezeichnung der beruflichen Stellung aufwertend zu ändern, ist als Phänomen viel weiter verbreitet, als es die zwei Beispiele aus den Korpora bezeugen, und ebenso wären Ergänzungen bei den Umschreibungen wenig prestigereicher Tätigkeiten und den häufig einer sprachlichen Unternehmenspolitik entsprechenden möglichst neutralen oder positiv konnotierten vagen Ausdrücke für «Kündigungen» denkbar (cf. nur fr. restructuration). Der euphemistisch hochrelevante Bereich «Bestechung» ist nur in it. dazione berücksichtigt, der Komplex «Mafia» nur in uomo d’onore bzw. uomo di rispetto, das Gebiet «Schwarzarbeit» fehlt. Nicht zuletzt ist an das in Tabelle 18 und 19 gut platzierte Thema «Geld» zu denken, das sowohl im Falle von Armut (cf. 5.4.1.4i), als auch bei der Benennung von Reichtum (cf. 5.4.2.1iii) kein unbelasteter Gesprächsgegenstand ist. 4.2.4 Resüme Der Vergleich beider Korpora zeigt im insgesamt umfassenderen italienischen Korpus ein sowohl in absoluten als auch prozentualen Zahlen klares Übergewicht an Euphemismen in den Bereichen «Sterben und Tod», «Liebes- und Sexualleben» sowie «Körperteile», was v.a. im zuletzt genannten – unter Berücksichtigung der in beiden Sprachen teilweise unterschiedlichen Frequenz entsprechender direkter Ausdrücke – vorsichtig auf eine stärkere Tabuisierung der jeweiligen Bereiche im Bewusstsein der italienischen Lexikographen schließen lässt. Das in PR generell und auch im Vergleich mit Z dominante Gebiet euphemistischer Markierungsangaben ist «Toilettengang und Toilette» (4.2.1). Insgesamt zeigen die Korpora ein Übergewicht im Bereich «Liebes- und Sexualleben», auf den mit etwas Abstand die Gebiete «Sterben und Tod» und «Körperteile» sowie mit weiterem Abstand «Glaube, Aberglaube und Magie» und «Toilettengang und Toilette» folgen. Ebenso wie bei den Euphemismen der Korpora dominiert auch in zwei Umfragen unter Deutschen zu themati118

schen Tabus das Sexualverhalten, doch variiert hier die Platzierung zentraler Bereiche wie «Toilettengewohnheiten», «Krankheit» und «Tod» fast ebenso stark wie die Berücksichtigung weiterer Themen. Gründe hierfür mögen in unterschiedlichen Probandengruppen liegen, aber auch an der Auswahl und Kategorisierung der zu untersuchenden Bereiche. Die Einsicht in die Individualität solcher Untersuchungen legte eine eigene auf euphemistisch relevante Kernbereiche sowie den französisch-italienischen Vergleich fokussierte Umfrage nahe, in der sich wiederum bei Franzosen wie Italienern die Sexualität als größtes Tabuthema erwies, während das bei den Franzosen zweitplatzierte Gebiet des Geldes bei den Italienern erst an fünfter Stelle folgte (4.2.2). Abgerundet wurde das Gesamtbild zum Tabu durch die Nennung weiterer, in den Korpora nicht euphemistisch repräsentierter Tabugebiete (4.2.3).

4.3

Zum Kontinuum der Arten euphemistischer Neuperspektivierung Omne ignotum pro magnifico est. Cornelius Tacitus

Die folgende Einteilung ist ein Versuch, die in den Korpora auftretenden Euphemismen unter dem Gesichtspunkt der Arten von Modifikation und Substitution des tabuisierten Ausdrucks zu ordnen. Ordnungskriterien sind für die Gliederung des jeweiligen Sprachmaterials einzelner Untersuchungen immer wieder vorgestellt und appliziert worden14 und finden sich auch in allgemeinen Nachschlagewerken,15 doch wird jedes Korpus neue Aspekte bringen, so dass eine konsensfähige Gliederung noch nicht so bald möglich sein wird. Um aber zumindest eine Annäherung an eine solche zu ermöglichen, werden im Folgenden (soweit sinnvoll16 und klar gekennzeichnet) auch solche Möglichkeiten des indirekten Ausdrucks berücksichtigt, die sich in den Korpora nicht finden bzw. finden können.

14

15 16

Cf. u.a. Nyrop (1913) und Ullmann (1969, 262ss.) zum Französischen, Galli de’ Paratesi (1964), Widłak (1970) und Radtke (1980) zum Italienischen, Guérios (1979) zum Portugiesischen, Casas Gómez (1986a, 1986b) zum Spanischen, Luchtenberg (1975) und Rada (2001) zum Deutschen, Zöllner (1997 – ohne eigenes Korpus) zum Deutschen und Englischen. Cf. u.a. Dietl (1996) in HWR, Flury (1998) in DNP und Burridge (2006a) in ELL. So erfolgen die Ergänzungen v.a. unter 4.3.1 und 4.3.2.1, wo im Sinne der Übersichtlichkeit zwar nicht alle Einzelfälle berücksichtigt werden, wie sie z.B. den in n. 14 genannten Untersuchungen zu entnehmen sind, wohl aber eine Abrundung des Gesamtbildes angestrebt wird. Letzteres kann nicht Ziel der Arbeit bei den unter 4.3.2.2 behandelten indirekten Ausdrucksweisen sein, die soziopragmatische Aspekte der Morphosyntax betreffen und in anderen Studien gesondert unter dem Stichwort sprachlicher Höflichkeit betrachtet werden.

119

Dabei sind die Kategorien unabhängig davon zu sehen, dass jede Aussage im entsprechenden Kontext euphemistische Wirkung erzielen kann, so z.B. gegebenenfalls «siamo in Italia» im Hinblick auf einen unfreiwilligen Urlaub auf dem heimischen Balkon.17 V.a. aber sind sie Teil eines Kontinuums und (wie üblicherweise, cf. z.B. Burridge 2006b, 456) nicht exklusiv zu verstehen, da einzelne Euphemismen durchaus mehr als einer Kategorie zugeordnet werden bzw. durch die Anwendung zweier oder mehrerer Verfahren gebildet sein können, worauf in besonders prominenten Fällen verwiesen wird. Ferner ist zwischen den beiden Polen des formalen und semantischen Ersatzes eine Übergangszone anzunehmen, in der sich einerseits auf formalem Ersatz beruhende, andererseits aber auch eine – wenn auch nicht immer sinnvoll erscheinende – semantische Neuperspektivierung anbietende Euphemismen finden. Nicht zuletzt werden die Ausführungen zeigen, ob bestimmte Arten der Neuperspektivierung in einem der beiden Korpora oder in einzelnen semantischen Bereichen überwiegen.18

17

18

Cf. auch Leinfellner: «‹Dies ist rot› ist ein Euphemismus z.B. in folgender pragmatischer Situation: stellen wir uns vor, daß ein kleines Kind sich ein rotes Kleid gewünscht hat, und stattdessen ein rotbraunes erhalten hat. Um es zu trösten, sagen wir euphemistisch: ‹Dies ist (ja) rot›» (1971, 75). Ein anderes Beispiel ist die kontextgebundene Verwendungsweise von tomorrow, das nach Brown/Levinson im Satz «Come again tomorrow and I’ll have it fixed» z.B. in der mexikanischen Welt euphemistisch ‘in a few days’ bezeichnet (1987, 177), was an eine Stelle aus Carlo Levis Cristo si è fermato a Eboli erinnert, wo dem entsprechenden crai im beschriebenen Süditalien die Bedeutung ‘niemals’ zugesprochen wird: «L’altra parola, che ritorna sempre nei discorsi è crai, il craslatino, domani. Tutto quello che si aspetta, che deve arrivare, che deve essere fatto o mutato, è crai. Ma craisignifica mai» (1990, 163). Die Interpretation ist im Einzelfall höchst schwierig und kann individuell auch verschieden ausfallen, so z.B. bei dem auf dem Hintergrund einer Mondlandschaft gedruckten Werbeslogan «Aucun chef de marque ne devrait oublier que les hommes rêvent», bei dem K. Lehmann rêver als Euphemismus für être dans la lune ‘manquer de réalisme’ interpretiert. Dass die Wertung eines Ausdrucks als Euphemismus in unzähligen Fällen vor dem Hintergrund der politischen Überzeugung des Sprechers bzw. seiner individuellen Einschätzung der Sachlage ausfällt, illustriert das folgende Beispiel, in dem Pasolini eine Aussage des damaligen italienischen Präsidenten kritisiert, «in cui l’Italia viene presentata come un Paese ingiustamente considerato di ‹serie B›», indem er ausführt, «l’espressione calcistica non è che un eufemismo. L’Italia […] è un paese ridicolo e sinistro» ([1975] 2003, 131). Um die Erstellung der Tabelle 18 durchsichtig zu gestalten, wird im Anschluss an die einzelnen Ausdrücke immer auch auf ihr Vorkommen in 3.2 hingewiesen. Da die Auswertung sinnvollerweise nur auf der jeweils ersten, in runden Klammern angegebenen Zuordnung eines Ausdrucks basieren kann, erfolgt die Notierung des Unterkapitels in eckigen Klammern, wenn der entsprechende Ausdruck bereits einer Kategorie von 4.3 zugeordnet wurde.

120

4.3.1 Formale Modifikationen des Signifikanten Von den folgenden (rein bis primär) formalen Entstellungen des tabuisierten Ausdrucks sind vor allem Flüche und andere religiös motivierte Interjektionen betroffen. Hinzu kommen einige wenige Euphemismen (wiederum vorwiegend Interjektionen) aus den Bereichen «Körperteile» und «Skatologie», bei denen die Abgrenzung zu den unter 4.3.2 dargestellten Ersatzmodi nicht strikt durchzuführen ist und auch eine Frage der Interpretation bleibt. 4.3.1.1 Kürzung Eine Möglichkeit der indirekten Äußerung liegt in der vollständigen oder teilweisen Reduktion des tabuisierten Ausdrucks. Rawson bringt die dahinter stehende Motivation auf den Punkt, wenn er lakonisch feststellt, «bad words are not so bad when abbreviated» (1995, 11).

(i) Ellipse Die radikalste Art, das tabuisierte Wort zu vermeiden, ist seine komplette Auslassung. In der konkreten Rede ist hier die Aposiopese zu nennen, d.h. der bewusst so vollzogene Abbruch einer Äußerung, dass er es dem Adressaten erlaubt, das Ausgelassenene zu ergänzen und damit die Äußerung insgesamt richtig zu verstehen. Als Euphemismen treten diese Aposiopesen bzw. Formen der réticence19 oder reticenza20 in Form von Pausen (im Gesprochenen) oder – eventuell durch Punkte oder anders gefüllte – Leerstellen (im Schriftlichen)21 v.a. bei besonders starken Tabus auf.22 Lexikographisch können solche Satzabbrüche natürlich nicht erfasst werden, zumal sie nur in der kontextuellen Einbindung zu verstehen sind.

19

20 21

22

Die Definition in PR zu fr. aposiopèse als ‘interruption brusque d’une construction, traduisant une émotion, une hésitation, une menace’ (s.v.) lässt die Bedingung der Ergänzungsmöglichkeit noch nicht durchscheinen, wohl aber die Definition zu fr. réticence, auf das unter aposiopèse verwiesen wird: ‘omission volontaire d’une chose qu’on devrait dire’, ‘figure par laquelle on interrompt brusquement la phrase, en laissant entendre ce qui suit’ (s.v.). Unter it. aposiopesi verweist Z nur auf reticenza ‘figura retorica consistente nell’interrompere il discorso lasciando però intendere ciò che non si dice’ (s.v.) Zu Beispielen aus der Literatur cf. z.B. Galli de’ Paratesi, die aus Svevo («Perché sei una...» [prostituta]) zitiert (1964, 30; 1969, 40), oder Widłak, der u.a. Auszüge aus Manzoni («casa del...» [diavolo]) und Verga («corpo di!...» [Dio]) bringt (1970, 66s.). Cf. Galli de’ Paratesi: «Questo procedimento è tipico per oggetti fortissimamente interdetti, la cui menzione è comunque sgradevole: quindi di parole oscene sessuali o scatologiche» (1964, 30; 1969, 40) oder Widłak: «Il apparaît [...] partout là où l’interdiction est particulièrement forte» (1970, 66). Zur Aposiopese cf. auch Luchtenberg (1975, 312), die den Terminus «Nulleuphemismen» erörtert und vorzieht.

121

In dem an dieser Stelle interessierenden Bereich des lexikographierten oder lexikographierbaren Wortschatzes ist daher nur die Auslassung des oder der tabuisierten Teile komplexer Lexien zu nennen. Diese spielt traditionell bei der Bildung von Fluchwörtern eine Rolle und fand hier ihren Ursprung wohl im tabuisierenden Satzabbruch vor fr. Dieu oder it. Dio (fr. jarni!, it. poffare!); außerdem bei tabuisierten Interjektionen aus dem Bereich Toilette bzw. Körperteile (it. vaffa!). Während u.a. Nyrop auch hier von Euphemismen «per silentium» (1913, 263) oder euphemistischer Ellipse (1913, 262) spricht, verwendet Blank, der den formalen Vorgang semantisch betrachtet, bei der Reduktion mehrgliedriger Ausdrücke generell den Terminus Absorption, der unterstreichen soll, «[…] daß der elliptische Wandel zu einem normalen Verfahren des Bedeutungswandels durch Bezeichnungsübertragung wird [...]. Man kann sagen, daß ein einfaches Lexem die Bedeutung einer komplexen Lexie, an deren Bildung es beteiligt war, ‹absorbiert›» (1997, 291s.).23

Doch geht es Blank um Bedeutungswandel als historischem Vorgang, der zu einem lexikalisierten Ergebnis führt. Bei euphemistischen Ellipsen liegt indessen keine Absorption vor, sondern das formale Weglassen eines nicht absorbierten, da latent präsenten tabuisierten Ausdrucks. Es handelt sich um vitale Ellipsen, deren Präsenz im Sprachbewusstsein eine Grundbedingung für ihre (auch lexikographische) euphemistische Markierung ist (cf. 4.1.1iii). Demgegenüber sind tote Ellipsen, bei denen die einen Bedeutungswandel abschließende Absorption tatsächlich vorliegt, lexikalisierte Erscheinungen, die zu einer historischen Betrachtung gehören; z.B. denkt der Sprecher z.B. bei fr. coupé < fr. carrosse coupé und v.a. bei it. strada < lat. via strata nicht mehr an carrosse bzw. via. Bei den Interjektionen aus den Korpora ist die Präsenz der ausgelassenen tabuisierten Ausdrücke hingegen wiederum evident: fr.

nom!  nom de Dieu! (3.2.1)

it.

poffare!  può fare Dio! (3.2.1)

vaffa!  va a fare in culo! (3.2.6)

Besonders bei dem französischen Beispiel wäre eine Interpretation als Generalisierung (4.3.2.1i) ebenfalls denkbar, ferner auch von nom (de Dieu)

23

Blank wählte den Terminus Absorption nach eigenen Angaben (1997, 291) in Anlehnung an Darmesteter und Nyrop. Während der Ausdruck bei Letzterem ebenso wie bei Blank im Kontext der Ellipse verwendet wird: «De cette manière un mot absorbe, pour ainsi dire, les mots environnants» (1913, 58), gebraucht ihn Ersterer zur Benennung der partikularisierenden Synekdoche, die er folgendermaßen unterteilt: «Le déterminant absorbe le déterminé» (1925, 55) und «Le déterminé absorbe le déterminant» (1925, 57). Somit beschreibt Darmesteter die Synekdoche als eine Art von Ellipse bzw. lexikalische Absorption, wobei in all seinen Beispielen das Hyponym formal mit einem Teil des Hyperonyms identisch ist, was die Voraussetzung für die Möglichkeit dieser Gleichsetzung darstellt.

122

als Teil des Ganzen (Dieu), doch spricht die stellvertretende Funktion des Namens für den Namensträger dagegen (cf. 5.1.1), die schon nom de Dieu als metasprachliche Umschreibung erklären lässt. (ii) Aphärese und Apokope Bei den folgenden (auch kontrahierten) Euphemismen wird der tabuisierte Ausdruck nicht vollständig ausgelassen, sondern nur selbst gekürzt (oder auch im insgesamt gekürzten Ausdruck formal beibehalten), was in manchen Fällen durch Aphärese erfolgt, fr.

cré nom de nom!  sacré nom de Dieu! (3.2.1)

it.

urca!  porca miseria!24 (3.2.4)

24

tudieu!  vertudieu!  par la vertu de Dieu! (3.2.1)

während in anderen Fällen das tabuisierte Wort durch Apokope entstellt wird: fr.

pardi!  par Dieu! (3.2.1)

(iii) Weiteres Um den Vergleich beider Korpora zu ermöglichen, basiert die vorliegende Gliederung – wie supra erwähnt – auf den hier angetroffenen Mechanismen. Im Sinne einer Gesamtschau sei an dieser Stelle aber auch auf einige weitere Kürzungsverfahren verwiesen: So kann die Entstellung des tabuisierten Ausdrucks durch Akronymbildung erfolgen. Eine Leseabkürzung zur Beschreibung sozialer Realität ist z.B. engl. snafu ( situation normal, all fucked up), eine Buchstabierabkürzung aus dem Bereich der Toilette fr. WC [vese] ( water closet), aus jenem der Armut HLM [aʃεlεm] ( habitation à loyer modéré; dann auch in der Graphie achelem) und – mit beibehaltener Endung (nach Radtke 1980, 214) – fr. estéeuse für s(trip)t(eas)euse. Eine buchstabierende Aussprache (allerdings ohne Kürzung) in Verbindung mit einer phonetischen Graphie des tabuisierten Wortes liegt bei dem französischen Wort céoène vor, mit dem das «mot trivial con» vermieden werden soll (Grevisse/Goosse 2008, 13 – R3,3); eine buchstabierende Aussprache der ersten beiden Buchstaben des tabuisierten Wortes (die anschließend noch einmal zusammen gelesen werden) findet sich im dialektalen nordit. ce-o-co (ze-o-co) ‘coglione’ (Widłak 1970, 38).

24

So die Herkunftsangabe in Z und DLI; GDLI formuliert vorsichtiger: «forse deformazione eufemistica di espressioni quali Porca vacca, porca miseria, ecc.». Nach Burke war schon in der frühen Neuzeit it. porca «das am meisten gebrauchte Tier bei der Beschimpfung der Frau» (1987, 98; auch 1989, 52), für den Mann waren dies it. becco, it. beccone, it. beccaccia (1989, 51s.). Nach Enckell wird porca madonna auch im Französischen verwendet (2004, s.v. madonna). Spanische Beispiele für Aphäresen sind ajo! statt carajo! oder mexikanisch uta statt prostituta (DRAE).

123

Hinzu kommt die Reduktion auf den Anfangsbuchstaben als radikalste Form der Apokope, die im Korpus fehlt, da solche Formen in der Regel25 nur kontextabhängig verwendet werden können, also vor allem stilistisch wirksam sind und selten als lexikalisiert betrachtet werden. Aus den untersuchten Sprachen wären hier z.B. une/una p… (fr. putain, it. puttana), m…! (fr. merde!, it. merda!) oder c…! (it. cazzo!) bzw. c… (fr. con) zu nennen.26 Nyrop bemerkt noch, «ce procédé est d’un emploi général dans la langue écrite» (1913, 264; cf. ebenso TLF, s.v. putain und merde). Doch stellt sich für die Gegenwart die Frage, ob das Verfahren der Reduktion von tabuisierten Wörtern auf den Anfangsbuchstaben (gegebenenfalls gefolgt von Punkten, Asterisken oder Strichen) hier nicht inzwischen an Beliebtheit verloren hat, während es im konzeptionell Gesprochenen (hier mit einer Längung des Lautes), u.a. auch wenn Planungsschwierigkeiten hinzukommen, durchaus präsent ist. Zweifelsohne geplant ist hingegen der gesprochene und geschriebene Anfangsbuchstabe wie in it. effe ‘fottuto’ (cf. Widłak 1970, 37; ebenso sp. eme, markiert in DUE und DEA). Aus dem Bereich des nicht-sprachlichen Ersatzes sind ferner Gesten zu nennen, die das gesamte tabuisierte Wort ersetzen und v.a. im Bereich des sexuellen Wortschatzes reichhaltig vorhanden sind, zudem in den audiovisuellen Medien der Piepton, der über das (ebenfalls meist gesamte) tabuisierte Wort gelegt wird. Ergänzend zur Auslassung des tabuisierten Ausdrucks in einer komplexen Lexie (4.3.1.1i) ist noch auf das Vermeiden eines gesamten Ausdrucks hinzuweisen, dessen Signifié zwar in keiner Weise tabuisiert ist, der aber aufgrund der Präsenz anstößiger Silben dennoch erfolgt. Beispiele aus dem Preziösentum sind hier fr. ridicule oder confesser wegen cul bzw. con und fesse. 4.3.1.2

Deformation

Wie gesehen kann der tabuisierte Ausdruck durch das Weglassen einzelner oder mehrerer Laute oder Silben euphemisiert werden. Ein zweites Verfahren, das wiederum bei Schimpfwörtern und Flüchen sehr frequent ist, ist deren Umbildung durch andere Ausdruckselemente, bei dem im folgenden zwischen dem Ersatz einzelner Laute oder Lautgruppen (i) und ganzer Silben (ii–iv) unterschieden wird. In beiden Fällen kann die Wahl der ersetzenden Laute oder Silben beliebig sein oder aber in einem «harmlosen»Wort begründet liegen, das ganz oder teilweise über das tabuisierte Wort gelegt wird.

25 26

Doch cf. z.B. Galli de’ Paratesi: «È un procedimento usato molto spesso ed a volte è cristallizzato: ormai è inequivocabile l’espressione una p...» (1964, 31; 1969, 40). Cf. z.B. in Voyage au bout de la nuit von 1932: «T’es rien c…. Ferdinand!» (Céline 1966, 9).

124

(i) Lautsubstitution Entstellende Funktion hat so zunächst der in der Regel auch graphischen Niederschlag findende Ersatz einzelner Laute: «En changeant ou en déplaçant une lettre, on atténue ce que le mot a de malséant ou de dangereux, sans diminuer pour cela sa valeur sémantique» (Vendryes 1921, 259). Dass dieser Ersatz häufig bei Schimpfwörtern und Flüchen erfolgt, erklärt seine vergleichsweise hohe Frequenz in dem an Flüchen besonders reichen Französischen Quebecs, cf. z.B. liboire für ciboire, salament für sacrement, clis für christ etc. (cf. u.a. Charest 1974, 35 und infra p. 171s.). Im französischen Korpus findet sich die Interjektion bigre!, bei der als Interpretation nur der Ersatz von [u] durch [i] in Frage kommt. In it. ammappalo!, ammappete!, buscherare, frescaccia, frescone liegt ebenso die Erklärung des Lautersatzes nahe, hier von [tts] durch [pp], [dʤ] und [ɲɲ] durch [sk]. Doch kann die Lautwahl hier auch mittels Kontamination erklärt werden, wie sie im Bereich der Euphemismen u.a. in zahlreichen englischen Blendings vorliegt (cf. z.B. zounds!  God’s wounds!; Burridge 2006b, 456b). Eine solche Annahme der Verschmelzung aus amma(zzalo!) und (acco)ppalo!, von der Widłak ausgeht (1970, 62), würde dem prototypischen englischen Blending entsprechen (also smog, motel, brunch), ist für das Italienische aber eher ungewöhnlich (doch cf. infra, diamine!), denn «in italiano è forte la tendenza a lasciare intatta la seconda parola che partecipa alla parola macedonia» (Thornton 2004, 571), was nicht zuletzt Migliorinis Definition der von ihm vorgeschlagenen Bezeichnung parola-macedonia entspricht: «[…] una o più parole maciullate sono state messe insieme con una parola intatta» (1949b, 89). So ist wohl von der Konvergenz aus einfacher Lautsubstitution und Kontamination auszugehen. fr.

bigre!  bougre! (3.2.4)

it.

ammappalo!  ammazzalo! (3.2.2) ammappete!  ammazzete! (3.2.2) buscherare  buggerare (3.2.5)

frescaccia  fregnaccia (3.2.6) frescone  fregnone (3.2.6)

Die Art der Substitution kann ferner in assonanz- oder reimbedingter Wortspielerei begründet sein, wie sie nicht zuletzt dem Verfahren der contrepèterie zugrunde liegt, bei dem Anzüglichkeiten in scheinbar belanglosen Sätzen raffiniert versteckt und erst durch Vertauschung von Buchstaben oder Silben offensichtlich werden, wie bei Joseph a maculé Henri, Cette jolie fille habite Laval, les pédagogues ont l’air d’aimer oder der von Rabelais verewigten femme folle à la messe oder seinem À Beaumont-le-Vicomte. Zum guten Ton gehört es heute, die «Lösung» dieser z.B. im Album de la Comtesse des Canard enchaînée zelebrierten Permutationen nicht auszusprechen, so dass die Schlüpfrigkeiten erfolgreich euphemisiert werden. Natürlich sind derartige indirekte Ausdrucksweisen nur kontextabhängig wirksam und weder dem Ungeübten leicht verständlich noch lexikalisiert, was sie von den (teilweise verkürzten und zudem kontrahierten) lexikographierbaren Fluchformeln der 125

Korpora unterscheidet, bei denen der Ersatz von [dj] durch [bl] im Wortpaar Dieu – bleu sowie der von [d] durch [dz] in Dio – zio euphemisierend wirkt, wobei rein formal das in der jeweiligen Sprache vorhandene bleu bzw. zio ausschlaggebend gewesen ist: fr.

morbleu!  par la mort de Dieu! (3.2.1) parbleu!  par Dieu! (3.2.1) sacrebleu!  sacré Dieu! (3.2.1)

it.

per zio!  per Dio! (3.2.1)

ventrebleu!  par le ventre de Dieu! (3.2.1) vertubleu!  par la vertu de Dieu! (3.2.1)

(ii) Deformation unter Beibehaltung des Anlautes Während bei den eben aufgeführten Ausdrücken nur ein bis zwei Laute ersetzt wurden, wird im Folgenden alles außer dem beibehaltenen ersten Teil des tabuisierten Ausdrucks durch enttabuisierende Lautfolgen substituiert. Diese sind zum Teil der Phantasie entsprungen und besitzen außer der Enttabuisierung auch keine weitere Funktion, zum Teil entsprechen sie aber auch einem in der Sprache existierenden Wort (wie die supra genannten bleu und zio). Dessen Wahl kann entweder auf rein formalen Gründen basieren, wie in accidempoli!, bei dem der Name der toskanischen Stadt Empoli über Teile des tabuisierten Wortes gelegt wird, oder aber semantisch begründet sein, wie bei accipicchia! aus accidenti! mit Anklang an picchiare oder bei diamine! aus diavolo! und domine, einer weiteren parola macedonia, bei der jedoch keines der verschmolzenen Wörter intakt bleibt, im Gegensatz zu diversabile als Kontamination aus diversamente und abile. 27

fr.

it.

saperlipopette!  sapristi!  sacristi! (3.2.1) accidempoli  accidenti! (3.2.1) acciderba!  accidenti! (3.2.1) accipicchia!  accidenti! (3.2.1) caspita!  cazzo! (3.2.6) cazzica!  cazzo! (3.2.6) cribbio!  Cristo! (3.2.1) diversabile  diversamente abile (3.2.3)

zut!  zest!27 (3.2.8) diacine!  diavolo! (3.2.1) diancine!  diavolo! (3.2.1) diamine!  diavolo! (3.2.1) diascolo  diavolo (3.2.1) madosca!  Madonna! (3.2.1) malorcia  malora (3.2.9) mizzica!  minchia! (3.2.6)

In anderen Fällen werden die substituierenden Laute so über die tabuisierten gelegt, dass der Euphemismus mit einem anderen Wort kollidiert. Dabei bleibt in allen Fällen eine formale Assoziation dadurch erhalten, dass der

27

Die Herkunft von zut! ist bislang nicht abschließend geklärt; DHLF vermutet eine Deformation von zest! mit der Endung ut!, die aus flûte! oder foutre hergeleitet wird; TLF erklärt das /z/ als ausgesprochenen Endkonsonanten in allons! oder je te/lui dis! und bringt unterschiedliche Theorien zur Entstehung von ut.

126

Anlaut der Euphemismen mit dem der tabuisierten Ausdrücke identisch ist, so z.B. bei dem auch unter Antiphrase (4.3.2.1iv) zu behandelnden fr. miel! (cf. dt. Scheibenhonig!) oder bei den primär unter Entlehnung (4.3.2.1v) zu fassenden caramba! oder primär unter Metapher (4.3.2.1iii) zu betrachtenden it. corno. Auch bei it. cosiddetti ist das Ersatzwort wohl nicht ganz zufällig gewählt worden, was unter metasprachlicher Ersatz (4.3.2.2ii) darzustellen ist. fr.

enguirlander  engueuler (3.2.6) mercredi!  merde! (3.2.8)

miel!  merde!, cf. emmieller (3.2.8) mince!  merde! (3.2.8)

it.

cacchio(!)  cazzo(!), cf. cacchiata, incacchiarsi (3.2.6) cappero, capperi!  cazzo(!) (3.2.6) caramba!  cazzo! (3.2.6) cavolo(!) cazzo(!), cf. cavolata, incavolarsi und incavolatura (3.2.6) cazzarola!  cazzo! (3.2.6) cocuzze!  cazzo! (3.2.6)

corbelli!  coglioni!, cf. rompere i corbelli, scorbellato (3.2.6) cordoni  coglioni, cf. rompere i cordoni (3.2.6) corno  cazzo (3.2.6) cosiddetti  coglioni (3.2.6) kaiser  cazzo (3.2.6) ostrega!  ostia! (3.2.1)

Bei mehrgliedrigen Ausdrücken kommt es neben dem Ersatz von nicht im Anlaut stehenden Teilen (wie schon supra gesehen) meist zur Kontraktion: fr.

palsambleu!  par le sang de Dieu! (3.2.1)

scrogneugneu!  sacré nom de Dieu! (3.2.1)

it.

perdina!  perdiana!  per Dio! (3.2.1)

perdinci!  perdiana!  per Dio! (3.2.1)

In den Korpora absent sind lexikographiebedingt zahlreiche mit Eigennamen operierende Substitutionen, wie mit Personennamen it. Cornelio  cornuto, del Rubens  rubato oder Ortsnamen andare a Carpi  carpire, andare a Cornazzaro, andare a Corneto, andare a Cornovaglia  essere cornuto (cf. Widłak 1970, 62), fr. aller faire un voyage en Cornouailles  porter des cornes (Nyrop 1913, 264).

(iii) Reduplikation Während Laute oder Silben des tabuisierten Wortes in den bisher genannten Beispielen weggelassen oder ersetzt wurden, werden hier (neben eventueller Kontraktion und weggelassenen Lauten oder Silben) bestimmte Teile bewusst wiederholt, was – trotz formal gegenläufiger Tendenz – ebenso eine weitere entstellende Funktion hat. Der Anlaut des ursprünglichen Ausdrucks wird bei dem supra schon erwähnten scrogneugneu! ebenso beibehalten wie in den italienischen Beispielen, die (aus perdina! über perdiana! entstandene) Euphemismen für per Dio! darstellen. fr.

scrogneugneu!  sacré nom de Dieu! [3.2.1]

127

it.

per dindirindina!  perdina!  per Dio! per dirindindina!  perdina!  per (3.2.1) Dio! (3.2.1) per dirindina!  perdina!  per Dio! (3.2.1)

(iv) Substitution des tabuisierten Ausdrucks Ferner finden sich zahlreiche Beispiele, in denen die tabuisierte Bezeichnung, in allen Fällen Dieu bzw. Dio, vollständig ersetzt wird. Dabei kann die Substitution des Gottesnamens zum einen durch nichtssagende Appellativa erfolgen wie fr. pipe, petit bonhomme und chien oder auch konkreter durch nom selbst, wodurch ein Absolutheitsanspruch erhoben wird: fr.

cré nom de nom!  cré nom de Dieu! [3.2.1] nom d’un chien!  nom de Dieu! (3.2.1)

nom d’une pipe!  nom de Dieu! (3.2.1) nom d’un petit bonhomme!  nom de Dieu! (3.2.1)

Zum anderen geschieht der Ersatz des Gottesnamens durch die antiken Götternamen Bacchus und Diana sowie den fiktiven Heiligennamen Saint Gris. fr.

ventre-saint-gris!  ventre de Dieu! (3.2.1)

it.

corpo di bacco!  corpo di Dio! (3.2.1) giurabbacco!  giuraddio! (3.2.1)

per bacco!  per Dio! (3.2.1) perdiana!  perdio! (3.2.1) poffarbacco!  poffardio! (3.2.1)

Ebenso wie die Wortspielerei unter 4.3.1.2ii kann diese Art der Substitution als Übergang zum lexikalischen Ersatz (4.3.2) gesehen werden, da es sich um Eigennamen oder Appellativa handelt, die in der Sprache vorhanden sind und damit insofern eine Enttabuisierung durch neue semantische Perspektivierung andeuten könnten. Doch während im Ersatz von Dio durch Bacco Diana zumindest formal eine Verlagerung auf eine andere Gottheit gesehen werden kann, ergeben die sonst eingesetzten Appellativa keinen neuen Sinn, sondern haben – ebenso wie viele Teilersatzstücke unter 4.3.1.2ii – v.a. enttabuisierende Funktion. (v) Weiteres Wie supra bei den Kürzungen im Falle von confesser lassen sich auch hier bei den Umbildungen wieder Beispiele für die Vermeidung von Ausdrucksweisen fi nden, deren Anstößigkeit primär auf der lautlichen Ebene liegt. So kann z.B. auch die Veränderung der Silbenfolge euphemistische Funktion haben, wie die Empfehlung Ciceros zeigt, in der die Umstellung der Wörter cum nobis  nobiscum angeraten wird, um so die (wegen lat. cunnus) möglicherweise «des idées deshonnêtes» (Dumarsais 1756, 207) weckende Abfolge cum nobis zu vermeiden (cf. infra p. 231 n. 133). Dumarsais stellt die Begründung dieser Umstellung in der Encyclopédie allerdings in Frage: 128

«Cependant je ne crois pas que l’on ait postposé la préposition dont parle Ciceron par le motif qu’il en donne; sa propre imagination l’a séduit en cette occasion. Il y a en effet bien d’autres mots tels que tenus, enim, verò, quoque, ve, que, &, &c. que l’on place après les mots devant lesquels ils devroient être énoncés selon l’analogie commune. C’est une pratique dont il n’y a d’autre raison que la coûtume, du moins selon la construction usuelle […]» (1756, 207).

Doch sei an die im obigen Zitat von Dumarsais selbst praktizierte und bis heute empfohlene (cf. Grevisse/Goosse 2008, 966 – 754s.) Verwendung von l’on nach que, wenn die Folgesilbe [kɔ~ ] lautet (z.B. qu’on comprend, qu’on concéderait), erinnert, was mit dem Wohlklang, der «euphonie» erklärt wird, aber zudem auch mit der Vermeidung des unnötigen Zusammenstoßes zweier gemeinsam ein tabuisiertes Wort ergebende Laute erklärt werden kann und damit auf die preziöse Vermeidung von Wörtern mit con verweisen lässt. Außerdem wirken bestimmte morphologische Veränderungen euphemisierend. Dabei sind einerseits Diminutivbildungen zu erwähnen, was Widłaks Beispiele bastardello, pazzerello; culetto, diavoletto, madonnetta, vecchietta; bruttino, mutandine, sederino oder per Cristaccio! ebenso illustrieren (1970, 54ss.) wie die euphemistische Markierungsangabe bei sp. morrito statt morro in DUE oder bei cabrito, -a statt cabrón, -ona in DEA und DRAE. Andererseits kann der Numeruswechsel euphemisierende Funktion haben, d.h. in der Regel die Verwendung des Plurals statt des Singulars, wie im Bereich der Religion bei it. i cieli statt il cielo oder auf dem Gebiet der Toilette und des Toilettengangs bei fr. lavabos, toilettes, it. bisogni. Dabei handelt es sich um eine Art von Generalisierung, «qui [...] atténue la valeur évocatrice émotionnelle du mot interdit» (Widłak 1970, 48) und die z.B. im Preziösentum eine übliche Vermeidung von zu direkter Ausdrucksweise ist (cf. u.a. infra p. 232 n. 136). Das umgekehrte Verfahren, also die Verwendung des Singulars anstelle des Plurals, ist seltener, liegt aber z.B. in it. seno statt seni vor, wo der Plural aufgrund der tatsächlichen Zweiheit konkreter wirkt (cf. hierzu Widłak 1970, 48s.). 4.3.2 Semantischer Ersatz Nach den Beispielen für die vollständige oder teilweise Auslassung des tabuisierten Zeichens wurden supra zahlreiche Umbildungen betrachtet, deren Ergebnis einerseits sinnentleerte Phantasieprodukte waren, andererseits aber auch in der Sprache bereits existierende Wörter, die den Übergang zum semantischen Ersatz darstellen, der im Folgenden zu behandeln ist. Dabei kommen eine Vielzahl von Mechanismen in Frage, die von den auf lexikalischer Ebene feststellbaren Verfahren der Generalisierung, Metonymie, Metapher, Antiphrase und Entlehnung über die in den Korpora auf Wort- und Satzebene bezogene Litotes bis hin zum metasprachlichen Ersatz und Verbersatz im regulativen Diskurs reichen. 129

4.3.2.1 Lexikon (i) Generalisierung Unter den Tropen ist zunächst die Synekdoche28 zu betrachten, die mit den Beziehungen Teil – Ganzes, Genus – Species und Plural – Singular drei Arten von Relationen umfasst. Im Hinblick auf Letztere sei schon auf die obigen (4.3.1.2v) Ausführungen verwiesen sowie auf den Bereich der Höflichkeitsformen bei der Verwendung der 2. Person Plural zur Anrede einer einzelnen Person, die im Französischen und Italienischen zunächst als Ausdruck der Ehrerbietung entstand, bis sie später grammatikalisiert und damit zwar weiterhin (im Französischen bis heute) als Form des Respekts verwendet, nicht aber mehr als pluralisch wahrgenommen wurde.29 Die Aussage zu Plural und Singular kann auf alle euphemisierenden Synekdochen verallgemeinert werden, die in der Regel generalisierend sind. Die im Korpus selten auftretende partikularisierende Synekdoche (pars pro toto) liegt in einer möglichen Interpretation bei der liebevollen oder ehelichen Umarmung für den Geschlechtsakt (fr. étreinte, it. amplesso) und bei einem Einrichtungsteil zur Bezeichnung der Toilette (fr. lavabos) vor, die infra unter Metonymie platziert wurden, da im engeren Sinne z.B. das Waschbecken nicht Teil der Toilette ist. Häufiger aber ist – wie gesagt – die Wahl eines semantisch weiteren Begriffs, also die generalisierende Synekdoche, die Verwendung allgemeinerer Ausdrücke, d.h. eines Genus proximum mit oder ohne unverfänglich bezeichneter Differentia specifica. Eine besonders starke Generalisierung erfolgt sicherlich, wenn auf die Differentia specifica verzichtet wird,30 und v.a. durch die Verwendung von Passe-Partout-Wörtern bzw. paroles omnibus; darunter solche für ‘Unbelebtes’ (fr. chose spezifiziert auf den Liebesakt und it. cose auf die Menstruation), unter den Verben das typische Passe-Partout-Wort für ‘handeln’ (fr. faire im skatologischen Bereich), unter den Demonstrativa quello

28

29

30

Zur Problematisierung des Ausdrucks cf. Blank (1997, 253–256), der es «für besser [hält], die Teil-Ganzes-Relationen der Metonymie zuzuschlagen und die GenusSpecies-Relationen einer eigenen Kategorie», und meint, «angesichts der unscharfen Verwendung des Terminus [Synekdoche] verzichtet man besser ganz auf ihn» (1997, 255). Höflich ist die Verwendung des Plurals anstelle des Singulars nur in der Anrede und um die eigene Person im Hintergrund zu belassen (Pluralis modestiae, Pluralis auctoris); gegensätzlich zu werten ist die selbsterhebende Bezeichnung (Pluralis maiestatis). Bei fr. faire l’amour, faire ses besoins, prendre ses précautions, s’il m’arrive quelque chose, it. essere in attesa, fare il mestiere, fare la vita hat dies für das jeweilige allgemein gehaltene Substantiv, Pronomen oder die Ortsangabe Gültigkeit, bei denen eine genauere Spezifizierung der Art der Liebe, der Bedürfnisse, der Vorkehrungen, der Sache, der Erwartung, der Tätigkeit und des Lebens ausbleibt; ebenso wie auch infra die vorliegende Spezifizierung bei it. fare i propri bisogni auf die Substantive und damit auf den Zustand bzw. die Bedürfnisse bezogen ist.

130

als Passe-Partout-Wort für Substantive mit dem Merkmal ‘menschlich’ (in it. una di quelle ‘Prostituierte’), unter den Pronomen fr. quelque chose ‘la mort’, unter den Lokaladverbien quelque part ‘Gesäss’, ‘Toilette’. Hinzu kommen Pronominalisierungen mit les (fr. les casser, se les geler). Zahlreiche weitere nennt Widłak (1970, 79–83), von denen noch die Lokaladverbien laggiù und là dentro für «endroits dont on a peur, [...] honte» (1970, 83) zu erwähnen sind, ferner die (teilweise personifizierenden) Passe-Partout-Pronomina lo (in it. farlo für ‘amore’, menarselo für ‘ pene’) und la (in it. leccargliela für ‘conno’) oder lui ‘pene’ (cf. auch den Titel von Moravia 1971, Io e lui) und lei ‘conno’. Für den vorgesehenen Adressaten ist der Euphemismus insofern verständlich, als sich die jeweilige konkrete Bedeutung dieser vagen und meist polysemen Ausdrücke in der Regel durch die monosemisierende Funktion des Kontextes ergibt. fr.

abstinence (3.2.5) abstinent, -ente (3.2.5) abuser (3.2.5) aimer (3.2.5) ami, -e (3.2.5) amour (3.2.5) attouchement (3.2.5) câlin (3.2.5) chose (3.2.5) discutable (3.2.4) éliminer (3.2.8) événements (3.2.9) faire (3.2.8) faire l’amour (3.2.5) faire opérer (3.2.3) faire ses besoins (3.2.8) indisposée (3.2.7)

indisposition (3.2.7) intacte (3.2.7) les casser (3.2.6) malade (3.2.3) malheur (3.2.2) prendre ses précautions (3.2.8) quelque part (6, 8) reconduire (3.2.9) regrettable (3.2.4) restructuration (3.2.9) saletés (3.2.8) se les geler (3.2.6) se retenir (3.2.8) s’il m’arrive quelque chose (3.2.2) s’oublier (3.2.8) violenter (3.2.5)

it.

amico, -a (3.2.5) attributi (3.2.6) bisogni (3.2.8) comodità (3.2.8) cose (3.2.7) dazione (3.2.9) dimestichezza (3.2.5) diverso, -a (3.2.5) esperienza (3.2.5) essere in attesa (3.2.7) fare il mestiere (3.2.5) fare la vita (3.2.5) infausto (3.2.3)

necessario (3.2.8) necessità (3.2.8) pizzicore (3.2.5) posteriore (3.2.6) quel certo posto (3.2.8) quel posto (3.2.8) quel paese (3.2.1) ritocco (3.2.9) spandere (3.2.8) toccarsi (3.2.5) una di quelle (3.2.5) vento (3.2.8) voglia (3.2.5)

Andere Beispiele stehen mit Differentia specifica, die in beiden Sprachen durch meist nachgestellte Adjektive31 oder Präposition (fr. de, it. da/di)

31

Gerade im Bereich politischer Korrektheit wird die Verwendung von personne + Adjektiv empfohlen, da sie den Menschen nicht auf Faktoren wie sein Alter oder seine Behinderung reduzieren.

131

+ Substantiv-Ergänzungen ausgedrückt wird. Dabei liegen der Art der gewählten Spezifizierung bestimmte Bilder zugrunde, wie die Bezeichnung einer Frau als Prostituierte gemäß deren üblichem Aufenthaltsort (donna da trivio, donna di strada), deren Käuflichkeit (donna da prezzo), deren allgemeiner Verfügbarkeit (it. donna pubblica), deren angeblicher Sorglosigkeit (donna allegra) oder der religiös-orthodoxen Überzeugung, dass ein Straßenmädchen vor Gott als verloren gelten müsse (donna perduta). Die Aufgliederung nach diesen einzeln analysierbaren Bildern erfolgte weitgehend in 3.2 und kann daher an dieser Stelle unterbleiben. fr.

acte d’amour (3.2.5) âge critique (3.2.7) amour physique (3.2.5) amour tarifé (3.2.5) besoin pressant (3.2.8) bas-ventre (3.2.6) bruit incongru (3.2.8) dégâts collatéraux (3.2.9) dommages collatéraux (3.2.9) emploi précaire (3.2.9)

maladie honteuse (3.2.3) mauvaises habitudes (3.2.5) mœurs spéciales (3.2.5) personnes âgées (3.2.4) poils superflus (3.2.6) position intéressante (3.2.7) quatrième âge (3.2.4) troisième âge (3.2.4) vilaine maladie (3.2.3)

it.

affettuosa amicizia (3.2.5) bassoventre (3.2.6) bisogno urgente (3.2.8) brutto male (3.2.3) casa chiusa (3.2.5) casa di appuntamenti (3.2.5) casa di tolleranza (3.2.5) casa equivoca (3.2.5) casa squillo (3.2.5) donna allegra (3.2.5) donnina allegra (3.2.5) donna da prezzo (3.2.5) donna da trivio (3.2.5) donna di malaffare (3.2.5) donna di strada (3.2.5) donna di vita (3.2.5) donna galante (3.2.5) donna perduta (3.2.5) donna pubblica (3.2.5)

doppia vita (3.2.4) essere in dolce attesa (3.2.7) fare i propri bisogni (3.2.8) figlio dell’amore (3.2.5) fondoschiena (3.2.6) giorni critici (3.2.7) intimo colloquio (3.2.5) necessità impellente (3.2.8) operatore carcerario (3.2.9) parti basse (3.2.6) professione più antica del m. (3.2.5) professionista del sesso (3.2.5) ragazza allegra (3.2.5) ragazza di vita (3.2.5) ragazzo di vita (3.2.5) rapporti intimi (3.2.5) sbaglio di gioventù (3.2.4) stato interessante (3.2.7) uomo forte (3.2.9)

In einigen Beispielen erfolgt die Spezifizierung auch durch Suffigierung, d.h. v.a. durch Diminutive, wie sie sich nur im italienischen Korpus finden, was insofern nicht verwundert, als diese Sprache seit der Diskussion über den Sprachvergleich in der Renaissance für ihren Diminutivreichtum bekannt ist.32 Dabei handelt es sich um Euphemismen für ein «leichtes Mädchen»,

32

Cf. im 18. Jh. z.B. die für Bouhours rhetorische Frage: «Ne dirait-on pas qu’elle [la langue italienne] a dessein de faire rire avec ces fanciulette, fanciullino, bambino, bambinello, bambinellucio […], dottorino, dottorello, dottoruzzo […]» (Bouhours 1682, 55), die Beschreibung des Italienischen durch d’Alembert als Sprache, «qui a

132

das Wiesel (wobei zunächst auch lexikalischer Ersatz vorliegt, cf. iv), eine unehrenhafte Tätigkeit und das gewisse Örtchen. it.

donnina (3.2.5) donnola [3.2.1]

lavoretto (3.2.9) stanzino (3.2.8)

Dem angedeuteten Diminutivreichtum des Italienischen steht im Französischen, wo die «Diminutivbildung fast völlig entgrammatikalisiert ist» (Lüdtke 2005, 342), die Tendenz von der Postdeterminierung zur Prädeterminierung gegenüber, wie sie sich auch im Korpus bei den Komposita mit petit zeigt: fr.

petit ami, petite amie (3.2.5) petit copain (3.2.5)

petit endroit (3.2.8)

Die generalisierende Synekdoche in euphemistischer Funktion findet sich als Empfehlung bereits in der Antike (Cicero rät z.B. membrum statt penis zu verwenden) und dann verstärkt seit der Renaissance. In der Ästhetik der französischen Klassik wird sie zur Vermeidung von allzu banalen und alltäglichen Bezeichnungen gar zum Stilideal erhoben (5.2) und im Discours sur le style konstatiert Buffon nicht zuletzt «si l’on joint […] de l’attention à ne nommer les choses que par les termes les plus généraux, le style aura de la noblesse» ([1753] 1978, xiv). Später galt es v.a., Wörter aus den Bereichen «Liebes- und Sexualleben», «Körperteile», «Toilettengang und Toilette» zu verhüllen, was Nyrop festhalten lässt, «l’emploi d’expressions vagues et ternes est surtout propre aux euphémismes de décence et de politesse» (1913, 265), und sich auch in den zahlreichen Beispielen aus den Korpora zeigt.33 Für ihre vagen Ausdrucksweisen berüchtigt ist aber auch die italienische Verwaltungssprache. Es sei nur an das sattsam bekannte Beispiel Calvinos erinnert, in dem der brigadiere eine einfache Zeugenaussage in komplexes Verwaltungsitalienisch umsetzt und dabei u.a. einfache, konkrete Wörter durch teilweise postdeterminierte Hyperonyme ersetzt (z.B. cantina  locali dello scantinato, stufa  impianto termico, fiaschi di vino  quantitativo di prodotti vinicoli). Zusammen mit dem Gebrauch von Hypotaxen, Funktionsverbgefügen und verschiedenen Paraphrasen führt diese stilistische Umgestaltung zu einem schwer verständlichen Italienisch, in den Worten Calvinos zu einer «antilingua» ([1965b] 1980), einem burocratese, das lange im Kreuzfeuer der Kritik stand und v.a. seit dem Codice di stile (1993) Gegenstand

33

tant de diminutifs» (1754, 966a) und v.a. den durch Rivarol angestellten Vergleich zwischen dem Französischen und dem Italienischen: «Si on ne lui trouve pas les diminutifs et les mignardises de la langue italienne, son allure est plus mâle» (1784, 100). Schwer verständlich erscheint daher Radtkes generelle Feststellung zur Synekdoche: «Sie wird selten zur Bildung von Euphemismen herangezogen» (1980, 225).

133

zahlreicher Initiativen zur Vereinfachung ist.34 In Reaktion auf die durch Pier Paolo Pasolinis Ausführungen zum «italiano tecnologico»35 neu ausgelöste Questione della lingua tritt Calvino denn auch für ein möglichst konkretes Italienisch ein und wendet sich gegen vage Ausdrucksweisen: «Il mio ideale linguistico è un italiano che sia il più possibile concreto e il più possibile preciso. Il nemico da battere è la tendenza degli italiani a usare espressioni astratte e generiche» (Calvino [1965a] 1980, 121).

Nicht zuletzt mit Galileo Galileis «parlare oscuramente lo sa fare ognuno, ma chiaro pochissimi» (1933, 73) wird die Suche nach sprachlicher Präzision und Klarheit immer wieder als besondere Leistung des Verfassers herausgestellt; nach Calvino ist sie allein sinnvoll: «[…] lo sforzo di cercare di pensare e d’esprimersi con la massima precisione possibile proprio di fronte alle cose più complesse è l’unico atteggiamento onesto e utile» (Calvino [1978a] 1980, 307).

Dass Konkretheit kein Garant für Ehrlichkeit ist, zeigt Calvino an der (verglichen mit der Sprache der «vecchi politici» Italiens) relativ klareren Sprache französischer Politiker, der er ebenso anlastet, «[che] serve a nascondere più che a spiegare»,36 was wenige Jahrzehnte später auch auf die Sprache

34

35

36

Cf. auch das Manuale di stile (Fioritto 1997) und u.a. Franceschini 2005 sowie im Hinblick auf die in der Rechnung der italienischen Elektrizitätsgesellschaft Enel verwendete Sprache de Mauro/Vedovelli 1999; ferner resümierend Fiorelli (1994, 597), Tosi (2001, 91–105), Trifone (2006, 234–238) oder Cortelazzo/Viale (2006, 2116–2119).Vor einem «contagio burocratico» der Alltagskommunikation warnt z.B. Birattari (2000, 95s.), der zuvor ebenfalls die fehlende semplicità und chiarezza des linguaggio burocratico veranschaulicht (2000, 15–61). Es sei erinnert an seine vielzitierten Äußerungen zu einer Ablösung der «asse Roma-Firenze» durch die «asse Torino-Milano»; denn «il Nord possiede tale linguaggio tecnologico in quanto mezzo linguistico principe del nuovo tipico modo di vita: è questo sotto-linguaggio tecnico che il Nord industriale propone, come concorrente al predominio nazionale, contro la koinè dialettale romanesco-napoletana: […] è la vittoria dell’Italia reale su quella retorica» ([1964] 1971, 97s.). Cf. Calvino: «Quando sento parlare alla televisione un uomo politico francese, di qualsiasi tendenza, subito ho un’impressione di concretezza, di semplicità, di chiarezza, insomma l’effetto opposto a quello che risento in Italia in circostanze simili. Ma non posso sfuggire al sospetto che tutto ciò sia troppo semplice per essere vero: ho l’impressione che l’uomo politico francese eluda con l’uso d’un linguaggio elementare la complessità dei problemi; che egli voglia dare l’illusione che i grossi problemi economici della collettività siano qualcosa che si può risolvere come i conti della spesa familiare. In un caso e nell’altro, insomma, il linguaggio serve a nascondere più che a spiegare: nel caso italiano, a nascondere ciò che è semplice e concreto dietro i giri di parole delle astrazioni generali; nel caso francese a nascondere la complessità e l’oscurità dei problemi (oscurità anche per chi detiene le leve di comando) dietro l’illusione che tutto sia semplice e chiaro» ([1976] 1980, 307s.).

134

der «nuovi politici» Italiens zutreffen sollte. Dessen ungeachtet ist die Verwendung des Ganzen für einen Teil (totum pro parte) als Mittel unkonkreter Ausdrucksweise prinzipiell besonders gut zur Irreführung geeignet. Aufgrund ihrer Vagheit bietet die generalisierende Synekdoche in den Worten Rawsons neben der supra schon genannten Möglichkeit der Verhüllung denn auch den Vorteil, dass das «uninformed eye» und das «untrained ear» den wahren Wortinhalt nicht leicht fassen kann, und sie daher optimal zur Bildung irreleitender Euphemismen, «ideal cover-up words», gebraucht werden kann: «Abstractions are not objectionable. The strength of particular taboos may be dissipated by casting ideas in the most general possible terms; also, abstractions, being quite opaque to the uninformed eye (and meaningless to the untrained ear), make ideal cover-up words. Often it is only a matter of finding the lowest common denominator» (1995, 12).

So waren in dieser Kategorie mit fr. emploi précaire, événements, restructuration, it. dazione, lavoretto, ritocco auch überproportional viele Euphemismen vertreten, die später dem Bereich «Ethik ohne Moral» zugeordnet werden können (cf. 5.4). (ii) Metonymie César Chesneau Dumarsais (1818, 115) sieht in der Synekdoche, die in der Rhetorik normalerweise von der Metonymie abgegrenzt wird, «une espèce de métonymie», was die Nähe des supra behandelten Mechanismus zum Folgenden zeigt, die nicht zuletzt auch Blank thematisiert (cf. supra p. 130 n. 28). Der Ersatz des tabuisierten Wortes durch ein sachlich verwandtes «[…] erlaubt die Distanzierung von der als unangenehm empfundenen Realität, das Verschweigen anstößiger Teile des mitzuteilenden Inhalts, das Ausweichen auf solche Bezeichnungen, die ablenken von dem wirklich Gemeinten. Es wird nicht die peinliche Handlung selbst, sondern eine Handlung, die damit zusammenhängt, benannt» (Danninger 1982, 246).

So wie die Metapher aus assoziationspsychologischer Sicht auf Similarität der Designate beruht, ist die Metonymie meist von deren Kontiguität gekennzeichnet, «nützt [...] also bereits vorhandene kognitive Beziehungen zwischen Konzepten» (Blank 1997, 238), die sich (neben den schon genannten synekdochischen Beziehungen) in verschiedenen Facetten äußern können. Metonymien (meist räumlicher Art) aus den Korpora sind die Bezeichnungen für die Sexualorgane nach ihrer Position im Körper (fr. entrecuisse), für den Sexualakt nach dem üblichen Ort des Geschehens (it. andare a letto con qlcu., portarsi a letto qlcu.) oder der damit häufig verbundenen Umarmung (fr. étreinte, it. amplesso) und für den Toilettengang sowie für die Toilette gemäß dem (früheren) Ort des Geschehens (fr. petit coin, it. giardino) sowie dem dort (heute) meist vorhandenen Waschbecken (fr. lavabos) oder der dort üblicherweise ausgeführten Körperpflege (fr. toilettes); außerdem die Nennung 135

des Busens in der Bedeutung ‘utero, ventre materno’ (z.B. in it. portare un figlio in seno), eines Knochens in der Bedeutung ‘cul’ (fr. l’avoir dans l’os). fr.

entrecuisse (3.2.6) étreinte (3.2.5) l’avoir dans l’os (3.2.6)

lavabos (3.2.8) petit coin (3.2.8) toilettes (3.2.8)

it.

amplesso (3.2.5) andare a letto con qlcu. (3.2.5) dormire insieme (3.2.5) giardino (3.2.8)

portarsi a letto qlcu. (3.2.5) portare un figlio in seno (3.2.7) seno (3.2.6)

(iii) Metapher Nach der Synekdoche und der Metonymie ist ein weiterer Tropus zum Ersatz tabuisierter Ausdrücke die Metapher, bei der der Grad der Abweichung vom verbum proprium höher ist als bei der Metonymie und Synekdoche. Vielleicht (ver)führte dies Vendryes zu der Behauptung, «La marque la plus sûre de l’interdit qui frappait certaines idées ou certains objets est dans l’existence de métaphores» (1921, 259), die die Metapher als Zeichen der Tabuisierung über alle anderen Ersatzmechanismen stellt. Ausgehend von der Similarität zweier Designate wird ein tabuisiert perspektiviertes Zeichen durch ein euphemisierendes ersetzt. In den Worten Kochs tritt zwischen dem bildspendenden Herkunftsdesignat und dem bildempfangenden Zieldesignat ein Kippeffekt ein, so dass das Zieldesignat als Herkunftsdesignat wahrgenommen wird (cf. 1994, 209–214). Im Folgenden werden die Metaphern des Korpus nach dem bildspendenden Wortfeld geordnet; periphrastische Ausdrucksweisen sind miteinbezogen. – Ruhen Besonders reich an metaphorischer Sprachverwendung ist zweifelsohne der traditionelle Tabubereich «Sterben und Tod», in dem das Bild für die Metapher z.B. auf der Bewegungslosigkeit im Ruhezustand bzw. beim Einschlafen basiert: it.

addormentarsi nel bacio del Signore (3.2.2) eterno riposo (3.2.2)

riposare in pace (3.2.2) riposo (3.2.2)

Außerhalb dieses Gebietes ist auch die ruhende, ‘faule’, da ruhende Verdauung hier anzuführen und die in der Ausgangsbedeutung ruhige Marktlage: it.

intestino pigro (3.2.8)

riflessivo, -a (3.2.9)

– Räumliche Entfernung Hinzu kommt das Bild der räumlichen Entfernung, bei dem einerseits das Fortgehen im Vordergrund stehen kann:

136

fr.

décéder (3.2.2)

quitter ce monde (3.2.2)

it.

dipartenza (3.2.2) dipartimento (3.2.2) dipartire (3.2.2) dipartita (3.2.2) scomparire (3.2.2)

scomparsa (3.2.2) sparire dalla (faccia della) terra (3.2.2) uscire dal mondo (3.2.2) uscire dalla vita (3.2.2)

Andererseits kann das Wohingehen den Ausdruck prägen, wobei hier neben den Ausdrücken für ‘Sterben’ auch andare a farsi frate steht im Sinne von ‘möglichst weit weg’: fr.

passer (3.2.2)

it.

andare a farsi frate (3.2.1) andare a Patrasso (3.2.2) andare sottoterra (3.2.2) essere sottoterra (3.2.2) fare trapasso (3.2.2) passamento (3.2.2) passare a miglior vita (3.2.2) passare nel numero dei più (3.2.2)

passo doloroso (3.2.2) salire al cielo (3.2.2) salire in paradiso (3.2.2) transire (3.2.2) trapasso (3.2.2) volare alla gloria dei beati (3.2.2) volare in/al cielo (3.2.2) volare in paradiso (3.2.2)

Weitere Arten der räumlichen Entfernung sind das Verschwinden mit der Folge der Abwesenheit bzw. des Fehlens: it.

assente (3.2.2) mancare (3.2.2)

scomparso, -a (3.2.2)

Um räumliche Entfernung handelt es sich auch, wenn diese durch einen Mitmenschen erzwungen wurde: fr.

se débarrasser de qqn (3.2.2)

it.

eliminare (3.2.2) mandare a Patrasso (3.2.2)

mandare sottoterra (3.2.2)

Außerhalb der Bereiche «Sterben» und «Töten» sind unter dem Bild der räumlichen Entfernung noch die Vorstellung des Truppenrückzugs für Rückzüge unterschiedlichster Art (fr. repli), die des «Ausschüttens, Vergießens» und damit Entfernens des Erbrochenen aus dem Körper (it. rovesciare), die des Weggehens aus dem Körper (it. andare di corpo) und die des Enthebens (it. sollevare) zu nennen; ferner die räumliche Entfernung von Gott im Bild des Ungläubigen (it. lontano, -a) und die Entfernung von üblichen Denkweisen bei dem «vom rechten Weg abgekommenen» psychisch Kranken (it. deviante). fr.

repli (3.2.4)

137

it.

andare di corpo (3.2.8) deviante (3.2.3) lontano, -a (3.2.1)

rovesciare (3.2.3) sollevare (3.2.9)

– Beenden In weiteren Ausdrucksweisen aus dem Bereich «Sterben und Tod» ist das Erlöschen und das Beenden des Lebens oder Leidens bildspendend: fr.

s’éteindre (3.2.2)

it.

finire di tribolare (3.2.2) terminare di soffrire (3.2.2)

terminare la vita (3.2.2)

– Rückgabe, Umkehr Zudem kann auch die Rückgabe der Seele bzw. des Geistes an Gott und die Umkehr des Alters Grundlage der euphemistischen Umschreibung sein: fr.

retour d’âge (3.2.7)

it.

rendere l’anima a Dio (3.2.2)

rendere lo spirito a Dio (3.2.2)

– Opferritual Metaphern aus der mythologischen Sphäre sind zur Beschreibung von Teilaspekten zweier der sieben Todsünden zu finden, Luxuria und Gula: it.

sacerdotessa di Venere (3.2.5) sacrificare a Bacco (3.2.4)

sacrificare a Venere (3.2.5)

– Personifikation Personifiziert werden der Tod und das Wechselfieber über den Gebrauch einer Verwandtschaftsbezeichnung, das Gesäß mit Hilfe eines Titels und bestimmte Körperteile durch den Rückgriff auf biblische Figuren. it.

comare (3.2.2, 3.2.3) messere (3.2.6)

zebedei (3.2.6)

– Wirtschaft und Handel In einigen Euphemismen aus dem Bereich der Prostitution steht die Geschäftsbeziehung der Sexualpartner im Vordergrund, wie sie sich als Bild bereits in der Spezifikation der Generalisierung bei it. donna da prezzo, donna di malaffare und bei fare il mestiere fand und an dieser Stelle bei der Metapher der ‘Liebesverkäuferin’ vorkommt. Die Idee von Leistung und Gegenleistung begründet zudem einen weiteren Euphemismus für Sterben, ‘der Natur den eigenen Tribut zollen’. Eine andere wirtschaftliche Assoziation liegt mit dem Bild der ‘Engelsfabrik’ für die Abtreibungsklinik vor, bei dem mit Engel die religiöse Überzeugung hinzu kommt, dass frühzeitig verstorbene Kinder unschuldig sind und daher als Engel in den Himmel aufsteigen. Das Bild des Geschäftes liegt dem Toilettengang zugrunde. 138

it.

fabbrica degli angeli (3.2.2) pagare il proprio tributo alla natura (3.2.2)

servizio (3.2.8) venditrice d’amore (3.2.5)

– Rufen und Verabreden Auch auf dem Gebiet von Rufen und Verabreden sind die Sinnbereiche Tod und Sexualität vereint. Gerufen wird in metaphorischer Sprachverwendung sowohl der Sterbende von Gott, als auch die Prostituierte vom Freier, wie es sich bei der Differentia specifica von it. ragazza squillo und casa squillo zeigt. fr.

Dieu l’a rappelé à lui (3.2.2)

– Tiere und Pflanzen Im Bereich der Tier- und Pflanzenmetaphern sind einerseits das Glühwürmchen und die Auster, andererseits Rübe, Kohl, Kürbis und ein Wildtrieb zu nennen, wobei sich bei den meisten von ihnen auch die lautliche Ähnlichkeit zu cazzo bzw. ostia als Erklärung für die Bezeichnungswahl anbietet (cf. 4.3.1.2ii). it.

cacchio(!), cf. cacchiata; incacchiarsi [3.2.6] cappero, capperi! [3.2.6] cavolo!, cf. cavolata, incavolarsi, incavolatura [3.2.6] cocuzze! [3.2.6]

lucciola (3.2.5) ostrega! [3.2.1] testa di cavolo (3.2.4) testa di rapa (3.2.4) torso di cavolo (3.2.4)

– Gegenstände und Formationen Als weitere Metaphern dienen im sexuell-erotischen Bereich ferner die Bezeichnungen bestimmter Gegenstände (Behälter wie Korb, Schachtel oder Tasche, zudem Horn, Griff, Rohr, Schnur) und Formationen (it. fessura), deren Form dem betreffenden Körperteil ähnelt, wobei bei corno, corbello und cordone zweifelsohne der Anlaut die Bezeichnungswahl beeinflusst hat (cf. 4.3.1.2ii). it.

corbelli!, cf. rompere i corbelli, scorbellato, -a [3.2.6] cordoni, cf. rompere i cordoni [3.2.6] corno [3.2.6] fessura (3.2.6) manico (3.2.6) scatola, cf. rompiscatole;

giramento di scatole; rompere, far girare le scatole a qlcu.; levarsi, togliersi dalle scatole; averne piene le scatole (3.2.6) tasche, cf. rompitasche; rompere le tasche (3.2.6) tubo (3.2.6)

– Weiteres Ferner stehen Metaphern oder metaphorische Periphrasen mit den Bildern der Assistentin (für die Sekretärin), des Beschützers (für den Zuhälter), der Spaziergängerin (für die Prostituierte), der Eleganz (für die Edelprostituier139

te), der Härte (für Taubhaut, Schwerhörigkeit), der Entwicklung (für Armut), der Fröhlichkeit (für Oberflächlichkeit), der Lebhaftigkeit (für Erregbarkeit), der Kraft und Stärke (für Fettleibigkeit), des Nicht-Bewegens (für Gleichgültigkeit), des Unbehagens (für eine Krise), des unvergänglichen Guten bzw. Glücks (für das Paradies) sowie der unsterblichen Welt (für das Jenseits): fr.

assistante (3.2.9) fort, forte (3.2.4) malaise (3.2.9)

protecteur (3.2.5) rien à secouer (3.2.4) vif, vive (3.2.4)

it.

allegro, -a (3.2.9) bene immortale (3.2.2) duro, -a d’orecchio (3.2.3) mondana (3.2.5) mondo immortale (3.2.2)

paese in via di sviluppo (3.2.9) passeggiatrice (3.2.5) protettore (3.2.5) robusto, -a (3.2.4)

(iv) Antiphrasen Das tabuisierte Wort kann auch durch ein Wort «mit entgegengesetzter Bedeutung oder Konnotation» ersetzt werden (Knox 1992, 713), ohne dass wie bei der Litotes dessen Verneinung erfolgt. Mit einem nur antiphrastisch verständlichen im Jagdmilieu entstandenen In bocca al lupo! wünschten sich die Jäger z.B. – ähnlich wie bei dt. Hals- und Beinbruch! – genau das Gegenteil des eigentlich Gesagten, also eben nicht im Rachen des Wolfes zu enden. Als Standardbeispiele für konnotationsbedingte Antiphrasen dienen (neben gr. εὐµενίδες ‘die Wohlwollenden’ für die altgriechischen Rachegöttinnen, die Erinnyen) die Bezeichnungen für das abergläubisch belegte Wiesel: «S’il faut qu’on en parle, il est absolument nécessaire d’employer des termes caressants ou flatteurs» (Nyrop 1913, 276).37 So wird das im Aberglauben boshaftgefährlich eingestufte Tier als schön (fr. belette) oder grazil (it. donnola) bezeichnet, womit üblicherweise eine gutartige Harmlosigkeit verbunden wird. Ferner sind fr. respectueuse, religieuse, it. buona donna, brava donna, rispettosa, serva di Dio eigentlich mit der Konnotation der Keuschheit verbunden und stellen in der Verwendung zur Bezeichnung der gegenteilig konnotierten Prostituierten Antiphrasen dar (Radtke 1980, 225). Ähnlich wird fr. pacifier mit Frieden konnotiert, occuper oder conquérir hingegen mit militärischen Maßnahmen, die neben tatsächlichem auch nur oberflächlichen oder auch gar keinen Frieden bewirken können.

37

Das Beispiel der Bezeichnung dieses schon bei den alten Griechen als unglücksbringend betrachteten (z.B. Theophrast 1960, 83; 1962, 189) Tieres zieht sich durch die sprachwissenschaftliche Literatur von Nyrop (1913, 275s.) über Orr (1953, 26), Ullmann (1957, 190), Galli de’ Paratesi (1964, 124; 1969, 149) bis hin zu Blank (1997, 397; 2001, 93) und Pfister/Lupis (2001, 174–181), wo es das Kapitel «tabu linguistico» allein ausfüllt. Die negative Belegung des Wortes lebt nicht zuletzt in engl. to weasel und weasel word weiter.

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Basiert die Antiphrase nicht auf den konträren Konnotationen zweier Ausdrücke, sondern auf einem direkten Gegensatz der Bedeutung, so spricht Blank von Auto-Antonymie.38 Häufig zitierte Beispiele sind fr. sacré ‘heilig’ in der Bedeutung ‘verflucht’39 oder it. benedetto ‘gesegnet’ in der Bedeutung ‘verdammt’.40 Nyrop nennt hier z.B. fr. maison honnête in der Bedeutung ‘maison malhonnête’ (1913, 268), Widłak das im italienischen Korpus vorhandene casa di salute, das neben der Interpretation als Gegensatz zu casa di malattia (1970, 71) allerdings auch als dynamisierende Sichtweise interpretiert werden kann, d.h. als Fokussierung auf das Ziel des Aufenthalts. Zumindest aus allgemeinethischen Moralvorstellungen heraus eindeutige Antiphrasen sind uomo d’onore und uomo di rispetto, obwohl auch hier bei Zugrundelegen des Ehrenkodexes der Mafia die Interpretationsmöglichkeit als Umschreibung gegeben ist. Ebenso antiphrastisch interpretierbar ist vivaddio!, bei dem die Sünde der Namensnennung Gottes (anders als z.B. bei giuraddio!) dadurch gemindert werden soll, dass man ihn hochleben lässt. Bei weiteren Antiphrasen spielt aufgrund des beibehaltenen Anlauts auch die formale Assoziation mit dem tabuisierten Ausdruck eine Rolle (cf. 4.3.1.2ii). Doch kommt hinzu, dass die Konnotationen von fr. enguirlander und engueuler konträr sind, ebenso wie die von miel und merde. fr.

enguirlander [3.2.6] miel, cf. emmieller [3.2.8]

pacifier (3.2.9)

it.

casa di salute (3.2.3) donnola (3.2.1) uomo di rispetto (3.2.9)

uomo d’onore (3.2.9) vivaddio! (3.2.1)

(v) Entlehnung – Externe Entlehnung41 Des Weiteren ermöglichen auch viele Lehnwörter eine indirektere Bezeichnung als sie der direkte eigensprachliche Ausdruck gewährleistet. Im Bereich

38

39

40

41

«Der Unterschied zu den als Antiphrasis klassifizierten Beispielen liegt darin, daß hier der Gegensatz nicht konnotativ vermittelt wird, sondern daß die beiden Bedeutungen als direkte Oppositionen aufgefaßt werden» (1997, 225). Die antonymische Bedeutung entstand wohl aus der häufigen Verwendung von sacré ‘heilig’ im Fluch, die sich wie bei jurer dem Gebrauch in Eidesformeln entwickelte (cf. 5.1.2.3). Blank verweist auf die inzwischen insofern vollzogene Differenzierung, «als sacré ‘heilig’ dem Substantiv nachfolgt, sacré ‘verflucht’ hingegen vorangeht. Es handelt sich also um Differenzierung auf der Ebene des lexikalischen Wissens» (1997, 227). Knox verweist darauf, dass lt. benedicere ‘segnen’ in der Vulgata (ebenso wie hebr. berek ‘segnen’ in der Urfassung) verschiedentlich in der antonymischen Bedeutung ‘verfluchen’ gebraucht wird (1992, 715). Terminologisch sei klargestellt, dass es sich beim Ersatz in dieser Kategorie um Lehnwörter handelt, d.h. um Ausdrücke fremdsprachlicher Herkunft, die auch durch ihre Aufnahme in die Lexikographie als integriert gelten können. Im

141

«Glaube, Aberglaube und Magie» sei hier zunächst an den abergläubisch belegten Begriffsinhalt von lat. sinister ‘links’ erinnert, der im zeitgenössischen Wortschatz u.a. die Bedeutung ‘bedrohlich, unheilvoll’ bei fr. sinistre, it. sinistro, -a, sp. siniestro, -a hinterlässt. Um die direkte Bezeichnung des tabuisierten Begriffs «links» zu vermeiden, wurden im Französischen der Germanismus gauche und im Spanischen und Portugiesischen der Baskizismus sp. izquierdo, -a, pg. esquerdo, -a entlehnt, die zumindest in ihrer Anfangsphase euphemisierend wirkten. Weitere Faktoren der tabuisierenden Funktion von Fremdwörtern seien am Beispiel des Bereiches «Ethik und Ästhetik» verdeutlicht. So ist zur Verwendung von Latinismen im Französischen z.B. in der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert zu lesen: «Il est vrai qu’aujourd’hui nous avons quelquefois recours au latin pour exprimer des idées dont nous n’osons pas dire le nom propre en françois; mais c’est comme nous n’avons appris les mots latins que dans les livres, ils se présentent en nous avec une idée accessoire d’érudition & de lecture qui s’empare d’abord de l’imagination; elle la partage; elle l’enveloppe; elle écarte l’image deshonnête, & ne la fait voir que sous un voile. Ce sont deux objets que l’on présente alors à l’imagination, dont le premier est le mot latin qui couvre l’idée obscène qui le suit; au lieu que comme nous sommes accoûtumés aux mots de notre langue, l’esprit n’est pas partagé: quand on se sert des termes propres, il s’occupe directement des objets que ces termes signifient» (Dumarsais 1756, 207).

Zu dieser Begründung für die euphemisierende Funktion von Entlehnungen aus dem Lateinischen, derzufolge die Assoziation dieser Sprache mit Bildung die Anstößigkeit des ursprünglichen Bildes verdeckt, und dem taciteischen omne ignotum pro magnifico est,42 können noch linguistische Überlegungen genereller Natur hinzugefügt werden. In ein neues Wortfeld integriert erhält das Lehnwort einen neuen Stellenwert («Valeur-Begriff» bei de Saussure), unterliegt damit Veränderungen formaler43 und semantischer44 Natur und wird – wie auch aus dem obigen Zitat ersichtlich – mit anderen Konnotationen verbunden als in der Ausgangssprache. Letzteres prädestiniert es für bestimmte euphemistische Funktionen, da es durch seine Distanz zur auf-

42

43 44

Bewusstsein der Sprecher bleibt ihre fremde Herkunft erhalten, zumindest solange ihre euphemistische Funktion, die darauf beruht, anhält. Fremdwörter haben demgegenüber nur Zitatcharakter und sind nicht in die Sprache aufgenommen. Die generalisierbare Aussage «Alles Unbekannte gilt als großartig» (Agricola 30,3 – 1991, 49) stammt ursprünglich aus der Motivationsrede des Calgacus vor dem Kampf gegen die Römer (cf. auch infra p. 384), in der sich ignotum auf das für die Römer neue Land bezieht. So spricht der Deutsche z.B. häufig von il Canale grande oder von il dottore Francescato. So wird Ciao! von vielen Deutschen z.B. nur für ‘Auf Wiedersehen!’ verwendet.

142

nehmenden Sprache die direkte Bezeichnung einer Sache45 oder eines Sachverhalts zu umgehen erlaubt und dabei den Referenten je nach Prestige der Herkunftssprache sogar aufwerten kann. Ein hohes Prestige ist beim Lateinischen durchweg gegeben, so dass auch Nyrop in Anlehnung an Boileau, «Le latin dans les mots brave l’honnêteté»,46 feststellt, «qu’un terme indécent en latin choque moins les oreilles françaises» (1913, 264). Diese Ausführungen zum Latein gelten im Prinzip auch für lebende Sprachen. So äußert Nyrop, «ce qu’on ne peut pas dire dans sa propre langue, on le dit dans une langue étrangère» (1913, 264), Bonfante, «notre sensibilité morale est moins délicate pour les autres langues» (1939, 198), oder Deroy, «l’emploi d’une langue étrangère jette comme un voile, un flou sur la pensée» (1980, 176), doch wird auf der Suche nach Euphemismen im Bereich «Ethik und Ästhetik» im Allgemeinen eine Sprache mit einem Sozialprestige gewählt, das dem des Französischen zumindest entspricht. Dies war im 16. Jahrhundert natürlich beim Italienischen gegeben, wozu Nyrop Estienne zitiert, der fr. escorne < it. scorno nennt (1913, 265). Ansonsten führt er aus dem Spanischen fr. buen retiro an, das in PR heute nicht mehr erscheint, und aus dem Englischen fr. watercloset, das inzwischen meist abgekürzt als fr. W.-C. bzw. (fam.) vécés verwendet wird, in PR aber nicht markiert ist. V.a. aber sind englische Schimpfwörter in vielen Regionen akzeptierter als die jeweiligen eigensprachlichen Entsprechungen. Es sei hier z.B. an den Anglizismus shit! gedacht, der mit der Jugendkultur verbunden in manchen Kreisen als besonders schick gilt;47 aber auch an fuck!, zu dem Merle feststellt, «ça fonctionne très bien chez les branchés ou les branchouillés qui l’emploient à tout propos pour ‹je n’en ai rien à faire!›» (2004, 51). Für andere Sprachen spielt das Französische eine besonders große Rolle als Gebersprache euphemistischer Entlehnung. Rawson stellt es für das Englische z.B. auf die gleiche Stufe wie das Lateinische: «Foreign languages sound finer. It is permissible for speakers and writers of English to express almost any thought they wish, as long as the more risqué parts of the discussion are rendered in another langue, usually French or Latin» (1995, 11).

45 46

47

Cf. z.B. von den Faschisten und Nazionalsozialisten verwendeten Termini wie it. eutanasia bzw. dt. Euthanasie. Daraufhin beschreibt Boileau den Leser des 17. Jh.: «[…] le lecteur français veut être respecté: Du moindre sens impur la liberté l’outrage, Si la pudeur des mots n’en adoucit l’image» (1908, 82). Natürlich ist bei der Beurteilung des euphemistischen Wertes immer auch die jeweilige Sprachkontaktsituation zu beachten. So bilden im Französischen des Südostens der Akadie Ausdrücke aus dem dort dominierenden Englisch (z.B. shit!, bitch! oder fuck!; es-tu pissé off?) den Großteil des Fluchinventars, was Kasparian (2005) mit der geringeren Vitalität der akadischen Minderheitensprache erklärt.

143

Euphemistische Funktion haben viele Gallizismen ebenso im Deutschen48 und im Italienischen,49 denn v.a. eine Entlehnung aus einer angesehenen Sprachkultur, als die die französische in Italien eingestuft ist,50 dient der positiveren Perspektivierung,51 zumal «la valeur affective positive du mot étranger qui, en passant la frontière acquiert un caractère noble qu’il n’a souvent jamais eu dans le système auquel il appartient» (Widłak 1970, 92s.). Für den Missbrauch von Fremdwörtern, die sich oft aufgrund ihrer Unverständlichkeit (cf. Rada 2001, 101) zur Irreführung des Adressaten eignen, enthalten die Korpora keine Beispiele. Bei den verhüllenden Euphemismen sind nur relativ wenige zu nennen, einschließlich gelehrter Wörter, d.h. Entlehnungen aus den klassischen Sprachen:

48

49

50

51

fr.

handicapé, ée aus dem Englischen (3.2.3)

sui generis aus dem Lateinischen (3.2.4)

it.

caramba! aus dem Spanischen [3.2.6] cazzarola! aus dem Französischen [3.2.6] cocotte aus dem Französischen (3.2.5) etera aus dem Griechischen (3.2.5)

licet aus dem Lateinischen (3.2.8) maison aus dem Französischen (3.2.5) maîtresse aus dem Französischen (3.2.5) minus habens aus dem Lateinischen (3.2.4)

Cf. u.a. Nyrop (1913, 265). In der umgekehrten Entlehnungsrichtung, also unter den Germanismen im Französischen, finden sich kaum Euphemismen, was eine schnelle Durchsicht der Arbeiten von Fischer (1991) und Sarcher (2001) zeigt und auch insofern nahe liegt, als es sich hier – anders als bei vielen französischen Luxuslehnwörtern im Deutschen – v.a. um sogenannte Bedürfnislehnwörter handelt, die die Möglichkeit, zuvor Tabuisiertes zu ersetzen, per definitionem nicht eröffnen. Cf. z.B. die Studie zu neueren italienischen Entlehnungen aus dem Französischen unter Berücksichtigung der Funktionen: «(a) celle d’ennoblir le référent, (b) celle d’augmenter le prestige du locuteur, (c) celle d’éviter une expression trop directe pour ne pas choquer l’auditeur» (Reutner 2008b). Damit wären diese (und insbesondere jene unter (c) wie tombeur de femmes statt seduttore oder cochon statt porco) auch als Euphemismen zu betrachten; doch sind sie nicht als solche in Z markiert. Solche ideolinguistischen (zum Terminus cf. Reutner 2005, 36s.) Aspekte sind im Allgemeinen das Ergebnis der verschiedenen historisch gewachsenen Beziehungen zwischen den betroffenen Ländern bzw. ihren Bewohnern. Cf. auch Widłak (1970, 92) und die Feststellung, dass im französischen Korpus keine Italianismen mit euphemistischer Markierungsangabe zu finden sind. Cf. auch Vendryes, der von Entlehnungen im Allgemeinen sagt: «C’est la convention qui fixe le caractère honnête ou indécent des mots: le même vocable change de caractère en passant les frontières» und dabei das Beispiel einer französischen Entlehnung im Deutschen gibt: «Le mot Pissoir est moins choquant en allemand qu’en français» (1921, 257).

144

infischiarsi aus dem Französischen (3.2.4) kaiser aus dem Deutschen [3.2.6]

omofilia aus dem Griechischen (3.2.5) omofilo, -a aus dem Griechischen (3.2.5)

Demgegenüber haben Lehnprägungen wie it. ragazza squillo für callgirl natürlich nicht dieselbe verhüllende Funktion wie Lehnwörter. Diese Festellung gilt auch für formal integrierte Ausdrücke wie das erwähnte cazzarola!, das für muttersprachliche Sprecher im entsprechenden Kontext nicht mehr mit fr. cassérole, sondern neu mit cazzo! verbunden wird. – Interne Entlehnung Weitere Entlehnungen sind intern einem anderen Register entnommen, wie fr. bouche (in amuse-bouche) anstelle des in der Bedeutung ‘la bouche considérée comme servant à manger’ soziolinguistisch markierten gueule (in amuse-gueule). Doch tritt auch der nicht uninteressante Fall auf, dass eine Entlehnung aus dem Argot auf der höheren familiären Ebene euphemistische Funktion übernimmt, womit eine antithetische Strategie verfolgt wird (cf. Burridge 2006b, 457, der hier cupid’s measles ‘syphilis’ nennt). So ist fr. enquiquiner für emmerder nach PR eine Bildung mit einem Synonym von gueule aus dem Argotwort quiqui ‘gorge’. Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass fr. quiqui schon früh auch auf den Ebenen von «pop.» oder «fam.» rezipiert wurde und damit die Wortbildung erst auf einer dieser Ebenen erfolgt ist, schließlich erscheint enkikinant bereits bei Flaubert («fam.» 1844; TLF), während die in TLF als «arg. et fam.» markierte Bedeutung ‘cou, gorge’ dort erst seit 1883 (serrer le kiki à qqn ‘l’étrangler’) belegt wird und in PR trotz der seit Flaubert existierenden Ableitung erst seit 1876. Allerdings wäre alternativ die ältere Argot-Bedeutung von quiqui ‘bouillon gras fait à partir d’abattis’, auch ‘abatis [sic] de toutes sortes de choses’ (TLF, seit 1856) semantisch sogar noch einfacher in den skatologischen Bereich zu übertragen: fr.

enquiquiner, cf. enquiquineur, enquiquinant, -ante (3.2.8)

(vi) Rückblick unter der Perspektive des Phänomens der Aufwertung Mit der Verwendung eines Fremdwortes (cf. z.B. it. etera) kann ebenso eine Aufwertung des oder der Genannten verbunden sein wie mit manchen Antiphrasen. Nyrop betitelt unter «moyens euphémiques» eine eigene Kategorie «noms flatteurs», deren Verwendung zunächst im Aberglauben begründet war, wie bei der antiphrastischen (cf. iv) Bezeichnung für das Wiesel: «L’emploi euphémique de noms flatteurs et complimenteurs se rencontre surtout dans certaines pratiques superstitieuses; pour conjurer les démons, les animaux nuisibles et les maladies, on a soin de remplacer leur vrai nom par une dénomination douce et humble, propre à adoucir les puissances malfaisantes» (Nyrop 1913, 267).

145

Doch finden sich solche «noms flatteurs» auch außerhalb des Aberglaubens «surtout pour voiler les crimes, les vices, les défauts et les punitions» (1913, 267) und aufwertend sind auch jene Bezeichnungen, die Burridge in seiner Kategorie «elevation» nennt: crafted statt made oder manufactured, blend statt mixture und standard statt average (2006b, 457). Dem Zweck der Aufwertung dienen sowohl Unter- als auch Übertreibungen, wobei Erstere durch das Herunterspielen tabuisierter Komponenten, also durch «Verharmlosung» erfolgt, Letztere hingegen durch die einseitige Betonung vermeintlicher oder tatsächlicher positiver Eigenschaften. Dabei sind Untertreibungen ein besonders gut funktionierendes Mittel, um unangenehme Wahrheiten beinahe vollständig zu verdecken. Rawson erklärt daher auch, «the danger with understatement is that it may hide the true meaning completely» (1995, 13), was ihre besondere Bedeutung im Bereich irreleitender (bei gleichzeitiger Präsenz in jenem verhüllender) Euphemismen erklärt. Die Korpora enthalten viele Generalisierungen, die entweder auf Untertreibung beruhende verhüllende Euphemismen (so z.B. das Herunterspielen des Liebhabers durch it. amico oder des Masturbierens durch fr. attouchement bzw. it. toccarsi) oder untertreibungsbedingte Verschleierungen sind, wie jene des Abschiebens durch reconduire, der Massenentlassungen durch restructuration oder bestimmter militärischer Auseinandersetzungen durch événements. Ebenso beruhen einige Metaphern auf Untertreibung, so z.B. wenn der Zuhälter auf seine vermeintliche Beschützerrolle reduziert wird (fr. protecteur, it. protettore) und eine oberflächliche und unverantwortliche Finanzplanung als it. allegro, -a, eine Krise als fr. malaise, ein fallender Markt als it. riflessivo, -a und eine wohlbeleibte oder sich leicht erregende Person als it. robusto, -a bzw. fr. vif, vive perspektiviert werden. Beispiele für Übertreibungen sind allgemein beim Renommiereuphemismus und unter den Beispielen aus dem Korpus speziell im Bereich der aufwertenden Berufsbezeichnungen zu finden, so die neueren Euphemismen für Berufe wie den Gefängniswärter (cf. it. operatore carcerario unter der Rubrik der Generalisierung) oder die Verbindung der Dame aus der Halbwelt mit Eleganz (mondana, donna galante). Eine Aufwertung tritt auch bei la professione più antica del mondo ein, wobei die tabuisierte Berufsbezeichnung zunächst duch die allgemeine Bezeichnung professione generalisiert und dann mit einer aufwertenden Spezifizierung versehen wurde. Keine Generalisierung liegt bei fr. assistante ‘sécretaire’ vor, da sécretaire nicht als Hyperonym zu assistante aufgefasst werden kann. Der Ersatz könnte hier auch als Bedeutungserweiterung durch kohyponymische Übertragung erklärt werden, das heißt als Ersatz eines Hyponyms des Hyperonyms Berufsbezeichnungen durch ein anderes, von der sozialen Einschätzung nicht gleichwertiges, so dass mit dem Ersatz eine Aufwertung einhergeht, obwohl Blank die kohyponymische Übertragung sinnvollerweise v.a. auf Tier- und Pflanzennamen bei radikalem Framewechsel begrenzt (1997, 207–217). V.a. aber wird mit ‘Assistentin’ ein anderes Bild gewählt, als mit ‘Sekretärin’, 146

ebenso wie mit ‘sich entwickelnd’ gegenüber ‘arm’ bei it. paese in via di sviluppo. 4.3.2.2

Vom Lexikon zur Morphosyntax

Weitere Beispiele aus den Korpora dokumentieren, dass rücksichtsvoller Sprachgebrauch nicht an der Wortgrenze halt macht und auch verschiedene pragmatische Verfahrensweisen zum Ausdruck Höflichkeit miteinschließt. (i) Litotes Ähnlich wie die Antiphrase drückt die Litotes einen Kontrast aus, der hier durch die Negation des Antonyms des tabuisierten Ausdrucks hergestellt wird. Widłak bringt eine Reihe von Beipielen aus Texten wie it. non dire la verità; non essere un’aquila, un adone; non avere un cuor di leone (1970, 102ss.) und Lexis erklärt s.v. euphémisme «Il n’est pas génial est un euphémisme pour il n’est guère intélligent». Wird in Z it. lavoretto als «attività poco pulita» beschrieben, so ist auch diese Bedeutungserklärung mit poco euphemisierend (gegenüber impulita oder auch dem ebenfalls angeführten disonesta), denn außer zur euphemistischen Abschwächung52 kann ‘ein wenig’ auch euphemistisch zur Quasi-Verneinung des Gegenteils einer Aussage verwendet werden, was in PR und Z nicht aufgenommen, aber z.B. für das Spanische (z.B. in sp. poco honrado, poco digno) mit euphemistischer Markierungsangabe in DUE verzeichnet ist, wo als weitere euphemistisch markierte Litotes z.B. sp. no es exacto («se usa frecuentemente como eufemismo para contradecir») erscheint. In den Korpora fällt auf, dass (mit Ausnahme von it. non essere una Venere) solche Verfahrensweisen in Z nur markiert aufgenommen sind, wenn es sich um lexikalisierte Einheiten wie it. non udente oder it. non vedente handelt, während PR einige über die Wortgrenze hinausgehende Euphemisierungstrategien nennt: 53

fr.

52

53

ne pas haïr (3.2.5) n’être plus de la première jeunesse (3.2.4)

pas fameux (3.2.4) pas précisément (3.2.4) pas vraiment (3.24)

Cf. z.B. im Beispielsatz des Z s.v. robusto, «una ragazza un po’ robusta», in dem mit un po’ (neben der Wahl von robusto, -a) eine zusätzliche Euphemisierung erfolgt (ähnlich steht bei non essere una Venere die Erklärung donna non bella, anzi alquanto brutta, in der alquanto wieder abmildernd wirkt). Widłak nennt daher auch «degrés de comparaison de l’adjectif» als Euphemisierungsstrategien, also z.B. un po’ più anziano oder un po’ debole statt nur anziano oder debole. It. diversamente abile ist im weiteren Sinne als Litotes zu erklären, insofern als – wie bei non udente (aber auch non deambulante) – zunächst von der Verneinung eines Gegenteils (non abile) ausgegangen werden kann, das dann durch diversamente statt non dynamischer perspektiviert wurde.

147

it.

non-voyant, -ante (3.2.3) pas exactement (3.2.4)

plutôt (3.2.4)

diversamente abile (3.2.3)53 non essere una Venere (3.2.4)

non udente (3.2.3) non vedente (3.2.3)

Besonders deutlich kann der Wert der Litotes auch bei der Einschränkung der Negation eines Ausdrucks durch die adversative Konjunktion fr. mais, it. ma werden. In abgemilderter Form mag hier die plakative Behauptung, «Jeder Satz, auf den ein aber folgt, ist eine Lüge», greifen, insofern als in dem mit aber eingeleiteten Nebensatz eine inhaltliche Distanzierung von dem zuvor Gesagten erfolgen kann. Solche Diskursstrategien sind im Wörterbuch selten aufgenommen; ein einziges Beispiel findet sich in PR; allerdings nicht als generelles Verfahren unter mais, sondern s.v. raciste und damit auf diesen Kontext spezifiziert: fr.

je ne suis pas raciste, mais... (3.2.4)

Dabei sei darauf verwiesen, dass ‘aber’ in der höflichen Ausdrucksweise generell einen wichtigen Platz einnimmt, cf. z.B. fr. excusez-moi, mais…, it. mi scusi, ma… (cf. Beispiele bei Held 1995, 271). So zeigt die verwendete Diskursstrategie primär, dass sich der Sprecher einer sozialen Norm bewusst ist, derzufolge gewisse Äußerungen als rassistisch betrachtet werden, diese aber trotzdem äußern möchte. Ob sie letztendlich tatsächlich auf eine rassistische Grundhaltung schließen lassen, bleibt im Einzelfall zu entscheiden. (ii) Metasprachliche Umschreibung und Andeutung Metasprachliche Beschreibungen finden sich im Französischen für das Wort merde, das einerseits über den Namen des französischen Generals verhüllt wird, der 1815 in der Schlacht von Waterloo die Aufforderung der Engländer, sich zu ergeben, mit merde! beantwortet hat (fr. le mot de Cambronne; cf. ähnlich auch dt. Götz von Berlichingen!), andererseits über die Anzahl der Buchstaben seines Signifikanten, was fr. les cinq lettres ergibt (cf. auch Grevisse/Goosse 2008, 13 – R3,3) und ähnlich in den im italienischen Korpus nicht vorhandenen Ausdrücken it. quattro lettere ‘culo’, cinque lettere ‘cazzo’ erfolgt (Widłak 1970, 40). Weitere Umschreibungen thematisieren nicht einen Verwendungskontext oder die Form der tabuisierten Bezeichnung, sondern deren Tabuisierung selbst, von der aus dem Kontext heraus auf die entsprechende Bedeutung geschlossen werden kann, wie z.B. in it. cose che non voglio dire (Galli de’ Paratesi 1964, 31; 1969, 41). Ähnlich ist aus dem französischen Korpus die Andeutung fr. que vous savez zu interpretieren. Eindeutig ungenannt sollen auch die Realia bleiben, die sich hinter Paraphrasen verbergen, in denen der mit ihnen in Zusammenhang stehende Stoffwechselvorgang durch penser ersetzt ist, auf dessen Grundlage dann Gesäß und Fäkalien umschrieben werden. 148

Stellt it. cosiddetto, -a keinen metasprachlichen Hinweis zur nachfolgenden Bezeichnung dar, der deren Bedeutung ähnlich wie fr. ce qu’on appelle unverändert lässt, so ist es entsprechend fr. soi-disant in der Regel mit einer distanzierenden Wertung verbunden und bildet daher ein beliebtes Mittel, um den nachfolgenden Ausdruck zum Euphemismus werden zu lassen (cf. z.B. fr. la soi-disant liberté de pensée, it. il suo cosiddetto miglior amico).54 Diese Möglichkeit der Verbindung aus it. cosiddetto, -a bzw. fr. soi-disant mit einem Euphemismus ist im Korpus nicht verzeichnet; in it. i cosiddetti für ‘coglioni’ hat sicher eher der gleiche Anlaut die entscheidende Rolle gespielt (cf. 4.3.1.2ii) als dieses Verfahren, das allerdings mit Auslassung eines Euphemismus ebenfalls denkbar wäre. fr.

ce que je pense (3.2.8) cinq lettres (3.2.8) mot de Cambronne (3.2.8)

it.

cosiddetti [3.2.6]

où je pense (3.2.6) que vous savez (3.2.4)

(iii) Verben im regulativen Diskurs Der Ausdruck von Instruktionen ist v.a. im regulativen55 Texttypus notwendig, birgt jedoch immer die Gefahr der Unhöflichkeit. Widłak spricht daher von einem Imperativ-Tabu und nennt den euphemistischen Ersatz durch den Indikativ (z.B. mi dai...? statt dammi...)56 oder durch das Konditional (z.B. mi faresti? statt fammi...),57 was auch in Manierentraktaten immer wieder empfohlen wurde, so z.B. von Courtin: «[…] au lieu de dire, allez, venez: fai-

54

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56

57

In der Literatur zur politischen Sprache wird immer wieder die sogenannte DDR angeführt: «Durch das Hinzufügen von ‹sogenannt› reduzierte man die ‹Deutsche Demokratische Republik› zu einer uneigentlichen Redeweise [...] Man wollte damit andeuten, daß es eigentlich z.B. ‹der von der UdSSR besetzte Teil Deutschlands, der in Wirklichkeit zu uns gehört› heißen müsste» (Leinfellner 1971, 93). Der Ausdruck wird nach Lavinio (1990) verwendet, die damit denjenigen der Instruktion bei Werlich (1975) ersetzt, den dieser in Ergänzung der «klassischen» Typen deskriptiv, narrativ, argumentativ (und expositiv) eingeführt hat. In anderen Fällen gilt auch das Tabu des Indikativs, «dans certains cas, trop direct, trop affirmatif, surtout lorsqu’il s’agit des verbes de commandement ou de volonté» und der euphemistische Ersatz durch das Konditional, «moins réel, moins catégorique» (z.B. vorrei... statt voglio...) und das Tabu des Präsens mit Ersatz durch das Imperfekt «pour atténuer l’impression trop forte et directe que peut exercer le présent de l’indicatif» (z.B. credevo statt credo oder dirò statt dico) (Widłak 1970, 51). Ebenso bringt Galli de’ Paratesi zahlreiche Beispiele für den höflicheren Ausdruck von Instruktionen am Beispiel von «dammi...»: «per favore dammi...», «mi dai...?», «vuol darmi...?», «vorresti darmi...?», «puoi darmi...?», «potresti darmi...?», «mi daresti...?», «ti dispiacerebbe darmi...?» oder – «nel linguaggio commerciale» – «Le sarei grato se...», «Voglia essere così gentile da...», «Vuol essere così gentile...?» (1964, 144s.; 1969, 172s.).

149

tes ceci, dites cela, &c. il faut dire par circonlocution, vous feriez bien d’aller: trouveriez-vous pas à propos de venir, &c. il faudroit ce me semble faire cela» (Civilité V – 1671, 29). Die Vermeidung des direkten Imperativs (der selbst aber nicht genannt wird) tritt auch im französischen Korpus auf, das zwei Modulationsarten des weniger deutlichen Ausdrucks der Instruktion enthält. So wirkt es freundlicher, zu «bitten» (fr. je vous prie de ne pas insister) als z.B. mittels imperativischer Verbform zu «fordern» (fr. n’insistez pas),58 und eine Aufforderung, in der der Versuch, etwas zu tun, angemahnt wird (fr. tâchez d’être à l’heure), ist rücksichtsvoller als die direkte Aufforderung hierzu (fr. soyez à l’heure). fr. prier (3.2.4)

tâche, tâchez (3.2.4)

Für das Italienische bringt Migliorini schon 1949 it. invitare als Euphemismus für comandare, denn «siete invitato a pagare non lascia, come i veri inviti, la facoltà di fare una data cosa o non farla, ma è un comando» (1949a, 55), was wiederum dann, wenn die Einladung keinem Befehl gleichkommen solle, die Notwendigkeit von Formulierungen wie siete pregato d’intervenire oder la Sua presenza sarà gradita impliziere (1949, 58). Heute wird it. si prega x di inviare y v.a. in der Verwaltungssprache auch anstelle von x è obbligato a inviare y verwendet,59 wo die Höflichkeit solcher Verfahrensweisen des Ausdrucks von Instruktionen allerdings inzwischen in Frage gestellt wird. So werden diese «eufemismi» bzw. «forme di attenuazione» z.B. im Manuale di scrittura amministrativa kritisiert, einem Handbuch, das im Rahmen des Bestrebens abgefasst wurde, die öffentliche Verwaltung bürgernäher zu gestalten und damit auch «di rendere più comprensibile il linguaggio burocratico» (Ferrara 2005, 9), d.h. den vielkritisierten, da schwer verständlichen, als burocratese diffamierten Sprachstil zu vereinfachen. Im hier interessierenden Kontext bedeutet dies, dass eine als «forma di rispetto» wahrgenommene Ausdrucksweise durch einen «termine diretto che veicola la reale intenzione» ersetzt werden soll,60 was unterstreicht, dass der tatsächliche Grad der Höflichkeit

58

59

60

Im Rahmen sprachlicher Höflichkeit thematisiert auch Raible die Realisierungen der Aufforderung und bringt dabei u.a. das im Korpus vorliegende Verfahren mit fr. prier (und dem Beispiel je vous prie de m’excuser) als höfliche Aufforderung im indikativischen Aussagesatz (1987, 162), während er unter den Realisierungen der Aufforderungen durch einen Imperativ (1987, 160–164) die im Korpus vorliegende Modulationsart (fr. tâche, tâchez) nicht eigens erwähnt. Auf Wortebene kann das im Korpus verzeichnete, mit «admin.» markierte fr. obligé, -ée (3.2.9) im entsprechenden Kontext (z.B. «Vous devez composter votre billet, c’est obligé») durchaus als Beispiel für höflichere Ausdrucksweise gegenüber dem juristisch belasteten fr. obligatoire gelten; ähnlich it. obbligato, -a gegenüber obbligatorio, -a. Cf. Comar: «Nel testo burocratico si ricorre spesso a eufemismi e a forme di attenuazione, che l’autore percepisce come una forma di rispetto nei confronti del destinatario. Generalmente l’eufemismo o la forma attenuata mascherano il timore

150

eines Diskurses nicht allein auf lexikalischer oder grammatikalischer Ebene, sondern nur unter Berücksichtigung von Faktoren wie Absicht und Zweck der Aussage sowie der tieferen Ursachen, Motive und Funktionen der Wortwahl beurteilt werden kann.61 4.3.3 Resümee Die Ausdrücke beider Korpora wurden in 4.3.1s. nach den Arten euphemistischer Neuperspektivierung geordnet dargestellt. Tabelle 20 zeigt zudem die quantitative Verteilung der einzelnen Mechanismen auf die semantischen Gebiete und gibt damit Auskunft zur Dominanz bestimmter Verfahren in den jeweiligen Bereichen und Sprachen. Die Betrachtung der auf den einzelnen semantischen Gebieten dominierenden Bildungsweisen ergibt, dass Deformationen vornehmlich im Bereich «Glaube, Aberglaube und Magie» (33 Euph.) vorkommen, ferner noch auf dem Gebiet «Körperteile» (24 Euph.), wo allerdings Konvergenzerscheinungen zu semantischen Verfahren vorliegen, und einige Male auch bei «Toilettengang und Toilette». Auf Generalisierung wird nach Aussage beider Korpora besonders häufig beim Sprechen über das Liebes- und Sexualleben (53 Euph.) zurückgegriffen; ferner auch im Zusammenhang mit den Bereichen «Toilettengang und Toilette» (23 Euph.), «Körperteile» (11 Euph.), «Weiblicher Lebenszyklus» (10 Euph.) sowie «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» (11 Euph.). Metaphern dominieren wiederum ganz klar den Tabubereich «Sterben und Tod» (51 Euph.), sind aber auch auf den Gebieten «Liebes- und Sexualleben» (8 Euph.) sowie «Körperteile» (12 Euph.) relativ gut vertreten. Der Vergleich beider Korpora ergibt bei den formalen Veränderungen im italienischen Korpus mehrere Umbildungen des tabuisierten Ausdrucks

61

di possibili incidenti diplomatici. Per esempio il verbo dovere in un testo regolativo è spesso sostituito da espressioni come si prega di, si ritiene opportuno che, e così via. Queste forme possono in realtà nascondere un ordine perentorio: sarebbe dunque preferibile evitare tali circonlocuzioni e utilizzare il termine diretto che veicola la reale intenzione comunicativa. Nel seguente frammento, per esempio, la forma si prega dovrebbe essere sostituita in modo da esplicitare il senso di dovere: Si prega, pertanto, la Direzione Regionale delle Entrate per la... di invitare l’interessato a produrre, ogni sei mesi, idonea documentazione …. Proposta di riscrittura: La Direzione regionale delle Entrate per la... dovrà/deve quindi invitare l’interessato a produrre, ogni sei mesi, idonea documentazione…» (2005, 118s.). Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Beurteilung dessen, was höflich ist, nicht nur im Einzelfall, sondern auch kultur- und gruppenspezifisch unterschiedlich ausfällt. So präzisiert z.B. Lakoff, die zwischen distance, deference und camaraderie unterscheidet, «in a camaraderie system, the appearance of openness and niceness is to be sought above all else. There is no holding back, nothing is too terrible to say» (1990, 39).

151

unter Beibehaltung seines Anlauts in den Bereichen «Glaube und Aberglaube» und «Körperteile» (z.B. it. Cristo!  cribbio!, per Madonna!  madosca!, cazzo! cacchio!, cavolo!, capperi!, cazzarola!), während im französischen – mit Ausnahme von saperlipopette! – mit Anlautbeibehaltung nur wenige Beispiele im skatologischen Bereich zu nennen sind (z.B. fr. merde!  mercredi!, miel!, mince!). Mit Anlautveränderung fällt v.a. der im Französischen erfolgte Ersatz von -dieu durch -bleu auf (z.B. it. par Dieu! parbleu!). Bei der vollständigen Substitution von tabuisiertem Dieu bzw. Dio enthält das französische Korpus neben einem nur fiktiven Heiligennamen (z.B. fr. ventresaint-gris!) auch nichtssagende Appellativa (z.B. fr. nom d’une pipe!), die im italienischen Korpus fehlen, wo wiederum auf die Namen der Götter Bacchus und Diana zurückgegriffen wird (z.B. it. corpo di bacco!, perdiana!). Bei den semantischen Veränderungen ist unter dem Stichwort der Generalisierung am Rande auf die unterschiedliche Diminution mit Suffixen im Italienischen (z.B. donnina) und mit petit, -e im Französischen (z.B. petit coin, petit endroit) hinzuweisen, die aber ein allgemeines sprachliches Charakteristikum ist, und v.a. auf das in beiden Korpora frequente Verfahren, euphemistisch die vagere Bezeichnung für den Gattungsbegriff zu verwenden, was mit (z.B. fr. mauvaises habitudes, it. brutto male) oder ohne (z.B. fr. ami, -e, it. amico, -a) differenzierendem Attribut erfolgen kann. Der größte Unterschied zwischen beiden Korpora liegt zweifelsohne im Metaphernreichtum der Euphemismen des italienischen Korpus, zu denen bei den weitaus meisten bildspendenden Kategorien (trotz häufiger französischer lexikographisch unmarkierter Entsprechungen) kaum oder keine Beispiele im französischen Korpus vorhanden sind, wie z.B. bei ‘räumlicher Entfernung’ (it. salire al cielo), der ‘Rückgabe’ der Seele an Gott (rendere l’anima a Dio), bei Opferritualen (sacrificare a Venere) oder auch bei Personifikationen (comare). Unter den Substitutionen durch Entlehnung ist festzuhalten, dass mehrere französische Ausdrücke im Italienischen euphemistisch verwendet werden (z.B. cocotte, maîtresse), der umgekehrte Fall von Euphemismen italienischer Herkunft im französischen Korpus aber nicht vorkommt. Weitere Euphemismen werden durch die Bezeichnung des Gegenteils gebildet, das entweder wie bei der Litotes, für die das französische Korpus etwas mehr Beispiele enthält, verneint wird (z.B. fr. non-voyant, -ante) oder auch nicht, wie bei der Antiphrase mit etwas mehr Beispielen im italienischen Korpus (z.B. it. uomo d’onore). V.a. im französischen Korpus ist der metasprachliche Ersatz in euphemistischer Funktion zu finden (z.B. le mot de Cambronne), wobei mit it. i cosiddetti auch ein italienisches Beispiel vorliegt. Wenn auch im kultivierten Sprachgebrauch häufig, überrascht im Wörterbuch die Aufnahme der euphemisierenden Umschreibung in Form von Andeutungen (wie z.B. fr. que vous savez), aber auch die Berücksichtigung von auf morphosyntaktischer Ebene realisierten indirekten Aufforderungen (z.B. prier: Je vous prie de ne pas insister), wie sie in PR im Gegensatz zu Z angeführt sind.

152

Metonymie

Metapher

Antiphrase

Entlehnung

Litotes

Metasprachlich Verbersatz

gesamt

4 12 0

0

0

0

0

0

0 0

16

I

1 21 1

0

2

2

0

0

0 0

27

Sterben und Tod

F

0

0

2

0

6

0

0

0

0 0

8

I

0

2

0

0 45 0

0

0

0 0

47

Krankheiten und andere Einschränkungen

F

0

0

4

0

0

0

1

1

0 0

6

I

0

1

2

0

4

1

0

3

0 0

11

Körperteile

F

0

1

5

2 0

0

1

0

1 0

10

I

1 23 6

1 12 0

0

0

0 0

43

Eigenschaften und Verhaltensweisen

F

0

1

5

0

4

0

1

7

1 2

21

I

1

0

2

0

5

0

2

1

0 0

11

Liebes- und Sexualleben

F

0

0 18 1

1

0

0

1

0 0

21

I

0

1 35 4

7

0

6

0

0 0

53

Weiblicher Lebenszyklus

F

0

0

5

0

1

0

0

0

0 0

6

I

0

0

5

1

0

0

0

0

0 0

6

Toilettengang und Toilette

F

0

5 11 3

0

0

3

0

3 0

25

I

0

0 12 1

3

0

1

0

0 0

17

Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär

F

0

0

6

0

2

1

0

0

0 1

10

I

0

1

5

0

4

2

0

0

0 0

12

gesamt

F

4 19 56 6 14 1

6

9

5 3

123

I

3 49 68 7 82 5

9

4

0 0

227

Deformation

F

Kürzung Glaube, Aberglaube und Magie

Generalisierung

Tabelle 20 : Arten euphemistischer Neuperspektivierung und semantische Bereiche

153

154

5.

Zur Einteilung und Raison d’être der Euphemismen

In 3.2 wurden die Euphemismen nach Sachgebieten gegliedert vorgestellt, wie dies in bisherigen Untersuchungen im Materialteil – wenn auch mit Unterschieden in den Gliederungspunkten – allgemein üblich ist. Das Folgende ist der Versuch, die Euphemismen unter größeren ursächlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen, die sich teilweise mit der obigen Gliederung decken, teilweise aber auch quer durch die Gebiete relevant werden. Dieses Vorgehen trägt in Verbindung mit zivilisations- und kulturhistorischen Exkursen dazu bei, die Existenz und Existenzberechtigung von Euphemismen zu erklären. Damit wird es auch die zeichentheoretische Betrachtung ergänzen, die den Euphemismus als eine selbst tabufreie Ersatzbezeichnung für eine durch ihre denotative und/oder konnotative Perspektivierung als anstößig gewertete Bezeichnung definieren lässt, denn nur durch kulturhistorische Betrachtungen kann die Anstößigkeit der Perspektivierung tabuisierter Ausdrücke erklärt werden und damit das Gesamtphänomen des Euphemismus eine Untergliederung in seine Ursachen, Motive und Funktionen erhalten. Im Anschluss an die obigen Ausführungen (2.1) können Sprachtabus als ein Aspekt des Sprachverhaltens und damit als Bestandteile eines allgemeinen Verhaltenskodexes gesehen werden, d.h. einer Ethik, die für eine bestimmte Gesellschaft oder als vorbildlich geltende Gruppe in einer klar umrissenen Epoche als Verhaltensorientierung mehr oder weniger verbindlich ist. Abgesehen von absolutistisch oktroyierten Normen ist dies umso leichter der Fall, als die jeweilige, im Allgemeinen kulturelle Elite normalerweise mit ausreichendem Prestige verbunden wird, um ihren Verhaltenskodex als gesamtgesellschaftliche Orientierung für den sozialen Aufstieg akzeptieren zu lassen. Doch stehen auch manche Repräsentanten einer Religion in entsprechend hohem Ansehen, um als Vertreter eines Glaubens und einer Lebensorientierung auch einen sprachlichen Verhaltenskodex exemplarisch auswerten und anwenden zu können, zumindest sofern er sich als wertvoller Bestandteil in die jeweilige religiöse Ethik integrieren lässt. Auf dieser Basis eines Verhaltenskodexes sind schließlich die tieferen Ursachen der Entstehung von Euphemismen zu erkennen und auf einem gemeinsamen Nenner unterzubringen. Auch lassen sich alle bisher genannten Motive für die Verwendung von Euphemismen ursächlich als Teil eines solchen ethischen Kodexes begreifen, der sowohl in Bezug auf den Glauben und Aberglauben als auch hinsichtlich der Achtung anderer und der Selbst155

achtung Regeln für das vorbildliche Miteinander beinhaltet. Selbst bei den moralisch umstrittenen Euphemismen aus Wirtschaft und Politik kann als Motiv die Rücksicht des Verantwortlichen gegenüber dem Adressaten bzw. Betroffenen angeführt werden, doch geht es hier primär um die Vermeidung eventuell prestigeschädigender direkter Wortwahl, die z.B. bei Politikern negativ wahlbeeinflussend oder bei Vorstandsvorsitzenden firmenschädigend sein kann, weshalb Bezeichnungen bevorzugt werden, deren Bezug zum realen Gegenstand oder Sachverhalt nicht mehr gegeben ist, die den Adressaten somit irreführen und im Sinne eines moralisch nicht einwandfreien Verhaltens, einer «Ethik ohne Moral», zu interpretieren sind. So können die unter 3.2 dargestellten Euphemismen aus dem Korpus unter drei Gesichtspunkten dargestellt werden. Der erste erscheint in den meisten Gliederungen von Tabus in der einen oder anderen Form1 und gilt dem magisch-religiösen Aspekt, der mit einer besonderen Art des Sprachdenkens und dessen Folgen im Sprachverhalten zu verbinden ist; unter ihn fallen Euphemismen der Gebiete «Glaube und Aberglaube» und zunächst auch «Sterben und Tod» oder «Krankheiten» (5.1). Die in anderen Untersuchungen auf ihn folgenden Bereiche lassen entweder einen beachtlichen Teil des Phänomens außer Acht2 oder sind lediglich Aufzählungen, in denen die übergeordneten Perspektiven fehlen.3 So wird als zweiter Aspekt hier eine 1

2

3

Der erste Gesichtspunkt ist z.B. bei Nyrop unter dem Titel «euphémismes de superstition» zusammengefasst, der «êtres surnaturels et choses sacrées», «animaux», «maladies» und «mort» umschließt (1913, 270–282), und bei Galli de’ Paratesi im Kapitel «interdizione magico-religiosa», das den Bereichen «interdizione religiosa», «interdizione di superstizione», «morte» und «malattia» gilt (1964, 119–133). Ullmann nennt unter «tabou de superstition», «[notions] qui inspirent une crainte superstitieuse», nur das Wiesel (1969, 260s.), unter «taboo of fear» einige zusätzliche Beispiele (1973, 205s.); Tod und Krankheit finden sich im Kapitel «tabou de délicatesse» bzw. «taboo of delicacy» (cf. die folgende Fußnote). Cf. z.B. Nyrop, bei dem auf die «euphémismes de superstition» «euphémismes de politesse» («vices et défauts», «crimes», «châtiments», «coups» und «cas divers»; 1913, 283–293) sowie «euphémismes de décence» («corps humain», «amour», «scatologie» und «maladies»; 1913, 294–307) folgen, was mehrere Euphemismusbereiche begrifflich unbeachtet lässt; cf. ebenso wie die Kategorisierung Ullmanns, der nach dem supra genannten «tabou de superstition» bzw. «taboo of fear» nur weiter unterteilt in «tabou de délicatesse» (1969, 261) bzw. «taboo of delicacy» (1973, 206s.), «ayant trait à la mort, à la maladie, aux infirmités, aux crimes, aux défauts, etc.» (1969, 261), und «tabou de bienséance» (1969, 261s.) bzw. «taboo of propriety» (1973, 207ss.), «tout ce qui se rapporte aux fonctions sexuelles et physiologiques» (1969, 261). So gliedert z.B. Galli de’ Paratesi neben der schon genannten Kategorie nach «interdizione sessuale» («la donna e i suoi stati fisiologici», «organi sessuali», «oggetti di vestiario e nudità», «i rapporti sessuali», «la prostituzione», «omosessualità»; 1964, 75–112); «interdizione di decenza» («interdizione scatologica», «altre interdizioni di decenza»; 1964, 113–118); «interdizione sociale» («posizioni sociali colpite da interdizione», «interdizione del rapporto linguistico diretto»; 1964, 135–146), «interdizione politica» («interdizione politica», «interdizione burocratica»; 1964,

156

sozial- und zivilisationsgeschichtlich sowie sozialpolitisch begründete Ethik vorgeschlagen, die zumeist auch in kaum trennbarer Kombination mit der Ästhetik zu sehen ist; darunter können die Einzelgebiete «Eigenschaften und Verhaltensweisen», «Liebes- und Sexualleben», «Körperteile», «Weiblicher Lebenszyklus» und «Toilettengang und Toilette» weitgehend subsumiert werden (5.2, 5.3). Ein dritter Aspekt, der von Egoismus und Interessenpolitik gekennzeichnet ist, betrifft u.a. einzelne Euphemismen in «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» (5.4).

5.1

«Ethik und Religion». Sprachliche Verhaltenskodizes zwischen Furcht und Scham Geschrieben steht: «Im Anfang war das Wort!» Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Johann Wolfgang von Goethe

Im Folgenden geht es darum, den Hintergrund zu umreißen, auf dem die Tabuisierung im Bereich von Glaube und Aberglaube entstehen konnte und sich teilweise weiterentwickelt und bis heute gehalten hat. Ausgehend von einem historisch weitverbreiteten Wort- und Namensverständnis und der darauf aufbauenden Blasphemie sowie deren psychologischer Funktion wird das religiös-sakrale Fluchen und auch das Fluchen allgemein in der Entwicklung seines kultur- und sozialgeschichtlichen Stellenwerts und Inhalts beleuchtet. Dabei ergibt sich als Reaktion auf das stigmatisierte blasphemische Fluchen die kausale Verknüpfung mit der Entstehung der entsprechenden Euphemismen und ihrem heutigen Bestand. 5.1.1 Mythisch-religiöses Sprachdenken und Wortverständnis Gleich zu Beginn des Alten Testamentes wird der (u.a. auch schon bei Babyloniern, Sumerern, Ägyptern und Griechen verbreitete) Gedanke formuliert, dass Gott (bzw. ein wie auch immer definiertes übernatürliches Wesen) allein durch sein Wort die ganze Welt geschaffen hat. Es sei hier nur an zwei ausgewählte Stellen aus der Genesis erinnert, die stellvertretend für das gesamte, nach ähnlichem Muster konstruierte erste Kapitel des ersten Buch Moses stehen mögen: «Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht» (Gen 1,3). «Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser [...]. Und es geschah so» (Gen 1,9).

147–152) und «difetti fisici e morali e vizii» («difetti fisici» und «difetti morali ed [...] vizii»; 1964, 153–156), wobei «decenza» als Motiv unter den ansonsten zugrunde gelegten Sachbereichen die Homogenität der Gliederung unterbricht.

157

Mit der Erschaffung von Realitäten durch das Wort Gottes beginnt in der Vulgata4 und in der lutherischen Wiedergabe des semantisch vielschichtigen gr. λóγος5 ebenfalls das Johannesevangelium: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen» (Jo 1,1–4).

Die Interpretation dieser Stelle hat nicht nur Goethes Faust beschäftigt, der die lutherische Übersetzung nicht nachvollziehen möchte: «Geschrieben steht: ‹Im Anfang war das Wort!› Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen»,6 sondern auch in der Theologie haben die johanneischen Logosaussagen eine breite Diskussion ausgelöst.7 Dabei kann die Bedeutung des Wortes im weiteren Kontext von Mythos und Religion betrachtet werden,8 wozu sich z.B. Cassirer folgendermaßen äußert: 4

5

6 7

8

«In principio erat Verbum, et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum». Aus dieser Verwendung erklärt sich denn auch die Tabuisierung von verbum in der Alltagssprache und damit der Ersatz in den romanischen Sprachen: «Spécialisé et presque sanctifié dans cet emploi théologique, verbum devient fatalement inutilisable dans des contextes profanes» (Ullmann 1969, 75). Zur Vielschichtigkeit des Begriffs in der Antike und zur theologischen Interpretation des λóγος-Begriffs und seiner Übersetzung mit «Wort» an dieser Stelle cf. u.a. Bultmann (1941, 16ss., besonders 18s.), außerdem die ausführlichen Artikel von Peppel (2002), Slenczka (2002) und Figal (2002) in RGG, Verbeke (1980) und Bühner (1980) in HWPh sowie Hünermann (2006) in LThK und Stead (1991) in ThR. Goethe (Faust Studierzimmer I, 1224–1227 – [1808] 1994, 61). Theologisch wird «das Wort verstanden als machtvolle Selbstäußerung Gottes»; im Johannesevangelium gilt als Grundaxiom «die Identifikation des präexistenten L[ogos] mit Jesus Christus», in dem das Wort Fleisch geworden ist. Wenn die Verse bei Johannes die «Vorweltlichkeit [des Logos] u. wohl auch seine Gleichursprünglichkeit mit dem einzigen Gott aussagen, in dessen Gemeinschaft er immer schon war, dann ist das als urzeitl. Extrapolation der Überzeugung zu begreifen, daß der (in Jesus inkarnierte) L[ogos] die vollgültige Selbstartikulation Gottes v. Ewigkeit her ist» (Hünermann 2006, 1027). So auch im Kommentar zur Tragödie: «Wenn Faust dazu [zu der Übersetzung Luthers] erklärt, er könne das Wort so hoch unmöglich schätzen (daß die deutsche Vokabel ‹Wort› als Übertragung in Frage käme), isoliert er den λóγος-Begriff aus dem christologischen Kontext des Evangeliums […] und scheint eher an Menschenworte zu denken […]. Über die rasch verworfenen Übersetzungserwägungen Sinn und Kraft kommt er zu dem, was er schließlich niederschreibt: Tat. Ganz und gar in eigener Sache dolmetschend, folgt er damit dem Ansatz Herders. Der schrieb 1774 zu diesen Eingangsversen des Johannesevangeliums: ‹Wort! aber das Deutsche Wort sagt nicht, was der [griechische] Urbegrif [sic] sagt›; ‹kein Gedanke kann ihn [den göttlichen Geist] denken: kein Wort ihn nennen: kein Geschöpf sehen und empfinden […] ewig würksam, schaffend, Gedanke, Wille, Bild, Urkraft, Plan Gottes (lauter Menschliche unvollkommene Worte […])›» (zitiert nach Schöne

158

«In den Schöpfungsberichten fast aller großen Kulturreligionen erscheint das Wort überall im Bunde mit dem höchsten Schöpfergott; erscheint es entweder als das Werkzeug, dessen er sich bedient, oder geradezu als der primäre Grund, dem wie alles Sein und alle Seinsordnung, so auch er selbst entstammt»(1925, 39).

Die letzte Aussage im Zitat wird mythisch so verstanden, dass auch der Schöpfergott, wie z.B. in der ägyptischen Mythologie, aufgrund «einer uranfängliche[n] Bestimmung», die sich aus dem Unbestimmten, der «Zeit vor der Schöpfung, in der noch kein Gott existierte, und in der man noch keinen Namen irgendeiner Sache kannte» herauslöste, «zunächst seinen eigenen Namen ausspricht und sich vermöge der Gewalt, die diesem innewohnt, selbst ins Leben ruft», «sich kraft seines Namens hervorbringt» (1925, 66s.). Doch nicht nur dem Wort Gottes, das in seiner Vollmacht handelt (cf. Bühner 1980, 499) und als die Schöpfung bewirkende Kraft gesehen wird, sondern auch dem Wort im Allgemeinen wird ein hoher Stellenwert verliehen. So wird z.B. in der Aussage «Gott war das Wort» die Identifizierung des Wortes oder Namens mit dem Bezeichneten bzw. mit dem Namensträger ausgesprochen. In diesem Sprachdenken repräsentieren die Wörter nicht nur etwas, stehen als sprachliche Zeichen nicht nur für etwas, sondern erhalten stellvertretende Realität für das Wesen des Bezeichneten.9 Es ist ein «Verhältnis der Identität, der völligen Deckung zwischen ‹Bild› und ‹Sache›, zwischen den Namen und den Gegenstand getreten» (Cassirer 1925, 48): «Deshalb glaubte der chinesische Arzt von früher genug getan zu haben, wenn er nicht das Heilmittel selbst verabreichte, sondern die Asche verbrannten Papiers, auf dem der Name des Medikaments gestanden hatte. Das Aussprechen des Worts greift nach dieser Ansicht hinein in reale Kausalzusammenhänge; es hat beschwörende und herbeizwingende Macht» (Kainz 1941, 248).

Ähnlich schreibt Frazer über das Wortverständnis in früheren Kulturen, dass ihre Angehörigen auf ihre eigenen Namen besonders Acht gaben, da sie ihn als Teil des Individuums betrachteten. Aus demselben Grund galt es

9

1994, 246s.). Cf. dazu, dass schon in der Septuaginta die Verwendung von Logos im Sinne von ‘Tatsache; Handlung’ bezeugt ist (Stead 1991, 435). Cf. Kainz (1941, 248); bis heute sind Überbleibsel der Gleichsetzung von Signifikant und Referent zu finden, so z.B. im Märchen Rumpelstilzchen, neueren Datums auch in Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte, wo der neue Name für die kindliche Kaiserin die Rettung des Landes Phantasia ermöglicht, oder in einigen abergläubischen Vorstellungen bei der Namensgebung. Rationaler formuliert Weisgerber vor dem Hintergrund seiner Überzeugung von der «weltgestaltenden Kraft» der Sprache, die in 5.3.2.3ii noch zu behandeln sein wird: «Er [der Eigenname] hat auf seine Weise Anteil an dem geistigen Verfügbarmachen der Dinge. Das Rumpelstilzchen des Märchens ist vor dem Zugriff des Menschen sicher, solange niemand seinen Namen weiß [...] Aber der Name sichert nicht nur das geistige Festhalten eines Individuums, sondern er ist auch die Durchgangsstelle von dem natürlichen Wesen zur geistig gefaßten Erscheinung: um ihn lassen sich Erfahrungen sammeln, Urteile aufbauen, Meinungen austauschen» (1962, 208).

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auch, die Namen der Götter vor einem möglichen Missbrauch durch Hexer zu schützen, was ihre Tabuisierung erklärt (cf. auch Webster 1942, 301s.): «Unable to discriminate clearly between words and things, the savage commonly fancies that the link between a name and the person or thing denominated by it is not a mere arbitrary and ideal association, but a real and substantial bond which unites the two in such a way that magic may be wrought on a man just as easily through his name as through his hair, his nails, or any other material part of his person. In fact, primitive man regards his name as a vital portion of himself and takes care of it accordingly. […] Hence just as the furtive savage conceals his real name because he fears that sorcerers might make an evil use of it, so he fancies that his gods must likewise keep their true names secret, lest other gods or even men should learn the mystic sounds and thus be able to conjure with them» (Frazer 1976, 321s./342).

Dieses Wortverständnis gab dem Wort bzw. dem Namen von Göttern und Dämonen, aber auch von Tieren,10 von Krankheiten, vom Sterben und anderen gefürchteten, als überirdisch gesehenen Dingen und Ereignissen eine magische Macht. Durch direkte Namensnennung bestand die Gefahr, den Gott, einen Dämon oder auch das gefürchtete Tier damit zu rufen und zu verärgern oder eine Krankheit bzw. ein unheilvolles Geschehen heraufzubeschwören.11 Ähnliches Denken ist für die Antike insgesamt im religiösen Bereich bezeugt. Dies geht u.a. aus Belegen für das Verb gr. εὐφημεῖν hervor, die für bestimmte kultische und sakrale Situationen die Aufforderung enthalten, «Worte guter Vorbedeutung zu sprechen bzw. andächtig zu schweigen»: «Insbesondere im Kontext von Opferritualen stehen Appelle der Priester an die Menge, kein unglückbringendes Wort zu sprechen: ‹Euphēmeíte, euphēmeíte›» (Dietl 1996, 3).

Neben Göttern und Dämonen sind auch alle weiteren verborgenen und meist Unglück bringenden Mächte in die sprachliche Tabuisierung und den sprach-

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Cf. den Ersatz der Nachfolger von lat. mustela in der Romania, so z.B. durch fr. belette und altit. bellola wörtl. ‘Schönchen’, durch it. donnola und pg. donezinha wörtl. ‘Frauchen’ oder durch sp. comadreja wörtl. ‘Gevatterin’, denn «en donnant un nom plus bénéfique à l’animal on espère donc influencer favorablement son comportement» (Léoni 1989, 238); außerdem die vielen ursprünglich euphemistischen Bezeichnungen für den Bär (dt. Bär und engl. bear, ursprünglich ‘braun’), die nicht wie die auf lat. ursus zurückgehenden romanischen Ausdrücke das indoeuropäische Wort weiterführen; ferner sp. bicha ‘Schlange’ («en boca de pers[onas] supersticiosas, que consideran de mal agüero la mención del n[ome] de este animal»; DEA, s.v.). So spiegelt z.B. die Umbenennung des Cabo das Tormentas in Cabo da Boa Esperança nicht nur die Hoffnung, den Seeweg nach Indien entdeckt oder die Südspitze Afrikas erreicht zu haben, sondern auch eine Strategie, um die Stürme nicht herbeizubeschwören, oder moderner ausgedrückt, ein ziel- statt problemorientiertes Denken.

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lichen Verhaltenskodex miteingeschlossen. Im Hinblick auf das Altertum erklärt Der Neue Pauly: «In der magischen bzw. rel. Sphäre wird Heiliges, Mächtiges, Gefährliches nicht direkt benannt (das wäre Frevel, nefas) aus Furcht, dass z.B. ein Gott oder ein Geschehen (bes. ‹Tod›, ‹Sterben›) beschworen oder dass eine Sache oder ein Vorgang entweiht werden könnte» (Schröder 2000).12

5.1.2 Blasphemie auf der Basis von Christentum, Kirche und Magie Die Ausführungen zeigen, dass die dem Aberglauben verpflichtete magische Kraft des Wortes wohl zu allen Zeiten in den meisten, wenn nicht sogar in allen Kulturen bekannt ist und respektiert wird.13 Sie kann in der Anwendung je nach Epoche und Gesellschaft nicht nur übernatürliche oder heilige Wesen betreffen, sondern auch Dinge, Geschehnisse und Sachverhalte, die sich sinnlicher Erfahrung und rationaler Erklärung entziehen.14 Auch das christliche Abendland macht hier keine Ausnahme. 5.1.2.1 Das Alte Testament. Vom Dekalog bis Hiob Das älteste sprachliche Gebot im Christentum ist im Alten Testament das zweite15 der Zehn Gebote Gottes: «Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht» (Ex 20,7).

Das Gebot16 kann durchaus im Zusammenhang mit dem supra genannten, weit verbreiteten Wortverständnis gesehen werden. So schreibt Bologne im Einklang mit dem obigen Zitat aus Der Neue Pauly:

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Cf. dazu u.a. auch Roloff (1965) im LAW, Waardenburg (1989) im EKL. Cf. u.a. Benveniste zum Wortschatz der «institutions indo-européennes» und insbesondere das Kapitel zu «La religion» (1969, 177–279); ebenso Frazer (1976, 342–345) und die obigen Zitate daraus; zu den indogermanischen Verhältnissen cf. auch die Hinweise in Ullmann (1969, 259 n. 1) und schon in Giesebrecht (1901); für Beispiele aus entfernten Kulturen cf. z.B. Balle (1990, 55s.) oder auch Graupmann (1998, 144ss.). «Psychische Grundlage dieses magischen Glaubens an die Kraft der Bezeichnung ist» nach Kainz «primitive Suggestibilität und unkritische Geisteshaltung» (1941, 246). Zur «postbiblischen Zählung der Dekaloggebote» cf. die Aufstellung in Otto (2006, 73), die das «Verbot, Jahwes Namen zu mißbrauchen» in der katholischen und lutherischen Kirche in Anlehnung an Deuteronomium 5 als zweites Gebot zeigt, in der reformierten und anglikanischen Kirche sowie im Judentum in Anlehnung an Exodus 20 als drittes. Cf. auch im Vaterunser den Passus «geheiligt werde dein Name».

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«‹Tu ne blasphémeras pas le nom de Dieu›: Le premier [sic] commandement est déjà une censure linguistique. Et la peur du mot prend ici tout son sens. Dans une civilisation qui apprend à nommer les choses – matérielles et spirituelles – pour les posséder, pour les créer; où le verbe s’est fait chair et a conservé son pouvoir démiurge des origines, on garde la crainte magique de réveiller en les nommant des forces occultes ou malfaisantes» (1986, 249).

Demnach bedeutet z.B. «Missbrauch des Gottesnamens im F[luch] zum Schaden von Mitmenschen […] Verstoß gegen den Dekalog» (F. Graf 1998, 573) und fordert Gottes Strafe heraus. Religionsgeschichtlich werden die Zehn Gebote als radikaler Wandel gesehen,17 der sich zum Teil aus ihrer Entstehung in der Exilszeit (586–539 v.Chr.) und damit in einer Diaspora-Situation erklärt,18 in der die Bewahrung, Festigung oder Ausarbeitung der eigenen Identität besonders wichtig ist. Doch sind zentrale Verbote bereits vor der Formulierung im Deuteronomium 5 belegt und auch dessen nachträgliche Integration als «literarischer Fremdkörper» (Otto 2006, 64) in Exodus 20, bei der aus den fünf Geboten durch genauere Aufgliederung des letzten Verbots19 zwar zehn wurden, das hier interessierende zweite Gebot jedoch weitgehend unverändert erhalten blieb, zeigt dessen grundsätzliche Bedeutung (cf. 2006, 67s., 71). So sind eben die Zehn Gebote keineswegs spontan erlassen, sondern «das Ergebnis eines jahrhundertelangen Überlieferungs- und Reflexionsprozesses» (F.W. Graf 2006, 38). Sie hatten «primär eine ermahnende Funktion, etwa in der Unterweisung der Jüngeren durch eine ältere Autoritätsperson» (2006, 46), und sind damit «zwischen justiablem Verbot

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«Dieser Bundesschluß am Sinai bedeutete, religionshistorisch gesehen, eine völlig neue Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch, geprägt durch radikale Transzendenz Gottes, unbedingten Anspruch auf exklusive Verehrung durch sein Volk und eine moralische wie rechtliche Ordnung, in der die Lebensführung des Frommen in allen ihren Dimensionen als Entsprechung zu Gottes Gebot oder Weisung gedacht wurde» (F.W. Graf 2006, 34). Otto nennt das Sabbatgebot (Dtn 5,12–15), durch das auch nach Verlust des Tempels das Gemeinschaftsgefühl gestärkt und die Etablierung eines Sonderstatus ermöglicht wurde (2006, 67), oder auch das Gebot zum Schutz der Eltern (Dtn 5,16) und damit der Familie, der nach der Zerstörung der «kultischen und staatlichen Institutionen» eine besondere Rolle für das Überleben des eigenen Volkes zukommt (2006, 68) sowie das den Monotheismus durchsetzende Jahwegebot (Dtn 5,8), schließlich «war es doch im Alten Orient geläufiges Muster, nach einer so verheerenden Niederlage die Götter der Sieger als die zu übernehmen, die sich als stärker als die eigenen erwiesen hatten» (2006, 68). «Du sollst nicht morden und nicht ehebrechen und nicht stehlen und nichts Falsches gegen deinen Nächsten als Zeuge aussagen und nicht die Frau deines Nächsten begehren und nicht das Haus deines Nächsten begehren, sein Feld und seinen Sklaven, seine Sklavin, sein Rind und seinen Esel und alles, was deinem Nächsten gehört» (Dtn 5,6–21).

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und ethischem Appel» anzusiedeln (2006, 47), der v.a. im Mittelalter «hohe frömmigkeitspraktische Bedeutung» erlangte.20 Leo Weisgerber stellt fest, dass «in dem inneren Verhältnis zur Sprache ein Kennzeichen zu erblicken ist, das für die Abgrenzung echter Religion gegen Magie und Mythos einerseits, Mystik andererseits wesentliche Bedeutung hat» (1957, 172) und erklärt: «Wortzauber ist eine der üblichsten Formen magischer Praktiken, und selbst wo er sich scheinbar in sein Gegenteil, das Wortverbot, umkehrt, bleibt seine sprachliche Bindung offenkundig. Wenn gerade die Namen der überirdischen Mächte dem Wortzauber am meisten unterliegen, so drückt sich darin die Tatsache aus, daß die Versuchung zu magischen Einwirkungen als Gefahr dem Religiösen immer beigeordnet erscheint» (Weisgerber 1957, 172).

Doch enthält das Alte Testament im hier interessierenden Kontext nicht nur den Dekalog, sondern im Buch Hiob bzw. in der Gestalt Hiobs auch ein erstes Beispiel für das Hadern mit Gott.21 Auf dieses Beispiel berufen sich die Theologen, wenn sie seit der intensiveren Beschäftigung mit der Blasphemie im Spätmittelalter beklagen, dass viele Menschen aus dem Gefühl ohmächtiger Wut heraus den göttlichen Willen verfluchen, der ihnen ihre Ernte verdarb oder ihre Kinder sterben ließ (Schwerhoff 2005, 35s.). Dieses Hadern mit Gott wegen eines Schicksalschlags hat unter Christen teilweise bis heute Bestand, auch wenn im Verlauf der Geschichte eher die Menschen als Adressaten und menschliches Verhalten als Ursache blasphemischer Äußerungen in den Vordergrund gerückt werden. Ein Blick auf das Fluchen und Verfluchen mit tabuisierten Ausdrucksweisen ist daher ein stets präsenter Kontrapunkt bei der Beschäftigung mit dem Euphemismus. 5.1.2.2 Über Blasphemie in Kirchengeschichte und weltlicher Legislative Ständiger Begleiter des Fluchens ist traditionell die Furcht vor der Strafe Gottes, wie sie von der Kirche in besonderem Maße im Rahmen der spätmittelalterlichen Disziplinierung der Gesellschaft durch Dämonisierung gepredigt wurde, einer Disziplinierung durch die Erklärung widerwärtiger Geschehnisse als das Wirken Satans oder seiner Handlanger, vermeintlicher Häretiker, Hexen oder Hexenmeister:

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«Augustin führte den Dekalog in den Taufunterricht ein, damit der Mensch an den Zehn Geboten seine Sündhaftigkeit, also auch seine existentielle Angewiesenheit auf die Kirche als Heilsanstalt erkenne. Kirchliches Interesse an religiöser Sozialdisziplinierung der Gläubigen und popularreligiöser magischer Abwehrzauber gegen das Böse führten im Spätmittelalter dazu, daß der Dekalog hohe frömmigkeitspraktische Bedeutung insbesondere in der Beichtpraxis gewann» (F.W. Graf 2006, 47s.). Cf. dazu u.a. die Übersicht über verschiedene Interpretationen dieses «problem of the innocent victim as the chosen of God» (1991, 163) in Williams (1991, 163–184).

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«Les institutions religieuses ont un pouvoir symbolique et matériel à défendre et/ ou à conserver. Or, dans la France du Moyen-Age où le pouvoir des institutions religieuses commence à perdre de l’importance par rapport aux institutions civiles, le clergé maintient le peuple dans une atmosphère de crainte de la puissance divine; l’hérésie, le blasphème et la sorcellerie sont tenus pour être la cause de tous les fléaux. […] L’oppression, la peur et la soumission semblent être à la base de la vie du peuple. On le maintient dans un état de terreur, celle de Dieu et de ses fléaux ou celle de la justice humaine et de ses châtiments» (Vincent 1982, 13, 29).

Die heftige Reaktion der Kirche auf die Blasphemie schlägt sich vom 6. Jahrhundert an, besonders durchgreifend aber vom 13. bis ins 17. Jahrhundert auch in zahlreichen königlichen22 Verordnungen mit teilweise grausamen Strafen nieder,23 in denen aus heutiger Sicht eine bloße «marque de l’insécurité des autorités religieuses soucieuses d’assurer leur survie» gesehen werden kann (Vincent 1982, 30), die den damaligen Christen aber in der Furcht leben ließen, gegebenenfalls mit den fadenscheinigsten Argumenten z.B. der Blasphemie oder Häresie24 und damit als Komplize Satans schuldig gesprochen zu werden. Ein solcher Kampf gegen atheistische Tendenzen, wie er mit der Inquisition einen grausamen Höhepunkt erreichte,25 stand aber

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Die Befugnisse reiner Kirchengerichtsbarkeit wurden in Frankreich zu Anfang des 16. Jahrhunderts, besonders seit dem Erlass von Villers-Cotterêts (1539) von Franz I., erheblich zugunsten der weltlichen eingeschränkt (Cabantous 1999, 51s.), so dass unerwünschte Verhaltensweisen der Bevölkerung von beiden Institutionen verfolgt wurden: «[…] à partir du XVIe siècle pouvoir ecclésiastique et pouvoir civil s’appuyèrent puissamment l’un sur l’autre pour mieux surveiller la conduite religieuse et morale des populations» (Delumeau 1978, 530). Zu einem ähnlichen Bund zwischen Kirche und Staat kam es auch in Italien, wo z.B. Cosimo I. in seinem Herzogtum Toskana 1542 die «Bekämpfung der Blasphemie zu einer Staatsangelegenheit» erklärte (Cabantous 1999, 68). Zur europäischen Dimension dieser Entwicklung cf. ausführlich Cabantous (1999, 73–86). In diesen Erlassen und Gesetzen war neben empfindlichen Geldbußen, körperlichen Züchtigungen und Verstümmelungen selbst die Todesstrafe vorgesehen, die auch verhängt wurde. Cf. für Frankreich die gut dokumentierte Aufzählung der Erlasse mit Darstellung der jeweils vorgesehenen Strafen und deren Anwendung in Pichette (1980, 97–111); ferner Delumeau (1989, 10), Belmas (1989, 14–16, 22s. und 28), Cabantous (1999, 64s.) und speziell zum 18. Jahrhundert Hildesheimer (1989). Der Unterschied zwischen Häresie und Blasphemie ist theoretisch eine Frage der Akzentsetzung: Häresie bedeutet falsches Reden über Gott, betrifft also den lokutionären Aspekt der Rede; Blasphemie ist schlechtes Reden über Gott, betont also den illokutionären Aspekt. Zur Problematik der praktischen Unterscheidung erklärt Schwerhoff, dass «das Stigma der Gotteslästerung dazu benutzt werden [konnte], entweder bestimmte Ketzer insgesamt als blasphemisch abzuqualifizieren oder einzelne Elemente ketzerischer Rede als lästerlich zu kennzeichnen» (2005, 85). Zur differenzierten Betrachtung des Blasphemiebegriffs cf. auch Cabantous (1999, Kap. 6). «[L’Inquisition] orienta ses redoutables enquêtes vers deux grandes directions: d’une part vers les boucs émissaires que tout le monde connaîssait, au moins de

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auch im Zeichen der Staatssicherheit, schließlich galt es im damaligen Denken, die Bevölkerung nicht nur vor dem Fluchenden selbst, sondern auch vor dem durch seine Äußerung vermeintlich «erzürnten Gott» zu schützen, «[…] d’atteindre et de punir des gens qui niaient l’immortalité de l’âme, doutaient des Écritures, rejetaient le Christ et le Saint-Esprit, et même récusaient l’existence de Dieu. Ce sont tous ces périls conjugués que les autorités de l’Europe du temps aperçurent derrière les paroles injurieuses pour la religion, susceptibles en outre de constituer un grave indice de sorcellerie: elles signifiaient une déviance contre laquelle l’Église et l’État devaient ensemble protéger la société, ne serait-ce qu’en raison de la possible vengeance de Dieu courroucé» (Delumeau 1978, 522s.).26

Denn die blasphemischen Flüche und Äußerungen, «paroles injurieuses pour la religion», wurden mit Häresie assoziiert, wurden als zentrale Indizien für alle möglichen von der Religion abweichenden oder gegen sie gerichteten Haltungen gesehen und machten darüberhinaus der Hexerei verdächtig. Sie wurden als Verbrechen geahndet und für alle Übel verantwortlich gemacht wie z.B. Epidemien, Hungersnot oder Trockenheit27 und betrafen demnach die zivilen Autoritäten auch ganz direkt, wie die folgenden Beispiele aus Venedig zeigen: «Le 29 août 1500, des lettres reçues à Venise annoncent que les Turcs ont occupé Modon. Aussitôt est prise une loi aggravant les peines contre les blasphémateurs et les sodomites. […] En février 1695, un tremblement de terre secoue Venise. Le 10 mars on publie un nouvel édit contre les blasphémateurs. Ainsi pour les

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nom, hérétiques, sorcières, Turcs, Juifs, etc., d’autre part, vers chacun des chrétiens, Satan jouant en effet sur les deux tableaux et tout homme pouvant, s’il n’y prend garde, devenir un agent du démon» (Delumeau 1978, 40); cf. auch Cabantous (1999, 22–24). Delumeau bezieht sich hier zwar auf einen englischen Erlass von 1648, dessen Autoren aber für das über Jahrhunderte andauernde Verhalten gegenüber der Blasphemie im christlichen Abendland repräsentativ sind. Cf. nach den folgenden Beispielen aus Delumeau (1978) auch die vielen zeitgenössischen Dokumente in Borst (1973, z.B. 375s.). Gegenwärtig ist das entsprechende Denken z.B. in Aussagen des ultrakonservativen österreichen Priesters Gerhard Wagner zu finden, der nach der Tsunami-Katastrophe von 2004 anmerkte, dass diese nicht zufällig aufgetreten sei, als reiche Menschen aus dem Westen das Weihnachtsfest im armen Thailand verbrachten, und der den Hurrikan Katrina von 2005 im Pfarrblatt seiner damaligen Gemeinde als mögliche göttliche Strafe für die Stadt New Orleans deutete, indem er zu bedenken gab, dass durch den Hurrikan «nicht nur alle Nachtclubs und Bordelle, sondern auch alle fünf (!) Abtreibungskliniken» zerstört wurden und zwei Tage später im French Quarter eine Parade Homosexueller geplant war (Wagner 2005). Weltweit bekannt wurden diese Bemerkungen 2009 infolge seiner kurzzeitigen Nominierung zum Weihbischof der Diözese Linz durch Benedikt XVI., die direkt auf die Rücknahme der Exkommunikation von vier Bischöfen der Piusbruderschaft einschließlich des Holocaustleugners Richard Williamson folgte und zu einem erneuten Eklat führte.

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dirigeants le blasphème est plus qu’une réaction de colère. Défi à Dieu, il attire sa juste vengeance sur la collectivité» (Delumeau 1978, 523s.).28

Eine solche kausale Interpretation ist nur auf dem Hintergrund des Stellenwerts von Religion und Kirche zu erklären. So spricht Huizinga in seinen Ausführungen zum ausgehenden Mittelalter immer wieder von einem «mit frommem Inhalt und religiösen Formen übersättigten Gedankenleben» (1969, 228) bzw. einem «Leben der mittelalterlichen Christenheit», das «in all seinen Beziehungen durchdrungen, ja völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen» ist (1969, 210): «Das ganze Leben war so von Religion durchtränkt, daß der Abstand zwischen dem Irdischen und dem Heiligen jeden Augenblick verlorenzugehen drohte. Empfängt einerseits jede Verrichtung des gewöhnlichen Lebens in heiligen Augenblicken höhere Weihe, so bleibt andererseits das Heilige durch seine unlösbare Vermischung mit dem täglichen Leben ständig in der Sphäre des Alltäglichen» (1969, 217).

Trotz der angebrachten Kritik an Huizinga, dem u.a. angelastet wird, «er erfasse Kulturgeschichte elitär, begreife die Phänomene idealisierend-ästhetizistisch» (Senger 2004, 12), und seine Ausführungen beschrieben nur «partikulare Strukturen zweier partikularer Euro-Regionen» (2004, 10) und sagten damit wenig über das Mittelalter als europäisches Phänomen aus, als welches es zu sehen sei (2004, 21), soll aus seinem insgesamt wegweisenden Werk auch die Begründung für das Fluchen zitiert werden, das er in tiefem Glauben verankert sieht: «Selbst eine so dumme Sünde wie das Fluchen entspringt nur einem starken Glauben. Denn ursprünglich, als bewußter Eid, ist der Fluch das Zeichen eines bis in die nichtigsten Dinge wirksamen Glaubens an die Gegenwärtigkeit des Göttlichen. Allein das Gefühl, wahrhaft den Himmel herauszufordern, verleiht dem Fluch seinen sündigen Reiz. Erst wenn jedes Bewußtsein zu schwören und jede Furcht vor der Wirksamkeit des Fluches gewichen ist, erschlafft das Fluchen zu der eintönigen Roheit späterer Zeiten» (Huizinga 1969, 225).

Die Kontinuität dieser Verhaltensweise wird von Delumeau bis zum Beginn der Neuzeit bestätigt, doch gibt er den Anstoß, das Fluchen entgegen der Interpretation Huizingas als Konsequenz einer nur oberflächlich verankerten religiösen Gesinnung zu interpretieren:

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Obwohl Delumeau auf die zahlreichen «procès aux blasphémateurs» (1978, 524) verweist, die in Venedig und Modena besonders zwischen der Mitte des 16. und der des 17. Jahrhunderts geführt wurden (cf. auch die nachfolgende Fußnote), ist Italien für ihn insgesamt «plus païen peut-être que ses voisins (c’était l’opinion d’Erasme), ou mieux tenu en main par l’Eglise […]. En tout cas, l’Italie a été le pays le moins antisémite de l’Occident, celui qui a brûlé le moins d’hérétiques et de sorcières, celui qui, le premier, a promulgué un texte officiel [en 1657] modérant les poursuites contre les prétendus suppôts de Satan» (1978, 508).

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«De multiples documents – lettres de rémission, édits, procès devant les tribunaux laïcs et ecclésiastiques, manuels de confesseurs, ouvrages de casuistes, etc. – prouvent que les Européens du début des Temps modernes juraient et blasphémaient énormément. En outre, les contemporains [...] eurent le sentiment que ce péché devenait de plus en plus fréquent. En un temps où l’instabilité psychique était grande, les individus dans leur vie de relation passaient constamment d’un extrême à l’autre et de la violence au repentir. D’où peut-être leur promptitude dans les moments de colère à renier Dieu, la Vierge et les saints. Mais on peut aussi se demander, contrairement à l’opinion exprimée conjointement à deux siècles de distance par Montesquieu, Huizinga et S. Bonnet, si jurons et blasphèmes n’exprimaient pas une christianisation superficielle, une sympathie pour l’hérésie, voire une adhésion secrète à l’athéisme» (Delumeau 1978, 522).

Gegenüber diesen entgegengesetzten Positionen von Glaubensintensität und Atheismus als Hintergrund der Blasphemie kommt Schwerhoff zu der Auffassung, dass «Unglauben [sic] als Motiv in der überwiegenden Zahl der Fälle aus[scheidet]. Es macht keinen Sinn, jemanden persönlich anzugreifen, dessen Existenz man in Zweifel zieht. Insofern können Schmähreden gegen die göttliche Ehre geradezu als negative Glaubensbekenntnisse verstanden werden. Das schließt jedoch nicht aus, daß einige ‹virtuose› Blasphemiker [...] in ihren Schmähreden in einem fundamentaleren Sinn christliche Glaubensgewißheiten angriffen und sich somit als Ungläubige zu erkennen geben. Blasphemische Sprechakte vermögen hier Aufschluss über vormoderne Spielräume des Denkens und Handelns zu geben, die größer waren, als es die übliche Lehrbuchweisheit sich träumen läßt. [...] Das zentrale Thema war keineswegs, wie in der Aufklärung, die (Nicht-)Existenz Gottes, sondern die leibliche Auferstehung und das Jüngste Gericht, mithin die existentiellen Heilstatsachen. Und methodisch beruhte der polemisch artikulierte Unglauben [sic] kaum auf einem systematischen Skeptizismus, sondern auf alltäglicher Erfahrung und traditioneller, durchaus christlich getränkter Buchweisheit» (2005, 307s.).

Ebenso ist auch für Muchembled das blasphemische Fluchen normaler Bestandteil des christlichen Alltags, «partie intégrante du christianisme de la fin du Moyen Âge, comme le sont les pèlerinages ou le culte des saints» (1988, 77). Es scheint zu Beginn der Neuzeit in Italien wie in Frankreich besonders verbreitet gewesen zu sein, wie es neben den supra zitierten Erlassen29 auch zeitgenössische Aussagen wie die von Jean Bodin oder Erasmus belegen. So schreibt der nach Biedermann «bedeutendste Staatstheoretiker des 16. Jahrhunderts» (1973, III) Jean Bodin in seiner Démonomanie des Sorciers:

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Cf. zu Italien auch Burke: «[…] die Lästerung Gottes und der Heiligen […] scheint aber ziemlich verbreitet gewesen zu sein, jedenfalls als Abschluß einer farbigen Palette von Flüchen» (1987, 102); dazu werden eine Reihe von Beispielen angeführt (1987, 104), so z.B. ab 1493 das Vorgehen gegen die Gotteslästerung in Venedig sowie Dekrete des Senats von Mailand (1559), des Großherzogs der Toskana (1542) und von Papst Pius V. (1564).

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«Et tout aussi que Dieu envoye les pestes, guerres et famines par ministère des malins esprits, executeurs de sa justice, aussi faict-il des sorciers, et principalement quand le nom de Dieu est blasphémé, comme il est à présent partout, et avec telle impunité et licence que les enfants en font mestier» (Bodin 1581, 122a).30

Ohne diesen religiös-moralischen Anspruch, d.h. ohne in mittelalterlicher Tradition die Schuld allen Unheils und Übels besonders in der Blasphemie und der dadurch ausgelösten Strafe Gottes zu sehen, wendet sich Erasmus 1530 in seinem Manierentraktat für Kinder allgemein sowohl gegen das leichtsinnige wie erst recht gegen das bewusste Schwören und Fluchen. Denn unabhängig von blasphemischen Ausdrucksweisen, die auch in fluchende Interjektionen übergehen,31 gelten solche emotionalen Äußerungen z.B. aus Ärger oder zur Bekräftigung einer Aussage auch generell als etwas Ungeziemendes und Beschämendes, weswegen dieses reputationsschädigende Verhalten schon bei der Erziehung der Kinder entsprechend getadelt werden solle: «C’est chose villeine & deshonneste d’ouyr vng iurement de la bouche de l’enfant, soit par ieu ou par bon escient. Qu’est il plus villain que la coustume dont en d’aulcuns pays a chescun mot mesmes les filles iurent par le pain, par le vin, par la chandelle, bref, qu’est il qu’elles ne iurent?» (Erasmus 1537, 71r).

Vor allem gotteslästerndes Reden jeder Art wird kompromisslos verurteilt, wie z.B. von della Casa in seinem Galateo (1559), dem «italienischen Knigge»: «Né contra Dio né contra’ santi, né daddovero né motteggiando, si dee mai dire alcuna cosa, quantunque per altro fosse leggiadra o piacevole. [...] E nota che il parlar di Dio gabbando non solo è difetto di scellerato uomo ed empio, ma egli è ancora vizio di scostumata persona ed è cosa spiacevole ad udire: e molti troverai che si fuggiranno di là dove si parla di Dio sconciamente. E non solo di Dio si convien parlare santamente, ma in ogni ragionamento dee l’uomo schifare quanto può che le parole non siano testimonio contra la vita e le opere sue» (Galateo XI – 1993, 21).

So sind bei der Erklärung der Genese der entsprechenden Euphemismen nicht nur eine im zweiten Gebot gründende religiöse Ethik und das Bestreben, strafrechtlich nicht belangt zu werden, ursächlich als zivilisationsgeschichtlicher Hintergrund einzubeziehen, sondern auch die neu entstandene «Kultur der Sitten» (cf. 5.2.1), die u.a. für Cabantous (1999, 66) neben der

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Muchembled betont den Beitrag der Dämonologie zum Rückgang magischer Praktiken aus dem Mittelalter: «Ainsi, à partir du XVIe siècle, la religion établie […] réussit-elle à faire nettement refluer la magie universelle médiévale, qui s’imposait jusque-là aux gens du peuple comme aux plus savants. Pour ce faire, elle diabolisa la sorcellerie, en inventant une ‹science› nommée la démonologie» (1994, 318). Zur semantischen Entwicklung von jurer ‘schwören’ zu ‘fluchen’ und seiner Verwendung in sinnentleerten Ausrufen cf. das folgende Kapitel 5.1.2.3.

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Ineffizienz der bisherigen Gesetzgebung die vielen Erlasse gegen die Blasphemie in der frühen Neuzeit erklärt. Im 17. Jahrhundert wird von Ludwig XIV. ebenso wie schon von seinem Vorgänger Ludwig XIII. berichtet, dass er nie fluchte.32 Allerdings wird diese seine Verhaltensweise der verbreiteten Unsitte des Fluchens am Hofe gegenübergestellt, die ihm äußerst zuwider gewesen sein soll, so dass er während seiner Regierungszeit mehrfach Anstrengungen unternommen habe, es zu unterbinden.33 Vor Ludwig XIII. war Heinrich IV. ob seines Fluchens und Sozialverhaltens berüchtigt, so dass ihm nahegelegt wurde, wenigstens die entstellte Form ventre-saint-gris! als Fluch zu verwenden;34 ebenso bat ihn sein Beichtvater, nicht mehr das Gott verleugnende jarnidieu! (aus je renie Dieu!) zu verwenden, worauf Heinrich IV. mit jarnicoton! reagierte und damit den Namen eben dieses Beichtvaters, Père Cotton, an die Stelle von Dieu setzte.35 Insgesamt bleibt bei der sich durchsetzenden «nouvelle atmosphère d’‹ordre moral›, qui s’abattit sur l’Europe aux XVIe et XVIIe siècles» (Delumeau 1978, 530) zwischen Sollen und Sein ein Spielraum bestehen, in dem «[…] des résistances populaires ne manquèrent pas de contrecarrer les intentions du pouvoir. Pourtant, cette parfaite concordance entre les deux législations – civile et ecclésiastique – et la conjonction d’une centralisation aggressive avec le dynamisme conquérant des Réformes religieuses créèrent autour des populations un réseau serré d’interdits, beaucoup plus rigoureux que celui du passé» (1978, 530).

Auch Schwerhoff kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis eines Rückgangs blasphemischen Sprechens in der Elite, an die sich ja auch Erasmus und della Casa in ihren Manierentraktaten wenden. «Der Adel distanzierte sich von derart rohen Umgangsformen ebenso wie die bürgerlichen Mittelschichten, und so geriet das blasphemische Sprechen wohl all-

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Cf. Trévoux: «Louis le Grand ne juroit point, & a banni de la Cour les jurements & les blasphèmes» (s.v. jurer). Cf. Franklin (1908, 69 n. 2); Pichette (1980, 110s.) nennt vier Erlasse von Ludwig XIV. und über zwanzig Bestrafungen für Übertretungen im Zeitraum von 1655 bis 1685, wobei die Strafen von «amende honorable» über «amende pécuniaire: bien confisqués», «prison», «banissement: galères», «punition corporelle: fouet ou carcan», «mutilation» bis hin zu «mort» reichen (1980, 110s.). Cf. zu Italien auch Burke (1987, 104), der ein Dekret des Senats von Mailand gegen die Gotteslästerung (1559) zitiert und darauffolgend eines des Großherzogs der Toskana und 1564 eines von Papst Pius V. «Le Gouverneur d’Henri IV, lorsqu’il étoit encore jeune, craignant qu’il ne se laissât aller à blasphémer, lui permit de jurer Ventre-saint-gris, mot qui ne signifie rien du tout. Louis XIII ne juroit jamais» (Trévoux, s.v. jurer; auch DAF, s.v.). Zum Sozialverhalten von Heinrich IV. und dessen Folgen cf. 5.2.2.1. «Henri IV […] en fut vertement réprimandé par son confesseur, le révérend père Cotton. ‹Eh bien! fit le roi, si cela vous déplaît tant, c’est vous désormais que je renierai et je dirai jarnicoton›» (France 1907, s.v.).

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mählich in eine soziale Randlage, und mit ihm jene gesamte, von verbaler und physischer Gewalt durchtränkte agonalen [sic] Kommunikation (Walz), deren Bestandteil sie war» (Schwerhoff 2005, 311).

Gleichzeitig warnt er aber davor, «eine Interpretation dieses Prozesses als Disziplinierungserfolg von Kirche und Obrigkeit» (2005, 311) vorzunehmen, die zu kurz greife; eher liege eine Verbindung zu den Normierungsbemühungen im Rahmen der frühneuzeitlichen Wandlungen im Zivilisationsprozess nahe, die sich im Verhalten der Elite dann besonders seit dem 17. Jahrhundert in Frankreich niederschlagen: «Le comportement des élites s’est affiné, le gentilhomme bretteur et jureur s’est effacé devant le courtisan qui se pique de bel esprit et de beau langage» (Belmas 1989, 21).

Das Fluchen beginnt also – wie seit Erasmus unübersehbar – auch sozial stigmatisierend zu wirken, die Blasphemie wird «in zunehmendem Maße als Zeichen schlechter Erziehung und Flegelhaftigkeit» (Cabantous 1999, 213) begriffen36 und sollte diesen zusätzlichen Effekt bis heute behalten. 5.1.2.3 Psychologische Aspekte blasphemischen Fluchens. Zur Funktion tabuisierter Ausdrücke und zur Genese von Euphemismen (i) Blasphemie, Tabuisierung und sprachliche Expressivität Im vorhergehenden Kapitel waren zur Begründung des Fluchens bereits die konträren Ansichten von Huizinga (1969, 217) und Delumeau (1978, 522) zitiert worden, die sich aus der unterschiedlichen Interpretation des Verhältnisses der Bevölkerung zur Religion ergaben. Hatte Huizinga einen starken Glauben als Voraussetzung gesehen, so fragt sich Delumeau, ob das blasphemische Fluchen nicht eher eine oberflächliche Christianisierung, einen Hang zur Häresie und zum Atheismus im Mittelalter widerspiegelt. Die Interpretation Schwerhoffs ist demgegenüber differenzierter und nähert sich derjenigen Muchembleds an, der die Blasphemie als Alltagsphänomen relativiert. Im Folgenden soll es daher um die psychologische Sicht des Phänomens gehen, die im Hintergrund der spezifischen Einstellung zur Religion verankert ist, d.h. im mittelalterlichen «plump-vertrauliche[n] Umgang mit der religiösen Sphäre» (Schwerhoff 2005, 308), in dem Gott und die Heiligen «als gleichrangige Interaktionspartner verletzt und beleidigt [wurden]»: «Dabei konnten sie [Gott und die Heiligen] gleichsam nebenbei profaniert und gedemütigt werden, wenn sie lediglich als Demonstrationsobjekte für die Stär-

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So resümiert Cabantous bereits für das 17. Jahrhundert: «Der Gotteslästerer beleidigt also nicht nur den Himmel, sondern er lehnt auch die soziale und religiöse Ordnung ab, fordert die Obrigkeit heraus und erweist sich als gefährlicher Außenseiter» (1999, 132).

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ke und Souveränität eines Redners herhalten mußten, der sich eigentlich an ein menschliches Gegenüber richtete» (2005, 206s.).

Für Schwerhoff ist die Blasphemie «ein Merkmal der Kultur der Gewalt» und so sieht er – ähnlich wie Cabantous (1999, 210) – «die gottlosen Äußerungen mit aufrührerischen profanen Redewendungen vermischt»: «Gotteslästerliche Reden gegen Gott [...] können als Element einer theatralischen Selbstinszenierung von Männern in Konfliktsituationen verstanden werden. Die häufige Verknüpfung der Blasphemie mit anderen gewalthaften Verhaltensweisen (Drohungen, Injurien, Messerzücken, Schlägen etc.) und die Tatsache, daß unter den Lästerern die Frauen weitaus in der Minderheit waren, zeigen, wie sehr die Gotteslästerung einer ritualisierten Handlungssequenz im Kontext einer agonalen Kultur zu verstehen ist. Im Rahmen der ‹Laienliturgie› der Konfrontation kam der Blasphemie die Funktion zu, Macht und Souveränität zu demonstrieren. Dabei ist das Zitieren höherer Mächte durchaus zwiespältig. Einmal rief der Blasphemiker sie, der ‹konventionellen› Bedeutung des Schwures gemäß, zum Beistand an; seine Flüche konnten als Hilferufe an Gott und seine Helfer verstanden werden, die Rachewünsche des Sprechers zu exekutieren. Auf der anderen Seite aber demonstrierte der Blasphemiker durch die despektierliche Behandlung und Profanierung der höheren Mächte Virilität und Stärke. Provozierend und in trotzigem Herausforderungsgestus erhob er sich zugleich über sein menschliches Gegenüber und über Gott, signalisierte den Kontrahenten, daß er auch stärkere Gegner als sie nicht fürchtete. [...] Der Adlige benutzte gotteslästerliche Schwüre, um seine Herrschaftsmacht zu unterstreichen, während der Räuber damit seine Verachtung gegenüber den herrschenden Normen und seine Bereitschaft zum Tabubruch zum Ausdruck bringen mochte» (Schwerhoff 2005, 305s.).

Interessant ist in diesem Kontext auch die heute gegebene Begründung für das besonders stark verbreitete sakrale Fluchen, das sacrer, in Quebec.37 Als frankophones katholisches Kernland Kanadas hatte es über Jahrhunderte hinweg bis zur Stillen Revolution der 1960er Jahre unter der Herrschaft der Kirche gestanden und ein Fluchinventar geschaffen, für das es weit über die eigenen Grenzen bekannt ist.38 Es ist der bereits erwähnte Spielraum zwischen gestrengem Sollen nach kirchlicher Vorschrift und tatsächlichem Sein, in dem sich das Fluchen hier als Ventilfunktion etabliert:

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«On nomme ordinairement celui qui jure un sacreur ou un sacreux, ou un sacrard. Il ne jure pas, il sacre ou lâche des sacres, ou des blasphèmes; on désigne même l’ensemble des jurons d’un individu comme étant sa sacrure, son pouvoir sacral ou son sacrage [etc.]» (Pichette 1980, 27). Zum Ursprung des religiösen Fluchens in Quebec cf. Hardy (1989); zur Bedeutung von Flüchen im Französischen Quebecs aus pragmatischer Sicht cf. Drescher (2000, 2002a und 2006). Cf. in Mexiko für die Quebecer verwendete Bezeichnung tabernacos, die auf deren Fluch tabernacle! zurückgeht, aber auch die folgenden Verse aus dem Gedicht Je suis Acadien von Leblanc: «Si au moins j’avais quelques tabernacles à douze étages/ Et des hosties toastées/Je saurais que je suis québécois» (1972, 53).

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«Sacrer c’était s’affirmer, montrer que nous n’avions pas peur de la puissance divine. Nous qui étions éduqués dans la crainte de Dieu. Sacrer c’était se venger de ne pouvoir comprendre ce qui nous dominait. C’était une façon de démystifier, de désacraliser le pouvoir religieux» (Charest 1974, 61).

Die Blasphemie als grobe Beleidigung und Ehrverletzung Gottes (seiner Heiligen oder der Religion insgesamt), wie sie aus den zitierten und weiteren Dokumenten Delumeaus und Schwerhoffs hervorgeht, ist natürlich zunächst der Verstoß gegen das zweite Gebot, in dem die Blasphemie nach Benveniste zumindest aus christlicher Perspektive letzten Endes ihren Ursprung hat: «Dans les langues occidentales, le lexique du juron ou, si l’on préfère, le répertoire des locutions blasphémiques, prend son origine et trouve son unité dans une caractéristique singulière: il procède du besoin de violer l’interdiction biblique de prononcer le nom de Dieu. La blasphémie est de bout en bout un procès de parole; elle consiste, dans une certaine manière, à remplacer le nom de Dieu par son outrage» (1974, 254).

Das obige Zitat aus Schwerhoff zum Stellenwert der Flüche zeigt außerdem, dass jedes Tabuisieren das sprachlich Tabuisierte besonders ausdruckskräftig weiterbestehen lässt.39 Dies prädestiniert es wiederum für expressive Ausdrucksweisen40 und vergrößert die Ausdrucksstärke von betroffenen Namen und Bezeichnungen erheblich. In emotionalisierten Situationen werden diese dann zunächst in vollem Bewusstsein des Tabubruchs verwendet und später verbleiben sie dort eventuell als reine, semantisch nichtssagende Ausrufe, wie z.B. das bei allen Gelegenheiten verwendete Oh Gott! im Deutschen. Wie Freud in Totem und Tabu erläutert, wurden Tabus «dereinst von außen auferlegt» und haben sich «vielleicht bloß infolge der Tradition durch elterliche und gesellschaftliche Autorität», «nun von Generation zu Generation erhalten» (1961, 41). Die starke Ausdruckskraft des sprachlich Tabuisierten erklärt sich daher insofern, als Tabus den Wünschen der Menschen entgegenstehen und diese somit unbewusst nach Tabubruch drängen, der wiederum konstitutiv für das Tabu selbst ist: «Denn, was niemand zu tun begehrt, das braucht man doch nicht zu verbieten, und jedenfalls muß das, was aufs nachdrücklichste verboten wird, doch Gegenstand eines Begehrens sein» (Freud 1961, 86).

In anderen Worten formuliert Freud zusammenfassend: 39

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Die Ausdrucksstärke des Fluches ist daher proportional zum Tabuisierungsgrad des Bezeichneten zu sehen, was Hand in Hand mit der Vermutung Buridants geht: «Le jurement suprême, le reniement de Dieu, offre peut-être l’assortiment le plus varié […]: jarnibleu, jarnigoi, jarniguienne, abrégé en jarni» (2006, 2090). Es sei hier als Beipiel aus der Gegenwart nur auf die verbreitete Verwendung der früher tabuisierten Wörter aus der Fäkalien- und Sexualterminologie in Flüchen und Interjektionen verwiesen, die zunächst in voller Expressivität verwendet wurden und diese dann allmählich wieder verloren. Cf. infra 5.2.

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«Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußtem fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene» (Freud 1961, 45).

Ähnlich lebt eben auch der tabuisierte Name Gottes, der Heiligen und sakraler Begriffe weiter und damit die von Freud genannte Ambivalenz von «un des désirs les plus intenses de l’homme: celui de profaner le sacré» (Benveniste 1974, 255) einerseits und von der Furcht vor der Übertretung des Tabus andererseits: «[…] sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten, und die Furcht ist stärker als die Lust» (Freud 1961, 42). Erfasst der Zorn z.B. über eine Krankheit, ein Unglück oder den Verlust eines Freundes aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus einen Menschen, so mag er mit dem Gott hadern, der dies zugelassen hat, oder ihn gar mit lästernden Reden verfluchen.41 «Dans les moments d’emportement ou de surexcitation nerveuse l’homme ne recourt pas à l’euphémisme; au contraire, l’emploi d’un mot énergique est un soulagement, et sert presque de soupape de sûreté» (Nyrop 1913, 257).

Diese ambivalente Haltung zwischen Furcht und Lust zeigt sich z.B. in Paveses Tagebucheintrag vom 6. Dezember 1935, dessen heutige Gültigkeit in Tartamella (2006, 17) bestätigt wird: «Bestemmiare, per quei tipi all’antica che non sono perfettamente convinti che Dio non esista, ma, pure infischiandosene, se lo sentono ogni tanto tra carne e pelle, è una bella attività. Viene un accesso d’asma e l’uomo comincia a bestemmiare con rabbia e tenaccia: con la precisa intenzione di offendere questo Dio eventuale. Pensa che dopotutto, se c’è, ogni bestemmia è un colpo di martello sui chiodi della croce e un dispiacere fatto a colui. Poi Dio si vendicherà – è il suo sistema – farà il diavolo a quattro, manderà altre disgrazie, metterà all’inferno, ma capovolga anche il mondo, nessuno gli toglierà il dispiacere provato, la martellata sofferta. Nessuno! È una bella consolazione. E certo ciò rivela che dopotutto questo Dio non ha pensato a tutto. Pensate: è il padrone assoluto, il tiranno, il tutto; l’uomo è una merda, un nulla, e pure l’uomo ha questa possibilità di farlo irritare e scontentarlo e mandargli a male un attimo della sua beata esistenza. Questo è davero il ‹meilleur témoignage que nous puissions donner de notre dignité›» (Pavese 2000, 20s.).

Historisch ist der Vorgang der Profanierung – wie erwähnt (5.1.2.1) – schon im Alten Testament belegt. Gott wird auch außerhalb des sakralen Bereichs angerufen, bei feierlichen Eiden und beeideten Versprechen als Zeuge aufgerufen, vor allem um einen Meineid auszuschließen, der eine «bedingte Selbstverfluchung» wäre: «Die große Schnittmenge von Schwör- und Fluchverboten hatte nicht zuletzt darin ihre Ursache, daß in beiden Fällen der göttliche Name – implizit oder explizit – un-

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Cf. Schwerhoff (2005, 37) im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Definition und Motivierung des blasphemischen Fluchens.

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ehrerbietig und illegal benutzt wurde. Die als besonders lästerlich gebrandmarkten Schwurformeln bei den Gliedern Gottes konnten zudem auch als Fluch verwendet werden, sodaß sich die illegalen und negativen Eigenschaften beider Sprachhandlungen gleichsam potenzierten» (Schwerhoff 2005, 227).42

Die Schwurformeln wurden dabei oft zu euphemistischen Fluchformeln deformiert, um «in der Vorstellung des Sprechers die für den Fluch befürchteten Bestrafungen überirdischer Instanzen abzumildern» (Langenmayr 1997, 262). Bei den Flüchen mit den im Zitat erwähnten Gliedern Gottes kann hier auf die Euphemismen fr. ventrebleu!  par le ventre de Dieu!, palsambleu!  par le sang de Dieu! oder it. corpo di bacco!  corpo di Dio! verwiesen werden. Obwohl «Dieu et ses analogues» bei Enckell (2004, 21) den weitaus größten Teil seines Fluchinventars der Neuzeit (16. Jahrhundert bis Gegenwart) ausmachen, werden daneben alle möglichen Dinge fluchend zu Zeugen gerufen, wie die bereits zitierte Stelle aus Erasmus zeigt (cf. supra p. 168). Auch die ursprünglich sakralen Ausdrücke degenerieren teilweise zu mehr oder weniger bloßen Flüchen und Interjektionen. Dementsprechend wird bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fr. jurer zum «[…] synonyme de ‹promettre, affirmer avec force› (1461–1469), perdant l’idée de serment. Cette laïcisation du verbe conduit à des expressions où jurer équivaut à ‹attester avec certitude, être certain›, comme il ne faut jurer de rien [etc.]» (DHLF, s.v.).

Aus Quebecer Perspektive erklärt Pichette: «[…] cette coutume de faire serment paraît avoir appartenu aux personnes de qualité. Peu à peu, le serment eut son heure dans les classes populaires; c’est là qu’il perdit son allure guindée et ses cols empesés quand, en sabordant ses tournures longues et complexes, il se fit simple et ne conserva que le mot essentiel, le juron; il perdit en même temps le sérieux et le solennel qui le caractérisaient pour devenir commun et habituel. Cette perte de sens est à ce point marquée que les seuls serments qui persistent encore aujourd’hui ne sont plus guère utilisés que par les enfants. Notons cependant que celui qui jure en disant baptême résume par le fait même le serment je te l’affirme sur mon baptême. Le juron ne serait plus donc qu’une dégénérescence, voire une abbréviation, du serment» (1980, 28).

Die Grenze zwischen Blasphemie und Fluch ist fließend, «car ce qui paraît un simple juron peut être un terrible blasphème, et vice-versa» (Pichette 1980, 28). Expressive Ausrufe können in allen möglichen Situationen und

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Cf. aus 3.2.1 it. corpo di bacco!, fr. ventre-saint-gris! bzw. ventrebleu! sowie eventuell palsambleu! und zur Entstehung der Flüche aus den Eiden Enckell (2004, 27–30): «[Le serment par Dieu] devient blasphématoire et condamnable aux yeux de l’Église quand il est utilisé comme une simple façon de parler (serment invocatoire) sans engagement solennel, jouant au surplus sur tous les aspects de l’incarnation divine, en prenant par exemple à témoin ses membres» (2004, 27s.).

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für alle möglichen Reaktionen auftreten, wobei der ursprüngliche Charakter in ihrer Verwendung je nach Situation noch nicht verblasst sein muss, wie es auch die lebendigen Euphemismen aus 3.2.1 belegen. Eine Folge davon ist, dass im Einklang mit den obigen Zitaten juron seit dem 17. Jahrhundert Synonym von blasphème wurde. (ii) Blasphemie und Euphemismus Wie aber erklären sich die Euphemismen in diesem Bereich blasphemischer Äußerungen, speziell des Fluchens und emotionaler Ausrufe? Zum einen sei an die supra genannte Furcht erinnert, das Tabu der Blasphemie zu übertreten, die sowohl die Furcht vor Gottes Strafe war als auch die Furcht vor den teilweise grausamen Strafen weltlicher Obrigkeit, wie dem öfter praktizierten Abschneiden der Zunge.43 Zum anderen kam seit der frühen Neuzeit die erwähnte soziale Stigmatisierung des Fluchens im Allgemeinen hinzu, die es für den kultivierten Sprecher zumindest in der Öffentlichkeit allmählich ausschließen sollte. Von beiden ist aber zweifellos die genannte Furchtkonstellation das wesentliche Motiv für die euphemistische Deformation oder den wortspielerischen Ersatz tabuisierter Namen oder Ausdrucksweisen. Die Euphemismen ermöglichen dabei eine Umgehung des in göttlicher wie weltlicher Sicht blasphemisch-sträflichen Sprachverhaltens, da ihre Verwendung nicht mehr als direkte, eindeutige Blasphemie gelten kann, und die Sprecher in dem Glauben leben, dass der Genannte den euphemistischen Ausdruck nicht mehr auf sich selbst bezieht. Sie bestätigen damit einerseits den festen Glauben an die schützende Wirkung des Euphemismus, geben aber andererseits dem Hörer durch Assoziationen formaler Art oder durch die Sinnentleertheit des Ersatzausdrucks offenbar doch genügend Hinweise, um den tabuisierten Namen oder den tabuisierten Fluch zu erkennen.44 Hinzu kommt letztendlich, dass der euphemistische Ausdruck des Öfteren den Charakter einer multifunktionalen Interjektion annimmt, in der der blasphemische Grundton jedoch nicht völlig in den Hintergrund tritt.

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Cf. supra p. 164 n. 23. Für die Fortexistenz grausamer Strafen für Blasphemie lassen sich Beispiele aus anderen Kulturkreisen anführen wie z.B. die im November 2007 der britischen Lehrerin Gillian Gibbon im Sudan angedrohten vierzig Peitschenhiebe, weil in ihrem Unterricht ein Teddy-Bär mit dem Namen des Propheten Mohammed benannt wurde. Der Euphemismus behält den «cadre locutionnel de la blasphémie». «La blasphémie subsiste donc, mais elle est masquée par l’euphémie qui lui ôte sa réalité phémique, donc son efficacité sémique, en la faisant littéralement dénuée de sens. Ainsi la blasphémie fait allusion à une profanation langagière sans l’accomplir et remplit sa fonction psychique, mais en la détournant et en la déguisant» (Benveniste 1974, 257).

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Der Ausgangspunkt für die euphemistischen Veränderungen im Christentum – und nicht nur dort45 – ist nach den bisherigen Ausführungen natürlicherweise der Name Gottes, wobei im folgenden Zitat unausgesprochen im Sinne des supra dargelegten Wortverständnisses argumentiert wird: «On blasphème le nom de Dieu, car tout ce qu’on possède de Dieu est son nom. Par là seulement on peut l’atteindre, pour l’émouvoir ou pour le blesser: en prononçant son nom» (Benveniste 1974, 255).

Die Beispiele aus den Korpora bestätigen diese Aussage, indem in depreziativen und provokativen Äußerungen wie fr. sacré nom de Dieu! euphemistisch nom beibehalten, aber der Name (de) Dieu weggelassen (nom!), deformiert (scrogneugneu!) oder durch in dieser Verwendung sinnentleerte Appellativa ersetzt wird (nom d’un petit bonhomme!, nom d’un chien!, nom d’une pipe!). Zudem wird der Name Gottes im Französischen im Wortspiel euphemistisch mit -bleu entstellt (parbleu!, sacrebleu!), was auch die schon erwähnten Interjektionen betrifft, bei denen – anstelle der blasphemischen Verwendung des Namens Gottes – die im Sprachdenken ebenso wirksamen und daher (wie schon in früheren Kulturen)46 tabuisierten Körperteile (ventrebleu!, palsambleu!) herangezogen werden, sowie seine Eigenschaften (vertubleu!) oder auch sein Tod (morbleu!). In italienischen Flüchen wird Dio ebenfalls weggelassen (poffare!), wortspielerisch (per zio!) oder durch andere Gottheiten ersetzt (corpo di bacco!, per bacco!, poffarbacco!; perdiana!, perdina!, perdinci!, per dindirindina!). Die Tabuisierung schließt aber auch die Namen von Gottes Sohn und seiner Mutter mit ein (it. madosca!  per Madonna!, cribbio!  per Cristo!), erstreckt sich ferner auf Sakrales (fr. saperlipopette  sacristi!, it. osteria!  ostia!) und umfasst mit diacine!, diamine!, diascolo auch den Teufel. 5.1.2.4 Zu Veränderungen im Charakter der Flüche. Le mot de Cambronne als Wendepunkt Die Ausführungen zeigen, dass Religion nicht nur der Glaube an eine transzendentale Macht oder transzendentale Mächte ist, wie der Glaube an Gott in monotheistischen Religionen, sondern auch Verhaltenkodizes impliziert. So ist die Tabuisierung des Fluchens – wie schon ausgeführt – einerseits ethisch-religiös durch das supra zitierte Gebot des Dekalogs verständlich, den

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Für das Judentum z.B. bezeugen die jüngst erschienenen Tagebücher von Willy Cohn, die die Zeit des Untergangs des Breslauer Judentums 1933–1941 umfassen, noch die Ehrfurcht vor dem Gottesnamen, der durchweg als «G’tt» geschrieben erscheint (Cohn 2006). Cf. supra (p. 160) das Zitat aus Frazer (1976, 321s.), in dem der Wunsch ausgedrückt ist, den eigenen Namen – ebenso wie «any other material part» der eigenen Person zu schützen.

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Namen Gottes nicht zornig oder leichtsinnig zu entweihen, bzw. durch die Furcht, mit dem missbräuchlichen Aussprechen des Namens Heiliger oder als gefährlich eingestufter Dämonen, Lebewesen, Dinge oder Vorkommnisse ein Unheil heraufzubeschwören. Andererseits kam die Furcht hinzu, durch ein solches Verhalten für die damit begründeten Folgen strafrechtlich belangt zu werden. Als weiteres Moment ist das Fluchen seit dem 16./17. Jahrhundert auch sozial stigmatisierend, weil die Elite in ihrem neuen Distinktionswillen versucht, diese «Unsitte» zu vermeiden. Im 18. Jahrhundert geht das «Verbrechen göttlicher Majestätsbeleidigung» dann endgültig aus der kirchlichweltlichen Mischkompetenz in eine rein weltliche Zuständigkeit über: «Il [le crime de lèse-majesté divine] représente une menace pour le royaume, en bafoue le caractère très chrétien et est lié à une notion de marginalité et de dissolution dangereuse pour l’ordre social» (Hildesheimer 1989, 65).

Dabei zeigen die Prozesse in Frankreich und Italien, dass Blasphemie als einziger Anklagepunkt immer seltener wird; der Gotteslästerer wird «nunmehr weniger für das verurteilt, was er sagt, als vielmehr für seinen Lebenswandel» (Cabantous 1999, 133). Die Todesstrafe für Blasphemie wird letztmals 1766 gegen den Chevalier de la Barre ausgesprochen,47 wobei schon «le souci de la protection de l’État» durchschien, da Blasphemie im Laufe der Zeit immer mehr mit «[le souci] de la société» (Hildesheimer 1989, 80) assoziiert wurde: «C’est dans le contexte de l’accusation que le blasphème prend sa vraie valeur, une valeur plus sociale que religieuse. On en accuse celui qui s’est rendu indésirable dans la vie en société, le voisin ivrogne qui bat sa femme, menace son entourage, met feu à sa maison [...]» (Hildesheimer 1989, 79).

Angesichts dieser zumeist «pauvres types», die verurteilt werden, «on est à mille lieues d’une quelconque affirmation ostentatoire d’une impiété quelconque triomphante» (1989, 80). Erst die Französische Revolution, die in Italien keine vergleichbaren Folgen hatte, hat dazu geführt, dass die Blasphemie im Rahmen der Entchristianisierung 1791 aus dem französischen Strafgesetzbuch gestrichen wurde, so dass sie im 19. Jahrhundert allein von der durch die Restauration gestärkten Kirche mit ihren eigenen Methoden bekämpft (cf. dazu Cabantous 1999, Kap. 5) und «der Kampf gegen die unchristlichen Reden wieder zum identitären Kristallisationspunkt des französischen Katholizismus» wird (Schwerhoff 2005, 317). Der Gotteslästerer, zu dessen Kreis jetzt auch «aufgeklärte Bürger, Anhänger fortschrittlicher Ideen oder Sozialisten, Freidenker, Arbeiter,

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Cf. Hildesheimer (1989, 73), der auch einen Überblick über die Prozesse von 1701 bis 1766 und Berufungsverhandlungen vor dem «Parlement de Paris» gibt (einschließlich Anklagepunkte und ausgesprochene Strafen der beiden Instanzen) (1989, 69–74); zum Prozess gegen den Chevalier cf. auch Cabantous (1999, 143–149).

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Anhänger der verschiedensten Denkrichtungen» gehören, wird zum «Feind der Kirche, der sich von den verhaßten Früchten der Revolution nährt» (Cabantous 1999, 186). Die Julirevolution von 1830 bestärkte durch ihren antiklerikalen Charakter die Kirche in dieser ihrer konservativen Haltung, und das Thema Blasphemie bleibt weiterhin und bis in die Gegenwart von zunehmend grundsätzlicher Natur: «Blasphemie wurde zum Code, unter dem über grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, ja über die Verletzung und den Schutz grundlegender Werte, Autoritäten oder Tabuzonen verhandelt werden konnte. [...]

Zunehmend in den Mittelpunkt rückten dabei [...] obszöne und sexuell konnotierte Blasphemien» (Schwerhoff 2005, 317). Neben der Existenz nach wie vor vitaler Euphemismen in diesem Bereich seien als Beispiele für das Fortbestehen der Blasphemieproblematik nur an die Diskussionen der letzten Jahre über die von iranischen Mullahs erklärte Fatwa gegen Salman Rushdie wegen seines Buchs The Satanic Verses erinnert sowie an jene über den Film Martin Luciano Scorseses The Last Temptation of Christ oder über die Comic-Sendung Popetown.48 V.a. im Hinblick auf Scorseses Film und Popetown hat die katholische Kirche ihre Verurteilung der Gotteslästerung unverändert deutlich zum Ausdruck gebracht, wie dies auch im neuen Katechismus der Katholischen Kirche formuliert ist: «Gotteslästerung ist ein direkter Verstoß gegen das zweite Gebot. Sie besteht darin, daß man – innerlich oder äußerlich – gegen Gott Worte des Hasses, des Vorwurfs, der Herausforderung äußert, schlecht über Gott redet, es in Worten an Ehrfurcht vor ihm fehlen läßt und den Namen Gottes mißbraucht» (Ecclesia Catholica 1993, 551).

Neben einer solchen Perpetuierung religiös basierten Fluchens und entsprechender Euphemismen ändert sich im Charakter der Flüche dennoch etwas Grundsätzliches, das im obigen Zitat aus Schwerhoff (2005, 317) – wenn auch noch unter blasphemischem Vorzeichen – schon angedeutet ist. Fluchen ist unter Hinweis auf das vorherige Kapitel vornehmlich durch die Funktion «de nous purger des mots refoulés» zu begründen, doch jetzt beginnt sich der Stellenwert der bis dato dominierenden religiös-sakralen Flüche zu verändern, indem sie allmählich durch ein andersartiges Register von Flüchen ergänzt und relativiert werden: «Le tabou a donc changé de domaine, et sa nature a changé. La peur est devenue honte. L’exemple le plus frappant appartient au domaine inconscient: celui du langage émotif. Les jurons ont toujours eu pour fonction de nous purger des

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Für weitere blasphemisch motivierte Diskussionsthemen neueren Datums cf. supra (p. 10 n. 12). Auch Schwerhoff (2005, 7s.) nennt mehrere Fälle, die in der unmittelbaren Vergangenheit die öffentliche Diskussion erhitzten; ebenso gibt Cabantous Beispiele (1999, 223).

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mots refoulés: si jadis ils utilisaient de préférence les registres de la mort et du sacré (tue-Dieu, mort-Dieu, sang-Dieu...), ils marquent désormais une nette prédilection pour les ‹putains› et les ‹bordels›. Le pivot entre les deux registres est symboliquement célèbre: c’est le mot que Cambronne lança en 1815 aux Anglais qui le sommaient de se rendre...» (Bologne 1986, 250).

Bereits zuvor haben sexuelle und skatologische Elemente die blasphemischen Äußerungen verstärkt,49 doch jetzt erfolgt eine spürbare Umakzentuierung zugunsten der Ersteren, die mit einem Rückgang der Bedeutung der Gotteslästerung verbunden ist.50 Auch Schwerhoff meint trotz der sakral-religiösen Beispiele, die er aus dem 20. Jahrhundert zitiert: «Worte, derer sich streitbare Männer auch heute noch in Konfliktsituationen bedienen, [sind] meist sexuell oder skatologisch konnotiert und haben ihren religiösen Beigeschmack verloren. Der christliche Glaube besitzt nicht mehr genügend Bedeutung im Alltagsleben, um mittels profanierender Äußerungen als ‹Kraftquelle› angezapft zu werden» (2005, 318).

Die moderne christlich-bürgerliche Verhaltensnorm sei von einer «verinnerlichten Frömmigkeit geprägt», die im Gegensatz zu einem großen und starken Christentum keine «starken Blasphemien» mehr hervorzubringen vermag. Zum letzten Gedanken im Zitat von Schwerhoff äußert sich Merle noch kategorischer, wenn er ausführt: «L’irrespect religieux? Soyons sérieux. Cela fait longtemps qu’on peut taper à bras raccourcis sur la religion» und diese generelle Aussage zur «religion majoritaire» nur im Hinblick auf die Religion von Minderheiten einschränkt (1993, 8), was natürlich im Zusammenhang mit dem zunehmenden Engagement für den Minderheitenschutz zu sehen ist (5.3). Die häufigeren Markierungsangaben der italienischen Lexikographen im Bereich «Sterben und Tod», der in christlicher Auffassung zu Gottes Walten gehört, sowie die Neigung der französischen Lexikographen, veraltete Ausdrücke im Bereich «Glaube, Aberglaube und Magie» auch als veraltet zu markieren, könnten vorsichtig darauf schließen lassen, 49

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Als Beispiele für die Kombination klassischer Quellen von Beschimpfungen, der drei «s» «sacré, sexe, scatologie» (Merle 2004, 26), zitiert Burke aus dem Italien des 16. Jahrhunderts catzo di Dio, puttano di Dio (1987, 102) und an anderer Stelle Dio becco (1987, 104). – «In Toledo äußerte 1526 ein junger Knecht aus Neapel Reniego di Diu e de nuestra dona puta fututa en el culo cornuda. Ein sizilianischer Gotteslästerer bezeichnete 1586 Gott als geilen Ziegenbock (cabrón cornudo) und unsere liebe Frau als faule Hure (puta vagaza); auch im spätmittelalterlichen Avignon und im Rom des 16. Jahrhunderts wurde Maria mit Vorliebe als ‹Hure› beschimpft» (Schwerhoff 2005, 239). – Französische Belege für Flüche dieser Art bringt Enckell (2004, 31s.), z.B. je renie Dieu de con (1717). Die in der vorangehenden Fußnote genannten Beispiele sind auch nach dem «mot de Cambronne», das bei Enckell (2004) jedoch nicht als Wendepunkt thematisiert ist, noch belegt und bis heute zu finden, wie z.B. sacré nom de Dieu de merde (1842; Enckell 2004, 32), merde de Dieu (1980; Enckell 2004, s.v.).

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dass die von Merle angesprochene Tendenz auf einen in beiden Ländern unterschiedlichen Tabuisierungsgrad direkter Ausdrucksweisen im Bereich der Religiosität verweist.51 Die Abkehr vom religiösen Fluch wird mit dem mot de Cambronne deutlich, das als Übergang zu Flüchen auf der Basis von merde gesehen wird. Wichtig ist, dass Furcht und Scham als Motive im euphemistischen Bereich seit der frühen Neuzeit koexistieren, die in vielerlei Hinsicht wegbereitende Funktion hat. Insofern ist der «pivot» vielleicht etwas spät angesetzt, was durch eine historische Untersuchung zu verifizieren bleibt.52 Er muss wohl vor allem symbolisch und natürlich auf Flüche beschränkt gesehen werden sowie unter dem Vorzeichen der Frequenz, da der Wandel im Fluchverhalten die generelle Furcht vor dem direkten Nennen der Bezeichnung nicht außer Kraft setzt, die mit Sicherheit u.a. besonders bei Krankheiten (cf. 5.1.3.1) bis in die Gegenwart reicht. Hinzu kam aber die Erkenntnis, «[…] que dans le domaine du sexe, l’euphémisme ou la censure suggéraient bien plus que le mot cru qu’on bannit. Ainsi, lorsqu’on obligea Yvette Guilbert à retirer d’une chanson un mot trop osé, elle le remplaça par un ‹hum hum› si bien nuancé d’un refrain que la chanson un peu leste en devint franchement obscène!» (Bologne 1986, 250).

Auf die Scham und ihre Bedeutung wird infra (5.2.2) noch näher einzugehen sein. Doch seien hier schon Beispiele für Interjektionen genannt, zumal Bologne von «putains» und «bordels» spricht, die zum Sexualbereich gehören, während sein Beispiel von Cambronne aus dem skatologischen Bereich stammt. Ersterer hat mit bestimmten Körperteilen seinen Niederschlag insbesondere in italienischen Euphemismen gefunden, Letzterer in französischen, was die Deformationen von it. cazzo und fr. merde in den Interjektionen it. cacchio!, cazzica!, capperi!, caspita!, cavolo! bzw. fr. mercredi!, miel!, mince! gut belegen und sich damit auch mit der – wenn auch sehr pauschal formulierten – Aussage von Tartamella zur Verwendung von tabubrechenden Flüchen deckt:

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Doch relativiert die zusätzliche Dokumentation im Materialteil diesen möglichen Schluss insofern, als einerseits GDLI mehrere Bezeichnungen aus Z (unter b–e, i, n, p, q) ohne Markierungsangabe auflistet und andererseits besonders das Wörterbuch der Académie (DAF) einige weitere Euphemismen hierzu nennt (unter j, k, l, p) oder Bezeichnungen des PR (unter b, e, f, g) als solche markiert; auch fehlt fr. absent als Äquivalent zu markiertem it. assente (t) in dieser Bedeutung in PR, ist aber in TLF und DAF markiert angeführt. So bringt Bologne selbst bereits eine skatologische Metapher aus dem Wortschatz der Preziösen: «Nos libertés auront peine à sortir d’ici les braies nettes» (1986, 250). Schwerhoff (2005, 236–239) thematisiert die Verwendung skatologischer Ausdrücke im blasphemischen Kontext und sexuell gefärbter Blasphemien seit dem 13. Jahrhundert.

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«Per esprimere rabbia, disgusto, frustrazione o sorpresa non si usano solo termini religiosi. In Italia e nei Paesi latino-americani, per sfogare le emozioni forti si usano termini sessuali (Cazzo!, Figa!) mentre in Francia, in Germania e nei Paesi anglosassoni il lessico scatologico, cioè degli escrementi (Merda!)» (Tartamella 2006, 19).

Die von Bologne und auch von Schwerhoff genannte thematische Akzentverlagerung bei Flüchen und Interjektionen erklärt wohl mit, warum diejenigen religiös-sakraler Herkunft heute oft als veraltet markiert werden (fr. morbleu!, palsambleu!, ventrebleu!, vertubleu!, saperlipopette!), nicht mehr als euphemistisch verstanden bzw. in der Lexikographie nicht entsprechend markiert (fr. diantre!)53 oder auch im Gegensatz zu früheren Auflagen nicht mehr aufgeführt werden (it. giuraddina!, giuraddiana!, giuraddinci!). Auch ist die Scheu, z.B. den Namen Gottes oder des Teufels bei allen möglichen Gelegenheiten auszusprechen, zurückgegangen, und nur wenige würden wohl noch abergläubische Hemmungen haben, eine Pizza diavolo mit eben diesen Worten zu bestellen, weil sie dabei den Namen des Teufels aussprechen müssten und ihn provozieren könnten. Hier ist zweifellos eine Enttabuisierung erfolgt, denn andernfalls könnten ja auch die Nummer der Pizza auf der Speisekarte oder die üblichen Zutaten genannt werden. Zudem verlieren die entstellten Flüche und Ausrufe oft ihre ursprüngliche euphemistische Motivation für den Sprecher. Wer denkt bei dt. verflixt noch an eine euphemistische Entstellung von verflucht?54 Auch der lange Fluch eines fränkischen Landwirts Fixe Granate Boland Stern Element noch mal! lässt ihn selbst in der Regel weder die (zur Effektverstärkung kumulierten) tabuisierten Ausdrücke erkennen noch überhaupt an einen Euphemismus denken.55 Doch angesichts der ablehnenden Haltung gegenüber dem Fluchen im gepflegten Umgang bleiben solche Interjektionen aufgrund ihrer sozial stigmatisierenden Wirkung meist unausgesprochen oder beginnen eine Art Eigenleben wie dies auch andere Euphemismen tun.56 Sie werden ihrerseits erneut euphemisiert, also verniedlicht oder verharmlost, wie it. poffardio! (aus può fare Dio) zu poffarbacco!, oder perdiana! (aus perdio!) zu

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Cf. auch Buridant, die zu den vielen Deformationen blasphemischer Flüche feststellt, «de cet ensemble profus de traces du sacré, marquées en diachronie, en diatopie ou en diaphasie, subsiste surtout pardi (= par Dieu), ayant évincé les autres formes» (2006, 2090). Zur Herkunft von verflixt cf. EWDS (s.v. verflixt) oder auch Dietl (1996, 2). Selbst der Linguist analysiert hier nicht leicht: Fixe  Kruzifix, Granate  Sakrament, Boland  Heiland, Element  Sakrament; Stern könnte auf Fixstern zurückzuführen sein und dieses als Verballhornung von Kruzifix verstanden werden (zu Letzterem cf. Rada 2001, 100). Bologne bringt dazu ein schönes Beispiel: «Quand en 1946 Sartre publia La Putain respectueuse, nombre de théâtres scrupuleux affichèrent prudemment La P… respectueuse. Et la mode s’empara du terme ‹respectueuse› pour désigner le métier que l’on ne pouvait citer qu’en abrégé. Ce qui devait arriver arriva: un théâtre tout aussi scrupuleux afficha un jour La Putain r…» (1986, 250).

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perdina! und per dindirindina! Auch bleibt die Frage offen, ob die Tatsache, dass ursprüngliche Flüche (oder deren euphemistischer Ersatz) als «harmlosere» Interjektionen z.B. zum Ausdruck des Erstaunens verwendet werden, nicht auch als euphemisierendes Element betrachtet werden kann, da solche Ausrufe dann auch «salonfähig» werden können. So liegt z.B. bei einer Interjektion wie it. accidenti!, die zum Ausdruck alles Möglichen verwendet wird («rabbia, meraviglia, ammirazione, stupore, contrarietà e sim. o gener. avversione»; Z, s.v.) für den Sprecher nicht mehr zwangsläufig eine Assoziation mit der pejorativen Verwendung von accidente (u.a. mandare un accidente a qlcu.) vor. Dennoch haben Modifikationen wie acciderba! oder accidempoli! zweifellos eine zusätzliche euphemistische Komponente bewirkt und «entschärfen» einen vorwiegend im negativen Kontext geäußerten Ausruf. 5.1.3 Sprachtabus bei Krankheit und Tod Krankheit und Tod sind klassische Bereiche sprachlicher Tabuisierungen, da sie zunächst ebenfalls auf dem Sprachdenken bzw. Wortverständnis beruhen, das supra dargestellt wurde und das ohne größere Einschränkungen bis ins 19. Jahrhundert weiterbesteht: «Jusqu’au XIXe siècle, les grands domaines de la proscription linguistique ressortissent à la conjuration maléfique. On ne nomme pas Dieu, la mort, les maladies qui font peur, les forces diaboliques» (Bologne 1986, 249).

In modifizierter Form bleibt dieses Denken z.B. in Bezug auf den Tod und bei bestimmten, meist tödlichen Krankheiten jedoch auch weiterhin und bis heute lebendig, auch wenn teilweise neue Motive hinzutreten, die eine direkte Bezeichnung des Leidens unausgesprochen lassen, so z.B. das Schamgefühl beim Betroffenen selbst oder auch die Rücksicht bzw. das Mitleid ihm gegenüber beim Gespräch mit oder über ihn. 5.1.3.1 Krankheiten zwischen Furcht und Scham Auch die Krankheiten sind mit religiösen Vorstellungen verknüpft; sie sind Teil des Lebenskreislaufes, der von der Geburt bis zum Tod alles umfasst,57 was den Fortbestand der Menschheit betrifft: «[…] la sfera di tutto ciò che si riferisce alle attività biologiche e al ciclo della vita umana; in questo secondo caso è la stessa importanza di queste attività per

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Die Gebiete «Fortpflanzung», «Körperteile» oder auch «Weiblicher Lebenszyklus» gehören heute primär zum Bereich des Scham- und Taktgefühls; cf. daher dazu infra 5.2.4.

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la sopravvivenza della specie umana a renderle sacre, pericolose a nominarsi, da evitare» (Cardona 1989, 674).

Ganz im Walten Gottes gesehen, werden sie und ihre Entstehung im Laufe der Geschichte denn immer wieder auch mit existenziellen Fragen in Verbindung gebracht: «In keinem Kulturkreis und zu keiner Epoche waren Gesundheit und Krankheit stärker mit den existentiellen Fragen des Menschen verbunden als im Mittelalter. […] «Krankheit ist sicherlich zunächst der Sünde Sold; sie ist unser Erbteil und – gleich wie der Tod – unser aller Schicksal. Krankheit wird auch als Strafe für persönliche Schuld aufgefaßt, dies aber äußerst vorsichtig und nie verallgemeinernd. Krankheit kann sogar als besondere Gnade gelten, schon hier auf Erden Verfehlungen abzubüßen» (Schipperges 1993, 9, 20).

Speziell der Tod und schlimme Krankheiten reichen dabei in bestimmten Fällen in den Bereich des Scham- und Taktgefühls hinein bzw. gehen sogar in diesen Bereich über (z.B. bei Geschlechtskrankheiten) und sind nicht mehr alle zwangsläufig mit den abergläubischen Furchtvorstellungen verknüpft, die Krankheit durch das Nennen ihrer Bezeichnung zu provozieren.58 Zwar zeigen die Euphemismen in der Lexikographie, dass viele direkte Bezeichnungen bis in die Gegenwart59 sprachlichen Tabus unterliegen, doch werden manche dafür eingetretenen Ausdrücke, «die ursprünglich auf abergläubische Furcht zurückzuführen sind, heute nicht mehr als solche erkannt»60 und sind auch nicht mehr als Euphemismen markiert, wohingegen andere «heute eher aus Scham oder Taktgefühl angewandt» werden (Dietl 1996, 1). Das Taktgefühl kommt auch generell im Vermeiden von Gesprächen über Krankheit und Tod zum Ausdruck, zumal in Gesellschaft oder gar beim Essen. So empfiehlt schon della Casa: «Né a festa né a tavola si raccontino istorie maninconose, né di piaghe né di malattie né di morti o di pestilenzie né d’altra dolorosa materia si faccia menzione

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Unabhängig von der sprachlichen Komponente ist allgemein bekannt, dass bereits die Angst vor einer Krankheit den Nährboden für ihr Entstehen mitvorbereiten kann. Neben heutigen Büchern zur Psychosomatik cf. schon eine Stelle in der Encyclopédie, wo neben anderen Ursachen für die Ansteckung mit der Pest auch «la crainte de la part de l’ame» genannt wird: «Les passions, le chagrin & la crainte de la part de l’ame; le mauvais régime & l’abus des choses non-naturelles, soit de l’air, soit des alimens, soit le défaut d’exercice, contribuent beaucoup à attirer cette maladie» (Jaucourt 1765b, 452b). So schreibt z.B. Cardona in seiner Erklärung des Sprachtabus zu dessen heutiger, teilweise noch vorhandener Vitalität: «Pronunciare i nomi delle cose vuol dire rendere presenti […] le cose stesse, secondo una concezione che in parte ancora condividiamo nella pratica; e dunque di ciò che è sgradevole o temuto, si eviterà già il nome stesso» (1989, 674). Cf. z.B. das supra erwähnte verflixt! oder die Beispiele engl. bear, dt. Bär; fr. belette, it. donnola (p. 160 n. 10).

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o ricordo […] a noi non istà bene di contristare gli animi delle persone con cui favelliamo, massimamente colà dove si dimori per aver festa e sollazzo e non per piagnere» (Galateo XI – 1993, 21s.).

Dementsprechend nehmen die Euphemismen im Bereich der Krankheiten im Materialteil zweifellos eine Übergangsstellung zwischen der früheren Furcht ein, die entsprechenden Leiden durch direkte Namensnennung zu bekommen, und der mit Takt verbundenen Scham. Aus Furcht wurde z.B. die Pest, die in Schüben vom 14. bis 18. Jahrhundert wütete und als kollektive Strafe Gottes gesehen wurde, nicht bei ihrem Namen genannt. Bei Geschlechtskrankheiten verbindet sich im kirchlich-moralischen Denken der damaligen Zeit die Furcht mit der Scham, auf Abwege geraten und angesteckt worden zu sein. Zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der in Paris das Nacktbaden in der Seine verboten, die Theaterzensur eingeführt wird und die Verfolgung der Libertins beginnt, meint Bologne: «La vertu est en l’air. Chacun la respire. C’est à cette époque que les maladies sexuelles deviennent honteuses et que l’on commence à remplacer par des points de suspension les mots que l’on ne peut même plus épeler» (1986, 316).

Dies bedeutet eine Umakzentuierung in der Erklärung, die zu einer doppelt begründeten Tabuisierung direkter Namen von Krankheiten aus Furcht und Scham führt. Um von der eigenen Schuld und Bestrafung abzulenken, wurde früher bei vielen Übeln und gerade bei Krankheiten die Schuld oft bei Fremden gesucht, wie dies fr. mal de Naples, mal napolitain (aber auch mal français) und it. male dei Franchi, male francese (auch malfrancese),61 male spagnolo62 für die nach Fracastoros Gedicht63 als Syphilis bezeichnete Krankheit noch widerspiegeln. Die Furcht (auch der Namensnennung) lebt in Verbindung mit der Scham heute v.a. noch bei jenen Krankheiten fort, die wie die erwähnte Pest und der Aussatz (Lepra) im Mittelalter oder die Tuberkulose im 19. Jahrhundert

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Cf. die Erklärung in Z: «detto così perché si credeva che fosse stato portato a Napoli sotto Carlo VIII dall’esercito francese» (Z, s.v. malfrancese). So auch schon Fracastoro in De contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres von 1546: «In Italien war sie [die Syphilis] ungefähr zu jener Zeit ausgebrochen, als die Franzosen unter König Karl das Königreich Neapel besetzten, etwa zehn Jahre vor 1500, von wo an dem Übel der Name Franzosenkrankheit gegeben wurde. Die Franzosen aber kehren den Schimpf der Benennung gegen uns, heißen sie die italienische Krankheit, die Spanier die portugiesische, die deutschen bald das Übel des hl. Maevius, bald die Franzosenkrankheit […]. Wir haben sie in unserem Gedichte Syphilis betitelt» (zitiert nach Wöhrle 1988, 6). Eatough unterstreicht die hohe Rezeption des von ihm als «perhaps the most famous Rennaissance Latin poem» bezeichneten Werks z.B. mit den «over one hundred editions of the poem with translations into at least six languages» (1984, 1).

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in ihrer Herkunft oft (noch) nicht erklärbar sind. Im 20. Jahrhundert sind dies verschiedene Krebskrankheiten, die Charles Bruneau unter der Frage «Subsiste-t-il encore des tabous?» nennt und zu denen er erklärt: «Le mot tuerait le malade plus sûrement que ne le ferait la maladie» (1952, 13). So wird von dem ehemaligen US-Präsidenten Reagan, dessen Krebskrankheit öffentlich immer kaschiert wurde, berichtet, dass er selbst leugnete, Krebs zu haben: «I didn’t have cancer. I had something inside of me that had cancer in it and it was removed» (Allan/Burridge 1991, 184). Italienische Euphemismen bei der Krebserkrankung sind nach Serianni z.B. Ca oder K ‘carcinoma’ sowie lesioni secondarie, lesioni ripetitive ‘metastasi’ «[per] non presentare brutalmente al paziente una realtà sgradita» (2005, 263), und auch bei it. tumore anstelle von cancro oder bei fr. tumeur maligne, carcinome, sarcome ist eine euphemisierende Wirkung nicht auszuschließen. Im italienischen Korpus fi ndet sich bei Migliorini (1949a, 56) noch als Euphemismus für die Epilepsie genannte brutto male, während z.B. zum Herzinfarkt keine verhüllenden Ausdrücke lexikographisch markiert sind. Die besonders starke Tabuisierung von Krebs mag daran liegen, dass es für das Entstehen eines Tumors keine befriedigende Erklärung gibt, so dass alle möglichen Argumente im Volk kursieren: «defect in character, and therefore the feeling is that cancer patients are somehow responsible for the fact they are sick»; «[cancer] affl ict[s] those people, particularly women, who were nervous and stressed», «desease caused by ‹luxurious living›»; «a woman’s desease whereas heart desease is typically associated with men» (Allan/Burridge 1991, 184, 185): «The cancer mortality rates have always been higher for women than for men; and even in antiquity, physicians noted that the desease was particularly prevalent in women: no doubt they were swayed by the fact that it commonly strikes breasts, the cervix, and other ‹secret› or ‹private› organs of females. Through fear and shame, many women kept their illness secret, which only made the aura of mystery and fear surrounding it that much more devastating» (Allan/Burridge 1991, 185).

«There is no shameful stigma attached to having a ‹heart condition›» (1991, 184), denn Herzinfarkt, der gegenüber Krebs fast konkret-mechanisch gesehen wird, bekommen eben nach laienhaft verbreiteter Auffassung, die auch hierzulande kursiert, vor allem jene überarbeiteten, gestressten Leute, die sich beruflich besonders eingesetzt haben oder bei ihrer Arbeit überfordert wurden. Ebenso laienhaft wird ein Schlaganfall eher negativ mit Alkoholkonsum konnotiert, so dass es in diesem Denken «vornehmer» ist, einen Herzinfarkt zu bekommen als einen Schlaganfall. Die relativ wenigen in den Korpora markierten Euphemismen im Bereich physischer Krankheiten als klassischem Tabuthema (cf. neben dem schon genannten it. brutto male nur fr. vilaine maladie, maladie honteuse und it. comare) könnten mit Merle damit erklärt werden, dass heute direkter als früher davon gesprochen wird. Doch sieht auch er die «tabous classiques» 185

«(hormis peut-être le sexe…)» in der heutigen Zeit nicht vollkommen beseitigt, sondern nur in «variations» oder «improvisations sur le(s) thème(s)» modifiziert (1993, 8): «La maladie? Elle l’est aussi [un tabou], encore que la façon d’aborder la question, progrès scientifique aidant, ait, de fait, un peu évolué. On emploie toujours, il est vrai, l’expression ‹longue et douloureuse maladie›, mais sans doute moins systématiquement qu’auparavant. On peut toutefois se demander, et sans pour cela chercher à faire de la psychanalyse de bazar, pourquoi le sida, apparu voici une dizaine d’années, a encore si souvent droit (en dépit de l’usage et peut-être aussi à cause de son origine acronymique...) à une majuscule!» (1993, 9).

Als Hinweis auf eine gewisse Tabuisierung der im Zitat genannten AidsKrankheit kann auch die ausführliche Diskussion der französischen Terminologiekommission um die korrekte Bezeichnung für ‘malade atteint de sida’ gewertet werden.64 In Italien ist nicht die Abkürzung der it. Lehnübersetzung sida ( sindrome da immunodeficienza acquisita), sondern wie im Deutschen aids ( acquired immune deficiency syndrome) der geläufige Ausdruck, was sich zum einen sicherlich mit der – verglichen mit Frankreich stärkeren Ablehnung von Anglizismen – ausgeprägteren Anglophilie Italiens erklärt, zum anderen den direkten Ausdruck auf doppelte Weise ersetzt, d.h. neben der Abkürzung auch durch den Gebrauch des Fremdwortes. Doch ist gerade die Abkürzung nicht primär tabuisierend, sondern praktisch begründet, so dass die abgekürzten Formen it. aids oder fr. sida im Grunde das Normalwort für eine Krankheit darstellen, die anders als altbekannte sexuell übertragbare Krankheiten wie die Syphilis vielfach direkt bezeichnet wird und dies selbst zu einem Zeitpunkt, zu dem sie aufgrund ihrer Unheilbarkeit besonders gefürchtet ist.

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Cf. Depecker (2001, 297ss.). In dem hier interessierenden Zusammenhang wären folgende bei der Bezeichnungswahl vorgebrachte Argumente zu erwähnen: Fr. immunodéprimé, -ée wurde als «un peu péjoratif» (2001, 298) abgelehnt, sidatique sei sidaïque zu ähnlich, ferner wurde dafür eingetreten, keine «dénomination, qui augmente le caractère d’exclusion du malade», zu wählen (2001, 298). Dabei kam auch die Frage auf, ob überhaupt eine Bezeichnung vorzuschlagen ist, denn: «M. Defert indiquait de son côté que certaines maladies n’ont pas de nom, et que ce sont surtout les maladies stigmatisantes qui en reçoivent un. En ce qui concerne le malade atteint du sida, on trouvait des dénominations établies dans deux pays, le Brésil (aiditico), et le Québec (sidatique). Considérant qu’inventer un mot ou en officialiser un représenterait aujourd’hui un acte trop lourd de signification, [il] refuse de s’associer à toute initiative qui irait en ce sens. Le question de statuer ou non fut tranchée en faveur du oui»; letztendlich fiel die Wahl auf fr. sidéen, das auch in Québec fr. sidatique mehr und mehr ersetzt (2001, 299). Boulanger nennt als politisch korrekte Termini u.a. personne malade du sida, personne vivant avec le VIH, personne vivant avec le sida (2000, 322). Cf. auch noch infra (p. 371) unter «Ethik ohne Moral» die Ansicht, dass Ausdrücke wie people with AIDS oder exposed als «doublespeak» zu kritisieren sind.

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Das Verschweigen von Krankheiten ist aber heute – neben der supra beschriebenen Furcht und der Scham – noch mit einer weiteren Motivation verbunden, denn im Geschäftsleben kann natürlich auch die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, eine Rolle spielen (obwohl offiziell niemand wegen Krankheit entlassen werden kann)65 bzw. einen möglichen Arbeitsplatz, bestimmte Aufträge oder eine höhere Position gar nicht erst zu bekommen.66 So formuliert z.B. Lürssen in seinen Ausführungen zu den heimlichen Spielregeln der Karriere als eiserne Regel: «Erzählen Sie nie von Ihren Schwächen oder persönlichen Problemen. Dies gilt vor allem für Schwächen, die Ihre berufliche Leistungsfähigkeit einschränken könnten. In der Firma sollten Sie über solche Dinge nicht einmal im Vertrauen mit jemandem reden. Sie wissen nie, ob er es nicht doch weitererzählt und wo die Information letztendlich landet. Es kann unter Umständen lange dauern, aber irgendwann verwendet irgendjemand die Information gegen Sie» (2006, 130s.).

Dazu gehörte seit den 1970er Jahren auch das Ausgebranntsein, das sogenannte Burnout-Syndrom,67 wenn es nicht aufgrund des verschwommenen Krankheitsbildes inflationär als Modewort verwendet, sondern als heilbare psychische Krise verstanden wird: «Burnout ist heute salonfähig, weil Prominente sich dazu bekennen und das Outing fast schon ein Statussymbol ist. Es trifft die Bestarbeiter und setzt ambivalente Signale in der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht. Bezeichnet das Syndrom Versager, oder ist es schon ein Leistungsnachweis? Für die Betroffenen ist der psychische Kollaps eine Katastrophe, die sie lieber nicht erlebt hätten. Doch oft sind es heute Winner-Typen, die plötzlich als Verlierer erscheinen. Gutsituierte, die ausscheiden und sich unbezahlten Tätigkeiten zuwenden […] all jenen Arbeiten, die der Gesellschaft nie ausgehen werden, die jedoch bisher wenig Prestige hatten» (Heusser-Markun 2006, Spalte 4).

Ganz entgegen der obigen Empfehlung von Lürssen entschuldigte sich kürzlich eine Studentin – nicht ohne dabei einen gewissen Stolz durchscheinen zu lassen – mit einem diagnostizierten Burnout für eine Prüfung. Im Berufs-

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Die z.B. in den USA auf die stereotype Frage «How do you do?» vielfach übliche gewordene Antwort von Arbeitskollegen «Oh, I am fine» hat (neben anderen kulturspezifischen Besonderheiten) häufig auch diesen Hintergrund. Zum Teil gibt es natürlich auch das umgekehrte Phänomen, dass bestimmte, v.a. auf extremen Arbeitseinsatz hindeutende Leiden auch (doch meist nachträglich oder gar posthum) prestigefördernd interpretiert werden, wie das Beispiel des «vornehmeren» Herzinfarktes zeigt. «Syndrom der völligen seelischen und körperlichen Erschöpfung, des Ausgebranntseins» (Herberg/Kinne/Steffens 2004, s.v.). «Der Begriff ‹Burnout› wurde erstmals 1974 vom New Yorker Arzt und Psychotherapeuten Herbert Freudenberger verwendet und heißt ‹Ausgebranntsein›»; er ist in Deutschland «seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Gebrauch» (Apotheken Umschau 03/2001 in Herberg/Kinne/Steffens 2004, s.v.). Cf. dazu die ausführlichen Berichte von Heusser-Markun (2006) und Petermann (2006).

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leben würde ein aufstrebender junger Mensch – trotz des obigen Zitats von Heusser-Markun – sicherlich vorsichtiger mit einer entsprechenden Diagnose umgehen, denn in weiten Kreisen haben immer noch absolutes Schweigen der Betroffenen oder umschreibende, harmloser wirkende Bezeichnungen den Vorzug, wie das ursprünglich euphemistische fr. fatigué, -ée für ‘malade’68 im Sinne eines aufgetretenen chronischen Leidens. Wenn über bestimmte Krankheiten überhaupt gesprochen werden muss, führt neben den eventuellen Auswirkungen auf die Karriere auch die Rücksichtnahme gegenüber den Betroffenen oder deren eigene tabuisierende Einstellung zu ihrer Krankheit bis heute häufig zur Verwendung von Euphemismen. Im gesellschaftlichen Umgang unter kultivierten Leuten sind Krankheiten seit der frühen Neuzeit als unangenehmes Thema ohnehin völlig tabu (cf. z.B. das Zitat aus Galateo, supra p. 183). So lässt sich immer wieder feststellen, dass bestimmte, vor allem in ihrer Genese unerklärbare Krankheiten von den davon Betroffenen eher totgeschwiegen werden, sei es aus Scham, eingestehen zu müssen, an ihnen zu leiden, sei es aus Angst vor der sozialen Isolation, oder sei es aufgrund der verbreiteten Denkweise, die Schuld am Entstehen der Krankheit bei den Betroffenen selbst zu suchen.69 Denn wird die Krankheit bekannt, kommt es immer wieder zur sozialen Stigmatisierung des Kranken (oder seiner Angehörigen), es sei denn, es handelt sich um eine stressbedingte Krankheit, die – v.a. innerhalb der gesellschaftlichen Eliten – häufig zwar auch eigenverschuldet ist, dennoch aber eine besondere soziale Anerkennung erfahren kann, was sich schon beim Herzinfarkt zeigte und im Ansatz auch bereits beim Burnout zu spüren ist. Abgesehen von solchen mit Arbeitsüberlastung konnotierten psychosomatischen Leiden sind die genannten Gründe für die soziale Stigmatisierung des Kranken in landläufigen Meinungen gerade bei psychischen Krankheiten besonders wirksam:

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DAF führt dieses Beispiel s.v. euphémisme an (cf. 4.2.1.1), ohne es jedoch s.v. fatigué zu markieren. Auch PR und TLF geben keine Markierung. Für physische wie psychische Einschränkungen zitiert TLF s.v. euphémisme das Beispiel inadapté, aber s.v. ist es nicht markiert. Dabei ist in erster Linie an feststellbare Einflussfaktoren wie ungesunde Ernährung oder fehlende Bewegung gedacht; im weiteren Sinne aber auch an das bis heute nicht ganz überwundene Verständnis von Krankheit als Strafe Gottes bzw. (angesichts der Ablösung des alttestamentarischen Rachegottes durch das Neue Testament) des Schicksals oder einer sonst wie definierten Macht. Solch ein im Falle moralisch nicht einwandfreien Verhaltens des Erkrankten oder seiner Angehörigen leicht aufkommender irrationaler Gedanke wird im Normalfall umgehend verworfen, dokumentiert in seinem kurzen Erscheinen aber dennoch spezielle Reste des alten Denkens, in dem Krankheit und Tod mit Furcht und Scham verbunden waren, auch wenn diese Faktoren der Tabuisierung heute weitgehend durch Rücksicht gegenüber dem großen Leid der Betroffenen abgelöst wurden.

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«As in most cases of stigmatizing illnesses, the origins of mental illness are usually mysterious. Because of this, there is a great shame attached to having this disease. Again, the lack of an obvious cause means that much of the burden of responsibility falls on the patients themselves. Mental illness is viewed not so much as a disease, but more as a moral failure! While it is of course perfectly acceptable to be physically ill, it is not acceptable to be mentally ill» (Allan/Burridge 1991, 187).

Psychisch Kranke galten lange Zeit als vom Teufel besessen, was aber nicht immer unbedingt als leibhaftiges Besessensein interpretiert wurde; vielmehr wurde davon ausgegangen, das Diabolische dringe nur in den Menschen ein und überschütte ihn «mit Unverstand und Unziemlichkeiten»: «Auf diese Weise, schließt Hildegard [von Bingen], läßt Gott seine Freunde durch Krankheiten demütigen, um sie zu reinigen, auf daß sie ‹durch die Reinigung noch heller als strahlende Steine vor Gottes Antlitz erscheinen›» (Schipperges 1993, 112).

Die Sprache der gegen Ende des Ancien Régime auf besonders unbarmherzige Weise von der Gesellschaft getrennten «Geisteskranken»war nach Louis Sébastien Mercier die Blasphemie und so berichtet er, wie z.B. Epileptiker durch Gotteslästerung vor einer Reliquie von ihrer «diabolischen Besessenheit» geheilt werden sollten (Cabantous 1999, 215). It. deviante oder einfaches fr. malade sind indirekte Bezeichnungsweisen für einen Kranken dieser Kategorie aus den Korpora; das aus fr. maison de santé als Lehnübersetzung gebildete it. casa di salute ‘clinica per malattie nervose’ stellt einen per Antiphrase ähnlich verhüllenden Euphemismus dar. Häufig werden psychische Krankheiten aber eher durch Schweigen umgangen, ebenso wie das Phänomen der Dummheit, das unter Rücksichtnahme auf die «weniger Klugen» auch rücksichtsvoll umschrieben werden kann: «C’è poi la tipologia eufemistica dovuta a gentilezza, cortesia, dettata dalla volontà di non offendere. Di un uomo completamente stupido si dice che è ‹debole di mente› (non a caso imbecille in origine voleva dire semplicemente ‘debole’, fisicamente ‘fiacco’)» (Beccaria 1996, 50).

Der Petit Dictionnaire de l’hypocrisie enthält fr. non favorisé, -ée d’intelligence ‘imbécile’ (Habrekorn 1998, s.v. imbécile), Boulanger nennt personne ayant une déficience intellectuelle, personne ayant un fonctionnement mental différent, personne différemment douée, personne mentalement défiée, personne souffrant d’une déficience intellectuelle (2000, 321) und im italienischen Korpus findet sich der Latinismus it. minus habens, den PR mit dem Erstdatum 1836 ohne Markierungsangabe angibt.

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5.1.3.2 Das Ende des Lebens. Zwischen Furcht und Hoffnung Auch der Bereich «Sterben und Tod» enthält von der Antike70 bis heute besonders viele euphemistische Bezeichnungen, mit denen das unabwendbare Ende des Lebens sprachlich weniger grausam-direkt dargestellt wird: «Jusqu’à nos jours aussi se sont maintenus les euphémismes du brutal ‹il est mort› (il a vécu, il est disparu…). S’ils ne servent plus qu’à atténuer une expression trop violente, ils avaient jadis un aspect véritablement conjuratoire» (Bologne 1986, 249).

Euphemismen wie fr. s’il m’arrive qqch. oder it. se dovesse capitarmi qlco. zeigen das sprachliche Tabu von mourir bzw. morire und damit letztendlich, dass der Tod selbst für die «moderne Welt zu einem ‹Tabu› geworden ist». Zu seiner endgültigen Erklärung haben «die Lebensphilosophen [die Gesellschaft] im Stich gelassen» (Schipperges 1999, 96), so dass diese auch aufgrund seiner Unerklärbarkeit vor diesem Phänomen «nicht nur ratlos geworden, sondern auch sprachlos» geworden ist (1991, 91). Es ist «the great taboo subject – the ‹unmentionable› in contemporary polite society» (Allan/ Burridge 1991, 157), es sei denn – was paradox anmutet – es handelt sich um den gewaltsamen Tod, wie er in der Filmindustrie in allen Variationen dargestellt wird und offenbar genügend Zuschauer anzieht, aber eben keine wirkliche persönliche Betroffenheit mit sich bringt. In den bildlichen Darstellungen des Todes im Mittelalter drängten nur «die gröberen Aspekte» in das Bewusstsein der Betrachter, als «makabre Vision», die: «[…] weder das Elegische noch das Zarte [kennt]. Und im Grunde bedeutet sie eine irdische, selbstsüchtige Einstellung auf den Tod. Es ist nicht die Trauer über den Verlust geliebter Menschen, sondern der Schmerz über den eigenen kommenden Tod, der nur Unheil und Entsetzen bedeutet. Da findet sich kein Gedanke an den Tod als Tröster, an das Ende der Leiden, an die ersehnte Ruhe, das vollbrachte oder das unvollendete Lebenswerk, keine zärtliche Erinnerung, keine Ergebung» (Huizinga 1969, 207).

In fr. malheur (en cas de malheur) für den Tod ist allerdings der Gedanke des «Unheils und Entsetzens», auch in Bezug auf andere, in einem abstrakteren und damit weniger direkten Ausdruck vorhanden. Ebenso enthält das seit Dante belegte passo doloroso das Motiv des Schmerzes. Das kirchliche Denken kennt im Mittelalter nur die zwei extremen Themen:

70

Zur Verbreitung in entfernteren Kulturen cf. Balle (1990, 87ss.), die auch dort «die Furcht vor dem Tod und vor dem Ungewissen» als «Motiv für alle Tabus» feststellt (1990, 89).

190

«[…] die Klage über die Vergänglichkeit, über das Ende von Macht, Ehre und Genuß, über den Verfall der Schönheit; und den Jubel über die gerettete Seele in ihrer Seligkeit. Alles was dazwischen liegt, bleibt unausgesprochen» (Huizinga 1969, 208).

Der zweite Gedanke, der das Weiterleben der Seele nach christlichem Denken beinhaltet, ist auch heute noch in tröstenden euphemistischen Metaphern festgehalten, wie in it. salire in paradiso, salire al cielo, volare in paradiso, volare in/al cielo. Dabei kommt wie in passare a miglior vita, volare alla gloria dei beati auch der Glaube an ein besseres Leben im Jenseits zum Ausdruck, ebenso wie in mondo immortale, bene immortale derjenige an die Unsterblichkeit bzw. das ewige Leben. Die Hoffnung auf Gottes Gnade, die Seele bei sich aufzunehmen, wird in it. rendere l’anima a Dio, rendere lo spirito a Dio; addormentarsi nel bacio del Signore oder gar in fr. Dieu l’a rappelé à lui ausgesprochen. Neben den deutlich christlich motivierten Ausdrucksweisen stehen jene, in denen zumindest nicht explizit auf ein bestimmtes religiöses Denken Bezug genommen wird. Das Verlassen der Erde, wie in fr. quitter ce monde, it. uscire dal mondo, schließt ein Weiterleben in einer anderen Welt nicht aus, ebenso wie fr. passer, it. transire oder passare nel numero dei più, andare a Patrasso. Dies gilt auch für das Bild des Abreisens, des Verschwindens in it. dipartire, scomparire, sparire dalla (faccia della) terra, uscire dal mondo sowie mit dem (christlichen) Bild des besseren Jenseits möglicherweise für terminare di soffrire, finire di tribolare. In der Encyclopédie, in der die Histoire naturelle de l’homme zitiert ist, wird zunächst die Natürlichkeit des Todes angesprochen: «La mort, ce changement d’état si marqué, si redouté, n’est dans la nature que la derniere nuance d’un être précédent; la succession nécessaire du dépérissement de notre corps, amene ce degré comme tous les autres qui ont précédé. La vie commence à s’éteindre, long-tems avant qu’elle s’éteigne entierement; & dans le réel, il y a peut-être plus loin de la caducité à la jeunesse, que de la décrépitude à la mort; car on ne doit pas ici considérer la vie comme une chose absolue, mais comme une quantité susceptible d’augmentation, de diminution, & finalement de destruction nécessaire» (Jaucourt 1765a, 716b).

Im Sinne der Aufklärung, die das Konventionelle mit der Vernunft hinterfragt, folgt darauf die Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Qualen des Sterbens, das im mittelalterlichen Denken vor allem «Angst und Entsetzen» bedeutet und besonders von der Kirche beider Konfessionen bis in die Neuzeit als «affreux trépas des pécheurs»71 apostrophiert wird:

71

Delumeau (1983, 576); cf. u.a. auch «C’est presque une banalité de remarquer que les Protestants de l’âge classique ont, autant que les Catholiques, associé peur et jugement, celui-ci ouvrant soit sur le paradis soit sur l’enfer», ein Strafdenken,

191

«[...] & puisque la mort est aussi naturelle que la vie, pourquoi donc la craindre si fort? Ce n’est pas aux méchans, ni aux scélérats que je parle […] Mais je voudrois armer les honnêtes gens contre les chimeres de douleurs & d’angoisses de ce dernier période de la vie […]. Qu’on interroge les médecins des villes, & les ministres de l’Église, accoutumés à observer les actions des mourans, & à recueillir leurs derniers sentimens, ils conviendront qu’à l’exception d’un petit nombre de maladies aiguës, où l’agitation causée par des mouvemens convulsifs, paroît indiquer les souffrances du malade, dans toutes les autres on meurt doucement & sans douleur; & même ces terribles agonies effrayent plus les spectateurs, qu’elles ne tourmentent le malade […] Les morts douloureuses sont donc très-rares, & presque toutes les autres sont insensibles. […] L’épuisement des forces anéantit le sentiment, & n’excite en nous qu’une sensation vague, que l’on éprouve en se laissant aller à une rêverie déterminée. Cet état nous effraye de loin parce que nous y pensons avec vivacité; mais quand il se prépare, nous sommes affoiblis par les gradations qui nous y conduisent, & le moment décisif arrive sans qu’on s’en doute & sans qu’on y réfléchisse. Voilà comme meurent la plûpart des humains» (Jaucourt 1765a, 716b–717a).

Der Tod und die Todesstunde sollten mit einer solchen Darstellung zweifellos ihren jahrhundertelang von der Kirche gepredigten Schrecken verlieren und die Natürlichkeit und Endgültigkeit des Todes als das Ende des Lebens herausstellen, wie denn auch bis heute in französischen Umfragen die Mehrheit der Befragten aussagt, vor dem Tod keine Angst zu haben (cf. Duvignaud/Corbeau 1981, 20) und offen über ihn sprechen zu können (cf. supra p. 113). Zumindest kommt sprachlich kein Weiterleben nach dem Tode in den indirekten Bezeichnungen fr. décéder, it. uscire dalla vita und zwangsläufig auch nicht in passare nel numero dei più zum Ausdruck, ebenso wenig in fr. s’éteindre, it. mancare, andare sottoterra, pagare il proprio tributo alla natura. Auch das besänftigende Bild der ewigen Ruhe, des ewigen Friedens, gehört hierher, wie in riposare in pace, l’eterno riposo. Diese Ausdrucksweisen sind nicht unbedingt mit einem Verlust an christlicher Religiosität zu verbinden, da sie in ähnlicher Form auch schon früher neben den religiös motivierten Euphemismen bestanden haben,72 wie es nicht zuletzt die lateinische Grabinschrift requiescat in pace zeigt. Doch müssen solche Überlegungen einer umfassenden religionsgeschichtlich-philologischen Untersuchung vorbehalten bleiben, die auch die Problematik der Erstdaten und des Stellenwerts der betreffenden Begriffe im Sprachgebrauch zu berücksichtigen hätte. In ihrem Vergleich von Todesanzeigen zahlreicher Sprachnationen kann Eckkrammer jedenfalls feststellen, dass die italienische Anzeige «eine spürbar

72

das in Verbindung mit dem Tod besonders seit Bernhard von Clairvaux in den Vordergrund gestellt wurde (1983, 573). So ist z.B. das besonders im Verwaltungs- und Rechtwesen übliche fr. décéder schon im 14. Jahrhundert aus lat. [de vita] decedere ‘sterben’ entlehnt; fr. s’éteindre ist seit dem 12. Jahrhundert als ‘s’affaibler, mourir doucement’ belegt (cf. TLF, jeweils s.v.).

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sichtbarere Verankerung im Glauben durchscheinen lässt» als die französische (1996, 156). Die Korpora enthalten auch noch Wörter für Sterben unter Gewalteinfluss, so für das gewaltsame Töten it. eliminare, mandare sottoterra, mandare a Patrasso, mandare a quel paese und fr. se débarrasser de qqn sowie für den Ort einer Abtreibung it. fabbrica degli angeli, das die Perspektive vom toten Fötus auf dessen mögliche Zukunft als Engel verlagert.73 Dabei ist auch auf das von Volkoff als «terme de la logomachie défensive, signifiant ‹avortement› si vous êtes pour» (1999, 180) erklärte fr. IVG, interruption volontaire de grossesse zu verweisen, dem von anderer Seite wiederum angelastet wird, die Notsituation der Frau durch die angebliche Freiwilligkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu verkennen. 5.1.4 Resümee Die Ausführungen ergeben, dass die weit verbreitete Gleichsetzung von Wort und Referent der gemeinsame Nenner und die ursächliche Basis für die Euphemismen des magisch-religiösen Bereichs ist. Diese Identifizierung des Namens oder der Bezeichnung mit dem Namensträger bzw. der bezeichneten konkreten oder abstrakten Sache gehört zu einem Denken, das in den Worten weniger ihre onomasiologische Darstellungsfunktion sieht als ihre wirkliche Stellvertretung für das Bezeichnete und das folglich sowohl die Ursache für sprachliche Tabuisierungen als auch für deren Übertretungen ist (5.1.1). Für das Christentum ist ein solches Sprachdenken im zweiten Gebot verankert und breitet sich ausgehend vom Namen Gottes über die Namen seiner Heiligen und die Bezeichnungen sakraler Dinge bis hin zum Tod, zu Seuchen und Krankheiten aus, deren Auftreten mangels anderer Erklärungen früher im Walten Gottes gesehen wurde. Die dennoch feststellbare Omnipräsenz des Tabubruchs durch das direkte Nennen des tabuisierten Namens oder Ausdrucks belegt, dass v.a. in emotionalisierten Situationen die Bedeutung der Ausdrucksstärke des tabuisierten Wortes bzw. der blasphemischen Äußerung bei vielen Sprechern stärker ist als die Furcht vor den heraufbeschworenen Folgen bzw. vor der göttlichen oder weltlichen Bestrafung der Übertretung. Doch diese Furcht ist wiederum das Motiv für die onomasiologische Deformation tabuisierter Namen und Bezeichnungen oder die ersatzweise Bildung anderer euphemistischer Ausdrucksweisen (5.1.2.1–5.1.2.3).

73

Je nach den Umständen der Abtreibung sind Euphemismen aus diesem Bereich auch unter «Ethik ohne Moral» (5.4) zu stellen. So umfasst z.B. Liveranis Dizionario dell’Antilingua Wörter «dall’aborto volontario e legale nelle sue molte forme alle manipolazioni genetiche e all’eutanasia» (1993, 21); fabbrica degli angeli ist bei Liverani allerdings kein Lemma, wohl auch, da er primär «parole tecniche, mediche, burocratiche, asettiche, sdrammatizzanti, prive di ogni possibile richiamo emotivo» zusammengestellt hat (1993, 15).

193

Dass sich Emotionen aufgrund ihrer Expressivität vornehmlich in Flüchen und Interjektionen aus stark tabuisierten Bereichen äußern, erklärt die vor allem seit dem 19. Jahrhundert erfolgte Ergänzung der etwas verblassenden blasphemischen Ausdrücke des magisch-religiösen Bereichs durch Äußerungen auf der Grundlage sexueller oder skatologischer Ausdrücke (5.1.2.4). Ähnlich ist bei den Krankheiten festzuhalten, dass die abergläubische Furcht, sie durch Namensnennung zu bekommen, allmählich durch das Schamgefühl abgelöst wurde, das seit dem 16. Jahrhundert auch für das Sprechen über die Sexualität bestimmend wird, deren ungezwungene Behandlung bei Rabelais oder Montaigne bald der Vergangenheit angehören sollte (5.1.3). Daher ist ein Exkurs in die frühe Neuzeit notwendig, in der zivilisationsgeschichtlich die Weichen für die Entwicklung der heutigen Situation gestellt wurden und in vielerlei Hinsicht die Basis für die Erklärung entsprechender Euphemismen geschaffen wurde. Dazu gehört auch ein Blick in die maßgeblichen und den Weg weisenden Manierentraktate dieser Zeit und auf den Stellenwert, den sie der Sprache und dem Sprachverhalten geben.

5.2

«Ethik und Ästhetik». Rücksichtnahme im Verhalten und Sprachverhalten Que l’enfant ne mesle point sa langue parmy paroles villeines, & qu’il n’y preste point l’oreille. Erasmus von Rotterdam

Wie supra einleitend zu 5 schon ausgeführt, sind die Kapitel 5.2 und 5.3 in ihren euphemistischen Motiven ursächlich durch die Achtung anderer und die Selbstachtung verbunden. Hierbei handelt es sich um ethische Kategorien, in denen auch die Ästhetik von Anfang an zumeist untrennbar einbezogen ist. Dies gilt ununterbrochen seit der Ästhetisierung des Verhaltens und Sprachverhaltens, wie sie mit den zivilisationsgeschichtlichen Veränderungen der frühen Neuzeit und in Verbindung mit dem Renaissancehumanismus besonders deutlich akzentuiert wurde und sich dauerhaft durchsetzen sollte. Ein Rückgriff auf diesen Ausgangspunkt, in dessen Folge z.B. mit dem Preziösentum eine euphemistisch besonders einprägsame Erscheinung auftrat, ist für das Verständnis der heutigen soziokulturellen Situation unerlässlich, zumal nicht zuletzt die wesentlichen Motive für die Ausbildung der jeweiligen Euphemismen – trotz verschiedener epochenspezifischer Tabuisierungsschübe – bis zur gegenwärtigen Politischen Korrektheit und ihrem Umfeld im Prinzip erhalten geblieben sind.

194

5.2.1 Die Epoche von Renaissance und Humanismus als Markstein im Zivilisationsprozess. Italien als Ausgangspunkt In diesem Sinne soll der folgende Exkurs die Entwicklung und den Stellenwert des Sprachdenkens in der frühen Neuzeit aufzeigen, in der auch im Hinblick auf ein exemplarisches Sprachverhalten das zukünftige Modell entworfen wird. Da Sprachverhalten Teil des Sozialverhaltens ist, haben Themen- und Worttabus ebenso wie die die Tabus umgehenden Euphemismen eine hohe Bedeutung für den kultivierten Umgang miteinander. Im Rahmen der veränderten gesellschaftlichen Situation im Zivilisationsprozess, wie ihn Norbert Elias beschreibt, und hier insbesondere aufgrund der neuen offeneren Zusammensetzung der Elite, entstehen auch andere, ästhetisch geprägte Vorstellungen von vorbildlichem Sozialverhalten. Sie sind Bestandteil des neuen Lebensgefühls und Ausdruck einer Suche nach einem «neuen Ordnungsprinzip».74 Neu und aus ethischer Sicht sehr wichtig ist dabei die zunehmende Rücksichtnahme auf andere, wie sie die entstehenden Manierentraktate prägen sollte,75 während in den Sittenbüchern des Mittelalters – im Gegensatz zur «urbanen Heiterkeit» der Antike – unter den Regeln des Gesprächs bei Tisch «das Gebot des Misstrauens an vorderster Stelle steht» (Schmölders 1986, 21).76 Elias beschreibt weitergreifend und gleichzeitig resümierend die Situation zu Beginn der Neuzeit:

74

75

76

Cf. u.a.: «Das Abendland suchte unter schweren Erschütterungen, die teils zu extremen religiösen Lösungen, teils zu ebenso extremen weltlichen Erscheinungen eines hemmungslosen Individualismus führten, nach einem neuen Ordnungsprinzip, das notwendig von einem neuen Menschen getragen und verwirklicht werden musste» (Baumgart 1960, LX); «Die neuen Eliten waren häufig ursprünglich bürgerliche Emporkömmlinge. Traumkarrieren wie bei den Medici wurden möglich, die es in rund hundert Jahren von einem wurzellosen Bankiergeschlecht zu einem europäischen Herrscherhaus mit einigen Päpsten brachten. In dieser Renaissancegesellschaft entstand die Nachfrage nach neuen Deutungsmustern, welche die Lücken füllen sollten, die das herkömmliche, christlich-mittelalterliche Orientierungswissen offen ließ, weil es in jahrhundertelanger Interpretationsarbeit auf eben diese agrarisch-ständische Gesellschaft ausgerichtet worden war, die nun, zum Teil auch nur temporär, Risse erlebte» (Maissen 2006, 399). Cf. auch Paternoster: «Le commun dénominateur du ‹bon› comportement, c’est le respect fondamental (feint ou pas) de l’autre comme participant équivalent à la communication» (1992, 74). «Selbst hier also, wo es um den alltäglichsten und nötigsten Anlass der recreatio geht, ist das Verhältnis von rekreativen und respektiven Regeln zuungunsten der ersteren verschoben; zwar werden hin und wieder ‹vrölichkeit› und Lachen gutgeheißen, aber wichtiger sind doch die respektiven Regeln wie: gut zuhören, niemanden unterbrechen, nicht schwatzen, ehrlich und, wie gesagt, misstrauisch sein. Diese Dominanz der respektiven Regeln hängt mit der christlichen Grundhaltung in Anstandslehren überhaupt zusammen, die ja gerade das Wertmosaik von Demut, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Ehrerbietung als gleichsam weltlichen Widerschein religiöser Demut zusammensetzen» (Schmölders 1986, 21s.). Aus sozialgeschichtlicher Sicht cf. z.B. Borst, der auf die Frage: «Mit welchen Gefährten lebt der

195

«Langsam im Laufe des 16. Jahrhunderts beginnt sich dann wieder, hier früher, dort später und fast überall mit einer Fülle von Rückschlägen bis ins 17. Jahrhundert hinein, eine festere Gesellschaftshierarchie herzustellen und, aus Elementen verschiedener sozialer Herkunft, eine neue Oberschicht, eine neue Aristokratie. Eben damit wird auch die Frage des einheitlichen, guten Benehmens in verstärktem Maß zum Problem, zumal der veränderte Aufbau der neuen Oberschicht jeden einzelnen Zugehörigen in einem bisher unbekannten Maße dem Druck der anderen und der gesellschaftlichen Kontrolle aussetzt. In diese Situation hinein sind die Manierenschriften des Erasmus,77 des Castiglione, des della Casa und anderer geschrieben. Die Menschen, gezwungen in einer neuen Form miteinander

77

Mensch?» hin ausführt: «Das war und blieb das Hauptproblem; es verschärfte sich sogar im Lauf des Mittelalters. […] je zahlreicher sich in Familien und Gemeinden die Menschen drängten, desto empfindlicher wurden ihre Beziehungen zueinander. Zum einen wurden nun wirklich die Feinde des Menschen seine Hausgenossen, zum anderen spielten sich Beziehungen zwischen Menschen ein, die nicht derselben Familie und Gemeinde angehörten» (Borst 1973, 334). Neben dem 1515 erschienen Fürstenspiegel, der Institutio principis christiani, ist hier besonders der 1530 in Basel erschienene Manierentraktat De civilitate morum puerilium libellus zu nennen und an den entsprechenden thematischen Stellen zu berücksichtigen. Er lag bereits 1537 in französischer und spätestens ab 1545 auch in italienischer Übersetzung vor (cf. in der Bibliographie unter Erasmus und für das Französische auch Richter 1966, 55) und gilt als erster «véritable traité de la civilité» (Franklin 1980, XX), «qui allait être pillé par tous les moralistes pendant trois siècles» (Bologne 1986, 268). Im Traktat des Erasmus, der die Belehrung von Knaben zum Ziel hat, geht es um das Verhalten in der kultivierten Gesellschaft (z.B. in Haltung, Gebärde, beim Gähnen, Schneuzen, Spucken, auch Lachen, Schweigen, vor allem eben gegenüber Erwachsenen) und, wie bei einigen früheren Manierenschriften (cf. dazu Bömer 1904; Elias 1997a, 167–181 und 411), besonders um die Tischsitten (zu älteren Schriften hierzu in Italien und Frankreich cf. Bömer 1904, u.a. 240s.), die den Heranwachsenden beizubringen sind. Dabei spricht Erasmus offen und natürlich von vielen Dingen, die uns heute peinlich berühren (cf. z.B. das Zitat infra p. 262) und bringt seine eigenen Beobachtungen und Vorstellungen, die den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen (cf. dazu Elias 1997a, 165 und ausführlich 181–201; zur Leistung des Erasmus gegenüber früheren Traktaten besonders 183–187; zum Begriff der civilité auch Margolin 1994). Sprachlich geht es um die Unterhaltung bei Tisch (cf. auch Bömer 1904, 371) bzw. um das Sprechen überhaupt: «La voix soit doulce & posee non haultaine, qui appartient aux paysans: ne si basse & si sombre qu’elle ne parvienne iusques aux oreilles de cestuy à qui tu parles. Que le parler ne soit trop hatif, & allant deuant la pensee, mais tout a loisir, & qu’il soit entendible» (Erasmus 1537, 71r); außerdem über das «wie und was» (cf. infra p. 209 n. 102), z.B. nicht zu fluchen (cf. supra 5.1.1.2 und die in 168 zitierte Stelle aus Erasmus), andere nicht zu unterbrechen, in Gegenwart Älterer nur zu reden, wenn man gefragt wird, oder als Sprechender ein freundliches Gesicht aufzusetzen und die Augen auf den Gesprächspartner zu richten (Erasmus 1537, 56v und 57r); zudem gibt es Ausführungen zum Inhalt und Charakter des Gesprächs (cf. dazu auch Bömer 1904, 348s.). Über vorbildliche sprachliche Ausdrucksweise ist in dieser Schrift nicht viel Weitergehendes ausgeführt. Im hier interessierenden Zusammenhang ist indessen besonders zu vermerken, dass er alle obszönen Dinge bereits sprachlich in dem Sinne tabuisiert, dass das Kind keine «paroles villeines» verwenden soll (Erasmus 1537, 71r; cf. das Zitat in 252s.).

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zu leben, werden empfindlicher für die Regungen anderer. Nicht sprunghaft, aber doch allmählich wird der Code des Verhaltens strenger und größer das Maß der Rücksichtnahme, das einer vom anderen erwartet. Das Gefühl dafür, was zu tun und was zu lassen ist, um andere nicht zu verletzen, zu schockieren, wird differenzierter, und das gesellschaftliche Gebot, nicht zu verletzen, im Zusammenhang mit den neuen Herrschaftsverhältnissen bindender, im Verhältnis zu der vorangehenden Phase» (Elias 1997a, 195).

Dementsprechend wird im ersten zeitgenössischen Traktat, Baldassare Castigliones Cortegiano von 1528, das Taktgefühl, die «discrezione», für das angemessene Verhalten bestimmend. So ist in seinen Ausführungen zur Musik zu lesen: «Ma il condimento di tutto bisogna che sia la discrezione; perché in effetto saria impossibile imaginar tutti i casi che occorrono; e se il cortegiano sarà giusto giudice di se stesso, s’accommoderà bene ai tempi e conoscerà quando gli animi degli auditori saranno disposti ad udire, e quando no» (Cortegiano II, 13 – 1968, 183).

Auch in einem weiteren zeitgenössischen Traktat, Giovanni della Casas Galateo von 1558, wird bereits in den ersten beiden Kapiteln die Auffassung bezüglich der Rücksichtnahme als Basis guten Benehmens dargelegt, was ihren Stellenwert nur unterstreicht. Wer in seinem Verhalten nur an sich selbst denkt und sich um dessen Gefallen oder Missfallen bei anderen nicht kümmert, erscheint «più tosto buffone o giucolare, o per avventura lusinghiero, che costumato gentiluomo». Daraus leitet della Casa dessen Aufgabe ab: «Adunque, conciossiaché le nostre maniere sieno allora dilettevoli quando noi abbiamo risguardo all’altrui e non al nostro diletto, se noi investigheremo quali sono quelle cose che dilettano generalmente il più degli uomini e quali quelle che noiano, potremo agevolmente trovare quali modi sieno da schifarsi nel vivere con esso loro e quali siano da eleggersi» (Galateo II – 1993, 6).

Die genannte Rücksichtnahme geht notwendigerweise mit einer zunehmenden Anzahl von Verhaltensregeln Hand in Hand, um all das zu vermeiden, was Missfallen erregt, was den Sinnen, dem Empfinden, den Vorstellungen und der Vernunft entgegensteht, was die Gefühle anderer verletzen oder den Handelnden selbst in der Gesellschaft bloßstellen könnte. Sprachlich bestehen diese Regeln einerseits in der jetzt noch deutlicher betonten Tabuisierung von teils aus der Antike übernommenen oder bekannten, teils aber auch neuen Themen und andererseits in der verstärkten Tabuisierung von Ausdrucksweisen, die dem ästhetischen und elitären Selbstverständnis der neuen kulturellen Führungsschicht widersprechen und vom Sprecher geziemenden, d.h. besonders auch euphemistischen Ersatz verlangen. Beiden Aspekten soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gelten. Das sprachliche Regulierungsbedürfnis, das sich mit der Renaissance und dem Humanismus im Allgemeinen sowie insbesondere mit der bildungs- und kulturpädagogischen Mission des Letzteren unübersehbar an antiken Vorbil-

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dern orientiert,78 erklärt sich – wie die Dokumente zeigen – letztendlich aus der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen (wie z.B. der politischen Zersplitterung Italiens oder dem ausgeuferten Hofleben unter Heinrich IV.), die sich auch in der sprachlichen Situation und im Sprachverhalten widerspiegeln. Dazu kommt der gegenüber dem Volk soziopolitisch wie sprachlich als notwendig erachtete Distinktionswille der neuen Elite. Diese konstituiert sich in Italien als Zielpublikum der humanistischen Bewegung an den Höfen und in den sie teilweise ablösenden Stadtpalästen und wird später in Frankreich mit den honnêtes gens aus Adel und Bildungsbürgertum unter dem schon zeitgenössischen Begriff «La Cour et la Ville» erfasst. Beide Motive führen zu Sprachdiskussionen, wie sie im Italien des 16. Jahrhunderts im Rahmen der Questione della lingua geführt werden und im Frankreich des 17. Jahrhunderts bezüglich des bon usage und des ästhetisch verfeinerten bel usage, wie er in der Astrée von Honoré d’Urfé realisiert ist und im Salon der Marquise von Rambouillet als vorbildlich gilt. Dabei geht 78

Cf. dazu die jeweiligen Hinweise in den folgenden Ausführungen vor allem auf Ciceros De oratore, der sowohl für den Cortegiano wie für den Galateo in mehrfacher Hinsicht Vorbildfunktion hat. Als Einblick seien hier einige Aussagen Ciceros aus De oratore genannt. So sagt er im Dritten Buch, eingebettet in Ausführungen über artikulatorische und stimmliche Empfehlungen, man solle in der Rede «nicht nur ungeschlachte Grobheit, sondern auch fremdartige Neuheit» meiden (44 – 2003b, 473); man solle korrekt sprechen «durch Worte, die gebräuchlich sind und treffend das bezeichnen, was wir ausdrücken und erklären wollen, ohne Doppelsinn in Wort und Ausdrucksweise» (49 – 2003b, 477); verzichten solle der Redner ferner auf «abgegriffene, gewöhnliche Ausdrücke» und «statt dessen gewählte, wirkungsvolle Worte» suchen, «die ausdrucksstark und klangvoll wirken […] dabei gilt auch der gute Sprachgebrauch [consuetudo bene loquendi] sehr viel» (150 – 2003b, 541); «So gibt es also bei einfachen Worten drei Mittel, die der Redner anwenden kann, um seiner Rede Glanz und Wirkung zu verleihen: ein Wort, das ungewöhnlich oder neu gebildet oder in übertragener Bedeutung angewandt ist» (152 – 2003b, 541); «Ungewöhnlich sind im allgemeinen altertümliche Ausdrücke», sie können auch da und dort gegebenenfalls verwendet werden, wenn sie der Rede etwas «Würdevolles» geben (153 – 2003b, 541); außerdem Neubildungen, die der Redner selbst kreiert, wie z.B. Zusammensetzungen oder neue Kollokationen (154 – 2003b, 543); «Die dritte Möglichkeit, ein Wort in übertragener Bedeutung zu gebrauchen, ist weitverbreitet» (155 – 2003b, 543); Übertragungen kommen gut an. «Das mag entweder daher rühren, dass es ein gewisses Zeichen von Genie ist, das zu übergehen, was einem vor den Füßen liegt [d.h. das Normalwort], und etwas anderes zu nehmen, das so weit hergeholt ist; oder es kommt davon, dass der Zuhörer in Gedanken in eine andere Richtung geführt wird, ohne freilich von dem rechten Wege abzuirren […] oder es liegt daran, dass jede Übertragung, die man mit Verstand vornimmt, unmittelbar die Sinne anspricht, vor allem den Gesichtssinn, der besonders lebhaft reagiert» (160 – 2003b, 545s.), «Denn der ‹Geruch› der eleganten Welt, die ‹Zartheit› menschlichen Empfindens, des Meeres ‹Murmeln› und die ‹Süßigkeit› der Rede sind von den anderen Sinnen abgeleitet. Die aber, die an den Gesichtssinn appellieren, sind viel lebendiger; sie stellen uns im Geiste fast vor Augen, was wir nicht sehen und betrachten können» (161 – 2003b, 547). Zur Vermeidung abstoßender Eindrücke cf. das Zitat aus Cicero infra p. 252.

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es im Sprachgebrauch nicht nur wie bisher um die Ablehnung alles Vulgären und Bourgeoisen,79 sondern schließlich auch um die Vermeidung all jener Ausdrücke, die besonders in der Entwicklung des im weitesten Sinne verstandenen Preziösentums als «commun» und konkret eingestuft und hauptsächlich durch euphemistische und hyperbolische Kreationen ersetzt werden, von denen eine nicht zu vernachlässigende Anzahl bis heute zum guten Sprachgebrauch gehören. Im historischen Kontinuum des Zivilisationsprozesses kommt somit sprachlich auch eine ästhetisch motivierte Art von Euphemismen zum Tragen, die genetisch im Grunde in der Rücksichtnahme aufeinander und in der gesellschaftlichen Notwendigkeit exemplarischen Sozialverhaltens verankert ist und zu seiner ersten Hochzeit führt. Dadurch werden die verbesserten Umgangsformen innerhalb der neuen elitären Gesellschaft, deren ethische und sprachethische Vorbildfunktion außer Frage steht, auch sprachlich greifbar. Der italienische Ursprung dieser neuen «guten Lebensart» und supra zitierten Rücksichtnahme aufeinander steht u.a. schon für Jacob Burckhardt außer Frage: «[…] als allgemeine gesellige Pflicht und als Kennzeichen von Bildung und Erziehung haben [den Takt bzw. la discrezione] erst die Italiener erkannt. Und Italien selbst hatte seit zwei Jahrhunderten sich sehr verändert. Man empfindet deutlich, dass die Zeit der bösen Späße zwischen Bekannten und Halbbekannten, der burle und der beffe […], in der guten Gesellschaft vorüber ist, dass die Nation aus den Mauern ihrer Städte heraustritt und eine kosmopolitische, neutrale Höflichkeit und Rücksicht entwickelt» (Burckhardt [1860] 1952, 350).

Hintergrund dieser Entwicklung ist der soziale Wandel, die Öffnung und Neudefinition der Elite Italiens: «In Italy the nobles early deserted their castles for residence in the cities: in many cases they were compelled to do so by the citizens themselves. This fact broadened society, and less stress was laid upon nobility of birth than elsewhere. Good manners and education became requisites for admission to society. This changed view of society was largely due to the influence of the Renaissance, which altered the character of life and profoundly modified all social relations. The material side of life also underwent an enormous change. The gloomy castle, a fortress in its nature, gave way to the stately palace with its inner court surrounded by graceful loggie, thus ensuring air and light to all apartments» (Crane 1971, 80).

Die Veränderungen betreffen – wie u.a. auch aus diesem Zitat ersichtlich – ausschließlich die Zusammensetzung der Elite. Die große Distanz zwischen Palast und Volk bleibt bestehen, wie der zeitgenössische Historiker und Politiker Francesco Guicciardini betont. Zwischen beiden sei ein so dichter

79

Zu dieser Pejoration des Begriffs bourgeois im 17. Jahrhundert cf. L. Wolf 2003.

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Nebel oder eine so dicke Mauer, dass kein Kontakt bestehe (cf. dazu auch Burke 1987, 14–18): «[…] spesso tra ‘l palazzo e la piazza è una nebbia sí folta o uno muro sí grosso che, non vi penetrando l’occhio degli uomini, tanto sa el popolo di quello che fa chi governa o della ragione per che lo fa, quanto delle cose che fanno in India» (Ricordi § 141 – Guicciardini 1994, 109).

Eine besondere Bedeutung als ethisch-normative Wegweiser für die neuen Umgangsformen sollten mit ihren vielen Auflagen und Übersetzungen vor allem die drei im Folgenden zu betrachtenden Werke erlangen:80 «Tre libri viaggiano nel tempo e nello spazio attraverso l’Europa solidalmente intrecciati e alleati: Cortegiano, Galateo e Civil conversazione. [...] Tre libri che formano le solide radici di un ampio e forte arbor textualis che predica un’omogenea ‹forma del vivere› come codice dei rapporti interpersonali, della stessa loro socialità: grazia, cortesia, piacevolezza, misura, proporzione, onore e utile, discrezione, politezza, creanza, proprietà, sprezzatura, garbo, eccetera, ne sono le categorie costitutive sotto il segno della convenienza rispetto allo status proprio di ciascuno» (Quondam 1993, I, XI).

Rein äußerlich kann schon ihre Dialogform als Zeugnis für den Stellenwert der Unterhaltung bzw. des neuen Umgangs miteinander gesehen werden, nicht nur als eine «durch die antiken Dialoge hervorgerufene Mode, sondern [als] Zeichen einer ganz neuen Freude am Leben der Gesellschaft, der Geselligkeit, die damit zur Grundlage der neuen Lebensformen überhaupt wurde».81 Im Einklang mit den historischen Fakten steht, dass die Volkssprachen,82 zuerst das Italienische und später in stärkerem Maße das Französische, aufgrund der pädagogischen Intention und des Zielpublikums der Vulgärhumanisten jeweils die gemeinsame Sprache der «gesellschaftlichen Formation [sind], die die verschiedensten Nationalitäten umgreift» (Elias 1997a, 157), und deren «Ausdruck und Symbol» der von Erasmus dargelegte Begriff der «civilitas» ist:

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Zu Vorläufern und weniger bedeutsamen zeitgenössischen Traktaten in Italien cf. u.a. Holme (1910). Baumgart (1960, LXVI); «Gesellschaft und Geselligkeit» waren im Unterschied zum heutigen Verständnis «das Forum der öffentlichen Meinung», «die Brennpunkte geistiger Bewegung», die «Menschen in einer Lebendigkeit von Gedanken und Empfindungen vereinte, die eine ganz neue Art von Sein, Denken und Handeln bewirkten» (1960, LXVI). «Die Mobilität der Intellektuellen, von der Castiglione selbst profitiert, setzt eine gemeinsame Sprache voraus, die nur das Volgare sein kann, wenn sich die Humanisten auf die Ebene der Leute von Welt und der Frauen begeben wollen» (Kapp 1994, 141).

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«Diese Sprachen übernehmen die Funktion, die bisher die lateinische Sprache hatte. In ihnen manifestiert sich auf einer neuen, gesellschaftlichen Grundlage die Einheit Europas und zugleich die neue, gesellschaftliche Formation, die nun gewissermaßen ihr Rückgrat bildet, die höfische Gesellschaft. Deren Situation, deren Selbstbewußtsein, deren Charaktere sind es, die in dem Begriff ‹civilité› einen Ausdruck finden» (1997a, 157s.).

Baldassare Castigliones Cortegiano (1528) und Giovanni della Casas Galateo (1558) aus dem Italien des 16. Jahrhunderts sind sowohl durch ihren dem Humanismus verpflichteten Inhalt als auch durch ihre Ausstrahlung auf andere Länder Marksteine im Prozess der europäischen Zivilisation geworden. In der Geschichte guten Benehmens,83 das mit dem Beginn der Neuzeit und besonders mit deren sozialen und soziopolitischen Veränderungen einen hohen Stellenwert erhält, haben sie Maßstäbe gesetzt: «[…] il Cortegiano in virtù della propria elusività, e il Galateo della propria concretezza, divennero ben presto libri indispensabili a ogni persona della buona società europea» (di Benedetto 1985, X).

Eine herausragende Rolle im gesellschaftlichen Umgang spielt hierbei auch das Sprachverhalten und die exemplarische Ausdrucksweise. Inwieweit konnten nun diese Werke von ihren sprachlichen Auffassungen her gegebenenfalls auch für die Salonkultur Frankreichs bis hin zum vieldiskutierten Preziösentum Anregungen geben oder gar grundsätzliche Motivationen liefern, die letzten Endes auch einen Höhepunkt euphemistischer Ausdrucksweisen nach sich zog? 5.2.1.1 Zum Stellenwert der Sprache in Castigliones Cortegiano Der Titel des 1528 erschienen Werkes, Il Libro del Cortegiano, besagt bereits, dass das Adressatenpublikum für das dort entworfene humanistische Menschenbild die Mitglieder der maßgebenden Elite der Gesellschaft sind, als deren Lebensraum sich die Höfe, bei Castiglione der sehr angesehene Hof Guidobaldos von Urbino,84 um die Wende zum 16. Jahrhundert erneut als Zentren der Macht und damit der politischen Verantwortung etablierten (cf. Loos 1955, 35–40). Auf den Aufschwung der bürgerlich-städtischen Welt folgte das Streben nach Sicherung des erreichten Wohlstandes, und so vollzog sich in Anknüpfung an die höfisch-ritterliche Tradition «eine neue Aris-

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Zu Antike und Mittelalter cf. u.a. Ramage 1973 (zur «Urbanitas») und Bömer (1904, 223–242); ab dem 13. Jahrhundert auch Franklin (1908) und zu Italien auch Holme (1910). – Für Burke (1987, 28) sind Castiglione und della Casa vor allem auch entscheidende Zeugen für das Verhalten, das sie ablehnen. Cf. Crane: «Urbino became, at the beginning of the sixteenth century, the centre of the most refined and elegant society of Italy, and exerted a powerful influence over the rest of the land» (1971, 161).

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tokratisierung der Gesellschaft, der sich das Bürgertum anzupassen bestrebt war» (1955, 36).85 Der Autor, der Landedelmann Baldassare Castiglione, der sein Leben im Umkreis und Dienste von Fürsten und Päpsten verbrachte, will «ganz erfüllt von dem Glauben an die Formbarkeit des Menschen» (1955, 85) und in Analogie zu Ciceros perfektem Redner aus De oratore den perfekten Hofmann «formen»: «[…] formiamo un cortegian tale, che quel principe che sarà degno d’esser da lui servito, ancor che poco stato avesse si possa però chiamar grandissimo signore» (Cortegiano I, 1 – 1968, 21).86

Zentraler Begriff ist dabei die «sprezzatura», mit dem «das aristokratische Desinteresse an geistiger Arbeit» und die humanistische «Geringschätzung für das Unkultivierte vereint und die zur Äußerlichkeit tendierende Eleganz des Weltmannes in ein umfassende Bildung einschließendes Konzept der Urbanität [der antiken urbanitas] überführt» werden.87 Über das im Titel angesprochene Individuum und dessen eigene Perfektionierung hinaus geht es Castiglione zweifellos auch um ein Leitbild, d.h. um ein gesellschaftliches Anliegen. Denn die Zersplitterung Italiens in kleine Stadtstaaten, die sich zur Behauptung und Erweiterung ihrer Macht oft skrupelloser Ränke und eines «komplizierten diplomatischen Systems, das vor keinem Mittel zurückscheute», bedienten (Loos 1955, 36), war ihm letzten Endes insofern ein Dorn im Auge, als diese Zersplitterung die Anzahl und den Aufgabenbereich weniger vorbildlicher Cortegiani erheblich vergrößerte. Sie waren «nicht eine begrenzte Schicht unter vielen anderen gesellschaftlichen Gruppenbildungen», sondern waren oder wollten «Vertreter einer Elite» (1955, 40) sein. So verweist Ley zu Recht auf eine sozialpsychologische Komponente und stellt, im Einklang mit dem allgemeinen Befund im obigen Zitat von Elias, das Werk

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So meint z.B. Saccaro Battisti im Kontext der Gestaltung der «donna di palazzo» im Cortegiano: «Non ci sembra azzardata l’ipotesi che il personaggio foggiato tra il 1521 ed il 1524, penetrerà più tardi nei comportamenti di più ampi strati di popolazione femminile man mano che l’evoluzione politica, sociale ed economica di classi un tempo inferiori alla nobiltà, solleciterà l’aspirazione ad identificarsi con l’ideale di eleganza, benessere, cultura una volta riservate ai pochi privilegiati entro le corti» (1980, 245s.). Zu Loos’ obiger Auffassung von der Re-Aristokratisierung der Gesellschaft gibt Baumgart noch eine historische Ergänzung: «Gewiß sind Menschenbild und Gesellschaftsideal des Cortegiano vom bürgerlich bestimmten Leben des 15. Jahrhunderts abgesetzt; das Entscheidende ist aber doch, dass die wesentlich durch das Bürgertum des Quattrocento entdeckten menschlichen Werte und Leitbilder in die ‹neue› Hofgesellschaft der Hochrenaissance aufgenommen worden sind» (1960, LXX). Noch direkter wird später als abendliches Spiel die Aufgabe gestellt, «[di] formar con parole un perfetto cortegiano, esplicando tutte le condicioni e particolar qualità che si richieggono a chi merita questo nome» (Cortegiano I, 12 – 1968, 44). Kapp (1994, 142). Zum Begriff der Urbanitas bei Cicero und der Rezeption im Italien des 15. Jahrhundert cf. auch Paternoster (1994).

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zu jenen Leistungen des Renaissancehumanismus in Italien, die als Ausdruck des Bestrebens gesehen werden können, «[…] zu einer Konsolidierung der in kritische Labilität geratenen Gesellschaft der unruhigen italienischen Gemeinwesen beizutragen. Die veralteten Formen des Zusammenlebens sollten ersetzt oder doch durch neue Sinngebung reformiert und damit eine neue Antwort auf das drängende Problem einer Neuordnung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses gegeben werden» (Ley 1984, 8).

Das Medium der neuen Denk- und Verhaltensweise der guten Gesellschaft ist natürlich eine gepflegte und geschmeidige Sprache, «welche als Konversation die Basis der ganzen Geselligkeit ausmachte» (Burckhardt [1860] 1952, 356) und die denn auch im Cortegiano im Rahmen der Kennzeichen eines guten Hofmannes entsprechend thematisiert wird.88 Als gesellschaftlicher Idealmensch hat dieser vor allem die Aufgabe, mit seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten (von der ritterlichen Versiertheit im Umgang mit Waffen bis zur humanistischen Bildung), seiner moralischen Einstellung, seiner Kleidung und vor allem seinem guten Benehmen zu gefallen. Zu Letzterem schreibt Loos, auch im Einklang mit den supra zitierten Ausführungen von Elias: «Die Höfe begünstigten in höherem Maße als je zuvor die geselligen Formen des Lebens, und damit wurde die Regelung des an Normen gebundenen guten Benehmens oberstes Ziel der Bemühungen. Der veränderte Aufbau der Oberschicht, die nicht nur Adlige, sondern auch Gebildete und Gelehrte als gleichrangig aufnahm, und die Tatsache, dass die Gemeinsamkeit der Lebensformen und der Geselligkeit zu einer stärkeren gegenseitigen Kontrolle führten, zwangen zu einem höheren Maß der Rücksichtnahme und zu strengeren Vorschriften des Verhaltens zueinander. Die Verfeinerung der Lebensformen war von Anfang an ein Hauptanliegen der italienischen Renaissance» (Loos 1955, 38).

Das gute Benehmen, mit dem der Hofmann gefallen soll, schließt die Wahl entsprechender Gesprächsthemen mit ein. So wird von ihm «nel modo di vivere e nel conversare governarsi sempre con una certa onesta mediocrità» (Cortegiano II, 41 – 1968, 234) erwartet und u.a. eben auch: «[…] che mai non gli manchin ragionamenti boni e commodati a quelli co’ quali parla, e sappia con una certa dolcezza recrear gli animi degli auditori e con motti piacevoli e facezie discretamente indurgli a festa e riso, di sorte che, senza venir mai a fastidio o pur a saziare, continuamente diletti» (Cortegiano II, 41 – 1968, 235).

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Es geht im Folgenden um den Stellenwert der Sprache in Castigliones Traktat und nicht um die Sprachpraxis des Autors und deren stilgeschichtliche Bedeutung. Literatur zur Praxis nennt u.a. Baumgart (1960, LXIX).

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Angesichts der Bedeutung der Konversation in diesem verfeinerten gesellschaftlichen Umgang muss gerade die Sprache und das Sprachverhalten exemplarisch sein.89 «Vor allem wurde die Kunst des Gesprächs zu höchster Vollkommenheit ausgebildet, wie sie nur unter Menschen erreicht wird, für die ein Höchstmaß allseitiger Bildung Forderung und Voraussetzung war» (Loos 1955, 38).

Ähnlich äußert sich Quondam in der Einleitung zur Garzanti-Edition des Cortegiano von 1981: «La ‹cortigiania› è soprattutto una pratica di rapporti sociali, di ‹conversazione›: per questo il problema della lingua da usare in Corte per parlare e scrivere rappresenta il primum che deve essere subito affrontato e risolto. Perché questa ‹conversazione› sia comunicabile, la sua pratica, appunto, realizzabile senza dislivelli, senza errori. La griglia si presenta, però, fortemente orientata, compiutamente e profondamente formata dalla egemonia – dinamica e attiva – della grazia e del suo correlato immediato (la sprezzatura): è la grazia il suo macroelemento strutturale, il suo centro genetico, il dato discriminante assoluto» (Quondam 1981, XIX).

Castiglione orientiert sich dabei, wie schon erwähnt, an der antiken Rhetorik, besonders an Ciceros De oratore, dessen klassische Elemente der antiken «Urbanitas» er jedoch nicht sklavisch imitiert, sondern natürlich assimiliert.90 Dies findet nach Fumaroli in Anlehnung an Meier 1964 auch in der Definition des Hofmanns seinen Ausdruck, in der die hervorgehobene Rolle der Ausdrucksweise für die soziale Distinktion betont wird: «Le courtisan est avant tout défini comme vir bonus dicendi peritus et l’art de la parole tient une place immense dans le dialogue» (1994a, 89 n. 97). Von Cicero übernimmt Castiglione zudem den Begriff der «bona consuetudine», der sich später auch im bon usage Vaugelas’ (1647) wiederfindet. Da es, im Gegensatz zu Vaugelas’ politisch begründeter Orientierungsnotwendigkeit am absolutistischen Hofe, in Italien keinen alleinigen Hof als Maßstab gibt, wird der Begriff bei Castiglione durch Menschen mit «ingegno» und «bon giudicio» bestimmt: «La bona consuetudine adunque del parlare credo io che nasca dagli omini che hanno ingegno e che con la dottrina ed esperienza s’hanno guadagnato il bon

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Cf. zur Sprachenfrage im Cortegiano u.a. Burckhardt ([1860], 354s.); Loos (1955, 135–140), Meier (1964, 140–150); Kapp (1994, 141s.). Cf. Crane (1971, 179); Ciceros Traktat gilt als «source majeure du Cortegiano» (Fumaroli 1994a, 89 n. 97); zum Beitrag des abendländisch-christlichen Menschen auf die Gestaltung des Cortegiano und die Modifizierung des ciceronianischen Urbanitasbegriffs cf. Baumgart (1960, LXss.). Es kann sinnvollerweise nicht Aufgabe dieses Exkurses in die Frühe Neuzeit sein, alle Einzelheiten der «Re-naissance» der römischen Urbanitas und die zeitlichen Modifizierungen aufzuzeigen, so dass einige naheliegende Hinweise genügen mögen, um die generelle Orientierung auch in der Sprachauffassung zu illustrieren.

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giudicio, e con quello concorrono e consentono ad accettar le parole che lor paion bone, le quali si conoscono per un certo giudicio naturale, e non per arte e regola alcuna» (Cortegiano I, 35 – 1968, 101).

Die Basis aber ist der Sprachgebrauch: «[…] la forza e vera regula del parlar bene consiste piú nell’uso che in altro, e sempre è vizio usar parole che non siano in consuetudine» (Cortegiano Dedica II – 1968, 9).

Als einem in der Questione della lingua bekannterweise (zumindest theoretisch) als Verfechter eines eklektischen Modells auftretenden Autor geht es Castiglione immer wieder auch darum, den Einbezug zeitgenössischer, nichttoskanischer Wörter zu rechtfertigen, den er eben durch die consuetudine der Führungselite Italiens begründet: «[...] la consuetudine del parlare dell’altre città nobili d’Italia, dove concorrono omini savi, ingeniosi ed eloquenti, e che trattano cose grandi di governo de’ stati, di lettere, d’arme e negoci diversi, non deve essere del tutto sprezzata» (Cortegiano Dedica II – 1968, 10).

Die Ausweitung der vorbildhaften consuetudine auf Wörter aller italienischen Regionen, die durch die Gesprächsteilnehmer in Urbino vertreten sind (cf. Baumgart 1960, XXXIX), und ebenso auf bereits integrierte Fremdwörter wird von den qualifizierenden Adjektiven «splendido» und «elegante» begrenzt, die im Kontext der Ästhetisierung besonders interessieren: «Io vorrei che ‘l nostro cortegiano [...] non solamente pigliasse parole splendide ed eleganti d’ogni parte d’Italia, ma ancor laudarei che talor usasse alcuni di quelli termini e franzesi e spagnoli, che già sono dalla consuetudine nostra accettati» (Cortegiano I, 34 – 1968, 97).

Doch soll der Wortgebrauch des Hofmanns zwar durch «parole splendide ed eleganti» bestimmt sein, sein Reden selbstverständlich «senza dir parole sporche o far atti men che onesti» (Cortegiano II, 50 – 1968, 250) vonstatten gehen und der «rispetto alla sorte delle persone con le quai parlano» (Cortegiano II, 42 – 1968, 236) uneingeschränkt gelten. Wichtig sei es aber vor allem, Wörter zu wählen, die auch vom Volk noch verwendet würden, was im Hinblick auf den geforderten Wortgebrauch und damit auch den Führungs- und Distinktionsanspruch der Höfe doch überrascht: «[...] bisogna dispor con bell’ordine quello che si ha a dire o scrivere; poi esprimerlo ben con le parole: le quali [...] debbono esser proprie, elette, splendide e ben composte, ma sopra tutto usate ancor dal populo» (Cortegiano I, 33 – 1968, 94).

Die Rücksicht auf den Sprachgebrauch des Volkes steht auch nicht unbedingt im Einklang mit der Aufforderung an den Hofmann, Wörter auch in übertragener Bedeutung zu verwenden und neue Wörter oder Redewendungen zu kreieren, indem er sie vom römischen Vorbild herleitet: 205

«Talor vorrei che pigliasse alcune parole in altra significazione che la lor propria e, traportandole a proposito, quasi le inserisse come rampollo d’albero in piú felice tronco, per farle piú vaghe e belle, e quasi per accostar le cose al senso degli occhi proprii e, come si dice, farle toccar con mano, con diletto di chi ode o legge. Né vorrei che temesse di formarne ancor di nove e con nove figure di dire, deducendole con bel modo dai Latini, come già i Latini le deducevano dai Greci» (Cortegiano I, 34 – 1968, 98).

Bedingungen wie die geforderte Zugehörigkeit zum aktiven Sprachgebrauch des «populo» sind zwar ein Eintreten für den lebendigen Sprachgebrauch und eine Ablehnung von z.B. älteren toskanischen Ausdrucksweisen, zeigen aber angesichts der sprachlichen Zersplitterung Italiens auch den utopischen Charakter seiner Vorstellungen von einer elitären «consuetudine»,91 da er ja insgesamt das Konzept eines Primats des Toskanischen ablehnt, wie es Bembo vertritt.92 Als Modell sollte der Hofmann mutatis mutandis in Frankreich adaptiert werden,93 wo der Cortegiano schon im 16. Jahrhundert mehrfach ediert und übersetzt wurde. Dazu hat sicher auch die Bekanntheit Castigliones selbst beigetragen, der 1507 bereits als Botschafter des Herzogs von Urbino in Frankreich war, wo er sich mit dem Herzog von Angoulême verband, dem späteren Franz I., der auch im Cortegiano ausdrücklich gelobt wird (cf. Fumaroli 1994a, 89 n. 95). Dennoch sollte die definitive Rezeption vor allem auch in sprachlicher Hinsicht noch längere Zeit auf sich warten lassen, wie die relativ freie Sprache eines Rabelais und Montaigne zeigt.94 Doch der auch mit Erasmus verbundene «processus engagé dès la première Renaissance est irreversible» (Bologne 1986, 268). Als der Cortegiano dann rezipiert wird, ist die Gefahr ausgeschlossen, dass der Hofmann wegen seiner zahlreichen Fähigkeiten wie in Italien ein Wettstreiter mit dem Fürsten wird und sich damit eine Konkurrenzsituation am Hofe herausbildet, da er sich hier (speziell im entstehenden Absolutismus des 17. Jahrhunderts) als «honnête homme»

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Demgegenüber hat später Malherbe in Frankreich nur die passive Kenntnis der Ausdrucksweisen beim Volk als Bedingung für die Verständlichkeit des ihm vorschwebenden «usage» vorausgesetzt. Cf. Loos: «Castiglione fühlt sich als Lombarde und nimmt daher auch für sich das Recht in Anspruch, in seiner Sprache zu schreiben. Durch die zahllosen Korrekturen Bembos, denen sich Castiglione trotz seiner mit solcher Entschiedenheit vorgetragenen Ansichten ohne Widerspruch fügt, weil er die Autorität des Freundes in sprachlichen Dingen voll anerkennt, ist der ‹lombardische› Charakter des Textes fast völlig verschwunden» (1955, 139). Cf. auch die detaillierte «Soziologie der Rezeption» in Burke (1996, 168–176). Doch sei die Frage nach seinem Einfluss auf die abendländische Zivilisation «nur schwer zu fassen» (1996, 177). Eine Übersicht über die Editionen zwischen 1528 und 1850, darunter 22 französische, bringt der Anhang (1996, 205–207). Dennoch besteht bei Montaigne bei aller Natürlichkeit eine auch formulierte schamhafte Tabuisierung von Ausdrucksweisen bzw. deren euphemistischem Ersatz beim Reden über Sexualität, wie Lebsanft (1997, 118) sehr schön zeigt.

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ein- und unterzuordnen hat. Bei allem Streben, in der Gesellschaft, und hier insbesondere den Damen und dem König, mit seiner Anwesenheit zu gefallen, darf er vor allem nicht auffallen. Er ist zunächst ein Ehrenmann,95 für den Religion, Tugend und Moral an erster Stelle stehen, woraus sich seine gesellschaftlichen Qualitäten mehr oder weniger zwangsläufig ergeben (cf. Lathuillère 1969, 579). Er ist «modebewusst, frei jeder Pedanterie, mit einem wachen, ironischen Geist und einer brillanten Konversation, in der er nicht durch sein Fachwissen glänzt, sondern es geschickt zu verschleiern versteht»; dabei spielt eben auch generell «das Talent zur Konversation eine zentrale Rolle, denn sie zeichnet den honnête homme innerhalb des sozialen Lebens aus» (Bagola 1996, 207). 5.2.1.2 Giovanni della Casas Galateo als Schule der Höflichkeit Der Erziehungsentwurf della Casas (1558) will Richtschnur für die «vita civile» sein, d.h. für ein Leben ohne Standesbegrenzung, und steht damit – trotz vieler ungenannter Anleihen am Cortegiano96 – im Gegensatz zu Castigliones normativem Konzept hofmännischen Verhaltens. In Form einer Unterweisung eines jungen Mannes durch einen «vecchio idiota»,97 einen ungelehrten Alten, plädiert der Autor und spätere Staatssekretär unter Papst Paul IV. für das vorbildliche und gefällige, weil taktvolle Verhalten in der alltäglichen conversazione, wie sie im Untertitel genannt wird und in der älteren Bedeutung ‘Umgang’ zu verstehen ist: «[…] niuno può dubitare che a chiunque si dispone di vivere non per solitudini o ne’ romitorii, ma nelle città e tra gli uomini, non sia utilissima cosa il sapere essere ne’ suoi costumi e nelle sue maniere grazioso e piacevole; senza che le altre virtù hanno mestiero di più arredi, i quali mancando, esse nulla o poco adoperano; dove questa senza altro patrimonio è ricca e possente, si come quella che consiste in parole e in atti solamente» (Galateo I – 1993, 5).

Das Zitat verweist auf das reiche und mächtige Gut guten Benehmens, selbst wenn es nur aus Worten und Verhaltensweisen98 bestehe. Dementsprechend

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Zur Charakteristik sei u.a. auch auf die von Bagola (1996) herangezogenen Passagen in Lathuillère (1969) und Strosetzki (1984) verwiesen. Cf. Burke, der neben della Casa von 35 weiteren Fälle spricht, «in denen sich Autoren offenbar des Textes bedienten, ohne ihn zu zitieren» (1996, 101). Cf. den Untertitel: «Trattato nel quale, sotto la persona d’un vecchio idiota ammaestrante un suo giovanetto, si ragiona de’ modi che si debbono o tenere o schifare nella comune conversazione, cognominato Galateo ovvero de’ costumi». Verhaltensweisen, die er als rücksichtslos tadelt, sind z.B., in Gesellschaft zu gähnen, die Fingernägel zu säubern und zu schneiden (Kap. VI) oder ein Bein auf den Tisch zu legen (Kap. XXX). Cf. als weiteres Kapitel mit Beispielen noch XXIX und dazu auch die Zitate aus dem Galateo infra p. 253.

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geht es della Casa denn auch an erster Stelle um gutes Benehmen im Gespräch und im Umgang mit den Menschen: «[…] io incomincerò da quello che per avventura potrebbe a molti parer frivolo: cioè quello che io stimo che si convenga di fare per potere, in comunicando ed in usando con le genti, essere costumato e piacevole e di bella manera» (Galateo I – 1993, 4).

Vor allem auch im gegenreformatorischen Kontext hatte das Werk uneingeschränkten Erfolg. Die Jesuiten übernahmen es in ihren Erziehungskanon, da es mit ihren Vorstellungen einer allgemeinen, das gesellschaftliche Leben umfassenden Bildung übereinstimmte (Ley 1984, 10). Ihr Lehrprogramm unterschied sich dadurch grundsätzlich von den traditionellen, scholastisch geprägten Lehrprogrammen anderer Institutionen und so wurden in ihren Schulen um die Wende zum 17. Jahrhundert auch die neuen Eliten Frankreichs erzogen,99 darunter auch ein Sprachreformer und Sprachästhet wie Honoré d’Urfé.100 Für della Casa ist die sprachliche Bildung, die er in mehreren Kapiteln seines Traktats eigens oder in unterschiedlicher Weise eingebaut thematisiert, Ausgangspunkt im Sinne des rhetorischen Grundkonzepts,101 «wie es vom christlichen Humanismus tradiert worden war. Danach sollen durch sprachliche Bildung im Menschen zunächst diejenigen Anlagen geweckt werden, die ihn zur Erkenntnis seiner wahren Bestimmung gelangen lassen» (Ley 1984, 17). Doch nicht nur das Sprechen, auch die verschiedenen «Weisen der Lebensäußerung», «Gestik, Mimik und Kleidung, werden nach dem Muster der Konversation einheitlich als Akte der Kommunikation gefasst, die so durchzuführen sind, dass sie gefallen». Das Gefallen lässt sich dadurch auf «die ästhetischen Prinzipien von Maß und Symmetrie» (Ley 1984, 28) reduzieren. So heißt es – durchaus vergleichbar mit der schon vom Cortegiano geforderten «certa onesta mediocrità» – im Galateo: «Conviensi adunque alle costumate persone aver risguardo a questa misura che io ti ho detto, nello andare, nello stare, nel sedere, negli atti, nel portamento e

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Zur Rolle der Jesuiten, die allerdings zwischen 1594 und 1604 vertrieben waren, und ihrer Unterrichtsreform unter Heinrich IV. sowie zur Einführung des italienischen Erziehungsmodells in Frankreich in anderen Schulen und Militärakademien durch «un gentihomme dauphinois, Antoine de Pluvinel, ancien élève de l’Académie de Pignatelli à Naples» im Jahre 1594 (Bayrou 1994, 296). Das Modell umfasste deutliche Elemente aus Cortegiano und Galateo: «art militaire, exercices physiques, disciplines intellectuelles et morales, civilités et bonnes manières, le tout dans la tradition chevaleresque» (1994, 395). Cf. Sancier-Chateau (1995, 9s.); zur Bedeutung der Astrée cf. infra 5.2.4.2. Cf. hierzu auch die Auffassung Ciceros, für den die Sprache «als der Inbegriff des Menschlichen, die Wirkung durch das Wort als Selbstverwirklichung des Menschen» das «eigentliche Fundament» ist, «auf dem sich [seine] Vorstellung von der Kunst der Rede und dem idealen Redner gründet» (Merklin 2003, 38).

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nel vestire e nelle parole e nel silenzio e nel posare e nell’operare» (Galateo XXVIII – 1993, 68).

Der Traktat reguliert mit der angestrebten Normsetzung das gesamte öffentliche Auftreten und erreicht damit «die Einheitlichkeit der Sittenlehre» (Ley 1984, 17). Die Ästhetik des Sprachverhaltens und Sprechens, von der Artikulation und Sprechweise bis zur Wort- und Themenwahl, ist in diesem ethischen Normenkonzept somit fester Bestandteil des Sozialverhaltens. Sie ist in das wohlanständige Verhalten integriert, das auf die anderen Rücksicht nimmt, sie erfreut und den Sprecher nicht nur an sich selbst denken lässt: «Il che acciocché tu più agevolmente apprenda di fare, dèi sapere che a te convien temperare e ordinare i tuoi modi non secondo il tuo arbitrio, ma secondo il piacer di coloro co’ quali tu usi, e a quello indirizzargli; e ciò si vuol fare mezzanamente, perciocché chi si diletta di troppo secondare il piacere altrui nella conversazione e nella usanza pare più tosto buffone o giucolare, o per avventura lusinghiero, che costumato gentiluomo; sì come per lo contrario, chi di piacere o dispiacere altrui non si dà alcun pensiero è zotico e scostumato e disavvenente» (Galateo II – 1993, 5s.).

Für das bescheidene und gefällige Sprechen, das dem Zuhörer Vergnügen bereiten soll, werden eine Reihe von Anweisungen gegeben, die von der Vermeidung bestimmter Themen bis zur Wortwahl reichen. Bei dem Vorschlag der Wahl von Gesprächsthemen legt della Casa u.a. Wert darauf, dass die Materie nicht zu speziell ist, da eine solche den Zuhörer leicht überfordern könne, weder «frivola» noch «vile» ist, da eine solche keinen Gefallen finde (IX, 20), und insgesamt besonders den Anstand nicht verletze: «Vuolsi diligentemente guardare di far la proposta tale che niuno della brigata ne arrossisca o ne riceva onta. Né di alcuna bruttura si dee favellare, comeché piacevole cosa paresse ad udire: perciocché alle oneste persone non istà bene studiar di piacere altrui se non nelle oneste cose» (Galateo XI – 1993, 21).

Zu den im Einzelnen tabuisierten Themen102 wird im gleichen Kapitel XI z.B. die Gotteslästerung gerechnet,103 außerdem alle schwermütig machenden

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Ähnliche Tabuisierungen sind auch in anderen Schriften zu finden, so bei Erasmus, wenn er bei Tischgesprächen die Empfehlung gibt: «Il ne fault rien dire a table qui trouble la bonne chere. De y toucher la renommee d’aultruy c’est tresmal faict. Et n’y fault renouueler sa douleur a personne. Blasmer les viandes qui se presentent sur table, est repute incivil, & n’est agreable a celluy qui te recoit» (Erasmus 1537, 68v), aber auch bei Knigge: «Würze nicht Deine Unterhaltung mit Zweideutigkeiten, mit Anspielungen auf Dinge, die entweder Ekel erwecken oder keusche Wangen erröten machen. Zeige auch keinen Beifall, wenn andre dergleichen vorbringen. Ein verständiger Mann kann an solchen Gesprächen keine Lust haben. Auch in bloß männlichen Gesellschaften verleugne nicht die Schamhaftigkeit, Sittsamkeit und Dein Missfallen an Zoten» (Umgang I, 1, 26 – 2001, 52). Cf. das entsprechende Zitat aus dem Galateo in 5.1.2.2 (p. 168).

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Gesprächsgegenstände wie Krankheit und Tod (cf. supra 5.1.3.1). An anderer Stelle (Kap. XVIII) wird u.a. die üble Nachrede angeprangert, der Widerspruchsgeist, der ein Zeichen von Feindseligkeit sei, auch das ungefragte Erteilen guter Ratschläge, das Tadeln und Korrigieren von Unvollkommenheiten anderer Gesprächsteilnehmer sowie (Kap. XIX) das Verhöhnen und Spotten, das er insbesondere auf Kosten Behinderter (cf. infra 5.3.4.2) für äußerst verachtenswert hält. Auch das Erzählen mancher Witze (Kap. XX) könne sehr verletzend sein. Taktgefühl und Rücksichtnahme lassen so das Idealbild harmonischen Miteinanders entstehen und begründen zweifellos, dass der Galateo über Italien hinaus und bis heute bekannt ist. Im Bezug auf die Sprachebene sind in ihm ebenfalls deutliche Anweisungen enthalten: «Non voglio perciò che tu ti avvezzi a favellare sì bassamente come la feccia del popolo minuto e come la lavandaia e la trecca, ma come i gentiluomini» (Galateo XXIII – 1993, 57).

Speziell zur Wortwahl empfiehlt della Casa in Anlehnung an die antike Rhetorik die Klarheit und Eindeutigkeit (claritas), die Wohlgesetztheit (proprietas) und die Gebräuchlichkeit (latinitas) des Ausdrucks, die Missverständnisse verhindere und trotzdem unverfängliche Ausdrucksweisen erlaube: «Le parole, sì nel favellare disteso come negli altri ragionamenti, vogliono esser chiare sì che ciascuno della brigata le possa agevolmente intendere, ed oltre a ciò belle in quanto al suono e in quanto al significato; perciocché, se tu arai da dire l’una di queste due, dirai più tosto il ventre che l’epa, e dove il tuo linguaggio lo sostenga dirai più tosto la pancia che il ventre o il corpo; perciocché così sarai inteso e non franteso, sì come noi Fiorentini diciamo, e di niuna bruttura farai sovvenire all’uditore. La qual cosa volendo l’ottimo poeta nostro schifare, sì come io credo, in questa parola stessa procacciò di trovare altro vocabolo, non guardando perché alquanto gli convenisse scostarsi per prenderlo di altro luogo, e disse: Ricorditi che fece il peccar nostro prender Dio per scamparne umana carne al tuo virginal chiostro» (Galateo XXII – 1993, 48).

Damit ist bereits eine Empfehlung für die «parola più onesta», für den Euphemismus ausgesprochen, denn bei vorliegenden Synonyma sieht della Casa in einem davon die «ehrenvollere» Ausdrucksweise, die gegebenenfalls – im Einklang mit den vom Cortegiano zu umgehenden «parole sporche» – die «parole disoneste», «lorde», «vili», «commune», «imbrattate della feccia del volgar popolo» vermeiden lässt: «E dèi sapere che, comeché due o più parole venghino talvolta a dire una medesima cosa, nondimeno l’una sarà più onesta e l’altra meno; sì come è a dire Con lui giacque e Della sua persona gli soddisfece, perciocché questa stessa sentenza, detta con altri vocaboli, sarebbe disonesta cosa ad udire. E più acconciatamente dirai il vago della luna che tu non diresti il drudo, avvegnaché amendue questi vocaboli importino lo amante; e più convenevol parlare pare a dire la fanciulla

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e l’amica che la concubina di Titone; e più dicevole è a donna, ed anco ad uomo costumato, nominare le meretrici femmine di mondo (come la Belcolore disse, più nel favellare vergognosa che nello adoperare) che a dire il comune lor nome: Taide è la puttana; e come il Boccaccio disse: la potenza delle meretrici e de’ ragazzi, che, se così avesse nominato dall’arte loro i maschi come nominò le femmine, sarebbe stato sconico e vergognoso il suo favellare. Anzi non solo si dee altri guardare dalle parole disoneste e dalle lorde, ma eziandio dalle vili, e spezialmente colà dove di cose alte e nobili si favelli» (Galateo XXII – 1993, 53s.).

So überrascht es wenig, dass vor allem Dante in mehreren Beispielen kritisch betrachtet wird, und della Casa fortfährt: «[…] e per cuesta cagione forse meritò alcun biasimo la nostra Beatrice, quando disse: L’alto fato di Dio sarebbe rotto se Lete si passasse e tal vivanda fosse gustata senza alcuno scotto di pentimento; ché, per avviso mio, non istette bene il basso vocabolo delle taverne in così nobile ragionamento. Né dee dire alcuno la lucerna del mondo in luogo del sole, perciocché cotal vocabolo rappresenta il puzzo dell’olio e della cucina; né alcuno considerato uomo direbbe che san Domenico fu il drudo della teologia e non racconterebbe che i santi gloriosi avessero dette cosi vili parole come è a dire: e lascia pur grattar dove è la rogna, che sono imbrattate della feccia del volgar popolo, siccome ciascuno può agevolmente conoscere» (Galateo XXII – 1993, 54)

Della Casa gibt (1993, 54s.) noch weitere praktische Beispiele für «parole gentili e modeste, e dolci sì che niun amaro sapore abbiano», die anstelle anderer unhöflicher, eher auf Konfrontation angelegter Formulierungen empfohlen werden, wie z.B. Io non seppi dire zur Vermeidung von Voi non m’intendete. Rücksichtsvolle Ausdrucksweisen anstelle von direkter Kritik, die in mehreren Gebieten auftreten können und daher infra (5.2.4) nicht eigens thematisiert werden müssen, sind natürlich auch heute in der Verwendung von z.B. fr. pas exactement,104 pas vraiment, pas précisément, plutôt, pas fameux, discutable, regrettable, que vous savez gut belegt.

104

Ein Verwendungsbeispiel von euphemistischem pas exactement (nicht exakt) ist vor dem Hintergrund, dass bei der Eröffnung der Cité Nationale de l’Histoire de l’Émigration am 11. Oktober 2007, an der bezeichnenderweise keiner der vier zuständigen französischen Minister teilnahm, der Gegensatz zwischen dem Museum und der französischen Immigrationspolitik unter Nicolas Sarkozy, der «ein Plansoll von 25 000 Ausschaffungen pro Jahr dekretiert» noch einmal besonders deutlich wurde, zumal «der gesamte wissenschaftliche Rat der Institution aus Protest gegen die Schaffung eines Ministeriums für Immigration und nationale Identität zurückgetreten» war: «Ein Euphemismus also zu sagen, das von der Cité vermit-

211

5.2.1.3 Stefano Guazzos Civil conversazione Der ebenso wie die zwei betrachteten Werke verbreitete, aber längst nicht so bekannte Traktat liefert nicht nur die neuere Bedeutung von it. conversazione und (in der französischen Übersetzung von 1579) fr. conversation,105 die bis ins 16. Jahrhundert hinein ja noch diejenige des lat. conversatio ‘Umgang’106 tradierten, sondern ist auch der erste Traktat, der sich ausschließlich mit der conversazione beschäftigt, wobei das Attribut civil «die gesellschaftliche gegenüber der sprachlichen Komponente aufwertet» (Kapp 1994, 144). Das heißt, es geht eher um die Konversation und ihren Stellenwert im Allgemeinen, denn schließlich ist es manifest, «che ‘l sapere comincia dal conversare e finisce nel conversare» (Civil con. 1 A18a – 1993, 30). Diese Feststellung wird wiederholt begründet, wie u.a. im folgenden Passus mit der wichtigsten Argumentation, die gleichzeitig das Ziel der Konversation festhält: «[…] perché nel conversare s’apprendano i buoni costumi e le virtù, per mezzo delle quali si dispensino e si conservino drittamente i beni della fortuna e si venga ad acquistare il favore, la benivolenza e la grazia altrui» (Civil con. 2 A14 – 1993, 83).

Die Titel der einzelnen, ebenfalls in Dialogform gehaltenen Bücher des Traktats mögen den für diesen Exkurs aufgrund des Fehlens konkreter Anweisungen zur Sprachverwendung107 zu allgemeinen Charakter illustrieren. So heißt es im Titel des Libro primo:

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telte Geschichtsbild entspreche nicht exakt jenem, das Sarkozy und seine Berater zu propagieren suchen» (Zitzmann 2007). Cf. hierzu auch: «Liberté, toujours, au mois de mars, lorsque, après un moment de passage à vide, il [Sarkozy] lance l’idée d’un ministère de l’Immigration et de l’Identité nationale: les tenants du correct tordent le nez, mais sa campagne est relancée» (Brézet 2007). Zum Französischen cf. «échange de propos sur un sujet, entretien» (seit 1666, Molière)» (FEW 2, 1132b). TLF gibt bereits 1563 als Erstdatum an, DHLF und PR nennen sogar schon 1537. Zum Italienischen cf. «‘colloquio fra più persone condotto con tono di amabilità e discrezione, intorno a varii argomenti’ (av. 1529, B. Castiglione)» (DELI). Zum Französischen cf. «genre de vie; conduite; commerce habituel avec qn; fréquentation» (FEW 2, 1132b). Zum Italienischen cf. «3. Ant. E letter. Il frequentare (una persona, un ambiente): pratica, dimestichezza acquisita per consuetudine di vita in comune. […] Anche: rapporto sociale, contatto che per affari o altri motivi si stabilisce con qualcuno […] 4. Disus. Comunità di persone che vivono insieme o si frequentano o appartengono a un medesimo circolo (anche allo stesso ordine religioso) […] 5. Ant. Convivenza civile degli uomini, società […] 6. Ant. Condotta, comportamento» (GDLI, s.v. conversazione) bzw. «‘compagnia di persone che si riuniscono abitualmente’ (av. 1292, B. Giamboni)» (DELI). Der modernen Bedeutung entsprach im Lateinischen die Bezeichnung sermo. Cf. auch Fumaroli (1994a, 138). Solche Anweisungen sind indessen in der Diskussion über die «questione della lingua» und die Verwendung regionaler Ausdrucksweisen zu finden. Cf. z.B. Quondam (1993, 101; 2 A67a–c).

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«Si tratta in generale de’ frutti di che si cavano dal conversare e s’insegna a conoscer le buone dalle cattive conversazioni» (Civil con. – 1993, 13).

Zum Libro secondo wird präzisiert: «Si discorre primieramente delle maniere convenevoli a tutte le persone nel conversare fuori di casa, e poi delle particolari che debbono tenere, conversando insieme, giovani e vecchi, nobili e ignobili, prencipi e privati, dotti e idioti, cittadini e forastieri, religiosi e secolari, uomini e donne» (Civil con. – 1993, 77).

Diese Aufteilung deutet zusammen mit den folgenden Charakteristika darauf hin, dass Guazzos Traktat vielleicht das vollständigste zeitgenössische Bild der italienischen Gesellschaft enthält. Vom Geburts- bis zum Tugendadel werden in ihm auch die «nobili» differenziert betrachtet,108 zu denen erklärt wird: «‘l vero nobile non nasce come il poeta, ma si fa come l’oratore» (Civil con. 2 C143 – 1993, 129). Das dritte Buch ist der häuslichen Konversation gewidmet, «tra marito e moglie, tra padre e figliuolo, tra fratello e fratello, tra patrone e servitore» (Civil con. – 1993, 177); und im vierten Buch geht es um «la forma della civil conversazione con l’essempio d’un convito fatto in Casale, con l’intervenimento di dieci persone» (Civil con. – 1993, 265). Lediglich im zweiten Buch sind einige Dialogteile der Sprache im engeren Sinne gewidmet, wobei auch die «questione della lingua» diskutiert wird. Guazzos Vorstellungen dazu ergaben eine «‹contaminazione regolata› della norma bemboniana con gli usi monferrini, funzionalmente rivolta a disciplinare la forma della lingua parlata» bzw. «una lingua parlata mista, ‹cioè a dire la lingua naturale del luogo, ripulita in qualche modo e accostata alla toscana›, un vero e proprio ‹italiano regionale›, dunque» (in Guazzo 1993/II, 185 n. 68). Ausführlicher sind auch die passenden artikulatorischen und stimmlichen Verhaltensweisen beim Sprechen thematisiert, ebenso wie die Akzente, die verschiedenen Regionen zugewiesen werden. Bei einzelnen angesprochenen Gebieten der Rhetorik, bei der begleitenden Mimik und Gestik, beim Schweigen und bei der Gesprächigkeit, bei Fehlern wie Affektiertheit, mangelnde Klarheit und zu knappe Darstellung, aber auch beim Gegenteil, d.h. z.B. beim Ansprechen zu vieler Themen oder dem häufigen Gebrauch von Wiederholungen, wird öfter und auch abkürzend auf den Cortegiano und den Galateo verwiesen. Für den vorliegenden Exkurs ist aber die ethisch-soziale Spiegelfunktion der Sprache vom Typ «Dimmi come parli e ti dirò chi sei» aus Guazzo zu zitieren (cf. genauer 6.2), da sie den elitären Distinktionswillen mitbegründet: «Chi desidera adunque usar felicemente della civil conversazione, ha da considerare che la lingua è lo specchio e ‘l ritratto dell’animo suo, e che sì come dal suono del danaio conosciamo la bontà e falsità sua, così dal suono delle parole

108

Cf. u.a. Holme (1910, 162s.), Crane (1920, 386) und dessen ausführliche Darstellung (1920, 386–433).

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comprendiamo a dentro la qualità dell’uomo e i suoi costumi. E perché tanto più siamo riputati, quanto più la civiltà nostra è differente dalla natura e da’ costumi degli uomini volgari e meccanici, bisogna che la lingua s’affatichi di scoprire questa differenza in due cose principali, cioè nella vaghezza e nella gravità delle parole» (Civil con. 2 A20b – 1993, 86).109

Vaghezza ist als ästhetische Kategorie im Sinne von «‹leggiadria›, ‹grazia›, cioè di ‹bellezza›» zu verstehen.110 Gravità hingegen «[…] connota una forma complessiva di comportamento e di impostazione del corpo e del volto e quindi della parola (nel senso della dignità e autorevolezza, della solennità e della severità): è importante che negli atti sia sempre ‹congiunta una umanità grave e una gravità umana› [Civil con. 1 A98 – 1993, 70], cioè una forma di gravità impostata sul criterio del ‹giusto mezzo› tra gli eccessi della superbia e della compiacenza» (Quondam in Guazzo 1993/II, 125 n. 445).

Im Einklang mit dieser Differenzierung wird wiederholt die höfliche Ausdrucksweise als soziokulturelles Identitätsmerkmal für den Edelmann und gebildeten Städter herausgestellt, d.h. «[…] di mettere studio nel parlar conforme all’uso comune della sua patria, ma più politamente di quel che sogliono gli uomini volgari. E sì come conviene al nobile parlar meglio del vile, così avrà a sforzarsi il più intendente e letterario cittadino di parlar alquanto più corretto dei meno intendenti, ma sempre in maniera che mostri di parlar quella medesima lingua e non di formare una nova» (Civil con. 2 A67c – 1993, 101s.).

Ähnlich wie Castiglione weilte auch Guazzo mehrere Jahre (1552–1559) in Frankreich, zunächst im Dienst von Ludovico Gonzaga, dem späteren Herzog von Nevers, sodann 1564 für dessen Bruder Guglielmo als Botschafter bei Karl IX. (cf. Crane 1971, 387). 5.2.1.4 Zwischenresümee Das neue Lebensgefühl, das sich zu Beginn der Neuzeit in einer erweiterten und umgestalteten Elite einstellt, ergibt sich durch den Renaissancehumanismus aus einer klar akzentuierten Abkehr von der traditionellen mittelalterlichen Mentalität und in hoffnungsvoller Aufgeschlossenheit für das Neue unter Rückgriff auf antike Vorbilder als nahe liegender Orientierungsmöglichkeit. Im Bezug auf die Verhaltenskodizes und Manieren hat die Elite aufgrund des ihr eigenen Distinktionswillens sowie der zunehmenden wechselseitigen Rücksichtnahme und unter Einbezug der antiken Urbanitas

109

110

Unbeschadet dieses Ornatus zur soziolinguistischen Abgrenzung gilt jedoch als Primat, «[che] non si dee tanto mirar la vaghezza e l’ornamento, quanto la gravità e l’utilità» (Civil con. 2 A49a – 1993, 95). Quondam in Guazzo (1993/II, 191 n. 89); cf. noch infra im Kapitel zu den Arten euphemistischer Substitution (4.3).

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Ideale entworfen, die nunmehr den Charakter der Vorbildlichkeit auch und vor allem in sprachlicher Hinsicht beanspruchen. Dabei verwundert es nicht, dass sich des Öfteren der Hinweis auf Ciceros De oratore anbietet, auch wenn dieser in den italienischen Traktaten als Quelle oder Vorbild praktisch unerwähnt bleibt. Die Betrachtung der drei Hauptautoren von Empfehlungen zur beginnenden ethisch-ästhetisch orientierten Kultur im Allgemeinen und gepflegten Konversation im Besonderen ließ einerseits den hohen Stellenwert der immer wieder thematisierten grundsätzlichen Rücksichtnahme auf den oder die Gesprächspartner erkennen, den «rispetto alla sorte delle persone con le quai parlano» bei Castiglione, wie ihn ebenso della Casa als unabdingbar für den «gentiluomo» betrachtet: «[…] a te convien temperare e ordinare i tuoi modi non secondo il tuo arbitrio, ma secondo il piacer di coloro co’ quali tu usi, e quello indirizzargli». Andererseits zeigte sie einen weitgehenden Konsens über das Streben nach einer angenehmen Gestaltung der Konversation, die in den Worten Castigliones von der Fähigkeit des Sprechers abhängt, «[di] recrear gli animi degli auditori e con motti piacevoli e facezie discretamente indurgli a festa e riso, di sorte che, senza venir mai a fastidio o pur a saziare, continuamente diletti», und auch einen Konsens über die aufgrund der genannten Rücksichtnahme zu meidenden Themen impliziert, zu denen della Casa z.B. ausführt, «né a festa né a tavola si raccontino istorie maninconose, né di piaghe né di malattie né di morti o di pestilenzie né d’altra dolorosa materia si faccia menzione o ricordo», oder auch Erasmus erklärt, «il ne fault rien dire a table qui trouble la bonne chere. De y toucher la renommee d’aultruy c’est tresmal faict. Et n’y fault renouueler sa douleur a personne». Im Wortgebrauch schließt Castigliones Cortegiano schmutzige Wörter, «parole sporche», genau wie unehrenhafte Handlungen, «atti men che onesti», aus, da sie dem Charakter des Hofmannes widersprechen. Dies ist neben der Auffassung von Erasmus auch diejenige della Casas, der es in Gegenwart anderer entschieden ablehnt, hässliche Dinge zu tun oder darüber zu sprechen: «[…] non solamente non sono da fare in presenza degli uomini le cose laide o fetide o schife o stomachevoli, ma il nominarle anco si disdice», und gegebenenfalls die Verwendung von Euphemismen anstelle der «parole disoneste» anrät (femmina del mondo anstelle von puttana). Diese Empfehlung gilt selbstverständlich auch für «[parole] imbrattate della feccia del volgar popolo», da die Kluft zwischen Elite und Volk grundsätzlich bestehen bleibt. Guazzo schließlich widmet sich in seiner Civil Conversazione ausschließlich der Konversation über alle Standesgrenzen hinweg, stellt aber nach dem supra zitierten Motto «Dimmi come parli e ti dirò chi sei» den Gegensatz seiner kultivierten Ausdrucksweise, die auf «vaghezza» und «gravità» gegründet ist, derjenigen der «uomini volgari» in längeren Passagen gegenüber. So sind für die Zielsetzung dieser Arbeit vor allem jene Aspekte aus den Manierentraktaten interessant, die für die Ethik und Sprachethik der frühen 215

Neuzeit mit der Selbstachtung und Achtung anderer in Form von Rücksichtnahme charakteristisch sind, einer Rücksichtnahme, die sich für Norbert Elias aus den sozialen Veränderungen innerhalb der Elite erklärt. Hinzu kommt der fast missionarische Eifer des Humanismus, auch und besonders mit Hilfe sprachlicher Vorbildlichkeit die bestehenden inakzeptablen Umgangsformen der elitären Gesellschaft zum Besseren zu wenden. In Frankreich sollte sich dieser Prozess nach italienischem Vorbild auch aufgrund der innenpolitischen Wirren jedoch erst mit dem 17. Jahrhundert definitiv durchsetzen können. 5.2.2

Die Entwicklung in Frankreich. Von der Kritik am Hofleben zum Preziösentum

5.2.2.1 Heinrich IV. und das Hôtel de Rambouillet Auch in Frankreich hat die einleitend zitierte Feststellung von Elias (1997a, 195; supra p. 196s.) volle Gültigkeit und es zeigen sich engere Parallelen zur u.a. im Zitat von Ley (1984, 8; supra p. 203) genannten Situation in Italien, die als Motivation für die reformerischen Initiativen im Bereich gesellschaftlicher Umgangsformen naheliegen.111 So sieht schon Livet (1856, XI) in der Entstehung des Preziösentums im Kreise der Marquise de Rambouillet auch eine primär moralische und sprachliche Reaktion112 auf die Unzufriedenheit mit den Umgangsformen, wie sie am Hofe von Heinrich IV. praktiziert wurden:113 «Sous Henri IV, pour la plupart des courtisans, l’amour immodéré des plaisirs étoit une flatterie plus ou moins directe à l’adresse du souverain. À tous ces hommes nés et élevés au bruit des armes, il ne falloit pas demander une galanterie bien raffinée» (Livet 1856, XI).

Ähnlich schreibt Bayrou in seiner Monographie über Heinrich IV.:

111

112

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Im Einklang mit den genannten Zitaten spricht z.B. auch Bömer (1904, 227) konkreter von einer allgemeinen «Lockerung und Verrohung der Sitten», die «wohl am Ende des XV. Jahrh. ihren Höhepunkt erreicht haben mochte, aber auch im XVI. Jahrh. noch abschreckend genug und zur schärfsten Satire herausfordernd sich breit machte». Eine detailliertere Darstellung der Verhältnisse in Italien gibt Jacob Burckhardt [1860]. Zur Diskussion und neueren Bewertung der «correction et purification de langage de Mme de Rambouillet et de son école précieuse» cf. Raynard (2002, Kap. IV und V und das Zitat infra p. 223 n. 126). Erwähnt sei auch die Auffassung von Biancardi, die in den Salons «una sorta di microsocietà difensiva» (1989, 214) sieht, deren «forte simpatia [...] per la comunicazione spirituale e per le creazioni badines possa essere ispirata soprattutto da una ricerca di compensazioni per le repressioni subìte in campo ideologico e politico» (1989, 222s.). Zu Heinrich IV., seinem Leben und seiner Leistung cf. Bayrou (1994); zum Leben am Hofe besonders (1994, 457–479).

216

«La cour était aussi moins brillante [que sous Henri III] du fait même de sa recomposition et de l’afflux massif de soldats peu au fait des bonnes manières et préférant les plaisanteries de corps de garde aux douces félicités de l’amour sacré.

Bien souvent c’étaient des Gascons qui venaient tenter leur chance, vaguement recommandés par un cousin déjà présent dans l’entourage du Béarnais. La concentration de ces Gascons à la cour était telle que, pour se moquer de leur accent, on disait qu’ils utilisaient le ‹parler de Saint-Jean-Pied-de Port›».114 Das Ansehen des Hofes war in weiten Kreisen nicht gerade hoch: «Pour l’heure, la cour de France n’avait pas bonne réputation. Pour nombre de prédicateurs et de bourgeois de Paris, elle était la Babylone de tous les vices. L’arrivée au pouvoir du Vert-Galant ne fut pas de nature à améliorer sa tenue» (Bayrou 1994, 467).

Und in sprachlicher Hinsicht meint Fumaroli im Anschluss an die zeitgenössische Beurteilung durch Du Perron: «Pour reprendre le langage de Du Perron, la Cour sous Henri IV et sous la Régence [de Marie de Médicis] n’est plus qu’un carrefour de ‹dialectes», elle n’a trouvé ni sa langue ni son style propres» (1994a, 522).

Zusammenfassend stellt Bayrou fest: «La cour d’Henri IV est la dernière manifestation de l’âge rabelaisien avant le déferlement des règles et des codifications de l’âge classique. C’est en tout cas une cour fort éloignée de l’image traditionnelle de raffinement et de ritualisme d’une cour royale» (1994, 478).

Von dieser «dernière manifestation de l’âge rabelaisien» ist der König selbst nicht ausgeschlossen, den Franklin als «ennemi de l’étiquette» (1908, XXVIII) und Fumaroli als «Roi soldat et provincial» (1994a, 521) apostrophieren. Er war offenbar kein besonders majestätisches Vorbild, wie u.a. auch der Beiname Vert-Galant (cf. obiges Zitat) zeigt, der eine Anspielung auf seine amourösen Abenteuer ist. So berichtet z.B. Tallemant des Réaux von einer Dame, die dem König begegnet war und den Kommentar abgab: «J’ai vu le roi, mais je n’ai pas vu Sa Majesté» (zitiert nach Bayrou 1994, 461). Das Zitat gibt sicher nicht zufällig die Reaktion einer weiblichen Person wieder, die ihren Unmut über fehlende Vorbildlichkeit zum Ausdruck bringt, denn die maßgebende Bedeutung, die gerade den Frauen in diesem Prozess der Ästhetisierung der Gesellschaft zukommen sollte, ist schon im Cortegiano

114

(1994, 458). Ebenso meint Brunot: «Des Gascons venus à la suite de Henri IV emplissent la capitale mais ils l’infestent, et il n’est pas de railleries dont, depuis d’Aubigné, on n’accable leur accent et leur parler» (1909, 180).

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deutlich angelegt, in dem ihnen «eine große Rolle als geschmacksbestimmendem Element» (Loos 1955, 36) zugewiesen ist.115 Die auch an italienischen Vorbildern orientierten Treffen116 – an deren Anfang gegen Ende der Regierungszeit von Heinrich IV. jene der von Malherbe als Arthénice ‘Hirtin’ bezeichneten Marquise de Rambouillet standen – konstituierten sich «en haine et du mauvais langage et des mœurs» (Livet 1856, XIV). Die Gründung des Salons erfolgte damit sowohl aus ästhetischen wie aus ethischen Gründen und die kausale Verbindung von sprachlicher Reinheit und Reinheit der Sitten erwies sich in der neuen Bewegung insofern als unauflösbar, als Sprachpflege und der ethisch-ästhetische Distinktionswille der neuen Elite aus Adel und Bildungsbürgertum Hand in Hand gingen: «[…] l’afflux de provinciaux à la Cour, et surtout des Barons de Faeneste gascons, poussait le ‹grand monde›, détenteur de l’‹usage›, à cultiver sa différence et soigner sa ‹diction›» (Fumaroli 1994a, 691).

Eine ähnliche Motivation, wie sie ganz im Sinne des Stellenwerts der sprachlichen Bildung bei della Casa ist, sieht Köhler für den Sprachstil in der von 1607 an erscheinenden Astrée Honoré d’Urfés: «Honoré d’Urfé verfolgt kein geringeres Ziel, als die noch recht ungebärdige und zum Teil brutale zeitgenössische Gesellschaft durch einen Sprachstil zu zivilisieren, der sich in einen Lebensstil umsetzen soll. Der Erfolg hat ihm recht gegeben: die Astrée wurde zum Stilmuster und Lehrbuch der Salons. […] Wichtig ist, dass die voluntative Zucht der Reflexion, die in der Astrée der Leidenschaft auferlegt wird, sich hier unmittelbar in die Zucht der Sprache verwandelt: der Sprachstil, die Syntax, folgen bis in die letzten Verästelungen der Reflexion, der säuberlichen rationalen und logischen Gliederung des seinerseits bereits gedämpften psychischen Sachverhalts» (Köhler 1983a, 32s.).

Die supra genannte Bedeutung der Frauen in diesem Prozess lässt auch Fumaroli die Verbindung zum Cortegiano herstellen: «Les bergers de d’Urfé, comme les courtisans de Castiglione, semblaient ‹desnouer leur langue› sous la magique influence de la beauté féminine et se jouaient de la difficulté où s’empêtraient les austères robins, dans une prose française ‹douce› et ‹coulante› irriguée aux sources de la plus délectable philosophie» (1994a, 615).

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Letztendlich etabliert bereits Castiglione im «terzo libro» des Cortegiano den festen Platz der Frau in der höfischen Gesellschaft (cf. Kapp 1994, 142). Zur herausragenden Rolle der Frauen in diesem Zivilisationsprozess cf. u.a. Orr (1963, 26), Lougée (1976) und Fumaroli (1994b, 141ss.); speziell zur «donna di palazzo» im Cortegiano cf. auch Saccaro Battisti (1980) und zu ihrer Bedeutung in Frankreich u.a. Maître (1999). Zur Konstituierung von Konversationszirkeln in Italien, Frankreich und Spanien cf. Burckhardt ([1860], 260) und Adam (1951, 38); ferner auch das Zitat aus Fumaroli (1994a, 90s.) infra p. 220 n. 121 und Fumaroli (1994b, 141).

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Die Astrée wird zum Modell sprachlicher Orientierung in den Salons, allen voran in jenem der Madame de Rambouillet, dem die Rolle des entscheidenden Wegbereiters in diesem Zivilisationsprozess zukommt:117 «C’est surtout dans les salons, en conjonction avec le mouvement d’épuration des mœurs, que cet art [de la conversation] a trouvé ses lettres de noblesse. Une société aussi éprise de politesse mondaine exigeait que l’on puisse s’exprimer avec grâce et habilité. On pouvait déjà à ce titre espérer se distinguer dans un entretien» (Dens 1973, 217).

Speziell zum Salon de Rambouillet singt u.a. Guez de Balzac das Lob der Marquise und ihrer Leistungen in der ihr gewidmeten Abhandlung De la conversation des Romains: «[…] il fait le panégyrique de Rome, mais il est aisé à la Marquise de reconnaître dans ce ‹paysage héroïque› à la fois le miroir idéalisé et le reflet de sa propre œuvre civilisatrice» (Fumaroli 1994a, 658).

Und Fumaroli fasst seine Interpretation Balzacs zusammen, dessen erfolgreiche sprachlich-stilistische Perfektionssuche im Zentrum des von Rambouillet ausstrahlenden Kulturbegriffs steht,118 und schreibt: «L’Hôtel de Rambouillet apparaît ainsi en pleine monarchie absolue, comme une République des honnêtes gens qui, ayant accompli leur devoir d’état, donne par surcroît au reste du royaume une leçon d’élégance et de haute culture libérale» (1994a, 660).

Der Erfolg ist vor allem dadurch garantiert, dass der genannte «reste du royaume» die «plus saine partie» des Hofes miteinschließt: «L’Hôtel de Rambouillet et son Rey Chiquito, Vincent Voiture, eurent sur la sanior pars de la Cour une influence d’autant plus durable qu’ils l’exerçaient sans y songer» (1994a, 694).

Hier kann, wie supra schon angesprochen, von einer allgemein ethischen, vornehmlich die Sprachethik implizierenden Intention ausgegangen werden, die den Anspruch auf ästhetisch exemplarisches Verhalten in der neuen gesellschaftlichen Elite von vorher klar getrennten Gruppen (cf. u.a. Fumaroli 1994a, 521s.) anvisiert, d.h. von Adel und Bildungsbürgertum, letztendlich den «honnêtes gens». Der direkte Einfluss beider italienischen Werke liegt auf der Hand, wenn z.B. wie im Cortegiano auch in Rambouillet die gepflegte Ausdrucksweise gilt, wie sie im obigen Zitat (Dens 1973, 217; cf. auch 224) zum Ausdruck kommt.

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Weitere Salons sind u.a. jener der Marquise de Sablé, der Mlle de Scudéry oder der Mme de La Sablière. Zur Bedeutung Balzacs auch für die Preziosität cf. Lathuillère (1969, 361–374, speziell zur Sprache 1969, 372ss.).

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Da wohl auch die in den Salons verkehrenden Damen des Italienischen (und Spanischen) mächtig waren (cf. Livet 1856, XXVIII), dürften sie sowohl den Cortegiano wie den Galateo schon im Original gekannt haben119 und nicht erst über – allerdings bereits früh vorliegende – französische Übersetzungen.120 Auch über die elitäre Erziehung in den Jesuitenschulen, die den Galateo ja in ihr Programm integriert hatten, konnte dessen Inhalt zum Allgemeingut der Führungselite werden. Ebenso ist die indirekte Einflussnahme Italiens kultureller Hegemonie stets präsent121 und die mütterlicherseits italienische Herkunft der Marquise de Rambouillet nicht zu vergessen (cf. Crane 1971, 1), durch die die von Fumaroli unterstrichene Bedeutung der Marquise als Vermittlerin italienischer Vorbildlichkeit auch eine persönliche Komponente erhält:

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In Bezug auf den Galateo kommt Richter für das 16. Jahrhundert allerdings lediglich zu dem Schluss: «Possiamo soltanto affermare che, al di fuori delle testimonianze erudite, delle traduzioni prese in esame e della loro fortuna editoriale, il Galateo non sembra aver avuto un’influenza esattamente e concretamente riconoscibile nella cultura francese della seconda metà del Cinquecento» (1966, 84). Er begründet dies mit dem Hinweis auf die politische Situation, deren Spiegelbild er in der Literatur von Rabelais bis Montaigne sieht, «il riflesso di una civiltà che ha innumerevoli problemi da risolvere, stimolata dai più luminosi entusiasmi, sconvolta dalle più deprimenti delusioni; non e ancora venuto il momento del calmo e sereno ripensamento, allorché la lingua si decanta e si organizza in termini di razionale purezza, come avverrà a partire da Malherbe» (1966, 101). Cf. u.a. Dens (1973, 216); für den Galateo gab es seit 1562 Übersetzungen (cf. dazu Richter 1966, 53–85), für den Cortegiano seit 1538. Cf. z.B. Fumaroli: «Le courtisan-diplomate de Castiglione, adepte de la suavitas cicéronienne, mais aussi héritier de la poésie courtoise et de Pétrarque, fait à ses côtés une place généreuse à la femme. Les Cours italiennes comme la Cour de France, seront non seulement le terrain d’élection du style de la ‹douceur›, allant parfois jusqu’au ‹doucereux›, mais le théâtre d’une sorte de royauté féminine, protégeant le luxe, la musique, la poésie, le romanesque que condamnent la mélancolie savante et la sévérité ecclésiastique. Il Cortegiano propose le modèle idéal de ce cicéronianisme des Cours: dans le cercle d’élus réunis par l’ami de Raphaël et de Bembo au Palais d’Urbin, figure une Diotime, la Duchesse Elisabeth. Bembo célèbre l’Idée de Beauté; la Duchesse incarne celle-ci. Donna di palazzo, elle crée autour d’elle un univers de bienséance et de grâce, elle fait descendre dans la société des hommes et dans leur conversation quelque chose de la Beauté céleste, point de fuite et de convergence de toutes les belles âmes. L’esprit de l’Hôtel de Rambouillet, et le règne de Catherine de Vivonne, de gente Sabella, sont déjà idéalement présents dans cette petite société choisie, élite de l’esprit à l’écart du gros de la Cour, mais à l’écart pour le mieux civiliser» (1994a, 90s.). Der im Zitat erwähnte Ciceronianismus, die «sprachlich-formale und inhaltlich-philos. Bildung in der Art und Nachahmung Ciceros» (Landfester 1999, 646b) wurde im 15. Jahrhundert «zu einem internationalen Stilideal» (1999, 647b).

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«À travers l’influence de l’Hôtel de Rambouillet, c’est une version ‹cicéronienne› de l’urbanité des mœurs et du style dans la tradition des Cours humanistes de la Renaissance italienne, qui s’impose à la pars sanior de la noblesse de Cour» (Fumaroli 1994a, 684).

Als ein konkretes und damit konform gehendes Beispiel für den Einfluss der aus dem Hôtel entstandenen kulturellen Elite in Fragen des Anstands und des Sprachgebrauchs lässt sich die euphemistische Änderung der Bezeichnung des medizinischen Einlaufs unter Ludwig XIV. anführen (von clystère über das konkretere lavement hin zum vageren remède). Für Franklin ist dies «un des plus graves problèmes qu’eurent à résoudre les maîtres en civilité sous le règne de Louis XIV» (1908, 217s.), wenn er berichtet: «Son prédécesseur avait pris en un an deux cent douze clystères, sans que la bienséance y ait rien trouvé à redire. Mais la seringue atteignit l’apogée de sa gloire sous le grand roi. Son siècle est aussi celui des clystères, ils régnaient alors en maîtres [...]. D’abord, son nom si bien fait, si conforme à l’étymologie, avait été remplacé par le terme bête et ambigu de lavement. Il parut encore trop clair, et l’on entreprit d’y substituer le mot amphigourique de remède. Il fut convenu que lavement était une expression basse, vulgaire, indigne de figurer dans le beau style et dans la bonne société» (Franklin 1908, 217s.).

Daraus wurde fast eine «affaire d’État» (1908, 219), die erst unter dem Einfluss von Madame de Maintenon und der Jesuiten vom König selbst gelöst wurde, der lavement offiziell zu den «expressions déshonnêtes» stellen ließ und fortan nur noch von seinem remède sprach. Pierre Bayle stellt dazu folgende Überlegungen an: «On trouveroit moins déraisonnables les caprices de la nouvelle mode, qui, à ce qu’on m’a dit, commence de renvoier parmi les termes obscènes le mot lavement et médecine, et de substituer à la place le mot général remède. On avoit banni le mot de clystère dès qu’on s’étoit aperçu qu’il renfermoit trop de circonstances de l’opération. On avoit substitué le mot lavement, dont la signification étoit bien plus générale. Mais parce que l’idée de lavement est devenue spécifique, et qu’elle s’est incorporée avec trop de circonstances, on va l’abandonner pour ne point salir et empuantir l’imagination, et l’on ne se servira plus que des phrases générales, j’étois dans les remèdes, un remède lui fut ordonné, etc. Cela ne détermine point à penser plutôt à un lavement ou à une médecine, qu’à un paquet d’herbes pendu au cou. J’avoue que ces caprices sont bien étranges, et que si l’on y étoit uniforme ils ruineroient une infinité d’expressions à quoi tout le monde est accoutumé, et qui sont très nécessaires aux convalescens, et à ceux qui les visitent; car autrement on soutiendroit assez mal la conversation dans leur chambre, et il faudroit recourir à tout le jargon des Précieuses» (1741, 643s.).

Bayle äußert sich im Zitat insgesamt durchaus kritisch zur Verwendung von Euphemismen, vor allem jenen der Preziösen, denen auch noch im 20. Jahrhundert «misplaced verbal scruples» (cf. Ullmann 1957, 43) angelastet werden. Er liebt auch sonst die direkte Ausdrucksweise und wendet sich in 221

Fortsetzung einer langen Tradition122 wie auch andere Zeitgenossen123 gegen euphemistische Umschreibungen.124 5.2.2.2 Sprachethik, Ästhetik und Distinktionswille. Die Preziösität und der Euphemismus Das in seiner Existenz und Definition sehr kontrovers diskutierte und innerhalb der Salonkultur schwierig einzugrenzende Preziösentum folgt sprachlich der allgemeinen Tendenz der Zeit, den in der Tradition Malherbes stehenden Tadel am Wortgebrauch besonders auf unanständige, realistische und sogar normale Ausdrücke auszudehnen und der aus Italien übernommenen allgemeinen Pflege der Manieren125 einzugliedern «en poussant [la] délicatesse linguistique jusqu’aux scrupules les plus pointilleux» (Lathuillère 1969, 373). Schon Livet urteilt allgemein aufgrund der noch erhaltenen Briefe aus dem Kreis der Preziösen über deren Sprache:

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So wird die kritische Haltung gegenüber dem Euphemismus schon in der Antike deutlich wie z.B. bei Quintilian, zu dem Dumarsais meint: «Quintilien est encore bien plus rigide sur les mots obscènes; il ne permet pas même l’euphémisme, parce que malgré le voile dont l’euphémisme couvre l’idée obscène, il n’empêche pas de l’appercevoir [sic]. Or il ne faut pas, dit Quintilien, que par quelque chemin que ce puisse être, l’idée obscène parvienne à l’entendement. Pour moi, poursuit-il, content de la pudeur romaine, je la mets en sûreté par le silence; car il ne faut pas seulement s’abstenir des paroles obscènes, mais encore de la pensée de ce que ces mots signifient, Ego Romani pudoris more contentus, verecundiam silentio vindicabo. […] Obscenitas verò non à verbis tantùm abesse debet, sed à significatione. […] Tous les anciens n’étoient pas d’une morale aussi sévere [sic] que celle de Quintilien; ils se permettoient au moins l’euphémisme, & d’exciter modestement dans l’esprit l’idée obscène» (1756, 207b–208a). Zuvor protestierte z.B. auch schon Boileau gegen Euphemismen, doch zeigt Nyrop sehr gut, dass es «impraticable dans toute société civilisée» ist, prinzipiell auf Euphemismen zu verzichten (1913, 260s. und auch 1913, 313, 316). Weitere kritische Einstellungen von Zeitgenossen (u.a. Nicole, Boileau, La Bruyère; Diderot) gegenüber euphemistischem Sprachgebrauch, apostrophiert als «une sorte de doctrine officielle» (1953, 155), bringt Munteano (1953; speziell zur Haltung Bayles in diesem «mouvement anti-euphémique» cf. 1953, 159). Cf. dazu z.B. seine Aussagen zur Diskussion über die Verwendung und den Ersatz von cul, zitiert in Nyrop (1913, 296) oder dessen Kommentar über die «déclamations un peu pédantes de Bayle» (1913, 313). Cf. Lathuillère: «On montre plus d’exigence, de finesse, de pudeur dans les rapports sociaux. Les notions de politesse, de galanterie, de bienséances, d’honnêteté sont à l’ordre du jour; on ne cesse de les analyser et de les rendre plus subtiles. Elles résument l’idéal d’une civilisation éprise de noblesse et de distinction. Les précieuses non seulement acceptent cet esprit du temps mais le poussent jusqu’à ses conséquences extrêmes» (1969, 534). Zur Entstehungsgeschichte der honnêteté und dem Versuch einer Synthese cf. Bury (1994), bei der natürlich auch Farets L’Honnête homme ou l’Art de plaire à la Court und die Modifikationen des Ideals durch den Chevalier de la Méré zur Sprache kommen.

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«[…] on voit la recherche de l’expression polie plutôt que noble amener le raffinement de la pensée; le désir de plaire aux dames sans effaroucher leur scrupuleuse pudeur voiler le sentiment vrai sous le masque d’une délicatesse empruntée; l’envie de montrer son esprit rencontrer l’afféterie et la manière. On voulait avoir tous les mérites qui manquoient à la période précédente: on les atteignit, puis on les dépassa» (Livet 1856, XXV).

Dieser grundsätzlich positiven Bewertung des Preziösentums steht ein negatives Bild wie in Molières Précieuses ridicules gegenüber. Doch ist die hier enthaltene quantitative Übertreibung vermeintlich preziöser Ausdrucksweisen in keinem Text aus der Feder der «wahren» Preziösen nachzuweisen:126 Molière «a écrit une farce où l’ironie et la satire sont rendues sensibles par l’exagération et l’accumulation» (Lathuillère 1987, 246) und wird von Livet daher mit einer zweiten Generation von Preziösen in Verbindung gebracht: «[…] c’est cette génération, postérieure à la dissolution de l’hôtel de Rambouillet, qui s’exposera aux railleries de Molière […] par leur maladresse à remplacer la pudeur par la pruderie, la pureté du langage par l’afféterie, le savoir modeste par l’orgueil d’un pédantisme prétentieux, [...] mais les véritables précieuses ne tombèrent pas dans cet excès, et l’on sait combien elles restèrent calmes en 1656 devant la comédie de l’abbé Pure, et en 1659 devant celle de Molière, qui ne les attaquoient pas» (Livet 1856, XV/VIII).

In Kommentaren und Literatur werde diese Differenzierung zwischen zwei (bis drei; cf. u.a. Raynard 2002, 45) Generationen allerdings nicht immer vollzogen: «[…] une erreur trop accréditée associe sans raison dans un injuste dédain deux générations toutes différentes, et qui même se confondirent à peine à la chute de l’une, à l’apparition de l’autre» (Livet 1856, XI).

Es überrascht zunächst, dass Lathuillère (1969) nicht auf diese chronologische Differenzierung eingeht und ebenso wie Brunot nicht nur Livets soziologische Unterscheidung ablehnt, sondern auch generell Theorien für unzureichend hält, die das Bild von «précieuses parquées en castes, nobles, bougeoises, prudes, galantes, véritables, fausses, grandes, ridicules» entwerfen wollen (1969, 218). Dennoch muss auf die Differenzierung innerhalb der als preziös titulierten Damen hingewiesen werden, die Molière selbst im Vorwort macht, wenn er unterstreicht, «[que] les véritables précieuses aurai-

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Cf. Brunot (1909, 72s.) und Adam (1951, 40s.); außerdem Bray: «Les documents ne montrent aucune trace, ni en prose ni en vers, d’un jargon aussi caractérisé» (1968, 168), sowie Maître: «Nous n’avons pas d’exemples de telles outrances chez les précieuses et il est assez rare de trouver, dans les écrits des précieuses, des tournures qui seraient typiques de leur style suffisamment concentrées pour produire un effet semblable à celui qu’obtiennent Somaize ou Molière» (1999, 605) und ähnlich: «Ni Mlle de Scudéry, ni Mme de La Luze ni Mme de Sablé n’ont jamais écrit le précieux qu’inventent Somaize et Molière» (1999, 620).

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ent tort de se piquer lorsqu’on joue les ridicules qui les imitent mal» ([1659] 1971, 264). Nur so erklärt sich auch die im vorletzten Zitat aus Livet genannte Ruhe, mit der die «echten» Preziösen Molières Komödie aufnahmen und sich ebenso wie die Marquise selbst, «die Großmutter des Preziösentums, die sich freilich bereits aus der mondänen Gesellschaft zurückgezogen hatte» (Köhler 1983b, 19), nicht betroffen fühlten. So ist einerseits sicher nicht abzustreiten, dass der sich seit 1608 um die Marquise de Rambouillet in ihrer «chambre bleue» konstituierende Kreis mit teilweise früh, teilweise später hinzukommenden illustren Namen wie Malherbe, Racan, Balzac, Chapelain, Voiture, Vaugelas, Richelieu (noch als Bischof von Luçon), Mlle de Scudéry, Conrart, Patru, Pierre Corneille, Ménage, La Rochefoucauld, Bossuet127 nicht mit den «Précieuses ridicules» assoziiert werden kann. Andererseits hatten die Preziösen, als sie Molière, Somaize und anderen ab 1654 (Adam 1951, 35) auffielen und der Name kreiert wurde, unter der Ägide der Marquise schon Jahrzehnte lang ihre Arbeit getan und die Blütezeit des Hôtel de Rambouillet (bis ca. 1645; cf. Köhler 1983a, 86) war längst vorüber. Gleichzeitig ist aber unbestritten, dass sich auch die kritisierten Aspekte des Preziösentums aus der Salonkultur heraus entwickelten, in der auch Damen verkehrten, die in krassem Gegensatz zur Marquise de Rambouillet standen und von Chapelain und Balzac mit einem den «Précieuses ridicules» vergleichbaren Gehabe schon zwanzig Jahre vor Molière karikiert wurden.128 Ohne diese Vorläuferinnen, die Livets chronologische Unterscheidung zweier Generationen als Erklärung tatsächlich überflüssig machen und eher ein Kontinuum rechtfertigen, hätte das Preziösentum nie plötzlich den Punkt erreichen können, an dem es mit seinem avantgardistischen Engagement gegen jede Pedanterie und mit seiner rational verstandenen Ästhetik129 Aufsehen erregte und eine Opposition hervorrief, die den soziopolitischen und ethisch-ästhetischen Ursprungsgrund der Salonkultur nicht sah, nicht mehr sah oder nicht sehen wollte und sie unter dem Etikett der Preziosität in der gewollten Anhäufung extremer Ansichten, Verhaltensund Ausdrucksweisen ins Lächerliche ziehen wollte und auch zog.

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Cf. Livet (1856, IXs.). Seine Hochzeit hatte das Hôtel in den Jahren 1625–1645, cf. Köhler (1983, 86); zum Publikum der Salons, in denen zunehmend auch Frauen verkehren, cf. noch Fumaroli (1994b, 135–152). Cf. Fidao-Justiniani (1914, 46–50) und das Zitat daraus in der folgenden Fußnote. Cf. Adam (1951, 44); außerdem den von Fidao-Justiniani zitierten Brief Chapelains von 1638 an Balzac über die Verdienste von Rambouillet: «On n’y parle point savamment, mais on y parle raisonnablement, et il n’y a lieu au monde où il y ait plus de bon sens et moins de pédanterie. Je dis de pédanterie, Monsieur, que je prétends qui règne dans la Cour aussi bien que dans les Universités, et qui se trouve aussi bien parmi les femmes que parmi les hommes». Und er nennt den Kreis solchen Gehabes: «L’hôtel de Rambouillet est l’antipathe de l’hôtel d’Auchy» (in Fidao-Justiniani 1914, 46).

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Sprachlich ging es den Preziösen in den Worten Lathuillères um zweierlei, einerseits um die dezidierte Fortführung der normativen Auffassungen Malherbes und andererseits um die Kreation neuer Ausdrücke und Ausdrucksweisen: «D’un côté, elle [la Préciosité] est attirée par le purisme, soucieuse de délicatesse et de bon usage; de l’autre, elle vise à l’expression riche, à une langue brillante, à un style orné. Dans un cas, elle est fidèle aux préceptes de Malherbe et de Vaugelas; elle ajoute à leurs scrupules et se montre plus exigeante encore dans le choix du vocabulaire; elle proscrit comme eux les mots vieux, provinciaux, techniques, bas, déshonnêtes ou réalistes. Mais, dans l’autre, elle est tentée par les créations, les néologismes ou les figures nouvelles. Elle veut lutter contre une certaine mode de la pauvreté qui est fondamentalement opposée à ses principes essentiels et à toute son esthétique. Elle ne peut se borner à des qualités presque entièrement négatives comme la netteté, la correction et la clarté. Il lui faut donner à admirer, c’est-à-dire éviter toute banalité, surprendre par des trouvailles ingénieuses, rehausser par les savants artifices avec lesquels on les raconte, en vers ou en prose, les mille petits événements quotidiens de la ruelle. Comme Mlle de Scudéry dans ses romans, elle transfigure la réalité par la magie du langage; elle en voile les défauts, tandis qu’elle en exalte les beautés. Elle a toujours recours à l’euphémisme, à l’hyperbole» (1969, 679s.; weitgehend identisch mit Lathuillère 1987, 268).

Der tiefere Grund für die Sprachreinigung liegt in der Identifizierung der «noblesse» der Sprache mit jener der Gefühle; ein erhabener Gedanke bedarf einer erhabenen sprachlichen Ausdrucksweise (cf. Léoni 1989, 235): «Le langage devient ainsi un miroir de l’âme» (1989, 236). Vorbildliche Sprache führt zu vorbildlichem Sozialverhalten, so dass z.B. Provinz- oder Landbewohner, die eine niedere Form der Sprache verwenden, sozial und mental als «êtres inférieurs» stigmatisiert sind; ebenso werden die Wörter, die sie verwenden, zu «marques honteuses» in jedem Gespräch, «quel que soit le locuteur qui les énonce» (1989, 235). Sie sind einfach Ausdruck der Unreinheit des Gedankens. Verluste durch Sprachreinigung und Gewinne durch (infra noch zu betrachtenden) Ersatz der eliminierten Ausdrucksweisen sind zwei offensichtlich entgegengesetzte Absichten, die aber dennoch in das ethisch-ästhetische Gesamtdenken der Preziösen passen: «La création d’une langue à la fois épurée et nouvelle ne correspond au projet éthique des précieuses que dans l’exacte mesure où se trouve combattue l’idée d’un arbitraire de la langue, et que se trouve réaffirmé au contraire le lien ontologique entre les mots et les choses. Or ce lien se défait au cours du siècle et la pureté de la langue n’est plus le signe de la pureté des mœurs» (Maître 1999, 604).

Ziel der Preziösen ist es daher, die «équivocité» zu beseitigen, die in der Arbitrarität der Sprache, dem Fehlen des im vorstehenden Zitat genannten «lien ontologique entre les mots et les choses» besteht. Diese Verbindung von Wort und Sache ist – entsprechend der Sprachauffassung in Platos Kratylos oder dem Isidorschen Etymologisieren (cf. Beispiele in Reutner 2007, 225

132) – durch neue Ausdrucksweisen zu erreichen und gegen die Auffassung von der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens gerichtet, wie sie besonders von Port-Royal propagiert wird: «Dans une représentation cratylienne du langage, la question de l’équivocité ne peut en effet se résoudre que par l’élimination de ces ‹corps du délit› que sont les mots, voire les syllabes sales. Ce ‹réalisme› des précieuses, sensible dans l’attention qu’elles portent aux composantes mêmes de la langue, s’alimente au rêve d’une langue idéale, en harmonie avec la nature ou l’ordre divin et qui, purgée de toute ordure et de toute équivoque, ferait accéder l’humanité à la pureté des mœurs elles-mêmes. En refusant de prononcer ou même d’entendre les syllabes sales, les précieuses manifestent la corporéité du langage: comme les sons brutaux écorchent physiquement la gorge ou l’oreille, les paroles grossières salissent effectivement celles qui les profèrent ou les entendent. La recherche précieuse de la pureté du langage est donc, malgré des ressemblances de surface, aux antipodes de la réflexion port-royaliste sur l’arbitraire de la langue: c’est en effet le lien conventionnel entre le mot et la chose qui seul permet d’envisager l’univocité souhaitée par les grammairiens de Port-Royal» (Maître 1999, 618s.).

Mit anderen Worten bedeutet dies, dass es jetzt nach der Beseitigung aller sozial und metasprachlich stigmatisierten Ausdrucksweisen darum geht, ein «ontologisches» Band zwischen Signifikant und Signifikat herzustellen, «d’exprimer avec force l’essence des êtres et des choses», «[de] percer le mystère de la réalité fondamentale» (Lathuillère 1987, 249), das Charakteristische eines Wesens oder einer Sache mit der passenden Bezeichnung zu erfassen und gegebenenfalls auch mit abstrakt erscheinenden Ausdrücken Wörter zu umgehen, die das Bild der «chose triste, obscène ou vile» (Maître 1999, 619) hervorrufen. Auf eine höhere moral- und sozialkritische Ebene transponiert, die sich vorzugsweise mit religiös (z.B. Dieu, diable, religion), politisch (z.B. démocratie, égalité, liberté) und sozialpolitisch (z.B. propriété, richesse, monopole, peuple, bassesse) relevanten Abstrakta zu beschäftigen hat, könnte die Unzufriedenheit der Preziösen mit der konventionellen Arbitrarität der Wörter sogar avantgardistisch auf die Sprachdiskussion des 18. Jahrhunderts über den abus des mots, den «Gegensatz von Wörtern und Dingen» verweisen, «eine Formel, mit der die Rolle der Sprache bei der Konservierung und Tradierung der Vorurteile einerseits und der Propagierung der Wahrheit andererseits zusammengefaßt wurde» (Ricken 1984, 195). Anstelle präziser Bedeutungsdefinitionen, die u.a. von Locke für die irreführend, missbräuchlich und auch gegensätzlich verwendeten Wörter vorgeschlagen wurden, fordert u.a. Condillac das, was in der Encyclopédie praktisch umgesetzt ist, «[…] die Analyse der Ideen und der von Ihnen repräsentierten Dinge, um zu genauen Wortbedeutungen zu kommen. Die beständige Analyse der Idee und der Dinge muß also den Zeichen als konstitutiven Elementen des Denkens die Eigenschaft wirklicher Instrumente der menschlichen Erkenntnis verleihen» (Rikken 1984, 202).

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Die Preziösen versuchen dies auf ihrer sprachethisch-ästhetischen Ebene, indem sie auf der Suche nach dem für sie wichtigsten Wesenszug der betreffenden Sache oder Wirklichkeit die Revitalisierung des Realitätsbezugs im sprachlichen Zeichen u.a. eben mit Neuschöpfungen und neuen Ausdrucksweisen erreichen. Wenn dabei die sprachliche Kreation in Bezug auf den Referenten bzw. die Realität bisweilen unnötig kompliziert erscheinen mag, «[…] c’est parce qu’elle est au contraire extraordinairement attentive à rendre toutes les nuances de ce réel, en le définissant, en le classant, en le peignant par des termes les plus accordés qu’il est possible à ses caractéristiques. A défaut, il faudra user d’allégories et de métaphores, qui s’appuient moins sur les détails concrets du comparant que sur l’identification de son essence (‹le brillant d’une pensée›): cette forme d’abstraction est là encore cohérente avec une pensée qui fait des mots les images fidèles de l’essence des choses et avec une rhétorique qui use de ‹volumineux adverbes› et de ‹mots expressifs, chargés de grandeur ou d’intensité› pour exprimer l’hyperbole. Et si malgré tous les efforts, le mot manque encore, le réel restera condamné provisoirement dans le ‹je-ne-sais-quoi›. La richesse et la noblesse du langage s’accordent à la splendeur multiple de la création, célébrée dans son essence épurée, et non dans l’émiettement de ses détails prosaïques ou vils. La langue précieuse est figurative d’une réalité choisie et quintessenciée» (Maître 1999, 619).

Aufgrund dieser Ausführungen erhalten Sprachdenken, Sprachverhalten und alle sprachlichen Aussonderungen, die zumeist im Rahmen der Prüderie zu sehen sind, und alle neu motivierenden Kreationen der Preziösen einen gemeinsamen Nenner. Letztere haben zum Ziel, in Ablehnung der willkürlichen, weil für den Sprecher arbiträren Benennungen (z.B. les yeux) mit neuen Bezeichnungen die Relation zwischen Wort und Sache mit der herausdestillierten Quintessenz der Sache neu zu motivieren bzw. neu zu perspektivieren (z.B. les miroirs de l’âme anstelle von les yeux), womit dem Ausdruck seine Aussagekraft, seine «énergie élocutoire» über das Bezeichnete garantiert wird (1999, 620). Der gemeinsame Nenner ist somit «celui d’un refus de la communication ordinaire, prosaïque, qui se résignerait à l’imperfection du langage et à son nécessaire arbitraire» (Maître 1999, 620). Trotz der satirisch-ironischen Lächerlichkeit, der Somaize und Molière die Preziösen durch die übertriebene Akkumulierung ihrer Ausdrucksweisen ausliefern, zeigen weitere Beispiele deutlich diesen gemeinsamen Nenner für die sprachliche Kreativität der Preziösen, mit der sie den gewöhnlichen Ausdruck entbanalisieren: «Wenn ein Dienstmädchen ankündigt: ‹Voilà un laquais qui demande si vous êtes au logis› (Sz. 6), so wird ihm von der Herrin – Magdelon – bedeutet, es müsse heißen: ‹Voilà un nécessaire qui demande si vous êtes en commodité d’être visible› (Sz. 6). [...] Die commodité d’être visible anstelle des schlichten être au logis ignoriert den trivialen Sachverhalt des bloßen Da-Seins, sie entbanalisiert es. Zugleich setzt sie an die Stelle des unleugbaren Zu-Hause-Seins die Möglichkeit, gleichwohl unsichtbar zu bleiben, d.h. sich dem Besucher zu entziehen. Sie spiegelt daher eine Autonomie vor, eine Entscheidungsfreiheit, die ganz den Emanzipationsgelüsten der weiblichen Preziosität entspricht» (Köhler 1983b, 19s.).

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Zur Illustration des «refus de la communication ordinaire» sei auf den folgenden Seiten auf Beispiele aus Somaize verwiesen, die sich (in neuer Schreibweise) teilweise auch in Brunot finden, der sie einfach als «indécent» oder «trop réaliste» beurteilt. Einen generellen Eindruck vermitteln: la jalousie  la mère des soubçons/la pertubatrice du repos des amants (Somaize 1660, L) l’histoire  la vie des morts (Somaize 1661, 113) le songe  l’interprete des Dieux («parce que souvent les Dieux nous expliquent leur dessin durant le sommeil par son moyen») (Somaize 1660, LVI) la musique  le paradis des oreilles (Somaize 1660, LI) poésie  les filles des Dieux (Somaize 1660, LIII) la nuict  la deesse des ombres, la mere du silence (Somaize 1660, LII) le soleil  le flambeau du jour, l’aimable esclairant (Somaize 1660, LVI) [Quelles sont] les pensées secrettes?  les particuliers de vostre ame (Somaize 1661, 202) le secret  le sceau de l’amitié (Somaize 1660, LVI) les poissons  les habitants du royaume de Neptune (Somaize 1660, LIV) une suivante  une commune (Somaize 1660, LVI) [Vous avez la bouche] belle  bien façonnée (Somaize 1660, XLII) [Mes complimens] sont sinceres  ne travestissent point ma pensée (Somaize 1661, 227) [Les choses que vous dites sont] fort communes  du dernier bourgeois (Somaize 1660, XLIII) [les termes] vulgaires et grossiers  de corps de garde (Somaize 1660, LVII) [le procédé de ces messieurs est tout à fait] vulgaire  marchand (Somaize 1660, LVII) tout à fait  furieusement (Somaize 1660, LVI) rire  perdre son sérieux (Somaize 1660, LV) se marier  donner dans l’amour permis (Somaize 1660, LI; 1661, 173; Brunot 1909, 156: «indécent»)

Bei der Suche der Preziösen nach Ausdrucksweisen, die ihrem sprachethischästhetischen Denken entsprechen, nimmt der Euphemismus angesichts der im Zivilisationsprozess verfeinerten Gesellschaft und ihrer ausgeprägten Prüderie eine besondere Stellung ein, wie dies immer wieder betont wird:130 «[…] qui dit préciosité et bienséance dit nécessairement langue euphémique, périphrases élégantes, circonlocutions affectées, mot nobles» (Orr 1953, 3).

Mehrere Beispiele zeigen dabei sehr deutlich, «[que] l’abstraction est le caractère dominant» (Lathuillère 1987, 264), da die abstrakte Bezeichnung «cohérente avec une pensée qui fait des mots les images fidèles de l’essence

130

Cf. u.a. das obige ausführliche Zitat aus Lathuillère (1969, 679s.) und für die Folgezeit auch Raynard: «On trouve très fréquemment dans nos contes la litote et l’euphémisme, qui sont des figures très prisées par les précieuses» (2002, 165).

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des choses» ist (Maître 1999, 619), wie es u.a. Benennungen der Preziösen für konkrete Objekte wie jupe oder table zeigen: le balet  l’instrument de la propreté (Somaize 1660, XLIII; Brunot 1909, 156: «trop réaliste») les sièges  les commoditez de la conversation (Somaize 1660, LVI) une table  l’universelle commodité (Somaize 1660, LVII) le cabinet  le pretieux (Somaize 1660, XLIV) le sel  l’assaisonnement necessaire (Somaize 1660, LVI) un verre d’eau  un bain interieur (Somaize 1660, XLVI) la juppe de dessus  la modeste (Somaize 1660, L; Brunot 1909, 156: «trop réaliste») la seconde juppe  la friponne (Somaize 1660, L; Brunot 1909, 156: «trop réaliste»)

Eine Durchsicht der von Brunot, Lathuillère131 und Somaize aufgezählten Beispiele für die einzelnen, nicht immer strikt trennbaren soziolinguistischen Wortkategorien zeigt unter den Ersatzmöglichkeiten (soweit angeführt) auch anschauliche Euphemismen, denn die Preziosität hat, wie erwähnt, «toujours recours à l’euphémisme, à l’hyperbole» (Lathuillère 1969, 679s.).132 Bisweilen sind Gründe für die Tabuisierung genannt wie z.B. im Falle der «mots bas» (cf. Brunot 1909, 161–179) bei face, das wegen der Verwendung in la face du grand Turc durch visage ersetzt wurde (1909, 170). Ähnlich erging es dem später wieder rehabilitierten poitrine, das Brunot (1909, 156s.) unter den «mots deshonnêtes et réalistes» (1909, 151–160) bespricht und das schon bei Malherbe als ungeeignet für die Dichtung genannt ist («trop matériel», ib.) und nach Vaugelas’ Aussage wegen des Ausdrucks poitrine de veau nicht mehr verwendet und durch sein substituiert wird. Ein solcher Ersatz durch Euphemismen liegt bei diesen «mots deshonnêtes et réalistes» denkbar nahe. Viele der vor allem von Somaize genannten ersetzten Wörter können aber auch den in dieser Arbeit etablierten Tabubereichen zugeordnet werden. So finden sich im Bereich «Sterben und Tod» z.B. Euphemismen für den Tod oder auch das Aas: la mort  la toute puissante (Somaize 1660, LI) charogne  corps (Brunot 1909, 159: «grossier»)

Weitere euphemistische Ersatzformen finden sich auf dem Gebiet «Krankheiten»:

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Lathuillères sprachliche Charakteristik dient auch in Gerard-Chieusse (2000, 646– 654) als Basis für die Beurteilung der Sprache von Madame de Lafayette. Zur Hyperbolik gehören z.B. die Verwendung von fr. dernier in fr. (être) du dernier bourgeois, von fr. furieusement für fr. tout-à-fait oder das berühmte fr. je ne sais quoi, das zum Ausdruck des Unsagbaren den höchsten Grad an Hyperbolik darstellt.

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[un corps] atteint d’une maladie incurable  confisqué (Brunot 1909, 251) Je suis grandement enrumé  J’ai un grand escoullement de nez (Somaize 1660, LV; Brunot 1909, 156: «trop réaliste») une médicine  une phisique (Brunot 1909, 156: «trop réaliste») un lavement  un agrément (Brunot 1909, 156: «trop réaliste»; cf. supra 5.2.2.1)

Auch Eigenschaften und Verhaltensweisen werden euphemistisch umschrieben: Je sçay bien ce que je veux dire, mais je ne puis m’expliquer comme je voudrois  Je sçay bien ce que je veux dire, mais le mot me manque (Somaize 1661, 94) une laide  une belle à faire peur (Somaize 1661, 152) [un visage] vieil  dont les traits sont desordonnez (Somaize 1661, 245)

Vertreten ist des Weiteren der Bereich «Liebes- und Sexualleben»: [On soubçonne cette femme-là d’estre] hermaphrodite  doublée (Somaize 1660, XLIX) Je veux que vos desirs soient satisfaits  Je ne veux pas que vos desirs languissent dans une situation incertaine (Somaize 1661, 82) [Cette femme est] est chaste  est une vraye Peneloppe [sic] (Somaize 1660, LXIV)

Ferner finden sich aus dem Gebiet «Körperteile» Bezeichnungen intimer Bereiche des menschlichen Körpers, zu denen auch zwei Ausdrücke für körpernah getragene Kleidungsstücke gestellt werden können: le cul  le rusé inferieur [sic] (Somaize 1660, XLIV) les tetons  les coussinets d’amour (Somaize 1660, LVII) cul d’artichaut  fond d’artichaud (Maître 1999, 615) la juppe de dessous  la secreste (Somaize 1660, L; Brunot 1909, 156: «trop réaliste») la chemise  la compagne perpétuelle des morts et des vivants (Somaize 1660, XLV; Brunot 1909, 156: «indécent»)

Doch bei den Preziösen galt auch generell «la pruderie face aux mots du corps (et de façon plus générale face à ses représentations, telles les ‹nudités› en peinture)» (Maître 1999, 619), daher sind – auch angesichts der supra erklärten «impossibilité de l’expression directe en certains cas» (Brunot 1909, 250) – hier auch noch Umschreibungen von Körperteilen zu nennen, deren direkte Bezeichnung im Allgemeinen nicht tabuisiert ist: le nez  la porte du cerveau, les escluses du cerveau (Somaize 1660, LII) les oreilles  les portes de l’entendement (Somaize 1660, LII) les yeux  les miroirs de l’âme (Somaize 1660, LVIII) les dents  l’ameublement de bouche (Somaize 1660, XLV) [avoir] la gorge unie et bien faite  le sein fin et delicat (Somaize 1661, 228) les pieds  les chers souffrants (Somaize 1660, LIII)

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Vertreten ist ferner das Gebiet «Weiblicher Lebenszyklus»: [On doit craindre] la grossesse  le mal d’amour permis (Somaize 1660, XLIX) être en couches  sentir les contrecoups de l’amour permis (Somaize 1660, XLIV; Brunot 1909, 156: «indécent»).

Für Nyrop ist sentir les contrecoups de l’amour permis ein «faux euphémisme», der «plus choquant que le mot propre» sei und «moins d’un souci de correction dans le langage et de bienséance, que d’une fausse pruderie qui se fait un plaisir de trouver de l’indécence partout» entspringe, aber er übersieht auch nicht, dass für die Preziösen das «mot propre surtout quand il désignait un objet vulgaire», z.B. balai oder chemise, inakzeptabel war (1913, 308). Dem Bereich «Toilettengang und Toilette» können folgende euphemistische Umschreibungen zugeordnet werden: la chaise percée  la soucouppe [sic] inférieure (Somaize 1660, XLIV) le pot de chambre  l’urinal virginal (Somaize 1660, LIII) [Vostre chien] fait son ordure  s’ouvre furieusement (Somaize 1660, XLIV) [La terrible chose de voir] un chien qui pisse  un chien nû (Somaize 1660, XLIV) crotter [ses souliers]  imprimer [ses souliers] en boue (Somaize 1660, XLIII; Brunot 1909, 156: «indécent»)

Aus dem Gebiet «Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär» findet sich z.B.: un gueux  un enfant de la necessité (Somaize 1661, 110)

Doch nicht nur Wörter, sondern, wie supra schon erwähnt, auch Silben und sogar Buchstaben bzw. Laute können bereits Steine des Anstoßes sein, wenn sie auf sprachlich Tabuisiertes und damit auf einen unreinen Gedanken verweisen. Vermieden werden sollten daher z.B. écu, ridicule, inculquer wegen cul, oder comprendre, compromettre, convertir, confiture wegen con, confesser wegen con und fesse, convaincu wegen con und cu(l). Dies führt dazu, dass die Preziösen – nach Somaize (1660, L) den Buchstaben in der Aussprache /k/ aus ihrem Alphabet gestrichen haben, zumal cas auch noch «le sexe de l’homme comme celui de la femme» bezeichnete (cf. Bologne 1986, 252). Ein solches Verhalten ist absolut keine «preziöse» oder den Preziösen vorzuwerfende Neuerung, schließlich wird es z.B. schon von Cicero empfohlen, um das Erwecken unanständiger Gedanken zu verhindern.133 133

Cicero nennt z.B. nobiscum für cum nobis, dessen lautlichen Zusammenfall er für so obszön hält, dass er selbst im Beispiel ein autem einfügt: «quid, illud non olet unde sit, quod dicitur cum illis, cum autem nobis non dicitur, sed nobiscum? quia si ita diceretur, obscaenius concurrerent litterae» (Orator XLV – 1980, 132, 134; teilweise auch in der Encyclopédie zitiert, cf. Dumarsais 1756, 207). Gemeint ist hier wohl die aufgrund einer Assimilation lautlich mögliche Assoziation von cum nobis mit cunnus. Als modernes Beispiel für eine rein formal motivierte Tabuisierung

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Zusammen mit den obigen Ausführungen bestätigen die zitierten Beispiele insgesamt die ethisch-ästhetisch ambitionierte Grundhaltung der Preziösen,134 die sich bei ihrem sprachlichen Engagement nicht mit einem bon usage begnügen, wie er seit Malherbe und Honoré d’Urfé in der Praxis als etabliert gelten kann, um dann von Vaugelas seine theoretische Begründung zu erhalten. In ihrer Ablehnung alles Trivialen streben sie vielmehr nach einem bel usage,135 indem sie einerseits unmotivierte und daher kraftlose Alltagswörter durch Ausdrucksweisen ersetzen, die ihnen eleganter, distinguierter erscheinen und vor allem semantisch mit neuer Aussagekraft, einer Art Quintessenz ihrer Sicht des Bezeichneten geprägt sind. Dabei findet andererseits die enge Verbindung von verinnerlichter Ästhetik, Sprachethik und äußerst sensibler Prüderie ihr adäquates sprachliches Pendant im Euphemismus. Er kommt hier in besonderer Weise zur Geltung, da er am Ende eines Kontinuums zu sehen ist, das unter dem Vorzeichen von Selbstachtung und gegenseitiger Achtung auch sprachlich die Entwicklung der Gesellschaft zu immer größerer Raffinesse markiert. In diesem Kontext liegt die Leistung der Preziösen zum einen darin, «[d’avoir] forgé pour partie ou mis à la mode une langue nouvelle» (Lathuillère 1987, 247),136 und zum anderen in ihrer «importante contribution à la formation de la langue classique» (Bray 1968, 175), von der vieles bis heute weiterlebt.137 Insofern

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lässt sich die Vermeidung der Zahl sechs in bestimmten Kontexten anführen, die allein aufgrund ihres Homophons erfolgt. Bray (1968, 175) z.B. erkennt bei den Preziösen u.a. «des soucis d’ordre moral, besoin de bienséance, de noblesse et de distinction, de modernisme» an. Diesbezüglich kommt zuletzt Raynard zu der abschließenden Bewertung, «que l’influence de la préciosité a éte déterminante aussi bien dans l’Histoire que dans l’histoire littéraire. Elle nous a fourni en effet des personnalités hors du commun, les bases du féminisme et de la modernité, une haute idée de la féminité, de l’amour et de l’amitié, une délicatesse, un raffinement dans l’expression et la pensée et une méthode subtile d’analyse littéraire – voire scientifique et psychologique» (2002, 55). In seiner Definition des «bel usage» erklärt François, «le bel usage serait un choix de la langue commandé par certaines préférences et surtout certaines répugnances hautement élégantes. Tout s’y rapporte à la décence, cette vertu cardinale de l’éthique moderne. Il s’agit de savoir ce qu’on évite de dire en société, ou ce qui détonne dans la bouche d’un homme du monde, ‹honnête› ou ‹galant› homme» (François 1959, 271). Nach Lathuillères Analyse zeigt sich u.a. «un goût constant pour les adjectifs substantivés», z.B. un misérable (1987, 247), «le recours fréquent aux substantifs abstraits aux dépenses de l’adjectif qualitatif», z.B. la délicatesse de sa voix anstelle von sa voix délicate (1987, 248), und deren häufige Verwendung im Plural (z.B. les contentements), «[qui] évoque une existence et un monde plus riches de possibilités innombrables, dont la diversité crée l’impression foisonnante d’une vie arrachée à la platitude et à la monotonie vulgaires et communes» (1987, 249). Cf. z.B. «tour d’esprit, beau monde, grand air, etc.» (Brunot 1909, 260) sowie die bei Köhler (1983a, 84) und in der vorangehenden Fußnote zitierten Beispiele.

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haben sie wenigstens in Elementen ihr «missionarisches» Ziel erreicht, denn wie Maître sicher zu Recht interpretiert: «Il semble donc bien que le projet des précieuses, même saisi dans le miroir déformant de la satire, soit moins la création d’un jargon particulier que l’extension, au grand monde en particulier, de leurs façons de parler extraordinaires et nouvelles» (Maître 1999, 610).

5.2.2.3 Zwischenresümee Insgesamt kann die Entwicklung des Zivilisationsprozesses mit dem Renaissancehumanismus in Italien und Frankreich als ein wichtiger Markstein im Dienste der Ethik gesehen werden. Sie beruht bis in die Leistungen und Besonderheiten des Preziösentums hinein auf der Ästhetisierung von Manieren und Sprache aufgrund der moralischen Ausgangsmotivation, der Opposition gegen die inakzeptablen traditionellen Umgangsformen der höfischen Gesellschaft und auf dem Distinktionswillen der neuen Elite. Ist besonders Ästhetisierung letztendlich nicht ohnehin immer ein Kennzeichen eines «certain état de civilisation», eines Höhepunktes des Distinktionswillens der gesellschaftlichen Elite, einer Entwicklung zu stets raffinierter werdender Distinguiertheit im Sozialverhalten mit Normen für ein rücksichtsvolles Miteinander, wie es die veränderte Sozialhierarchie der frühen Neuzeit inaugurierte? Da Sprachmanieren im Allgemeinen und die auf «l’art de plaire» angelegte Ästhetisierung der Sprache zum Ausdruck erhabener Gedanken und Gefühle im Besonderen durchweg einen wesentlichen Teil dieses neuen Verhaltens darstellen, finden auf diesem Hintergrund auch tabuisierte Themen und Ausdrucksweisen sowie im Gegenzug der Euphemismus eine tiefere Begründung. Die neue Motivation zu seiner verstärkten Verwendung liegt im Sinne einer in der Ausgangssituation ästhetisch motivierten Ethik im rücksichtsvollen Umgang mit den Gefühlen anderer und im Streben nach eigener sozialer Distinktion mit Vorbildlichkeitsanspruch. Bis in die Gegenwart ändert sich daran nichts Grundsätzliches, zumal mit der sogenannten Politischen Korrektheit sogar eine offizielle Rücksichtnahme postuliert wird. Für Autoren wie Nyrop werden Euphemismen ohnehin «par égard pour soi-même ou pour les autres» (1913, 260) verwendet, also als sprachliche Form der Rücksichtnahme, der Selbstachtung und der Achtung anderer definiert. Aber dies ist nur ein Aspekt des Phänomens «Euphemismus».

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5.2.3

Zur allgemeinen Charakteristik der weiteren Entwicklung der Manieren

5.2.3.1 Die Verinnerlichung des Schamgefühls Zum 17. Jahrhundert hält Elias fest: «Immer wieder kehrt in diesen Verhaltensvorschriften [bei Gracián, La Rochefoucauld, La Bruyère und – aus der Praxis des höfischen Lebens – bei St.-Simon] die Begründung durch die Rücksicht auf andere Menschen, durch die Notwendigkeit, sich eine gute Reputation, einen guten ‹renom› zu erhalten, mit einem Wort die Begründung durch innerweltliche, durch gesellschaftliche Notwendigkeiten. Die Religion spielt in ihnen eine geringe Rolle. Gott erscheint nur am Rand und am Ende, wie etwas außerhalb dieses Menschenkreises. Auch alles Gute kommt dem Menschen von anderen Menschen zu» (Elias 1997b, 491).138

Doch diese Verhaltensregelungen der höfisch-aristokratischen Welt «[…] werden in der bürgerlichen Welt dem Einzelnen mehr als ein Selbstzwang eingeprägt. Sie werden in den Erwachsenen nicht mehr unmittelbar durch die Furcht vor anderen Menschen reproduziert und wachgehalten, sondern durch eine ‹innere› Stimme, durch eine von dem eigenen Überich her automatisch reproduzierte Angst, kurz durch ein moralisches Gebot, das keiner Begründung bedarf» (Elias 1997b, 491s.).

Elias deutet hier den Wandel an, der sich nach der sozial abgestuften Prüderie unter Ludwig XIV. vollzog. Es erfolgte eine Ausuferung ins Gegenteil, die sich besonders unter der Régence des auch sprachlich ungezügelten Herzogs von Orléans (1715–1723) bemerkbar machte, sich aber auch bis Ludwig XVI. weiter dokumentieren lässt (cf. Bologne 1986, 273). Der Wandel im Schamgefühl jedoch ergab sich sozusagen als Kontrastprogramm durch die neue Tugendhaftigkeit des Bürgertums, die das 18. Jahrhundert prägen sollte und jetzt nicht mehr von außen, d.h. durch kaum strikt getrennte kirchlich-religiöse und zivile Moralvorstellungen, oktroyiert war, sondern verinnerlicht: «On commence en effet à opposer les débauches aristocratiques à la vertu populaire – c’est-à-dire bourgeoise. L’art moralisateur et domestique (Chardin, Greuse…) incarne l’idéal bourgeois et ravit un Diderot, tandis que l’art de cour (Boucher, Fragonard…) s’égare dans des scènes galantes qui scandalisent le vertueux encyclopédiste» (Bologne 1986, 317).

Eine solche Sittenänderung vollzog sich Mitte des 18. Jahrhunderts auch in anglophonen Kulturen, in denen ebenso die direkte Ausdrucksweise im sexu-

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Man legt sich «immer jemandem anderen gegenüber, also bewußter aus gesellschaftlichen Gründen, Triebverzicht und Zurückhaltung auf. Und die Art der Zurückhaltung, wie ihr Maß entsprechen hier der sozialen Stellung dessen, der sie sich auferlegt, gemessen an der Stellung dessen oder derer, denen gegenüber er sie sich auferlegt» (Elias 1997a, 278s.).

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ellen und skatologischen Bereich tabuisiert wurde. Wie in Frankreich ist dies im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Bourgeoisie zu sehen, der zu einem Anstieg der Prüderie führte, mit dem im Gegenzug fast zwangsläufig eine Zunahme der Euphemismen verknüpft war.139 Ähnlich wie das zweite Gebot am Ursprung der Blasphemie stand, verstärkte hier die Prüderie die tabuisierten Ausdrücke und ließ diese zum einen, deformiert oder nicht, die Rolle von Schimpfwörtern, Flüchen und Interjektionen übernehmen, zum anderen lexikalisch ersetzen, wobei Männer tendenziell auf lateinische, Frauen eher auf französische Ausdrücke auswichen, also enceinte anstelle von pregnant bzw. lingerie anstelle von underwear verwendeten. Dabei sind seit Beginn des 19. Jahrhunderts weniger das viktorianische England140 als vielmehr die puritanisch geprägten USA141 federführend, «[which] perpetrated the silliest sexual evasions of the last century» (McDonald 1988, VIII), wobei eine Art Höhepunkt der Entwicklung zweifellos in Noah Websters 1833 publizierter «gereinigter» Version der Bibel gesehen werden kann. Stilgeschichtlich ist das 18. Jahrhundert in Frankreich durch den Übergang vom «mot noble» und «mot général» der Klassik zum «mot propre» geprägt,142 da die Aufklärung Erkenntnisse, Wissen, insbesondere auch Fachwissen dem breiteren Publikum vermitteln will und dies sinnvollerweise nicht möglich ist, ohne die Dinge beim Namen zu nennen. So verwundert es nicht, dass über die Angemessenheit der Verwendung von «termes bas et communs» heftig diskutiert wurde:

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Cf. auch Muchembled: «Les apparences sont souvent trompeuses. Le XVIIIe siècle libertin, léger, pornographique, qui contraste en France avec la période de grande rigueur morale précédente, met en place une vision très contrôlée du plaisir. L’Angleterre a pris le même chemin dès la Restauration, en 1660. Dans les deux pays, plus précisément au cœur de leurs capitales, monstres urbains sans équivalents sur le continent, s’installe lentement un modèle d’économie sexuelle appelé à dominer les conceptions et les pratiques occidentales jusqu’aux années 1960» (Muchembled 2005, 159). Cf. McDonald: «When Victoria came to the throne in 1837 it was, for example, still fashionable for ladies to wear dresses cut below the nipple. […] By the end of Victoria’s reign, however, the position was different. The transatlantic tidal wave of illiberalism had swamped Britain; grotesque euphemism was in vogue, and plain speaking was illegal» (1988, X). Cf. dazu als neueres Beispiel die Notwendigkeit für Château Mouton Rothschild, «die Etiketten von 30 000 Flaschen für den Export in die USA auszutauschen, ‹weil sich die Kunden in den USA an dem darauf abgebildeten nackten Mädchen störten›. […] Baronin de Rothschild reagierte ‹erschüttert über dieses unglückliche Missverständnis›. Sie habe sich niemals vorstellen können, dass dieses charmante Kunstwerk des Malers Balthus in einem sexuellen Zusammenhang gesehen werden könne» (Bündner Zeitung, 10. April 1996). Cf. u.a. den auf die Literatursprache zentrierten stilgeschichtlichen Überblick von Bihler (1964, besonders 415–433).

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«Mille protestations s’élèvent contre la ‹noblesse› exténuante du langage, contre la ‹nécessité› d’avoir recours ‹à la lenteur des périphrases› et ‹d’être long de peur d’être bas›. Cependant, l’épithète, les ‹idées accessoires› les ‹alliances› ennoblissantes, de même que l’euphémisme et les tours euphémiques, n’en florissent pas moins jusqu’à la Restauration, aussi bien dans la conversation que dans la plupart des genres littéraires» (Munteano 1952, 157).143

Dennoch wird auch in der Encyclopédie deutlich gesagt, dass die direkte Benennung bestimmte «idées [...] peu honnêtes, ou desagréables, ou tristes, ou dures» evoziere und daher nach wie vor besonders die euphemistische Ausdrucksweise erfordere, was durch die zunehmende Bedeutung des Bürgertums (schwerpunktmäßig dann im 19. Jahrhundert) auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt wurde: «À l’égard des idées deshonnêtes, on peut observer que, quelque respectable que soit la nature & son divin auteur, quelques utiles & quelques nécessaires même que soient les penchans que la nature nous donne, nous avons à les regler; & il y a bien des occasions où le spectacle direct des objets & celui des actions nous émeut, nous trouble, nous agite. Cette émotion qui n’est pas l’effet libre de notre volonté, & qui s’éleve souvent en nous malgré nous-mêmes, fait que lors que nous avons à parler de ces objets ou de ces actions, nous avons recours à l’euphémisme: par-là nous ménageons notre propre imagination; & celle de ceux à qui nous parlons, & nous donnons un frein aux émotions intérieures. C’est une pratique établie dans toutes les nations policées, où l’on connoît la décence & les égards. En second lieu, pour ce qui regarde les idées dures, desagréables, ou tristes, il est évident que lorsqu’elles sont énoncées directement par les termes propres destinés à les exprimer, elles causent une impression desagréable qui est bien plus vive que si l’on avoit pris le détour de l’euphémisme» (Dumarsais 1756, 207b).

Hier begründen Anstand und gegenseitige Rücksichtnahme die emotionale Zurückhaltung, wie sie die «civilité» seit der Umsetzung des von Erasmus ausgeprägten Begriffs erfordert, und auf sprachlicher Ebene damit expressis verbis die Verwendung von Euphemismen anstelle des «mot propre». Nach diesem Blick auf den Wortgebrauch sei die supra genannte Verinnerlichung wieder aufgegriffen, die von Elias (1997b, 414) u.a. am Beispiel der Bewertung des Entblößens aufgezeigt wird. Gegenüber Niedrigerstehenden gilt es sogar als «Zeichen des Wohlwollens», als Ausdruck einer «certaine familiarité avec ses subordonnés», umgekehrt aber sowie unter Gleichgestellten als Respektlosigkeit:144

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Cf. schon die supra (p. 222 n. 122) angesprochene und seit der Antike nachweisbare Tradition kritischer und ablehnender Äußerungen gegenüber dem Euphemismus. Cf. Bologne: «[…] l’intimité, la nudité, dans la haute société du XVIIIe siècle, loin d’être humiliante pour celui qui la dévoile, l’est pour celui qui en est témoin. Ici aussi, il arrive qu’il y ait des réticences» (1986, 163); Bologne bringt auch das Beispiel des Herzogs von Parma, der seinen Bischof in diplomatischer Mission zum Herzog von Vendôme schickte, wo er so schockiert war «d’être reçu par Monsieur de Vendôme sur sa chaise percée, et plus encore de le voir se lever au milieu de

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«Und erst, wenn die ständischen Mauern fallen, wenn die funktionelle Abhängigkeit aller von allen noch stärker wird und alle Menschen in der Gesellschaft sozial um einige Stufen gleichwertiger, dann erst wird allmählich eine solche Entblößung außerhalb bestimmter, enger Enklaven in Gegenwart jedes anderen Menschen zu einem Verstoß; dann erst wird dieses Verhalten bei dem Einzelnen von klein auf so vollständig mit Angst belegt, daß der soziale Charakter des Verbots ganz aus seinem Bewußtsein verschwindet, daß die Scham ihm ganz als Gebot seines eigenen Innern erscheint» (Elias 1997b, 414).

Die Verinnerlichung, die gleichzeitig die Individualisierung des Schamgefühls gegenüber dem klassischen, sozial charakterisierten Verhalten beinhaltet, bedeutet Selbstzensur ohne die Gegenwart von anderen, ohne Furcht vor Bestrafung oder öffentlicher Missbilligung: «Die durch gesellschaftliche Sanktionen gestützten Verbote werden dem Individuum als Selbstzwänge angezüchtet. Der Zwang der Zurückhaltung von Triebäußerungen, die soziogene Scham, die sie umgibt, werden ihm so zur Gewohnheit, daß er sich ihrer nicht einmal erwehren kann, wenn er allein, wenn er im intimen Raum ist. […] der gesellschaftliche Verhaltenscode prägt sich in dieser oder jener Form dem Menschen so ein, daß er gewissermaßen ein konstitutives Element des individuellen Selbst wird» (Elias 1997a, 355; cf. auch 1997a, 265, 280).

Bei Bologne wird dies noch an weiteren Beispielen veranschaulicht: «Le génie du XIXe siècle aura été de susciter une pudeur individuelle, libérée du regard de l’autre, de la crainte du châtiment ou de la réprobation publique. On est nu à son propre regard. C’est soi-même que l’on offense en attentant à sa pudeur, même seul, même inconsciemment. Changer de chemise, prendre un bain, s’essuyer, se lever deviennent des opérations terribles» (Bologne 1986, 323).

Der Gedanke, sich zu bedecken, ist natürlich nicht neu. Nach einer Liberalisierung durch die Renaissance wird z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts die Nacktheit in der Kunst als unpässlich empfunden und ihre Verhüllung in Auftrag gegeben, so im Falle der Figuren Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle (Muchembled 2002, 87). Im selben Jahrhundert rät denn auch Erasmus – wie vor ihm der heilige Hieronymus, demzufolge eine erwachsene Jungfrau ob ihrer selbst erröten und sich nicht nackt sehen sollte (cf. Bologne 1986, 324) – Kindern, sich zu bedecken, schließlich seien die Engel überall und sähen alles: «De decouurir sans necessité les membres ausquels la nature á donné honte, doit estre euité par l’enfant honeste. Et quand necessité le y contraint, il doit ce faire auec vne honte decente: voyre & n’y ait il nul tesmoing qui le voye. Car les

la conférence, et se torcher le cul devant lui», dass er (immerhin kommentarlos) seinen Besuch abbrach und zurückkehrte. Ein darauf gesandter junger Priester aus Parma hingegen rief in vergleichbarer Situation O culo di angelo! aus; er wurde persönlicher Sekretär des Herzogs von Vendôme und beendete später seine Karriere als Kardinal in Spanien (1986, 163ss.).

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anges sont tousiours presens, ausquels est fort agreable es petits enfans la honte compaigne & garde de pudicité. Et pource fault de tant moins permettre a l’attouchement d’aultruy les membres, dont est pudique & honneste d’en oster le regard aux yeulx» (Erasmus 1537, 60v).

Ähnlich beschreibt Muchembled die im 17. Jahrhundert angenommene Diabolik der «parties honteuses»: «Depuis le début du XVIIe siècle, le modèle social le plus prestigieux est celui du saint ou de la sainte traitant durement son enveloppe charnelle, évitant même de se laver pour ne pas éveiller sa concupiscence, se méfiant profondément des pièges du démon imprimés dans la chair. […] Ainsi se trouve fortement dévalorisé le bas du corps, siège d’activités animales, lieu diabolique par excellence […]. Nudité, sexualité, et dans une moindre mesure fonctions urinaires et excrémentielles, sont désormais reliées à des notions maléfiques. La justice poursuit sans pitié leurs manifestations les plus horribles» (Muchembled 2001, 169).

Zweifelsohne neu hingegen ist der zivilisatorische Kontext der Ablehnung alles Nackten, denn gerade für den Bourgeois, der ja keinen Adelstitel besitzt, ist die Kleidung ein Zeichen seiner Würde und seines Reichtums und das individuelle Schamgefühl ein Distinktionsmerkmal: «Voir le roi nu ne lui ôte pas ses quartiers de noblesse. Voir le bourgeois nu l’humilie. Le ridicule commence à tuer. À la Révolution, le bourgeois a besoin de sa pudeur pour s’affirmer devant la débauche aristocratique ou la vulgarité populaire» (Bologne 1986, 324s.).

Die Französische Revolution als bürgerliche Revolution gründete ihre Sittenlehre natürlicherweise auf die Tugend der Bourgeoisie, nach der sich nunmehr auch der seiner Privilegien enthobene Adel zu richten hatte. Sozialhierarchisch gesprochen ging die neue Verhaltensnorm jetzt von unten bzw. vom Bourgeois145 als Repräsentant der gesellschaftlichen Mitte aus. Die Revolutionäre dachten aber vor allem an den diesbezüglichen legislativen Schutz der weiblichen Tugend, der aber erst mit dem Code Napoléon 1810 durch eine Art Sittenpolizei gegeben sein sollte, die alles Sittenwidrige strafrechtlich verfolgt, soweit es in der Öffentlichkeit vorkommt (cf. Bologne 1986, 317–321). In der Ablehnung der Nacktheit erscheint neben dem Richter seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit zunehmendem Einfluss auch der Arzt, aber erst im 19. Jahrhundert setzt er sich besonders im privaten Bereich als moralische Autorität146 durch, «dont les condamnations peuvent être plus

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Die Bourgeoisie umfasste zunächst nur denjenigen Teil der Gesellschaft, der außerhalb von Adel und Klerus nicht mit seiner Hände Arbeit sein Brot verdiente. Erst der Tiers État wollte für alle sprechen. Zurecht verweist auch Foucault auf die moralische Einbindung des ärztlichen Einflusses: «Ce n’est pas simplement un souci plus grand pour le corps; c’est aussi une

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sévères que celles des magistrats» (Bologne 1986, 323). Das Privatleben (auch mit seinen gesundheitlichen und psychischen Problemen) war jetzt weniger dem Beichtvater anvertraut, dessen Ansehen im Zuge des Antiklerikalismus in Frankreich ohnehin geringer geworden war, als dem Arzt, der mit neuen Argumenten aufwartete: «Il ne s’agit plus de faire pleurer la Vierge ou de risquer la mort subite d’Onan, mais de devenir impuissant, sourd ou hystérique. […] Quant aux femmes souffrant de troubles sexuels, elles ne seront plus brûlées comme sorcières, mais enfermées comme hystériques. La nudité publique ne sera plus preuve d’hérésie, mais de folie… L’hygiène est promue vertu cardinale, les décolletés trop profonds sont accusés de provoquer des bronchites et le pantalon féminin est censé prévenir des rhumatismes» (Bologne 1986, 323).

Nacktheit verschwindet im 19. Jahrhundert jedenfalls wie alle Obszönität aus der Öffentlichkeit und gehört fortan, d.h. bis zur Entstehung des jedoch auf bestimmte Gruppen begrenzten Nudismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zur privaten Sphäre.147 Der Unterschied zum Ancien Régime und seiner Öffentlichkeit auch des Privatlebens war in dieser «Gesellschaft auf dem Wege zur Intimität» (Sennet 1983, 245) deutlich, wie es Balle im Anschluss an Sennet formuliert: «Die Angst, sich in der Öffentlichkeit zu kompromittieren, führte zu der Vielfalt der Tabus und zu Umschreibungen, die Hand in Hand gehen mit den Hauben, verschlossenen Kutschen, Schuten und Schirmlampen des 19. Jhdts. Die verbalen Abschirmungen und Schleier legitimieren die Zurückhaltung in der Öffentlichkeit bis zum Schweigen, der Anonymität und Isolation in der Öffentlichkeit» (1990, 124).

Von dieser Prüderie bleiben auch Plakate, Zeitschriften und sogar die Literatur nicht verschont: «Depuis 1789, la censure est supprimée, malgré quelques retours éphémères – mais les livres qui ne sont plus soumis à un contrôle préalable, peuvent être attaqués en justice; entre 1889 et 1897, on assiste à une vague de pudibonderie judiciaire; des dessins sont lacérés par des agents dans des revues ensuite rendues aux marchands» (Bologne 1986, 326).

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autre manière d’envisager l’activité sexuelle, et de la redouter pour l’ensemble de ses parentés avec les maladies et le mal» (1984b, 272). In den adligen Schlössern waren die Türen selten verschlossen, die Privatsphäre nicht abgetrennt. «L’appartement bourgeois distingue mieux les pièces privées des pièces publiques. Les femmes ont des salons ou des boudoirs: elles ne reçoivent plus dans leur lit. La salle des bains devient fixe: plus de réceptions dans sa baignoire ou sur la chaise percée. La spécialisation des pièces est née dans une classe qui, depuis six siècles, a plus l’habitude de rendre visite que de recevoir» (Bologne 1986, 321).

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In dieser Hochzeit des Sprachtabus148 standen 1857 Flaubert wegen Madame Bovary und Baudelaire wegen Les Fleurs du Mal vor Gericht; Letztere können erst 1949 in ungekürzter Version erscheinen. Ebenso ergeht es Barbey d’Aurevilly 1874 mit einer Neuausgabe von Un prêtre marié und Maupassant 1880 wegen seines Gedichts Une fille. Sogar die bildende Kunst, die nach wie vor eine Ausnahmestellung hatte, konnte sich dem nicht immer entziehen. Renoir selbst bezeugt dies: «Comme on avait trouvé mon tableau peu convenable je mis un arc dans les mains du modèle, et, à ses pieds, une biche. J’ajoutai une peau de bête, pour cacher la nudité des chairs, et mon étude devint une nymphe chasseresse» (zitiert nach Bologne 1986, 325).

Selbst in den großen Wörterbüchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts erscheinen Wörter wie foutre völlig undenkbar (cf. Orr 1963, 34s.). Diese geschlossene Front zur Wahrung der Sittlichkeit149 inklusive der Institution der police des mœurs bzw. squadra del buoncostume wurde erst im 20. Jahrhundert durch Photographie und Film, durch neue Richtungen in der Malerei und Literatur und schließlich durch Fernsehen und Internet aufgebrochen. 5.2.3.2 Das Abstecken der Schamgrenze In entscheidender Weise mitgeebnet hat den Weg zur Befreiung von traditionellen Tabus bekanntermaßen Sigmund Freud: «Le premier, Freud ose mettre en doute la valeur de la continence sur laquelle est fondée toute la morale chrétienne. ‹En général, écrit-il, je n’ai pas acquis l’impression que l’abstinence sexuelle contribue à la formation d’hommes énergiques, déterminés, d’êtres d’action ou originaux, ou encore de penseurs, de réformateurs et libérateurs hardis, mais bien plutôt d’honnêtes débiles, immergés plus tard dans la masse et qui suivent les chemins que leur tracent les fortes individualités›» (Bologne 1986, 328).

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Nach Lebsanft enthält Flauberts Dictionnaire des idées réçues «ungefähr dreißig ‹Artikel›, die sich auf Sprechverbote beziehen» und ist damit «ein einzigartiges Dokument für den Euphemismus in der Zeitspanne vom Bürgerkönig Louis-Philippe bis zum Second Empire und gleichzeitig ein Meisterwerk der sarkastischen und lakonischen Kritik an diesem Sprechen»; er liefert ein «Handbuch des öffentlich Sagbaren und des Unsagbaren, ein manuel de conversation seiner Zeit» (1997, 119s.). Lebsanft (1997, 120s.) analysiert feinsinnig einige dieser den obszönen Bereich betreffenden Einträge, darunter auch lavement (cf. hier p. 221). Auch Deutschland macht hierbei keine Ausnahme. So schreibt z.B. Alvey: «In der wilhelminischen Zeit sprach man z.B. nicht von Armen und Beinen oder der Brust einer Dame, sondern von ihren Gliedmaßen oder ihrem Busen. Die Genitalien wurden bei beiden Geschlechtern gewöhnlich als Schamteile, bei der Frau als Schoß, beim Mann als Glied bezeichnet» (1984, 561).

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Doch allgemein bemerkbar machte sich sein Einfluss erst nach dem Ersten Weltkrieg, als durch die Vermischung von künstlerischer Avantgarde, Psychoanalyse, Marxismus und einem neuen Verständnis der Sexualität die traditionelle Gesellschaft systematisch in Frage gestellt, und der Weg für die heutige Situation geebnet wurde, die ebenso durch Sexualisierung wie durch Entsexualisierung und Asexualität gekennzeichnet ist (cf. infra p. 251s.). Vor allem im Vergleich zum 19. Jahrhundert lässt sich eine Lockerung des Schamgefühls feststellen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zunimmt, für die die Aussage von Norbert Elias zum «Sprechen von den natürlichen Verrichtungen» generalisiert werden kann: «Die Freiheit, die Unbefangenheit, mit der man sagt, was zu sagen ist, und zwar ohne Verlegenheit, ohne das gepreßte Lächeln und Gelächter der Tabu-Übertretung, ist in der Nachkriegszeit offenbar größer geworden. Aber das ist, ganz ähnlich wie bei den Bade- und Tanzsitten der neueren Zeit, in dieser Form nur möglich, weil der Stand der Gewohnheiten, der technisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge, das Maß der Zurückhaltung des eigenen Trieblebens und des Verhaltens selbst entsprechend dem vorgerückten Peinlichkeitsgefühl zunächst im großen und ganzen gesichert ist. Es ist eine Lockerung im Rahmen des einmal erreichten Standards» (1997a, 281s.).

Diese Feststellung des zurückgesetzten Verlaufs der Schamgrenze ändert natürlich zunächst wenig an den Standards der gesellschaftlichen Normen insgesamt, so dass Elias zum allgemeinen Stand des Zivilisationsprozesses 1969 noch festhält: «Heute legt sich der Ring von Vorschriften und Regelungen so eng um den Menschen, die Zensur und der Druck des gesellschaftlichen Lebens, die seine Gewohnheiten formen, ist so stark, daß es für den Heranwachsenden nur eine Alternative gibt: sich der gesellschaftlich geforderten Gestaltung des Verhaltens zu unterwerfen oder vom Leben in der ‹gesitteten Gesellschaft› ausgeschlossen zu bleiben. Ein Kind, das nicht auf den Stand der gesellschaftlich geforderten Affektgestaltung gelangt, gilt in verschiedenen Abstufungen als ‹krank›, ‹anormal›, ‹kriminell› oder auch nur als ‹unmöglich›, von einer bestimmten Kaste oder Schicht her gesehen» (1997a, 283).

Doch zum Publikationszeitpunkt der Gedanken Elias «Ring von Vorschriften und Regelungen» wurde eben dieser bereits entscheidend hinterfragt. Verantwortlich waren die Ereignisse von 1968, die besonders in Deutschland und Frankreich auf fruchtbaren Boden stießen, wohingegen der Süden Italiens bekanntlich in geringerem Maße von ihnen tangiert wurde, und selbst die heftigen Proteste in den intellektuellen Zentren des Nordens traditionell weniger im nationalen Bewusstsein verankert sind als vergleichbare Entwicklungen jenseits der Alpen:150

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Zur Anwendung der folgenden Ausführungen Galli de’ Paratesis auf das Französische cf. Bierbach/Ellrich (1990, 259) und Lebsanft (1997, 123).

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«Tandis que Mai 68 est un événement bien connu dans le monde entier, les événements de 68 en Italie restent partiellement méconnus. En France, il y a eu une convergence, bien que de courte durée, entre le mouvement estudiantin et le monde ouvrier, qui a abouti à une situation de type révolutionnaire, à l’échelle nationale. En Italie, une telle concordance ne s’est pas produite, si ce n’est de manière très atténuée. L’agitation, issue des universités et des écoles, resta limitée à la jeunesse. peut-être est-ce pour cela, et compte tenu d’une situation moins dramatique sur le plan national, que l’état de paralysie et de troubles a duré très longtemps au sein des institutions d’enseignement. Certaines universités sont restées fermées ou occupées pendant des mois» (Galli de’ Paratesi 1992, 74).

Dennoch hält Galli de’ Paratesi auch für Italien an dem Einschnitt 1968 fest und konstatiert im Vergleich zur Situation zu Zeiten ihrer Arbeit von 1964 «un changement aussi radical dans un laps de temps aussi bref» (1992, 73), das «d’inspiration anglo-saxonne» schließlich «tous les pays occidentaux» erfasste (1992, 74). In den Bereichen der Sexualität, der Gleichberechtigung und des Minderheitenschutzes kam es zur Hinterfragung zahlreicher Tabus, auf die legislative Maßnahmen zur Entkriminalisierung von Abtreibungen oder zur Autorisierung von Ehescheidungen folgten (1992, 5). Auf sprachlicher Ebene sei der mit den Ereignissen von 1968 eingetretene Enttabuisierungsschub an einem Beispiel aus Deutschland illustriert, der Ausdrucksweise des «1968ers» Joschka Fischer, dessen 1984 an den damaligen Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen (CSU) gerichtetes «Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!» zum Politikum wurde. Dass ein solches Sprachverhalten nicht symptomatisch für eine bestimmte politische Orientierung sein muss, zeigt der Gebrauch von cazzo im Parlament durch Lamberto Dini «Un po’ di silenzio, cazzo!» (1995) und Vittorio Sgarbi «Non me ne frega assolutamente un cazzo!» (1998) (in Arcangeli 2001b, 117) sowie jüngst die Verwendung von coglioni durch Silvio Berlusconi, der nach seiner Wahlniederlage mit dieser «espressione volgare» «coloro che non votano per il loro immediato interesse» bezeichnete (in Scoppola 2006), in anderen Worten also diejenigen, die ihn nicht gewählt hatten. Dabei ist im Falle vulgären Sprachgebrauchs hochrangiger Politiker im öffentlichen Leben meist weniger von einem Versehen auszugehen als von einer vermeintlich funktional orientierten, interessengeleiteten Sprachentscheidung. Doch bei aller Tendenz mancher Politiker, sich mit solchen Bezeichnungen, die sie für «volksnah» halten, sozusagen solidarisch mit angenommenen größeren Wählerschichten zu zeigen, verlieren sie durch derart populistisches Sprachverhalten in so manchen (Wähler)kreisen an sprachlicher Achtung und Orientierungsfunktion. Gilt dies auch insbesondere bei vielen älteren Leuten, für die derartige Ausdrücke aus dem Munde politischer Repräsentanten der Bevölkerung aus traditioneller Sicht unvorstellbar gewesen wären,151 so bedeutet dies natürlich nicht, dass die jüngeren und

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Dies ergab auch eine Umfrage unter einigen älteren Leuten über die Akzeptanz

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mittleren Generationen solche Bezeichnungen als selbstverständlich akzeptieren würden. Guido Westerwelles Distanzierung von den Umgangsformen Joschka Fischers ist dafür exemplarisch: «Ich kann mich mit Frau Künast sehr konstruktiv unterhalten, während die Möglichkeiten eines Dialogs mit Herrn Fischer äußerst bescheiden waren, was schon an den unterschiedlichen Vorstellungen über mitteleuropäische Umgangsformen lag» (Augsburger Allgemeine vom 23. Dezember 2005, 5).

Auch Romano Prodi würde sich wohl nicht auf die vulgäre Ebene152 seines politischen Antagonisten Silvio Berlusconi begeben, und eher ausgeschlossen ist ein solches Sprachverhalten zumindest bislang bei einem vergleichbaren französischen Politiker,153 wobei abzuwarten bleibt, inwiefern die von Nicolas

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von Edmund Stoibers Ausdrucksweise im Kommentar zur Reichensteuer «Meine Damen und Herren, da werden Sie im Prinzip verarscht» (Friedman 2006). Dabei sei neben den supra erwähnten vulgären Ausdrücken auch an den sprachlichen Tabubruch am zweiten Tag seiner EU-Ratspräsidentschaft von 2003 erinnert, als Berlusconi dem deutschen Europaparlamentarier Martin Schulz vorschlug, in einem Film über Konzentrationslager die Rolle des Kapos zu übernehmen. Doch fällt der Nazi-Vergleich im Ausland immer wieder, wenn das Verhalten eines Deutschen als besonders taktlos empfunden wird: So hatte der deutsche SPDFinanzminister Peer Steinbrück in seinem Bestreben, Steueroasen auszutrocknen, am Rande eines G-20-Treffens im März 2009 die schwarze Liste der OECD mit einer siebten Kavallerie von Yuma in Verbindung gebracht, die nicht unbedingt ausreiten müsse: «Die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt». Diese aggressive Wortwahl, die den Vergleich zwischen Eidgenossen und «Indianern» insinuierte und ebenso wenig Sensibilität für die Wirkung martialischer Drohungen auf die neutrale Schweiz wie für die Geschichte amerikanischer Ureinwohner zeigte, vertiefte im Nachbarland den Eindruck teutonischer Arroganz, der bereits durch die von Steinbrück (seither auch «Peitschen-Peer») auf einer Konferenz der OECD im Oktober 2008 mit Blick auf die Schweiz geäußerte Drohung, «Statt Zuckerbrot müssen wir auch zur Peitsche greifen», genährt worden war, und veranlasste den CVP-Nationalratsabgeordneten Thomas Müller in einer Debatte über das Bankgeheimnis zu der Aussage: «Peer Steinbrück […] definiert das Bild des hässlichen Deutschen neu. Er erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor 60 [gemeint war wohl eher 70] Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind», die er wenig später noch bekräftigte: «Die Gestapo war in Deutschland ja auch nur eine Elite. So einer wie Steinbrück erinnert mich eben daran. Es ist sein ganzes Auftreten: Er ist kompromisslos, rücksichtslos und überheblich». Zur fragwürdigen «Strategie [...], politische Gegener durch implizite Vergleiche mit Personen und Taten des Nazi-Regimes zu diffamieren» cf. u.a. auch Stötzel (1989, 263). Selbst Rachida Dati, die locker, aber dezidiert auftretende französische Justizministerin zu Beginn der Amtszeit Nicolas Sarkozys, zeichnete mit den Händen schnell zwei Anführungszeichen in die Luft und ersuchte charmant lächelnd die Senatoren um Nachsicht, als ihr bei der Antwort auf eine Frage fr. connerie herausrutschte (cf. Balmer 2007). Im Hinblick auf den Sprachgebrauch ehemaliger Präsidenten ist auf zuvor wenig frequentes chienlit ‘profusion désordonnée’ zu verweisen, das nach seiner Verwendung in dem de Gaulle zugeschriebenen Kom-

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Sarkozy angestrebte «rupture», der Bruch mit dem alten System, auch hier Auswirkungen hat. Ansätze für Brüche beinhalten sicherlich das angesichts der hohen Jugendkriminalität in der Pariser Vorstadt La Courneuve im Juni 2005 geäußerte «Le terme nettoyer au Kärcher est le terme qui s’impose, parce qu’il faut nettoyer cela» oder das anlässlich der Randale in Pariser Banlieues im Herbst 2005 in Argenteuil fallende «je vais vous débarrasser de cette racaille», zu dem Sarkozy erklärt, «en employant le mot racaille, je n’ai jamais eu le sentiment d’avoir été trop loin», «d’être vulgaire, hypocrite ou insincère» (2006, 94, 96). Unberührt lassen derartige Verstöße den Bereich der Körperlichkeit, wie er von der 1968 ausgelösten Enttabuisierungswelle erfasst wurde, die unzweifelhaft zu einer Lockerung der Schamgrenze auf breiter Basis führte und Merle z.B. 1993 die Omnipräsenz von merde und cul feststellen lässt: «De fait, on écrit, on imprime ‹merde› ou ‹cul› sans aucun complexe. Chacun peut le vérifier. Grossier? Possible. Mais aussi néoconvivial, peuple, rassembleur et, partant, probablement fraternel!» (Merle 1993, 14).

Doch nach dem 1968 verstärkten Enttabuisierungsschub beruhigte sich die Lage im Laufe der 1980er Jahre wieder, so dass in beiden Ländern nach «einer Phase stärkerer Lockerung […] in jüngster Zeit wiederum eine Straffung [wenn auch], freilich keine Rückkehr zu den Sprechverboten des 19. Jahrhunderts» erfolgte (Lebsanft 1997, 122s.). Im Bezug auf die in ihrem Beitrag thematisierten Änderungen in der weiblichen Sprachverwendung, besonders im Bereich der Sexualität, beanstandet Galli de’ Paratesi z.B. die Übernahme des von Männern geprägten Wortschatzes, was für Frankreich auf die «langue de mépris» verweisen lässt, wie sie Marina Yaguello beschreibt (1978, 149–163). Lebsanft meint dementsprechend, dass sich diese kritische Haltung zum tabufreien weiblichen Sprachgebrauch «innerhalb weniger Jahre so weit einen Weg gebahnt [hat], daß diese Sprache wieder zunehmend tabuisiert wird». Dies zeigt er an einem Beispiel aus Claude Duneton auf, der «die Neuausgabe und Kommentierung eines im 19. Jahrhundert verbotenen pornographischen Textes in unseren Tagen schon wieder als Akt des Tabubruchs präsentieren» kann (1997, 123). In ähnlicher Weise erinnert auch Bologne an den zyklischen Wechsel von «périodes prudes» und «périodes plus laxistes», der in den 1980er Jahren zu neuer Keuschheit führte: «Dans les années 80, un nouveau cycle s’est mis en route, auquel les sociologues actuels n’ont pas été insensibles. ‹La tempête sexuelle des quinze dernières années devait un jour se calmer. Certains signes laissent supposer que ce moment est proche. Après le temps de la chair, voici venir (ou revenir) celui de la chasteté›. Déçus

mentar zu den Studentenprotesten vom Mai 1968 «la réforme, oui; la chienlit, non» und in der Passage einer Radio-/Fernsehansprache de Gaulles, «Mais… c’est la chienlit!», eine Renaissance erlebte und u.a. Protestplakate mit der Aufschrift «La chienlit c’est lui» nach sich zog.

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du sexe, solitaires en mal de partenaires, néo-romantiques refusant de confondre l’amour minuscule et l’Amour majuscule commencent à mettre la pédale douce à la révolution sexuelle, en espérant stabiliser le balancier des mœurs ‹quelque part entre la chair faible et la chair triste›» (Bologne 1986, 332, der Mermet 1985, 93 resümiert und zitiert).

Durchaus im Einklang mit dem grundsätzlich dialektischen Charakter der Geschichte des Schamgefühls zeigen sich somit jüngst immer mehr Gegenreaktionen gegen die Proletarisierung des Verhaltens, gegen eine allgemeine «Anstands- und Sittenlosigkeit», wie sie sich im öffentlichen Bewusstsein niederschlägt. Diese äußern sich z.B. in der offenbar starken Nachfrage nach Benimmkursen und Anstandsbüchern, in der neuen Einrichtung der «agents de civilité» in Genf oder im überwachten Spuckverbot in Augsburg, um nur einige Beispiele zu nennen. Solche Maßnahmen gegen die «Verwilderung der Umgangsformen» kommentiert die Neue Zürcher Zeitung mit den Worten, «Anstand und Höflichkeit, die einige Jahrzehnte als Relikte des bürgerlich-viktorianischen Zeitalters belächelt wurden, sind plötzlich wieder im Schwang»,154 und fügt hinzu, dies solle nicht nur auf den Straßen gelten: «Denn wenn der Sprecher der einheimischen Polizistengewerkschaft in einer Versammlung lauthals von der neuen Polizeichefin sagen kann, sie sei ‹mit der Hierarchie ins Bett gegangen›, so sagt man sich, dass sich die Anstandsdamen und -onkel [agents de civilité] gelegentlich auch bei jenen umhören und umsehen sollten, die eigentlich von Amts wegen für öffentliche Ordnung und zivilisierte Umgangsformen sorgen müssten» (Büchi 2006).

Dabei sei zur Entwicklung des Schamgefühls im engeren Sinne, seiner Verinnerlichung, nachfolgenden Lockerung und neuen Straffung noch darauf verwiesen, dass Scham prinzipiell nicht nur den hier in Augenschein genommenen Bereich von Körperlichkeit betrifft, sondern auch viele weitere Verhaltensweisen, bei denen ein «Sich-Schämen» auftreten kann. Allgemeiner erklärt z.B. Spaemann: «Scham ist ein natürliches Gefühl, das sich einstellt, wenn jemand konfrontiert ist mit der Tatsache, dass er jenseits und vor allem Wollen nicht der ist, der er gern wäre, zu sein glaubte oder zu sein vorgibt. […] ‹Sich schämen können› heißt an

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Ähnlich wird unter dem Titel «Fernsehen ohne Knigge» in einer früheren Ausgabe der NZZ dem «Leitmedium» vorgeworfen, von der Renaissance guten Benehmens noch nichts gehört zu haben: «Da muss man keineswegs auf ‹Black’n’Blond› zurückgreifen, wo gleich zum Auftakt das blanke Hinterteil eines Protagonisten zum Gesicht der Sendung wurde. Beim sogenannten Warm-up zur Übertragung des ‹Swiss Award› erachtete es Bernhard Thurnheer […] vor versammelter Prominenz für angezeigt, dem Durchschnittszuschauer, sonst eine gehätschelte Grösse, einen IQ aus Brehms Tierleben zuzuordnen. Tags darauf […] wirft Moderator Ueli Schmezer […] ungeniert mit Ausdrücken wie Fressen und Saufen um sich […]. Schönes Leitmedium!» (Balts 2006).

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seiner Selbstachtung festhalten, ohne sich zu belügen und ohne in Zynismus zu verfallen» (Spaemann 2005, 24).

Je nach Zeit, Ort und individuellen Haltungen wird einzelnen Schamquellen unterschiedliches Gewicht beigemessen. So kann sich jemand z.B. seiner Armut oder Arbeitslosigkeit schämen oder auch, wenn er großen Worten keine Taten folgen lässt, während umgekehrt so manche Personen auch eine gewisse Schamlosigkeit bei der Wahl der Mittel zeigen, die immer wieder zum Tragen kommt, wenn es um Macht und Profit geht (cf. 5.4). 5.2.4 Achtung und Selbstachtung im Spiegel des Wortschatzes Alle im Folgenden zu betrachtenden Bereiche fallen im Hinblick auf die Motivation unter das supra in seiner Entwicklung auf die Körperlichkeit zentriert skizzierte Schamgefühl, dem neben Ehre und Schande – «wie heute noch in weiten Bereichen der Mittelmeerwelt» – «eine überragende Bedeutung zukam» (Burke 1987, 97). Durch die darin immer wieder bezeugte Rücksichtnahme liegen die Selbstachtung und die Achtung anderer als Ursachen nahe, wie z.B. Nyrop im Hinblick auf die Verwendung von Euphemismen zu Recht bemerkt, «on y recourt [à l’euphémisme] par égard pour soi-même ou pour les autres» (1913, 260). Einige historische Elemente werden in Verbindung mit den Ausführungen in 5.2.2 die Genese des heutigen Stellenwerts der Euphemismen im jeweiligen Bereich zu erklären helfen. Dabei verbindet die im Folgenden behandelten Themen, dass sie Teile oder Vorgänge in der Region des menschlichen Körpers zwischen Kopf und Beinen betreffen, die sprachlich zwar tabuisiert, von der Sache her aber gleichzeitig natürlich und in den meisten Fällen an sich unvermeidbar sind: «Il s’agit là, au moins à l’époque moderne, d’un tabou, c’est-à-dire d’une notion capitale et sacrée, fascinante parce que décrétée ‹indicible› par l’ordre moral. [...] entre la tête et les jambes, dont on fait volontiers les symboles allégoriques de l’activité pensante et de l’activité sportive, il existe une zone centrale où se déroulent, à l’intérieur et à la surface de nous-même, de façon à la fois distincte et mêlée, quantité de processus vitaux incontournables: digestion, miction, défécation, reproduction. Sans doute ce groupement naturel a-t-il contribué à troubler et à passionner les hommes dès l’enfance du monde» (Colin 1989, 8).

Ebenso verbindet die Themen, dass ihre sprachliche Tabuisierung traditionell besonders wirksam in der Gegenwart von Frauen ist, deren bloße Anwesenheit gemäß der Encyclopédie die Meidung direkter obszöner Bezeichnungen bedingt. So würden diese nur von Libertins oder Ignoranten verwendet, die die fachlichen oder wissenschaftlichen Termini nicht kennen: «La présence d’une honnête femme chasse l’obscenité de la compagnie des hommes. L’obscénité dans la conversation est la ressource des ignorans, des sots et des libertins. […] On évite l’obscénité en se servant des expressions consacrées par l’art ou la science de la chose» (Diderot 1765).

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Konsequenterweise sind die folgenden Themen dann auch dadurch gekennzeichnet, dass die Geschlechterspezifik des Euphemismengebrauchs bei ihnen traditionell besonders ausgeprägt ist: «La bestemmia, come l’imprecazione sessuale, è pressoché sconosciuta al linguaggio femminile, in esso inoltre si evita di far cenno agli organi sessuali» (Galli de’ Paratesi 1964, 26; 1969, 35).155

Dementsprechend hat dann wiederum die 1968 eingetretene Enttabuisierungswelle besondere Auswirkung auf die «Befreiung des weiblichen Sprechens». Sie findet für Lebsanft «paradigmatischen Ausdruck» in der Autobiographie von Marie Cardinal (1975), in der sich diese «der Macht [entledigt], die tabuisierte Wörter und die von ihnen bezeichneten Sachen über die Autorin als junge Frau hatten» (1997, 123). In weiterer Konsequenz kann der Gebrauch durch Frauen vulgären Ausdrücken aber auch ihre Obszönität nehmen, was Beccaria im Hinblick auf cazzo feststellen lässt: «Una mia raffinata amica la pronuncia con grazia sibilando un raddoppiamento filato di ‹zzzzzz›, senza strascico alcuno di oscenità» (2006, 52). 5.2.4.1 Liebes- und Sexualleben im Wandel des Schamgefühls Zur Akzeptanz des direkten Sprechens über Sexualität meint z.B. Hjelmslev in seinem Kapitel «Tabuismus»: «Das naheliegendste Beispiel ist, daß man es als unpassend betrachtet, Phänomene, die das Geschlechtsleben oder den Verdauungsprozeß betreffen, beim Namen zu nennen; dieses Tabu ist nicht, wie man vielleicht glauben könnte, allgemein menschlich; es ist an gewisse Gemeinschaften gebunden, und in vielen Gemeinschaften außerhalb des derzeitigen Europa ist es nicht vorhanden; im antiken Griechenland war es unbekannt» (1968, 81).

Tatsächlich kennt das Altertum einen freieren Umgang mit der Sexualität (u.a. auch in Bezug auf Prostitution, Päderastie und Homosexualität) als die folgende, christlich geprägte Zeit.156 Doch wird sie auch in der Antike prinzipiell sprachlich tabuisiert, denn generell solle das, «was für Augen und 155

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Cf. als Beleg für frühere Zeiten auch infra (5.2.4.2, p. 255s.) das Zitat aus Shakespeare und jüngst Cardona: «Per fare un esempio a noi vicino, fino a tempi molto recenti, se non tuttora, non ‹stava bene› che una donna parlasse di argomenti sessuali e tanto meno usasse i termini propri corrispondenti in presenza di un uomo. Di qui la necessità, quando proprio fosse stato necessario toccare gli argomenti interdetti, di metafore e perifrasi; ne viene investita allora tutta la costruzione del discorso e non si può parlare di singoli eufemismi e singole sostituzioni lessicali: è tutto l’argomento ad essere trattato in maniera femminile anziché maschile» (1985, 81). Cf. Greif (2000) und Prack (2000) in MLA oder Wagner-Hasel (1998, 1010s.) in DNP; zur Sexualität in anderen Kulturen cf. u.a. den Überblick von Gerlitz (2000) in TRE.

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Ohren abstoßend ist»,157 nicht thematisiert oder gar direkt benannt werden. Diesen Rat gibt zumindest Cicero, demzufolge es ja auch von der Sache her ehrenhaft sei, Kinder zu zeugen, aber unanständig, die Handlung konkret zu bezeichnen (cf. supra p. 16 n. 23), und der ebenso Metaphern wie «der Staat sei durch des Afrikanus Tod ‹entmannt›» oder Glucia sei der «Auswurf der Kurie» ablehnt, da sie beim Zuhörer abstoßende Gedanken hervorrufen.158 Die Bibel kennt eine Reihe geschlechtlicher Sünden, die im Christentum zu einer völlig negativen Bewertung der Sexualität159 führen und den Zugang zum Paradies ausschließen.160 Diese Grundhaltung ist in der kirchlichen Unterweisungstradition bis in die Neuzeit perpetuiert, auch wenn der Diskurs über die kirchliche Sexualmoral im 17. und 18. Jahrhundert und über die bürgerliche im 19. Jahrhundert nicht abreißt und «kirchl. und gesellschaftliche Sexualnormen» durch «die Liberalisierung der westlichen Kultur in den 70er Jahren des 20. Jh.» endgültig auseinander fielen (Schubert 2004, 1250). Doch bestimmte Sexualpraktiken galten – einmal abgesehen von medizinischen Argumenten, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und vornehmlich im 19. Jahrhundert zu den christlich-moralischen hinzukamen und sie teilweise ablösten161 – «weiterhin als unsittlich oder wurden von christl. Sexualethikern

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Cf. im Original: «Nos autem naturam sequamur et ab omni, quod abhorret ab oculorum auriumque approbatione fugiamus» (De officiis I, 35, 128 – 2003a, 112). Cf. im Original: «Nolo dici morte Africani ‹castratam› esse rem publicam, nolo ‹stercus curiae› dici Glauciam» (De oratore III, 164 – 2003b, 548). Zur Perpetuierung in der frühen Neuzeit cf. supra in 5.2.1.2 (p. 210s.) della Casa (Galateo XXII – 1993, 53s.), demzufolge unter den Synonyma für den Geschlechtsakt, für die Konkubine und für die Prostituierte die jeweils ehrenhafteren Bezeichnungen vorzuziehen seien, oder seine Aufforderung, «parole gentili e modeste, e dolci sì che niun amaro sapore abbiano» (Galateo XXII – 1993, 54) zu verwenden. Angelegt ist diese bereits in der Antike, wo sie sich «nicht wie später im Christentum aus Sündenfluch und Sündenstrafe ab[leitet], sondern vorwiegend aus medizinischen Vorstellungen» (Ranke-Heinemann 1989, 13) als gesundheitsaffizierend, wie sie z.B. Xenophon, Platon, Aristoteles oder Hippokrates beschreiben (cf. 1989, 14). Cf. dazu Foucault, der die Diététique, neben der Économique und der Érotique als eine der «trois grands arts de se conduire, des trois grandes techniques de soi» im Gesamtzusammenhang der griechischen Moralvorstellungen zur Sexualität einordnet (z.B. 1984a, 275s.). Eine besonders negative Bewertung geschieht in den beiden nachchristlichen Jahrhunderten durch die Philosophenschule Stoa und wird durch die Bewegung der Gnosis nur verstärkt. Hauptverantwortlich für die christliche Sexualethik ist dann Augustinus, dessen Gedanken die Theologie des Mittelalters prägten und sich auch in dem durch Blaise Pascals Lettres provinciales popularisierten, bis ins 19. Jahrhundert im u.a. in Frankreich bestimmenden Jansenismus finden (cf. Ranke-Heinemann 1989, 81–104 und 273–178). Cf. als Quelle Paulus (in 1Kor 6,9) und als Sekundärtexte u.a. Greif (2000, 547) in MLA, Kreß (2000, 1884) in RGG oder Banner (2000) in TRE. Cf. supra 238s. und die Beispiele bei Muchembled unter «semence gâchée, mort assurée» (2005, 237–249). Im Gegensatz zum biblisch vermittelten Fortpflanzungsauftrag heißt es jetzt: «Die Sorge um Gesundheit der Kinder und damit auch die späterer Generationen führte zur ersten sexuell motivierten nervösen Krankheit im

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als Sexualstörungen pathologisiert»; so brandmarkt die römisch-katholische Kirche «z.B. die Masturbation nach wie vor als ‹eine in sich schwere ordnungswidrige Handlung›» (2004, 1252). Auch auf diesem Hintergrund sind Euphemismen wie fr. attouchement, mauvaises habitudes und it. toccarsi, buscherare zu sehen, wobei sicher ebenso das Schamgefühl eine wichtige Rolle spielt, das seit der Renaissance in Bezug auf sexuelle Themen zunehmend ausgeprägt erscheint. Angesichts der vielen Euphemismen zum Thema sei an dieser Stelle auch die Prostitution berücksichtigt und zunächst festgehalten, dass der Übergang zwischen einer freundschaftlichen Beziehung und käuflicher Liebe im griechisch-römischen Altertum oft fließend war, wie der Begriff der Hetäre zeigt, der teilweise vergleichbar mit der französischen Kurtisane und der japanischen Geisha ist. Gr. ἑταίρα bedeutet ‘Gefährtin’ und wurde früher offenbar zu Unrecht als Euphemismus betrachtet, denn das Verhältnis eines Mannes zu einer Hetäre basierte nach heutiger Erkenntnis und im Gegensatz zum unpersönlichen Umgang mit einer Prostituierten tatsächlich auf einer Freundschaft.162 Darüber hinaus kennt aber bereits die Antike viele, den heutigen Euphemismen vergleichbare Bezeichnungen für Frauen, deren Tätigkeit oft fälschlicherweise163 als das älteste Gewerbe der Welt (fr. le plus vieux métier du monde; it. la professione più antica del mondo) bezeichnet wird. Sie verweisen

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Abendland, dem Komplex der durch Masturbation verursachten Krankheiten, dem all die nervösen Sexualleiden des 19. Jh. folgten» (Braun 2004, 1254). Im Prozess der Theoretisierung der Lust ist dann, vor allem nach Freud, «S[exualität] mit ihrer Zentrierung auf das Schicksal der Lust im Individuum und auf die Notwendigkeit sexueller Befriedigung bei Zurücktreten der Fortpflanzungsfunktion (Pille) als diejenige Geschlechtsordnung zu betrachten, welche sich in der Ablösung von einer bibl. vermittelten Geschlechtlichkeit im Säkularisierungsprozeß der westlichen Gesellschaften im 19. und 20. Jh. ergeben hat» (Braun 2004, 1254s.). Cf. E. Hartmann (1998a) und auch Ringdal: «Im 5. Jahrhundert v.Chr. […] führten die Frauen ein langweiliges und züchtiges Leben zu Hause […] Der Volksredner Demosthenes brachte es auf den Punkt, als er feststellte, die griechischen Männer seiner Zeit hätten ‹Hetären für die Freude, Konkubinen für die Pflege des Körpers und Ehefrauen, um eine legitime Nachkommenschaft und einen ordentlich geführten Haushalt zu gewährleisten›. Die einzigen weiblichen Personen, die von den Männern des klassischen Griechenlands als nahezu gleichwertig akzeptiert wurden, waren geschulte Luxusprostituierte, die Hetären» (2006, 72s.). «Die Behauptung, daß die Prostitution ‹das älteste Gewerbe der Welt› sei, ist ein Gemeinplatz, aber keine fundierte Theorie» (Ringdal 2006, 19). «Anthropologen und Geographen kennen zahlreiche Gesellschaften ohne Prostitution – definiert als Tausch von Sex gegen Geld oder konkrete Wertgegenstände. Prostitution ist auch kein unumgängliches, ‹notwendiges› Entwicklungsphänomen, dies zeigen die ältesten Ackerbauzivilisationen. Die Hochkulturen Ägyptens, Chinas und des Indus-Deltas sind beinahe so alt wie die Mesopotamiens, und überall dort gab es mindestens zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung Beamte, eine Priesterschaft und ein Schrift- und Geldsystem. Aber Prostitution kann in all diesen Zivilisationen erst sehr viel später nachgewiesen werden. […] längst ist erwiesen, daß Prostitution ein spezifisches Kulturprodukt ist, das in einer Hochkultur entstand

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wie gr. γέφυρις ‘Brückensteherin’ oder lat. prostituta zu prostituere ‘draußen auf der Straße stehen’ auf den Standort (cf. z.B. fr. fille des rues, it. donna di strada), ferner auch auf die Käuflichkeit wie lat. meretrix zu merere ‘verdienen’ oder gr. πόρνη zu πέρνημι ‘verkaufen’ (cf. z.B. fr. marchande d’amour, it. venditrice d’amore) sowie auf die öffentliche, allgemeine Verfügbarkeit wie in lat. publica ‘Öffentliche’ (cf. fr. fille publique, it. donna pubblica) oder gr. δῆμος und κοινή ‘Gemeine’ (zu den griechischen Bezeichnungen cf. E. Hartmann 2001, 452). Unter den weiteren Bezeichnungen aus den Korpora kann it. donna galante oder mondana teilweise mit der Hetäre verglichen werden, da sie ähnlich wie das bei della Casa für ‘meretrici’ empfohlene femmina di mondo oder älteres cortegiana (> fr. courtisane) eine Aussage über Bildung und Sozialprestige bzw. Umgang in besseren Kreisen reflektierten.164 Im Frankreich der Zeit Zolas ist die Prostitution ohnehin «spezialisierter, stärker nach gesellschaftlichen Schichten und Klassen getrennt» (Ringdal 2006, 289), wie es der Roman Nana plastisch vor Augen führt. Dementsprechend konnten sich wohlhabende Kunden in einer maison de rendez-vous (cf. auch it. casa di appuntamenti) «der Illusion hingeben, sich nicht im Bordell zu befinden, sondern in einer Wohnung, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich sah», während fr. maison de tolérance (cf. it. casa di tolleranza) die Standardbezeichnung für ein «organisiertes Bordell» war, das es «in allen Preisklassen und Kategorien» gab.165 Bezeichnungen wie it. peripatetica und donna di facili costumi, aber auch una di quelle, donnina allegra; fare la vita, fare il mestiere beschreibt Beccaria zwar als antiquiert (2006, 48), für lucciola attestiert er aber eine Renaissance,166 und insgesamt ist der Begriff der Prostituierten, wie beide Korpora zeigen, besonders reich an euphemistischen Bezeichnungen, die prozentual gegenüber entsprechenden Dysphemismen deutlich überwiegen:167 «Im Gesamtinventar von it. PROSTITUTA treten 356 Euphemismen und Dysphemismen auf, was 55,19 % entspricht. Dabei entfallen auf den Euphemismus 69,66 % = 248 Lexeme und auf den Dysphemismus 30,38 % = 108 Lexeme» (Radtke 1980, 196).

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– in Mesopotamien – und sich erst dann in den umliegenden Kulturen verbreitete» (2006, 21). Cf. 3.2.5r (p. 65 n. 91); in fr. courtisane sieht Nyrop «un témoignage intéressant des mœurs qui régnaient à la cour des derniers Valois» (1913, 302). Ringdal (2006, 289). Fr. maison de passe bezeichnet das unregistrierte Stundenhotel, in das die fille des rues ihre Kunden führt. Cf.: «Ma torniamo al ritegno, motivo per il quale talvolta vengono rinverdite parole che sembravano tramontate. Sui giornali è recentement ricomparso lucciola, non nel senso dell’insetto che girovaga di notte, ma lucciola per prostituta di strada» (2006, 48). Cf. z.B. gr. σποδησιλαύρα ‘Gossenfegerin’, lat. lupa ‘Wölfin’ (ohne nähere Erklärung) (E. Hartmann 2001, 452).

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Abschließend sei vermerkt, dass unter den sieben Todsünden im Hinblick auf euphemistische Umschreibungen luxuria besonders ergiebig ist,168 auch wenn z.B. H. Ernst für Deutschland eine «allgemeine Lustlosigkeit» als «Folge einer überdrehten Sexualisierung» feststellt, welche die Gültigkeit des Augustinischen «Peccatum poena peccati» unterstreicht (2006, 240) und damit auf eine geringere euphemistische Relevanz hindeutet: «Zwar wissen wir heute mehr über Sexualität, über ihre vielen Spielarten und Möglichkeiten, wir sind von kirchlichen Vorschriften und moralischem Ballast weitestgehend befreit, und doch ist die Sexualität nicht mehr die Wollust, von der die kirchlichen Asketen fantasierten und die die Moraltheologen in den Rang einer Todsünde erhoben. Die Trivialisierung oder Banalisierung, wenn man so will: die Entschärfung des Sex ist beängstigend. […] Heute ist Sex eine Erlebnisoption unter vielen, eine Vergnügungsmöglichkeit wie Reisen oder gutes Essen» (H. Ernst 2006, 239, 257).

Unter der Überschrift «zerdachte Lust» führt er aus: «Das Reden und Schreiben über Sexualität, über Lust und erotisches Begehren hat zugenommen. Diese Reflexivität ist das Merkmal der so genannten Postmoderne: Das permanente Überdenken und Sich-Positionieren in einem stark erweiterten Möglichkeitsraum mündet nicht selten in einer Hyperreflexivität, die das, was sie bedenkt, in Bedenken erstickt» (H. Ernst 2006, 244).

Dass diese Aussagen im Prinzip nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt sind, sondern die westliche Zivilisation im Allgemeinen betreffen, sei durch einen Beitrag Italo Calvinos aus dem Jahre 1969 zur Situation in Italien belegt: «Viviamo in un’epoca di tendenziale desessualizzazione; la lotta per l’esistenza nelle metropoli è tale da avvantaggiare l’asessualità; la mitologia sessuale a livello di mass-media ha una funzione di compensazione, di recupero di qualcosa che si sente già perduto o fortemente in pericolo» ([1969] 1980, 213s.).169

Bestätigt wird diese «desessualizzazione» in Frankreich durch Bologne, der eine «désexualisation du corps» und «apudeur» thematisiert (1986, 330), sowie durch aktuellere Ausführungen, die selbst eine «anoressia sessuale» thematisieren: «Se negli anni Ottanta era la paura dell’Aids, oggi sono lo stress e il nuovo narcismo, che invita al culto di se stessi, a trasformare molte coppie in coppie bianche e a spingere molti coniugi a parentelizzarsi, cioè a trasformarsi da amanti in

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Wenn auch in geringerem Maße, so sind natürlich auch superbia, invidia, avaritia, ira und acedia euphemistisch relevant, besonders aber gula und ihre im Rahmen der zunehmenden Rücksichtnahme beschönigten Folgen. Doch cf. zum Ideal in der Literatur: «In letteratura la sessualità è un linguaggio in cui quello che non si dice è più importante di quello che si dice» ([1969] 1980, 211).

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fratelli: nascono così le dins (dual income, no sex), l’equivalente ‹in bianco› delle dinks […]. Non è proprio una malattia, piuttosto una svogliatezza, una sorta di disappetenza. E poiché tra il corpo che rifiuta il cibo e il corpo che rifiuta il sesso esiste un legame intuitivo e profondo, si parla anche, non a caso, di anoressia sessuale» (Bencini/Manetti 2005, 219).

5.2.4.2 Nacktheit und Prüderie In Ciceros De officiis wird vom menschlichen Körper gesagt: «Zunächst scheint schon die Natur viel Sorge auf unseren Körper verwendet zu haben. Denn sie hat unser Gesicht und die übrige Erscheinung, soweit sie ehrenvolles Aussehen hat, sichtbar vor Augen gestellt, die Körperteile aber, die, zur natürlichen Notdurft gegeben, ein unschönes Aussehen haben sollten, verdeckte und verbarg sie. Dieses so sorgsame Walten der Natur hat der Anstand der Menschen nachgeahmt. Was nämlich die Natur verborgen hat, das halten auch alle, die recht bei Verstand sind, den Augen fern, und sie bemühen sich, dem Bedürfnis möglichst heimlich zu genügen. Und die Körperteile, deren Funktionen notwendig sind, nennen sie ebensowenig wie die Funktionen beim eigentlichen Namen, und was zu tun nicht schändlich ist, wenn es nur im Verborgenen geschieht, das zu nennen ist anzüglich» (I, 35, 126s. – 2003a, 111).170

Ebenso verweist Cicero auf das Berufsethos der Schauspieler, die die Bühne nicht ohne Untergewand betreten, aus Angst, dass gewisse Körperteile zufällig entblößt werden und einen wenig schicklichen Anblick bieten könnten (I, 35, 129 – 2003a, 113). Für das Christentum ist die Grundlage für die Scham aus moralischer Sicht natürlich die Bibel mit Stellen wie: «Du sollst auch nicht auf Stufen zu meinem Altar hinaufsteigen, dass nicht deine Blöße aufgedeckt werde vor ihm» (Ex 20, 26), und ähnlich empfiehlt Erasmus in der frühen Neuzeit, in der das Schamgefühl wieder akzentuiert wird, keine Nacktheit zu zeigen (cf. supra p. 237s.), und da alles, das sich für die Augen «deshonnestement» präsentiert, auch für die Ohren «indecentement» klingt, gegebenenfalls «vng desguisement modeste», also einen Euphemismus zu verwenden: «l’enfant ne mesle point sa langue parmy paroles villeines, & qu’il n’y preste point l’oreille. Finablement a tout ce qui se descouure deshonnestement aux yeulx des hommes, & se presente indecentement a leurs oreilles. Si le cas requiert qu’il

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Die hier wichtigste Stelle lautet im Original: «quarumque partium corporis usus sunt necesarii, eas neque partes neque earum usus suis nominibus appellant, quodque facere non turpe est, modo occulte, id dicere obcenum est» (I, 35, 127 – 2003a, 110). Cf. ähnlich auch wieder bei Courtin: «De même la nature aiant voulu cacher certaines parties de nôtre corps, & certaines actions; le consentement & l’usage s’accordent tellement à les tenir cachées pour garder l’honnêteté, que celui-là passeroit pour le plus deshonnête du monde, qui découvriroit publiquement ce qui ne se doit point découvrir, ou feroit quelques actions, & profereroit quelques paroles, pour les exprimer, contre l’honneur, pour ainsi dire, & la pudeur de la nature» (Civilité III – 1671, 14s.).

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faille nommer quelque membre honteux, il le fault signifier par vng desguisement modeste»(Erasmus 1537, 71rs.).

Auch hier setzt Erasmus eine Empfehlung Ciceros fort, der in den Epistulae schrieb: «Caudam antiqui ‹penem› vocabant, ex quo est propter similitudinem ‹penicillus› at hodie ‹penis› est in obscenis» (Epistulae 9, 22,2 – 1982, 288).

Lat. membrum in dieser Bedeutung ist denn auch im Lateinischen gut belegt, was die zahlreichen unter membrum «de partibus genitalibus» im ThLL genannten Stellen (1936–66, 636s.) eindrucksvoll belegen. Auch della Casa (1558) äußert konkret und deutlich, dass es schändlich ist, sich in der Öffentlichkeit an bestimmten Körperteilen anzufassen: «E perciò sconcio costume è quello di alcuni che in palese si pongono le mani in qual parte del corpo vien lor voglia» (Galateo III – 1993, 6).

Und konkreter noch erklärt er, dass man sich in guter Gesellschaft nicht die Hose ausziehen solle, da sich nicht nur derjenige, der die Körperteile entblößt, derer schämen könnte, sondern auch derjenige, der sie sieht: «Non si dee alcuno spogliare, e spezialmente scalzare, in pubblico, cioè là dove onesta brigata sia; ché non si confà quello atto con quel luogo e potrebbe anco avvenire che quelle parti del corpo che si ricuoprono si scoprissero con vergogna di lui e di chi le vedesse» (Galateo XXX – 1993, 74).

Dabei ist jedoch unterschieden, wer sich gegenüber wem wie zu verhalten hat, denn gegenüber dem Hausgesinde oder einem Freund geringeren Standes kann das Nicht-Bedecken durch die Kleider beim Sitzen sogar Ausdruck einer besonderen Liebe und Freundlichkeit sein (cf. dazu auch Elias 1997a, 279): «Oltre a ciò non si vuol l’uom recare in guisa che egli mostri le spalle altrui, né tenere alto l’una gamba sì che quelle parti che i vestimenti ricuoprono si possano vedere: perciocché cotali atti non si soglion fare se non si tra quelle persone che l’uom non riverisce. Vero è che se un signor ciò facesse dinanzi ad alcuno de’ suoi famigliari, o ancore in presenza d’un amico di minor condizione di lui, mostrerebbe non superbia ma amore e dimestichezza» (Galateo VI – 1993, 13).

Unter Standesgleichen sind aber bestimmte Körperteile171 aufgrund des sich immer stärker manifestierenden Schamgefühls tabuisiert und dies geht sogar soweit, dass auch die durch eine Handlung provozierte Vorstellung von ihnen gebrandmarkt wird.172 Es liegt nahe, dass auch direkte Bezeichnungen 171 172

Die Sexualorgane gehören schon in der Antike zu den euphemistisch besetzten Themen (cf. Flury 1998, 264). «Perciocché non solamente non sono da fare in presenza degli uomini le cose laide o fetide o schife o stomachevoli, ma il nominarle anco si disdice; e non pure il

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der Nacktheit (daher fr. costume d’Adam, it. costume di Adamo) und speziell der Sexualorgane und des Gesäßes die Vorstellung davon in ungeziemender Weise hervorrufen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich auch heute noch auf diesem Gebiet eine größere Anzahl von Euphemismen finden. Unter den von Radtke zusammengestellten Bezeichnungen für ‘membro virile’ ist der Anteil von Euphemismen/Dysphemismen mit 70,6 % beispielsweise noch höher als im Bereich von ‘prostituta’: «[…] i campi semantici contano per ‹prostituta› 356 eufemismi e disfemismi (= 55,19 %), per ‹membro virile› 269 (= 70,60 %)» (Radtke 1983, 391ss.).

Calvino hingegen spricht von einer «Laisierung» obszöner Wörter: «C’è un atteggiamento diciamo di ‹laicizzazione› delle parole oscene, nel senso di impiegarle né più né meno come si adopera qualsiasi sostantivo di cosa concreta o verbo d’azione, dissolvendone l’alone sacrale» ([1978b] 1980, 304).

und schreibt speziell zu cazzo, dass es seine Ausdruckskraft und damit seine Stellung als «bene nazionale» nicht durch automatisierten Gebrauch verlieren solle: «La nostra lingua ha vocaboli di espressività impareggiabile: la stessa voce ‹cazzo› merita tutta la fortuna che dalle parlate dell’Italia centrale le ha permesso di imporsi sui sinonimi dei vari dialetti. Anche nelle altre lingue europee mi pare che le voci equivalenti siano tutte più pallide. Va dunque rispettata, facendone un uso appropriato e non automatico; se no, è un bene nazionale che si deteriora, e dovrebbe intervenire ‹Italia Nostra›» (Calvino [1978b] 1980, 304).

Doch ist die Tendenz der «Laisierung» auch 2006 ungebrochen: «[…] le parolacce oggi hanno gran corso. Nel linguaggio dei giovani (anni Settanta e seguenti) c’è stata una esplosione delle parole interdette. Dopo di allora pure la signora della buona società comincia a dire ‹cazzo›, modellando il suo linguaggio su quello maschile. La forza con cui le parolacce venivano prima represse è pari alla forza con cui esse cominciano ad affiorare a ogni piè sospinto. Oggi poi non c’è gioia e dolore, sorpresa e perplessità, negazione e affermazione, rabbia, delusione o entusiasmo che non sia espresso dai più con cazzo o con minchia, o miii... espressioni tuttofare che a seconda dell’intonazione esprimono sorpresa, stupore, meraviglia, disappunto, ira, sconforto, approvazione. Il verbo incazzare173 lo usano anche i bambini, lo senti nelle scuole di ogni ordine e grado. È entrato pure nel titolo di uno dei libri più venduti nell’81, Anche le formiche nel loro piccolo si incazzano. I grandi comunicatori pensano che queste parole-spinta producano udienza» (Beccaria 2006, 51).

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farle e il ricordarle dispiace, ma eziandio il ridurle nella imaginazione altrui con alcun atto suol forte noiar le persone» (Galateo III – 1993, 6). Auch an weitere Ableitungen von cazzo habe man sich inzwischen gewöhnt: «‹Cazzata›, pronunciato a Fantastico (sabato 17 ottobre 1987) da Celentano fece scalpore, ma oggi, anche se non proprio elegante, non suona più trasgressivo» (Beccaria 2006, 52).

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Generell meint Beccaria zur augenblicklichen Situation und ihrer Genese, dass Schimpfwörter heute nicht mehr skandalisierten, sondern bei jeder Gelegenheit (als Füllwort) passend seien: «[…] il fiume di parolacce non nasce più da poveracci emarginati e disperati, o da un atteggiamento polemico nei riguardi della società. Il linguaggio trasgressivo era negli anni della contestazione usato per scandalizzare, per protestare, contro la scuola, la famiglia, l’autorità, l’istituzione. Adesso è diventato uno riempitivo, un rumore, buono a tutte le ore e per ogni occasione» (2006, 53).

Ebenso wie schon Calvino bedauert auch Beccaria diese Entwicklung, die er als Armutszeugnis der Kommunikation betrachtet: «A me invece la parolaccia sembra per la verità una concitazione fastidiosa, oltre che triste, indice di disperazione e di solitudine, incapacità di comunicare, una corsa verso l’annullamento di sé, un segno di sfiducia nei sentimenti nei rapporti interpersonali» (2006, 53).

Außersprachlich wird der Ausverkauf obszöner Ausdrucksweisen in Italien durch das vergleichweise große Angebot entsprechend gestalteter cazzini und minchiette italienischer Pasta-Hersteller komplettiert, das nur bedingt mit den historisch verwurzelten Bezeichnungen der Konfitüre Couille(s) du pape oder der Süßware Tétons de la Reine Margot vergleichbar ist. Mit u.a. it. cacchio(!), cazzica, cavolo(!), cappero, capperi!, caspita!, caramba!, kaiser, corno schlägt sich die hohe Frequenz von cazzo gleichzeitig in einer Vielzahl von Euphemismen im italienischen Korpus nieder, die durch weitere für coglioni wie corbelli oder cordoni ergänzt ist und im Französischen ihresgleichen sucht, während nur die vageren Ausdrücke fr. bas-ventre, entrecuisse; it. bassoventre, parti basse in beiden Korpora lexikographisch markiert sind. Ferner finden sich im italienischen Korpus it. tubo und manico sowie als weibliche Entsprechungen it. fessura sowie Ableitungen von fresca, die im französischen Korpus in dieser Art fehlen. Dabei ist die Anstößigkeit von fr. con z.B. auch Shakespeare (sowie einem Teil174 des englischen Publikums) bekannt, was ein Wortspiel aus Henry V (1599) illustriert. Die Tochter des französischen Königs Karls VI. und spätere Gemahlin Heinrichs V., Katherine, versteht hier die nicht standardgemäße Aussprache von engl. gown als fr. con:

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Auf eine geringere Bekanntheit von fr. con in England lässt folgende Anmerkung schließen: «F’s spelling Count may have originated in Shakespeare’s (or the compositor’s) wish to make the joke clear to English audiences (or readers) more familiar with the English word cunt than with the French word con». Ein dialektales count ist zu Shakespeares Zeiten unwahrscheinlich («The English vulgar pronunciation of ‹gown› as ‹gownd› is not recorded before the eighteenth century»), in der Quarto-Ausgabe steht durchwegs con (Craik in Henry V – Shakespeare 1995, 224).

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«Katherine: […] Comment appelez vous le pied et la robe? Alice: De foot, madame; et de coun. Katherine: De foot, et de coun? O Seigneur Dieu! ils sont les mots de son mauvais corruptible, gros, et impudique, et non pour les dames d’honneur d’user. Je ne voudrais prononcer ces mots devant les seigneurs de France pour tout le monde. Foh! De foot et de coun!» (Henry V 3, 4, 45–51 – Shakespeare 1995, 224).

Diese Stelle, in der das Wort con als «non pour les dames d’honneur d’user» beschrieben wird, zeigt sehr schön die Tabuisierung dieser direkten Bezeichnung, die später in der Bedeutung ‘imbécile, idiot’ allgegegenwärtig werden sollte. Für das Gesäß bringt das italienische Korpus mit it. fondoschiena, posteriore, parti basse, messere einige Ersatzausdrücke und auch ein Beispiel für die vollständigen Auslassung des tabuisierten Zeichens im Schimpfwort vaffa!, das insbesondere durch den vom italienischen Komiker Beppe Grillo aus Protest gegen die politische Führung Italiens initiierten Vaffa-Day (V-Day, Vaffanculo-Day) europaweit bekannt geworden ist (cf. u.a. Tzermias 2007). Nur wenige Euphemismen finden sich im französischen Korpus, obwohl Nyrop (1913, 295) von «un très grand nombre d’euphémismes surtout plaisants» im «parler populaire» spricht und Colin «quelque 350 manières, brèves ou développées, provocantes ou voilées» nennt, «de désigner ce que la vieille langue ‹françoise› appelait tout bonnement le cul, sans songer forcément à mal» (1989, 7). Seine (allerdings ohne den Einbezug der Erstdatenforschung und ohne philologisch-historischen Ehrgeiz gemachte) Zusammenstellung Le dico du cul leitet er mit den Worten ein, die unter dem genannten Vorbehalt dieses Thema resümieren: «Il nous a semblé amusant et instructif de montrer [...] que la langue française n’a cessé, à chaque époque et à tous les ‹niveaux de langues› possibles, de tourner autour de cette réalité biologique, soit pour l’escamoter sous l’ellipse, soit pour l’euphémiser dans le langage ‹bon chic bon genre›, soit pour la magnifier dans des images rhétoriques, soit enfin pour accentuer, dans un registre argotique ou scatologique, le plaisir de dire le défendu, de se défouler verbalement dans une liberté grande...» (Colin 1989, 7).

Offenbar stärker tabuisiert als in der Alltagssprache sind gewöhnliche Ausdrücke für das Gesäß in der Kunstgeschichte, so dass hierfür ein eigener Gräzismus fr. callipyge, it. callipigio, -a (< gr. καλλίπυγοϛ) existiert, der zunächst zu seiner Bezeichnung bei der Venus gebraucht wurde und in Antonomasie auch für sie selbst stehen kann: «Come avrebbero potuto i manuali di storia dell’arte parlare di Venere ‹dal bel sedere› o ‹dalle belle chiappe›…! Al massimo un toscano avrebbe detto ‹dalle belle mele›. Per Venere si è preferito usare, con un colto eufemismo, una parola greca, Venere callipigia» (Beccaria 2006, 48).

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5.2.4.3 Der weibliche Lebenszyklus zwischen Dämonisierung und Normalität Es ist schon verschiedentlich erwähnt worden (cf. 2.2.3, 5.2.4 einleitend), dass traditionell Frauen Tabus im Bereich von Religion, Anstand und Rücksichtnahme mehr beachten als Männer und entsprechende blasphemische, vulgäre oder beleidigende Ausdrucksweisen im Allgemeinen eher meiden. So ist z.B. für Tagliavini im Jahre 1938 noch das Schamgefühl, das Frauen unanständige Ausdrücke vermeiden lässt, einer der Faktoren, die die Attraktivität des weiblichen Geschlechts ausmachen: «Solo alcuni autori troppo modernisti e con una morale di manica troppo larga ritengono che la donna dovrebbe sbarazzarsi di questi ‹pregiudizi›. Per es. per il ben noto scrittore pornografico Pitigrilli l’ideale sarebbe se una ragazza a cui si domanda ‹perché non fai il bagno oggi?› rispondesse ‹perché ho le mestruazioni› invece di dire ‹non mi sento bene› ecc.» (Tagliavini 1938, 139s.).

Doch wie das voranstehende Zitat zeigt, ist neben den bereits erwähnten Bezeichnungen im Bereich von Sexualität und Körperteilen auch der weibliche Lebenszyklus selbst Gegenstand euphemistischer Ausdrucksweisen: «La donna, i suoi stati fisiologici, la verginità, la deflorazione, lo stupro, le mestruazioni, la gravidanza, il parto, l’aborto, la prostituzione coprono da soli un’ampia fetta del lessico eufemistico, molto più di quanto non lo faccia la terminologia di ambito maschile» (Marcato 1988, 242).

Auch dabei unterscheiden sich die Bezeichnungen je nach Geschlecht nicht nur des Sprechers, sondern auch des Adressaten: «Anche per l’italiano contemporaneo, si può parlare di eufemismi tipici delle donne. Tra essi v’è più di una possibilità di scelta di sostituzioni, soprattutto per quanto riguarda l’interdizione sessuale. In una conversazione tra donne invece di mestruazioni si useranno sostituti del tipo le mie cose o mal di panza, di fronte ad uomini non se ne parlerà finché possibile oppure vi si accennerà come ad un’indisposizione (è indisposta)» (Galli de’ Paratesi 1964, 25; 1969, 34s.).

Die Zitate zeigen bereits, dass unter den genannten weiblichen biologischen Besonderheiten dem Regelzyklus wohl aus einem Schamgefühl heraus als «the object of the strictest taboos in societies all around the world»175 besondere Aufmerksamkeit gilt. «So galt die Menstruation bereits in den archaischen Heilkulturen als normaler Prozeß der Säftereinigung» (Schipperges 1993, 96) und dementsprechend «als Quelle der Unreinheit. Kontakt war unbedingt zu vermeiden. […] Nicht nur das Blut, sondern die ganze Frau galten als unrein» (Balle 1990, 134). Im Alten Testament (Lev 15, 19–33) wird ausführlich die Unreinheit menstruierender Frauen beschrieben:

175

Ayto (2000, 194). Zur Verbreitung dieses Tabus bei Urvölkern cf. u.a. Webster (1942, 82–93).

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«(19) Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend. (20) Und alles, worauf sie liegt, solange sie ihre Zeit hat, wird unrein und alles, worauf sie sitzt, wird unrein […] (28) Wird sie aber rein von ihrem Blutfluss, so soll sie sieben Tage zählen und danach soll sie rein sein. (29) Und am achten Tage soll sie zwei Turteltauben oder zwei andere Tauben nehmen und zum Priester bringen vor die Tür der Stiftshütte» (Lev 15, 19/20/28/29).

und – wie für die meisten in Levitikus genannten Vergehen – auch bei diesem die Todesstrafe angedroht, was mit der Sorge um gesunde Nachkommenschaft begründet werden kann:176 «Wenn ein Mann bei einer Frau liegt zur Zeit ihrer Tage und mit ihr Umgang hat und so den Brunnen ihres Blutes aufdeckt und sie den Brunnen ihres Blutes aufdeckt, so sollen beide aus ihrem Volk ausgerottet werden» (Lev 20, 18).

Aus jüdisch-feministischer Sicht erklärt Rashkow diese wie andere Stellen aus dem Levitikus mit patriarchalischen Strukturen: «From the perspective of patriarchal hierarchy and social control, the separation and confinement of women in general (especially those laws concerning menstruation, female genital discharge, and postnatal condition) as well as incest prohibitions serve to maintain social order and stability. In other words, when women’s lives seem to clash with their socially inferior status (that is, when they do something that men cannot, such as give birth), they are confined, and any contact with them is suspended until they are once again perceived as inferior to males. (Although seminal emission also renders males taboo, it is only for one day.) It is no doubt unfair to impose twentieth-century standards of ‹dirtiness› on the biblical construct of ritual purity; however, there is equally no doubt that these laws had the effect of preventing women from participating in sexual activities for a significant portion of their lives» (Rashkow 2000, 36).

Doch ist anzumerken, dass die Vorschriften des Levitikus eine allgemeine, in der einen oder anderen Weise bis heute in vielen Zivilisationen177 und in

176

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Ranke-Heinemann resümiert: «Von der giftigen Wirkung des Menstruationsbluts waren im Altertum Juden und Heiden in gleicher Weise überzeugt» (1989, 25); angenommene Auswirkungen reichten von der Zerstörung des Samens bis hin zur Zeugung kranken Nachwuchses; cf. den römischen Naturwissenschaftler Plinius: «cum gravidis fluxit, invalidi aut non vitales partus eduntur aut saniosi, ut auctor est Nigidius» (Hist. nat. VII, 15,66 – Plinius Secundus 1909, 23) – «Wenn daher Schwangere diesen Fluß noch haben, so kommen schwache, nicht lebensfähige oder eiterige Kinder zur Welt, wie Nigidius behauptet» (Plinius Secundus 1987, 118). Derartiges Gedankengut wird dann auch von frühen Kirchenvätern (Clemens Alexandrinus, Origenes, Hieronymus) bis hin zu Theologen des 13. Jahrhunderts wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin vertreten und sollte erst in den folgenden Jahrhunderten langsam aufgegeben werden (cf. Ranke-Heinemann 1989, 25s.). Neben der Präsenz in der Antike sei auch an den Glauben mancher Urvölker sowie an bis heute wirksame Vorgaben für japanische Zeremonielle erinnert.

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allen Hochreligionen präsente178 Haltung der damaligen Zeit widerspiegeln, in der sich wohl auch ein aus einer geringen Kenntnis der weiblichen Biologie erklärbares angstbedingtes Tabu179 des Menstruationsbluts zeigt. Dessen ungeachtet wurden die entsprechenden Stellen aus dem Levitikus auch in späteren Zeiten zur Rechtfertigung eines Ausschlusses180 von Frauen instrumentalisiert, und zwar – obwohl Levitikus seit Christus v.a. im Judentum Beachtung findet – bei Bedarf auch vom Christentum. So «[…] wurden auch in der Gesch[ichte] des Christentums die Reinheitsvorschriften des Lev[itikus] herangezogen, um den Ausschluß von Frauen aus dem Sakralraum und aus sakralen Handlungen zu begründen» (Franke 2002, 1101).

Bei den Griechen wurde unter Hippokrates die Menstruation zwar noch relativ positiv als Zeichen der Gesundheit und Reife einer Frau angesehen und ihr Vorkommen – wenn auch falsch – immerhin medizinisch-rational neutral erklärt:

178 179

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Cf. z.B. den Islam, wo menstruierende Frauen nicht «zu Gott sprechen» dürfen. Cf. bei Isidor: «mulier solum animal menstruale est. Cuius cruoris contactu fruges non germinant, acescunt musta, moriuntur herbae, amittunt arbores fetus, ferrum rubigo corripit, nigrescunt aera. Si qui canes inde ederint, in rabiem efferuntur» (Etymol. XI, i, 141) – «die Frau ist das einzige Lebewesen, das die Menstruation kennt. Der Kontakt mit ihr lässt Früchte nicht keimen, Blüten verwelken, Gräser absterben, Eisen rosten, Erze schwarz werden; Hunde, die davon nehmen, bekommen die Tollwut» (Übersetzung der Verfasserin); seine Anmerkungen erinnern stark an den supra bereits erwähnten Plinius, der die giftige Wirkung des Menstruationsblutes in aller Ausführlichkeit beschreibt; cf. «sed nihil facile reperiatur mulierum profluvio magis monstrificum. acescunt superventu musta, sterilescunt tactae fruges, moriuntur insita, exuruntur hortorum germina, fructur arborum, quibus insidere, decidunt, speculorum fulgor aspectu ipso hebetatur, acies ferri praestringitur, eboris nitor, alvi apium moriuntur, aes etiam ac ferrum robigo protinus corripit odorque dirus aera, et in rabiem aguntur gustato eo canes atque insanabili veneno morsus inficitur» etc. (Hist. nat VII, 15, 64 – Plinius 1909, 22s.) – «Aber nicht leicht wird man etwas finden, was wunderbarere Wirkung hervorbringt als der Blutfluß der Weiber. Kommen sie in diesem Zustande in die Nähe von Most, so wird er sauer, die Feldfrüchte werden durch ihre Berührung unfruchtbar, Pfropfreiser sterben ab, die Keime in den Gärten verdorren, und die Früchte der Bäume, unter denen sie gesessen haben, fallen ab. Der Glanz der Spiegel wird durch ihren bloßen Blick matt, die Schneide eiserner Geräte wird stumpf, das Elfenbein verliert seinen Glanz, ja sogar Erz und Eisen rosten und bekommen einen üblen Geruch; Hunde, die davon lecken, werden wütend, und ihr Biß wird dadurch zum unheilbaren Gifte» (Plinius 1987, 117). In diesem Zusammenhang sei neben der mittelalterlichen Diskussion um die Zulassung der menstruierenden Frau zur Kommunion an die Vorschriften gegenüber Wöchnerinnen (Lev 12) und die geforderte «Notwendigkeit» einer – nach RankeHeinemann bis in die 1960er Jahre praktizierten (1989, 30) – Aussegnung gedacht, «eine Verquickung von jüdischen Reinigungsgesetzen […] mit christlicher Anprangerung der Geschlechtslust und […] Diffamierung der Frau» (1989, 29).

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«Wegen der loseren Textur ihres Fleisches und ihrer sitzenden Lebensweise resorbieren Frauen, so glaubte man, mehr Flüssigkeit aus ihrer Nahrung, als es Männer tun, so daß sie das Blut, das daraus gebildet wird, regelmäßig ausscheiden müssen, um ihr inneres Säftegleichgewicht aufrechtzuerhalten» (King 1999, 1264).

Für Aristoteles war die Menstruation aber ein klares «Zeichen für Unvollkommenheit» der Frau, denn «nur den männlichen Körper hielt er für warm genug, um Blut zu Samen kochen zu können» (1999, 1264). Doch wurde zumindest in der klassischen Zeit nicht angenommen, dass von menstruierenden Frauen irgendeine Gefahr oder magische Kraft ausgeht, was sich erst in hellenistischer Zeit ändern sollte.181 Während auch noch im heutigen Judentum – je nach Glaubensrichtung – unter Bezug auf Levitikus für menstruierende Frauen besondere Regeln gelten können, wurde im Christentum z.B. die Vorschrift des Kontaktverbotes von der Heilung einer menstruierenden Frau durch Jesus gebrochen (Mk 5, 25–34). Ein männliches Unbehagen gegenüber der Menstruation ist aber bis in die Neuzeit perpetuiert und zeigt sich – um nur die bereits gesehenen Ausdrücke zu nennen – bei den in PR markierten Ausdrücken fr. indisposition, être indisposée, ihren italienischen Äquivalenten indisposizione, indisposta, den im italienischen Korpus belegten Ausdrücken le cose oder giorni critici oder dem supra bei Tagliavini – und neben non stare bene auch im folgenden Zitat – genannten non sentirsi bene: «Parlare delle mestruazioni è fortemente interdetto: per questo non se ne accenna mai in presenza di uomini. Quando si sia costretti a farlo il sostituto è indisposizione. Si dirà quindi è indisposta o non si sente bene, non sta bene e nessuno domanderà di più» (Galli de’ Paratesi 1964, 82; 1969, 99s.).

Dass z.B. die auf dem Bild der Regelmäßigkeit basierenden Ausdrücke fr. règles, it. regole lexikographisch nicht markiert sind, mag auf eine Normalisierung und Enttabuisierung dieser Bezeichnungen im aktuellen Sprachgebrauch hindeuten. Doch existiert besonders in diesem Bereich des weiblichen Lebenszyklus eine Vielzahl weiterer indirekter Ausdrucksweisen; exemplarisch seien nur fr. les Anglais ont débarqué, les pompiers sont arrivés, it. è arrivato il marchese angeführt, die auf den Bildern des Besuches und der Farbe rot basieren.182 Ihr Fehlen im Korpus überrascht insofern wenig, als

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Cf. die leges sacrae, die es menstruierenden Frauen verbieten, den Tempelbezirk zu betreten, oder auch Plinius d.Ä., der «zahlreiche unheilvolle Kräfte des Menstrualblutes, wie z.B. die Kraft, Messer stumpf und Wein sauer zu machen» nennt (King 1999, 1265). Jungbluth/Schlieben-Lange nennen für den «kumulierend dargestellten Sprachgebrauch von Frauen (und Männern) unterschiedlicher regionaler und sozialer Herkunft des 20. Jahrhunderts» u.a. noch fr. affaires, carlets, carrelets, choses, drapeau rouge, fièvre rouge, histoire(s), fleurs rouges, traverser la mer rouge, avoir ses mois, recevoir sa famille, recevoir ses cousins, sauce tomate, avoir la visite (2001, 342).

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Jungbluth/Schlieben-Lange feststellen, dass viele der derartigen Ausdrücke nicht einmal in Spezialwörterbücher aufgenommen sind, «denn die meisten männlichen Autoren interessieren sich offensichtlich nicht für spezifisch weibliche Aspekte der Sexualität, außer wenn sie in Beziehung zum männlichen Geschlecht dargestellt werden» (2001, 342). Die historisch und traditionell hoch eingestufte Jungfräulichkeit ist nur mit fr. intacte in PR markiert festgehalten, während für die Schwangerschaft mit fr. position intéressante, it. stato interessante, in (dolce) attesa, portare (un figlio) in seno mehr indirekte Bezeichnungen markiert aufgenommen sind, obwohl heute darüber meist direkter gesprochen wird (cf. u.a. auch Ayto 2000, 85). Eine Tabuisierung der Wechseljahre erklärt sich – neben der allgemeinen Tendenz, nicht über Aspekte des weiblichen Lebenszyklus im Detail zu sprechen – durch den damit verbundenen Verlust der Fähigkeit zur Fortpflanzung, durch die die Frau lange Zeit definiert war. «Abhängig von den gesellschaftlichen Zuschreibungen wird das Klimakterium mehr od. weniger einschneidend erlebt; früher (u. in manchen Gesellschaften noch heute) gravierend infolge des Verlusts der Fortpflanzungsfähigkeit; inzwischen angesichts veränderter Rollenvorstellungen u. Lebensperspektiven weniger krisenhaft» (Dressler/Zink 2003, s.v. Klimakterium).

Hinzu kommt die Möglichkeit psychischer Veränderungen wie «Stimmungslabilität, Schlafstörungen, Depressionen u. Veränderungen der Libido» (Dressler/Zink 2003, s.v. Klimakterium), von denen man früher sogar annahm, dass sie – neben einer Klimakteriumspsychose – sogar eine besondere Anfälligkeit für kriminelle Handlungen auslösen könnten, d.h. «dass z.B. hormonelle Faktoren während des Klimakteriums eine psychische Instabilität u. damit eine besondere Neigung zu Straftaten (z.B. Diebstahl) begründen könnten» (Dressler/Zink 2003, s.v. Klimakteriumsdelikte), was Frauen während (und nach) den Wechseljahren erneut wenig positiv darstellte. Im Korpus finden sich fr. âge critique und retour d’âge. 5.2.4.4 Skatologie. Von der Unbefangenheit zur Scham Seit der griechisch-römischen Antike sind Latrinen zur gleichzeitigen Benutzung durch mehrere Personen bestens bezeugt; in Frankreich z.B. teilweise bis zur Revolution von 1789. Doch die Probleme beginnen mit der frühen Neuzeit, als die Faszination für Prachtbauten und deren Intérieur dazu tendiert, «les nécessités humiliantes du corps humain» zu verleugnen: «Ce n’est donc pas au Moyen Age que se pose le problème de la pudeur dans les toilettes, mais à partir du XVIe siècle: les latrines progressivement disparaissent des châteaux» (Bologne 1986, 155).

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Schlösser ohne Toiletten führten zwangsläufig zu katastrophalen hygienischen Zuständen: «En 1578, Henri III, écœuré, ordonnera que l’on brosse le château où il loge tous les jours, avant son lever. En 1606, Henri IV interdit tout délestage intempestif à Saint-Germain; le jour même où est édictée l’ordonnance, le dauphin est surpris à arroser le mur de sa chambre. Louis XIV n’aura qu’une solution pour échapper au déluge de merde qui inonde Versailles, le Louvre ou Fontainebleau: déménager tous les mois, renouer avec la vieille mode de la cour itinérante, pour qu’on puisse laver un château tandis qu’il en salit un autre» (1986, 155).

Doch angesichts dieser Situation sollte es zu einem Umdenken kommen: «La multiplication de l’excrément due à la suppression des lieux d’aisance entraîne un sursaut de pudeur à la fois chez le ‹chieur› [...] et chez celui qui le voit chier [...]. Car la mise entre parenthèses de nos virgules, qui s’achève au XIXe siècle, se manifeste dès le XVIe chez les moralistes chrétiens et dans les hautes sphères de la société» (1986, 156).

Da diese Verhältnisse ebenso die Sprache darüber betreffen, besteht für Bologne auch die Scham, «à nommer les ordures», erst – wie im Zitat schon erwähnt – seit dem 19. Jahrhundert (1986, 249). Doch gilt in der gesitteten Gesellschaft bereits seit dem 16. Jahrhundert eine sprachliche Tabuisierung bestimmter diesbezüglicher Verhaltensweisen. So schreibt z.B. Erasmus (1530) im Anschluss an die Ermahnung, obszöne Dinge zu umschreiben (cf. supra p. 252s.): «D’auantaige s’il eschet quelque chose qui puisse faire mal au cueur a l’escoutant, comme si quelqu’un parle d’ung vomissement, d’ung retret, ou de merde, qu’il prie premierement qu’il ne desplaise aux oreilles» (Erasmus 1537, 71v).

Im Galateo (1558) werden der Toilettengang als unanständig gebrandmarkt und selbst das sichtbare Händewaschen, da es auf den vorangegangenen Toilettengang hinweisen könnte: «Similmente non si conviene a gentiluomo costumato apparecchiarsi alle necessità naturali nel conspetto degli uomini; né, quelle finite, rivestirsi nella loro presenza. Né pure, quindi tornando, si laverà egli, per mio consiglio, le mani dinanzi ad onesta brigata; conciossiaché la cagione per la quale egli se le lava nella imaginazion di coloro alcuna bruttura» (Galateo Capo III – 1993, 6s.).

Sprachlich fällt auf, dass Erasmus bei diesem Thema unter gleichzeitiger Entschuldigung noch die direkten Bezeichnungen verwendet, während sich della Casa mit «necessità naturali» bereits euphemistisch ausdrückt und damit doch deutlich im skatologischen Bereich eine Vorstufe zu dem Verhalten bezeugt, dessen Durchsetzung Bologne erst im 19. Jahrhundert sieht. Insofern ist es vielleicht zu sehr vereinfachend, wenn Bologne trotz der von ihm auch selbst zitierten Stelle aus dem Galateo sagt: «Sous l’Ancien Régime la respectabilité ne s’accorde pas sur la conduite, mais sur la naissance; il en ira tout autrement au XIXe siècle, et les préceptes qu’assenaient

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obstinément et inutilement les manuels de civilité depuis trois siècles deviendront effectifs lorsqu’ils serviront à distinguer les honnêtes gens de la populace mal élevée...»(1986, 164).

Denn die ethisch-ästhetisch geprägte Grundhaltung, wie sie z.B. im Hôtel de Rambouillet im Sinne der Manierentraktate maßgebend war, wurde bereits von einem deutlichen Distinktionswillen getragen, ohne dass die dort versammelte Elite dem Geburtsadel angehört hätte (cf. supra 5.2.1.2). Doch sagt Bologne zu Recht, dass «tout d’abord le mot lui-même» (1986, 164) tabuisiert wird, wie dies im kultivierten Umgang bis heute der Fall ist, was nicht zuletzt die Beispiele aus dem französischen Korpus mercredi!, miel!, mince! oder le mot de Cambronne und les cinq lettres zeigen. Erst nach dem Wort verschwindet die Sache aus der Öffentlichkeit. Denn im Gegensatz zu den supra geschilderten Verhältnissen im Freien und in Gebäuden finden seit dem «prüden» 19. Jahrhundert (s.o. 5.2.3.1) Ort und Hygiene allmählich ihren festen Platz im Hause, zumeist in separaten oder wenigstens abgetrennten Toiletten, was auch in den Euphemismen fr. petit coin, petit endroit, it. quel posto, stanzino zum Ausdruck kommt. Die Frage, ob das veraltete (andare al) giardino noch frühere Gepflogenheiten reflektiert, muss hier offen bleiben, da es auch im öffentlichen Bereich, wo sich sowohl bei den «Tätern» als auch bei den Passanten als Reaktion auf die allgemeine Unsauberkeit in Paris (wohl nur bedingt vergleichbar dem heutigen Problem des Hundekots) ein zunehmendes Schamgefühl bemerkbar machte, seit dem 19. Jahrhundert öffentliche Toiletten für Männer gibt. Die Initiative geht auf den Präfekten Rambuteau zurück, der sie in Anlehnung an diejenigen, die Vespasian im antiken Rom installierte, mit fr. vespasiennes bezeichnete. Im Übrigen sind heute Toiletten zu Aushängeschildern gepflegter Wohnkultur geworden und nicht zuletzt in Restaurants ist deren besondere Ausstattung und sauberer Zustand Zeichen eines gehobenen Anspruchs geworden. Bei Verdauungsproblemen verwendet Erasmus in Bezug auf Blähungen lat. ventum, fr. vent, dessen Entweichen in Gesellschaft nach Möglichkeit zu vermeiden oder notfalls durch einen fingierten Husten zu verschleiern ist: «Il y en a qui commandent que l’enfant retienne la ventosité du ventre en serrant les fesses: mais certes ce n’est point chose ciuile en se voulant monstrer gracieux, s’engendrer vne maladie. S’il est licite de se detourner, qu’il le lasche estant apart soi. Aultrement selon l’ancien prouerbe, qu’il desguise le son en toussant. Ils deuroient defendre tout d’vne voye de ne point descharger le ventre, attendu qu’il est plus dangereux de retenir son vent, que restraindre le ventre» (Erasmus 1537, 60v).

Bis heute existieren viele Euphemismen in dieser Bedeutung, darunter in den Korpora fr. bruit incongru und it. vento.183 183

Es sei hier auch noch auf die supra (5.2.2.2) erwähnten Verdauungsbeschwerden Ludwigs XIV. und die euphemistischen Umgestaltungen zur Bezeichnung von deren Behandlung verwiesen.

263

Aus sprachlicher Sicht ist es rückblickend wichtig, dass die skatologischen Ausdrücke, die vorher (außer in der feinen Gesellschaft) relativ ungeschminkt verwendet wurden, erst durch die strenge Prüderie des 19. Jahrhunderts (5.2.3.1) und ihre dadurch bedingte Tabuisierung, die die Sache und die Tätigkeit einbezog, die notwendige Ausdruckskraft bekamen (5.1.2.3), um sie in Flüchen und Interjektionen effektiv einsetzen zu können, so dass sich le mot de Cambronne von 1815 als klarer Angelpunkt der Entwicklung des Fluchens abzeichnete (5.1.2.4). 5.2.5 Resümee Die mit der Renaissance und dem Humanismus wiederentdeckte Antike wurde mit ihrem Begriff der urbanitas und des homo urbanus für die neu zusammengesetzte Elite der Frühen Neuzeit zum Leitbild, das an die zeitgenössischen Verhältnisse adaptiert wurde. So entsteht zunächst in Italien die neue ethisch-ästhetisch geprägte Kultur wechselseitiger Achtung und Selbstachtung, wie sie über die wegweisenden Manierentraktate Castigliones, della Casas und Guazzos Verbreitung fand. Das Motto des Letzteren, «Dimmi come parli e ti dirò chi sei», enthält auf sprachlicher Ebene die Quintessenz des nunmehr mustergültigen Verhaltens, das in der Wahl gefälliger und nicht Anstoß erregender Themen und Ausdrucksweisen von Rücksichtnahme auf andere und dem Streben nach eigener Distinguiertheit unter dem Vorzeichen von Mäßigung und Selbstdisziplin geprägt ist (5.2.1). Aufgrund der innenpolitischen Wirren im Zusammenhang mit der Reformation und der Gegenreformation ist die durchgreifende Rezeption des neuen Manierenbewusstseins in Frankreich verspätet erfolgt, wobei die Kritik am inakzeptablen Sozialverhalten am Hofe von Heinrich IV. den Prozess aus ethischen wie ästhetischen Gründen beflügelte. Die Bedeutung der Zusammenkünfte führender Persönlichkeiten im Hôtel de Rambouillet ist dafür unbestritten und ebenso die sich aus der dort u.a. diskutierten Sprachthematik entwickelnde Preziosität, die vor allem bei Molière durch maßlose Übertreibung bewusst der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Die sprachliche Grundhaltung der Preziösen, derzufolge es nicht nur alle anstößigen Ausdrucksweisen zu vermeiden, sondern auch unmotivierte und daher kraftlose Alltagswörter durch neue Bezeichnungen zum Ausdruck der aus ihrer Sicht vorhandenen Quintessenz des Bezeichneten zu ersetzen gilt, markiert gleichzeitig einen Höhepunkt auch euphemistischer Sprachgestaltung. Dieser Höhepunkt kann durchaus als Endpunkt eines Kontinuums ethisch motivierter Ästhetik gesehen werden, das auch sprachlich die Entwicklung der Gesellschaft zu immer größerer Raffinesse kennzeichnet (5.2.2). Die weitere Entwicklung der Manieren hat sich im Grundsatz trotz einzelner Tabuisierungs- und Enttabuisierungsschübe seit dem Rennaissancehumanismus bis heute als irreversibel erwiesen, wie dies auch die entspre264

chenden Euphemismen bezeugen. Die Unumkehrbarkeit liegt gegenüber den vorher von kirchlicher wie weltlicher Seite oktroyierten Moralvorstellungen an der individuellen Verinnerlichung des Scham- und Anstandsgefühls, der Tugendhaftigkeit, die in den Sprachtabus der bürgerlichen Prüderie des 19. Jahrhunderts gipfelt. Im 20. Jahrhundert erfährt diese in einzelnen Bereichen eine gewisse Lockerung, die sich u.a. durch Freuds Einfluss auf Enttabuisierungen nach dem Ersten Weltkrieg und noch deutlicher nach dem Zweiten Weltkrieg sowie besonders nach 1968 verstärkt bemerkbar macht. Die seit den 1980er Jahren mutatis mutandis wieder feststellbare Gegenbewegung ist Ausdruck des von Themenbereich zu Themenbereich unterschiedlich ablaufenden zyklischen Wechsels von sprachlicher Tabuisierung und Enttabuisierung (5.2.3). In euphemistischer Hinsicht sind v.a. das Liebes- und Sexualleben, intime Körperteile, der weibliche Lebenszyklus und die Skatologie betroffen. In den beiden ersten Bereichen führt das Schamgefühl schon im Altertum zu vielen sprachlichen Tabus, die durch die in negativer Bewertung des Sexuellen stehende kirchliche Unterweisungstradition über die Jahrhunderte hinweg bis in die 1970er Jahre in unterschiedlichen Ausprägungen perpetuiert sind. Jetzt beginnen sich hier wie bei der weiblichen Biologie mit der vor allem im Hinblick auf die in früheren Zeiten teilweise sogar dämonisierte Menstruation in Teilbereichen neben den Euphemismen auch direkte Bezeichnungen als Zeichen sprachlicher Enttabuisierung durchzusetzen. Eine andere Entwicklung zeigen der skatologische Bereich und die entsprechenden Verhältnisse, die sich im Laufe der Neuzeit trotz der Ermahnungen eines della Casa nur spät bessern und erst im prüden 19. Jahrhundert durch den Übergang der betreffenden Orte und Tätigkeiten in die Privatsphäre aus der Öffentlichkeit verschwinden (5.2.4).

5.3

«Ethik und Sozialpolitik». Die Politische Korrektheit und vergleichbare Entwicklungen Worte und Ideen sind genau in der Weltweisheit verwandt. Johann Gottfried Herder

Wie einleitend zu 5.2 bereits ausgeführt, ist auch das folgende Kapitel unter der Thematik «Achtung anderer und Selbstachtung» zu sehen und betrifft mit dem Anspruch des Vermeidens diskriminierender oder als diskriminierend betrachteter Äußerungen vor allem das Sozialprestige. Im Zentrum steht dabei das aktuell diskutierte Phänomen Politischer Korrektheit, dessen Anliegen sprachlicher Rücksichtnahme sicherlich weit älter ist als sein Erscheinen unter diesem Namen in den Schlagzeilen. Doch auch wenn es zweifellos schon lange vor dem Aufkommen dieses Begriffs eine verhüllen265

de Umschreibung bestimmter Ausdrücke aus Sinnbereichen gab, die heute oft darunter subsumiert werden, hat er in seiner Entwicklung und mit seiner medialen Potenzierung Ausmaße erreicht, die eine gesonderte und ausführlichere Betrachtung angemessen erscheinen lassen. Letzteres ist umso mehr gerechtfertigt, als die Lexikographie immer mehr auch unter dem Zeichen von Politischer Korrektheit oder – in den Worten Boulangers (cf. 1999, 2000, 2001) – néobienséance beurteilt wird: «Les protocoles de rédaction des dictionnaires sont soumis à un examen sévère de la part de groupes sociaux érigés en juges qui exigent d’être parties prenantes dans les contenus. De sorte que des informations linguistiques pertinentes risquent de se voir éjectées des colonnes des dictionnaires sous la poussée de pressions externes caractérisant la correction politique. Le dictionnaire devient l’un des lieux obligés du rétablissement d’une caution bienséante et présente certains phénomènes sociaux sous un jour embelli, ou plutôt travesti» (Boulanger 1999, 69).184

Hinzu kommt, dass die offiziell oder halboffiziell oktroyierten Erscheinungen sprachlicher Vermeidungsstrategien zur Abrundung des Gesamtverständnisses von Euphemismus zwangsläufig nicht fehlen können. Entsprechend Art. 13 des EG-Vertrags, der in den einzelnen Ländern Europas in Gleichbehandlungsgesetze umzusetzen war, sind als Diskriminierungsmerkmale Geschlecht, Rasse oder ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Identität zu berücksichtigen. So lautet z.B. § 1 des 2006 erlassenen deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes: «Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen» (§ 1, AGG).

Aus diesen Bereichen sind in den Korpora die Gebiete «Rasse», «Behinderung», «Alter» und «Sexuelle Identität» präsent, die im Folgenden im Zusammenhang mit der Politischen Korrektheit näher betrachtet werden, obwohl gerade der korrekte sprachliche Umgang mit dem Alter und verschiedenen Behinderungen zweifelsohne eine längere Tradition hat. Hinzu kommt die Diskussion um Berufsbezeichnungen, die im Hinblick auf die hier nicht interessierenden Feminisierungstendenzen unzweifelhaft im Zusammenhang mit Politischer Korrektheit steht (cf. z.B. Schafroth 2001), aber auch unter

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Als Beispiel für sozialen Druck auf die Redaktion cf. die infra (p. 268) dargestellte Kritik an bestimmten Bedeutungangaben unter juif bzw. ebreo. In metalexikographischen Arbeiten wird v.a. die Wahl der Beispiele oder die Gestaltung der Defi nitionen im Hinblick auf die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern thematisiert (cf. z.B. Yaguello 1978, 165–173; A. Lehmann 1980, Benhamou 1986, Vanwelkenhuyzen 2007 sowie teilweise auch die in p. 13s. n. 21 genannte Literatur).

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der Perspektive der Aufwertung bestimmter Tätigkeiten in diesem Kontext gesehen wird. Der heutige Stellenwert Politischer Korrektheit ist ein Beispiel dafür, dass sich die Bedeutung, die den von Tabuisierungen betroffenen Bereichen jeweils beigemessen wird, im Laufe der Geschichte verändert. Denn während die Gefahr sprachlicher Fehltritte im Mittelalter v.a. im Zusammenhang mit religiösem Wortschatz bestand (cf. 5.1), wurde dieser Fokus achtsamen Sprachgebrauchs in der Neuzeit durch ethisch-ästhetisch als anstößig betrachtete Wörter und Ausdrucksweisen aus den Bereichen «Sexualität» und «Toilettengang und Toilette» erweitert und teilweise abgelöst (5.2). In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeichnete sich dann eine Entwicklung ab, die z.B. bei der korrekten Benennung einer als benachteiligten Minderheit definierten Gruppierung größte sprachliche Sensibilität erfordert: «[…] one prominent professor told U.S. News & World Report in 1994 that if she used fuck in class, no one would bat an eye, but she would never dare to use any racial epithet in any context» (Sheidlower 1999, XI). Im Sinne einer nachlassenden sprachlichen Tabuisierung im Bereich von Sexualität im weitesten Sinne äußert sich auch Holder in seiner Einleitung des Faber Dictionary of Euphemisms und führt als Beispiele für heutige Tabubereiche Dummheit, Behinderung und Armut an: «We are less obsessed than the Victorians with brothels and prostitution, less prudish about courtship, childbirth and legs, less terrified of bankruptcy. In turn we are reluctant to admit that our society includes dull schoolchildren, cripples or poor folks in receipt of charity: or that peoples who were once oppressed can themselves act oppressively» (1989, VII).

Die Bezeichnung politically correct wurde im Sinne parteitreuer Positionen von der marxistisch-leninistisch geprägten US-amerikanischen Linken verwendet, die sie nach einer der existierenden Theorien von marxistischen Kreisen des beginnenden 20. Jahrhunderts übernahm, welche die von ihnen geteilten Ideologien als politisch korrekt betitelten (cf. d’Souza 1991, XIV); nach anderen Quellen stammt sie aus der englischen Übersetzung von Mao Tse-tungs «Roter Bibel» (1966), die aufmerksam rezipiert wurde und in der häufig die Rede von «correct» oder «incorrect ideas» ist.185 Einen besonderen Höhepunkt erreichte die Verwendung des Ausdrucks politically correct in den 1990er Jahren.186 Inzwischen werden damit nachträglich Aspekte in Verbindung gebracht, die schon lange vor dieser Debatte diskutiert wurden:

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Cf. als Hauptvertreterin dieser These Perry (1992, 72) und resümierend Mayer (2002, 147–155); Umberto Eco verweist – allerdings unter Berufung auf den diesbezüglichen Wikipedia-Artikel – auf den Chisholm gegen Georgia-Fall von 1793, in dem die Nennung eines Staates für dessen Volk als «not politically correct» beschrieben wurde (2006, 91). Lakoff wertete die Belege in der Lexis/Nexis News Datenbank aus und fand als Erstbeleg einen Artikel von 1983, dann drei von 1984, ca. 30 von 1985–1986, ca. 50

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«Does no one remember the row over the allegedly offensive OED definition of Jew, the replacement in official parlance of handicapped with disabled and old age attracted media attention well before ‹political correctness› had a single newspaper cutting to its credit, and in most cases the proposed innovation is now quite unremarkable» (Cameron 1995, 129).

Ähnlich beschreibt Burchfield bereits in den 1920er Jahren das Eintreten Schwarzer für die Großschreibung von negro im Wörterbuch und Forderungen von Juden nach Einträgen, in denen auf ein «sinister meaning» wie «unscrupulous usurer or bargainer» oder «to cheat, overreach» verzichtet wird (1991, 109s.). Im französischen Sprachraum ist hier die eingestampfte Auflage des PR zu nennen, in der unvorsichtigerweise unter juif, -ve auch die Bedeutung ‘avare’ angeführt wurde, was auch in TLF mit der Angabe als pejorativ markiertem «Synon. de avare, usurier» erfolgt, und für den italienischen Sprachraum die Kritik am Wörterbuch von Emidio de Felice und Aldo Duro von 1993, das unter ebreo, -a die Bedeutung ‘persona assai attaccata all’interesse, avida di guadagno, molto abile e priva di scrupoli negli affari; avaro, usuraio’ angibt,187 wie es in der lexikographischen Praxis des Ventennio bekanntermaßen üblich war (cf. Kolb 1990, 181). Solche Kritik an der Lexikographie verläuft jedoch nicht kommentarlos und wird immer wieder mit dem Argument konfrontiert, dass es deren Aufgabe ist, den aktuellen Sprachgebrauch objektiv wiederzugeben.188

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von 1987, ca. 60 von 1988, ca. 200 von 1989 und ca. 450 von 1990 – die Recherche mit weiteren Datenbanken ergibt ein Nachlassen seit 1990 (cf. Lakoff 2000, 95). Cf. Marazzini (1999, 224), der sich auf de Felice/Duro (1993, s.v.) bezieht; dieselbe Formulierung findet sich auch schon in de Felice/Duro (1976, s.v.). Cf. aber auch Arcangelis Entscheidung, bei dem vom Istituto Treccani in Auftrag gegebenen Synonymwörterbuch ebreo, -a als Synonym für avaro, -a zu streichen, und anschließende Überlegungen (2001a, 294). Burchfield rechtfertigte in den 1960er Jahren die lexikographische Praxis mit den Worten: «All I could do was to repeat the familiar lexicographical arguments. It is the duty of lexicographers to record actual usage, as shown by collected examples, not to express moral approval or disapproval of usage» (1991, 113); ebenso tut dies Marazzini heute, der festhält, dass sich die meisten Wörterbücher heute mit Aussagen wie «secondo un antico pregiudizio…» oder «secondo un luogo comune…» absichern, diese Praxis aber in Frage stellt: «C’è da chiedersi se di fronte ad ogni pregiudizio e ad ogni luogo comune il vocabolario sia davvero tenuto a dare un avviso apposito, ad esempio quando registra insulti, o annota denominazioni di popoli che possono assumere significato ingiurioso, come baluba od ottentotto per ‹persona rozza e incolta›. In realtà un vocabolario, registrando il significato delle parole, non dovrebbe avere nessun bisogno di cautelarsi ribadendo che l’eventuale pregiudizio esiste nella lingua comune: è ovvio che non è compito del vocabolario giudicare la lingua dal punto di vista della morale. La notazione spreg. (‹spregiativo›) posta nei dizionari dovrebbe essere già di per sé sufficiente, senza altre considerazioni» (1999, 224). Den genannten Ausdrücken it. baluba und ottentotto, -a (fr. hottentot, -ote) ‘unzivilisierte Person’ als Beispiele für auf Vorurteilen beruhende

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5.3.1 Entstehung und Geschichte. Die Wurzeln in den USA Berman (cf. 1992, 13s.) beschreibt die Entstehung der Politischen Korrektheit in den USA als eine Mischung aus US-amerikanischer Identitätspolitik, die die Menschheit nach Rasse, Ethnizität und Geschlecht klassifiziert, mit Ideen aus der Philosophie der Pariser 1968er Bewegung, die die USA in verschiedenen Modewellen erreichten, wie z.B. derjenigen der Kultur als Spielfeld des Machterwerbs (Foucault/Nietzsche), der Interessensverlagerung auf soziale Randgruppen (Foucault), dem Gedanken des sozialen Fortschrittes (Marx), der Betonung des Erotischen und der männlichen Vorherrschaft (Freud/ Lacan) sowie dem Anti-Imperialismus (Heidegger). So wird der Ursprung der Bewegung häufig in einem Zusammenstoß konträrer weltanschaulicher Positionen gesehen: einerseits dem Festhalten an einer weißen, männlichen Leitkultur und andererseits dem Wunsch, unterschiedlichen, ethnisch bis geschlechtsspezifisch definierten Gruppierungen gesellschaftliches Gewicht zu verleihen. Die Zuspitzung der Debatte in den 1990er Jahren wird häufig mit dem Fehlen eines «externen Feindbildes» nach dem Ende des Kalten Krieges erklärt.189 Für diese Deutung spricht, dass die Emotionen über politisch korrekte Sprache in der Ära nach den Ereignissen vom 11. September 2001 bzw. 9/11 zumindest in den USA deutlich nachgelassen bzw. sich von ihren Kernbereichen «Hautfarbe» und «Geschlecht» zu einem großen Teil auf religiöse und weltanschauliche Themen verlagert haben.

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zusätzliche Bedeutungen ursprünglicher Bezeichnungen von Ethnien sind viele weitere onomastische Ableitungen anzuschließen, so z.B. it. zulù ‘unzivilisierte Person’, aber auch it. portoghese ‘jemand, der eine Vorführung betrachtet, ohne Eintritt gezahlt zu haben’ oder die – wie ihr griechisches Äquivalent im antiken Athen – nicht nur die Einwohner Böotiens, sondern auch weniger raffinierte Personen bezeichnenden Ausdrücke fr. béotien, -ienne, it. beota; ferner (mit Verweis auf euphemisitisches it. buscherare, buscherone) das von bulgaro abgeleitete it. buggerone sowie die Bezeichnungen fr. lesbienne, sodomite, sybarite, it. lesbica, sodomita und sibarita, die auf die den Einwohnerinnen der Insel Lesbia bzw. den Einwohnern der antiken Städte Sodom und Sybaris zugewiesenen Gebräuche zurückgehen, aber auch fr. lombard, -e ‘Wucherer’, das von der Tätigkeit der Lombarden als Kreditgeber ausgeht. Ferner ist auch an fr. filer à l’anglaise sowie umgekehrt engl. French leave (cf. dt. sich französisch verabschieden, sp. despedirse a la francesa) zu denken. Cf. z.B. Gitlin: «We may ask why there was a need for such a term, and such a concept, at this time [...]. One answer is that we are a species as contentious as we are social, never really happy without a them to unite against. With the decline of the Evil Empire during the 1980’s, and its final demise in 1991, we lost that essential Other. There was no one else worthy of that status (we tried to use Saddam Hussein in that capacity, but he was not up to the task). We had to turn on each other» (Lakoff 2000, 91) oder «We are now on the prowl for a new enemy, something or someone to mobilize against: Noriega, drugs, Satan, Saddam Hussein, or the newest bogey: ‹political correctness›» (1992, 185).

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5.3.1.1 Der soziokulturelle Kontext der Entstehung Die unter dem Begriff der Politischen Korrektheit subsumierte neue Tabuisierungswelle nahm in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten US-amerikanischer Universitäten ihren Anfang, wo versucht wurde, der Diskriminierung und sozialen Benachteiligung von ethnischen Minderheiten und Frauen durch Maßnahmen zu deren Bevorzugung bei der Hochschulzulassung (affirmative action) sowie durch eine neue Zusammenstellung der Lehrpläne entgegen zu wirken. (i) Eine Anpassung der Curricula Vollzogen werden sollte die Umstellung der als eurozentrisch oder gar kulturimperialistisch beschimpften Lehrpläne einerseits durch die Integration der Sitten, Gebräuche und des Erfahrungsschatzes der amerikanischen Urbevölkerung, die Vermittlung der Traditionen afrikanischer Stämme, deren Angehörige als Sklaven in die Neue Welt gebracht wurden, sowie durch die Berücksichtigung der Sichtweisen von Ureinwohnern190 und Sklaven auf die amerikanische Geschichte und deren eigenen Beitrag zur Gestaltung der derzeitigen Nation. Andererseits ging es darum, den auf als DWEM (dead white European males) qualifizierten Autoren basierenden Lektürekanon um farbige und weibliche Schriftsteller zu erweitern. Eine solche Forderung nach dem Ersatz von Dante, Shakespeare oder Milton etwa durch ChicanoAutoren zog erwartungsgemäß starke Kritik nach sich und ist bestenfalls aus dem von Jacques Derrida für die Philosphie geprägten Begriff der Dekonstruktion in seiner Anwendung auf die Literaturwissenschaft zu verstehen und damit vor dem Hintergrund der These, «daß kein Werk an einem anderen gemessen werden könne, Vergleiche somit abwegig und hierarchische Einteilungen nach qualitativen Werturteilen abzulehnen seien» (Zöllner 1997, 216, cf. auch 223s). Der Kritiker an der Politischen Korrektheit Robert Hughes, dessen Buch The Culture of Complaint (1993) bereits kurz nach seinem Erscheinen auf dem anglophonen Markt in die hier interessierenden Sprachen übersetzt erschien (1994a/b), rechtfertigt einen bildungspolitischen Eurozentrismus da-

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Hier wäre auch die Infragestellung der Positivierung des im 19. Jhd. propagierten Konzepts des göttlichen Auftrags der USA zur Expansion (Manifest Destiny) zu nennen, in dem die Sicht indigener Zivilisationen gegenüber der US-amerikanischen Fortentwicklung vollkommen in den Hintergrund gestellt wird; cf. daraus z.B.: «Up to our own day American history has been in a large degree the history of the colonization of the Great West. The existence of an area of free land, its continuous recession, and the advance of American settlement westward, explain American development» (Turner 1893, 199). Politisch korrekt wird engl. first nations bzw. fr. premières nations verwendet (cf. auch p. 281 n. 224, Inuit statt Eskimo); in Boulangers Korpus ist (wohl scherzhaft) auch été des premières nations ‘été des Indiens’ belegt (2000, 324).

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mit, dass nur bei guter Kenntnis der eigenen Kultur auch eine fundierte Berücksichtigung anderer möglich ist (1993, 94), die er – wie z.B. auch schon Edouard Glissant (cf. resümierend Reutner 2005, 19s.) – in der globalisierten Welt als unabdingbar betrachtet.191 Davor, dass eine Grundhaltung der Segregation gerade durch Kurse zu Rasse, Geschlecht und Klasse gefördert wird, warnt z.B. The National Association of Scholars.192 Hierfür spreche auch der Eindruck, dass Rassismus gerade an liberalen Universitäten grassiere.193 Ähnlich bemerkt Woodward, dass das durch Wohnheime für Minderheiten, die (inzwischen «politisch korrekter» wohl als Weltclubs zu bezeichnenden)194 Dritte-Welt-Clubs und Afrika-Zentren verstärkte Gefühl, einer Gruppe anzugehören, die eigene Identität primär als rassenbestimmt darstelle und die Wahrnehmung ihrer Individualität behindere.195 Dabei sind die Kategorien «Rasse» oder «Geschlecht» freilich völlig ungeeignet, um die gesamte Identität eines Menschen zu umfassen. Schon der Umstand, dass jeder Mensch durch beide gekennzeichnet ist und damit drei mögliche durch Politische Korrektheit geschützte qualitative Minderheiten196 (weiße Frau, schwarzer Mann oder – in zweifacher Hinsicht minorisiert – schwarze Frau) vorkommen können, stellt die einfache Kategorisierung in Frage. Hinzu kommen die vielen weiteren Aspekte,

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Cf.: «The future of American ones, in a globalized economy without a Cold War, will lie with people who can think and act with informed grace across ethnic, cultural, linguistic lines. And the first step in becoming such a person lies in acknowledging that we are not one big world family, or ever likely to be: that the differences between races, nations, cultures and their various histories are at least as profound and durable as their similarities; that these differences are not divagations from a European norm, but structures eminently worth knowing about for their own sake. In the world that is coming, if you can’t navigate difference, you’ve had it» (R. Hughes 1993, 96). Cf.: «If entire programs of study or required courses relentlessly pursue issues of ‹race, gender, and class› in preference to all other approaches to assessing the human condition, one can expect the increasing division of the campus along similar lines» (1992, 9). Cf.: «The more liberal the tradition and the more deference to protest, the more incidents are reported. Seemingly the more policies to promote harmony the greater the perception and complaint of racial hostility» (Woodward 1992, 40). Cf. die Bezeichnung dt. Weltladen anstelle früherem Dritte-Welt-Laden. Zur aufwertenden Bezeichnung weniger entwickelter Länder cf. auch 5.3.4.5, p. 364s. Cf. die Feststellung «Increasingly they have thought of themselves as groups rather than as individuals, and their culture as determined by their race» (1992, 33). Von quantitativen Minderheiten, die rein zahlenmäßig unterlegen sind, sind qualitative Minderheiten zu unterscheiden, die gegebenenfalls auch die quantitative Mehrheit bilden können, im Hinblick auf ihre realpolitische und wirtschaftliche Macht und damit auf ihren gesellschaftlichen Einfluss aber dennoch eine Minderheit bilden. Als Beispiel hierfür diene die Situation der Frankokanadier Quebecs vor der Stillen Revolution (cf. Reutner 2008a); als Beispiel für eine quantitative Minderheit, die die qualitative Mehrheit darstellt, die frühere Situation der Wallonen im heutigen Belgien (cf. Reutner im Druck b).

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die zur Ausbildung individueller Identität beitragen und Großkategorien wie Rasse oder Geschlecht unbefriedigend erscheinen lassen.197 Eben hier greift z.B. auch Ulrich Becks Kritik am Multikulturalismus, der das Individuum als «bloßes Epiphänomen seiner Kultur» betrachte, «als Mitglied von territorialhierarchischen, ethnisch-politischen Einheiten [...], die dann ‹über Grenzen hinweg› in einen ‹Dialog› miteinander treten» (2004, 105). Der transkulturelle Dialog würde sicherlich eher durch identitäre Gesamtdefinitionen gestärkt, in denen sich leichter Gemeinsamkeiten zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien finden ließen. So bemängelt denn auch Robert Hughes, dass in vielen politisch korrekten Forderungen das wirkliche Interesse für andere Kulturen zu kurz komme, indem von Blöcken wie europäischer, lateinamerikanischer oder asiatischer Kultur gesprochen werde, in denen unterschiedlichste Nationen zusammengenommen würden, die in sich selbst auch wieder heterogen seien. Ihm zufolge sei Multikulturalismus häufig weniger von der guten Kenntnis fremder Kulturen begleitet, als von der bloßen Ignoranz des «Anderen».198 Doch werden auch Stimmen ehemaliger Studenten laut, die die Öffnung der Lehrpläne als klaren Forschritt gegenüber ihrer Studienzeit ansehen.199 Zudem ist neben der Polemik auch darauf hinzuweisen, dass es in der Regel

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Cf. Epstein: «[…] a politics that is organized around defending identities based on race, gender, or sexuality forces people’s experience into categories that are too narrow and also makes it difficult for us to speak to one another across the boundaries of these identities» (1992, 154). R. Hughes (1993, 100s.). Dies sei z.B. der Fall, wenn Maoismus unabängig von seinen Wurzeln bei Mao Tse-tung gesehen wird oder europäischen Organisationen grundsätzlich ein unterdrückender Charakter angelastet wird und behauptet werde, dass sie dies von außer-europäischen unterscheide (1993, 102). So gehe es insgesamt weniger um einen informationsbasierten Multikulturalismus als um Separation (1993, 129). Auf mangelnder Kenntnis beruhe auch die These der Afrozentristen, die in Ägypten, das sie als stellvertretend für Afrika betrachten, die Wurzel aller Zivilisation sehen (Cf. hierzu den «Cheikh-Anta-Diop-Verehrer» in Reutner 2005, 19) – eine Perspektivierung, die den Umstand kompensieren soll, dass die wichtigsten Erfindungen der Neuzeit in der Regel europäischen bzw. amerikanischen Ursprungs sind. Die Verehrung Afrikas lässt zudem außer Acht, dass es in Afrika keine panafrikanische Kultur gab (R. Hughes 1993, 13), wohl aber durchaus grausame Sitten, wie nicht zuletzt die Sklaverei, die zu Unrecht allein den Weißhäutigen angelastet wird (1993, 140–147), oder die fehlende Gleichberechtigung von Rassen oder Geschlechtern in manchen Stammesgesellschaften (d’Souza zählt hier z.B. «dowries, widow-burning, and genital mutilation» auf; 1992, 19). Cf. z.B.: «[…] in my seven years at Michigan, I received no instruction of any kind that suggested that anybody black, Negro, or colored had contributed anything of value to this country. […] For all its prominence in the recent drama of racial turmoil on U.S. campuses, Michigan is a far better place now than it was when I went there in the 1950s. This is largely attributable to the efforts made to diversify the student body, the faculty, and the curriculum – those efforts now labeled ‹PC oppression› by the snooty ol’ boys who long so for the good ol’ days» (Wilkins 1992, 162, 164).

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ja nicht um einen vollständigen Ersatz ging, sondern nur um eine sicherlich sinnvolle Ergänzung. Insgesamt sollten die vorgeschlagenen und teilweise praktizierten Maßnahmen auf jeden Fall sowohl dazu dienen, die Ureinwohner und die eingewanderten (bzw. eingeführten) Minderheiten ihrer eigenen Kultur zu versichern, als auch dazu, die vermeintliche Überheblichkeit der Vertreter der sogenannten Leitkultur zu schwächen. Diese schneiden bei Hochschulzulassungsprüfungen jedoch traditionell überdurchschnittlich gut ab, machen den Hauptteil der Hochschulabsolventen aus und sind damit in Führungspositionen überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil vertreten. Eine willkommene Möglichkeit, den Misserfolg Farbiger zu erklären, war somit auch der Vorwurf der fehlenden Adaption des Stoffes an die Lebensrealität der Minderheiten, der mit der supra dargestellten Anpassung der Curricula entgegengewirkt werden sollte.200 (ii) Die Quotierung der Hochschulzulassung Um den Vertretern mancher (zumeist aus sozial benachteiligten Familien stammenden) ethnischen Minderheiten den gesellschaftlichen Aufstieg zu erleichtern, wurden aber vor allem affirmative action-Programme lanciert, die eine Quotierung des Hochschulzugangs bedeuten. Diese an sich positive Aktion zog zahlreiche Probleme nach sich. Der supra bereits zu Wort gekommene Amerikaner indischer Abstammung Danesh d’Souza, ein besonders vehementer, selbst nicht unstrittiger201 Kritiker an der Politischen Korrektheit im Universitätsbereich, spricht in seinem heftig debattierten Bestseller Illiberal Education (1991) auf der Seite der hiervon «Begünstigten» in manchen Fällen von einer Überforderung.202 Die akademische Überlastung führe zu200

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Cf. z.B.: «This realization comes as something of an epiphany. Many minority students can now explain why they had such a hard time with Milton and Publius and Heisenberg. Those men reflected white aesthetics, white philosophy, white science. Obviously minority students would fare much better if the university assigned black or Latino or Third World thought. Then the roles would be reversed: they would perform well, and other students would have trouble. Thus the current curriculum reveals itself as the hidden core of academic bigotry» (d’Souza 1993, 246). Ruth Perry nennt ihn zusammen mit Cheney und Bennet als «hired hands» von George Bush senior (1992, 77). Cf. z.B.: «The first consequence of such misguided policies is a general misplacement of minority students throughout higher education. […] During the first few weeks of class, many recognize the degree to which they are academically unprepared, relative to other students. At Berkeley, for instance, admissions office data show that the average black freshman’s GPS and test scores fall in the 6th percentile of score for whites and Asians. […] While they wrestle with the work load, affirmative action students also notice that their peers seem much more comfortable in this academic environment, quicker in absorbing the reading, more confident and fluent in their speech and writing. Even if affirmative action students work that much harder, they discover that it is not easy to keep pace, since the better prepared students also work very hard» (d’Souza 1993, 234s.).

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sammen mit dem für den durchschnittlichen Universitätsabsolventen weniger vorteilhaften familiären (und damit auch finanziellen) Hintergrund gerade auch nach den mit der Aufnahme geweckten Erwartungen häufig zur Verstärkung von Minderwertigkeitskomplexen bzw. zum Gefühl der fehlenden Akzeptanz in der Gesellschaft und damit zu einer Gruppenbildung, die der beabsichtigten Integrationspolitik diametral entgegengesetzt sei. Hinzu komme im Falle brillanter Farbiger ein Mißtrauen gegenüber ihrer Leistung, die möglicherweise ungerechtfertigterweise auf Hilfe von außen zurückgeführt wird und dadurch der ihr gebührenden Anerkennung entbehren muss.203 Auf der Seite der von der Quotierung nicht Profitierenden stellte sich die Frage der eigenen Benachteiligung,204 wie sie auch in Ländern mit schwächer ausgeprägten Rassenunterschieden im Rahmen der Frauenförderung allzu bekannt ist.205 Damit ruft die bevorzugte Zulassung Farbiger206 den Groll manch eines von seiner Wunschuniversität abgelehnten Studenten207 und seiner Freun-

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Daher kann eine mögliche Bevorzugung Farbiger auch den Wert der von ihnen erworbenen Abschlüsse ungerechtfertigterweise in Frage stellen. So wurde die rhetorische Frage von Malcolm X: «What do you call a black man with a Ph.D.?» und die von ihm gegebene Antwort «Nigger», von manch einem als Witz erzählt, dessen Pointe darin gesehen werden sollte, dass der (womöglich von einem mit Schuldgefühlen belasteten, politisch korrekten weißen Doktorvater) großzügig an einen Farbigen vergebene Ph.D. kaum ernst zu nehmen sei. Mit der 2008 erfolgten Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der USA dürfte ein derartiger Humor endgültig der Vergangenheit angehören. Cf. R. Hughes: «Do they have the right to lower their admission standards and teaching levels so that the disadvantaged can catch up, at the expense of the educational rights of abler students? If you believe that colleges ought to be traininggrounds for elites […] then the answer has to be no» (1993, 63). Stellvertretend für die vielen Beispiele kann die in der Schweiz geführte Diskussion um die Benachteiligung der sechs Anwärter für die diplomatische Laufbahn angeführt werden, die die Chefin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) Micheline Calmy-Rey von der entsprechenden Liste strich, als der Concours zehn Anwärter und nur vier Anwärterinnen hervorbrachte (cf. Rosenberg 2006). So nimmt z.B. die «Harvard-Universität nur 10 % aller Bewerber auf, aber 17 % aller Afroamerikaner» (Mink 2007, 23). Neben den primär betroffenen Amerikanern europäischer Abstammung, trifft dies auch die traditionell in der Regel erfolgreichen, nicht in den Genuss von Minderheitenförderung gekommenen Studenten asiatischer Herkunft (doch cf. z.B. die Thematisierung des «‹model minority› myth» in Wong 1992, 158), die wohl am wenigsten Verständnis für die Bevorzugung Farbiger aufbringen dürften, zumal sie sich für das an diesen auf US-amerikanischem Boden verübte historische Verbrechen nicht verantwortlich fühlen müssen: «Asian American students, unembarrassed by any traditional group advantages in American society, vehemently reject the idea that they should suffer in order to create space for underrepresented black and Hispanic groups who suffered no maltreatment or disadvantage at the hands of Asians» (d’Souza 1993, 239).

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de208 hervor, so dass die Maßnahme zur Verminderung von Rassismus in manchen Fällen eigentlich erst zu seinem Entstehen beiträgt. Die einsetzende Gruppenbildung der Farbigen, welche mit der eigenen Integration unzufrieden waren, einerseits und der Weißen, welche ihrem Unmut über die «Bevorzugung» Farbiger nur im Privaten Luft machen konnten, andererseits ließ nach d’Souza sogar eine neue Art von Rassismus aufkommen, der nicht mehr auf der Unkenntnis des Gegenübers beruht, sondern auf einem vermeintlichen Wissen.209 Insgesamt betrachtet laufen somit manche Maßnahmen zur Rassismus-Bekämpfung erst recht Gefahr, zu dessen Förderung beizutragen.210 In diesem Kontext ist zweifellos auch ein neues Urteil des US-amerikanischen Verfassungsgerichts zu sehen, das im Kern besagt, «Der einzige Weg, rassische Diskriminierung zu beenden, liegt darin, Rasse nicht mehr als Grundlage für diskriminierende Entscheidungen heranzuziehen» (Mink 2007, 23). Das Urteil erging aufgrund einer Klage von weißen Eltern, weil ihre Kinder aufgrund der Quotenregelung nicht mehr die Schule besuchen konnten, die sie wollten, sondern weitere Schulwege in Kauf nehmen mussten. 5.3.1.2 Die Gesellschaft der Opfer sowie Ridikülisierung und Erweiterung des Ausdrucks politically correct Die supra beschriebene bevorzugte Behandlung Farbiger an amerikanischen Universitäten wurde von weiteren Minderheiten wahrgenommen, die daraufhin versuchten, selbst einen ähnlich profitablen Status zu erhalten. So begann – überspitzt formuliert – eine Art Wettrennen darum, wer die schlimmste Diskrimination erfahren und damit die höchste Kompensation zu erwarten habe.211 Robert Hughes geht soweit, die Kreation von Heiligen im 15. Jahr-

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Cf. d’Souza: «Even students who support the concept of affirmative action in theory are discomfited when they see that it is now more difficult for them to get into the universities for which they have studied hard to prepare. Moreover, even if they win admission, many have friends who they believe were denied admission to places like Berkeley in order to make room for minority students with weaker scores and grades» (1993, 238s.). «The ‹new racists› do not believe they have anything to learn about minorities; quite the contrary, they believe they are the only ones who are willing to face the truth about them. Consequently, they are not uncomfortable about their views, believing them to be based on evidence. They feel they occupy the high ground, while everyone else is performing pirouettes and somersaults to avoid the obvious» (d’Souza 1993, 242). Es überrascht kaum, dass d’Souza diese Überzeugung vertritt: «However well-intended, university policies generally supply the oxygen with which the new racism breathes and thrives» (1993, 243). Cf. d’Souza: «Various minority groups – blacks, Hispanics, American Indians, foreign students, feminists, homosexuals […] these groups compete to establish themselves as the most oppressed of all. Everybody races to seize the lowest rung of the ladder.

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hundert und die von Helden im 19. Jahrhundert mit einer gegenwärtigen Glorifizierung212 von Opfern in Verbindung zu bringen: «As our 15th-century forebears were obsessed with the creation of saints and our 19th-century ancestors with the production of heroes, from Christopher Columbus to George Washington, so are we with the recognition, praise and, when necessary, the manufacture of victims, whose one common feature is that they have been denied parity with that Blond Beast of the sentimental imagination, the heterosexual, middle-class white male» (1993, 17).

Die Bandbreite der als Opfer zu berücksichtigenden Kreise hat in den 1980er Jahren deutlich zugenommen und schließe nun neben Blinden und Behinderten auch unterdurchschnittlich große Menschen oder sogar Tiere mit ein.213 Dass im heute gängigen Gebrauch des Terminus unter Politischer Korrektheit auch zahlreiche Ausdrücke genannt werden, die wenig mit dem Schutz der anfänglich intendierten Zielgruppe zu tun haben, wird neben der freiwilligen Einnahme der Opferrolle durch einzelne Gruppierungen auch mit der

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By converting victimhood into a certificate of virtue, minorities acquire a powerful moral claim that renders their opponents defensive and apologetic, and immunizes themselves from criticism and sanction» (1993, 244), Todorov: «Personne ne veut être un victime, cela n’a rien d’agréable, en revanche tous veulent l’avoir été, sans plus l’être; ils aspirent au statut de victime. […] Avoir été victime vous donne le droit de vous plaindre, de protester et de réclamer» (1995, 92) sowie den Buchtitel Culture of Complaint (R. Hughes 1993) und die Titel der Übersetzungen it. La cultura del piagnisteo (1994b) oder dt. Nachrichten aus dem Jammertal (1994c), während weitere Übersetzungstitel andere Aspekte in den Vordergrund rücken (fr. La culture gnangnan, 1994a; dt. Die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten, 1995). D’Souza kommentiert diese zu Recht mit den Worten: «Being historically oppressed is nothing to be ashamed of, but neither is it an intrinsic measure of social status or moral worth» (1993, 244). Lakoff schreibt auch: «Nobody wants to be a pitiful, helpless ‹victim› in a society that has always prized rugged individualism and entrepreneurial initiative. But members of historically disadvantaged groups may accurately see themselves as ‹vitimized› by their histories, during which they were at the mercy of powerful others» (2000, 69). Die der «Viktimisierung» Bezichtigten reagieren entweder mit der Verleugnung der Anschuldigung, der Darstellung des Geschehens als vergangen oder einer Entschuldigung; am vorteilhaftesten sei es jedoch für sie, den Opferstatus als solchen unattraktiv erscheinen zu lassen: «The only way to deal with it and not lose face […] is to induce in them an aversion to the status of victim by making it as shameful a badge as ‹victimizer› would be» (2000, 70). Cf. R. Hughes: «The range of victims available ten years ago – blacks, chicanos, Indians, women, homosexuals – has now expanded to include every permutation of the halt, the blind, the lame and the short, or, to put it correctly, the differently abled, the other-visioned and the vertically challenged» (1993, 17). Als Beispiel für vermeintliche Rücksichtnahme gegenüber Tieren gibt Arcangeli die Zensur von Crepi il lupo!, die ihn vermuten lässt, dass auch Schimpfwörter, die den angeblich dummen Esel oder die vermeintlich heimtückische Schlange thematisieren, als politisch unkorrekt interpretiert werden könnten (2001a, 291).

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Prägung des Ausdrucks durch Kritiker der Entwicklung erklärt,214 denen es daher auch vorbehalten sei, ihn weiter zu definieren und der Lächerlichkeit preiszugeben.215 Zudem mag eine Art vorauseilender Gehorsam zum Tragen kommen, wenn z.B. die italienische Staatssekretärin Carla Rocchi Crepi il lupo! als übliche Entgegnung auf In bocca al lupo! zensiert. Eine gewisse Ironisierung des Ausdrucks ist sicherlich auch historisch, trat sie doch bereits kurz nach seiner Verwendung durch die marxistischleninistisch geprägte US-amerikanische Linke ein, deren gemäßigte Vertreter ihn ebenso missbrauchten, «to denote someone whose line-toeing fervor was too much to bear» (Berman 1992, 5), wie ihn die Konservativen ins Lächerliche zogen: «Every aspect of the discourse – its tone, its terms, its targets – was defined by the right, leaving the left the capacity only to react, if even that. That makes the entire p.c. complaint self-contradictory» (Lakoff 2000, 92).

Anschauliche Beispiele überspitzt negativer, aber durchaus ernstgemeinter Darstellung der Bewegung durch Vertreter der Konservativen sind auch die Zitate von Danesh d’Souza und George Bush senior (cf. 5.3.2.2ii). Manchen Autoren zufolge wurde die Bezeichnung von der «Alten Linken» gar nie benutzt und von der «Neuen Linken» nur mit ironischem Unterton.216 Dies führt Barbara Epstein zu der Bemerkung: «I hesitate to take the term ‹political correctness› out of quotation marks because I have never heard it used on the Left except in a joking way; as far as I know it is not used to refer to a politics that anyone actually endorses» (1992, 148).

In diesem Sinne wendet sich beispielsweise Cameron heute dagegen, das ihrer Meinung nach ursprünglich wohl in scherzhafter Absicht kreierte, auch von Robert Hughes genannte vertically challenged für unterdurchschnittlich

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Cf. Cameron: «Those who make no secret of their support for affirmative action, non-discriminatory language and multicultural curricula do not refer to these positions collectively as ‹political correctness›: it is only their opponents who use this expression in that way» (1995, 124). «Since denial is frequently the response of those whose philosophy has prominently come to represent what political correctness means, the portrayal and definition of political correctness has been disproportionately yielded to its critics» (Miller 1993, 22). Cf. Perry: «No sooner was it invoked as a genuine standard for sociopolitical practice […] than it was mocked as purist, ideologically rigid, and authoritarian. Although the mainstream press is obviously trying to construct the phrase on a Stalinist ‹party line› model, there is little evidence of its use in the Old Left, and a great deal of evidence that within the New Left it was nearly always used with a double consciousness. Indeed, the fact that the phrase has survived with these self-mocking, ironized meanings is testimony to a kind of self-critical dimension to New Left politics, a flexibility, a suspiciousness of orthodoxy of any sort» (1992, 77).

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kleine Menschen als einen der Politischen Korrektheit zuzuordnenden Ausdruck zu betrachten: «[…] for commentators to attribute vertically challenged to the ‹political correctness movement›, and to solemnly explain it as a serious protest against ‹heightism› is either incompetence or a smear on a par with the ‹black coffee› story»217 (Cameron 1995, 125).

In gewisser Weise kann die Anwendung des Ausdrucks der Politischen Korrektheit auf insgesamt wohl in vergleichsweise geringerem Ausmaß benachteiligte Kleinwüchsige sicherlich selbst als eine politische Inkorrektheit gewertet werden. Doch scheint es inzwischen üblich geworden zu sein, «politically correct» in einem (womöglich selbst «politisch unkorrekten») weiteren Sinn zu verwenden. So werden in den USA unter dem Schlagwort eine Vielzahl von Erscheinungen subsumiert. Berman geht dabei soweit, zu behaupten: «Every ideology known on earth, plus a few others, was invoked in this debate, which made it hard to tell exactly what was under dispute» (1992, 1). Veranschaulichen soll dies eine Durchsicht des – wie andere Sammlungen zum Thema als primär amüsant intendierten – The official politically correct dictionary and handbook (Beard/Cerf 1994, jeweils s.v.), die zur Entdeckung vieler Umstände führt, unter denen gelitten werden kann, so z.B. (neben den infra noch auszuführenden ableism und ageism) unter alphabetism ‘Bevorzugung von Personen, Institutionen und Organisationen, deren Namen mit Buchstaben beginnen, die im Alphabet vorne stehen’, unter borealocentrism ‘Glaube an die Überlegenheit von Völkern der nördlichen Hemisphere, da sie «oben» leben’, unter diseasism ‘Diskrimination von Kranken durch «die vorübergehend Gesunden»’, unter heightism ‘Diskrimination «vertikal Herausgeforderter»’, unter hygienism ‘Glaube an die Möglichkeit eines Rückschlusses von der Hygiene einer Person auf deren persönlichen Wert’, unter lookism ‘Bevorzugung Gutaussehender’, unter rectocentrism ‘Bevorzugung Rechtshändiger’ oder auch unter sinistromanualism ‘Diskrimination Linkshändiger’, unter successism ‘Bevorzugung Erfolgreicher’ und schließlich auch unter anti-ismizationism, eine Haltung, die die gerade aufgezählten Wörter mit dem Suffix -ism kritisiert. Ähnlich ironisierend kann der Trend betrachtet werden, möglichst viele Komposita mit challenged oder inconvenienced zu bilden, wie die häufig spaßeshalber herangezogenen Ausdrücke engl. aurally challenged, aurally inconvenienced ‘taub’, chemically inconvenienced ‘unter dem Einfluss von

217

Cf. Cameron: «Ken Livingstone, the leader of the Greater London Council, had banned references to ‹black coffee› in the County Hall cafeteria as racist (his preferred term, allegedly, was ‹coffee without milk›)» (1995, 117). Arcangeli bringt ähnliche Fälle und erklärt, «sarebbe come se da noi, variatis variandis, qualcuno proponesse di bandire dall’uso una parola come finocchio soltanto perché in uno dei suoi significati è voce spregiativa per indicare un omosessuale» (2001a, 294).

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Alkohol oder Drogen’, (develop)mentally challenged, (develop)mentally inconvenienced, mentally challenged ‘geistig zurückgeblieben’, horizontally challenged ‘dick’, optically inconvenienced ‘weit- oder kurzsichtig, blind’, orthographically challenged ‘rechtschreibschwach’, technologically challenged ‘ohne Computer-Kenntnisse’, temporally challenged ‘chronisch zu spät’, vertically challenged, vertically inconvenienced ‘zu klein oder zu groß’, vocally challenged ‘stumm’ und schließlich auch terminally inconvenienced ‘dead’. Ein weiterer Trend kann im Sinne der Differenz- gegenüber der Defizithypothese (cf. 5.3.4.3ii) in Komposita mit different(ly) gesehen werden, wie z.B. neben differently abled ‘behindert’ auch cosmetically different ‘hässlich’, differently advantaged ‘arm’, differently interesting ‘boring’, differently pleasured ‘sado-masochistisch’, differently sized ‘fettleibig’, morally different ‘böse’ oder motivationally different ‘faul’. 5.3.2 Zur Kontroverse um den Sinn «politisch korrekten Sprachgebrauchs» Zwei (von manchen als sich widersprechend betrachtete)218 Hauptargumente dienen immer wieder der Kritik an Forderungen nach politisch korrekter Sprache. Zum einen stelle diese das in einer Demokratie zentrale Recht auf freie Meinungsäußerung in Frage, zum anderen sei sie lediglich Oberflächenkorrektur und würde davon ablenken, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die realen Gegebenheiten zu ändern. Im größeren Zusammenhang wird zu zeigen sein (5.3.2.2), dass beim ersten Einwand die Vorteile freier Meinungsäußerung die Nachteile für (dadurch eventuell angegriffene) Minderheiten überwiegen, während bei der Betrachtung der zweiten Anfechtung (5.3.2.3) der Einfluss der Sprache auf die Wahrnehmung der Realität doch bis zu einem gewissen Grad nicht zu übersehen ist. Zunächst aber stellt sich die Frage, weshalb Bezeichnungskorrekturen Minderheiten in ihrem Selbstverständnis überhaupt entgegenkommen können. 5.3.2.1 Die Macht der Sprache und ihre Ideologiebesetztheit Dass in einem magisch-religiösen Sprachdenken der Glaube herrscht, durch das Aussprechen ihres Namens Macht über die jeweilige Person zu erlangen oder im Falle übernatürlicher Mächte deren Unwillen zu provozieren, ist supra (5.1.1) bereits gezeigt worden. Im Bezug auf das angesprochene Min-

218

Cf. Cameron: «The most common linguistic charges against the so-called ‹PC movement› are on one hand that its brand of verbal hygiene abuses language and destroys freedom by perverting the meanings of words, and on the other that it trivialized politics by focusing on language and not reality. One thing that must strike anyone considering these accusations is how contradictory they are. How can intervening in language be both a trivial diversion from politics and a threat to our most fundamental liberties?» (1995, 140).

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derheitenproblem liegt die Verbindung zwischen Sprache und Macht jedoch in der Frage, durch wen und aus welchen Motiven das Recht der Namensgebung bzw. Sprachsetzung in Anspruch genommen wird und welche Ideologie mit Sprache vermittelt wird. (i) Die Macht zur Benennung Üblicherweise ist die Begriffsbildung und die Benennungsänderung keiner qualitativen Minderheit überlassen, sondern das Vorrecht der jeweiligen qualitativen Mehrheit, d.h. der Herrschenden, Einflussreichen und Mächtigen, wie dies z.B. ein Blick auf die Kolonialgeschichte zeigt.219 Dies änderte sich mit der Emanzipationsbewegung von Minderheiten,220 die u.a. zu dem Grundanliegen politisch korrekten Sprachgebrauchs führte, diesen ehemals einflusslosen Interessenvertretungen und Gruppierungen die Macht ihrer eigenen Benennung zu überlassen bzw. Benennungen zumindest für sie, d.h. in ihrem Sinne, zu kreieren: «‹Political correctness›, ‹politically correct› and the common abbreviation for both, ‹p.c.› cover a broad spectrum of new ways of using and seeing language and its products, all of which share one property: they are forms of language devised by and for, and to represent the worldview and experience of, groups formerly without the power to create language, make interpretations, or control meaning. Therein lies their terror and hatefulness to those who formerly possessed these rights unilaterally, who gave p.c. its current meaning and made it endemic in our conversation» (Lakoff 2000, 91).

Eine völlige Gleichstellung wird damit natürlich nicht erreicht, da Vertreter der Leitkultur weiterhin meist unbenannt bleiben und bleiben wollen. Der französische Dekonstruktivist Roland Barthes beschreibt diesen Prozess als exnomination und damit die bourgeoisie als soziale Klasse, die andere benennt, selbst aber nicht benannt werden will.221 So ist es zwar bemerkenswert, dass sich z.B. zur Bezeichnung Farbiger der von den Black Panthers,222

219 220

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Für Beispiele cf. das Kapitel mit dem bezeichnenden Titel «le droit de nommer» in Calvet (2002, 80–85). Die Suche nach möglichst konfliktfreien, neutralen Ausdrücken betrifft nicht nur die Bezeichnungen der Angehörigen einer Minderheit, sondern auch die ihrer Sprache; zum generellen Problem cf. z.B. Fusco (2007), die dem Konfliktpotential von it. isole linguistiche, colonie, oasi; lingue tagliate, lingue minacciate und lingue regionali, lingue minoritarie, lingue di minoranza, lingue meno diffuse, lingue meno usate nachgeht. Cf. z.B. Fiske: «Exnomination is the means by which whiteness avoids being named and thus keeps itself out of the field of interrogation and therefore off the agenda for change […] Defining, for whites, is a process that is always directed outward upon multiple ‹others›, but never inward upon the definer» (1996, 42). Cf. Mollard-Desfour: «Nom d’un mouvement violent noir américain, né à la fin des années 60 aux États-Unis, exigeant les mêmes droits que les Blancs et qui avait pris comme symbole une panthère, animal qui n’attaque jamais» (2005, 103).

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und damit von Vertretern einer lange Zeit stigmatisierten Minderheit, vorgeschlagene Ausdruck black durchsetzen konnte, denn «since when did a disempowered group have the right to name itself? This was a contradiction in terms. Yet it stuck» (Lakoff 2000, 92). Ein weiterer Schritt wäre aber, die Bezeichnung von Menschen ganz ohne Verweis auf Ihre Hautfarbe zu vollziehen. Letztendlich ist es jedoch – wie erwähnt – ein wichtiger Punkt politisch korrekten Verhaltens, qualitativen Minderheiten oder ihren Fürsprechern die Wahl der Benennung zu überlassen223 bzw. sie zumindest dann nicht mit dem ihnen von der qualitativen Mehrheit zugedachten Namen anzusprechen, wenn sie selbst einen anderen bevorzugen. Etwas vereinfacht, aber doch griffig, erklärt Cameron, «when someone introduces himself as ‹George›, it is a bizarre and potentially hostile act to insist on calling him ‹Bill›» (1995, 144). Ebenso nennt Umberto Eco als «un elemento importante del PC»: «Il problema non è di decidere ‹noi› (che stiamo parlando) come chiamare gli ‹altri›, ma di lasciar decidere agli altri come vogliono essere chiamati, e se il nuovo termine continua in qualche modo a turbarli, accettare la proposta di un terzo termine» (2006, 91s.).

Diese jedem im Grunde einleuchtende Verhaltensweise ist im Bezug auf die Benennung eines Individuums wohl unumstritten. In der Realität bzw. in der Anwendung auf eine Gruppe kann sie jedoch an gewisse Grenzen stoßen. Die Betroffenen entscheiden zu lassen, wie sie genannt werden möchten, setzt deren Organisation als Gesamtheit voraus und ebenso eine Übereinstimmung über die erwünschte Namensgebung.224 Beides ist sicher nicht immer gegeben oder herbeizuführen, so dass Lakoff im obigen Zitat vorsichtigerweise auch «language devised [...] for [...] groups formerly without the power to create language» einschließt, was klarstellt, dass die politisch korrekten Benennungsvorschläge nicht zwangsweise von Vertretern der Minderheit selbst kommen bzw. nicht den Konsens aller Betroffenen voraussetzen.

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224

Auch hier handelt es sich wiederum um eine Forderung, die älter ist als die Diskussion um die Politische Korrektheit in Europa. Cf. z.B. Maier in den 1970er Jahren: «Tatsächlich zählt der Vorwurf, die Betroffenenen seien nicht beteiligt oder nicht gehört worden, bereits zu den schlimmsten emotionalen Verdikten in unserer Gesellschaft» (1975, 65s.). Als Beispiel dafür, dass innerhalb einer Gruppe nicht immer Einigkeit darüber besteht, welche Bezeichnung zu bevorzugen ist, cf. z.B. den infra (p. 333s.) resümierten Dissens bei der Wahl zwischen black und Afro-American. Doch sei in diesem Zusammenhang auch auf den Erfolg der Inuit hingewiesen, die den von außen auferlegten und abwertend empfundenen Namen Eskimo durch den Namen, mit dem sie sich selbst bezeichnen und der einfach ‘Menschen’ bedeutet, ersetzen konnten.

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(ii) Zur Frage der Existenz ideologiefreier Sprache Vor diesem Hintergrund eines grundsätzlichen Delegierens der Bezeichnungszuständigkeit an die Betroffenen verbinden manche mit der Politischen Korrektheit mehr als bloße Rücksichtnahme und somit auch die Frage des Aufbrechens traditioneller Machtstrukturen: «Despite the rhetoric of guideline writers, more than mere civility is at stake here. At stake is a power structure in which certain people, often without even being conscious of it, just assume the right to tell other people who they are» (Cameron 1995, 144).

So entscheidet die Wahl zwischen traditionellen Formen und politisch korrekten Ersatzwörtern letztendlich auch darüber, wer über welche Entscheidungsbefugnisse verfügt. Damit steht neben der Berechtigung auf Eigenbezeichnung die Möglichkeit, mit der Benennungswahl eigene Ideologien und Wertevorstellungen in die Gesellschaft zu tragen, wie es die Aussage Bertolt Brechts aus dem Jahre 1935 dokumentiert: «Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik» (1967, 231). Aber nicht nur Bürger, die sich vom diktatorialen Regime distanzieren wollen, machen sich die Abwendung vom zuvor üblichen Sprachgebrauch für ihre Zwecke zueigen, sondern auch Diktaturen selbst. Sprechend ist diesbezüglich sicherlich die in der DDR verordnete Verwendung von dt. Geflügelte Jahresendfigur anstelle von Engel, oder auch die Beschreibung des Arbeiters als denjenigen, der die Arbeit gibt, und seines Chefs als denjenigen, der sie nimmt, und damit die – natürlich bewusst kultivierte – Umkehrung der Ausdrücke Arbeitnehmer und Arbeitgeber in ihrer Bedeutung.225 Im Hinblick auf Politische Korrektheit wird v.a. die Frage gestellt, ob die bisherige «Normalsprache» oder gar die politisch korrekte Sprache denn nicht auch wertfrei sein könne. In der hierzu vielzitierten und im Sinne des Für und Wider instrumentalisierten Stelle aus Lewis Carrolls Through the looking-glass (1872) behauptet Humpty Dumpty, die Bedeutung der Wörter manipulieren zu können: «‹When I use a word›, Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, ‹it means just what I choose it to mean – neither more nor less›.

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Beispiele sind nach dem zweiten Weltkrieg die Wahl zwischen den Ausdrücken (aus der Perspektive der BRD) Heimatvertriebene und (aus der Perspektive der ehemaligen DDR) Neubürger (cf. Lübbe 1982, 58s.) oder neueren Datums zwischen Darstellungsweisen wie der Überfall/Angriff des Irak durch die USA, der Einmarsch der USA in den Irak, die US-amerikanische Intervention im Irak, die Befriedung des Irak durch die USA oder die Ereignisse im Irak, die militärische Hilfe der USA für den Irak (cf. am Beispiel des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan Heringer 1982, 21s. und zu fr. événements und pacifier infra p. 390).

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‹The question is›, said Alice, ‹whether you can make words mean so many different things›. ‹The question is›, said Humpty Dupty, ‹which is to be master – that’s all›» (Carroll 1971, 190).

Im Fortgang des Gesprächs zeigt sich, dass Humpty Dumptys unkonventionelle Sprache unverständlich bleibt und er (obwohl er für die Wörter gezahlt hat) alle neu semantisierten Wörter erklären muss. So wird die Stelle von Gegnern politisch korrekter Sprache gerne dahingehend interpretiert, dass das Abweichen von den konventionellen Normen die Sprache im Zweifelsfalle zur Bedeutungslosigkeit verdamme. Doch Normen können die Beziehung zwischen Sprache und Macht bekanntlich festigen und dies gilt für normativ verbindliche politisch korrekte Ausdrucksweisen ebenso wie für die von ihnen ersetzten Bezeichnungen, so dass es jeweils nur zu überlegen gilt, welche Normen dies sein sollen oder welche oktroyiert werden sollten.226 Damit ist eine wertfreie politisch korrekte Sprache ebenso unmöglich wie eine wertfreie Sprache im Allgemeinen, da die außersprachliche Realität in der Sprache immer in bestimmten Interpretationen und Konnotationen wiedergegeben wird,227 was keine neue Erkenntnis ist und von Sprachkritikern generell thematisiert wird: «Neben der Gewohnheit und Neigung das Übliche des Sprachbrauchs zu verwenden, das weithin Vorurteile enthält, die Andere gefällt haben, hat jeder Sprachteilhaber in seiner Sprachkompetenz die Möglichkeit, für den gleichen Sachverhalt Eigenes, Neues, vom Konformismus des Sprachbrauchs Abweichendes zu sagen, und zwar durch Anderssagen (z.B. Massenmordpolitik statt Krieg) oder durch Genauersagen (z.B. Freiheit aller derer, die forschen und lehren (wollen?), über alles zu forschen bzw. jeden alles zu lehren statt der unklaren lakonischen Formel Freiheit von Forschung und Lehre)» (von Polenz 1982, 83).

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Cf. Cameron: «quarrels about language should concern (and in fact, once one has cut through the ideological undergrowth, do concern) not whether there ought to be norms but which norms they ought to be» (1995, 164). Dazu erklärt Fish unter dem Titel «There is no such thing as free speech»: «When I say that there is no such thing as free speech, I mean that there is no class of utterances separable from the world of conduct, no ‹merely› cognitive expressions whose effects can be confined to some prophylactically sealed area of public discourse. And since it is just such expressions that are privileged by the First Amendment (it is expressions free of certain consequences that are to be freely allowed), there is nothing for the amendment to protect, no items in the category ‹free expression›. That is the bad news. The good news is that precisely because there is nothing in the category of ‹free expression›, speech always matters; because everything we say impinges on the world in ways indistinguishable from the effects of physical action, we must take responsibility for our verbal performances and not assume that they are being taken care of by a clause in the Constitution» (Fish 1992, 245).

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Wird politisch korrekte Sprache also damit kritisiert, dass ihr Anspruch, eine «free speech» zu sein, dieser widerspreche, so halten ihre Verfechter dagegen, dass auch traditionelle Sprache diese nicht im Sinne wertfreier Ausdrucksweise wirklich garantiere.228 An dieser Stelle kann noch einmal auf einige der unter 5.2 besprochenen Themen verwiesen werden, bei denen die (meist unbewusste) Bezeichnungswahl unzweifelhaft mit bestimmten Ideologien verbunden ist, so z.B. wenn im Hinblick auf Prostitution euphemistisch von «lockerem Lebenswandel» gesprochen wird, obwohl das entsprechende Leben im Normalfall wenig locker sein dürfte. Befürworter politisch korrekter Sprache sehen im Eintreten Konservativer für die Neutralität des Sprachgebrauchs daher eine Strategie, mit der die traditionelle Sprache, wie sie manch einer unter dem Siegel der Meinungsfreiheit geschützt sieht,229 und damit das Beharren auf bisherigen Machtverhältnissen gefestigt werde,230 schließlich stehe außer Frage, dass es eine ideologiefreie, objektive Sprache nicht gebe und eine solche auch nicht geschaffen werden könne. So schreibt z.B. Marazzini:

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Cf. Fish: «[…] when someone warns about the slippery slope and predicts mournfully that if you restrict one form of speech, you never know what will be restricted next, one could reply, ‹Some form of speech is always being restricted; else there could be no meaningful assertion; we have always and already slid down the slippery slope; someone is always going to be restricted next, and it is your job to make sure that the someone is not you›. And when someone observes, as someone surely will, that anti-harassment codes chill speech, one could reply that since speech becomes intelligible only against the background of what isn’t being said, the background of what has already been silenced, the only question is the political one of which speech is going to be chilled, and, all things, considered, it seems a good thing to chill speech like ‹nigger›, ‹cunt›, ‹kike›, and ‹faggot›. And if someone then says, ‹But what happened to free-speech principles?›, one could say what I have now said a dozen times – free speech principles don’t exist except as a component in a bad argument in the context of which their invocation will often be a mask for motives that would not withstand close scrutiny» (1992, 244). Cf. Fish: «[…] people cling to First Amendment pieties because they do not wish to face what they take to be the alternative. That alternative is politics, the realization […] that decisions about what is and is not protected in the realm of expression will rest not on principle or firm doctrine but on the ability of persons and groups to so operate (some would say manipulate) the political process that the speech they support is labelled ‹protected› while the speech inimical to their interests is declared to be fair game» (1992, 242). Cf. Lakoff: «To belittle the importance of language, however high-minded the excuse, is ultimately to magically restore power to those who in fact are losing it, by denying that the lost power matters. […] Then the conservatives’ newfound enthusiasm for the First Amendment is not so much a vote of confidence in freedom of expression as it is a last desperate attempt to hold on to their power by denying the potency of language at the moment when the right to control it is slipping from their grasp. It’s a version of sour grapes: ‹Well, if I can’t have it for myself, I’ll make it seem as worthless as possible›» (2000, 117).

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«Non è di per sé falsa l’idea che attraverso il linguaggio si trasmettono luoghi comuni e pregiudizi. L’eccesso dell’intervento sta nella pretesa di raggiungere una lingua depurata da ogni alone ideologico o emozionale, assolutamente asettica e oggettiva. Questa lingua non esiste» (1999, 223).

Doch muss nicht gerade eine solche Erkenntnis von der Omnipräsenz von Ideologie in der Sprache dazu führen, diese so zu gestalten, dass sie möglichst akzeptable Ideologien enthält? So ist z.B. Postmodernisten daran gelegen, durch die Verwendung ungewöhnlicher Sprachformen aufzuzeigen, dass es keinen natürlichen Gebrauch von Sprache gibt, und damit einen Reflexionsprozess anzuregen.231 Gerade in den Bereichen, in denen politisch korrekte Sprache gefordert wird, ist denn auch die hinter den neuen Bezeichnungen verborgene Ideologie, d.h. der Aspekt der politischen oder moralischen Beurteilung des Referenten, besonders ausgeprägt. Daher ist es auch das Anliegen, in der Neubenennung die Art der Beurteilung durch die Neuperspektivierung zu verändern: «Conventional terms imply one evaluation of a given phenomenon; the ‹politically correct› alternatives call that evaluation into question not by ‹covering up› the phenomenon but by looking at it from a different angle (same-sex preference as a social rather than a clinical matter, prostitution as a job description rather than an all-encompassing moral status, race as history rather than genetics, and so on» (Cameron 1995, 147).

Zugrunde liegt hier die Auffassung, dass auch jedes «Normalwort» mit Konnotationen versehen ist. Wenn it. handicappato, -a als Euphemismus kritisiert

231

Cf. Cameron: «There is no doubt that this strategy does not, as the style books would have it, ‹enhance communication› by rendering the writer’s meaning maximally transparent. On the contrary, it deliberately distracts attention from the content of the message to the form. The use of taboo words like queer or nigger, or unfamiliar formulations like differently abled instead of disabled, is intended similarly, to make people work at extracting a meaning, forcing them to ask for example who is speaking (a white racist or a black militant?), and what assumptions are required to make sense of particular terms. [...] Deliberate departures from conventional usage are meant to bring those assumptions to the surface so they can be noticed, and challenged. What makes radical verbal hygiene radical linguistically is its insistence that words do not simply ‹have› fixed, shared meanings. They acquire their meanings only in a context, and a crucial element of that context – one which is usually invisible, but which the radical brand of verbal hygiene is specifically designed to make visible – is the power relations operating within it» (1995, 156s.). Besonders deutlich wird die postmoderne Haltung an Camerons feministischem Beispiel, bei dem die Verwendung eines generischen her den Rezipienten fragen lässt «what does it mean that we usually say ‹him› without a second thought? Why does it bother me if someone says ‹her› instead?» (1995, 156).

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wird, was ist dann das wertfreie «Normalwort»?232 Wenn fr. black als politisch korrekt oktroyiert betrachtet wird, wie sollte es besser heißen? Handelt es sich bei diesen Beispielen also überhaupt um Euphemismen? Klar verneint dies Cameron, die im Hinblick auf die Wahl zwischen African-American und black ausführt: «If, for the sake of argument, we take the charge of euphemism seriously, and ask what is being ‹covered up› in using African-American instead of black, colored or Negro, the only answer that comes to mind is the skin colour of the people in question. If so, is that not precisely the point of the linguistic intervention – to challenge the kind of racist discourse that defines people by skin colour? Someone who claims African-American is a euphemism because it ‹covers up› the fact that African-Americans are dark-skinned is implicitly asserting that a description of people by skin colour is a value-neutral description, the natural and obvious way to classify them. (In which case one might ask why white ethnic groups in America are rarely classified in this way)» (Cameron 1995, 145).

Nach Cameron würde der Ausdruck Euphemismus von Gegnern der Politischen Korrektheit missbraucht, um Wörter abzuweisen, die nicht in ihrem Sinne sind. Daher klärt sie auf: «Just because an expression is considered more polite than some other expression does not automatically make it a euphemism. Politeness consists in displaying awareness of another’s feelings, whereas euphemism consists in the avoidance of a word or idea whose direct expression is taboo. […] It is always worth asking why, and from whose point of view, one way of using language seems obvious, natural and neutral, while another seems ludicrous, loaded and perverse» (1995, 159).

So mag «Höflichkeit» ein Motiv für die Verwendung eines Euphemismus sein, nicht aber ein Kriterium zu seiner Abgrenzung von anderen Phänomenen, denn im Hinblick auf seine Definition steht die Vermeidung einer Ausdrucksweise im Vordergrund, die aufgrund ihrer konventionell begründeten onomasiologischen Direktheit bereits negativ konnotiert ist (cf. auch 6.3). 5.3.2.2 Die Frage der Wertepräferenz innerhalb einer Gesellschaft Die Kontroverse um Politische Korrektheit betrifft auch die allgemeine Wertediskussion, in der sie verankert ist und in der in einer stark vereinfachten

232

Diese Überlegung wird v.a. von Cameron vertreten, die für das Englische schreibt: «Robert Hughes, for instance, appears to be suggesting that whereas physically challenged is a ludicrous attempt to gloss over the true condition of the person in the wheelchair; cripple would be a perfectly truthful and value-free description. To which one might reply that if the meaning of a word is its use, cripple in present-day English is more like a dysphemism. Applying it to someone with a physical disability – as opposed to, say, a playground companion whose clumsiness you wished to deride – was taken to be offensive, or at least tasteless, long before most English speakers had ever heard of ‹political correctness›» (1995, 143).

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Sichtweise das Recht auf freie Meinungsäußerung dem Schutz von Minderheiten gegenübergestellt wird,233 obwohl sich beide – wie infra gezeigt werden kann – eigentlich gar nicht ausschließen. Gegner von «speech codes»234 führen in der Regel das First Amendment der amerikanischen Verfassung an, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert wird, Befürworter der «speech codes» das Fourteenth Amendment, das gleichen Schutz für alle beinhaltet. (i) Zur Sanktionierung sprachlicher Fehlhandlung – Sprache als Handlung Bei der Beurteilung der Schutzbedürftigkeit stellt sich die Frage nach der Rolle, die der Sprache zugeteilt wird. Lakoff thematisiert ihre Stellung zwischen (straffreien) Gedanken und (strafbarer) Handlung als beobachtbar gemachter Gedanke («thought made observable»).235 Die Entscheidung darüber, ob sprachliches Fehlverhalten strafbar sein soll, wie es mit der Etablierung des Konzepts von «fighting words» eine gewisse Tradition hat,236 bestimmt somit die Rolle, die der Sprache in der Gesellschaft zugestanden wird:

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Cf. Cameron: «[…] the issue is to decide which set of values will be affirmed symbolically in the language of public discourse. The proponents of non-sexist and non-racist language are insisting that certain values (feminist and multiculturalist) should prevail; their opponents represent this as an attack on freedom of expression (and sometimes even freedom of thought)» (1995, 121). Neben den supra unter 5.3.1.1 erwähnten Maßnahmen wurden in manchen USamerikanischen Universitäten Verhaltenskodizes (conduct codes) erlassen, die in erster Linie sprachlich (speech codes) zu definieren sind. Mit ihnen sollen rassistisch oder sexistisch motivierte Beleidigungen (hate speech) und alles, was als eine solche empfunden werden könnte, unterbunden werden. Das Dictionnary of Cautionary Words and Phrases nennt hier z.B. Coconut ‘Mexican-American’, Pimp ‘Afro-American’ oder auch Babe ‘woman’. Cf. Lakoff: «Most of us would agree that thought cannot be an object of legislation and should not become one even if science could develop ways to peer into our minds. On the other hand, overt actions are always subject to control by law, and we would agree that they have to be, if we are to live together more or less peaceably in a state of civilization. We may argue about what kinds of actions should be punishable, and how, but punished bad actions must be. Language is intermediate between thought and action: it is thought made observable. It straddles the line between the abstract and the concrete, the ethereal and the corporeal. Which of its aspects – the ethereal or the physical – should be the basis of our legal understanding of the capacity of language to do harm? Is language inconsequential and therefore immune to legislation? Or is language equivalent to action – world-changing and so capable of harm – in which case legal notice must be taken of injurious linguistic behavior?» (2000, 104). Das 1924 kreierte Konzept sogenannter «fighting words» geht davon aus, dass bestimmte Wörter dazu dienen, eine physische Gegenreaktion hervorzurufen, und daher strafbar sind: «The Court’s assumption is that some words are so very bad that on hearing them, an ordinary person must strike out […] No psychological or other evidence is cited in support of this proposition» (Lakoff 2000, 104).

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«How we feel about hate speech and the First Amendment reflects our view of language itself. If we believe that words are not world-changing, we are apt to be comfortable with an interpretation of the First Amendment that permits much more freedom of speech than is permitted to action. But this leeway comes at the price, ironically, of devaluing language – seeing it as non-action, essentially harmless» (Lakoff 2000, 108).

Die Thematisierung von Sprache als Handlung kann nach Austin in vereinfachter Form in einer Gleichung von sprachlichem Fehlverhalten als schlechter Tat dargestellt und betrachtet werden. Durch Sprache können zumindest unmittelbar keine physischen Wunden erzeugt werden, was sie daher harmlos erscheinen lässt. Im Zuge der Psychologisierung der modernen Gesellschaft gewinnen jedoch die durch Sprache erzeugbaren psychischen Verletzungen zunehmende Aufmerksamkeit. – Kontextgebundenheit als definitorisches Problem Wenn aber sprachliches Fehlverhalten juristische Konsequenzen haben sollte, so stellt sich das Problem seiner genauen Definition, wie sie schon bei der Blasphemie (5.1.2.2) umstritten war. Der immer wieder unternommene Versuch,237 Kataloge sprachlichen Fehlverhaltens aufzustellen, bzw. die Klassifizierung eines bestimmten Ausdrucks als unkorrekt ist schon aufgrund der prinzipiellen Kontextgebundenheit von Sprache schwierig, was nicht zuletzt den Lexikographen Schwierigkeiten bereitet (cf. z.B. Haller-Wolf/Osterwinter 1997): «[…] words mean different things to different people in different contexts: [...] African Americans can call one another ‹nigger› with relative impunity under specific conditions, but a white person cannot do the same» (Lakoff 2000, 105).

Vor allem aber kann ein solcher Katalog durch die fast unbegrenzte Anzahl potentieller rassistischer Beschimpfungen ad absurdum geführt werden. Besonders deutlich zeigte dies die Debatte darüber, ob die Reaktion eines Weißen auf eine lärmende Gruppe Farbiger, ihnen das Verhalten einer Herde von Wasserbüffeln vorzuwerfen, eine rassistische oder eine ganz «normale» Beschimpfung sei (cf. Cameron 1995, 157s.), was eben bedeutet, dass eine relativ «harmlose» Ausdrucksweise je nach Kontext auch rassistisch interpretiert werden kann. «There is no word so pejorative that it might not, in some context, be used without hateful effect […]; conversely there are many words, not obviously candidates for proscription, that could in some context reasonably be judged unacceptable» (Cameron 1995, 158).

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Cf. z.B. die supra schon angesprochenen «speech codes» US-amerikanischer Universitäten oder das Dictionnary of Cautionary Words and Phrases der Polizei von Manchester.

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Die Beurteilung, ob eine Aussage rassistisch ist oder nicht, mag somit in manchen Fällen weniger von objektiv feststellbaren Tatsachen abhängen als vielmehr von der Frage, wer (ob Ankläger, Verteidiger oder Richter) über das größere Durchsetzungsvermögen verfügt.238 Ferner bleibt unbestritten, dass auch mit politisch korrekten Ausdrücken schlimme Beleidigungen ausgedrückt werden können, was im Vorgriff auf 5.3.4.4 am Beispiel von gay im Kontext von «Il Colosseo ai gay? Coi leoni dentro» illustriert werden kann: «Gli esponenti della formazione di estrema destra Forza Nuova, che, per protestare contro il gay pride di qualche anno fa, hanno tappezato i muri della capitale di manifesti con su scritto ‹L’Italia ha bisogno di figli non di omosessuali›, e hanno esibito ignobili striscioni che recitavano ‹Il Colosseo ai gay? Coi leoni dentro›, non hanno certo avuto bisogno di sostituire i termini gay o omosessuale con il termine frocio per rendere palese la loro intolleranza omofoba» (Arcangeli 2001a, 298).

(ii) Zur Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung Die Art und Weise, in der Politischer Korrektheit angelastet wird, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken, wird u.a. durch zwei Kritiker der Bewegung deutlich. Der Zyniker Danesh d’Souza wendet sich u.a. mit dem Argument gegen affirmative action-Programme, dass die Diversität innerhalb von Universitäten weniger durch deren ethnische Zusammensetzung vergrößert werden könne als durch die Garantie der Meinungsfreiheit und damit -vielfalt,239 die zur Sicherung des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Rassen teilweise eingeschränkt wurde. Anstelle der Förderung einer «diversity of mind» und einer ganzheitlichen Formung der Persönlichkeit laufe die politisch korrekte Universitätsausbildung also Gefahr, den Studenten ein verzerrtes Realitätsbild mitzugeben, was d’Souza am Beispiel der absolut gesetzten Vermittlung poststrukturalistischer Ideen in entsprechender Übertreibung zu illustrieren sucht: «[…] universities have taught them [their students] that ‹all rules are unjust› and ‹all preferences are principles›; that justice is simply the will of the stronger party; that standards and values are arbitrary, and the ideal of the educated person is largely a figment of bourgeois white male ideology, which should be cast aside;

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Cf. Cameron: «If virtually any expression can be racist in certain circumstances, if people do not agree on which expressions are racist, and if in addition there is no single criterion that definitively settles the question whether an expression is racist, then we are back in the looking-glass world of Humpty Dumpty [cf. die supra zitierte Stelle aus Lewis Carrolls Roman] – the only question becomes ‹who’s to be master›: the complainant who says something was racist, the defendant who swears it was not, or the administrator who has to adjudicate the case?» (1995, 159). Cf.: «The question is not whether universities should seek diversity, but what kind of diversity. It seems that the primary form of diversity which universities should try to foster is diversity of mind» (1993, 233).

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that individual rights are a red flag signaling social privilege, and should be subordinated to the claims of group interest; that all knowledge can be reduced to politics and should be pursued not for its own sake but for the political end of power; that convenient myths and benign lies can substitute for truth; that double standards are acceptable as long as they are enforced to the benefit of minority victims; that debates are best conducted not by rational and civil exchange of idea, but by accusation, intimidation, and official prosecution […] In short, instead of liberal education, what American students are getting is its diametrical opposite, an education in closed-mindedness and intolerance, which is to say; illiberal education» (1993, 231s.).

Ebenso überspitzt formuliert 1991 ein anderer Vertreter der Republikaner, der 41. Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush senior, die Bedrohung der Meinungsfreiheit in seiner erwartungsgemäß Kritik nach sich ziehenden Rede240 an der University of Michigan. «Ironically, on the 200th anniversary of our Bill of Rights, we find free speech under assault throughout the United States, including on some college campuses. The notion of political correctness has ignited controversy across the land. And although the movement arises from the laudable desire to sweep away the debris of racism and sexism and hatred, it replaces old prejudice with new ones. It declares certain topics off-limits, certain expressions off-limits, even certain gestures off-limits. What began as a crusade for civility has soured into a cause of conflict and even censorship. Disputants treat sheer force […] as a substitute for the power of ideas. Throughout history, attempts to micromanage casual conversation have only incited distrust. They have invited people to look for an insult in every word, gesture, action. And in their own Orwellian way, crusades that demand correct behavior crush diversity in the name of diversity» (Bush [1991] 1992, 228).

Wenn Bush verkündet, Politische Korrektheit «declares certain topics offlimits, certain expressions off-limits, even certain gestures off-limits», setzt er sie mit Themen-, Ausdrucks- und Handlungstabus gleich. Die für eine pluralistische Gesellschaft fundamentale Möglichkeit, alle Themen unbeirrt ansprechen zu können, ist aber nicht nur durch die der US-amerikanischen Linken angelastete übertrieben ausgelegte Politische Korrektheit gefährdet, sondern auch durch eine von der Rechten vorgegebenen Patriotische Korrektheit,241 denn auch diese erklärt bestimmte Themen (wenn auch an-

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Harvey, der Bush teilweise beipflichtet («No matter how hypocritical, hollow, and demagogic, the president’s assertion that […] ‹we find free speech under attack› […] was, by my own observation, more than a little true»), merkt an: «True, George Bush and other conservatives use the PC issue for their own slimy political ends» (1992, 142). Wilkins schreibt: «I took it as a personal insult» (1992, 161). Dabei sei darauf verwiesen, dass der politischen Einteilung links/rechts heute nicht mehr zwangsläufig bestimmte ideologische Positionen zugrunde liegen. In den USA, in denen (anders als in Kanada mit inzwischen fünf Parteien) das Zweiparteiensystem theoretisch fortbesteht, verlaufen wenig Abstimmungen entlang der Parteigrenzen, so dass häufig infrage gestellt wird, inwieweit dort überhaupt noch von Parteien gesprochen werden kann. Ähnlich beschreibt Denis Jeambar

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dere) für unkorrekt und damit für tabu, weswegen die Worte Bushs manch einem «hypocritical» erscheinen (cf. p. 290 n. 240) – es sei nur an das Beispiel des zu Beginn des Irak-Kriegs in den USA weitgehend respektierten Tabus erinnert, diesen zu kritisieren, oder die Anschläge des 11. September 2001 zu relativieren.242 Doch sind ähnliche Beispiele überall zu finden. So argumentiert z.B. Nordbruch, wenn er unter den «in Deutschland herausragenden Tabuthemen [...]: die nationalsozialistische Geschichte Deutschlands, die Frauen sowie die Ausländer» anspricht (1999) und bedauert, dass die Übertretung der Tabus – nach dem von Knütter geprägten Begriff – die «Faschismuskeule» bzw. die Rassismus- oder Sexismuskeule zur Folge habe, und es durch Politische Korrektheit (die largo sensu in Deutschland z.B. auch den Historikerstreit der 1980er Jahre betrifft) zu einer «Verkümmerung der Geistesfreiheit im ehemaligen Land der Denker» komme (Nordbruch 1999). Eine solche Verkümmerung, ja Limitierung oder sogar ein Auslöschen von Gedanken sieht auch William Lutz als zentrale Gefahr von doublespeak,243 der unter 5.4.1.2 noch genauer zu behandeln sein wird. – Zur Vermeidung einer Atmosphäre der Angst Ebenso betont Lutz die Bedeutung der Möglichkeit, die eigene Meinung ohne Angst vor Sanktionen äußern zu können.244 Stellen die Demokraten

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die Situation in Frankreich: «La division droite-gauche, on le voit chaque jour, est encore une réalité. Mais elle apparaît désormais davantage comme le fruit de la démocratie formelle que de l’idéologie. Deux blocs sont nécessaires pour faire fonctionner la démocratie, pour organiser l’alternance entre majorité et opposition. En revanche, dans la démocratie réelle, la droite et la gauche n’existent plus. Sur les grands sujets en débat aujourd’hui – l’Europe, l’alliance atlantique, le militaire, le social, le rôle de l’État – la fracture traverse horizontalement les deux camps. Il y a donc d’un côté une contrainte formelle nécessaire à l’alternance, de l’autre une réalité politique qui n’a plus rien à voir avec le clivage d’antan. N’est-ce pas d’ailleurs le probleme majeur du politique aujourd’hui?» (Allègre/Jeambar 1996, 93). Cf. hierzu aus Le Figaro: «[Doris Lessing] n’est en effet pas du genre à mâcher ses mots et ne craint pas la polémique. de se soucier du ‹politiquement correct›, elle commente ainsi les attentats islamistes de New York contre les tours jumelles: ‹Le 11 Septembre a été terrible, mais si on se repasse l’histoire de l’IRA […], ce qui s’est passé aux États-Unis n’a pas été aussi terrible que cela›» (Cambon 2007). Cf.: «At its worst, doublespeak, like newspeak, is language designed to limit, if not eliminate, thought. Like doublethink, doublespeak enables speaker and listener, writer and reader, to hold two opposing ideas in their minds at the same time and believe in both of them» (1989, 9). Cf.: «Many people have long held the notion that free speech means the right to speak on controversial topics without fear of being arrested, attacked, or shut up. If people didn’t like what you said, they could always argue with you, exercising their right of free speech. At least that’s the way the system is supposed to work, according to Thomas Jefferson and a few others. Now comes the idea that free speech means the right to shut other people up because you don’t like what they have to say. To claim that destroying newspapers because you don’t like what’s

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das Recht auf freie Meinungsäußerung in Frage, wird ihnen immer wieder vorgeworfen, mit Republikanern zu koalieren, die dies z.B. in der McCarthyÄra taten oder auf die Kritik am Vietnam- oder am Golf-Krieg entgegneten «America: Love it or leave it!» (Lakoff 2000, 114). Das Eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung hat demnach weniger mit negativen Äußerungen gegenüber betroffenen Gruppen zu tun, als vielmehr mit der Sorge, andernfalls eine Atmosphäre ständiger Angst zu schaffen. Illustriert sei dies am vieldiskutierten Beispiel Stephan Thernstroms, eines Professors der Harvard University, der 1987 aufgrund von Äußerungen während seiner Vorlesung zum Thema Peopling of America, die manchen in ethnischer Hinsicht wenig sensibel erschienen,245 in der Universitätszeitung The Harvard Crimson kritisiert wurde. Dieser zunächst eher periphere Vorfall löste eine lebhafte Debatte in den Medien aus,246 doch sollte Thernstrom in den kommenden Jahren viel Sympathie zuteilwerden. John Taylor charakterisiert die Lage Thernstroms wie folgt: «‹Racist› ‹Racist!› ‹The man is a racist!› ‹A racist!› Such denunciations hissed in tones of self-righteousness and contempt, vicious and vengeful, furious, smoking with hatred – such denunciations haunted Stephan Thernstrom for weeks. [...] It was hellish, this persecution. Thernstrom couldn’t sleep. His nerves were frayed, his temper raw» (1991 und 1993).

Die in den 1970er Jahren noch gegen die Positionen christlicher Fundamentalisten (z.B. Protest gegen das Unterrichten der Evolutionslehre) eintretenden Demokraten verhielten sich nach Taylor nun selbst ähnlich fanatisch wie diese und plädierten – geeint durch die Überzeugung vom rassistischen,

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printed in them is exercising your right of free speech is doublethink» (Lutz 1996, 182). In inhaltlicher Hinsicht sind die Lektüre aus dem Tagebuch eines Plantagenbesitzers ohne Berücksichtigung der Position der Gegenseite, die Empfehlung eines Buches, in dem affirmative action auch kritisch betrachtet wird, und als negativ gewertete Aussagen über die farbige Familie zu nennen; in sprachlicher Hinsicht wurde die Verwendung des Ausdrucks Indian anstelle von Native American moniert. Die Darstellung durch Taylor (1991) und d’Souza (1991) wird aber auch stark kritisiert, was die nachfolgende Fußnote zeigt. Die Gegenseite führt aus, dass der Fall in den Medien falsch dargestellt wurde, um Politische Korrektheit (bewusst oder unbewusst) ad absurdum zu führen. Wiener schreibt zur stark rezipierten Darstellung des Falls in d’Souza (1991): «In fact, almost every element of the story d’Souza tells is erroneous» (1992, 98), R. Ehrenreich zu Taylors Artikel (1991): «Taylor seriously distorted what actually happened» (1992, 134), was jeweils begründet wird. Dass der Schrecken Politischer Korrektheit in den Medien im Allgemeinen hochgespielt wird, äußert u.a. R. Ehrenreich: «During the 1990–91 academic year, according to the survey’s findings, faculty members complained of pressure from students and fellow professors to alter the political and cultural content of their courses at only 5 percent of all colleges. So much for the influence of radicals, tenured or otherwise» (1992, 133).

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sexistischen und unterdrückenden Charakter der Gesellschaft – ebenso für eine Einschränkung der freien Meinungsäußerung wie ihr ehemaliger Gegner.247 Das so geschaffene Klima der Angst erkläre Vergleiche wie die Assoziationen mit China während der Kulturrevolution, mit den USA zu Zeiten McCarthys248 oder mit Deutschland unter den Nazis.249 Die angeführten Parallelen sind natürlich realitätsfremd und unhaltbar,250 zeigen aber dennoch die Vehemenz und Verbissenheit, mit der die Vorfälle diskutiert wurden. Wie supra ausgeführt, geht es vielen Befürwortern des Rechtes auf freie Meinungsäußerung vor allem um die Angst einer Fehlinterpretation ihrer möglicherweise sorglos gewählten Wörter bzw. um die damit verbundene Notwendigkeit sehr bedachtsamer Ausdruckswahl. Das «Warum» des Wi-

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Cf. Taylor: «The new fundamentalists […] include multiculturalists, feminists, radical homosexuals, Marxists, New Historicists. What unites them – as firmly as the Christian fundamentalists are united in the belief that the Bible is the revealed word of God – is their conviction that Western culture and American society are thoroughly and hopelessly racist, sexist, oppressive» (1991, 34). Dabei äußert z.B. der PC-Kritiker R. Hughes: «The comparison to McCarthyism could be made only by people who either don’t know or don’t wish to remember what the Senator from Wisconsin and his pals actually did to academe in the ’50s: the firings of tenured profs in mid-career, the inquisitions by the House of Representatives Committee on Un-American Activities on the content of libraries and courses, the campus loyalty oaths, the whole sordid atmosphere of persecution, betrayal and paranoia. The number of conservative academics fired by the lefty thought police, by contrast, is zero» (in Time 03.02.1992, 46; ähnlich R. Hughes 1993, 56). Ähnliches unvergleichbar mit gegenwärtigen Geschehnissen wie die Entwicklungen unter McCarthy (n. 248) sind die Ereignisse während der nazionalsozialistischen Diktatur, die jedoch bis in die Gegenwart assoziativ herangezogen werden, obwohl insbesondere Parallelen zwischen heute lebenden Personen und Opfern des Nationalsozialismus Tabucharakter haben, um einer Verharmlosung des Holocausts vorzubeugen (zu Vergleichen deutscher Politiker mit Tätern des NS-Regimes cf. supra p. 243 n. 152). So erregte z.B. im Oktober 2008 die Aussage des Präsidenten des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, Empörung, die Wirtschaftskrise von 1929 habe Deutschland die Juden getroffen, derzeit seien es die Manager, und im November 2008 die Wortwahl des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff in der Sendung Studio Friedmanauf N24: «Ich finde, wenn jemand zehntausend Jobs sichert und Millionen an Steuern zahlt, gegen den darf man keine Pogromstimmung verbreiten», die er sich gezwungen sah, folgendermaßen zu korrigieren: «Nichts kann und darf mit der Judenverfolgung und den schrecklichen Pogromen gegen die Juden verglichen werden». Tabuisiert werden aber nicht nur ursprünglich mit der Judenverfolgung in Zusammenhang stehende Ausdrücke, sondern auch antike Wendungen, die vom NS-Regime umgedeutet wurden (p. 15 n. 22). Zum aktuellen Vorkommen solcher Vergleiche in Frankreich cf. z.B. die Parallelen, die Chaudenson zwischen Gruppen der Antillen und dem Ku-Klux-Klan, Pol Pot, Ceauşescu und Hitler zieht (in Reutner 2005, 95), oder den Vorwurf gegenüber den «néo-créoleurs» als «talibans déguisés en chevaliers du nouvel ordre créole» in einem Leserbrief von Delépine (in Reutner 2005, 86 n. 311).

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derstandes gegen Politische Korrektheit sieht Deborah Cameron daher auch weniger in einer Opposition gegen die Sache selbst als gegen die Pervertierung von Sprache: «Why do so many people so deeply resent campaigns against sexist, racist, ageist and ableist language? Is it because they are dyed-in-the-wool bigots who want language to ‹reflect society› by faithfully expressing widespread social prejudices? I think the evidence points in a different direction. As we will see, objections to linguistic reform tend to focus much more on language than on the social questions at issue […] It is ‹perverting language› and ‹reading things into words› which attract opposition» (Cameron 1995, 119).251

– Freie Meinungsäußerung als Minderheitenschutz? Das Festhalten am Recht auf freie Meinungsäußerung ist somit nicht nur im Interesse der qualitativen Mehrheit, die andernfalls in einer Atmosphäre ständiger Angst vor sanktionierbaren sprachlichen Fehltritten zu leben hätte, sondern auch von Vorteil für die qualitative Minderheit selbst, deren Anliegen durch die Einschränkung des Rechts in verschiedener Hinsicht sogar geschwächt werden kann, wofür verschiedene Überlegungen stehen. Zunächst steht außer Frage, dass überzogene Reaktionen auf «politisch unkorrektes» Sprachverhalten nicht im Sinne der betroffenen Minderheiten sind, sondern eher zusätzliche Opposition erzeugen, wie das Beispiel des Thernstrom-Falles zeigte (cf. 5.3.2.2ii). Ebenso wurde bereits angesprochen, dass tatsächliche Rassisten es gegebenenfalls durchaus vermögen, ihre Kritik in «politisch korrekter» Form und trotzdem nicht weniger stark auszudrücken (cf. 5.3.2.2i), während so manche Bürger in Unkenntnis der aktuellen Zensurvorgaben «politisch unkorrekte» Ausdrücke womöglich ohne tatsächlich rassistische Hintergedanken wählen, was die entsprechende Beurteilung der jeweiligen Ausdrucksweise nicht gerade vereinfacht. Ferner kann orthodoxe Politische Korrektheit die Durchsetzung der Anliegen qualitativer Minderheiten insofern behindern als sich auch eine Parallele zwischen radikalen Personengruppen und radikalen Meinungen ziehen lässt. Ebenso wie bei Ersteren die Gefahr des Abtauchens in den Untergrund und damit eine eventuelle Extremisierung durch die Integration in die Gesellschaftsstrukturen gemindert werden kann,252 ist bei Letzteren eine

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«Radical verbal hygiene wants to leave speakers with no unpoliticized linguistic corner into which they can retreat. Merely continuing to speak as they have always spoken will not protect them, for the bringing into existence of a different way of speaking makes the old one appear – whether in fact it is or not – as a wilfully conservative or reactionary choice. In this respect, the radicals are iconoclasts, destroying the ideal of a value-free language» (Cameron 1995, 162). Cf. z.B. den deutschen Außenminister zu Zeiten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Frank-Walter Steinmeier, der im Januar 2007 nach der Wiedereroberung Mogadishus durch die von äthiopischen Truppen gestützten Kräfte der Übergangsregierung fordert, Islamisten in die Bildung der somalischen Regierung

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Verlagerung des Meinungsaustauschs in die Öffentlichkeit einem Zurückdrängen in die Privatsphäre vorzuziehen, denn gegen Rassismus im Verborgenen kann ebenso wenig effektiv angegangen werden wie gegen aus dem Untergrund agierende Terroristen. Demnach ist das Vorschreiben bestimmter Aussagen oder Reaktionen, ja sogar das Verbot des Lachens, laughism,253 für die Durchsetzung der Anliegen Politischer Korrektheit insofern kontraproduktiv, als durch das Verbot solcher Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit diese im nicht-öffentlichen Raum verstärkt werden können, wo sie schlechter zu kontrollieren sind. Daher wird immer wieder die Notwendigkeit öffentlicher Diskussionen ohne «Korrektheitskeule» betont,254 und beklagt, dass durch Selbsteinschüchterung und Selbstzensur (cf. Epstein 1992, 150s.) der unbestreitbar wichtige Dialog zwischen unterschiedlichen kulturellen Identitäten behindert werde.255 Dabei kann das Recht auf freie Meinungsäußerung Minderheiten auch insofern schützen, als Kategorien wie Rasse im postmodernen Sinn sozial konstruiert sind und solche Konstruktionen gerade aus der Konfrontation mit sie in Frage stellenden Meinungen und der Entwicklung von sie widerlegenden Argumenten gestärkt hervorgehen könnten (cf. z.B. Post 1994, 127s.). Der Ertrag einer Einschränkung der freien Meinungsäußerung erscheint im Sinne der Betroffenen eher gering. Dessen ungeachtet führt aber zumindest die moderat geführte Debatte um Politische Korrektheit nicht nur zur Verbesserung des Selbstwertgefühls der einzelnen Minderheiten, sondern auch zur zunehmenden Sensibilisierung der Mehrheitsbevölkerung ihnen gegenüber. Zur Einschätzung der Auswirkungen diverser Umbenennungen ist der folgende Blick auf die Verbindung zwischen Sprache und Denken notwendig.

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miteinzubeziehen. Ein weiteres Beispiel ist die Integration von Sinn Féin ins Parlament. Cf. Harvey: «Then there’s laughism, a University of Connecticut word for inappropriate responses to ethnic jokes and other un-PC snickering. It’s no wonder students seem so grim these days. Robert Schmuhl [...] recently noted ‹a growing reluctance to respond to humor in the public setting of the classroom out of fear that any exercise of one’s funny bone will be misinterpreted›. But outside the classroom, he discovered, it’s a different story» (1992, 146). Cf. z.B.: «The PC push is not only hampering free speech and inquiry, it has also proven grossly ineffective. It’s time for the Left – on campus and off – to stop trying to force our ideas on others. We must return to the business of listening, arguing, convincing. This is the true political correctness» (Harvey 1992, 147). Cf. z.B. Epstein: «I frequently find myself in discussions that seem to be dominated by a collective fear of saying something wrong: fear of betraying a racist, sexist, or homophobic attitude, or criticizing a movement made up of women, people of color, or homosexuals. I find this atmosphere of self-intimidation among students, among faculty, and in progressive circles outside the university» (1992, 149).

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5.3.2.3 Der Euphemismus zwischen Sprache und Denken Vor allem bei der Wahl und Beurteilung der semantischen Aussage politisch korrekter Ersatzmöglichkeiten stellt sich die Frage, inwiefern Sprache das Denken und damit gesellschaftliche Realitäten zu beeinflussen vermag. In diesem weiteren Zusammenhang stehen einige Überlegungen, die in der Diskussion über politische Korrektheit immer wieder vorgebracht werden. (i) Sprache als Spiegel des Denkens – Die Spirale des Ersatzes Schon häufig thematisiert wurden die Abnutzungserscheinungen von Euphemismen, so u.a. von Bruno Migliorini: «Non appena un termine eufemistico si consolida nell’uso, e sostituisce il termine proprio corrispondente, viene meno allo scopo per cui era stato foggiato; tende perciò a essere sostituito da eufemismi meno consunti. Cimitero era in origine un eufemismo (koιμητήkιoν ‹luogo di riposo›); camposanto, foggiato più tardi per evitare cimitero, divenne anch’esso termine proprio; frasi come andare all’ombra dei cipressi, conservano, per ora, il valore eufemistico» (Migliorini 1932, 553).

Ein Argument gegen die Annahme einer möglichen Realitätsveränderung durch sprachliche Modifikationen ist demnach die sich in manchen Fällen immer schneller drehende Spirale, die vom bloßen sprachlichen Ersatz in Bewegung gesetzt werden kann: Ist ein neuer Ausdruck erst im Gebrauch, erhält er häufig ähnlich negative Konnotationen wie der ersetzte und muss selbst erneuert werden. Der Verweis auf diesen Vorgang wird oft benutzt, um die Resistenz negativer Haltungen zu veranschaulichen und zu belegen, dass es sprachliche Veränderungen alleine nicht vermögen, Änderung im Denken herbeizuführen, so dass politisch korrekte Sprachmaßnahmen höchst ineffizient seien. Als Beispiele für geringe Halbwertszeiten werden im Englischen immer wieder die in mehrere Phasen unterteilten, obwohl nicht immer wirklich unterteilbaren, Umbenennungen Farbiger (nigger  negro  colo(u)red  black  African-American), Behinderter (cripple  handicapped  disabled  mancherorts physically challenged) oder älterer Menschen (old-age pensioner  senior citizen, old  elderly) angeführt. Als häufig gewähltes Beispiel für eine Kettenreaktion dieser Art sei im Italienischen z.B. der Ersatz von storpio, -a durch invalido, -a  handicappato, -a  portatore, -trice di handicap  disabile  diversamente abile  ipocinetico, -a genannt. In manchen Fällen ist das Argument tatsächlich gerechtfertigt, dass mit solchen Ersatzprozessen kein wirkliches Umdenken stattfand, so bei engl. nigger, negro, colo(u)red und black,256 die auf der Inhaltsseite jeweils die

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Black bringt durch die Aneignung des Ausdrucks durch die Bezeichneten aber auch eine neue Perspektivierung mit sich (cf. infra p. 297), wurde aber nicht durch-

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Hautfarbe zur Benennung benutzen und deren Ersatz jeweils nur dazu diente, eine zuvor tabu gewordene Ausdrucksweise zu vermeiden. Ähnlich liegt der Ersatz von cripple darin begründet, dass das Wort nicht mehr als neutrales «Normalwort» betrachtet werden konnte, da es zum Schimpfwort geworden war und inzwischen einen Dysphemismus darstellte. Marazzini, der die Politische Korrektheit sehr schnell abhandelt, stellt dies denn auch als generelles Faktum fest: «Le parole adibite allo scopo di correggere i presunti pregiudizi linguistici, insomma, si ‹consumano›, assumendo via via la connotazione e l’aura negativa die termini che dovevano sostituire con vantaggio» (1999, 223).

– Die Frage der Neuperspektivierung Dass sich alte Urteile häufig an neue Ausdrücke anhängen, zeigt so tatsächlich gewisse Grenzen sprachpflegerischer Maßnahmen auf, die bei dem Versuch, alte Stigmata zu durchbrechen, immer wieder scheitern und damit häufig zwar gut gemeint, aber nicht gut durchdacht sind. Allerdings sind nicht alle Ersatzprozesse ein Zeichen für die geringe Effizienz von Verbalhygiene, geht dem Ersatz doch nicht immer die unbedingte Stigmatisierung des zuvor verwendeten Ausdrucks voraus. So werden beim Austausch von black durch Afro-American Aspekte zur Identitätsbeschreibung herangezogen, die über die bloße Benennung nach der Hautfarbe hinausgehen, ohne dass die ersetzte Bezeichnung zuvor ihren neutralen Charakter völlig verloren hätte. Die Präferenz für bestimmte Ersatzwörter liegt also häufig auch in dem Wunsch begründet, aufgrund einer veränderten Sensibilisierung neue Aspekte bei der Benennung zu berücksichtigen. So wurde it. handicappato, -a angelastet, den Menschen auf seine Behinderung zu reduzieren, was den Ersatz durch it. portatore, -trice di handicap nach sich zog. An it. disabile wurde gerügt, dass es durch das negative Präfix unkorrekt klinge, weswegen heute it. diversamente abile vorgezogen wird. Ebenso lässt sich an das Beispiel, das Marazzini zur Vergegenwärtigung des ständigen Ersatzes anführt: «[…] come da noi si è condannato vuccumprà, ma ora si condanna anche extracomunitario, proponendo un equivalente impreciso o decisamente fuorviante come straniero» (Marazzini 1999, 223).

nicht, wie von ihm beabsichtigt, die Argumentation für bloßen Ersatz anschließen, da auch hier eine deutliche «Verbesserung» in der Perspektivierung vollzogen wurde. Ein Fortschritt ist sicherlich der Ersatz von it. vu-

gängig in diesem Sinne verwendet, denn Cameron schreibt z.B.: «the main virtue of colored was that it enabled people to avoid the then taboo word black», was sich auf den ersten Blick mit der Aussage: «Negro and colored yielded to black» (1995, 146), zu widersprechen scheint, sich aber womöglich durch den Umstand erklärt, dass sich die Ablöseprozesse nicht bei allen Sprechern auf die gleiche Weise vollzogen.

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cumprà, welches doppelt beleidigend ist, insofern es gleichzeitig den Beruf des Bezeichneten und dessen Sprache ins Lächerliche zieht, durch it. extracomunitario, -a, das rein denotativ alle Nicht-EU-Bürger beschreibt, faktisch aber v.a. auf mittellose Einwanderer afrikanischer Herkunft angewandt wird. In einem zweiten Schritt wurde der ausschließende Charakter des Präfixoids extra- und die sprachliche Zusammenführung einer höchst heterogenen Gruppe von Personen kritisiert und das Wort daher erneut zu ersetzen versucht, was wiederum auf der rein faktisch-denotativen Ebene begründet liegt. Mit dem Ausdruck it. straniero, -a ist keine Lösung der genannten Kritikpunkte gefunden, so dass auch sein baldiger Ersatz wohl voraussehbar ist.257 Bei diesen Ersatzprozessen geht es also um eine neue inhaltliche Aussage, eine Neuperspektivierung, wie sie z.B. die Betonung von Unterschieden gegenüber derjenigen von Defiziten anschaulich zeigt. So benennen engl. chronologically gifted oder experientially enhanced das spätere Lebensalter über ganz andere Aspekte als das einfache old. Das diesen Sprachkorrekturen zugrunde liegende Differenzmodell wird infra (cf. 5.3.4.3ii) noch zu betrachten sein. – Ist Sprachhygiene Selbstzweck? Der Kritiker der Politischen Korrektheit, Robert Hughes, ist natürlich fest davon überzeugt, dass eine Umbenennung zu keiner Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten führen kann: «[...] the usual American response to inequality is to rename it, in the hope that it will then go away. This […] destroys language without shifting reality one inch» (1993, 17s.).

Polemisch versucht er dies u.a. damit zu illustrieren, dass der «Krüppel» nicht aus dem Rollstuhl aufsteht, wenn er als «Körperlich Herausgeforderter» bezeichnet wird: «We want to create a sort of linguistic Lourdes, where evil and misfortune are dispelled by a dip in the waters of euphemism. Does the cripple rise from his wheelchair, or feel better about being stuck in it, because someone back in the days of the Carter administration decided that, for official purposes, he was ‹physically challenged›? Does the homosexual suppose others love him more or hate him less because he is called a ‹gay› […]? The net gain is that thugs who used to go faggot-bashing now go gay-bashing» (1993, 18s.).

Ebenso habe die Umbenennung von Menschen mit schwarzer Hautfarbe deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit nicht positiv beeinflussen können,258

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Cf. auch im Deutschen zur Vermeidung des stigmatisierten dt. Ausländer die Ausdrucksweise ausländische Mitbürger, die wiederum Gegenstand häufiger Pole mik ist. Cf.: «If these affected contortions actually made people treat one another with more civility and understanding, there might be an argument for them. But they do

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was Faloppa die an der Politischen Korrektheit geübte – so völlig inadäquate – Kritik259 wie folgt zusammenfassen lässt: «I negri non saranno più felici, meno discriminati – è stato detto – se li si chiama neri, o persone di colore, o anche afro-americani» (2004, 121). Zwar wird die Möglichkeit eines sozialen Wandels durch sprachliche Änderungen auch von Befürwortern Politischer Korrektheit in Frage gestellt,260 doch gerade die Erregtheit, mit der ihre Wirkungslosigkeit von vielen ihrer Kritiker vertreten wird, gibt zu denken. Warum hält es ein Kritiker der Mühe wert, sich über ein Phänomen zu erregen, das – seiner Meinung nach – sowieso unbedeutend ist? Zumindest drei mögliche Antworten sind denkbar. Erstens könnte dahinter die Sorge vermutet werden, dass die vorgeschlagenen Sprachmaßnahmen den Sprachverfall begünstigen. Sie klingt in dem obigen Zitat von Robert Hughes an, in dem er behauptet, die Umbenennung würde Sprache zerstören («destroys language»; 1993, 17s.); doch ist eine solche sprachpuristisch prognostizierte Apokalypse angesichts stets laufender Sprachwandelsprozesse nicht weiterführend und kann damit schnell verworfen werden.261 Zweitens mag die Vehemenz der Äußerungen durch die Sorge

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no such thing. Seventy years ago, in polite white usage, blacks were called ‹colored people›. Then they became ‹negroes›. Then, ‹blacks›. Now, ‹African-Americans› or ‹persons of color› again. But for millions of white Americans, from the time of George Wallace to that of David Duke, they stayed niggers, and the shift of names has not altered the facts of racism, any more than the ritual announcement of Five-Year Plans and Great Leaps Forward turned the social disasters of Stalinism and Maoism into triumphs» (R. Hughes 1993, 20). Zu solcher Kritik in Frankreich cf. z.B.: «On peut, pour se la jouer morale un chouïa, habiller des immigrés clandestins du terme bien neutre, bien vague et banalisant de ‹sans-papiers› ou rebaptiser les ‹fonds de pension› en moins connotés ‹revenus d’épargne›, reste que je n’ai personnellement jamais vu autant de clochards dans les rues (le fait des les réétiqueter SDF n’ayant à l’évidence pas changé grand-chose, du moins pas dans le bons sens) et toujours pas beaucoup d’infirmes, même relookés en ‹personnes à mobilité réduite› ou ‹personnes en fauteuil› dans les personnels des entreprises» (Merle 2004, 60). Cf. z.B. Barbara Ehrenreich: «There is a tendency to confuse verbal purification with real social change. […] Now, I’m all for verbal uplift. I like being called Ms. I don’t want people saying ‹man› when they mean me, too. I’m willing to make an issue of these things. But I know that even when all women are Ms., we’ll still get sixty-five cents for every dollar earned by a man. Minorities by any other name – people of color, or whatever – will still bear a huge burden of poverty, discrimination, and racial harassement. Verbal uplift is not the revolution» (1992, 335s.). Cf. auch Cameron: «For at least half this century, otherwise intelligent people have been able to get away with any amount of sententious rubbish, simply by uttering this magical phrase. ‹The language is under attack! We must ride to the rescue immediately!› Radical verbal hygiene offers a powerful challenge to received wisdom about ‹language›. Explicitly or implicitly, it asks: what language? Whose language? Where does ‹the language› reside, if not in the practice of its speakers? And in that case, who can legitimately decide that the practices of certain speakers are

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begründet sein, dass politisch korrekte Sprache von den wichtigeren, außersprachlichen Veränderungen abhalte, die unbestreitbar ein gesellschaftliches Engagement erfordern, das sich nicht auf Sprachkorrekturen beschränken kann. Eine Begleitung konkreter Veränderungen durch sprachliche Maßnahmen ist den Belangen der Minderheiten aber sicherlich förderlich, so dass als dritter Erklärungsversuch die Annahme nahe liegt, dass Sprachmaßnahmen doch mehr bewirken könnten als die Kritiker Politischer Korrektheit einräumen, was zu einem Blick auf grundsätzliche Fragen führt. (ii) Sprache als Modifikator des Denkens – Zum philosophischen Hintergrund Wenn Denken in manchen Fällen auch ohne Sprache vor sich gehen kann,262 ist es in der Regel nur innerhalb des von der Sprache vorgegebenen Begriffskanons und Rahmens möglich und betrifft damit auch die Gedankenentwicklung. Dies hat zur Herausbildung von Vorstellungen geführt, die vom sprachlichen Relativismus bis hin zum Determinismus reichen, was mit einem historischen Exkurs an ausgewählten Vertretern dieser Positionen von Locke über Leibniz und Condillac, Herder und Humboldt bis hin zu Weisgerber, Sapir und Whorf illustriert werden kann.263 In Ansätzen findet sich der Gedanke, dass sprachlich nicht kodierte Unterscheidungen auch vom Denken nicht gemacht werden können, bereits im 17. Jahrhundert. Locke, der im Gegensatz zur platonischen Auffassung der Teilhabe an ewigen Ideen das Konzept angeborener Gewissheiten ablehnt und ebenso wie später Kant festhält, dass der Mensch nur die «nominale Essenz», nicht aber das wirkliche Wesen einer Substanz (bei Kant: «das Ding an sich») erkennen kann, formuliert im Kapitel «Of the Names of Substances» seines Essay concerning human understanding (1690) den Gedanken einer Verbindung aus Sprache und Wahrnehmung besonders klar, wenn er am Beispiel der Bezeichnung von ‘Eis’ als harden’d Water durch einen in Jamaika sozialisierten Engländer erklärt, dass die Kategorisierung existierender Dinge nicht naturgegeben ist: «If I should ask any one, whether Ice and Water were two distinct Species of Things, I doubt not but I should be answered in the affirmative: And it cannot be denied, but he that says they are two distinct Species, is in the right. But if an Englishman, bred in Jamaica, who, perhaps, had never seen nor heard of Ice, coming into

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‹attacks› on a language that in principle also belongs to the alleged attackers?» (1995, 162). Crystal verwendet als Beispiel für sprachunabhängiges Denken das der Visualisierung des eigenen Arbeitsweges, dem er die sprachgebundene Wegbeschreibung für einen Fremden gegenüberstellt (1987, 14). Doch stellt sich die Frage, ob eine solche Visualisierung nicht auch häufig sprachlich formulierten Begriffen folgt. Weitere Vertreter wären sicherlich zu nennen; für eine genauere Darstellung dieser knappen Synopse cf. u.a. Ricken (1984, 210–231).

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England in the Winter, find, the Water he put in his Bason at night, in a great part frozen in the morning; and not knowing any peculiar name it had, should call it harden’d Water; I ask, Whether this would be a new Species to him, different from Water? And, I think, it would be answered here, It would not to him be a new Species, no more than congealed Gelly, when it is cold, is a distinct Species from the same Gelly fluid and warm; or than liquid Gold, in the Fornace, is a distinct Species from hard Gold in the Hands of a Workman. And if this be so, ‘tis plain, that our distinct Species, are nothing but distinct complex Ideas, with distinct Names annexed to them. ‘Tis true every Substance that exists, has its peculiar Constitution, whereon depend those sensible Qualities, and Powers, we observe in it: But the ranking of Things into Species, which is nothing but sorting them under several Titles, is done by us, according to the Ideas that we have of them: Which tho’ sufficient to distinguish them by Names; so that we may be able to discourse of them, when we have them not present before us: yet if we suppose it to be done by their real internal Constitutions, and that Things existing are distinguished by Nature into Species, by real Essences, according as we distinguish them into Species by Names, we shall be liable to great Mistake» (Human understanding III, VI, § 13 – 1975, 447s.).

Leibniz beschreibt die Sprache als «Spiegel des Verstandes» (1697, 25), doch sieht er sie noch nicht als erkenntnisleitend. Der Gedanke, über eine Verbesserung der Sprache auch eine Verbesserung des Denkens zu ermöglichen, wird erst im Sensualismus dominant: «Das sensualistische Postulat der wechselseitigen Entwicklung von Sprache und Denken und die Anerkennung der Sprache als Hauptinstrument der gedanklichen Analyse begründen bedeutend umfassender als Leibniz und Locke die Forderung, durch Verbesserung der Sprache und sonstiger Zeichensysteme, die Instrumente des Denkens sind, das Denken selbst zu verbessern. […] Die sensualistische Problematisierung der von Sprache zu Sprache unterschiedlichen Prägung des Denkens wurde so zu einer wichtigen theoretischen Quelle der Annahme einer Sprachrelativität des Denkens» (Ricken 1984, 216s.).

Nach Condillac ist Sprache erkenntnisleitend und kann sowohl qualitativ hochwertiges als auch minderwertiges Denken bewirken: «Puisque les langues, formées à mesure que nous analysons, sont devenues autant de méthodes analytiques, on conçoit qu’il nous est naturel de penser d’après les habitudes qu’elles nous ont fait prendre. Nous pensons par elles: règle de nos jugements, elles font nos connoissances, nos opinions, nos préjugés: en un mot, elles font en ce genre tout le bien et tout le mal» (Condillac 1780, 101).

Die Gedanken Condillacs greift u.a. Johann Gottfried Herder auf, wenn er schreibt: «Worte und Ideen sind genau in der Weltweisheit verwandt: wie viel hängt vom Ausdrucke in der Kritik der schönen Wissenschaften ab: durch die Sprache lernen wir bestimmt denken, und bei bestimmten, und lebhaften Gedanken suchen wir deutliche und lebendige Worte: unsre Wärterinnen, die unsre Zunge bilden, sind unsre erste [sic] Lehrer der Logik» (Herder 1767, 177).

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Am häufigsten wird die These der Sprachrelativität des Denkens aber mit dem Namen Wilhelm von Humboldt in Zusammenhang gebracht, der die Idee der «Weltansicht» grundlegend geprägt hat: «In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber nothwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über. Denn das Wort entsteht eben aus dieser Wahrnehmung, ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes. Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjectivität beigemischt ist, so kann man, schon unabhängig von der Sprache, jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich der Seele gegenüber auch wieder [...] mit einem Zusatz von Selbstbedeutung zum Object macht und eine neue Eigentümlichkeit hinzubringt. [...] da auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivität einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht» (Humboldt 1836, 58).

Im 20. Jahrhundert wurde die Vorstellung von der erkenntnisleitenden Funktion der Sprache in Deutschland dann von Leo Weisgerber popularisiert, der die «weltgestaltende Kraft» der Sprache in Wortschatz und Satzbau thematisiert (1962b, Kapitel II) und im Anschluss an seine Postulierung einer «sprachlichen Zwischenwelt» auch von einer «muttersprachlichen Zwischenwelt» spricht, also beschreibt, dass «die sprachlichen Benennungen weder unmittelbar Tatbestände der Außenwelt noch geistige Gebilde anderer Herkunft treffen, sondern primär eine ihnen spezifisch zugeordnete muttersprachliche Denkwelt» (1962a, 70), durch die das Denken geprägt wird. In den USA wurde die Humboldt’sche Erkenntnis von Edward Sapir (1929) formuliert, der erklärt, «that the ‹real world› is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group» (1929, 209) und von einem «tyrannical hold that linguistic form has upon our orientation in the world» (1931, 578) spricht. Sein Schüler Benjamin Lee Whorf verfeinerte die Sapirschen Gedanken in der These, nach der die Sprache die Weltsicht beeinflusst: «[…] language is not merely a reproducing instrument for voicing ideas but rather is itself the shaper of ideas, the program and guide for the individual’s mental activity, for his analysis of impressions, for his synthesis of his mental stock in trade» (Whorf [1940] 1956, 212).

Heute wird die Whorf’sche These in der Regel elastischer formuliert, so dass anstelle der sprachlichen Determiniertheit des Denkens heute eher von einer Beeinflussung gesprochen wird. So lassen sich in der Debatte um die Beeinflussung von Sprache und Denken zwei Grundpositionen festhalten: die sprachidealistische, wonach Sprache die Sicht der Wirklichkeit bestimmt, und die sprachmaterialistische, die den Einfluss der Lebensbedingungen auf die Sprache betont. Beide Auffassungen sind sicherlich nicht unvereinbar, denn die «gesellschaftliche Wirklichkeit manifestiert sich in Sprache, gleichzeitig wird sie aber überhaupt erst durch Sprache ermöglicht und hergestellt» (Girnth 2002, 6). Nicht zuletzt ist es dann wiederum für Nietzsche die Aufgabe der 302

Philosophie und für Heidegger die Aufgabe des Denkens an sich, das Denken von den Fesseln zu befreien, die die Sprache ihm auferlegt. – Zur Bedeutung für heutige Sprachpflegemaßnahmen Sprachliche Veränderungen und Neuerungen können für einen Kritiker der Politischen Korrektheit nur solange irrelevant sein als sie zu keinen kurzfristig feststellbaren konkreten Veränderungen in der Realität oder in der Haltung gegenüber der Realität führen (cf. z.B. supra p. 298s.), denn als allgemeine Auffassung über Sprache ist solche Kritik unhaltbar. Weshalb werden nach einem Machtwechsel so viele Orts- und Straßennamen umgewandelt?264 Wenn Sprache eine triviale Angelegenheit ist, weshalb schufen die französischen Revolutionäre ihren eigenen Wortschatz (cf. Ricken 1981)? Wenn Sprache keinen Einfluss auf das Denken nimmt, weshalb bemühten sich die Alliierten nach dem 2. Weltkrieg so sehr um die Entnazifizierung der deutschen Sprache?265 Wenn sprachliche Veränderungen die Gedankenwelt unberührt lassen, weshalb beschreibt Orwell dann eine Art Gedankenwäsche, die der staatlich verordnete newspeak bei der englischen Bevölkerung bewirkte?266 Immer geht es neben dem Bruch mit dem alten System auch darum, die neue Haltung auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Ebenso wie Sprache Gedanken ermöglicht, kann sie diese natürlich auch verhindern. So bedeutet die Vorstellung eines sprachlichen Determinismus, d.h. die Idee, dass Sprache das Denken einschränkt, in einer negativen Interpretation, dass viele wichtige Erkenntnisse durch die Beschränktheit von Sprache an sich verhindert werden. Werden der Sprache neben den ihr naturgegebenen Grenzen weitere Fesseln auferlegt, besteht die Gefahr, dass

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Es sei hier nur an die Entwelschung und Refranzösierung der Ortsnamen im Elsass erinnert (cf. L. Wolf 1995, 2000), an den Ersatz kommunistischer Ortsnamen im ehemaligen Ostblock (Karl-Marx-Stadt vs. Chemnitz, Stalingrad vs. Wolgograd, Leningrad vs. Sankt Petersburg etc.), an den Austausch hexagonal geprägter Straßennamen durch solche von regionaler Bedeutung in Martinique (cf. Reutner 2005, 33) und an die Umbenennungen der nach zentralen Figuren des deutschen Faschismus benannten deutschen Straßen durch die Alliierten, welche «für viele Deutsche [...] ein erstes öffentliches Zeichen für den Beginn der Besatzungszeit» waren (Deissler 2004, 85). Neben der supra genannten Umbenennung deutscher Straßen ist hier v.a. das Streben nach Ausmerzung bestimmter faschistisch besetzter Wörter zu nennen, denn die «Nazi-Sprache war in den Augen der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsoffiziere auch dadurch gekennzeichnet, dass sie wahre Bedeutungen verschleiere und die Realität hinter nebulösen Bezeichnungen zu verbergen suche. Mit solchen sprachlichen Mitteln sei es den Nationalsozialisten daher möglich gewesen, die Deutschen nach Belieben zu manipulieren» (Deissler 2004, 31). Hier ist natürlich die Begrenztheit der Übertragung der Fiktion auf die Realität zu berücksichtigen. Doch cf. Orwells Ausführungen zu Sprache und Politik (p. 386 n. 433), zu doublethink (p. 369) und Lutz’ Erklärungen zu doublespeak (5.4.1.2).

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das Denken und damit die Meinungsfreiheit über die Maßen eingeschränkt wird (cf. 5.3.2.2ii), wie es de Villiers in seiner Definition von Politischer Korrektheit als «terrorisme intellectuel sur le mode mineur» (1996, 13) geißelt, der sich in einer «pensée unique» (1996, 18ss.) niederschlage. In positiver Sicht ist dann aber auch ein Vermeiden negativer Entwicklungen durch entsprechende Sprachpflege möglich. So vermag politisch korrekte Ausdrucksweise als alleinige Maßnahme zunächst wenig an der tatsächlichen Situation der betroffenen Personen zu ändern, wohl aber an deren Wahrnehmung durch die Gesellschaft: «Secondo alcuni intellettuali, il PC non migliorerà le condizioni lavorative dell’operatore ecologico, ma può influenzare la percezione, spesso negativa, che ne ha la gente» (Crisafulli 2004, 42).

Umgekehrt wurde z.B. der negativ konnotierte Ausdruck dt. Asylant bis in die 1980er Jahre v.a. deshalb kritisiert, da «es zur Beruhigung des Gewissens beitrage, wenn so bezeichnete Flüchtlinge in ihre Verfolgerstaaten zurückgeschickt würden», und ab den 1990er Jahren auch, weil er «fremdenfeindlichen Gewalttaten Vorschub geleistet habe» (Hoffmann 1996, 21s.). Insgesamt gilt für den Euphemismus in besonderer Weise und im Einklang mit der obigen Präzisierung, derzufolge Euphemismen die Realität neu perspektivieren: «Le vocabulaire n’est pas innocent. Notre façon de désigner les personnes et les situations reflète notre façon de les percevoir et, en retour, elle l’influence. Poser une réflexion sur le vocabulaire que nous employons amène les gens à réfléchir sur leurs attitudes et leurs valeurs» (Barile 2000).267

Demnach werden Ausdrücke wie fr. personnes âgées, le troisième âge, n’être plus de la première jeunesse für sich genommen zwar keine tatsächliche Verjüngung älterer Menschen bewirken, vermögen aber in manchen Fällen vielleicht zumindest das Alter positiver zu sehen, zu relativieren und dadurch dazu beitragen, den Respekt gegenüber den Genannten zu fördern. Ebenso dürfte eine positivere Sicht bei aufwertenden Berufsbezeichnungen wie fr. assistante anstelle von secrétaire oder it. operatore carcerario anstelle von secondino der Fall sein. Im Bereich von Krankheiten kann das Denken von einer optimistischen Ausdrucksweise ebenfalls in positiver Weise beeinflusst werden, sofern diese nicht umgekehrt Ausdruck positiven Denkens über die Heilungsaussichten ist. So kann z.B. durch dynamisch formulierte Sätze (dt. ich werde überleben vs. ich bin todkrank) die Heilung in manchen Fällen sogar gefördert werden. Dieser Unterschied zwischen Statik und Dynamik spielt auch im Bereich der Arbeitslosigkeit (bzw. dem Zustand der Arbeitssuche) eine Rolle und

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Ein selbstredendes deutsches Beispiel dafür ist die Wahl zwischen dem Gebrauch von Selbstmord und Freitod.

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liegt zudem in fr. pays en voie de développement, it. paese in via di sviluppo zugrunde, Bezeichnungen, die (ähnlich fr. pays émergent, it. paese emergente) den Einwohnern mehr Hoffnung verleihen als die statischen Ausdrücke fr. pays sous-développé, it. paese sottosviluppato. Als weitere Stichwörter in diesem Zusammenhang wären «Positives Denken» und «Visualisierung» zu nennen, wie sie jüngst in Mode gekommen sind. Der Umstand, dass Sprache das Denken zu beeinflussen vermag, kommt ferner in dem Glauben zum Ausdruck, dass immer dann, wenn es ein Wort gibt, auch die dazugehörige Sache realiter existieren müsse, obwohl das bloße Vorhandensein des Bezeichnenden im Prinzip noch keinerlei Aussage über die tatsächliche Existenz des Bezeichneten enthält (cf. z.B. dt. Einhorn). Im Kapitel «Abuse of Words» seines Essay concerning human understanding (1690) äußert Locke, dass v.a. Menschen, «who confine their Thoughts to any one System, and give themselves up into a firm belief of the Perfection of any received Hypothesis» diesem Glauben erliegen: «These Words Men have learned from their very entrance upon Knowledge, and have found their Masters and Systems lay great Stress upon them: and therefore they cannot quit the Opinion, that they are conformable to Nature, and are the Representations of something that really exists» (Human understanding III, X, § 14 – 1975, 497).

Ein solcher Glaube, wie ihn Locke schildert, ist bis heute ungebrochen und in der Geschichte mit den verschiedensten Beispielen belegt, so z.B. durch die – wie Dietz sagt – «rote Sprach-Strategie», die geprägt war von der Vorstellung, dass besondere sprachliche Verhaltensweisen Realitäten schaffen oder auch abschaffen können, was vor dem Hintergrund der dargestellten Umkehrung der Bedeutung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber und Propagierung des Ausdrucks Geflügelte Jahresendfigur ‘Engel’ besonders einleuchtend ist: «In der Erwartung, daß ein Denken schnell durch ein Klischee in die geforderte Richtung kommt, gebraucht man das Klischee. In der Erwartung, daß ein Denken, das keine Sprache vorfindet, nach und nach verkümmern muß, werden gewisse (christliche oder humanistische) Worte einfach der Kommunikation entzogen. Das unerwünschte Denken soll in eine Sprach-Lücke oder Sprach-Öde fallen. Andererseits gibt es zahlreiche Wortkonstrukte, die so ‹zur Hand› sind, daß sie dem Denken vorauseilen, es gängeln und an sich ziehen. Man propagiert den ‹neuen Menschen›, die ‹neue Ordnung›, die ‹junge Welt› [...]. Handlungspositionen werden unmerklich auf diese Weise geschaffen» (Dietz 1975, 26).

Diese Erfahrung, dass die Existenz eines Wortes häufig den Glauben an die Existenz des Bezeichneten nach sich zieht, zeigt sich auch wieder im Bereich von Krankheiten. So hat die Anzahl der in 5.1.3.1 schon angesprochenen Burnout-Patienten mit zunehmender Verbreitung des Namens der Krankheit kontinuierlich zugenommen, was einerseits natürlich daran liegt, dass bestehende Leiden nun benannt werden können, andererseits aber auch daran, dass seither auch das dazugehörige Phänomen in jedweder Befind305

lichkeitsstörung (ähnlich wie jede Erkältung als Grippe) gesehen und so bezeichnet wird: «Nicht selten gilt die ganz normale Erschöpfung am Ende eines anstrengenden Vormittages als ernsthaftes Zeichen für den beginnenden Burn-out» (Der Spiegel 24/1993. In: Herberg/Kinne/Steffens 2004, s.v.).

Interpretierbar ist dies auch mit der performativen Funktion von Sprache, d.h. die Möglichkeit durch eine Äußerung eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Mittelfristig kann Sprache auf jeden Fall die Wahrnehmung der Existenz bestimmter Phänomene beeinflussen und diese damit erzeugen. Ein aktuelles Beispiel für die (hier negative) identitätsfördernde Wirkung von Sprache sind die französischen Euphemismen zone oder quartier sensible, die zwar rücksichtsvoller sind als z.B. quartier difficile, die durch die sich mit ihrem häufigenden Gebrauch festigende Kategorisierung der entsprechenden Gebiete aber auch die Selbstwahrnehmung ihrer Bewohner als eigenständige Einheiten fördern und damit deren Verhalten beeinflussen können (cf. infra p. 375). Seguin/Teillard sprechen hier von «euphémismes grottesques», denn: «[…] de telles étiquettes ont des effets pervers. En donnant à tel collège ou à tel quartier un nom spécifique, certes on reconnaît sa situation particulière, mais en même temps on l’isole. Si bien que ceux qui y vivent, le percevant comme une zone à part, finissent par le revendiquer comme un territoire, une réserve coupée du reste de la société, et où toutes les règles de survie, fussent-elles illégales, sont admises» (Seguin/Teillard 1996, 164s.).

Dass Sprache nicht völlig harmlos ist, zeigt ferner das Interesse von Politikern am «Begriffe-Besetzen», wie der Kampf um die Bedeutungsfestlegung zentraler Wörter seit Biedenkopf genannt wird: «Die gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht ist nicht länger Voraussetzung für eine revolutionäre Umwälzung der staatlichen Ordnung. Revolutionen finden heute auf andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierung werden die Begriffe besetzt, mit denen sie regiert» (Biedenkopf 1982, 191).268

Dabei geht es darum, positiv konnotierte Bezeichnungen für bestimmte Grundwerte so zu «besetzen», dass sie mit der eigenen Partei in Verbindung gebracht und inhaltlich entsprechend den eigenen Anliegen ausgefüllt werden. So wurde z.B. engl. liberty durch George Bush junior für seinen Kampfeinsatz im Irak instrumentalisiert, it. libertà hingegen von Umberto Bossi für ein vom wirtschaftlich schwächeren Mezzogiorno unabhängiges Padanien und von Silvio Berlusconi im Sinne freier Marktwirtschaft.269 Be-

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Als aktuellere Beispiele lassen sich Wolfgang Thierse: «Nehmen wir endlich den Kampf um die Begriffe auf!» und Oskar Lafontaine anführen: «Lassen wir uns doch die Begriffe nicht klauen» (in Girnth 2002, 62). Ebenso wie das im berlusconese in Opposition zu comunista ‘Linker jedweder Couleur’ stehende liberale prägt die «parola regina del vocabolario di Forza Italia:

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sonders augenfällig ist die Verbindung zwischen einem Konzept und einer Partei(enallianz) natürlich, wenn sie dieses auch im Namen trägt, was die Benennung der 1994–1996 und 2001–2006 regierungsstellenden Mitterechtskoalition zeigt, der im Kern Berlusconis Forza Italia, Bossis Lega Nord, Finis Alleanza Nazionale und Casinis UDC vereinenden Casa delle Libertà (zunächst Polo delle Libertà und Polo per le Libertà); ferner diejenige des als neue Mitterechtspartei konzipierten, 2008 siegreichen Wahlbündnisses Popolo della Libertà.270 Der Kampf um die Inhaltsseite von Wörtern wird von jenem um ihre Ausdrucksseite komplettiert,271 d.h. um die im Bezug auf die Politische Korrektheit zentrale Frage, welches unter verschiedenen denominativ identischen Wörtern zu gebrauchen ist. Dabei besteht in der Forschung zum The-

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la parola ‹libertà›» (Berlusconi 2001, 276) viele Reden des «Cavaliere»: «siamo qui oggi per difendere la nostra libertà» (2001, 260), «ci batteremo fino in fondo per la libertà di tutti» (2001, 263), «tutti insieme combatteremo per la libertà» (2001, 273), «Forza Italia è qui, come baluardo insormontabile [….] della libertà» (2001, 275). Insbesondere in Zeiten der Unzufriedenheit mit bestehenden politischen Verhältnissen bildet das Konzept der Erneuerung ein weiteres positiv besetztes Begriffsfeld, das den hohen Stellenwert von engl. change im Wahlkampf Barack Obamas ebenso motiviert, wie die polarisierende Verwendung von it. nuovo ‘gut’ (bzw. vecchio ‘schlecht’) durch Romano Prodi und v.a. Silvio Berlusconi, der sich selbst gerne als Motor einer «rivoluzione» darstellt (Santulli 2005, 89). Beispiele aus dem deutschen Sprachraum gibt Shrouf in seiner Untersuchung zum Wortschatz der Bundestagsdebatten aus der Ära Adenauer/Erhard, während der Großen Koalition unter Kiesinger, der Ära Brandt/Schmidt und der Ära Kohl: «Im Rahmen der neuen Ostpolitik versucht die SPD beispielsweise, durch einen sehr häufigen Gebrauch der Ausdrücke Frieden, Entspannung und Reform nicht nur die einzelnen Lexeme zu besetzen, sondern auch die gesamten Begriffsnetze dieser Vokabeln. Die Ausdrücke Friedenspolitik, Friedensoffensive [...] sind Markenzeichen der SPD-Terminologie Anfang der 70er Jahre. Mit der Formulierung Frieden in Freiheit bzw. Frieden und Freiheit startet die Union unter Bundeskanzler Kohl 1982 eine große Gegenoffensive, um die gesamten Begriffsnetze der Vokabeln Frieden und Freiheit mit der Terminologie der Union in Verbindung zu bringen» (2006, 292). Die Namen der einzelnen Parteien unterstreichen auch, dass infolge des jahrzehntelangen Regierungsmonopols der Democrazia Cristiana zunächst Ausdrucksweisen wie alleanza, polo, coalizione, movimento, patto rete, aggregazione dem negativ belegten, das Schreckensgespenst der partitocrazia hervorrufenden partito vorgezogen wurden. Tabu waren nach dem Einschnitt im politischen System Italiens von 1994 aber auch Symbole der «vecchia politica», die durch kleine Tiere (asinello, coccinella, elefantino, gabbiano) oder farbenfrohe Flora (quercia, ulivo, cespuglio, margherita, girasole, quadrifoglio) ersetzt wurden (Gualdo 2006, 207). Cf. Klein, der «beim Kampf um Wörter in der Politik», dessen Ziel es ist, «mit den eigenen Wortprägungen und Bedeutungsspezifizierungen die darin steckenden Deutungen und Prioritäten bei den Adressaten durchzusetzen oder zu bestärken», drei Hauptgruppen unterscheidet: auf der Ausdrucksseite «Bezeichnungskonkurrenz» und auf der Inhaltsseite «deskriptive Bedeutungskonkurrenz» und «deontische Bedeutungskonkurrenz» (1989, 17).

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menkomplex Sprache und Politik «Einigkeit darüber, dass politische Sprache in einem konstruktivistischen Sinne realitätskonstituierenden Charakter besitzt» (Girnth 2002, 5), was teilweise wohl daran liegt, dass vorhandene Wörter in einem neuen politisch opportunen Realitätsbezug verwendet werden (cf. 5.4). Unabhängig davon, ob Sprache das Denken des Sprechenden beeinflusst, kann die Sprachwahl einen Unterschied für den Angesprochenen machen, was Cameron am Beispiel nicht-sexistischer Äußerungen aufzeigt: «How someone treats me publicly matters more, in political terms, than how they feel about me privately; the fact that the boss seethes with inward resentment while addressing women staff respectfully is less damaging to the women than if he addressed them disrespectfully in accordance with his true feelings» (1995, 143).

Die politisch korrekte Benennung mancher Minderheiten mag deren reale Situation nicht unmittelbar bessern, doch wenn eine Bezeichnung die Vorstellung dessen erleichtert, wie die Realität sein könnte, anstatt diese nur zu spiegeln, kann durchaus bereits von einem Fortschritt gesprochen werden, und die ungewohnte Bezeichnung zumindest dazu dienen, einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen.272 Nicht zuletzt geht auch die Soziologie davon aus: «[…] dass S[prache] eine soziale Institution ist und dazu dient, das gesellschaftliche Bewusstsein zu bilden und zu stabilisieren (Vergesellschaftungsfunktion). S[prache] reduziert die Komplexität der Welt auf Begriffe und Aussagen, macht Erinnerung und Teilhabe an Erfahrung möglich» (Köhler 2003, 367).

Gerade im heutigen Medienzeitalter ist die Annahme einer direkten Beeinflussung des Denkens durch die Sprache für die Rechtfertigung sprachpflegerischer oder sprachsetzender Maßnahmen insofern essentiell, als die Medien nicht nur einen bestimmten Inhalt perspektivieren, sondern auch einen bestimmten Sprachgebrauch setzen und damit eine Rolle als Vermittler zwischen Sprache und Denken einnehmen. Doch selbst wenn ein bestimmter Sprecher, vielleicht sogar nur höchst ungern oder gar ironisch auf politisch korrekte Formen zurückgreift, mag die Haltung mancher Zuhörer von seiner Ausdrucksweise beeinflusst werden. Zudem können die Medien eingesetzt werden, um einen Meinungsbildungsprozess anzukurbeln, der zur Herausbildung eines nicht-verletzenden, öffentlich geforderten und ak-

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Cf. Faloppa: «Certo, chi usa negro, oggi (soprattutto fra le generazioni pre-politicamente corretto) non ha sempre una intenzione offensiva, al contrario, e d’altronde l’uso di nero non mette al riparo da attitudini più o meno razziste o perlomeno ambigue. Tuttavia, si ha l’impressione che l’impiego di nero risponda a una scelta più consapevole – seppur avvertita spesso come ‹innaturale› – da parte del parlante, e nel contempo imponga una riflessione sul come catalogare gli ‹altri› e sul perché (e, soprattutto, se sia così giusto farlo)» (2004, 123).

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zeptierten Sprachgebrauchs führt. Der nicht zu unterschätzende Druck der Öffentlichkeit kann dann auch eine tatsächliche Veränderung der Haltung des Einzelnen gegenüber den betreffenden Personengruppen oder Phänomenen bewirken. 5.3.3 Vom politically correct zum politiquement correct bzw. politicamente corretto Die supra unter 5.3.1.2 dargestellte semantische Unschärfe des Begriffs der Politischen Korrektheit bleibt auch bei seiner Anwendung in der «Alten Welt» bestehen. Überspitzt formuliert Dillinger: «[…] le politiquement correct est une notion si complexe, tellement multiforme, comportant des aspects si contradictoires qu’elle serait quasiment impossible à définir. Bref, le concept tend à s’abîmer dans le flou, le vague, l’indéfinissable et bientôt passera pour un pur fantasme» (1998, 7).

Daher verwundert es kaum, dass die Definitionen in den französischen und italienischen Wörterbüchern den Ausdruck wenig konkret erklären: «se dit d’un discours, d’un comportement d’où est exclu tout ce qui pourrait desservir socialement un groupe minoritaire dans la manière de l’appréhender» (PR, s.v. correct). «non offensivo nei confronti di soggetti deboli o minoritari» (Z, s.v. corretto). «b. Con sign. più generico, atteggiamento di apertura e attenzione verso i problemi delle minoranze e di quelle categorie che non hanno spazî adeguati d’esprimersi nella società» (VOLIT, s.v. politically correct). «Imparziale ed esatto dal punto di vista politico; che non lede i diritti dei gruppi socialmente più deboli» (GRADIT, s.v. politicamente corretto, identisch mit GDLI supplemento, s.v. politically correct).

So hat der Begriff Europa in der weiten Definition erreicht, die das ganze Feld der Rücksichtnahme gegenüber Minderheiten und sozial Schwächergestellten beinhaltet und immer wieder auch die Stigmatisierung einer vermeintlichen «pensée unique» einschließt. Die Auswirkungen der Bewegung Politischer Korrektheit haben aber in Frankreich und Italien nicht das aus den USA oder Großbritannien bekannte Ausmaß erreicht. «Il politically correct all’italiana è una creatura ancora gracile: non è diffuso capillarmente, come in America e Gran Bretagna, nel giornalismo, nei libri di testo ecc.» (Crisafulli 2004, 42).273

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Etwas anders sieht dies Arcangeli, der meint, «nel nostro paese il politically correct […] sembra ormai non risparmiare da qualche tempo niente e nessuno» (2001a, 288).

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Semprini reduziert die Bewegung u.a. aufgrund unrealistischer «tentatives maladroites de faire coexister respect de l’égalité et valorisation de la différence» auf eine Utopie (1997, 56); Appignanesi zitiert einen Franzosen mit den Worten: «Political correctness […] is as French as cheddar cheese wrapped in plastic» und bestätigt ihn mit ihren eigenen Eindrücken: «[…] everything I have seen and heard here [in France] has corroborated this pronouncement» (1994, 146). So überraschte sie (neben dem ungezwungenen Umgang mit Geschlechterfragen) die selbstverständliche Eigenbezeichnung Érik Orsennas als nègre, die in keiner Weise Anstoß erregende Benennung einer Süßigkeit mit tête de nègre,274 der fehlende Aufschrei über Photographien von achtzehn Intellektuellen ohne «Quoten-Farbigen» (1994, 146s.) oder auch die ausgebliebene explizite Berücksichtigung politisch korrekter Themen im Lehrangebot französischer (Elite)hochschulen (1994, 147, 156). Die Beantwortung der Frage, weshalb diese Aspekte in den USA und in Europa so unterschiedlich gewertet werden, kann nur versuchsweise geschehen. Sicherlich hat die Unterstützung gewisser Forderungen durch die Regierungen Mitterrands in den 1980er Jahren der Entstehung einer Situation entgegengewirkt, die derjenigen in den USA vergleichbar wäre, wo zu derselben Zeit die Reagan-Administration an der Macht war, die der sozialen Frage eher geringe Bedeutung beimaß.275 Im Nachhinein wird denn auch die Zeit unter Mitterrand als politiquement correct gewertet: «C’est à croire que la France, en cette veille d’élection présidentielle, est à la mode. L’identité nationale, la nation, le drapeau, La Marseillaise, le peuple: tout ce vocabulaire si peu usité ces dernières années, parce que si lourd de sens et si peu compatible avec le correct des années Mitterrand, forme désormais la trame des discours de Ségolène Royal, Nicolas Sarkozy et Jean-Marie Le Pen» (Plaetsen 2007).

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Inzwischen ist diesbezüglich aber auch in Europa eine gewisse Sensibilität entstanden; Dieckmann verkauft die ehemals als Mohrenkopf bezeichnete Süßigkeit inzwischen als Schokoladenkuss, und auf der ikonischen Ebene verzichtet z.B. Sarotti inzwischen auf den traditionellen Sarotti-Mohren. Cf. Appignanesi: «France is a country where the public sphere is still largely intact. […] In the 1980s America which saw the birth of political correctness, civil society and the public sphere where largely eroded; as they were in Britain during the Thatcher era. […] With a government which showed little heed for its citizens’ welfare, disaffection with national political life set in along with a sense of social breakdown. Out of this a politics of identity arose. The new politics generated new rules – and rules after all are only an attempt to control a world which seems to be spiralling out of control. In that sense, PC with its rule-generating obsession is a direct outgrowth of the Reagan years […]. In France those years were marked by Mitterrand’s ‹socialist› presidency. Though perhaps now past its due date, this meant that the state was for some years also more open to all conventionally oppositional demands for greater rights and parity. The state, unlike Reagan’s America, was, itself, on the side of social claims and a more generous definition of justice» (1994, 159s.).

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Die unterschiedliche Art, mit der politisch korrekte Fragestellungen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern diskutiert werden, wird denn auch damit erklärt, dass die Vehemenz der Debatte indirekt proportional zur Aufmerksamkeit steht, die den dahinterliegenden Themen von Seiten der Regierung entgegengebracht wird. Dies zeigt sich daran, dass der Bewegung nahestehende Forderungen gerade unter einer rechtsgerichteten, weniger minderheitenfreundlichen Regierung besonders engagiert vorgebracht werden. Die These, dass politisch korrekte Gedanken vor allem dann auftreten, wenn es soziale Unruhen gibt, bestätigt ferner Faloppas Ausführung, dass entsprechende Fragestellungen (Faloppa nennt die der Angemessenheit von negro) in Italien erst dann öffentlich diskutiert wurden, als es hier zur Ankunft von Immigranten und zu ersten rassistischen Übergriffen kam.276 Es kann hier nicht der Ort sein, die vielen Faktoren zu berücksichtigen, die eine unübersehbare Zurückhaltung bei der europäischen Rezeption von Politischer Korrektheit erklären. Hinweise mögen u.a. sein, dass die Bewegung Europa in den 1990er Jahren erreicht hat und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem sie in den USA besonders ironisiert wurde (cf. z.B. den Thernstrom-Fall unter 5.3.2.2ii);277 auch mag die unterschiedliche Vorgeschichte die Reaktion in Europa beeinflusst haben und ebenso der Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Traditionen der angelsächsisch-puritanisch dominierten USA einerseits und der beiden, einmal mehr, einmal minder katholisch geprägten Mittelmeerländer Italien und Frankreich eine Rolle spielen.278 Auf jeden Fall scheint eine Extremisierung der Entwicklung auszubleiben, so dass ein entsprechender Sprachgebrauch in den meisten Fällen eine Frage des guten Geschmacks und des gegenseitigen Respekts ist:

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Cf.: «Come quello di Jerry Essan Masslo a Villa Literno durante l’estate del 1989, che improvvisamente sfatò l’adagio ‹italiani brava gente› e – conducendo tra l’altro a una prima severa e diffusa critica di certi comportamenti, anche verbali, chiaramente razzisti – aprì gli occhi, drammaticamente, su una realtà che non si voleva vedere (quella delle misere condizioni di vita di chi era migrato in Italia) e che indirettamente portò alla Legge Martelli del 1990» (Faloppa 2004, 119). Cf.: «In Italia, il dibattito è giunto proprio in questa sua fase deteriore. Cosa che ha ridimensionato, quando non ridicolizzato, i contenuti che originariamente si celavano dietro quell’etichetta (un’etichetta che, per molti commentatori, ancora oggi rappresenta soltanto l’ennesima boutade di certa sinistra schizofrenica, null’altro che un tentativo – peraltro fallito, dicono i detrattori – di mettere un bavaglio alla lingua e alle abitudini linguistiche dei parlanti). E che spesso ha fatto guardare con troppa superficialità al perché di alcune proposte linguistiche» (Faloppa 2004, 121). Cf. auch Appignanesis Eindruck von Frankreich: «This is not the country of the shuddering liberal conscience or sensitive puritan guilt. Policing here, it seems, is left to the police – and neither internalised, nor taken on board by self-designated representatives of the greater good» (1994, 147s.).

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«[…] sovente si fa confusione tra suggerimento morale e obbligo legale. Un conto è dire che è eticamente scorretto chiamare culattoni gli omosessuali e affermare che, se chi lo fa è un ministro, e lo fa su carta intestata del ministero, si deve parlare soltanto di miserabile inciviltà. Un conto è dire che chi si esprime così deve essere incarcerato (a meno che Tremaglia non dia del culattone a Buttiglione, nel qual caso sarebbe comprensibile una querela con ampia richiesta di danni morali). Ma, a parte la volgarità di Tremaglia, non pare esistere nessuna legge che commini anni o mesi di carcere a chi dica spazzino invece di operatore ecologico, e tutto rimane faccenda di responsabilità personale, buon gusto e rispetto per i desideri altrui» (Eco 2006, 95).

5.3.3.1 Der unterschiedliche soziokulturelle Kontext Der Versuch, bestimmte Kernbereiche Politischer Korrektheit in Europa zu beschreiben, kann nur länderspezifisch geschehen. Dabei ist zunächst das neben der hier ausgesparten Geschlechterfrage zweite Hauptgebiet Politischer Korrektheit, die Haltung gegenüber Farbigen, am Beispiel Frankreichs zu betrachten. (i) Der Assimilationsgedanke in Frankreich Infolge zweier Kolonialreiche hat das Hexagon massive Einwanderungsströme erfahren und verfügt heute über einen für europäische Verhältnisse relativ hohen farbigen Bevölkerungsanteil. Wirklich vergleichbar mit der Lage in den als Einwanderungsland definierten und den Multikulturalismus zumindest theoretisch als hohen Wert zelebrierenden Vereinigten Staaten ist diejenige der Grande Nation aber schon allein insofern nicht, als hier bis ins 20. Jahrhundert hinein die Maxime der vollständigen Assimilation der Migranten an französische Werte überwog. Zwar ging es mit der Vorstellung vom Schmelztiegel auch in den USA um eine Homogenisierung der Gesellschaft; ausgerichtet war diese aber nicht an der Kultur eines traditionell ansässigen Volkes, sondern an dem angesichts der anglo-protestantischen Dominanz und des vereinenden Gründertraums möglicherweise utopischen, prinzipiell aber doch vorhandenen Gedanken, dass alle gesellschaftlichen Gruppierungen ihren eigenen Beitrag zur Ausbildung279 und Perfektionierung280 der amerikanischen Kultur einbringen sollten. Mit dem traditionellen französischen Geist ist das Eingeständnis der Koexistenz verschiedener

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Cf. z.B. schon Turner: «In the crucible of the frontier the immigrants were Americanized, liberated, and fused into a mixed race, English in neither nationality or characteristics» (1893, 216), bei dem sich zeigt, dass die Idee der Fusion auch zur Identitätskonstituierung durch Abgrenzung von den Engländern diente. Cf. den Eindruck Claude Allègres: «Elle [l’Amérique] se considère comme l’arche de Noé. Elle pense qu’elle a recueilli les individus les plus dynamiques, qu’elle préserve sur son sol toutes les cultures, toutes les croyances, toutes les ethnies dans leurs diversités et que le reste du monde n’est qu’un accompagnement» (in Allègre/Jeambar 1996, 70).

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Kulturen auf französischem Boden aber unvereinbar. So beschreibt Wieviorka Frankreich als «[…] un pays qu’effraie l’idée même d’une telle poussée [des identités particulières], et qui, de façon plus générale, se sent menacé pour sa place culturelle dans le monde, ce qui explique peut-être que le débat sur la différence culturelle, entrouvert par SOS Racisme au milieu des années quatre-vingts, n’ait été qu’une parenthèse aussi vite refermée qu’elle avait été maladroitement inaugurée» (1997, 36).

Allerdings widerspricht die französische Realität solchen ethnozentrischen Vorstellungen inzwischen immer mehr. Unter den zahlreichen Aussagen, die dies bestätigen, sei bereits aus den 1980er Jahren Julia Kristeva zitiert: «Dans le kaléidoscope que devient la France […], les différences entre autochtones et immigrés ne seront jamais aussi tranchées qu’auparavant. Le pouvoir d’homogénéité de la civilisation française, qui a su recevoir et unifier pendant des siècles des influences et des ethnies diverses, a fait ses preuves classiques. Or, la France est en train d’accueillir aujourd’hui des arrivants qui ne renoncent pas à leurs particularités. […] Une nouvelle homogénéité est peu probable, peutêtre peu souhaitable […]. S’achemine-t-on vers une nation-puzzle fait de diverses particularités, dont la dominante numérique reste pour l’instant française – mais jusqu’à quand?» (1988, 288s.);

aus den 1990er Jahren Claude Allègre: «[…] la France traditionnelle, c’était comme la Chine d’autrefois, elle avalait tout, elle assimilait tout. Kubilaï, petit-fils du Mongol Gengis Khan, était plus chinois que le Chinois de souche. Qui est plus français que Bonaparte, pourtant d’origine italo-corse? Mais c’était la situation de la France d’hier. Regardons aujourd’hui le quartier chinois du XIIIe arrondissement, ou Barbès. Si l’on met à part la violence qui est une caractéristique culturelle spécifique de l’Amérique, sont-ils si différents des quartiers américains?» (in Allègre/Jeambar 1996, 89);

und jüngst Nicolas Sarkozy, demzufolge der Multikulturalismus Frankreichs ein wenn auch noch nicht ausreichend im kollektiven Bewusstsein verankertes, so doch unabstreitbares Faktum ist: «C’est bien là tout le problème, la France est devenue multiculturelle, multiethnique, multireligieuse…. et on ne le lui a pas dit» (2004, 22). Traditionellen französischen Assimilationsbestrebungen, «imposant au dernier arrivé qu’il renonce à son identité pour être accepté», stellt er als Ideal die Integration gegenüber, «c’est-à-dire l’accepter avec ses spécificités qui enrichiront le creuset républicain» (2004, 22). Dabei wendet er sich gegen die Bezeichnung Français d’origine immigrée, mit der zwischen eingewanderten Franzosen und Français de souche unterschieden wird, und zieht die Existenz bodenständiger Franzosen generell in Frage, wenn er erklärt, «nous sommes tous quasiment fils de l’immigration» (2004, 22). Letzteres versucht er immer wieder durch seine eigene Herkunft als «fils et petit-fils d’immigré» (2007, 9), durch sein eigenes «sang mêlé» zu illustrieren, das ihn die francité auf die Vaterlandsliebe stützen lässt: 313

«Oui, je suis en enfant d’immigré. Qui, je suis le fils d’un Hongrois et le petit-fils d’un Grec né à Salonique… Qui, je suis un Français de sang mêlé qui pense que l’on est français en proportion de l’amour qu’on porte à la France, de l’attachement que l’on porte à ses valeurs d’universalité… La France n’est pas une race, ce n’est pas une ethnie... On n’est pas français seulement par ses racines, par ses ancêtres… On est français parce que l’on veut l’être… parce que la France, on en est fier» (Sarkozy in Reza 2007, 134).

Spielarten des Aufbrechens der unterschiedlich gearteten Homogenisierungstendenzen sind somit in der jüngeren Geschichte beider Nationen zu beobachten. In den USA wurde die Schmelztiegel-Ideologie von den Bildern der Salatschüssel, der Minestrone, des kulturellen Mosaiks abgelöst; in Frankreich sind seit den 1980er Jahren Dezentralisierungsbestrebungen zu verbuchen, die neben alteingesessenen Regionen im Bereich der traditionellen Politischen Korrektheit vornehmlich die französischen Überseedepartements betreffen. Ebenso wie in den Vereinigten Staaten leben hier bis heute Staatsbürger, deren Vorfahren von der weißen Bevölkerung des Landes ehemals als Sklaven eingeführt wurden und die sich im Hinblick auf die eigene Identität heute z.B. zu Recht beklagen, wenn sie bei positiver Leistung als Franzosen, bei negativer Auffälligkeit aber als Einwohner der DOM, Domiens, tituliert werden. Dabei verwundert es nicht, dass auch die Anwendung der unter 5.3.1.1 genannten Maßnahmen in Frankreich ins Auge gefasst wurde, was am Beispiel der französischen Antillen illustriert werden kann. So werden die Arten der Perspektivierung von Geschichte, wie sie bei der unter 5.3.1.1i dargestellten Adaption der Curricula eine Rolle spielen mag, auch in der Karibik diskutiert und z.B. Überlegungen angestellt, ob die «Entdeckung»281 der «Neuen Welt» eher positiv als zivilisatorische Leistung oder negativ als Fundament der Ausrottung bzw. Dezimierung von Ureinwohnern durch die Europäer darzustellen ist,282 ob Statuen wie jene für

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Im Französischen wird dem als ethnozentrisch gebrandmarktem Ausdruck découverte inzwischen häufig das politisch korrektere rencontre des peuples vorgezogen. Als Discovery Day wird der US-amerikanische Columbus Day auf den Bahamas gefeiert, als Discoverer’s Day auf Hawaii, kommen aber auch Bezeichnungen wie Indigenous People’s Day, Native American Day, International Day of Solidarity with Indigenous People auf. In der spanischsprachigen Welt wird der Jahrestag der Sichtung Amerikas zwar teilweise auch noch offiziell als Día del Descubrimiento begangen, der hier in vielen Ländern zum Nationalfeiertag gewordene Gedenktag, der 12 de Octubre bzw. Día de la Raza, inzwischen aber meist unverfänglicher bezeichnet, so in Spanien als Fiesta de la Hispanidad oder in Uruguay als Día de las Américas; ganz unter korrektem Etikett erscheint er im Venezuela von Hugo Chávez als Día de la Resistencia Indígena oder im Vorschlag einer argentinischen Initiative zugunsten von Día de la Diversidad Cultural Americana. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Beurteilung von Kolumbus diskutiert, wobei die bekannten Lobpreisungen seiner Leistung und die Feierlichkeiten zum Columbus-Day der Kritik an diesem Feiertag einschließlich regional erfolgter Umbenennungen (cf. n. 281), einem Lichtenbergschen «der Amerikaner,

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Napoleons Frau in Fort-de-France noch zu rechtfertigen oder aber aufgrund der Mitverantwortung der Dargestellten für die Sklaverei unzeitgemäß sind, ob bei der Behandlung der Kolonialgeschichte nicht eher als auf die wirtschaftliche Bedeutung des Dreieckshandels auf die Situation der Sklaven eingegangen werden sollte und ob die Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Haiti einfach als Niederlage Napoleons abgetan werden dürfen oder sie nicht vielmehr als Sieg der Haitianer herauszustellen sind, der immerhin die Etablierung des weltweit ersten durch Nachfahren von Sklaven regierten Staates ermöglichte.283 Dabei steht außer Frage, dass die jeweils an zweiter Stelle formulierte Sicht, auch wenn der Ausdruck in Frankreich selten fällt, «politisch korrekter» ist. Doch stellen derartige Diskussionspunkte zwar einzelne Aspekte der Geschichtsinterpretation infrage, nicht aber die französische Kultur insgesamt. Zu diesen Fragen der Perspektivierung kommen, ebenso in der Regel nicht als solche bezeichnete, «politisch korrekte» Maßnahmen, die dadurch notwendig wurden, dass die Lehrpläne der französischen Antillen u.a. auch durch die geographische Distanz der Schüler von vielen Gegenständen des Unterrichtsstoffes tatsächlich ungeeignet waren (Reutner 2005, 54s.) und auf bestimmte Sprachschwierigkeiten der Kinder lange Zeit mit keiner angemessenen Methode reagiert wurde. Seit den 1980er Jahren kam es zu einer zunehmenden Sensibilisierung für die spezielle Realität der Antillais und zu zahlreichen Maßnahmen, die in den Jahren 2000/2001 durch weitergehende Schritte wie die Anpassung der Lehrpläne im Geschichts- und Geographieunterricht und die Einführung eines «CAPES de créole» gekrönt wurden, auf die an anderer Stelle bereits eingegangen wurde (cf. 2005, 71–130). Festzuhalten ist jedenfalls, dass es sich hierbei zweifellos um Maßnahmen handelt, die unter dem Begriff «Politische Krankheit» subsumiert werden könnten, in der Regel aber nicht damit verbunden, sondern eher pragmatisch begründet wurden. Überdeutlich wird der Unterschied zwischen den unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Vereinigten Staaten und dem von einer auch intellektuellen Elite getragenen Frankreich, wenn Philipps den Erfolg, den die im akademischen Milieu entstandene Politische Korrektheit in der Massenkultur der Vereinigten Staaten hatte, mit «the disdain for ‹elitism› and high culture, the egalitarian myth, the liberal guilt over the heri-

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der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung» (Heft G 183 – 1991, 166) oder Darstellungen wie der von Kirkpatrick Sale in The Conquest of Paradise (1990) gegenüberstehen, auf die R. Hughes wiederum entgegnet, dass – wenn nicht Kolumbus – dann ein anderer den Seeweg eröffnet hätte, oder auch, dass die Ureinwohner auch ohne externen Eingriff womöglich nicht überlebt hätten, was er am Beispiel der Ausrottung früherer Völker durch die Azteken oder Maya zu verdeutlichen sucht (1993, 118ss.). Zu den letzten beiden Punkte cf. z.B. die Aussagen von G9 und M13 in Reutner (2005, 213).

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tage of black slavery, the indifference to cultural standards, the immersion in the popular culture, the widespread notions about the relativity of truth, morality, and aesthetic criteria» erklärt (1994, 201). (ii) Illegale Einwanderung in Italien Beginnend mit dem Landkauf in der Bucht von Assab 1882 hat Italien bis zu seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg durch die Einnahme Eritreas (1890), Somalias (1899), Libyens (1911–1912) und Äthiopiens (1935–1936) ein Kolonialreich am Horn von Afrika (Africa Orientale Italiana) und in Libyen aufgebaut, der «Quarta sponda», als welche der faschistische Generalgouverneur Italo Balbo die hinzu gewonnene Küste zu vermarkten versuchte. Sein Ausmaß ist jedoch sowohl zeitlich als auch räumlich284 vergleichsweise gering, so dass von einer Verantwortung gegenüber Immigranten aus ehemaligen Kolonien, wie sie Frankreich trägt, in Italien sicherlich nicht gesprochen werden kann, auch wenn bei Unruhen am Horn von Afrika immer wieder der Ruf nach italienischen Soldaten laut wird. Doch obwohl es anders als die Vereinigten Staaten oder Kanada bislang nicht offiziell als Einwanderungsland definiert ist, hat auch das Bel Paese schon allein aufgrund seiner Nähe zum afrikanischen Kontinent massive Einwanderungsströme zu bewältigen. So spricht z.B. Zanfrini von «nuovi paesi di immigrazione, quali Italia, Spagna, Grecia e Portogallo» (2004, 67b) und erklärt, dass diese eine Integrationspolitik einer Assimilationspolitik vorziehen, also entsprechend der supra zitierten Integrationsvorstellung Sarkozys anstelle einer bedingungslosen Anpassung verschiedener kultureller Identitäten an die aufnehmende Nation stärkeren gesellschaftlichen Pluralismus anstreben. Dabei führt vor allem die starke immigrazione clandestina zum prozentualen Anwachsen einer nicht als sozial gleichwertig wahrgenommenen Minderheit. In den meisten Fällen handelt es sich um overstayers, d.h. um Personen, die nach Ablauf ihres Visums oder ihrer Aufenthaltserlaubnis nicht in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, teilweise aber auch um Immigranten, die über andere Schengen-Länder nach Italien eingereist sind, oder auch den gefährlichen Weg über das Meer gewählt haben und bei Schiffbruch oder ihrer Ankunft in Lampedusa häufig unfreiwillig Gegenstand der Medienberichterstattung werden. Für diese illegalen, in der Volksmeinung gerne undifferenziert der Kriminalität bezichtigten Einwanderer285 scheidet die Möglichkeit,

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1913 besaß Italien weniger als 4 % der Kolonialgebiete mit schätzungsweise nur 0,3 % der gesamten europäisch kolonialisierten Bevölkerung (Labanca 2002, 23). Cf. z.B. Umfrageergebnisse, nach denen etwa die Hälfte der Italiener uneingeschränkt oder tendenziell der Aussage «gran parte degli immigrati svolge attività criminali» zustimmt (cf. u.a. in Caritas 2003, 195), oder die Äußerung Berlusconis: «L’aumento di criminalità dovuto all’immigrazione clandestina produce un atteggiamento genericamente negativo verso la presenza di extracomunitari nel nostro Paese. Il modo migliore per prevenire il possibile diffondersi di sentimenti

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Ansprüche zu erheben, natürlich von vornherein aus, und auch die Situation der sich legal in Italien aufhaltenden Farbigen entspricht kaum derjenigen der insgesamt besser organisierten aus ehemaligen Kolonialgebieten stammenden Immigranten Frankreichs oder dem Status der seit vielen Generationen ansässigen farbigen Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Rolle der «Illegalen» in erster Linie den Einwanderern lateinamerikanischer und insbesondere mexikanischer Herkunft zukommt. Dessen ungeachtet ist die korrekte Benennung Farbiger auch ein Anliegen vieler Italiener. Im Falle eines nicht genehmigten Aufenthalts wird versucht, die stigmatisierte Situation durch die Verlagerung der Perspektive auf die fehlenden Dokumente auszublenden (it. sans papiers, cf. fr. sanspapiers), was die Kritik der sprachlichen Verharmlosung der Illegalität nach sich zieht.286 Trotz fehlender pejorativer Markierungsangabe in Z287 wenig schmeichelhaft ist zweifelsohne das in Anspielung auf die stereotype Tätigkeit als Straßen- oder Strandverkäufer und deren angeblich unsichere Aussprache von «vuoi comprare?» gebildete it. vucumprà.288 Neutraler erscheint zunächst it. immigrato, -a, das inzwischen offenbar aber auch eine negative Konnotation bekommen hat, so dass ihm heute häufig it. extracomunitario, -a vorgezogen wird, dem aufgrund seiner Vorsilbe aber wiederum ein ausschließender Charakter angelastet werden kann.289 Am korrektesten ist sicherlich die Verwendung der tatsächlichen Nationalität, die im Falle des Bezugs auf eine heterogene Gruppe aber nicht greift. Zu vermeiden ist hier wie vie-

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xenofobi è un serio controllo dell’immigrazione clandestina» (2001 in Marinelli/ Matassa 2006, 117). Insgesamt lässt sich zwar festhalten, dass die Statistik der von Ausländern begangenen Straftaten mit 18 % von marocchini angeführt wird, und insgesamt 42 % der hier erscheinenden Delikte (v.a. Drogenhandel, Diebstahl, Fälschungen) den in diesem Kapitel interessierenden Afrikanern (v.a. Tunesiern, Senegalesen, Algeriern) zugeschrieben werden (de Marco 2003, 231), doch zeigt eine kühle Betrachtung «[di questo] ‹tema caldo› utilizzato dai media spesso in maniera sensazionalistica e comunque in grado di orientare l’opinione pubblica» (2003, 227) auch, «che la criminalità straniera continua a rivestire un ruolo marginale nel panorama italiano» (2003, 229). Cf. z.B. Volkoff, der zu fr. sans-papiers ausführt: «terme de la logomachie défensive, tendant à innocenter tout immigré clandestin en donnant l’idée que, s’il n’a pas de papiers en règle, ce n’est pas sa faute, mais celle de l’administration du pays où il s’est installé sans autorisation» (1999, 180), oder Merle, der dazu erklärt: «terme bien neutre, bien vague et banalisant» (2004, 60). Ebenso wenig ist der Eintrag in DLI pejorativ markiert, anders verhält sich GRADIT, der «spec. spreg.» (s.v. vucumprà) anführt. Cf. als ähnliche Bildung sciuscià ‘schuhputzender kleiner Junge’, das auf die Aussprache von engl. shoe shine zurückgeht, wie sie die neapolitanischen Jungen kennzeichnet, die während der anglo-amerikanischen Besatzung Italiens Dienste für die Besatzer erbrachten. Cf. z.B. Beccaria: «Ammantare di tecnologico-burocratese il negativo è prassi corrente. Capita per esempio col nostro extracomunitario in luogo di ‹immigrato›» (1996, 47). Das Wort ist in Z verzeichnet, aber nicht markiert. Cf. auch p. 298.

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lerorts290 auf jeden Fall die Herstellung einer Verbindung aus krimineller Handlung und Täterherkunft, so dass im gepflegten Sprachgebrauch in der Regel eine besondere Sensibilität vorherrscht, wenn es darum geht, die nichtitalienische Herkunft eines Kriminellen zu thematisieren. 5.3.3.2 Die Ausweitung des Begriffs (i) Weitere Konfliktbereiche Wenn auch unter anderen Vorzeichen, spielt also auch für Europa ein historisch nicht selbstverständlicher, da immer wieder von Heterophobie geprägter, 291 sensibler Umgang mit «dem Anderen» eine zentrale Rolle, wenn es um Politische Korrektheit geht. Dabei ziehen neben Menschen nicht-westeuropäischen Aussehens auch solche nicht-christlicher Religionszugehörigkeit besondere Aufmerksamkeit auf sich, d.h. neben ethnischen und den hier ausgeklammerten geschlechtlichspezifischen auch religiöse Minderheiten. Insbesondere seit dem 11. September 2001 kommt es im sorglosen Sprachgebrauch z.B. bisweilen zu einer Gleichsetzung von Moslems mit Islamisten; im gewählten Sprachgebrauch wird in den meisten westlichen Nationen hingegen besonders sorgsam auf die Trennung geachtet. In einer längeren Tradition steht die Anklage eines Sprachgebrauchs,

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Cf. die gebotene Vorsicht bei Berichten über Straftaten ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland oder über Kindstötungen der Maori in Neuseeland: «Experten sagen, Neuseeland habe eine der höchsten Raten von Kindsmißhandlung in der Welt. Und jetzt scheint auch ein Tabu gebrochen. Es sind nämlich in erster Linie Maori, die ihre Kinder so quälen, oft um sie für Ungehorsam zu bestrafen. Die Ureinwohner stellen nur 14 % der neuseeländischen Bevölkerung, doch dass sie in den Kriminalitätsstatistiken überdurchschnittlich vertreten sind, darüber wurde bisher nicht gerne offen gesprochen. Der Grund ist wohl politische Korrektheit» (Wälterlin 2007). Unter den beinahe unendlichen Beispielen hierfür sei exemplarisch auf die häufig nicht gerade vorteilhaften Benennungen des «Anderen» verwiesen, so z.B. auf das bekannte gr. βάρβαρος ‘Stotternder’ für alle Völker, die nicht Griechisch sprechen, und – jüngeren Datums – it. terrone als Bezeichnung der Norditaliener für die Süditaliener bzw. it. polentone als Bezeichnung der Süditaliener für die Norditaliener oder fr. macaroni für Italiener jedweder Region, auf die ebenso kulinarisch inspirierten Bezeichnungen engl. kraut für den Deutschen (v.a. deutschen Soldaten) und engl. frog, froggy für den Franzosen sowie auf it. crucco, -a und fr. boche zur pejorativen Bezeichnung des Deutschen. Ferner ist auch an die von Ethnien abgeleiteten Bezeichnungen negativ gewerteter Eigenschaften zu denken (cf. z.B. it. baluba, ottentotto, -a, zulù auf p. 268s. n. 188). Einen chronologischen Abriss der Arten fremdenfeindlicher Benennung im Englischen von 1500 bis in die Gegenwart gibt G. Hughes (1991, 126–138). Doch die Tendenz, die «Anderen» negativer zu beurteilen als die eigene Gruppe, spiegelt sich nicht nur in der Wahl der Bezeichnung, sondern auch in der Auslandsberichterstattung der Medien, die dazu neigt, negative Ereignisse oder Sachverhalte überzuproportionieren (cf. u.a. Fabietti 1998, 16ss.).

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der antisemitisch interpretiert werden kann, wobei die gebotene Rücksichtnahme mutatis mutandis wie bei den ehemals versklavten Farbigen der USA oder der Karibik durch historisches Unrecht begründet ist, das die jeweilige Minderheit einst erfahren hat. Auch bei der Darstellung der Übertragung der Politischen Korrektheit im Allgemeinen bedarf es damit einer Neudefinition und -gewichtung der Konfliktbereiche vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Situation. Für Deutschland bezeichnet Papcke z.B. die politisch korrekte «Verdächtigung jeder Euro-Kritik als antieuropäisch» oder die vor dem Hintergrund der faschistischen Vergangenheit erklärliche «Verwerfung jeder außenpolitischen Erwägung staatspolitischer Sicherheits- oder Eigeninteressen des Landes als ‹nationalistisch›» (1995, 26). Gerade in der Grande Nation wäre vor allem Letzteres sicherlich kein Feld Politischer Korrektheit, anders hingegen die auch in Italien und v.a. Deutschland traditionell wirksame «Gleichsetzung von Reformnotwendigkeit im gesellschaftlichen Unterstützungsbereich mit ‹Sozialabbau›» (1995, 26).292 So sind fr. politiquement correct, -e und it. politicamente corretto, -a heute nicht mehr allein auf den Minderheitenschutz beschränkt, sondern werden zur Bezeichnung aller möglichen Strömungen, Ereignisse oder Verfahrensweisen angewandt, die vom Bezeichnenden gebilligt, meist aber mit ironischem Unterton abgelehnt werden. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist das mit politicamente scorretto betitelte Buch Luigi Pintors, das die vom Autor in der kommunistischen Zeitung Il Manifesto veröffentlichten Leitartikel vereint, die zwischen 1996 und 2001 erschienen, also in einer Zeit, in der in Italien erstmals eine Mittelinksregierung an der Macht war: «Queste pagine politicamente scorrette possono dunque valere come documentazione, diagnosi e prognosi precoce, critica partigiana ma non infondata di un ciclo politico e culturale della sinistra che ha impoverito la vita democratica e invelenito il tessuto sociale in gangli essenziali: elevando a sistema il trasformismo istituzionale, mortificando il lavoro e premiando il privilegio, disorientando l’animo pubblico, fino a toccare il fondo con la partecipazione alla guerra» (2006, VIII).

Die Ausweitung des Konzeptes, bei der es sich natürlich nicht um eine originär sprachliche Angelegenheit handelt, kommentiert Umberto Eco wie folgt: «[…], da noi, si ironizza talora sull’eccesso di PC da parte di chi manifesta simpatia per i palestinesi, chiede il ritiro delle nostre truppe dall’Iraq o appare troppo

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Cf. hierzu z.B. Gemperle: «Auf nationaler Ebene bestehen diese Handicaps in den überregulierten Arbeitsmärkten, einem überrissenen Sozialstaat und einer überhöhten Abgabenlast. Dieser Befund trifft vor allem für die Großen des ‹alten Europa› wie Deutschland, Frankreich und Italien zu. Mit schmerzlichen Anpassungsprozessen verbundene Strukturreformen sind in diesen Ländern, anders als in den meisten anderen Mitgliedstaaten der EU, geradezu ein Tabu – jedenfalls zurzeit noch» (2006).

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indulgente con le richieste delle minoranze extracomunitarie. In questi casi il PC non c’entre affatto, si tratta di posizioni ideologiche e politiche, che chiunque ha diritto di contestare, ma che non hanno nulla a che fare con il linguaggio. Salvo che il discredito gettato sul PC dagli ambienti conservatori fa dell’accusa di PC un ottimo strumento per mettere a tacere coloro dai quali si dissente. PC diventa così una brutta parola, come sta accadendo a pacifismo» (Eco 2006, 97).

Dabei zeigen Fragen wie «mi domando se il sordo è denominato non udente, come si chiamerà il sordastro (in Cicerone surdaster); forse non udentastro?» (Bolelli 1993, 132), dass auch in Italien die für den anglophonen Sprachraum dargestellte (5.3.1.2) Ridikülisierung weitergetragen wurde. In Frankreich setzt sich dieses Ziel nicht nur de Villiers (1996), der sich engagiert mit dem neuen Konformismus auseinandersetzt, sondern z.B. auch Habrekorn, der seine Zusammenstellung unverdächtig mit den Worten einleitet: «On rencontrera dans ce dictionnaire abrégé des termes couramment usités et d’autres que l’auteur propose, en toute humilité, à l’usage futur de nos bons jeunes gens» (1998, 7).

Im Wörterbuch folgen dann u.a. fr. parler petit non-blanc ‘parler petit nègre’ (1998, s.v. nègre), noirier ‘négrier’, noirillon ‘négrillon’, noiritude ‘négritude’, noiroïde ‘négroïde’ (1998, s.v. négrier etc.) oder auch espace herbu des nonmouvants ‘esplanade des invalides’ (1998, s.v. invalide). Aus der deutschen Polemik ließe sich das «eigentlich fällige» (Zimmer 1993, 60) MitbürgerInnensteig anschließen. Doch in welchen Zusammenhängen finden politiquement correct, -e bzw. politicamente corretto, -a wirklich Verwendung? (ii) Die Polyfunktionalität des Ausdrucks am Beispiel Frankreichs Eine Betrachtung des Erscheinens von politiquement correct in der französischen Tageszeitung Le Figaro im Jahr 2007 zeigt zunächst, dass der Ausdruck erwartungsgemäß auch im Französischen auf Maßnahmen und Verhaltensweisen zum Schutz von Minderheiten bezogen wird, so z.B. auf die Berücksichtigung von Faktoren wie Geschlecht, Herkunft, Rasse und Alter als vermeintliche Selektionskriterien Nicolas Sarkozys bei der Regierungsbildung, was hier wie so oft die Kritik an der Qualifikation der Auserwählten impliziert: «Sarkozy sait mieux que personne que les ministres qu’il a nommés ne sont pas, pour la plupart, à la hauteur de cette tâche. C’est d’ailleurs qu’ils n’ont pas été choisis par le président pour leur compétence, leur expérience, ou même leur poids politique. Les critères de sélection ont été tout autres: sexe, origines, couleur, âge. Sarkozy a composé un gouvernement pour satisfaire aux canons du correct médiatique. C’est ‹United Colors of France›. On est plus près du gouvernement de Zapatero que celui du général de Gaulle» (Zemmour 2007).

Auf den traditionellen Kernbereich der Rasse bezieht auch der derzeitige französische Premierminister Fillon den Ausdruck, wenn er meint, in politisch korrekter Manier werde die offene Thematisierung von Immigration als Xenophobie fehlinterpretiert: 320

«Le premier ministre rappelle également à son auditoire ‹que la gauche qui a assisté passivement à la montée de l’extrême droite dans les années 80 et qui a provoqué le 21 avril 2002› n’avait pas à ‹nous donner des leçons›. Très applaudi, il s’en est ainsi pris au ‹correct qui interdit de parler lucidement d’immigration sans être soupçonné de xénophobie. Les Français en ont assez de toutes ces caricatures qui les étouffent›» (Potier 2007).

Der Ausdruck wird ferner im Sinne einer Rücksichtnahme gegenüber anderen Nationen und Systemgegnern gegbraucht und findet sich somit in Aussagen wie «George Bush, quant à lui, est pris à partie par les grands prêtres du correctpour avoir indiqué aux mêmes Iraniens que les beaux jours ne se trouvaient pas, dans la nature, en nombre indéfini» (Adler ) oder «Moins manichéen, moins ‹clément› envers les ‹terroristes› comme le politiquement correct le voulait jusqu’aux attentats du 11 septembre 2001» (Nataf 2007). Darüber hinaus wird politiquement correct aber auch auf die in einer bestimmten Gesellschaftsgruppe generell vorherrschenden Meinungen, Haltungen oder Handlungen bezogen, was seine ursprünglichen Verwendungen im marxistisch-maoistischen Kontext tradiert. Dazu gehört unzweifelhaft die Kritik am 3. Reich, die (begleitet von strittigen Äußerungen zum hier propagierten Platz der Frau) prinzipiell auch von Eva Herman geübt wurde: «‹Beaucoup de choses ont été mauvaises sous le IIIe Reich, par exemple Adolf Hitler›, affirme-t-elle, bien dans la ligne du ‹politiquement correct›» (Bocev 2007), v.a. aber eine Verwendung des Ausdrucks generell im Sinne eines politischen Konformismus: «Nicolas Sarkozy dit de vous, dans le livre de Yasmina Reza, ‹Henri Guaino est fêlé et les fêlés me rassurent›… Si être fêlé cela veut dire ne pas accepter la pensée unique, les idées préconçues, le correc, le conformisme intellectuel, alors, je le revendique. (Jaigu/Jeudy 2007).

Der Berater Nicolas Sarkozys Henri Guaino gibt dem Ausdruck in diesem Zitat einen ebenso negativen Beigeschmack wie er ihn in vielen Fällen hat, in denen er auf angeblich dominante Meinungen bezogen ist. Ein zentrales Thema ist hierbei sicherlich der teilweise auch als écologiquement correct bezeichnete, nachhaltige Umgang mit natürlichen Ressourcen. Da ist zu lesen:«Leur message contredit les arguments politiquement corrects de la religion de l’éthanol» (Dugua 2007) oder aber: «L’Allemagne est actuellement le pays le plus pollueur d’Europe, tout en se donnant les apparences de l’écologie. Au contraire, nous sommes de très loin les meilleurs au sein des grands pays industriels, grâce au nucléaire et à un parc automobile sobre. Nous émettons deux fois moins que les autres. Or, sous l’influence d’un correct venu d’ailleurs, nous dépensons des sommes colossales pour construire des éoliennes qui ne fonctionnent qu’un quart du temps, subventionner des biocarburants aux rendements dérisoires ou bâtir des infrastructures inutiles, le tout sous prétexte de ‹sauver la planète›, qui justifie désormais tout et n’importe quoi, sans aucun impact perceptible sur nos émissions» (Gerondeau in de Méritens 2007, 26).

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(iii) Die Kraft des Wortes durch Ableitungen am Beispiel Italiens Die Beispiele aus Le Figaro dokumentieren einerseits negative Konnotationen des Ausdrucks in Frankreich, andererseits aber auch eine nicht zu vernachlässigende Frequenz seines Gebrauchs in den unterschiedlichsten Kontexten. Die «Karriere», die der Ausdruck politically correct gemacht hat, ist aber auch an der Summe spezifizierter Bezeichnungen zu sehen, denen er Pate stand. Diese kann an Beispielen des Italienischen an Hand der Neologismen-Sammlung von Giovanni Adamo und Valeria della Valle illustriert werden, die aus einem Korpus von 33 Tageszeitungen (cf. 2003, Xs.) der Jahre 1998 bis 2003 Wörter sammelten, die nicht «nei due più importanti e consistenti vocabolari pubblicati nell’ultimo decennio» (2003, X), VOLIT und GRADIT, verzeichnet sind. Während das im Ausschlusskorpus bezeugte politicamente corretto Neologismen-Wörterbuch häufig fehlt, sind hier zahlreiche (teilweise als ironisch markierte) Spezifizierungen verzeichnet, wie im Hinblick auf ethnische Minderheiten z.B. etnicamente corretto, -a: «e t n i c a m e n t e c o r r e t t o loc. agg.le (Iron.) Rispettoso delle convenzioni e dei principi sociali relativi alla convivenza di diverse etnie. ● Erika [Harold] è pure etnicamente corretta, visto che ha detto di non appartenere ad alcuna razza precisa: (Stampa, 24 settembre 2002, p. 1, Prima pagina). Sul modello di ‹politicamente corretto›» (Adamo/della Valle 2003, 377).

Die Förderung der Gleichberechtigung zwischen den beiden Geschlechtern wird auch als sessualmente corretto, -a bezeichnet: «s e s s u a l m e n t e c o r r e t t o loc. s.le m. (Iron.) Che corrisponde in modo equilibrato alla rappresentazione sociale della sessualità. ● come hanno asserito in un dibattito quest’estate Alina Reyes e Stéphane Zagdanski, due romanzieri francesi senza censure, si fa strada il ‹sessualmente corretto›. […] i sensi cambiano ancora gusti. Così, dopo l’epoca in cui il femminismo ha fatto sentire le sue ragioni, si può cadere nella fase opposta. (Armando Torno) (Corriere della sera, 17 settembre 2002, p. 33, Cultura). Sul modello di ‹politicamente corretto›» (Adamo/della Valle 2003, 816).

Politische Korrektheit im Hinblick auf einen respektvollen Umgang mit der Natur kommt im unadaptierten Anglizismus environmentally correct, dessen Übersetzung ecologicamente corretto, -a sowie der Mischform ecologicamente correct zum Ausdruck: «e n v i r o n m e n t a l l y c o r r e c t loc. s.le m. e agg.le inv. Complesso di norme e comportamenti che tutelano l’equilibrio ambientale; rispettoso dell’ambiente. ● Sono sempre più numerose le aziende tessili che, fiutando il business, un occhio alle tendenze e uno al portafoglio, si vogliono adeguare all’environmentally correct […]. Sempre più numerosi i siti Internet sull’abbigliamento environmentally correct, dove è possibile avere informazioni e fare shopping. (Repubblica, 3 aprile 1999, p. 28, Cronaca). Sul modello di ‹politically correct›; v. anche il calco traduzione italiano ‹ecologicamente corretto›» (Adamo/della Valle 2003, 373).

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«e c o l o g i c a m e n t e c o r r e t t o loc. agg.le Rispettoso dell’ambiente. ● In boutique entra la moda verde […]. Ecco i capi ecologicamente corretti […]. È stato giudicato sorprendentemente alto […] il numero delle aziende che […] hanno preso parte ai corsi organizzati da Legambiente su ‹Ecolabel›, l’etichetta che l’Unione Europea concede ai prodotti ecologicamente corretti (Repubblica, 3 aprile 1999, p. 28, Cronaca-Moda) ● Sta per nascere la Borsa dei rifiuti. Chi ha residui di lavorazione di cui vuole liberarsi in modo economicamente ed ecologicamente corretto potrà rivolgersi a questa Borsa merci per cercare aziende interessate a usare come materie prime i sottoprodotti. (Sole 24 Ore, 17 maggio 2000, p. 9, Italia – Economia) ● [tit.] Decalogo per viaggiatori ecologicamente corretti (Venerdì di Repubblica, 18 maggio 2001, n. 687, p. 20, Turismo verde). Dall’inglese ‹environmentally correct›» (Adamo/della Valle 2003, 359). «e c o l o g i c a m e n t e c o r r e c t loc. agg.le inv. (Iron.) Rispettoso dell’ambiente. ● Un residence multichalet destinato a clientela assai selezionata ed ecologicamente ‹correct›. (Repubblica, 11 marzo 1999, p. 57, Sport). V. anche ‹ecologicamente corretto› e ‹environmentally correct›, del quale è parziale adattamento» (Adamo/della Valle 2003, 359).

Zudem gibt es (wie im obigen Zitat schon angeklungen) auch einen Unternehmensethos, an dem sich zu orientieren als commercially correct bezeichnet wird: «c o m m e r c i a l l y c o r r e c t loc. agg.le inv. Commercialmente corretto; corretto e conveniente dal punto di vista commerciale. ● L’ex fabbrica di locomotive che fa da cornice ai progetti di Carlo [d’Inghilterra] è commercially correct. (Corriere della sera, 27 aprile 1999, p. 19, Cronache). Sul modello di ‹politically correct›» (Adamo/della Valle 2003, 266).

Ironischerweise wird ferner das Aufgreifen kulturell-intellektuell angeblich dominanter Topoi (im zitierten Beispiel die Reinheit der Kunst, die Nichtwiederherstellbarkeit der Einsamkeit sowie die Versuchung des Suizids) als intellettualmente corretto, -a betrachtet: «i n t e l l e t t u a l m e n t e c o r r e t t o loc. agg.le (Iron.) Che rispecchia i modelli culturali e intellettuali dominanti. ● A bordo di una Porsche rossa, tra palazzi in rovina e desolati autogrill, il giovanotto Paul e il meno giovane Serge spezzano i lunghi silenzi con le frasi da sempre care ai registi intellettualmente corretti: la purezza dell’arte, l’irrimediabile solitudine, la tentazione del suicidio. (Foglio, 11 settembre 1999, p. 2). Sul modello di ‹politicamente corretto›» (Adamo/della Valle 2003, 490).

Als heretically correct wird umstürzlerisch Korrektes bezeichnet: «h e r e t i c a l l y c o r r e c t loc. agg.le inv. (Iron.) Eversivamente corretto. ● Ecco una definizione, ‹heretically correct», che mi va a sangue. L’adotto. (Indro Montanelli) (Corriere della sera, 2 marzo 1999, p. 41, Opinioni). Coniazione italiana sul modelle inglese ‹politically correct›» (Adamo/della Valle 2003, 473).

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Eine besonders ausgeprägte (politische) Korrektheit in jederlei Hinsicht kommt in supercorretto, -a zum Ausdruck: «s u p e r c o r r e t t o agg. Estremamente corretto e rispettoso del comune modo di sentire. ● Nel clima supercorretto odierno, in cui dirsi ateo e anticlericale suona come una bestemmia (Repubblica, 26 aprile 1999, p. 28 Libri)» (Adamo/della Valle 2003, 864).

In der Fortsetzung von Adamo/della Valle (2003) aus dem Jahre 2005, deren Ausschlusskorpus neben den supra schon genannten VOLIT und GRADIT den GDLI beinhaltet (cf. 2005, VIIs.), findet sich schließlich auch der Anglizismus politically uncorrect: «p o l i t i c a l l y u n c o r r e c t loc. s.le m. inv. (iron.) Ciò che è politicamente scorretto, che non si conforma ai modelli culturali e sociali dominanti. ● Un play boy di taglio texano, chiassoso, con sigaretta e bicchiere di whisky serigrafato GG, fasciato da tuxedo stampati a motivi geometrici luccicanti. Il massimo del politically uncorrect. (Alberta Marzotto, Repubblica, 26 gennaio 2004, Affari & Finanza, p. 23) ● ‹Ben scavato, vecchia talpa!›. Sarà pure politically uncorrect, ma quando l’editorialista di Liberazione Rina Gagliardi ripensa al successo Nichi Vendola alle primarie di Puglia la mente corre al celebre adagio di Marx su quel ‹grande minatore› che è la rivoluzione (Corriere della sera, 22 gennaio 2005, p. 10, Politica). Prestito dall’inglese: già attestato nel Corriere della sera del 10 aprile 1992, p. 15 (André Glucksmann, trad. di R. C.)» (2005, 326).

Dieser lexikalische Reichtum soll nicht über das vergleichsweise geringe Ausmaß der Bedeutung des Phänomens in Italien hinwegtäuschen. Zu Recht stellen Bencini/Manetti im Hinblick auf politically correct bzw. politicamente corretto oder auch moralmente corretto, -a fest, dass es sich um eine «locuzione fortunata più nella forma che nella pratica» handle (2005, 215) und führen kritisch aus: «Il mito della correttezza politica (political correctness), grande tabù dei primi anni Novanta, ha certamente contribuito a depurare la lingua della quotidianità dei suoi aspetti più triviali – l’universo semantico legato alle preferenze sessuali, ad esempio, gli deve moltissimo –, ma rischia di irrigidirla in un codice espressivo artificioso, equivalente linguistico della categoria morale dell’ipocrisia, detto anche, ironicamente, politically correct-ese» (Bencini/Manetti 2005, 215).

5.3.4 Politisch korrekte Euphemismen thematisch geordnet Wie supra gezeigt werden konnte, ist die Eingrenzung des Begriffs Politische Korrektheit äußerst problematisch. Dabei macht es Sinn, die darunter zu subsumierenden Phänomene auf die Diskriminierungsmerkmale zu beschränken, wie sie einleitend aus § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) zitiert wurden. Im Folgenden sind daher die hier relevanten Bereiche «Rasse», «Physische Einschränkungen», «Alter» und «Sexuelle Identität» berücksichtigt. Hinzu kommen die aufwertenden Berufs- und Länderbezeichnungen. 324

5.3.4.1 Rasse (i) Das Bild vom Farbigen in der Geschichte Für Farbige stand in der Antike neben lat. Aethiops (< gr. αἰθίoψ ‘mit (von der Sonne) verbranntem Gesicht’, auch für Menschen aus Gegenden außerhalb des heutigen Äthiopiens verwendet)293 das lat. niger. In beiden Fällen wurde die hervorstechendste äußere Eigenschaft lexikalisiert. Das nicht zuletzt mit dem Christentum starke Symbolhaftigkeit erhaltende Gegensatzpaar hell – dunkel bzw. weiß – schwarz im Sinne von gut – böse294 trug zur Verbreitung von Bezeichnungen Farbiger bei, die auf lat. niger bzw. nigru(m) zurückgehen. Während die schwarze Hautfarbe in der Antike v.a. mit der Klimatheorie erklärt wurde,295 wurde diese im «orthodoxen»

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Cf. Georges, wo unter Aethiopia steht: «im weiteren Sinne alles Land am Südrande der Erde» (s.v. Aethiopes); cf. auch die Belege von Ptolemäus und Isidor in der folgenden Fußnote. Die spätere Bedeutungsverengung wird im 18. Jahrhundert z.B. im Dictionnaire universel françois & latin expliziert: «Le nom de Nègre n’est pas aujourd’hui synonyme d’Ethiopien, comme il le pourroit être en parlant de l’antiquité. L’Ethiopie ne s’étend pas autant que la Nigritie. Nous n’appellons Ethiopiens que les peuples qui sont au midi de l’Egypte, & au levant des Negres» (Trévoux 1771, 169a). Cf. Mollard-Desfours Studie zur Farbe schwarz, die folgende Facetten des Begriffs aufzeigt: «noir du diable, des enfers, du mal; noir de la mort, du malheur et du tragique, de la violence et du danger; noir de l’humeur et des idées; noir du désespoir ou de la tristesse, de la mélancolie, du pessimisme, de la colère ou de la folie; noir de l’anarchie, de la rébellion, de la révolte; noir de la peau ou le noir comme marque raciale; noir du mystère, de l’inconnu, du secret, de la clandestinité; noir du trouble ou de la confusion; noir du fascisme» (2005, 24). Cf. auch Pastoureau zur «morale de la couleur» innerhalb der mittelalterlichen Kleiderordnung. So ist im Hinblick auf die Mönchskutten festzustellen: «Le noir du costume bénédictin, qui a traversé quinze siècles, appartient au concept de sombre et connote une double idée d’humilité et de pauvreté. [...] Le blanc cistercien, qui se met en place au début du XIIe siècle, est d’abord une réaction contre le noir clunisien. L’ordre nouveau se démarque de l’ancien. Mais c’est aussi une quête de la lumière et de l’éclat, afin de se rapprocher de la perfection divine» (1989, 33s.). Die zuletzt genannten Eigenschaften werden also mit der Farbe weiß verbunden, die in der Regel zur Bezeichnung der Europäer verwendet wird, auch wenn deren Hautfarbe eigentlich eher der Farbe der Franziskaner-Kutte gleicht: «Au siècle suivant, le vêtement non teint des Franciscains exprime la recherche de la pauvreté absolue et souligne probablement, ici aussi, une réaction contre le noir bénédictin et contre le blanc cistercien [...]. Faite d’étoffe grossière, dont la laine n’a subi aucun artifice de teinture, la robe franciscaine est de couleur naturelle [...] C’est une quête du degré zéro de la couleur» (1989, 34). Cf. z.B. Herodot, der von den Menschen am Nil behauptet, dass sie «schwarz von der Hitze» sind (Hist. II, 22 – 2001, 143); Aristoteles, der im Hinblick auf die «Äthiopier» fragt, «quant aux dents, pourquoi sont-elles blanches?», und erklärt, «d’une part il [le soleil] colore la peau, d’autre part il ne colore pas les dents» (Problemata X, 66 – 1991, 79); Ptolemäus, der von den Menschen, die «zwischen der Nachtgleiche und dem Sommerwendepunkte» leben und Äthiopier genannt werden, sagt, dass sie, «da dann die Sonne über ihren Scheiteln steht, dunklere

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Christentum (unterstützt von dem Argument, dass Völker gleicher Breitenlage unterschiedliche Hautfarben haben) von der Verfluchung des lange Zeit für den Vater aller Afrikaner gehaltenen Sohn Noahs, Ham, und der Verdammung seiner Nachfahren zur ewigen Sklaverei abgelöst,296 was über die eigenwillige Auslegung der entsprechenden Bibelstelle297 geschah. Neben der Erklärung der Hautfarbe leistete diese Bibelauslegung so auch eine Rechtfertigung der Sklaverei. Trotz einer langen Tradition von rassistischen Vorformen wie dem altindischen Kastenwesen ist «der eigentliche R[assismus]» aber «ein neuzeitliches Phänomen»: «Vorbedingung war die Verwendung des Rassenbegriffs zur wiss. Klassifizierung des Menschen, wie sie erstmals François Bernier 1684 vornahm, noch ohne die für den R[assismus] typische Verbindung mit hierarchisierenden Werturteilen. Diese Verbindung stellten erst Edward Long und Johann Friedrich Blumenbach fast zeitgleich (1774/75) auf beiden Seiten des Atlantiks her» (Lohmann 2004, 40).

Es ist das Zeitalter der Aufklärung, in dem das Konzept der Rasse mit all den ihr jeweils zugeordneten Charakteristika begründet werden sollte.298 So klassifiziert Carl von Linné in seinem Systema naturae (1735) den Homo sapiens in verschiedene Unterklassen, denen er später unterschiedliche Charakteristika zuschrieb, so dem Homo Africanus die Eigenschaften «phlegmaticus» und

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Körper besitzen» und zu den «unter nördlichen Parallelkreisen», dass sie, «da sie unter Hitze nicht so zu leiden haben, […] an Hautfarbe auch heller» sind (Tetrabiblos II, 2 – 1995, 77s.); später auch Isidor: «Aethiopia dicta a colore populorum, quos solis vicinitas torret» (Etymol. XIV, v, 14). Dies war im Einklang mit der im Mittelalter üblichen Praxis, mit den drei Söhnen Noahs die Unterschiede der drei Kontinente (Asien, Europa und Afrika) oder auch der drei Stände (Adel: Söhne Jafets, Kleriker: Söhne Sems, Sklaven: Söhne Hams) zu erklären. Cf.: «(18) Die Söhne Noahs, die aus der Arche gingen, sind diese: Sem, Ham und Jafet. Ham aber ist der Vater Kanaans. (19) Das sind die drei Söhne Noahs; von ihnen kommen her alle Menschen auf Erden. (20) Noah aber, der Ackermann, pflanzte als erster einen Weinberg. (21) Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt. (22) Als nun Ham, Kanaans Vater, seines Vaters Blöße sah, sagte er’s seinen beiden Brüdern draußen. (23) Da nahmen Sem und Jafet ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rückwärts hinzu und deckten ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, damit sie ihres Vaters Blöße nicht sähen. (24) Als nun Noah erwachte von seinem Rausch und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, (25) sprach er: Verflucht sei Kanaan und sei seinen Brüdern ein Knecht aller Knechte! (26) Und sprach weiter: Gelobt sei der HERR, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! (27) Gott breite Jafet aus und lasse ihn wohnen in den Zelten Sems, und Kanaan sei sein Knecht!» (Gen 9, 18–27). Cf. z.B. Gliozzi: «Tutti gli autori del Settecento – con in testa i Buffon, gli Hume, i Lord Kames e i Kant – si sono abbandonati alla pessimistica conclusione che il ‹razzismo› ha davvero radici profonde e imperscrutabili nella psiche umana, che la sua origine storica è difficilmente individuabile, che forse il ‹razzismo› è eterno (1979, 257).

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«laxus» (1760, 22; 1767, 29). Zur Erklärung der Rassenunterschiede wurden die unterschiedlichsten Thesen vorgebracht, wie z.B. von Barrère die dunklere Galle (1741; 1765),299 aber auch Nachfolger der Klimatheorie blieben weiterhin präsent, so z.B. bei Linnés französischem, ein künstliches Klassifikationssystem ablehnenden Kollegen Georges Louis Le Clerc de Buffon.300 Beschrieben wurde der (bis zum 15. Jahrhundert manchmal sogar mit dem Affen gleichgesetzte) Farbige teilweise immer noch als Zwischenstufe zwischen Affe und Mensch und meist als hässlich.301 Die Sklaverei bleibt dennoch kontrovers; doch wird nach Aussagen aus der Encyclopédie, die sich auf das Dictionnaire de Commerce beruft, versucht, sie mit der Christianisierung zu rechtfertigen.302 Selbst in diesem auf-

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Cf.: «1. j’ai remarqué dans les cadavres des negres que j’ai eu occasion de disséquer à Cayenne, la bile toujours noire comme de l’encre; 2. qu’elle étoit le plus ou moins noire à proportion de la couleur des negres; 3. que leur sang étoit d’un rouge noirâtre, selon le plus ou moins de noirceur du teint des negres; 4. il est certain que la bile rentre avec le chyle dans le sang, qu’elle roule avec lui dans toutes les parties du corps, qu’elle se filtre dans le foie, & que plusieurs de ses parties s’échappent à-travers les reins, & les autres parties du corps. Pourquoi donc ne se peut-il pas faire aussi que cette même bile dans les negres se sépare dans le tissu de l’épiderme?» (zitiert nach 1765, 77b). In der Encyclopédie findet sich bereits eine Wiederlegung dieser These, ebenso bei Buffon (1785, 175s.). Cf.: «L’origine des noirs a dans tous les temps fait une grande question; les Anciens […] pensoient […] que la différente couleur des hommes ne provenoit que de la différence du climat, & que ce qui produisoit la noirceur de ces peuples, étoit la trop grande ardeur du soleil à laquelle ils sont perpétuellement exposés: cette opinion, qui est fort vraisemblable, a souffert de grandes difficultés lorsqu’on reconnut qu’au-delà de la Nubie dans un climat encore plus méridional, & sous l’équateur même, comme à Mélinde & à Mombaze, la plupart des hommes ne sont pas noirs comme les Nubiens, mais seulement fort basanés, & lorsqu’on eut observé qu’en transportant des noirs de leur climat brûlant dans des pays tempérés, ils n’ont rien perdu de leur couleur & l’ont également communiquée à leurs descendans. Mais si l’on fait attention d’un côté à la migration des différens peuples, & de l’autre au temps qu’il faut peut-être pour noircir ou pour blanchir une race, on verra que tout peut se concilier avec le sentiment des Anciens; car les habitans naturels de cette partie de l’Afrique sont les Nubiens, qui sont noirs & originairement noirs, & qui demeureront perpétuellement noirs tant qu’ils habiteront le même climat, & qu’ils ne se mêleront pas avec les blancs» (Buffon 1785, 128s.). So stellt Buffon gegen Ende des Kapitels zu den «Variétés dans l’espèce humaine» fest: «On peut donc regarder le climat comme la cause première & presque unique de la couleur des hommes» (1785, 179). Cf. z.B. Buffon: «Ces peuples [du Monomotapa], quoiqu’assez noirs, sont différens des Nègres, ils n’ont pas les traits si durs ni si laids, leur corps n’a point de mauvais odeur» (1785, 124). Cf.: «On tâche de justifier ce que ce commerce a d’odieux & de contraire au droit naturel, en disant que ces esclaves trouvent ordinairement le salut de leur ame dans la perte de leur liberté; que l’instruction chrétienne qu’on leur donne, jointe au besoin indispensable qu’on a d’eux pour la culture des sucres, des tabacs, des indigos, &c. adoucissent ce qui paroît d’inhumain dans un commerce où des

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klärerischen Werk wird sie mit der Behauptung entschuldigt, das Leben der Schwarzen sei in den Kolonien immerhin angenehmer als in ihrer Heimat: «Ces hommes noirs, nés vigoureux & accoutumés à une nourriture grossiere, trouvent en Amérique des douceurs qui leur rendent la vie animale beaucoup meilleure que dans leur pays» (Le Romain 1765, 80b). Ebenso negativ wie im Dictionnaire universel françois & latin, wo zu lesen ist «ils passent pour robustes, mais ignorans, lâches & paresseux» (Trévoux 1771, s.v. nègre), wird selbst in der Encyclopédie der Charakter einer großen Mehrheit der Farbigen beschrieben: «[…] ils sont pour la plûpart enclins au libertinage, à la vengeance, au vol & au mensonge. Leur opiniatreté est telle qu’ils n’avouent jamais leurs fautes, quelque châtiment qu’on leur fasse subir; la crainte même de la mort ne les émeut point. […] Quant aux negres créols, les préjugés de l’éducation les rendent un peu meilleurs; cependant ils participent toujours un peu de leur origine; ils sont vains, méprisans, orgueilleux, aimant la parure, le jeu, & sur toutes choses les femmes» (Le Romain 1765, 82a).

Die Frage nach der Berechtigung einer Ableitung von Charaktermerkmalen aus der Rasse bzw. die der Kategorie Rasse überhaupt wird erst später gestellt. Immerhin ist in Guizots Dictionnaire universel des synonymes unter nègre, noir ein Teil aus dem gleichnamigen Eintrag in Roubaud 1787 zitiert: «Si la couleur des noirs en fait physiquement une autre espèce d’hommes, comment arrive-t-il que les nègres transplantés dans d’autres climats blanchissent d’une génération à l’autre; et que les Européens noircissent, transplantés dans celui des noirs, sans croisement de races, et par des changements gradués du noir au blanc et du blanc au noir?» (Roubaud 1787, s.v. und 1850).

Doch insgesamt sind die Beschreibungen der anderen Rasse im 19. Jahrhundert nicht unvoreingenommener als in den vorangehenden Jahrhunderten. Exemplarisch ist sicherlich Arthur de Gobineaus Traktat mit dem programmatischen Titel Essai sur l’inegalité des races humaines (1853), «un produit de son siècle»,303 das in der Überzeugung von der «‹incapacité› des Noirs» und der «‹supériorité› de la civilisation européenne» (Boissel 1983, 1239s.) abgefasst ist. Ähnlich wie A. Gobineau in Frankreich beschreibt auch Cesare Lombroso in Italien nicht einmal zwei Jahrzehnte später die Intelligenz der Farbigen als eine auf einer frühe(re)n Entwicklungsstufe stehengebliebene.304

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hommes en achetent & en vendent d’autres, comme on feroit des bestiaux pour la culture des terres» (Le Romain 1765, 79b). So Boissel, der fortfährt: «Gobineau ne fait que répéter à ce sujet ce qu’on écrivait et disait parmi les Européens» (1983, 1239) und hierfür zahlreiche Quellen nennt. Cf.: «[…] a quell’epoca [della pubertà], in cui il nostro intelletto stende l’ali ai voli gagliardi, egli [il negro] s’arresta, e si ravvoltola in una scimmiesca e stupida mobilità, quasi ché il suo povero cervello stesse a disagio in quel cranio allungato e pesante, e si perdesse in quel difforme inviluppo di ghiandole e d’ossa» (1871, 28s.).

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Einfache, historisch lange nachweisbare305 Gleichsetzungen wie zwischen it. bianco und civiltà/progresso, respektive nero und barbarie/inciviltà bestimmen denn auch die Propaganda des Impero (Ricci 2005, 19). Zwar diente ein solches Verhalten im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht mehr der Rechtfertigung des dort inzwischen offiziell abgeschafften Sklavensystems, wohl aber der Aufrechterhaltung oder auch Einrichtung kolonialer Strukturen sowie der nationalen Identitätsbildung.306 Diesbezüglich war es für das spätgeeinte Italien auf der Suche nach einem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl307 in gewisser Hinsicht wichtiger als für das zeitgenössische Frankreich und gerade die «oggettiva inferiorità dell’Italia»,308 die Rolle als «stracciona cenerentola d’Europa», vermag nicht nur das Bedürfnis nach der Ausbildung einer eigenen italienischen Kultur, sondern auch die des Konzeptes ihrer Überlegenheit gut zu erklären (2005, 13). Anders als in Paris, wo die Autonomieforderungen einiger Gebiete gewisse Konzessionen nach sich zogen und die öffentliche Meinung gegenüber Farbigen im Begriff war, ins Positive umzuschlagen,309 hatte der Gedanke

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Cf. neben den diesbezüglichen obigen Zitaten auch Said, der mit seinem Vergleich der europäischen (v.a. französischen und englischen) Literaturen eine gemeinsame Ideologie aufzeigt, die von einem Zivilsationsgedanken geprägt ist (1998, 35). Cf.: «Quel discorso [coloniale...] contribuì anche a delineare un’identità europea. Ciò avvenne in particolare a partire dall’età dell’imperialismo, in un tempo che vide la nascita, lo sviluppo e il successo dei movimenti di indipendenza e di decolonizzazione africani ed asiatici: mentre, cioè altre costruzioni identitarie venivano a svilupparsi. In tutto il suo parlare dei sudditi coloniali come di uomini, donne, cose ‹altre› dall’Europa il discorso coloniale del Vecchio continente contribuì potentemente e da un’angolatura assai efficace a costruire e ricostruire il profilo del ‹Sé› degli europei. Mentre definiva gli ‹indigeni›, ‹ridefiniva› gli europei: o meglio i britannici, i francesi, gli olandesi ecc. Per tale via il discorso coloniale diventava uno strumento prezioso per la formulazione delle identità nazionali» (Labanca 2002, 221). Cf. den bekannten Ausspruch Massimo d’Azeglios: «Fatta l’Italia, bisogna fare gli italiani». Cf. konkreter: «L’Italia non era stata all’altezza (men che mai, al di sopra) di altre nazioni in nessun campo: non in quello economico, non in quello sociodemografico, non in quello, tanto decantato, delle migliorie civili apportate alle colonie: urbanizzazione, infrastrutture, istituzioni» (Ricci 2005, 33). Cf.: «Non mancavano i sempre rigidi assertori della superiorità razzistica dei bianchi sui neri, dei colonizzatori europei sulle popolazioni ‹indigene›. Ma queste si stavano facendo sempre meno ‹selvagge› e avevano persino messo a rischio la propria stessa vita combattendo a fianco dei soldati bianchi nella prima guerra mondiale. [...] Insomma all’orgogliosa fiducia in se stessi dell’età dell’imperialismo, permeata da un senso di distacco e di superiorità della cultura europea, veniva lentamente subentrando presso l’opinione pubblica [...] francese una certa maggiore disponibilità verso le popolazioni e le culture ‹altre› e un qualche maggior assorbimento di taluni loro apporti. Dopo che Picasso e Braque, fra gli altri, avevano ‹sdoganato› l’arte negra, nascevano negli anni Trenta in Francia le esposizioni e le sale di arte africana» (Labanca 2002, 240).

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einer Milderung kolonial-rassistischer Denkkategorien in Italien aber auch im Zeichen des aufkommenden Faschismus wenig Durchsetzungskraft: «È difficile, ad esempio, sottovalutare il fatto che negli anni fra le due guerre mondiali – mentre nelle altre potenze coloniali si pensava alla ‹riforma coloniale› e mentre veniva forgiandosi un anticolonialismo nuovo, che iniziava a stringere contatti persino con i primi rappresentanti dei movimenti anticolonialisti provenienti dai paesi soggetti – in Italia nello stesso periodo il fascismo, eliminata la libertà d’espressione, lasciava il diritto di parola solo al discorso coloniale mentre reprimeva quello anticoloniale, antifascista, democratico» (Labanca 2002, 223).

Sehr plastisch wird dieser Unterschied im Kommentar des höchst verwunderten Frankreich-Korrespondenten von La Stampa vom 20. August 1938, wenn er die dortige Prominenz Farbiger im gesellschaftlichen und politischen Leben beschreibt und dabei nicht nur seine rassistische Haltung in allen möglichen Stereotypen, sondern auch den Unterschied zwischen Frankreich und Italien deutlich zum Ausdruck bringt: «[…] mentre tali resoconti si sueseguono [le agitazioni dei portuali di Marsiglia] […], io osservo i portuali. Ne trovo di tutte le razze e di tutti i colori; vi sono francesi, arabi, indocinesi, ve ne sono dei bianchi, dei caffelatte e dei gialli. Ma non vedo dei negri […]. Eppure, direte, i negri senegalesi o congolesi che siano, da un pezzo non sono di casa in Francia, a Parigi e a Marsiglia? È vero. Non s’era ancora spenta la eco delle ultime cannonate, che già volti camusi degli abitatori dell’Africa andavano nelle vie di Parigi e di Marsiglia, diventanndo sempre più numerosi. Da principio lo stupore regna. Breve parentesi: in un rapido volgere di tempo, lo stupore scompare, lasciando posto ad una specia d’inflazione degli uomini di colore. È un rapido estendersi dell’interesse collettivo sui discendenti di Cam. Di colpo si vedono promossi dal rango di selvaggi e di primitivi a quello di gente quasi per bene. Nei dancing le signore in abito da sera si appendono alle loro braccia con smorfie di piacere, alla ricerca di sensazioni inedite; gli uomini milionari offrono biglietti da mille al suonatore di saxofono, i cui denti sorpassano in splendore il metallo del suo terso strumento. Nei teatri, succede l’identica cosa. Le riviste mostrano ballerini negri dai corpi statuari e dalle movenze feline, rapide e vive come quelle delle fiere che mandano in visibilio il pubblico e spingono i buoni borghesi francesi a riflettere che il diavolo poi non è così brutto come si dipinge. No. Il negro nella dolce terra di Francia non è fatto per i duri lavori del porto. Tutt’al più può far parte dei comitati sindacali. [...] Ed è precisamente un negro, quello che dal tavolo della presidenza ora parla […]. Nel suo francese dove l’au e l’eu saltano via, e tintinnano solo le f, egli espone le buone ragioni che dovrebbero indurre i portuali a riprendere il lavoro normale» (zitiert aus Faloppa 2004, 112s.).

Zwar hat der supra bereits erwähnte Cesare Lombroso mit seiner Darstellung nur ältere Theorien wieder aufgegriffen, in denen der Farbige zwischen Weißen und Affen platziert wird, doch trägt deren Vulgarisierung in Zeiten des Eritrea-Krieges und der faschistischen Herrschaft in Ost-Afrika zur Herausbildung eines «razzismo tutto italiano» bei (Faloppa 2004, 111), der sich auch im kolonialen Führungsstil niederschlägt:

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«Tatsächlich bedient sich Italien in Äthiopien nicht des britischen Kolonialmodells des indirect rule, bei dem den lokalen Eliten die Verwaltungsbefugnisse übertragen werden; ebensowenig hält man sich an das anders geartete französische Modell, das zur ‹Französierung› der Eliten tendiert. Weder sollen die lokalen Eliten ‹italianisiert› werden, noch ist man bereit, ihnen auch nur einen begrenzten Machtspielraum zuzugestehen. Stattdessen will man befehlen, weil man weiß ist, weil man Träger der ‹lateinischen Zivilisation› und ‹Herrschervolk› ist» (Mantelli 2007, 80).

Gerade eine Verbindung aus «wiss. und populären R[assismus]», wie sie neben dem schon erwähnten Arthur de Gobineau auch durch den Sozialdarwinismus und Houston Stewart Chamberlain310 geschah, sollte «die von breiten Schichten der Bevölkerung getragenen rassistischen Greueltaten des 20. Jh.» ermöglichen (Lohmann 2004). So wird im Manifesto della razza die Existenz einer «pura razza italiana»311 auf eine angebliche «realtà biologica che il sangue che corre oggi negli Italiani ha una millenaria, purissima nobiltà» gestützt und ein Verbot der «Verunreinigung» durch «incrocio con razze, biologicamente inferiori sia con razze diverse dalle europee e portatrici di una civiltà che non è la millenaria civiltà degli Ariani» ausgesprochen.312 In der von 1938 bis 1943 erschienenen Zeitschrift La difesa della razza, «la rivista più famosa del razzismo fascista [...] con il preciso scopo di elaborare e di divulgare una dottrina ‹scientifica› della razza che giustificasse (agli occhi dell’opinione pubblica italiana) la politica coloniale e, soprattutto, l’antisemitismo di stato» (Pisanty 2006, 23), ist unter den rassistischen Stereotypen z.B. zu lesen: «Comparato con le razze d’Europa il negro appare meno inclinato ad un lavoro pesante e continuo, egli è in un certo senso più influenzabile dell’europeo dalle immediate impressioni dei sensi, e sulla base della natura della presente esperienza

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Cf. z.B. die Verfechtung der «ausgeprochenen, reinen Rasse» (1899, 271s.), welche ihn z.B. zu der Frage führt: «Gibt es einen jammervolleren Anblick als den der südamerikanischen Mestizenstaaten?» (1899, 286), seine Ausführungen zur «Entstehung einer hochedlen Menschenrasse» nach den fünf Prinzipien: «die Qualität des Materials, die Inzucht, die Zuchtwahl, die Notwendigkeit von Blutmischungen, die Notwendigkeit, dass diese Blutmischungen in der Wahl und in der Zeit streng beschränkt sind» (1899, 287) oder auch die Argumente zum «Nachweis» der besonderen Kennzeichen der Germanen, «körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende Phantasie, unermüdlicher Schaffensdrang» (1899, 528). Cf. hierzu auch Kolbs Wörterbuchanalyse zur Wortfamilie um razza (1990, 156s.) und den dort unter razziale zitierten Beispielsatz aus dem Vocabolario della lingua italiana: «il tipo razziale italiano non fu mai alterato dagl’invasori» (Cerruti/ Rostagno 1939, s.v. razziale). Zitiert aus der «bozza preparatoria» in Evola (2002, 355s.). Ebenso stützen sich die faschistischen Dozenten italienischer Universitäten auf die Wissenschaftlichkeit des Rassen-Konzepts, wenn sie betonen, «il concetto di razza è concetto puramente biologico» (in Evola 2002, 356). Im Nuovo testo del «manifesto della razza» ist zudem die Rede von einem «tipo umano [fisicamente e spiritualmente] superiore» (in Evola 2002, 361).

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appare vacillante continuamente tra l’indifferenza e la depressione senza speranza» (Landra 1939, zitiert nach Pisanty 2006, 168). «Per quanto intelligenti più di ogni altro Africano a pelle nera, le possibilità psichiche della grande massa dei nostri sudditi dell’Africa non sono né saranno mai elevate o tali da dare originalità di pensiero; così una volta resi fiduciosi del nostro potere e ben trattati, essi non desidereranno di meglio che restarci sottoposti e magari affiancarci in qualsiasi nostra impresa coloniale nell’avvenire» (Cipriani 1938, zitiert nach Pisanty 2006, 170).

In der Enciclopedia italiana wird in den 1930er Jahren eine «singolarità psichica di ogni razza» formuliert, die sich angeblich logisch aus der «realtà morfologica delle razze» ableite und deren Leugnung durch die einem «dogma laico dell’eguaglianza degli uomini, affermato e fatto trionfare dalla rivoluzione francese» Verpflichteten das «principale ostacolo ideologico per molti studiosi» darstelle (Béguinot 1935, 925). In diesen in Italien politisch schwarz gefärbten Jahren begründeten die von der Harlem Renaissance beinflussten Intellektuellen, Léopold Sédar Senghor, Léon Gontran Damas und Aimé Césaire in Paris eine Bewegung, die später als Négritude bezeichnet wurde. Der ehemals von Weißen zur Beschimpfung Farbiger verwendete Ausdruck nègre wurde hier voller Stolz verwendet und semantisch – in der Du Boisschen Tradition des Black is beautiful – mit Schönheit und rassischer Reinheit verbunden. Die Négritude sollte sich auch in Italien verbreiten,313 doch erst im Zeitalter von Postfaschismus und Entkolonialisierung. Aber auch die reale Stellung Farbiger in der Gesamtbevölkerung Frankreichs blieb insgesamt weiterhin kritisch. Stellvertretend für die Situation vieler Farbiger im Hexagon stehe hier eine Beschreibung des farbigen Psychiaters Frantz Fanon aus dem Jahre 1952: «On n’était plus au temps où l’on s’émerveillait devant un nègre curé. Nous avions des médecins, des professeurs, des hommes d’État… Oui, mais dans ces cas persistait quelque chose d’insolite. ‹Nous avons un professeur d’histoire sénégalais. Il est très intelligent… Notre médecin est un Noir. Il est très doux›. C’était le professeur nègre, le médecin nègre» (1971, 94).

Besondere Ausmaße nahm der Rassismus in Frankreich z.B. während des Algerienkrieges an, während er in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg zurückging, wie Mosse in der Enciclopedia del Novecento erklärt: «In Francia, che pure non aveva in passato favorito i movimenti razzisti, il razzismo è affiorato dopo la guerra. [...] l’Italia, che non ha avuto, in passato, una vera e propria tradizione razzista,314 è rimasta relativamente immune dal razzismo dopo la seconda guerra mondiale» (1980, 1062).

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Cf. Faloppa, der die Übersetzungen negritudine, negrità, negrezza und «l’improbabile nigrizia» nennt (2004, 116). Hier mag das Beharren am Topos der Italiener als «brava gente», «lo stereotipo dell’italiano non razzista ma bonario, accomadante e pacioso nei suoi rapporti con l’Altro [,...] una delle componenti basilari dell’autorappresentazione del carattere

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Zwar hat die moderne Genetik gezeigt, dass die Ähnlichkeit innerhalb einer Rasse primär den Phäno- und nur in höchst geringem Maße den Genotyp betrifft,315 doch die lange tradierten Stereotypen bleiben in einer breiteren Gesellschaftsschicht bei genauerer Betrachtung weiterhin präsent: «Ist schon von vornherein die Ableitung von Werturteilen aus biologischen Merkmalen nicht plausibel, so hat die moderne Genetik gezeigt, daß innerhalb der traditionellen, meist an oberflächlichen Merkmalen wie der Hautfarbe orientierten ‹Rassen› oft mehr genetische Differenzen bestehen als zw. ihnen. Das ganze ‹Rassen›-Konzept ist daher in Frage zu stellen. Es war denn auch zuvor seinen Fürsprechern nie gelungen, trotz aller wiss. Akribie mit z.B. Gesichtswinkelmessungen oder Blutgruppenbestimmungen eindeutige Kriterien der Klassifizierung zu etablieren. Der sich wiss. gebende R[assismus] enthielt faktisch von Beginn an mythologische Elemente (vgl. Poliakov). Gerade darin liegt jedoch seine psychologische Anziehungskraft: in der pseudo-wiss. Bestätigung dumpfer Gefühle, die in der tiefliegenden Angst vor dem Fremden begründet sind» (Lohmann 2004, 39).

Gewisse Forderungen von Le Pen oder Kommentare zu den Unruhen in den Banlieues zeigen klar das Fortleben eines – obwohl wissenschaftlich und institutionell inzwischen weitgehend überwundenen – Rassismus bis in die Gegenwart. (ii) Die sprachliche Situation und der Stand der Lexikographie Sprachlich stellt dieser permanente Rassismusverdacht eine Herausforderung dar, die verschiedene aufeinanderfolgende Ersatzstrategien unterschiedlichen Hintergrundes zur Folge hatte. So wird in den Vereinigten Staaten, die auch in dieser Hinsicht eine gewisse sprachliche Ausstrahlungskraft auf Europa haben, nach dem Kampf um den Verzicht auf nigger und die Großschreibung von negro316 in den 1960er Jahren mit Black Power eine Bewegung begründet, die ebenso wie die Négritude einen gewissen Stolz auf die Hautfarbe vermitteln wollte und zu einer Ablösung von negro durch black führte, das relativ unangefochten blieb, bis der Farbigenführer Jesse Jackson im Jahre 1988 die Bezeichnung African-American vorschlug. Doch sind die

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nazionale» (Labanca 2002, 411) zugrunde liegen, dessen Berechtigung inzwischen widerlegt ist; cf. z.B. die Beispiele für Kolonialverbrechen bei Labanca (2002, 412s., 421–424) und seine Ausführungen zu den drei razzismi (razzismo istituzionale, «politico» und diffuso) der Italiener (2002, 413–421). Cf. z.B.: «[…] le razze tendono a essere simili solo per quei caratteri che hanno un significato adattativo verso le caratteristiche ambientali comuni, […] nell’ambito di questi caratteri, la somiglianza riguarda di regola il loro fenotipo più che il genotipo» (Modiano 1980, 1043) Cf.: «[…] the Negroes of the United States have been campaigning for at least half a century against the use of nigger and for the capitalization of Negro. They have succeeded only in the second of these. Since the capitalized forms Negro and Negress were first adopted by the New York Times on 7 March 1930, all major publications in the United States and elsewhere have gradually fallen into line» (Burchfield 1991, 102).

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aufeinanderfolgenden Bezeichnungswellen im tatsächlichen Sprachgebrauch insgesamt wenig klar abgetrennt und nach Burchfield stehen bis heute negro, Afro-American und black in Konkurrenz.317 Daher seien zunächst die existierenden Typen und ihre Vorteile vorgestellt. Abgelehnt wird heute – zumindest in seiner ursprünglichen Verwendungsweise318 – engl. nigger und in der Regel auch engl. negro, fr. nègre sowie teilweise it. negro, -a. Letzteres wurde im Italien der 1960er und 1970er Jahre nach Faloppa noch fast synonym zu nero, -a und persona di colore verwendet,319 denn obwohl die Gedanken der Black Power-Bewegung auch Italien erreichten, habe negro, -a zunächst keine Abwertung erfahren,320 was er mit der unterschiedlichen soziokulturellen Situation Italiens erklärt, d.h. mit «l’assenza di [...] ‹ghetti negri» in rivolta e di autoctoni orgogli per la negritudine, e quindi di precise, sentite rivendicazioni» (2004, 118). Zudem sei die Übersetzung nero, -a in Italien mit der extremen Rechten verbunden (trame nere, terrorismo nero), so dass das «politisch korrektere» black häufig sogar mit negro, -a übersetzt wurde. Ferner ist es – anders als engl. negro/nigger vs. black – etymologisch ja auch auf dasselbe Wort wie nero, -a zurückzuführen und wird daher nach Faloppa mit diesem Argument der gleichen etymologischen Wurzel wie it. nero, -a bis heute von manchen

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Cf.: «Many publications in the United States have abandoned the word Negro in favour of black […] Others again favour Afro-American instead of either Negro or black» (Burchfield 1991, 102). Doch cf. Kennedy: «As a linguistic landmark, nigger is being renovated. Blacks use the term with novel ease to refer to other blacks, even in the presence of those who are not African American. Whites are increasingly referring to other whites as niggers, and indeed, the term both as an insult and as a sign of affection is being affixed to people of all sorts. In some settings, its usage is so routine as to have become virtually standard. Nigger as a harbinger of hatred, fear, contempt, and violence remains current, to be sure. But more than ever before, nigger also signals other meanings and generates other reactions, depending on the circumstances. […] there is much to be gained by allowing people of all backgrounds to yank nigger away from white supremacists, to subvert its ugliest denotation, and to convert the N-word from a negative into a positive appellation. This process is already well under way, led in the main by African American innovators who are taming, civilizing, and transmuting ‹the filthiest, dirtiest, nastiest word in the English language›. For bad and for good, nigger is thus destined to remain with us for many years to come» (2002, 174ss.). Cf. Galli de’ Paratesi (1964, 140; 1969, 167s.), die Letzteres bezeugt und als «calco dall’inglese coloured man» anführt. Cf. auch Faloppas Kommentar zu den Ausdrücken: «apparentemente non distinti da diverse connotazioni o sfumature di significato (e tutt’altro più caratterizzati da un diverso uso sintattico, essendo impiegati gli ultimi due soprattutto in funzione aggettivale)» (2004, 118). Doch war der Farbige selbst nicht besonders respektiert: «negro – che pure aveva un valore piuttosto spregiativo: basti sfogliare l’edizione del 1959 dello Zanichelli, per cui i negri erano ‹popoli d’Africa di colore scuro [...] con cranio stretto e alto, prognatismo […] collo grosso, pelle grossolana, statura piuttosto alta, vivaci, facili da imitare›» (in Faloppa 2004, 118).

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als gerechtfertigte Alternative zu nero, -a betrachtet. Allerdings finde es sich (auch semantisch ausgeweitet) meist im negativen Kontext.321 Seit den 1970er Jahren wurde negro, -a von Intellektuellen in Frage gestellt und ab Ende der 1980er Jahre von einer breiteren Schicht als despektierlich empfunden.322 Eco kommentiert die Entwicklung von negro, -a zu nero, -a als etwas gezwungen: «In America il passaggio dal connotatissimo negro a black era radicale, mentre in italiano il passaggio da negro a nero suona un poco forzato. Tanto più che il termine negro ha una sua storia legittima e attestata da molte fonti letterarie» (2006, 94).

Bei der bewussten Bevorzugung von engl. negro oder auch engl., fr., it. black gilt es, den als Gut-Böse- interpretierten Schwarz-Weiß-Gegensatz zu durchbrechen und die ursprünglich stigmatisierte Beschreibung umzuinterpretieren,323 was u.a. auch mit den das traditionelle ästhetische Empfinden herausfordernden Slogans wie v.a. dem auf William Du Bois zurückgehenden Black is beautiful geschah.324 Neben dieser Aneignung der ehemals von Kritikern verwendeten Benennungsverfahren325 spielt der Wunsch vieler Farbiger eine Rolle, auf euphemistische Benennungen zu ver-

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Cf.: «[…] appartiene ormai alla sfera del vituperio. […] ha inoltre assunto, in anni recenti, un certo evidente ampliamento, relativo non soltanto al colore della pelle ma all’alterità in generale: negro spesso vale ‹maghrebino›, ‹musulmano› o immigrato tout court. O anche, per una esecrabile ma consolidata proprietà transitiva, ‹delinquente›» (2004, 121s.). Cf. Faloppa (2004, 119) und der Hinweis in Z: «il termine è talora inteso come spregiativo e gli si preferisce nero» (s.v. negro). Eine ähnlich bewusste Betonung der Andersartigkeit durch Ablehnung euphemisierender Latinismen liegt bei engl. gay für homosexual vor; darüber hinaus auch für queer, dessen Gebrauch durch nicht-Homosexuelle mit Hate-speech assoziert war, doch cf. Cameron: «Not all gay men and lesbians find the confrontational stance of queer politics attractive, and for some the word queer is too thoroughly tainted to permit amelioration» (1995, 148). Eine noch stärkere Umdeutung des Wertekanons liefert Leonard Jeffries, der Weiße als melanin impoverished und damit als «less biologically proficient» beschreibt und die Menschheit in sun und ice people unterteilt und ihnen gegensätzliche Eigenschaften zugesteht: Sun people seien «humanistic, communal, and caring», ice people «materialistic, egotistical, and exploitive» (Beard/Cerf 1994, 35, 71). Beard/ Cerf zeigen Humor und unterschreiben ein Bild von Mutter Teresa mit: «Mother Teresa, an ice people» (1994, 35). Noch mehr als black, das primär Stolz ausdrücken soll, diente die Aneignung von nigger, als einem (ehemals) von Weißen zur Beschimpfung Farbiger verwendeten Wort, dazu, die Gesellschaft herauszufordern: «The effect of the amelioration strategy is to emphasize conflict rather than seeking to resolve it. [...] It is obvious that the use of nigger […] means something different in the mouth of a white or straight person than it does when used by Niggas With Attitude […]. Outside the group, such ‹reclaimed› terms have the potential to connote not solidarity but bigotry» (Cameron 1995, 148); ebenso wie queer nicht den Bezeichnungsvorstellungen aller Homosexueller entspricht, erregt aber auch nigger die Kritik manch eines Farbigen.

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zichten, da diese ein Zeichen von Minderwertigkeit seien.326 Die Beliebtheit dieser Strategie zeigt auch, dass dieser Weg ebenfalls in anderen Tabubereichen eingeschlagen wurde, so z.B. im Hinblick auf Politische Korrektheit327 bei Bezeichnungen für die sexuelle Identität (cf. 5.3.4.4). Ferner existiert die Möglichkeit der Verwendung von engl. colo(u)red, fr. de couleur, it. di colore. Letzteres ist in zahlreichen Zeitungen zu lesen und erscheint vielen Italienern «politisch korrekt»,328 doch verweist Faloppa zu Recht darauf, dass uomo di colore von dem supra schon erwähnten Lombroso in seinem rassistischen Traktat von 1871 synonym zu negro verwendet werde, «senza possedere però – contrariamente a quanto oggi saremmo portati a credere – un valore ‹neutro, attenuato›» (2004, 110). Ebenso wurde di colore von Mussolini verwendet (2004, 112), was die Angemessenheit der Lehnübersetzung aus engl. colo(u)red im Italienischen zusätzlich in Frage stellt. Hinzu kommt die Überlegung, dass die Hautfarbe eines Schwarzen zwar dunkler, damit aber nicht «farbiger» ist als die eines Weißen.329 In den USA ist zudem Afro-American geläufig, das mit seinem ersten Teil die Verbindung mit dem Heimatkontinent betont, damit die Existenz eigener Wurzeln bestätigt und so ein eventuelles Gefühl der Identitätslosigkeit mindert.330 Nicht weniger wichtig ist jedoch der zweite Teil, in dem die amerikanische Nationalität ausgedrückt wird, deren Erwähnung gerade Nachkommen früherer Sklaven ihrer heutigen gesellschaftlichen Gleichstellung versichert. Zudem reiht sich African-American in eine Folge anderer Bindestrich-Komposita zur Bezeichnung verschiedener Minderheiten ein (Italian-American, Asian-American etc.), hyphenated identities, was die Gleichwertigkeit dieser ethnischen Gruppen unterstreicht und ihre Gleichbehandlung zumindest bei der Benennung indiziert. In Frankreich und Italien sind ähnliche Bildungen unüblich; anders im Französischen Kanadas, das die Selbstdefinition als deklariertes Einwanderungsland mit den USA teilt, die wohl Voraussetzung für die Akzeptanz von Bindestrich-Identitäten ist.

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Cf. Lakoff: «Late in that decade [the 1960s] the Black Panthers had reclaimed ‹Black› […], recognizing that the use of terms based on euphemisms (‹colored›, ‹darky›, ‹Negro›) would necessarily imply inferiority. Only by re-appropriating and re-contextualizing the word that characterized the most salient difference between them and the majority community could they undo centuries of damage» (2000, 91). Dessen ungeachtet sind Euphemismen für Homosexualität im Korpus präsent (cf. 3.3), diese waren jedoch unter 5.2 abzuhandeln. Cf. nicht zuletzt den Sprachgebrauch Umberto Ecos, der im Kapitel «sul politically correct» von «epiteti offensivi nei confronti della gente di colore» spricht (2006, 91). Nach Galli de’Paratesi wurde persona di colore auch anstelle von giallo «termine spregiativo per cinese» verwendet (1964, 140; 1969, 167). Kritisiert wird jedoch der Eindruck einer existierenden panafrikanischen Kultur, den der Ausdruck vermittelt (cf. schon p. 272 n. 198).

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Nach diesem knappen Überblick über den in der Rassenfrage verwurzelten historischen Hintergrund Politischer Korrektheit stellt sich die Frage, ob die konsultierten Lexika hilfreich bei der Bezeichnungswahl sind. Dass eine möglicherweise rassistische Äußerung in Frankreich tabu ist, belegt die in PR euphemistisch markierte Formulierung je ne suis pas raciste, mais... Als Beispiel wird genannt: «Je ne suis pas raciste, non, je ne le suis pas, mais, franchement – qu’est-ce qu’ils viennent foutre chez nous tous ces bougnoules? Hein? (J. Vautrin)» (PR, s.v. raciste). Der Sprecher ist sich also bewusst, dass ihm die Infragestellung der Aufenthaltsberechtigung der «bougnoules» in Frankreich den Vorwurf des Rassismus einbringen könnte, und wehrt diesen Verdacht durch vorsorgliche Formulierung ab. Der für den Lexikon-Benutzer weit wichtigere Hinweis darauf, wie (gemäß der aktuellen Mode) Farbige in nicht-rassistischer Weise zu bezeichnen sind, fehlt jedoch. Unter den gängigen Lemmata findet sich lediglich bei nègre der Hinweis auf den pejorativen Charakter, über den eine gewisse Einigkeit zu bestehen scheint,331 eine Benennungsempfehlung bleibt jedoch aus: «vieilli ou péj. Personnne de race noire, dite ‹mélano-africaine› (divisée en cinq groupes: soudanais, guinéen, congolais, nilotique, sud-africain)» (PR, s.v. nègre). «Homme, femme de race noire. Ö fam. black» (PR, s.v. noir). «Personne de race noire» (PR, s.v. black). «(1779: gens de couleur) Homme, femme de couleur, qui n’appartient pas à la race blanche (se dit surtout des Noirs)» (PR, s.v. couleur). «Qui est d’origine africaine, aux Etats-Unis» (PR, s.v. afro-américain). «Relatif aux Noirs d’Amérique» (PR, s.v. négro-américain).

Möglicherweise basiert diese Unterlassung aber auch auf der Schwierigkeit, ein wirklich uneingeschränkt empfehlenswertes Bezugswort zu kreieren, denn schließlich ist die Zuordnung einer Rassenbezeichnung zu einer Person höchst komplex, zumal zwischen schwarz und weiß doch eine Vielzahl von Zwischenstufen existieren (cf. z.B. fr. métis, -isse; mulâtre, -esse; chabin, -ine; câpre, -esse; coolie) und die Entscheidung, welche als positiv einzustufen ist, von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfällt.332 Weitere Bezeichnungen für Farbige fehlen in PR, so – neben renoi – die Verlan-Form kebla, die gemäß einer in Mollard-Desfour zitierten Aussage unter Jugendlichen ähnlich politisch korrekt ist wie fr. black:

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Cf. auch in Mollard-Desfour s.v. blackos die Synonyma «Black, Noir, nègre (péj., raciste), Renoi» (2005, 106) bzw. s.v. black die Synonyma «Blackos, kebla, Noir, nègre (péj., raciste), Renoi» (2005, 102). So hat u.a. im Zuge der Black is beautiful-Bewegung eine Umdeutung schwarzer Charakteristika und damit auch ehemals stigmatisierender Bezeichnungen als «euphemisierende» stattgefunden. Zu den supra genannten Rassenbezeichnungen cf. Reutner (2005, 18).

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«On devrait pouvoir dire nègre, le mot en lui même n’est ni insultant ni raciste à la base. Par exemple Léopold Sédar Senghor a fréquemment traité de la négritude. C’est juste la connotation adjointe à ce type de termes (le poids de l’histoire…) qui fait qu’on a peur de les utiliser. Mais le politiquement correct devient ubuesque. Tu veux décrire un pote martiniquais, t’oses pas dire que c’est un noir, allors qu’il l’est, non tu dis que c’est un ‹black›, un ‹kebla› comme disent les ‹djeuns›» (Forum-Beitrag, zitiert in Mollard-Desfour 2005, 109)

Weniger Farbige eigener Nationalität hat Italien, was das Benennungsproblem etwas verringert, wenn auch nicht ausschaltet. Bei der Wahl eines Ausdrucks hilft Z jedoch ebenso wenig wie PR. Die Ausdrücke it. nero, -a; di colore und afroamericano, -a finden sich ohne wertende Markierung, nur bei negro, -a333 wird – wie schon erwähnt – die Bevorzugung von nero, -a angeraten: «Persona che appartiene alla razza negra (il termine è talora inteso come spregiativo e gli si preferisce nero)» (Z, s.v. negro). «Individuo di pelle nera» (Z, s.v. nero). «Colorazione della pelle | Gente, popoli di c., non appartenenti alla razza bianca» (Z, s.v. colore). «appartenente alla popolazione americana di origine africana» (Z, s.v. afroamericano).

Die Zurückhaltung bei der lexikographischen Markierung des von vielen als politisch korrekt betrachteten di colore durch die Redakteure des Zingarelli mag aufgrund seiner Verwendung durch Cesare Lombroso (cf. supra p. 328, 330, 336) gerechtfertigt erscheinen. Auch kann in diesem semantischen Bereich der Verzicht auf die Kennzeichnung als Euphemismus auf der Überzeugung beruhen, dass der Referent es nicht nötig hat, aufgewertet zu werden, doch dies wäre ein einseitiges Verständnis vom Euphemismus, da dieser hier den negativ konnotierten Signifikanten zu vermeiden hilft. 5.3.4.2 Physische Einschränkungen Während die Frage der Bezeichnung Farbiger infolge von Sklaverei, Kolonialisierung und v.a. Globalisierung zunehmend an Bedeutung gewann, war diejenige Behinderter prinzipiell immer gleichermaßen relevant. Selbstverständlich war eine rücksichtsvolle Benennung in der Vergangenheit jedoch

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Cf. Valeri: «Per quanto riguarda l’Italia, almeno fino all’ultimo decennio, non vi è mai stata una particolare differenza tra l’uso dei termini nero e negro, probabilmente anche per la mancanza di una popolazione nera e per il diverso peso storico e per i minori legami connessi all’esperienza coloniale. Ciò è evidente nell’uso indifferenziato del termine nero o negro che viene fatto anche negli anni della contestazione nera. Con l’arrivo degli immigrati dai paesi africani, si è invece registrata una maggiore attenzione alle sfumature che differenziano i due termini, considerando l’espressione negro ‹politicamente scorretta›» (1998, 199a-b).

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nicht, was sich z.B. im Kapitel des Galateo über Hohn und Spott zeigt, in dem della Casa von einer Unsitte spricht, in die der verfällt, der Menschen ihre Gebrechen vorhält oder z.B. Stotterer, Hinkende und Buckelige nachäfft bzw. sich über einen Behinderten lustig zu machen versucht: «Per la qual cosa si vuole nella usanza astenersi di schernire nessuno: in che male fanno quelli che rimproverano i difetti della persona a coloro che gli hanno, o con parole […] o con atti, come molti usano, contraffacendo gli scilinguati o zoppi o qualche gobbo. Similmente chi si ride d’alcuno sformato o malfatto o sparuto o picciolo, o di sciocchezza che altri dica, fa la festa e le risa grandi; e chi si diletta di fare arrossire altrui: i quali dispettosi modi sono meritamente odiati» (Galateo XIX – 1993, 40).

In besonderem Maße der Ermahnung della Casas widersprechend ist sicherlich die Geringschätzung Mobilitätsbehinderter durch die im Bild vom schönen und gesunden Menschen gefangenen faschistischen Ideologen, deren Interpretation (cf. u.a. Forsbach 2008, 135s.) des im ursprünglichen Kontext «Orandum est, ut sit…» (Satiren 10, 356 – 1997, 150) bekanntermaßen gegen unnötige Gebete gerichteten Juvenalschen lat. mens sana in corpore sano trotz eindrucksvoller Gegenbeispiele wie Stephen Hawkins bis heute von Fitness- und Erfolgstrainern weitergetragen wird. (i) Mobilitätsbeschränkung Im Rahmen der Politischen Korrektheit wird neben den Kernthemen racism und sexism inzwischen auch ableism (Unterdrückung der «differentially abled») bekämpft. Dabei hat die Rücksichtnahme gegenüber Behinderten als Faktum in Europa sicherlich nichts mit der US-amerikanischen Bewegung der Politischen Korrektheit zu tun, doch wird im Zuge des einmal erfolgten Anstoßes zur sprachlichen Bewusstseinsbildung verstärkt versucht, auch die direkte Bezeichnung der Behinderung zu vermeiden. So wurde das verletzende storpio, -a im Italienischen bald durch invalido, -a ersetzt, das schnell ebenfalls einen negativen Beigeschmack erhielt. It. handicappato, -a erschien anfangs positiver, wurde jedoch beschuldigt, die behinderte Person auf die Behinderung zu reduzieren,334 weswegen es durch it. portatore, -trice di handicap ersetzt wurde. Nachdem auch diese Ausdrucksweise negativ assoziiert war, trat it. inabile, dann disabile auf, das jedoch wegen des negativ interpretierbaren Präfixes dis- schließlich durch diversamente abile (cf. Trifone 2006, 226) und dann auch noch durch ipocinetico, -a ersetzt wurde (cf. Crisafulli 2004, 42). Insbesondere die beiden zuletzt genannten Euphemismen erregen die Erheiterung vieler Italiener, doch auch die Wer-

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Crisafulli schreibt: «Secondo l’ortodossia PC, l’unica preposizione ammessa per connettere una malattia a una persona è with (con): a person with a heart condition (una persona con un problema di cuore); se alla malattia si premette person with, si rende umana la figura del disabile» (2004, 40s.).

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tung der anderen Ausdrücke findet keinen allgemeinen Konsens; so ist z.B. portatore, -trice di handicap bis heute in vielen italienischen Bussen zu lesen und zweifellos weiterhin euphemistisch zu werten, was auch Beccaria bestätigt, der sich allerdings die Frage stellt, ob es sich hier um eine befriedigende Lösung handelt.335 Für ‘invalido’ ist im bürokratischen Sprachgebrauch it. motuleso, -a in Gebrauch, für Menschen, die nicht laufen können, non deambulante (Trifone 2006, 226), das Beccaria als eine der wenig populären «dizioni ufficiali» beschreibt.336 In einem vom Angloamerikanischen beeinflussten Sprachgebrauch finden sich als italienische Ersatzwörter aber auch Beispiele, mit denen im Sinne des supra im Hinblick auf das Alter dargestellten Differenzmodells wiederum Abweichungen vom «Normalen» nicht als Schwächen, sondern als Besonderheiten dargestellt werden sollen: persone con abilità diverse, persone dotate di differenti capacità, persone fisicamente diverse (cf. 2004, 40s.). Das italienische Korpus enthält das nach englischem Modell gebildete disabile sowie das aufgrund der Vermeidung des Negativpräfixes dis- noch «korrektere» it. diversamente abile. In PR erscheint fr. handicapé, -ée anstelle von infirme als Beispiel s.v. euphémisme,337 während es in der Literatur häufig stigmatisiert und selbst z.B. durch das besonders im administrativen Sprachgebrauch verbreitete, in PR nicht markiert verzeichnete personne à mobilité réduite ersetzt wird, ferner durch personne dotée de capacités différentes, personne confrontée à un challenge physique,338 personne ayant une limitation fonctionnelle, personne physiquement défiée, personne différemment apte, personne exceptionnelle.339 (ii) Behinderungen bei den Sinnen – Blindheit Im Bereich von Blindheit schlägt der Sprachführer The Power of Language die Ausdrücke engl. visually impaired (it. – jeweils nach Crisafulli 2004, 41 – danneggiato, -a visualmente) und nonsighted (it. non vedente) vor; zudem 335

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Cf. Beccaria: «Portatore di handicap è certo un eufemismo, ma non so se davvero l’interessato sia soddisfatto di questa denominazione, o se invece non si senta ancor più allontanato» (2006, 47). Cf. Beccaria: «Che in realtà piacciono poco: sarebbe preferibile trovare scritto su un autobus ‘posto riservato a chi non cammina’ piuttosto che ‘posto riservato a minorato non deambulante’» (2006, 47). Auch in Habrekorns Aufstellung mit dem Untertitel «termes lénifiants, édulcorants et euphémismes, contemporains ou futurs» erscheint handicapé ‘infirme’ (1998, s.v. infirme). Cf. Santini: «Le principe étant de ne jamais réduire un individu à son handicap. Ainsi on n’est pas un ‹bègue› (unidimensionnel) mais une ‹personne à l’élocution alternative›. Un ‹boiteux› devient une ‹personne ambulatoirement différente› ou ‹à la mobilité contrariée›» (1996, s.v. handicapé). Cf. Boulanger (2000, 321), Merle (1993, s.v. handicapé), Santini (1996, s.v. handicapé), Walter (1994, 254).

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– nach Crisafulli «per ridicolizzare il PC» – auch optically challenged (it. otticamente svantaggiato), visually inconvenienced (it. visualmente svantaggiato, -a) und other visioned (it. dotato, -a di un altro genere di visione o vista). Die englischen Bezeichnungen zeigen, dass die Vermeidung des direkten Wortes entweder durch einen vollständigen bzw. ansatzweisen340 Ausschluss des Sehens oder aber – im Sinne des Differenzmodells – durch eine andere Form des Sehens geschieht. Die erste Strategie überwiegt in den hier interessierenden Sprachen, in denen fr. non-voyant, -ante und it. non vedente gebräuchlich sind, d.h. Wörter, die (ebenso wie z.B. andare sottoterra) durch ihre Motiviertheit vordergründig eigentlich direkter als die Normalwörter erscheinen. Doch diese sind gerade durch ihre Konventionalität konnotativ als zu direkt belastet, während die Überlegenheit jener im Fehlen dieser negativen Konnotation, sprich Direktheit, liegt. Während Habrekorn fr. nonvoyant, -ante kommentarlos nennt (1998, s.v. aveugle), gibt Santini anstelle dieser negativen Perspektivierung personne visuellement contrariée oder personne confrontée à un défi oculaire und nimmt die Bewegung mit dem Hinweis aufs Korn, dass auch noch Ausdrücke wie vous voyez, à vue de nez oder point de vue zu beachten seien.341 Auf eine andere Art versucht Merle non-voyant, -ante zu karikieren, wenn er schreibt, dass für Sehende «ganz korrekt» dann non-non-voyants verwendet werden müsse342 – eine Strategie der Verneinung, die schließlich streng logisch auch bei «Nicht-Behinderten» etc. angewandt werden müsste.343 Ganz nüchtern kommentiert hingegen Eco die Bevorzugung von it. non vedente und schreibt in Anlehnung an die supra unter «Macht der Benennung» (5.3.2.1i) angeführten Überlegungen: «Se tu non ti trovi un una certa situazione non puoi sapere quale sia il termine che turba e offende coloro che vi si trovano; quindi devi accettare la loro proposta. Il caso tipico è quello della decisione di usare in italiano non vedente invece di cieco. Si può legittimamente ritenere che non vi sia nulla di offensivo nel termine cieco e che l’usarlo non diminuisca, anzi rafforzi, il senso di rispetto e di solidarietà che

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Weniger direkt als die komplette Verneinung des Sehens ist die Reduktion der Blindheit auf eine Sehschwäche bzw. Behinderung beim Sehen wie sie in fr. personne handicapée visuelle, it. persona con disturbi della vista gesehen werden kann. Cf. Santini: «Le terme ‹non-voyant› présentant l’inconvénient de définir par défaut (de même que ‹déficient visuel›), on lui préférera ‹visuellement contrarié› ou mieux, ‹personne confrontée à un défi oculaire›. Attention à ne pas trébucher sur des expressions offensantes du genre ‹vous voyez ce que je veux dire›, ‹à vue de nez› ou ‹quel est votre point de vue sur la question?›» (1996, s.v. aveugle). Cf. Merle: «certains kamikazes du langage sont allés jusqu’à parler de non-nonvoyants pour désigner, le temps d’une errance, les gens qui voient» (1993, s.v. non-voyant). Eine solche doppelte Verneinung zur Beschreibung der Nicht-Behinderten findet sich auch in The Power of Language. Crisafulli führt hierzu aus: «Quando si parla di persone non afflitte da handicap, sono da proscrivere le espressioni able-bodied (abile, di sana e robusta costituzione), normal, healthy (sano) – l’unica opzione è non-disabled (non disabile)» (2004, 41).

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si deve agli appartenenti a questa categoria (c’è sempre stata una certa nobiltà nel parlare di Omero come del gran veggente cieco); ma se gli appartenenti alla categoria si ritengono più a proprio agio con non vedente siamo tenuti a rispettare il loro desiderio» (2006, 92).

In den 1970er Jahren bezeichnet Papini it. non vedente noch als Teil des «linguaggio burocratico»: «Comune è anche l’eufemismo quando si debba parlare di difetti fisici. Per cieco si dirà privo della vista, persona che non ci vede, nel linguaggio burocratico i non vedenti [...]. Per sordo si parlerà di debole d’udito, persona che non ci sente bene o priva dell’udito» (1977, 145).

– Taubheit Im Bereich der Taubheit ist nach GMP engl. hearing impaired zu verwenden (it. – nach Crisafulli – non udente bzw. wörtlich danneggiato, -a nell’udito, con difficoltà d’udito). Wie bei fr. personne handicapée auditive, it. persona con deficit uditivo wird hier der fehlende Hörsinn auf ein eingeschränktes Hörvermögen reduziert. Die damit verbundene Betonung des «Defektes» lässt Santini die Ausdrücke mal-entendant, -ante, personne souffrant de déficience auditive, personne atteinte de déficience auditive oder personne dotée d’une audition alternative kritisieren und ähnlich der supra in Zusammenhang mit black is beautiful dargestellten Argumentationsweise im Sinne einer besseren kulturellen Selbstbehauptung ein «stolzes» fr. sourd, -e vorschlagen.344 Boulanger nennt noch personne acoustiquement contrariée, personne dotée d’une audition alternative, personne souffrant d’inaptitude auditive (2000, 322); Habrekorn non-entendant, -ante und sous-entendant, -ante ‘sourd’ (1998, s.v. sourd) und das italienische Korpus enthält non udente und duro, -a d’orecchio. Unmarkiert führt Z zudem audioleso, -a auf, das Beccaria als Euphemismus und gleichzeitig (ebenso wie non vedente) als eine der «dizioni ufficiali. Che in realtà piacciono poco» wertet (1996, 47). Zur Bezeichnung taubstummer Menschen sollte nach GMP engl. aurallyorally challenged, aurally-orally inconvenienced (it. – nach Crisafulli – svantaggiato, -a nell’ascolto e nella parola, impedito, -a nell’ascolto e nella parola) verwendet werden. Boulanger belegt fr. personne handicapée des sens (2000, 322). Für alleiniges ‘stumm’ nennt Habrekorn noch fr. non-parlant, -ante, aphasique und tacite (1998, s.v. muet).

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Cf. Santini: «Mal entendant: Euphémisme incorrect car mettant l’accent sur ce qui fait défaut. Même chose pour souffrant ou atteint de déficience auditive, qui en plus assimile la surdité à une maladie. On pourrait risquer personne dotée d’une audition alternative… En fait, la tendance serait plutôt à la revendication de Sourd, avec majuscule, pour mettre en valeur l’existence d’une culture spécifique plutôt que d’une condition médicale» (1996, s.v. mal entendant).

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5.3.4.3 Alter Abweichungen vom Ideal des jungen, dynamischen Menschen, den körperliche und geistige Gesundheit auszeichnet, erfordern sprachliche Sensibilität, die neben der Bezeichnung von Behinderungen auch für diejenigen des Alters gelten sollte. Dass ältere Menschen in der modernen Informationsgesellschaft weniger als z.B. in Stammesgesellschaften verehrt werden,345 verdeutlichen unter anderem die Schwierigkeiten, die ältere Arbeitslose bei der Suche nach neuer Arbeit haben. Wirklich alt sein will heute niemand; und so wird auch schon auf die eine oder andere Annehmlichkeit verzichtet, nur um nicht die für ältere Menschen gefertigte Variante eines Produktes kaufen zu müssen,346 oder – zumindest, wenn der Besuch in einer Gruppe erfolgt, – auch schon einmal der volle Eintrittspreis gezahlt wird, nur um das eigene Alter nicht offenbaren zu müssen.347 Marketing-Strategen finden daher zahlreiche Euphemismen für das Alter und bringen keine Hautcreme für die alte, sondern für die «reife» Haut auf den Markt, keine Vitamin-Präparate für ältere Menschen, sondern für die «Generation 50+» etc. Dabei zeigt sich trotz des Jugendlichkeitsstrebens348 der heutigen Gesellschaft auf der anderen Seite aber auch der hohe Status, den ältere Menschen genießen: Von der Konsumindustrie werden die genuss- und erlebnisorientierten, teilweise unter biographischem Gestaltungsdruck stehenden Aktiven

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Hinzu kommen vor dem Hintergrund leerer Rentenkassen Bücher mit respektlosen Titeln wie Die gierige Generation. Wie die Alten auf Kosten der Jungen abkassieren (Klöckner 2006), die eine vorwurfsvolle Haltung gegenüber der älteren Generation widerspiegeln, die nicht zuletzt den Inhalt von Jeambar/Remys Nos enfants nous haïront (2006) kennzeichnet. Daimler Chrysler konnte z.B. seine Autos mit Einstieghilfe nicht wie erwartet absetzen, da kaum ein älterer Mensch offen zeigen wollte, dass ihm eine solche behilflich sein könnte. Ein Mobiltelefon mit größeren Tasten wäre für viele ältere Menschen deutlich angenehmer zu bedienen als eines der aktuellen Handy-Generation, doch fände auch ein solches (zumindest ohne eine geschickte begleitende Marketing-Strategie) momentan keinen entsprechenden Anklang. Cf. ferner den Präsidenten eines US-Marketing-Unternehmens Kurt Medina, demzufolge «statt von ‹Forever Young› eher von ‹Never Old›» gesprochen werden solle: «Rund 70 % der Senioren lehnten Produkte ab, die als Senioren-Produkte vermarktet würden; sie taxierten diese als nicht zum eigenen Lifestyle passend» (Metzler 2007). Anders formuliert dies Dean, wenn er eine Voraussicht bei der Erstellung der Preisliste annimmt: «Kinobetreiber werden die Einführung eines Seniorentickets in Erwägung ziehen, ohne dieses so zu nennen, um das auf Jugendlichkeit gestylte, gesichtsoperierte und bauchgetrimmte Publikum nicht zu vergraulen» (2006). Cf. Rosenmayr: «Auf fast allen Gebieten körperlicher Leistung und Selbstdarstellung setzen weiterhin Modelle, die von Jugendlichkeit abgeleitet sind, den Maßstab» – und seine Präzisierung: «Es handelt sich dabei um Bilder von Jugendlichkeit und nicht um die Realitäten und Bedürfnisse der Jugend als soziale Gruppe» (1996a, 57).

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unter ihnen aufgrund ihrer insgesamt starken Kaufkraft349 geschätzt, Politiker sehen in ihnen bedeutendes Wählerpotential,350 und nach traditionell üblichen Verhaltensregeln gehört es auch heute zum guten Ton, dem jeweils Älteren die Tür aufzuhalten oder ihn zuerst zu grüßen. Angesichts der genannten Vorrangstellung Älterer gemäß dem Anciennitäts- oder Senioritätsprinzip handelt es sich hierbei um eine in der Geschichte der Menschheit früh nachweisbare Regelung, was im Folgenden darzustellen und kritisch zu betrachten sein wird. (i) Altersbilder im Wandel der Zeit Seit den frühesten Zeiten wurde älteren Menschen aufgrund ihres gesammelten (insbesondere sakralen und mythischen) Wissens zentrale Aufgaben wie Partnervermittlung oder Mediation und damit eine außerordentliche Machtposition verliehen (cf. Rosenmayr 1990, 41; 1996a, 44). Von Herrschaftsträgern zur Beratungsinstanz351 wurden ältere Menschen mit dem Aufkommen von Hochkulturen, in denen sich die aus der Stammeskultur bekannte Altenmacht als Systemwirkung mit der Durchsetzung institutioneller Formen der Macht verlor: der Machtkonzentration einzelner Herrscher in der ägyptischen oder mesopotamischen Hochkultur und der den Ältestenrat ersetzenden gewählten Judikative im antiken Griechenland. Die Bedeutung tradierten Wissens wurde immer mehr von der des selbst erworbenen Wissens abgelöst; Weisheit wurde zunehmend individualisiert (Pythagoras, Heraklit) und spätestens im Athen des Perikles (550–429) war die Gerontokratie abgelöst (cf. Rosenmayr 1996b, 13). Die Beurteilung des Alters fiel unterschiedlich aus: «Von Aristoteles wie auch von Horaz und Terenz wird das Alter negativ beurteilt, während Platon, Cicero und Seneca dieser Lebensphase positive Seiten abgewinnen: Beherrschung der Leidenschaften,

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Cf. z.B. Horn: «Galt der klassische Rentner vor dem Hintergrund der erlebten Not der Kriegsjahre noch als spar- und vererbeorientiert, scheinen die ‹Neuen Alten› als Nachkriegsgeneration konsum- und genussfreudiger zu sein. Die verbesserte wirtschaftliche Lage der ‹Neuen Alten› im Vergleich zu den ‹Alten Alten› liegt wohl auch darin begründet, dass die ‹Neuen Alten› zunehmend höher gebildet sind, bei Ehepaaren teilweise beide berufstätig waren und die jetzige, neue Rentnergeneration vom Wirtschaftswunder profitieren konnte. […] Die Unternehmen und die Werbebranche haben die Potentiale der ‹Neuen Alten› erkannt und richten sich zumindest werblich auf ihre Bedürfnisse ein» (2006, 43s./93). Cf. z.B.: «Ce sont au contraire bel et bien les ‹seniors›, les ‹personnes âgées›, les ‹65 ans et plus› qui composent désormais les gros bataillons d’électeurs dans ce pays. Ce sont eux, mesdames et messieurs les candidats, qu’il vaudrait mieux convaincre! […] Autre nouveauté: pour la première fois cette année, le ‹quatrième âge› est plus abondant que le troisième: 9,2 % de ‹75 ans et plus›, contre 8,8 % de ‹65–74 ans›» (Cayrol 2007). Cf. Rosenmayr, der auch das Beispiel von Moses und vor allem David gibt, bei denen «das neue charismatische Führungsprinzip, das in den Händen des jungen Mannes liegt, liegen kann, die Oberhand» gewinnt (1990, 42).

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Vernunft und Besonnenheit» (von Engelhardt 1995, 14). Sinnbilder wie die Alterstreppe und insbesondere das Lebensrad, «das den Menschen auf die Nase fallen läßt, um schließlich vom Rad überrollt zu werden» (Bringéus 1995, 50) sprechen eine deutliche Sprache. Trotz einiger prominenter älterer Herrscher (Karl der Große in Franken, Federico II in Sizilien) überwog im Mittelalter die Gleichsetzung von Alter mit Krankheit. Bei der insgesamt niedrigen damaligen Lebenserwartung352 ließ das seltene Erreichen eines höheren Alters aber immerhin auf Gesundheit schließen und war damit in gewisser Weise positiv konnotiert. Die wenigen älteren Repräsentanten mittelalterlicher Stände wurden demnach auch respektiert und aufgrund der Möglichkeit der Wissenstradierung geschätzt, hatten aber häufig keine wirkliche Macht, was jedoch nach Region und Berufsgruppe zu differenzieren ist, denn natürlich waren beispielsweise die Serenissima oder der Vatikan «ausgesprochene Gerontokratien» (Reinhard 2004, 177). Doch insgesamt herrschte im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit ein «Tiefstand der Einschätzung des Alters» vor (2004, 178) und das Alten-Bild war «geprägt von Verfall und Nutzlosigkeit, ja von Verspottung und sogar Verachtung» (Dülmen 1990, 200). Die aufkommenden Leitbilder menschlichen Verhaltens waren denn auch durch Jugendlichkeit bzw. der Jugend zugeordnete Charakteristika geprägt, was nicht nur für den cortegiano (cf. 5.2.1.1) gilt, der schließlich auch durch seine körperlichen Fähigkeiten zu gefallen hatte, sondern auch für den homme de cour, den honnête homme oder später für den gentleman. Begünstigt wurde die negative Vorstellung vom Alter nicht zuletzt durch die mit der Renaissance neu einsetzende Rezeption von Aristoteles, dessen Gedanken in diesem Zusammenhang die Vorstellung vom Alter bis in die Epoche der Aufklärung hinein prägen sollten (Montandon 1993, 195s.). Die dann wieder aufkommenden Aufrufe, «das Alter zu ehren, waren selbst im 18. Jahrhundert noch lange nur eine Forderung, hinter der die Wirklichkeit zurückblieb» (Dülmen 1990, 200). Als «kollektives soziales Problem» (Ehmer 1990, 73) wurde das Alter aber erst im 19. Jahrhundert wahrgenommen, einem Zeitalter, in dem wichtige soziale Funktionen älterer Menschen wegfielen. Vor allem zwei Stichwörter sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: einerseits das der Industrialisierung und damit eines Zeitalters, in dem es körperlich voll einsatzfähiger Arbeitnehmer bedurfte; andererseits die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, einer Entwicklung, die die Rolle der älteren Generation bei der Wissenstradierung und insbesondere die älterer Frauen bei der

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Ehmer gibt für den Zeitraum von 1600 bis 1650 eine Lebenserwartung von 24 Jahren in Genf, 29 Jahren in Deutschland und 34–40 Jahre in England an (1990, 202s.). Doch ergeben sich solch niedrige Zahlen primär aus der hohen Kindersterblichkeit (40–50 % unter 10 Jahren), so dass nach überlebter Kindheit die Lebenserwartung – je nach Geschlecht, Region und v.a. Beruf – doch deutlich höher war (Dülmen 1990, 207–211).

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Kindererziehung einschränkte.353 Der medizinische Fortschritt und die Einführung der Rentenversicherung führte zweifelsohne zu einer Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen, damit aber gleichzeitig auch zu einer «Konstituierung des Alters durch dessen ökonomische Absicherung» (Ehmer 1990, 88), welche gerade im Jugendkult der Jahrhundertwende von einem nicht unbedingt positiven Altersbild komplettiert wurde. Im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung und damit die Anzahl älterer Menschen proportional zur Gesamtbevölkerung kontinuierlich an, was in Verbindung mit rückläufigen Geburtenzahlen und im Zusammenhang mit dem Umbau der sozialen Sicherungssysteme zur aktuell besonders oft thematisierten «Überalterung der Gesellschaft» führte. Während «die Zahl der Mitglieder pro Generation schrumpft», steigt «die Anzahl der gleichzeitig lebenden, einander ‹überlagernden› Generationen»354 immer weiter an. Dabei verschiebt sich die Grenze, ab der das Altern beginnt, kontinuierlich nach oben355 bzw. werden innerhalb der Gruppe älterer Menschen verschiedene Kategorien unterschieden.356 Insgesamt ist heute auch hier wie so oft ein

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Dabei vollzog sich die tatsächliche Durchsetzung des Schulbesuchs nur langsam. In Frankreich ist als Etappen an die Einführung eines öffentlich-rechtlichen, laizistischen Schulwesens durch Jules Ferry 1882–1886 und die Schulpflichtverlängerung bis 16 Jahre ab 1963 zu erinnern; in Italien wurde der obbligo scolastico mit der 1859 in Piemont-Sardinien eingeführten und 1861 im gesamten Reich durchgesetzten Legge Casati begründet, doch sollte auch hier die Alphabetisierung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirklich in Gang kommen und es bis 1948 dauern, bis eine achtjährige Schulpflicht in der Verfassung festgeschrieben wurde. Rosenmayr (1993, 55), der hierfür den Ausdruck «Bohnenstangeneffekt» verwendet. Dies spiegelt sich auch in der Selbstwahrnehmung älterer Menschen: «Vor 20 bis 30 Jahren schätzte sich die Mehrheit der über 70jährigen als ‹alt› ein, in einer neueren Repräsentativbefragung dagegen höchstens ein Drittel der 75jährigen» (Twens 1996, 13). Cf. auch Bencini/Manetti: «Ma il vero problema, ormai, non è tanto definire le generazioni, quanto distinguerle l’una dall’altra. Non sono solo i tratti distintivi di ciascuna ad essersi fatti labili e confusi, è che non si sa più fino a quando si è giovani. Varcata la linea d’ombra dell’adolescenza, non si diventa direttamente adulti, ma adulescenti, abitanti di una condizione ibrida come il termine che la definisce, alla fine della quale ci si può agevolmente accomodare in una ‹mezza giovinezza› (middle youth) che, come la mezza età, può andare avanti fino alla pensione» (2005, 224). Cf. schon in der Enciclopedia Italiana, wo der «periodo [...] della vecchiaia» in unverhüllt geschilderte «tre stadî» unterteilt wird: «a) quello della verde vecchiaia (dai 60 ai 70 anni), in cui si hanno i primi accenni di decadenza; b) quello della caducità (dai 70 agli 80); c) quello della longevità e decrepitezza, dagli 80 alla fine della vita» (Baglioni 1932). Bis heute koexistieren zahlreiche (in der Regel «politisch korrektere») Kategorisierungsvorschläge, wie z.B. die Unterscheidung zwischen den «jungen Alten» (60–75 Jahre), den «Alten» (75–90 Jahre) und den «Hochbetagten» (90–100 Jahre) (Prahl/Schroeter 1996, 13). Kanadische Marketingexperten sprechen hingegen von «les masters (50–60 ans), les libérés (60–74 ans), les retirés (75–85 ans) et les grand âge (plus de 85 ans)» (Grand in Santini

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Kontinuum auszumachen, das vom Bild des aktiven, junggebliebenen älteren Menschen357 bis hin zu demjenigen des Vereinsamten, Kranken und Dahinsiechenden reicht. So wird immer wieder zu Recht festgestellt, dass es «die Alten» ebenso wenig gibt wie «das Alter», denn «auch das Leben im Alter ist durch Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile gezeichnet».358 Im Hinblick auf die innerwesteuropäischen Unterschiede verweisen z.B. von Prahl/Schroeter auf die «traditional ausgerichteten Gesellschaften des Mittelmeerraumes», in denen «Autorität überwiegend an Lebensalter und Position im Familienverband geknüpft» werde. «Der Familienälteste genießt die höchste Autorität und ist in fast allen Entscheidungen zu konsultieren, ist selbst letzte Entscheidungsinstanz bzw. hat ein ungeschriebenes Vetorecht» (1996, 67). Eine solche «altersfreundliche» Tendenz lässt sich in der Politik noch im Jahre 2006 nachzeichnen, in dem Italien aufgrund der Monopolstellung älterer Potentaten leicht (z.B. von San Lazaro 2006) als «Paradies der Gerontokraten» bezeichnet werden konnte: Der neue Staatspräsident Giorgio Napolitano (*1925) wurde kurz nach Amtsantritt 82 Jahre und hatte soeben den fünf Jahre älteren Carlo Azeglio Ciampi (*1920) im Amt abgelöst; im Wahlkampf trat der 66-jährige Romano Prodi (*1939) gegen den 69-jährigen Silvio Berlusconi (*1936) an. In ganz Europa wies zur selben Zeit nur die Grande Nation einen noch höheren Anteil älterer Politiker auf; ihr Parlament war das älteste Europas, und ihr 74-jähriger Präsident Jacques Chirac (*1932) eines der letzten noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geborenen direkt durch das Volk gewählten Staatsoberhäupter Europas, was sich allerdings ein Jahr später mit der Wahl Nicolas Sarkozys (*1955) ändern sollte. Ein Blick über den Atlantik auf die Umfrageergebnisse während der USamerikanischen Präsidentschaftswahlen 2008 hingegen zeigt, dass der Faktor Alter beim republikanischen Kandidaten John McCain (*1936) stärker negativ bewertet wurde als der Faktor Rasse bei Barack Obama (*1961). Und auch im «Alten Europa» stellt sich die Frage, ob die dargestellte Situation v.a. Italiens tatsächlich ein hohes Wählervertrauen ins Alter widerspiegelt, oder nicht eher institutionelle Gründe anzuführen sind bzw. beides zusammenkommt, zumal die Machtkonzentration in den Händen Älterer von ei-

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1996, s.v. vieux); «mit absatzpolitischem und werbewirtschaftlichem Hintergrund erstellt» wurden die supra (n. 349) schon erklärten Kategorien «Neue Alte» und «Alte Alte» (Horn 2006, 45). Hier mag auch die veränderte Haltung zum Ruhestand eine Rolle spielen: «Von den siebziger Jahren an beginnen positive Erwartungen zu dominieren: der Ruhestand wird immer mehr freiwillig gewollt. Man erwartet von ihm eine Verbesserung der Gesundheit und Raum für neu zu gestaltende Lebensbereiche» (Ehmer 1990, 152). Prahl/Schroeter (1996, 126), ebenso u.a. Rosenmayr: «Das Alter gibt es also nicht» (1996b, 30).

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nem Ideal der Jugendlichkeit begleitet ist,359 an dem sich nicht nur der in dem omnipräsenten Bestreben, ständige Dynamik zu signalisieren, agierende derzeitige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy orientieren zu müssen glaubt, sondern v.a. der auch Schönheitsoperationen nicht scheuende italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der seinen älteren Parteigenossen mit folgenden Worten schmeichelt: «Oggi noi abbiamo alle spalle sessant’anni o più di esperienza, e abbiamo di fronte tutto un altro orizzonte, ricco di cose da fare, di battaglie da combattere, di ideali su cui impegnarci. […] Si diceva una volta: quando l’uomo raggiunge la saggezza con cui può governare la vita, in quel momento perde le sue energie. Non è più così, e lo vediamo. La medicina, la biologia, la chirurgia hanno fatto miracoli. L’età media, fra vent’anni, raggiungerà i cento anni e sono tanti i centenari ancora attivi. Ma noi, che non siamo, nella grande maggioranza, ultraottantenni, sappiamo bene che non abbiamo perso nulla della nostra capacità di fare e che anzi per molti versi siamo meglio di come eravamo tanti anni fa, visto che siamo passati attraverso il duro esame della vita» (2000, 171, 179).

(ii) Defizitmodell und Ageismus vs. Differenzmodell und «sprachliches Makeup» Der geschichtliche Überblick zeigt, dass ältere Menschen solange besondere Wertschätzung erfahren haben, wie sie für die Wissenstradierung eine essentielle Rolle spielten. Nach der Erfindung des Buchdrucks, der praktischen Durchsetzung einer allgemeinen, mehrjährigen Schulpflicht und vor allem im Zeitalter von Computer und Internet wurde die Bedeutung der Wissenstradierung von derjenigen der Produktion neuen Wissens abgelöst. Dabei sind ausgewählte ältere Einzelpersonen mit ihren Kenntnissen und ihrem Erfahrungshorizont weiterhin hoch geschätzt, nicht aber ältere Menschen insgesamt allein aufgrund ihres Alters. Zudem ergaben die mit Jean-Martin Charcots Untersuchung zu Alterskrankheiten (1867) einsetzenden systematischen360 medizinischen Forschungen zum Alter eine Gleichsetzung von Gerontologie mit Geriatrie: «Nous avons à remarquer [...] que les changements de texture que la vieillesse imprime à l’organisme s’accusent parfois à un tel degré, que l’état physiologique et l’état pathologique semblent se confondre par des transitions insensibles, et ne peuvent plus être nettement distingués» (Charcot 1867, 7).

So stellt Ehmer denn auch fest: 359

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Cf. Bencini/Manetti: «L’Italia del nuovo millennio vive un paradosso lacerante che falsa il naturale passaggio di consegne tra generazioni. Esprime una società tradizionalmente gerontocratica, e tuttavia coltiva una ‹sindrome di Dorian Gray› che la spinge a rimuovere l’idea stessa della vecchiaia: la giovinezza è una mitologica, un sogno collettivo, ma il potere resta in mano ai vecchi» (2005, 227). Als erste gerontologische Monographie nennt von Engelhardt (1995, 16) die noch in der antiken Tradition Galens stehende Gerentocomia (1498) von Gabriele Zerbi. Charcot nennt und kommentiert weitere Studien (1867, 3–6).

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«Der Begriff der ‹Altersschwäche› bildete im 19. Jahrhundert das zentrale gesellschaftliche Konzept zur Bestimmung des Alters als pathologischen Zustand, Arbeitsunfähigkeit und Verlusts an sozialer Autonomie. Alter und Altersschwäche wurden tendenziell gleichgesetzt. Das spiegelt sich im Bedeutungswandel der lateinischen Lehnwörter ‹senil› und ‹Senilität› [...] wider: Von Synonymen für ‹alt› und ‹Alterserscheinung› wandelten sie sich graduell in Richtung abwertender Inhalte wie ‹verkalkt› oder ‹Altersverschrobenheit› [...] In der geriatrischen Literatur erschien das Alter als höchst labiler Zustand [...] Die psychologische Literatur begann einen Abfall der intellektuellen Kapazität und der schöpferischen Leistungsfähigkeit [...] zu konstatieren, und das höhere Alter wurde insbesondere mit geistigem Verfall gleichgesetzt» (Ehmer 1990, 75).

Auch vor dem Hintergrund einer «unrealistischen Auffassung von ‹Gesundheit›» (Imhof 1995, 37) wie sie in der WHO-Definition als «Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens» zum Ausdruck kommt, wird die Gleichsetzung von Alter und Krankheit gefördert. So wurde bis ins 20. Jahrhundert meist von einem «Defizitmodell des Alterns» ausgegangen, nach dem das Altern lediglich als ein zunehmender Verlust von Leistungsfähigkeit beschrieben wird.361 Seit den 1950er Jahren durchgeführte Untersuchungen zum «Bild des älteren Menschen in unserer Gesellschaft» ergeben, dass es «grundsätzlich negativ gezeichnet [ist], und zwar weit negativer, als es sich für die Gesamtheit der älteren Menschen vertreten lässt»,362 was eine Tradition des 19. Jahrhunderts fortsetzt,363 und dass «Stereotypen, unzulässige Verallgemeinerungen» dominieren,364 die «durch Massenmedien

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Für einen Überblick zu «biologischen Alternstheorien», die alle davon ausgehen, «dass Altern im wesentlichen Abbau wichtiger Funktionen sei», cf. Lehr (2000, 46–52). Die negativen Clichés sind umso besorgniserregender, als «es vorwiegend die Einstellung der anderen Menschen ist, die einen oft zu ‹altersgemäßen› Verhaltensweisen zwingt, weniger aber die eigenen Wünsche oder etwa das Nachlassen von Fähigkeiten» (Lehr 2000, 199). «Älterwerden wird für den einzelnen oft nur deswegen eine Belastung, weil damit die Gesellschaft bestimmte Verhaltenserwartungen an einen stellt; – Verhaltenserwartungen, die häufig nicht an der Realität und auch nicht immer an den gesundheitlichen Notwendigkeiten, sondern an traditionellen, oft stereotypen Vorstellungen orientiert sind und gerade dadurch eine Anpassung des Älterwerdenden erschweren. […] Das Selbstbild und die Realitätsorientierung des älteren Menschen werden von solchen Stereotypisierungen affiziert und bestimmen dann sein reales Verhalten [...] Hier wird dann ein psychologisches Gesetz wirksam, demzufolge die Erwartungshaltung auf dem Wege über eine Selektion der Wahrnehmung das Erleben beeinflusst» (2000, 200). Für die Chancen auf Beschäftigung für ältere Arbeitnehmer im 19. Jahrhundert stellt Ehmer daher Folgendes fest: «In dem Maß, in dem sich die Auffassung verbreitete, daß ältere Arbeiter den neuen wirtschaftlichen Anforderungen nicht entsprechen würden, fand eine Abkoppelung ihrer Berufschancen von der realen individuellen Leistungsfähigkeit statt. [...] Entscheidend war immer weniger, was der ältere Arbeiter tatsächlich leistete, sondern immer mehr sein bloßes Alter» (1990, 66). Cf. Lehr (2000, 196): «Weitverbreiteten Annahmen zufolge bedeutet also Älterwerden einen Verlust seelisch-geistiger Fähigkeiten, einen Abbau psychischer

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und auch durch wohlgemeinte Hinweise auf die schwierige Lebenssituation des hinfälligen alten Menschen immer wieder erneut genährt werden in der Absicht, an Mitleid und Hilfsbereitschaft der Gesellschaft zu appellieren».365 Vor dem Hintergrund dieser verzerrten Stereotypen wundert es nicht, dass es gerade in der modernen Leistungsgesellschaft in manchen Fällen zu einer Art von Altersdiskriminierung kommen konnte, die seit 1968 mit Robert Butler als ageism bezeichnet wird (cf. Butler 1975, 11) und «a personal revulsion to and distaste for growing old, disease, disability; and fear of powerless, ‹uselessness›, and death» widerspiegelt (Butler 1969, 243). Ageism wurde in Anlehnung an racism und sexism gebildet, betrifft anders als diese Ausdrücke aber eine Lebensrealität, die jeder einzelne Mensch im Laufe des eigenen Lebens erfährt, und ist damit psychologisch besonders komplex (Lehr/Niederfranke 1991). Ebenso wie der Ausdruck Gerontologie umfasst Ageismus in der Theorie alle Altersstufen,366 in der Praxis werden beide jedoch in der Regel auf ein späteres Lebensalter bezogen. Die im Defizitmodell beschriebene und auch in der Bevölkerung verbreitete Vorstellung des Älterwerdens als einem Verlust an Fähigkeiten wird heute von einem Differenzmodell (oder sogar Kompetenzmodell)367 komplettiert, in dem der Alterungsprozess weniger als zunehmender Verfall denn

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Funktionen. Diesen Vorstellungen zufolge [...] geht Älterwerden mit zunehmender Gebrechlichkeit, Isolation und sogar mit zunehmender ‹Unzurechnungsfähigkeit› einher» (2000, 197). Cf.: «Die Erwartung aber, mit solchen Bildern Anteilnahme hervorrufen zu können, beruht auf falschen Voraussetzungen. Negative Bilder rufen eher negative Reaktionen hervor. Vor allem aber sollten noch so wohlmeinende Experten, die meinen, auf das Alter durch realistische bzw. drastische Bilder von Altersleiden vorbereiten zu können, die unheilvollen Auswirkungen solcher ‹Informationsvorträge› auf die Erwartungshaltung von Frauen und Männern im mittleren Erwachsenenalter berücksichtigen. Nicht zuletzt sollte man auch beachten, dass die Altersbilder der Gesellschaft ihre Auswirkungen auf das Selbstbild alter Menschen haben» (Lehr 2000, 198). Dies lässt z.B. Santini in seinem Eintrag zu âgisme folgendermaßen polemisieren: «Attitude discriminatoire qui fait qu’avant dix-huit ans on ne peut pas faire valoir ses droits (on est encore dans sa ‹minorité›) et que, passé cinquante ans, la ménagère n’intéresse plus personne. Sous prétexte de compensations, l’encartage humiliant des deux extrêmes (carte jeune et carte vermeil) ne fait que conforter le prestige du groupe d’âge intermédiaire. Ce dernier tend d’ailleurs à se limiter à une élite de plus en plus réduite: sur le marché du travail, sorti du créneau vingtcinq-quarante ans, point de salut…» (1996, s.v. âgisme). Sicherlich geht es auch im Sinne des Differenzmodells darum, besondere Stärken älterer Menschen herauszuarbeiten. Gegen den hierauf fokussierenden Ausdruck Kompetenzmodell spricht aber die «Gefahr [...], daß negative Stereotype (im Sinne einer einseitigen Betonung der Schwächen) durch positive Stereotype (im Sinne einer einseitigen Betonung der Stärken) ersetzt werden», weswegen ihn z.B. Kruse und Lehr ablehnen (1996, 23s.). Grönemeyer hingegen stellt ihn allein dem Defekt-, Verfalls- oder Defizitmodell und dem Disuse- oder Aktivitätsmodell gegenüber und schließt «Empirische Daten belegen, daß aller Anlaß besteht, einem

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als Verlagerung von Fähigkeiten begriffen wird.368 Dieser Perspektivenwechsel zeigt sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur als Forschungsparadigma, sondern findet auch im Alltag immer stärkere Berücksichtigung, so z.B. in den zunehmenden die Vorteile älterer Arbeitnehmer thematisierenden Reportagen. Die lange Zeit und teilweise bis heute dominante, von einem negativen Altersbild geleitete369 Defizitvorstellung schlägt sich sprachlich in einer Darstellung des Alterns nieder, die als «overwhelmingly negative in its scope» beschrieben wird (Nuessel 1982, 273). Umgekehrt trägt alterdiskriminierende Sprache auch dazu bei, bestehende Stereotypen von älteren Menschen zu festigen: «In summary, ageist language is insidious and nefarious because such parlance distorts or degrades its victims. The lexicalization (i.e., standardization of clichés about this group) facilitates verbal abuse of elders» (Nuessel 1984, 21). Doch ist das chronologische Alter im Allgemeinen wenig aussagekräftig im Hinblick auf das gefühlte Alter,370 und da die Mitmenschen das tatsächliche Alter in der Regel auch nicht kennen, hängt – wie schon bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers im 19. Jahrhundert371 – noch immer vieles vom äußeren Erscheinungsbild ab. So wird bis heute das Alter des Menschen v.a. nach dessen Aussehen eingeschätzt, dessen Verjüngung daher im Interesse vieler steht. Ein gutes Rezept gegen die Selbstwahrnehmung des Alt-Seins ist – ganz abgesehen von der entsprechenden Lebensführung und -einstellung – neben tatsächlichem aber auch «sprachliches Make-up»: «Despite all the anti-aging creams, monkey glands and assorted elixirs of life, the best defence we can mount against getting old probably remains – concealment under carefully applied verbal make-up» (Ayto 2000, 228).

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Kompetenzmodell des Alterns den Vorzug vor den anderen Modellen zu geben» (2008, 176). Für einen Überblick zu den vorgebrachten «Theorien, die ein Wachstum des älteren Menschen an Reife und Weisheit postulieren», cf. Lehr (2000, 65–68). Doch cf. auch Thimm: «Es zeigt sich, dass sowohl in Wörterbüchern als auch in den Medien die Darstellung älterer Personen mit negativen Konnotationen und devaluierenden Bezeichnungen verbunden wird» (2000, 73). Cf. z.B. Butler: «Older people become more diverse rather than more similar with advancing years. There are extraordinarily ‹young› 80-year-olds as well as ‹old› 80-year-olds. Chronological age, therefore, is a convenient but imprecise indicator of physical, mental and emotional status» (1975, 7). Cf. z.B. Ehmer: «Entscheidend war immer weniger, was der ältere Arbeiter tatsächlich leistete, sondern immer mehr sein bloßes Alter. Solange die Arbeitsbeziehungen wenig bürokratisiert waren, kam es dabei nicht so sehr auf das kalendarische Alter an als auf seine sichtbaren körperlichen Erscheinungsformen. Graues Haar und Augengläser wurden zu Symbolen des Alters, deren Entdeckung den Job kosten konnte» (1990, 66).

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Doch ist eine allgemein akzeptable Ausdrucksweise auch hier offenbar schwer zu finden. Nuessel zitiert z.B. eine Untersuchung, in der unter den Ausdrücken engl. senior citizen, retired person, mature American, elderly person, middle-aged person, older American, golden ager, old timer, aged person, old man/woman bei fast allen Befragten senior citizen einen gewissen Anklang gefunden hat, während der Ausdruck in einer anderen Untersuchung als Euphemismus betrachtet und daher nicht mehrheitlich akzeptiert wurde. Er bevorzugt daher elderly als neutralen Terminus (1982, 273). Dies entspricht den Empfehlungen des von der Polizei von Manchester zur Vermeidung des Gebrauchs von Stereotypen und beleidigender Ausdrucksweise herausgegebenen Sprachführers The Power of Language, in dem empfohlen wird, auf ein bloßes old gänzlich zu verzichten und stattdessen engl. old people oder elderly zu verwenden (GMP) – ein Rat, der auch für das Italienische (it. anziano, -a – persona anziana) und Französische (fr. âgé, -ée – personne âgée) Gültigkeit besitzt. Speziell auf die Erfahrung der Älteren spielen im Sinne der Differenztheorie engl. chronologically gifted und experientially enhanced. Crisafulli betrachtet diese von ihm im Italienischen als it. dotati da un punto di vista cronologica bzw. potenziati dall’esperienza wiedergegebenen Bezeichnungen als «invenzioni balorde» (2004, 41). Santini nennt fr. personnes chronologiquement bien dotées (1996, s.v. vieux), Boulanger citoyen expérimenté (chronologiquement), personne d’expérience (2000, 323) und Merle schlägt senior vor, gegen das er gleichzeitig polemisiert: «Ce sont nos aînés, les aînés, les anciens, les personnes-du troisième-âge, les cartes Vermeil ou encore, comme on disait dans les années soixante où on faisait moins gaffe (il est vrai que le baby-boom ne menaçait pas encore de se transformer en papy-boom), les ‹amortis› (jeunes-vieux), les ‹croulants›, les ‹son-et-lumière› (bien vieux) ou les ‹PPH› (passera-pas l’hiver)» (1993, s.v. senior).

PR enthält senior unmarkiert in der Bedeutung ‘âgée de plus de 50 ans; jeune retraité’, gibt zudem aber ein Beispiel, in dem es synonym zu troisième âgesteht. In französischen Zeitungen ist senior geläufig, was – neben dem Zitat auf p. 344 n. 350 – folgender Ausschnitt dokumentiert, der auch personnes âgées, quatrième âge, vieillard kontextualisiert und noch einmal verschiedene Altersbilder resümiert: «Nombre de p e r s o n n e s â g é e s, décédées dans la solitude pendant la canicule de l’été 2003, sont enterrées côte à côte au carré des indigents. En France, la vieillesse n’est pas considérée comme une richesse et l’allongement de l’espérance de vie comme un heureux bénéfice, loin s’en faut. Pour le sociologue Emmanuel Ennuyer, la société française aurait développé une véritable phobie du q u a t r i è m e â g e, comme si être vieux signifiait inéluctablement immobilité et impotence, comme si c’était, en soi, une maladie. Autre image négative renvoyée, le coût économique pesant sur la collectivité en termes de retraites et de dépenses de santé. Autant l e s e n i o r est courtisé pour son pouvoir d’achat, autant le v i e i l l a r d effraye» (Séry 2007).

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Mit dem Latinismus it. seniore werden im wirtschaftlichen Bereich Personen bezeichnet, die aufgrund ihrer in früheren Tätigkeiten gesammelten Erfahrungen besonders geschätzt werden (z.B. consulenti seniori) und Berlusconis nutzt «noi Seniores», um im Rahmen der Prima Assemblea nazionale Seniores die Vorzüge älterer Mitglieder der eigenen Partei anzusprechen (cf. supra p. 348). Beccaria nennt neben it. anziano den Anglizismus over 65 und terza età: «L’eufemismo è una sorta di cortesia. Un vecchio preferisce essere chiamato anziano. L’inglese può servire di eufemismo: meglio over 65 di anziano. I canadesi, premurosi, hanno trasformato la già attenuata troisième âge in l’âge-d’or. Noi, secondo dizione ufficiale, abbiamo mutato la vecchiaia in terza età. Del resto, chi mai si iscriverebbe all’Università della vecchiaia!» (Beccaria 2006, 48).

Bencini/Manetti sprechen gar von einem Tabu, das bis zum Schweigen reicht: «[...] cresce quotidianamente una popolazione di anziani di cui ci si rifiuta perfino di pronunciare il nome. La pirotecnica terminologica per definire i nuovi appetiti o inappetenze sessuali, la minuziosità definitoria applicata alle nuove generazioni, svaniscono di fronte alla vecchiaia. O meglio, di fronte alla vecchiaia la società e la lingua si difendono attraverso una serie di artifici retorici che vanno dalla semplice rimozione, come ad esempio post-adulto, all’eufemismo di pantere grigie, all’assimilazione all’infanzia, come nella locuzione nonno sitter, che indica, curiosamente, sia la persona incaricata di accudire una persona anziana, sia il nonno che si occupa dei nipoti. Viene un sospetto: che tanta delicatezza verbale nasconda un desiderio di rimozione anche fisica – come avrebbe fatto altrimenti la parola rottamare a percorrere in pocchissimi anni la distanza che separa uno sfasciacarrozze da un ospizio?» (2005, 227).

Aus dem französischen Korpus sind die Ausdrücke personnes âgées und n’être plus de la première jeunesse sowie le troisième âge und le quatrième âge zu nennen. In PR nicht enthalten ist das auch von Beccaria erwähnte, in Quebec allgegenwärtige âge d’or, das z.B. Walter zu den Euphemismen «pleins de poésie» zählt «pour ce qui n’est en France que le triste troisième âge» (1994, 254); it. terza età steht unmarkiert in Z, was darauf hinweisen könnte, dass die italienischen Lexikographen diese Bezeichnung – politisch höchst korrekt – bereits als Normalwort betrachten. Es ist denkbar, dass trotz ähnlicher Definitionen in den Lexika entweder das Verständnis von Euphemismus in der entsprechend angewandten Markierungsangabe in den beiden Teilkorpora divergiert oder die Vitalität vergleichbarer Euphemismen tatsächlich unterschiedlich bewertet wird bzw. zu bewerten ist (cf. auch 4.1.2ii). Denn aus linguistischer Sicht genügt die wie auch immer ausgeprägte Tabuisierung einer Ausdrucksweise, um die sprachlichen Möglichkeiten, sie im Rahmen der intendierten Funktion zu vermeiden, als Euphemismen zu bezeichnen. Auf jeden Fall muss in einer Gesellschaft, die Schwierigkeiten mit dem Alter oder mit ihrer Überalterung hat, das Thema selbst 353

nicht zwangsläufig tabu sein, was sprachliches Verschweigen bedeuten würde. Vielmehr erfordert diese Situation die auch sprachlich rücksichtsvolle Behandlung des Themas bzw. der älteren Generation, was auch Zeugnis für den jeweiligen Zivilisationsstand im Umgang miteinander ablegt. 5.3.4.4 Sexuelle Identität Das Bild vom vorbildlichen Menschen der Neuzeit war jedoch nicht nur durch weiße Haut, körperliche Gesundheit und jugendliches Aussehen gekennzeichnet, sondern auch durch das letztendlich arterhaltende Interesse am anderen Geschlecht. Homosexuelles Verhalten war hingegen lange Zeit (wenn auch phasenweise unterschiedlich stark) stigmatisiert, was sich nicht zuletzt in entsprechenden despektierlichen Bezeichnungen spiegelt wie u.a. fr. pédé, pédéraste, tantouze, folle; it. checca, culattone, finocchio, frocio, pederasta. (i) Homosexualität in der Geschichte Eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber Homosexualität herrschte in der Antike, was z.B. der griechische Mythos vom Kugelmenschen in Platons Gastmahl zeigt372 oder Suetons Darstellung vom Leben römischer Kaiser, in der immer wieder von gleichgeschlechtlichen Kontakten berichtet wird,373 auch wenn Paulus in seinem die Homosexualität verdammenden Römerbrief diese als Sünde der Griechen darstellt («desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben», Röm 1,27).

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Cf. Aristophones, der nach seinen Ausführungen zur Teilung der Kugelmenschen durch die Götter zu den Männern, die «Teilstück eines Mannes sind», erklärt, «es sind dies die besten unter den Knaben und Jünglingen, da sie die männlichsten sind von Natur. […] Dafür zeugt ein großer Beweis: wenn sie völlig erwachsen sind, dann wenden sich einzig Männer dieser Art den Staatsgeschäften zu. Sind sie aber Männer geworden, so lieben sie Knaben» (Symposion 191e–192a – 2001, 61). Cf. exemplarisch zu Augustus «Sextus Pompeius ut effeminatum insectatus est; M. Antonius adoptionem auunculi stupro meritum» (De vita II/68,1 – 1978, 86) – «Sextus Pompeius verfolgte ihn mit der Behauptung, er sei sozusagen eine Frau geworden; M. Antonius behauptet, er habe sich die Adoption durch seinen Onkel dadurch verdient, daß er mit ihm ins Bett gestiegen sei» (Suetonius Tranquillus 2003, 127s.) oder zu Tiberius: «fertur etiam in sacrificando quondam captus facie ministri acerram praeferentis nequisse abstinere, quin paene uixdum re diuina peracta ibidem statim seductum constupraret simulque fratrem eius tibicinem» (De vita III/44,2 – 1978, 135) – «Beim Opfern soll er auch einmal vom Aussehen eines Dieners, der die Räucherpfanne vorantrug, so in den Bann gezogen worden sein, daß er sich nicht beherrschen konnte, ihn, kaum daß die Opferhandlung beendet war, an Ort und Stelle, er hatte ihn sofort etwas abseits geführt, zu mißbrauchen, ebenso seinen Bruder, einen Flötenspieler» (Suetonius Tranquillus 2003, 193).

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Im Kapitel über «Liebes- und Sexualleben im Wandel des Schamgefühls» konnte bereits eine Evolution in der Beurteilung bestimmter sexueller Verhaltensweisen aufgezeigt werden, die sich im besonderen Maße bei der Homosexualität zeigt. «Seit alters quer durch die Kulturen bekannt» (Kreß 2000, 1884) ist ihr Stellenwert in der Antike besonders wenig mit der heutigen Situation vergleichbar. Damals war das sexuelle Verhalten eines Menschen allgemein «weniger durch seine individuellen Neigungen als durch seine soziale Stellung als Freier oder Unfreier, als junger oder alter Mensch, als Frau oder Mann determiniert» (E. Hartmann 1998b, 703). So war z.B. ausgeschlossen, dass sich ein freier Mann anderen Männern anbot, da ihm sein Stand dies verbot, zumal er damit auch als Mann in die Nähe der Weiblichkeit bzw. weiblicher Prostituierter gerückt würde. Doch war im antiken Griechenland z.B. die Knabenliebe (Päderastie) – unter Befolgung gewisser Regeln – im Rahmen der Erziehung auch für den Eromenos mit gesellschaftlichem Ansehen verbunden bzw. im antiken Rom Homosexualität mit Sklaven durchaus verbreitet und «die Vorstellung weitgehend fremd, dass Sexualität sich auf ein einziges Geschlecht bezieht» (E. Hartmann 1998b, 703). Damit wird zwar auch in der Antike die Homosexualität nicht durchweg und generell positiv beurteilt (cf. Beispiele in Ranke-Heinemann 1989, 335s.), doch erst in den drei abrahamitischen Religionen erscheint sie konsequent als widernatürlich, denn Sinn der Ehe ist es für diese, die Einheit zwischen Mann und Frau wiederherzustellen, da die Frau der Überlieferung nach in der Rippe des Mannes einst ein Bestandteil von ihm war: «Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen, und die beiden werden zu einem Leib» (Gen 2,23s.). So wird im Alten Testament Homosexualität speziell unter Männern verurteilt374 und auch noch im Neuen Testament als widernatürlich abgelehnt.375 «In mehreren Synoden des 4. Jh. wurden Kirchenstrafen gegen Homosexuelle festgelegt. Kleriker hatten beim Vorwurf der H. Absetzung zu befürchten» (E. Hartmann 1998b, 707). Kaiser Justinians Auslegung des AT, «die in der durch die H. heraufbeschworene

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Cf. aus der Bibel: «Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel» (Lev 18,22). Die Strafe folgt in Lev 20,13: «Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen». «Feminine Sexualität wird im AT, obwohl praktiziert, nicht wertend thematisiert, da das Verständnis von Sexualität einseitig am Zeugungsakt, dem sich Praktiken der mask. H. annähern können, orientiert ist» (Otto 2000, 1884). Im NT wird die Knabenliebe zusammen mit anderen Lastern genannt: «(9) Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, (10) Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben» (1Kor 6,9–10); ähnlich 1Tim 1,10. Hierzu erklärt RGG: «Die Bibel verurteilt nicht gleichgeschlechtliche Beziehungen, wohl aber deren sexuelle Ausgestaltung unter Männern» (Otto 2000, 1884), wobei Paulus auch von homosexuellen Frauen spricht (Röm 1,26).

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Rache Gottes eine Gefahr für die ganze Menschheit erkannte, blieb bis in die Neuzeit wirksam» (E. Hartmann 1998b, 707). Die mittelalterliche weite Auslegung von Häresie, die gar als Synonym von Homosexualität betrachtet wurde, lebt bis ins 16. Jahrhundert weiter, wie Bologne kritisch bis ironisch bemerkt: «‹Hérétique› et ‹homosexuel› étaient parfaitement synonymes, les ‹athéistes› copulaient avec les bêtes, les ‹luthériens› s’adonnaient à tous les vices. Les dignitaires chargés d’interpréter les décisions du concile de Trente ne s’y trompent pas. […] La censure morale ecclésiastique est en place. La censure royale se développe parallèlement, avec le système du ‹privilège›, qui apparaît sous Louis XII, et qui oblige les imprimeurs à soumettre les manuscrits à des censeurs. Le XVIIe siècle n’aura plus qu’à roder un système déjà au point» (Bologne 1986, 270).

Trotz unabstreitbarer homoerotischer Tendenzen des deutschen nationalsozialistischen Regimes wurde die Homosexualität von offizieller Seite verdammt und mit grausamen Strafen belegt. Dabei kam es 1935 zur Verschärfung des 1872 inkraft getretenen Paragraphen 175 des deutschen Strafgesetzbuches, zur nachfolgenden Einrichtung des Sonderdezernates Homosexualität der Gestapo und ab 1940 zur Einweisung von Homosexuellen in Konzentrationslager (cf. Risse 1998, 26s.). In den italienischen Rassengesetzen hingegen wurden die zuvor als «delinquenti communi» klassifizierten Homosexuellen 1936 zwar als eigene Kategorie aufgenommen, 1939 als solche jedoch wieder gestrichen, was nicht etwa als erfolgte Anerkennung, sondern als Negation ihrer mit dem vorherrschenden Diktum «gli italiani sono troppo virili per essere omosessuali» (dall’Orto 2000, 518) unvereinbaren Existenz zu erklären ist: «Il paradosso insopportabile per il fascismo fu che definire gli omosessuali in quanto ‹razza›, al pari degli ebrei o dei negri, significava riconoscere loro uno status di gruppo sociale, per quanto deviante e criminale. Ma ciò contraddiceva in pieno la strategia seguita fin lì proprio dal fascismo, che a sua volta si basava su almeno un secolo di tradizione giuridica e repressiva italiana, che puntava a cancellare del tutto l’omosessualità negandole qualsiasi spazio di visibilità» (dall’Orto 2000, 517).

Um die Strafbarkeit der Homosexualität ebenso wie in Deutschland auch in Italien gesetzlich zu verankern, hätte zunächst ihr Vorhandensein eingestanden werden müssen. Doch war es «impossibile persino concepire l’idea di uno ‹stile di vita omosessuale›» (dell’Orto 2000, 527): «[…] l’omosessualità è diventata in Italia il regno del non-detto, dei sussurri, degli eufemismi, dei giri di parole, dei volti nascosti: un mondo che c’è, però non esiste, perché non ha diritto ad affiorare alla realtà» (dell’Orto 2000, 528).

Einen Wendepunkt in der gesellschaftlichen Anerkennung der homosexuellen Identität stellt zweifelsohne die 1969 erfolgte gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Polizeibeamten und einigen Homosexuellen dar, welche die in der Christopher Street New Yorks gelegene Bar Stonewall Inn frequentierten. Diese erstmalige Widersetzung einer größeren Gruppe Homosexueller 356

gegen die Verhaftung ging als Stonewall-Aufstand in die Geschichte ein, an den vielerorts inzwischen jährlich mit dem Christopher Street Day erinnert wird. Während homosexuelle Handlungen in manchen Ländern weiterhin mit drastischen bis zur Todesstrafe reichenden Sanktionen belegt sind, wurde ihre Pönalisierung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 1981 und 1988 als unvereinbar mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt. Der Abbau von Vorurteilen wie jenes «sul raffinatissimo, modaiolo e ipercolorito universo […] dell’omosessualità maschile» (Arcangeli 2007, 56) wurde vorangebracht, und Homosexualität hielt Einzug in die Alltagswelt des Fernsehens, wo der politisch korrekteren Oberflächendarstellung allerdings noch tieferliegend tradierte ausgrenzende Klischees gegenüberstehen (cf. Decker/Krah 2005). Aus dem offiziellen Katalog der Geisteskrankheiten wurde die Homosexualität 1974 von der American Psychiatric Association gestrichen und 1990 von der WHO.376 Letzteres erfolgte am 17. Mai, der seit 2005 als Journée mondiale de lutte contre l’homophobie (International Day Against Homophobia) begangen und zahlenspielerisch auf den bereits erwähnten § 175 des StGB zurückgeführt wird, der in der BRD 1969 auf eine Jugendschutzvorschrift reduziert und 1994 endgültig aufgehoben wurde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die Rechte Homosexueller in vielen Ländern in besonderem Maße gestärkt: In den Niederlanden, in Belgien, Kanada, Spanien und Südafrika wurde gleichgeschlechtlichen Paaren beispielsweise die Möglichkeit der Eheschließung eröffnet; in Frankreich wird über eine die Eheschließung erlaubende Änderung des Code civil debattiert (cf. Muchembled 2005, 332), der allerdings nicht die Unterstützung des derzeitigen Präsidenten zukommt, der zwar einräumt, «[que] la sexualité n’est pas un choix, mais une identité, j’en suis convaincu. Les inégalités fondées sur celle-ci seraient particulièrement choquantes. Je ne les accepte pas», dann aber fortfährt: «Ce qui n’enlève rien à mes réserves sur le mariage et l’adoption par un couple homosexuel» (Sarkozy 2006, 189).377 Realisiert wurde die Option der eingetragenen Lebenspartnerschaft 1999 mit dem Pacte Civil de Solidarité (PACS), wohingegen die von der Regierung Prodi

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Dessen ungeachtet finden homophobe Ansichten weiterhin Anhänger. Der supra (p. 165 n. 27) im Hinblick auf seine Art, das Theodizeeproblem zu lösen, zu Wort gekommene Gerhard Wagner erklärt Homosexualität als behandlungsbedürftig und heilbar, und die in derselben Fußnote erwähnte Piusbruderschaft sieht in der Homosexualität einen Widerspruch zur christlichen Gesellschaftsordnung. Cf. auch aus Le Monde: «En dépit des réformes successives qui ont supprimé la dissymétrie des rapports au sein des couples, de sorte que le code civil ne fait plus référence qu’aux ‹époux› et non plus, de façon sexuée, au mari et à la femme, en dépit des évolutions législatives qui ont reconnu l’existence du couple formé par deux personnes de même sexe (pacs ou concubinage), cette évidente ‹naturelle› selon laquelle le mariage ne peut unir qu’un homme et une femme est difficile à remettre en cause» (Lochak 2007).

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eingebrachte Gesetzesvorlage zu den Diritti e doveri delle persone stabilmente conviventi (DICO) u.a. aufgrund der «vom Vatikan geschickt orchestrierten Debatte um die Legalisierung von schwulen Partnerschaften» 2007 scheiterte (Horlacher 2007). (ii) Die sprachliche Situation und der Stand der Lexikographie Obwohl Homosexualität auch heute noch zu den supra erwähnten, von der römisch-katholischen Kirche gebrandmarkten Sexualpraktiken gehört, haben die Öffnung der gesellschaftlichen Haltung und die Antidiskriminierungsbemühungen, ebenso wie die mancherorts in vielen Punkten erfolgte juristische Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare mit heterosexuellen, sicherlich eine gewisse sprachliche Enttabuisierung bewirkt. Als gegenüber den supra genannten Beschimpfungen relativ neutrale Bezeichnung wurde lange Zeit das im 19. Jahrhundert aufkommende fr. homosexuel, -le, it. omosessuale gesehen, dem jedoch – nur teilweise vergleichbar mit der Kritik an fr. inverti, -ie und it. invertito, -a – des Öfteren zum einen ein klinisch-medizinischer Charakter angelastet wird,378 zum anderen die unter Ausblendung der emotionalen, romantischen und kulturellen Komponente des Phänomens erfolgte Reduktion der Identität auf den Sexualakt. Auf die Ablehnung mancher Homosexueller stießen diese Ausdrücke jedoch auch, da sie nicht selbst gewählt waren. So ging mit dem Stonewall-Aufstand und der darauffolgenden identitären Festigung der Bewegung – ebenso wie zuvor schon bei den Farbigen (cf. 5.3.2.1i) – auch der Wunsch nach Eigenbenennung einher. Von der homosexuellen Gemeinschaft San Franciscos auserkoren wurde engl. gay, das sich nicht zuletzt in den Bezeichnungen entsprechender Bewegungen wiederfindet, allen voran in der Gay Liberation Front (GLF).379 Der volksetymologisch auch als Akronym zu good as you erklärte Ausdruck kommt ursprünglich von prov. gai ‘fröhlich’ (cf. gai saber) und wurde bereits im Mittelalter in der Bedeutung ‘full of or disposed to joy and mirth’ ins Englische entlehnt (mit Erstbeleg in OED von 1310, in der Schreibweise gai bereits im 12. Jahrhundert). Davon ausgehend erfolgte eine Bedeutungsverschlechterung hin zu ‘addicted to social pleasure and dissipations’ (1637) und der euphemistische Gebrauch ‘of loose or immoral life’, der in Bezug auf Frauen schließlich (entsprechend it. donnina allegra) die Verwendung gay woman ‘Prostituierte’ (1825) nahelegte. In der Bedeutung ‘homosexuell’ ist gay in OED seit 1935 belegt und verstärkt nach den Ereignissen von 1969, cf. z.B. gay gene (1986), gay marriage (1971), gay panic (1986) oder gay pride (1970). Von den USA aus verbreitete sich gay auch

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Cameron/Kulick sprechen von «an expert, clinical label invented and used by people who typically do not belong to the relevant group, or necessarily support their struggle» (2003, 26). Cf. aber auch die 1971 gegründete Front Homosexuel d’Action Révolutionnaire (FHAR).

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in den romanischen Sprachräumen, in denen es – u.a. trotz der Proteste aus dem Piemont, wo der provenzalische Familienname Gay verbreitet ist, – zunehmend Verwendung findet.380 Eine weitere Bezeichnung, die zwar noch nicht in PR und Z verzeichnet ist, aber ausgehend von den USA langsam auch in den romanischen Sprachen aufkommt, ist engl. queer ‘homosexuell’. Ähnlich wie bei nigger (cf. supra p. 335 n. 325) übernahmen hier die Bezeichneten ein ehemals zu ihrer Beschimpfung verwendetes Wort zur Selbstbenennung: «On a beaucoup parlé, ces dernières années, du mouvement queer, dont l’expression française demeure cependant très restreinte. Queer signifie littéralement ‹bizarre›. C’est ensuite une insulte que l’on adresse aux homosexuels, ce qui lui donnerait alors le sens de ‹pédé›. Nombre de publications anglo-saxonnes sur l’homosexualité comprennent aujourd’hui le terme queer: Queer Looks, Queer Noises, etc. – titres qui jouent sur la polysémie du mot: ‹bizarre›, ‹gay›. Dans ce cas, queer signifie ‹gay›» (Rambach/Rambach 2003, 406).

Allerdings steht hinter queer auch eine neue Identitätskonzeption, die mit der «critique of heteronormativity» verbunden ist (Cameron/Kulick 2003, 153), einer Kritik an der Perspektivierung von Heterosexualität als notwendig, natürlich, erstrebenswert und privilegiert: «Queer theory interrogates heterosexuality by dismissing its claims to naturalness, and examining, instead, how it is vigorously demanded and actively produced in specific sociocultural contexts and situated interactions» (2003, 55). Queer bedeutet damit nicht einfach homosexuell, denn «on peut être homo et se sentir tout sauf queer (super-normal), on peut être hétéro et se sentir très queer (très anormal)» (Rambach/Rambach 2003, 407). Dessen ungeachtet werden die Ausdrücke häufig auch synonym verwendet, so dass queer inzwischen die Rolle einnimmt, die gay hatte, als homosexual noch die gängige Bezeichnung war: «le queer devient hyperbranché» (Rambach/Rambach 2001, 104), «with a hipper, more radical edge [than gay/lesbian]» (Cameron/Kulick 2003, 28). Auch wenn einem «Etikett» wie fr. homosexuel, -le, it. omosessuale, engl., fr., it. gay oder queer, so überhaupt notwendig, im Einzelfall wohl menschengerechtere Periphrasen vorzuziehen sind, wie z.B. fr. il est plutôt attiré par les hommes, aber auch couples de même sexe, besteht bis heute kein allgemeiner Konsens über die korrekte Benennung. Vielleicht erklärt dies mit, weshalb in den Korpora entsprechende Euphemismen kaum verzeichnet bzw. nicht als solche markiert sind. So wird z.B. dem u.a. von Arcangeli für das Italienische als «temperatissimo e neutrissimo» (2001a, 298), in Le Monde als «euphémisée et américanophile désignation des homosexuels» (Schneider 2007) beschriebenen und (auch gemäß PR) im Englischen einen Euphemis-

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Eine Bedeutungsverschlechterung wie im englischen Sprachraum (cf. «my computer is acting gay») ist hier noch nicht erfolgt.

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mus darstellenden gay381 diese Funktion von PR und Z im Französischen bzw. Italienischen nicht explizit zugewiesen. Allerdings markiert Z (neben diverso, -a) it. omofilia und omofilo, -a, während PR fr. homophile nur als «équivalent mélioratif de homosexuel» charakterisiert und mœurs spéciales als veraltet markiert, was immerhin als Öffnung in der Mentalität interpretiert werden könnte.382 5.3.4.5 Geringes Sozialprestige In der heutigen Leistungsgesellschaft hat Arbeit einen sehr hohen Stellenwert inne. Von ihr hängt das Selbstwertgefühl vieler Bürger ab und mit ihr ist in den meisten Fällen auch der soziale Rang verbunden, den sie in der Gesellschaft einnehmen. Aufgrund der vertikalen Mobilität kann die Ausübung einer prestigelosen Tätigkeit nicht wie z.B. im Mittelalter mit dem Hineingeborensein in einen gewissen Stand erklärt bzw. entschuldigt werden, sondern weist zumeist – abgesehen von Problemen des Arbeitsmarktes – auf Qualifikationsmängel383 des Betroffenen hin. Verstärkt wurde diese individualisierende Sicht schon durch die calvinistische Arbeitsethik, nach der sich im Erfolg des Menschen Gottes Wohlwollen zeigt, bzw. im Sinne Max Webers durch die protestantische Arbeitsmoral oder das, was gemeinhin darunter verstanden wird. Von dieser religiösen Motivation unabhängig ist dem Menschen offenbar doch zumindest der Wunsch eigen, in seiner Tätigkeit eine gewisse Bedeutung zu finden und durch sie auch entsprechende Anerkennung zu erfahren. (i) Arbeitslose, Niedrig- und Hochqualifizierte Diesem Umstand trägt im Bereich des Lexikons eine zunehmende Neigung zu Berufsbezeichnungen Rechnung, die Tätigkeiten aufwerten – und zwar unabhängig davon, ob dazu (wie im Falle gering qualifizierter Aufgaben) auch eine gewisse sachliche Notwendigkeit besteht oder (d.h. bei ohnehin

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Cf. den expliziten Verweis in der Herkunftsangabe in PR: «1952 dans un contexte américain; mot angl. gai par euphém.» (s.v.). Als eine Tendenz der Lexikographie zu politisch korrekteren Definitionen kann es gewertet werden, wenn mœurs spéciales in PR 2001 noch erklärt wurde als «homosexuelles, déviantes par rapport à la norme sociale» (s.v.), in PR 2007 hingegen weniger mißverständlich als «homosexuelles […]; mœurs sexuelles s’écartant de la norme sociale» (s.v.). Hier sei z.B. von gut qualifizierten Personen abgesehen, die für Geringqualifizierte geeignete Tätigkeiten ausüben – sei es aus einer bewussten persönlichen Entscheidung heraus, sei es (im Falle von Überqualifizierten bzw. euphemistisch «underemployed or underutilized people» cf. Neaman/Silver 1991, 334) aus dem Mangel an Alternativen.

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wohlangesehenen Berufen)384 nicht. Eine Vorreiterrolle nehmen hier sicherlich die USA ein, in denen diese Tendenz schon weite Kreise gezogen hat: «Indeed, the entire lexicon of the working world reveals an overwhelming tendency to make work seem respectable and meaningful, whether it occurs in the slightly shady world of the turf accountant (bookie) or in the conservative realm of the high-status professions. W.S. Gilbert once wrote, ‹When everybody’s somebody, than no one’s anybody.› Therefore, some highly trained professionals have raised their titles a notch to surpass those in other elevated occupations; doctors are now physicians and lawyers are attorneys» (Neaman/Silver 1991, 291).

Diese Entwicklung beschreibt auch Lutz: «Americans are always trying to make their jobs sound more dignified, more important, more prestigious, more complicated than they really are. Both employers and employees cooperate in creating doublespeak to describe, name, or classify jobs. [...] Beauticians, who were once hairdressers, are now called ‹estheticians› or ‹estheticiennes›, while manicurists are called ‹nail technicians›. [...] Even newspaper delivery boys have been upgraded to the status of ‹media courier›. […] Repairman have become ‹service technicians› or ‹field service representatives›, while nurses are called ‹patient care specialists›. There are no secretaries anymore, just ‹executive assistants› or ‹office automation specialists›. These days it seems as if everyone who works in an office is an assistant, associate, or an executive something or other. [...]» (1989, 109s.).

Lutz kritisiert in diesem Zusammenhang also das Bestreben, Arbeit wichtiger und prestigereicher erscheinen zu lassen als sie ist, was im Kontext seiner Kritik an «inflated language» (siehe infra p. 371) steht. So ist ihm auch die Vermeidung von engl. employee ein Greuel im Auge: «In fact, many companies now avoid using the word ‹employee› altogether. Since the hot topic in business these days is ‹participative management›, the word ‹employee›, with all its negative connotations, just won’t do. So the search is on for words that mean employee but don’t say it. ‹Associate› is one of the most popu-

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Eine gewisse Notwendigkeit mag hier daraus entstehen, dass die Aufwertung Niedrigqualifizierter diejenige Hochqualifizierter erfordert, um eine Differenzierung aufrecht zu erhalten. Neaman/Silver schreiben z.B. «If you are not a manager, you are at least (or at most) a tech (technician)» (1991, 290), was doch die Frage aufwirft, wie nun solche Personen zu beschreiben sind, die im ursprünglichen Sinne Manager und Techniker waren. Cf. auch infra die Verwendung von fr. assistente für fr. secrétaire, die streng logisch die Umbenennung von ehemaligen Assistenten nach sich ziehen müsste. Doch cf. auch Umberto Eco: «Per amore di paradosso, il giorno che gli avvocati si sentissero disturbati da questo appellativo (magari per l’eco di termini spregiativi come avvocaticchio o avvocato delle cause perse) e chiedessero di essere designati come operatori legali, sarà educato attenersi a quest’uso. Perché gli avvocati non si sognerebbero mai di cambiare denominazione (vi immaginate Gianni Agnelli che avesse chiesto di essere nominato come l’Operatore Legale Agnelli)? Perché, risposta ovvia, gli avvocati sono socialmente considerati e godono di eccellenti condizioni economiche» (2006, 92).

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lar, but other words include ‹partner›, ‹junior partner›, ‹team member› ‹internal customers›, and ‹stake-holder›» (Lutz 1989, 110).

Doch stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf employee nicht auch Hand in Hand mit der Entwicklung hin zu mehr Mitspracherecht und Entscheidungsfreiheit und damit zur sprachlichen Berücksichtigung und Förderung der sich durchsetzenden flacher werdenden Hierarchien gehen kann. Diese Tendenz ist auch in Europa zu verzeichnen, wo einerseits Firmen ihren Mitarbeitern immer wohlklingendere (meist englische) Titel verleihen385 und es andererseits zum guten Ton gehört, Tätigkeiten mit geringem Prestige durch veränderte Bezeichnungen sozial aufzuwerten. Letzteres betrifft das Gebiet der Politischen Korrektheit im weiteren Sinne und begünstigte auch das Enstehen vieler Euphemismen für die Arbeitslosigkeit. Diese können – wie z.B. das auf der Preisliste britischer Ticketschalter zu lesende unwaged (cf. dt. Einkommenslose) – die Perspektive zu verlagern helfen und dazu dienen, das Selbstwertgefühl der Betroffenen zu stärken oder – wie z.B. das von der deutschen Arbeitsagentur geförderte Arbeitssuchender (auch fr. demandeur, -euse d’emploi, it. persona in cerca di lavoro) – als dynamischere Ausdrucksweise den temporären Charakter der Lage bzw. die Hoffnung auf Veränderung zu betonen,386 was prinzipiell im Interesse der Betroffenen liegt, aber auch denjenigen entgegenkommen mag, die die Arbeitslosigkeit zu verantworten haben (cf. 5.4.1.4). Einen fast so negativen Beigeschmack wie fr. chomage oder it. disoccupazione haben traditionelle Bezeichungen für Tätigkeiten, für die nur eine geringe Qualifizierung erforderlich ist, und damit für Personen, die in der Regel auch nur gering qualifiziert sind und in der heutigen Wissensgesellschaft eher am Rande stehen. Solche Stellen im Niedriglohnbereich sind entgegen der landläufigen Meinung nicht im Rückgang. So beschreibt z.B. die Studie von Levy/Murnane (2004) einen US-amerikanischen Arbeitsmarkt, an dessen Extremen (d.h. besonders hoch und besonders niedrig qualifizierte Positionen) immer mehr Stellen geschaffen werden, während gerade im mittleren Qualifikationsbereich (soweit die vorgesehene Tätigkeit nach klaren Regeln

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Cf. u.a. Bezeichnungen wie Director Human Resources für den Personalleiter, Purchasing Manager für den Einkäufer oder Key Account Manager für den Großkundenbetreuer (sowie viele weitere in Konstroffer 2004), die durch die (tatsächliche oder vermeintliche) Aufwertung des Mitarbeiters, die Steigerung seines Selbstwertgefühls und den Beitrag zur internationalen Verständigung auch betrieblichen Zielen dienlich sind und z.B. die Leistungsmotivation des Angestellten erhöhen oder als «‹Türöffner› beim Verkaufen» fungieren können (Konstroffer 2004, 562). Zum Englischen cf. Neaman/Silver: «They may […] then describe themselves as being between shows. […] Unemployed professionals or managers would describe themselves as being between jobs, in a consultancy, freelancing, or even resting. […] Special consideration is sometimes offered the less fortunate by British cinemas and theaters which advertise half-price tickets for the unwaged» (1991, 295).

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funktioniert) viele Aufgaben durch Computer übernommen bzw. ins Ausland verlegt werden können.387 Aufgrund der Zunahme ehemals wenig prestigeträchtiger Arbeiten einerseits und ihrer sozialen Stigmatisierung andererseits erreicht die schon lange praktizierte Umbenennung solcher Tätigkeiten heute denn auch eine besondere Relevanz. Daher sind es die Euphemismen zur aufwertenden Bezeichnung von Berufen, die nach Crisafulli in Italien unter den politisch korrekten Neuschöpfungen am meisten Anklang gefunden haben: «Forse gli eufemismi che hanno attecchito di più sono quelli che riguardano le professioni» (2004, 42), was auch Maurizio Trifone bestätigt: «La ridefinizione in senso eufemistico è andata crescendo negli ultimi anni soprattutto nel campo delle professioni, in cui è sistematica la sostituzione di una terminologia che nel tempo ha assunto una connotazione vagamente dispregiativa o che magari implica una bassa considerazione nella scala sociale: è risaputo il caso di operatore ecologico per ‘spazzino’; ma gli esempi potrebbero essere tanti: assistente alle vendite ‘commesso’, collaboratrice familiare o colf ‘domestica’, collaboratore scolastico ‘bidello’, operatore telefonico ‘centralinista’» (Trifone 2006, 226).

Ebenso stellen Bencini/Manetti fest: «Negli ultimi anni, mentre alcuni lavori sono scomparsi, per altri, che pure sono rimasti più o meno uguali, sono cambiati i nomi usati per individuarli; così i bidelli sono diventati dapprima operatori scolastici o operatori orizzontali e poi collaboratori scolastici; gli autisti nel mondo della moda diventano driver […]; e persino le prostitute sono chiamate, più genericamente, operatrici del sesso oppure, usando un’espressione inglese, sex worker. E ancora: i controllori sugli autobus sono oggi verificatori, i vetrinisti visual merchandiser […] i giardinieri si chiamano tutor delle aree verdi, mentre l’insieme delle attività delle persone che con il loro lavoro offrono aiuto a chi soffre (dai medici agli intermieri, dagli psicologi agli assistenti sociali) viene indicato con l’espressione help professions» (2005, 287).

So wird also der bidello zum collaboratore scolastico, der spazzino oder netturbino zum operatore ecologico (unmarkiert in Z), der portantino zum operatore sanitario, der infermiere zum paramedico, der contadino zum coltivatore diretto (unmarkiert in Z) und die donna delle pulizie zunächst zur signora delle pulizie, dann zur collaboratrice domestica und zur collaboratrice familiare bzw. colf (unmarkiert in Z), denn «l’eufemismo è nobilitante. Un operatore ecologico preferirà portare questo nome piuttosto di scopino, spazzino o (a Roma) un eventuale monnezzaro» (Beccaria 2006, 48). Die Wirkungsabsicht dieser Umbenennung als Imageaufbesserung beschreibt Marazzini:

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Cf. das Diagramm, das für die Kategorien einfache Dienstleistungen («service workers»), Verkauf («sales related occupations»), Techniker («technicians»), Experten («professional occupations») und Management («managers and administrators») einen klaren Zuwachs gegenüber 1969 zeigt, für Arbeiter («blue collar workers») und Büroangestellte («administrative support workers») hingegen einen deutlichen Rückgang verzeichnet (2004, 42).

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«[…] un manifesto affisso nel 1997 sui muri di Torino dall’Azienda per la raccolta rifiuti portava appunto lo slogan ‹Spazzino sarai tu› sopra la fotografia di una bella ‹operatrice ecologica›, credo con l’intento di migliorare l’immagine dei dipendenti dell’azienda di fronte ai cittadini e di fronte a se stessi» (1999, 223).

Dabei wird der Verlust liebgewonnener Ausdrücke (hier von it. bidello)388 v.a. dann kritisiert, wenn die Ersatzwörter oktroyiert erscheinen: «[…] l’eufemismo, il dire, cioè, con attenuazione perfino affettuosa e talvolta affettata, qualcosa di più gentile per un termine crudo, nelle lingue c’è sempre stato e sempre ci sarà; ma quando è la burocrazia, il linguaggio ufficiale a intromettersi, è cosa quanto mai deprimente. Evviva dunque il vecchio bidello, la cui denominazione ha una storia del tutto rispettabile, mentre questo collaboratore o operatore mi sanno tanto di muffa, di stantio, di rimasticato da farmi sembrare di vivere non fra persone civili ma in una società piena di etichette e di numeri in un anonimato che riproduce continuamente se stesso» (Bolelli 1993, 132).

Für das Französische nennt Merle employée de maison für bonne und kommentiert: «Ce ‹socialement correct› a été un des premiers à connnaître une vraie belle carrière» (1993, s.v. employée de maison). Ferner ist an cultivateur anstelle von paysan und viticulteur statt vigneron denken,389 eventuell auch an die bei Boulanger belegten Ausdrücke technicien de surface ‘balayeur de rues’, technicien du ravitaillement en combustible ‘bûcheron’, ingénieure domestique ‘ménagère’ (2000, 323). In den Korpora finden sich fr. assistante anstelle von sécrétaire und it. operatore carcerario anstelle von secondino. (ii) Von der statischen zur dynamischen Bezeichnung «weniger entwickelter» Länder In den Rahmen der Förderung des Selbstbewusstseins gehört neben der sprachlichen Aufwertung einzelner Personen oder Berufe auch diejenige von Ländern, die ehemals unter dem Begriff der dritten Welt (cf. fr. tiers-monde, it. terzo mondo) zusammengefasst wurden, der inzwischen (neben der un-

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Cf. ähnlich zu paramedico: «La storia di chiamare paramedici gli infermieri proprio è difficile da digerire. Non ci sono i paravvocatie i paraingegneri solo perché avvocati e ingegneri non sono, se non in minima parte, dipendenti dello Stato, ma si arriverà forse ad avere i paraprofessori se a qualcuno viene in mente di qualificare così non dico i ricercatori ma i sempre più rari bidelli» (1993, 100s.). Cf. auch schon Beauvais, der den «pédantisme du parler à la mode» (1970, Buchrückseite) stigmatisiert: «Le syndrome du garde champêtre, on le retrouve dans le processus qui a fait disparaître du langage ‹vigneron› au profit de ‹viticulteur›. Il se renforce ici du prestige de la technicité. Mais voici le viticulteur dépassé: la publicité qui s’étale sur les camions de livraison de telle vedette viticole de la nouvelle vague nous enseigne que ce producteur se distinguant des vulgaires viticulteurs, ses confrères, s’est promu œniculteur» (1970, 10).

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zulässigen Zusammenfassung sehr unterschiedlich entwickelter Länder)390 aufgrund der globalen Vernetzung und der implizierten Hierarchie zwischen einer ersten und einer dritten Welt häufig vermieden und in bestimmten Kontexten durch den Gedanken der «einen» Welt ersetzt wird.391 Für die Einzelbezeichnung der ärmeren oder als unterentwickelt bzw. rückständig bezeichneten Länder wurden ferner Adjektive verwendet (cf. fr. pays sous-développé, it. paese sottosviluppato), die Ausdruck einer statischen Haltung sind, in der das Sich-Abfinden mit der Situation, die Hoffnungslosigkeit gegenüber einer Besserung zum Ausdruck kommt. Dass diese sprachliche Perspektivierung wenig motiviert, auf Änderungen zu drängen, ist einleuchtend. Auf diesem Hintergrund sind die Ausdrücke dt. Entwicklungsland, fr. pays en voie de développement, P.V.D., in gewisser Weise auch pays les moins-avancés, P.M.A. (allerdings alle unmarkiert in PR) und markiertes it. paese in via di sviluppo – bei aller Kritik an der mythologisch-ideologisch belasteten Entwicklungs-Idee (cf. Wesel 1991, 71s.) – Zeichen eines psychologisch wichtigen dynamischen Verständnisses der Situation und Ausdruck der Hoffnung auf die Möglichkeit positiver Veränderungen. (iii) Der pragmatische Nutzen Während sich manch eines der supra genannten Ersatzwörter für Berufsbezeichnungen durchaus zur Ironisierung eignet bzw. möglicherweise sogar in ironisierender Absicht kreiert wurde, ist schließlich auch auf den durchaus praktischen Nutzen dieser Tendenz hinzuweisen. So führt M. Scott in seinem

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PR definiert tiers-monde als «ensemble des pays en voie de développement» (PR, s.v. tiers-monde). Z stigmatisiert it. terzo mondo indirekt, wenn er auf die heute notwendige weitere Differenzierung innerhalb der ehemaligen «dritten Welt» verweist: «dagli anni 1950–60, l’insieme delle nazioni dell’Asia, Africa e America Latina, caratterizzate da arretratezza e che non appartenevano né al mondo occidentale né a quello socialista; oggi si distingue tra le nazioni che hanno superato la soglia dell’arretratezza, quelle che possiedono risorse naturali, come il petrolio, e quelle che ne sono prive e vengono quindi considerate povere» (Z, s.v. terzo) und verweist auf it. quarto mondo: «insieme di nazioni dell’Asia, Africa e America latina, che, essendo pressoché prive di risorse naturali, hanno scarse prospettive di sviluppo e sono considerate perciò più povere di quelle del Terzo mondo» (Z, s.v. quarto). Nach Wesel wurde der Ausdruck vierte Welt «für die ganz schlimmen Dinge […] erfunden, damit die außenpolitisch und weltwirtschaftlich ernstzunehmenderen ‹Drittweltländer› ordentlich repräsentiert sind» (1991, 72). Cf. dt. Weltladen (fr. boutique du monde, it. bottega del mondo), das ebenso wie früheres Dritte-Welt-Laden Verkaufsstellen bezeichnet, die dem fr. commerce équitable et solidaire bzw. it. commercio equo e solidale gewidmet sind. Mit der Bezeichnungsänderung einher geht häufig auch eine sachlicher Unterschied, ist doch die boutique du monde tendenziell anspruchsvoller ausgestattet als es für Dritte-Welt-Läden üblich war. Doch bleibt der Grundgedanke des fairen Handels, der nicht zuletzt auch im Vermeiden von dt. Geschäft, fr. magasin, it. negozio gesehen werden kann.

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Kapitel zu «Wie delegieren Sie sinnvoll?» z.B. aus, dass eine lexikalische Aufwertung der Bezeichnung für ‘Sekretärin’ es dieser erleichtert, besondere Stärken zu erkennen, was gerade durch die nötige Neudefinition ihrer Aufgaben im Zeitalter der Technisierung zunehmende Bedeutung erlangt: «Ich habe in diesem Kapitel bewusst den Ausdruck ‹untergeordnet› vermieden, weil darin hierarchische und elitäre Untertöne mitschwingen – er suggeriert Unterwürfigkeit und Abhängigkeit, die Zugehörigkeit zu ‹niederem Rang›, und ist emotional absolut negativ belastet. Sie würden nicht gerne in diese Kategorie gestellt, muten Sie es also auch anderen nicht zu. In einem modernen Unternehmen ist der Beitrag jedes Einzelnen entscheidend für den Erfolg des Teams, und wir sollten den entsprechenden Wortschatz dafür entwickeln. Beim Wort ‹Sekretärin›, so wie es sich eingebürgert hat, denken wir an eine ‹Angestellte, die die Korrespondenz abwickelt›, was es uns eher erschwert, größeres Potenzial zu erkennen. Lernen Manager langsam, die Computer auf ihren Schreibtischen selbständig zu bedienen, dann werden die herkömmlichen Sekretariatsaufgaben an Bedeutung verlieren. Vielleicht sollte man an eine neue Berufsbezeichnung denken, zum Beispiel ‹Büromanagerin›, damit die sich wandelnde Rolle der Sekretärin leichter ersichtlich ist» (2006, 153).

Doch selbst wenn keine Neudefinition der Aufgabenfelder mit der Umbenennung verbunden ist, mag sich die als Büromanagerin oder Mitarbeiterin bezeichnete Dame wohler fühlen als die Sekretärin, die Haushaltshilfe oder auch Zugehfrau besser als die Putzfrau und der Landwirt besser als der Bauer. Ferner wird zwar manch ein Privatmann auch seine Zugehfrau von oben herab behandeln, die Wahrscheinlichkeit, dass mit der sensibleren Benennung auch ein sensibleres Verhalten als gegenüber der «Putze» einhergeht, ist jedoch durchaus gegeben. Beide Aspekte haben sicherlich u.a. auch für Behinderte Gültigkeit. Ähnlich wie neurolinguistisch bekanntermaßen eine dynamische Sicht und Schilderung der eigenen Krankheit (unter vorzugsweiser Verwendung von Verben) gegenüber der statischen Beschreibung (unter vorzugsweiser Verwendung von Substantiven) Hoffnung ausdrückt und deren Heilung mitbewirken kann, gilt auch für die Bewohner von Entwicklungsländern durch die sprachlich-dynamische Bezeichnung das Prinzip der Hoffnung, zumindest sofern die Bezeichnungsveränderung nicht alleine steht, sondern die internationale Hilfe überzeugend und kontrolliert an der richtigen Stelle verwendet wird. 5.3.5 Resümee Der als Politische Korrektheit bezeichnete neuere sprachliche Tabuisierungsschub hat seinen Ursprung in intellektuellen Kreisen marxistischmaoistischer Prägung der USA. Im Zentrum stand zunächst die soziale Benachteiligung ethnischer Minderheiten, die abgesehen von der Anpassung der Curricula auch durch die Quotierung der Hochschulzulassung zu korrigieren versucht wurde, wie sie durch den Ausschluss des Kriteriums Rasse erst 2007 vom Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurde 366

(5.3.1). Die in der Zwischenzeit erfolgte Ausweitung des Begriffs auf alle möglichen «Minderheiten» und denkbaren «Diskriminierungen» führte bereits in den USA zu kontroversen Diskussionen bis hin zur Ridikülisierung des Begriffs, die zwangsläufig verschiedene Sinnfragen aufwarf und daher Themen wie die prinzipielle Infragestellung ideologiefreier Sprache erörtern ließ, die aber auch die nicht nur für Vertreter der Mehrheit, sondern auch für Angehörige der Minderheit tendenziell nachteiligen Konsequenzen einer Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung betrachten und dem generell gültigen Argument euphemistischer Ersatzspiralen die Modifikatorfunktion des Denkens gegenüberstellen ließ (5.3.2). Der Unschärfe und Ausweitung des Begriffs entsprechend ist seine Rezeption in Europa eher zurückhaltend und durch eine kritische Distanz bestimmt, die v.a. mit den grundverschiedenen soziokulturellen Verhältnissen zu erklären ist. So liegen z.B. beim Thema Rasse bzw. Rassismus in Frankreich und in Italien auch zwei unterschiedliche eigene Traditionen vor, die lediglich onomasiologisch von den USA beeinflusst erscheinen (5.3.3). Auf ihre historische Betrachtung in beiden Ländern folgten zunächst Überlegungen zur korrekten Bezeichnung Farbiger in der Gegenwart, an die sich Ausführungen zum sprachlichen Umgang mit den Bereichen physische Einschränkungen und Alter anschlossen. Ebenso wie Rasse stehen diese in einem historischen Kontext, der jeweils im Überblick dargestellt wurde und mit der heute praktizierten Rücksichtnahme auf die Benannten durch sprachlich differenzielle und nicht mehr defizitäre Beschreibung endete. Nach der Überwindung der Strafbarkeit ihrer sexuellen Orientierung können heute auch Homosexuelle sprachlich respektvolles Verhalten erwarten, das ebenso dargestellt wurde wie die Aufwertung des Selbstbewusstseins der Werktätigen durch eine neue positive Berufsbezeichnung und die Benennung von Entwicklungsländern mit eben diesem dynamischen Ausdruck, anstelle der statischen Einstufung als unterentwickelt (5.3.4).

5.4

«Ethik ohne Moral». Profit- und Profilierungsdenken im öffentlichen Leben Auferre trucidare rapere falsis nominibus imperium, atque ubi solitudinem faciunt, pacem appellant. Cornelius Tacitus

Die in 5.3 behandelten Euphemismen dienen in erster Linie dazu, die betreffenden Personen nicht zu verletzen, und sind damit vom moralischen Standpunkt aus in der Regel392 nicht zu kritisieren. Im Gegensatz zu ihnen

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Crisafulli z.B. stellt aber die Frage, ob eine derartige Rücksichtnahme tatsächlich allen Minderheiten zukommen soll: «E perché mai dovremmo urtare la suscetti-

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stehen die im Folgenden zu behandelnden Euphemismen, die in dieser Studie unter dem Etikett «Ethik ohne Moral» subsumiert werden, wobei Ethik allgemein und damit im Sinne von gr. ἦθος als Verhaltenskodex zu sehen ist, mit dem nicht zwangsläufig ein wertendes Urteil verbunden wird,393 und Moral wiederum nicht im weiteren Sinne von lat. mos, sondern verengt auf die gute Absicht zu verstehen ist.394 Das Fehlen von Moral ergibt sich, «when an euphemism is used to mislead or deceive» (Lutz 1989, 2s.), d.h. durch die mit den euphemistischen Ausdrücken verbundene Täuschungsabsicht des Sprechers, durch die Veränderung der semantischen «Wahrheit» (cf. 5.4.1.3) der tabuisierten Benennung: «Un altro uso strumentale è quello politico, in cui addirittura serve non più ad evocare un concetto, ma a riferirvisi, alterandone la verità e, attraverso l’avvicinamento con un altro concetto, a mascherarlo per quello che non è» (Galli de’ Paratesi 1964, 9; 1969, 16).

Ähnlich wie die Aktualität der Thematik unter 5.3 ist auch hier die heutige Brisanz des von alters her bekannten Phänomens (cf. 5.4.2.2i) Grund genug, es trotz oder gerade wegen der nur wenigen lexikographisch markierten Euphemismen ausführlicher aufzugreifen, zumal es einen nicht unter moralischem Vorzeichen stehenden eigenständigen Bereich euphemistischer Sprachverwendung repräsentiert. 5.4.1

Definitorische Fragen

5.4.1.1 Die Notwendigkeit der Abgrenzung zur Politischen Korrektheit Von dem, was gemeinhin unter Politischer Korrektheit verstanden wird, ist hier also ein taktisch geschickter Sprachgebrauch abzutrennen, der aufgrund seiner im weitesten Sinne politisch (staats- bis individualpolitisch) motivierten Sprachbeeinflussung oft aber auch mit dem Epitheton politisch

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bilità di chi ha preferenze sessuali al di fuori della norma (maniaci sessuali, sadomaso, pedofili ecc.)?» (2004, 43). Ein moralisches Urteil erfolgt demgegenüber im Falle einer Gleichsetzung von unethisch und unmoralisch, so z.B. bei Bramer, der die Frage stellt, «Is doublespeak unethical?», und daraufhin ausführt, «ethical judgments about lying are also applicable to doublespeak. Because both are deceptive language, I believe both are properly judged by the same principles. Thus, the essential question here is whether or not deceptive language is unethical. […] My tentative answer is that doublespeak, like all deceptive language, is unethical, or immoral» (1989, 69). Es geht damit um eine gemeinwohlorientierte Moral und nicht um individuelle Geschäfts- bzw. Wohlstandsmoral, deren Auseinanderdriften in den fünfziger Jahren von Galbraith beschrieben (cf. 1984) und jüngst mit der Bankenkrise von 2008 noch einmal besonders augenfällig wurde. Ebenso wenig ist die gutbürgerliche Moral angesprochen, die Moralvorstellungen im sexuellen Bereich oder Umgangsregeln wie die Vermeidung des Kontaktes zu Häftlingen betrifft.

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beschrieben wird. Doch während es bei der Politischen Korrektheit um den sprachlichen Schutz unterschiedlicher Minderheiten geht, steht hier die Verschleierung der direkten Bezeichnung des Geschehens oder Sachverhalts im Vordergrund. Bei der Politischen Korrektheit mag darüber diskutiert werden, ob die Sprachkosmetik eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation beinhalten kann oder ob sie als Oberflächenkorrektur womöglich sogar zu einer Festigung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse beiträgt (cf. 5.3.2.3); im Grunde ist ihre Intention aber zumindest aus einem aufgeklärt-westlichen Verständnis heraus ethisch wertvoll. Demgegenüber fallen die in diesem Kapitel interessierenden Euphemismen teilweise unter das, was mit William Lutz als doublespeak benannt wird: «Doublespeak is language that pretends to communicate but really doesn’t. It is language that makes the bad seem good, the negative appear positive, the unpleasant appear attractive or at least tolerable. Doublespeak is language that avoids or shifts responsibility, language that is at variance with its real or purported meaning. It is language that conceals or prevents thought; rather than extending thought, doublespeak limits it» (Lutz 1989, 4).

Inspiriert wurde Lutz bei der Bezeichnungswahl von dem in Nineteen EightyFour (Orwell 1949) beschriebenen newspeak, d.h. von Vorgaben, mit denen Sprache zu Propaganda-Zwecken missbraucht und damit das Denken unterbunden sowie die Kontrolle der Bürger erreicht wird. Damit einher geht der Versuch, die Verbindung zwischen Ausdruck und Bedeutung aufzuheben,395 was im Roman die Dogmen der Partei einerseits bedeutungslos, dadurch andererseits aber auch unantastbar machen soll. Mit dem vorgegebenen Newspeak verbunden ist ein doublethink, erklärt als: «[…] to be conscious of complete truthfulness while telling carefully constructed lies, to hold simultaneously two opinions which canceled out, knowing them to be contradictory and believing in both of them, to use logic against logic, to repudiate morality while laying claim to it» (Orwell 1949, 36).

Gerade auch weil sich Kritiker an der Politischen Korrektheit den Gleichklang zwischen politisch korrekter Sprache und der Sprache bestimmter Politiker396

395 396

So erklärt sich auch die Akzeptanz eines Dogmas wie «war is peace» und weiterer klassischer Widersprüche, die zu «Wahrheiten» wurden. Lutz erklärt dies mit einer Orientierung der Politiker an der öffentlichen Meinung und zwei zu vereinbarenden Welten: «Now […] politicians have market researchers who take polls and conduct focus groups to find out what people think, what they want, or what they think they want. The results of this research become the beliefs, principles, and visions of politicians. […] I do not mean that politicians change their beliefs and principles to accommodate polls and focus groups […]. No, what I mean is that politicians adjust their beliefs to the results of the polls and focus groups

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immer wieder zu Nutze machen,397 ist es essentiell, den klaren Unterschied zwischen den beiden in unterschiedlichem Ausmaß problematischen398 und in keiner Weise gleichzusetzenden Phänomenen im Auge zu behalten. Dabei ist auch die Differenzierung von Lutz hilfreich, die er trifft, wenn er den Euphemismus als «an inoffensive or positive word or phrase used to avoid a harsh, unpleasant, or distasteful reality» erklärt und präzisiert: «When you use an euphemism because of your sensitivity for someone’s feelings or out of concern for a recognized social or cultural taboo, it is not doublespeak. […] However, when a euphemism is used to mislead or deceive, it becomes doublespeak. […] This use of an euphemism constitutes doublespeak, since it is designed to mislead, to cover up the unpleasant. Its real intent is at variance with its apparent intent. It is language designed to alter our perception of reality» (Lutz 1989, 2s.)

5.4.1.2 Die Unterschiede zum doublespeak Nach diesen Übereinstimmungen mit Lutz ist zu präzisieren, warum sein Begriff nicht geeignet ist, für die hier unter «Ethik ohne Moral» klassifizierten Euphemismen übernommen zu werden. So umfasst doublespeak vier verschiedene Erscheinungsformen: (1) Euphemismen, die in Täuschungsabsicht verwendet werden, (2) Fachsprache im Gespräch mit Laien, (3) komplizierte Verwaltungssprache (gobbledygook/bureaucratese) und (4) «aufgeblasene» Sprache, um Normales außergewöhnlich erscheinen zu lassen. In diesen Kategorien werden zweifellos sehr unterschiedliche Bereiche kombiniert. Vor allem der erste Komplex ist weitgehend mit «Ethik ohne Moral» identisch, während die wiederum in sich heterogenen und gleichzeitig nicht klar von anderen abgrenzbaren Gebiete zwei und drei für die Ausdifferenzierung dieser Arbeit wenig hilfreich sind,399 auch wenn gerade

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by using doublespeak. Thus, politicians live in two worlds: the world of what they believe and the world they want the public to think they believe» (1996, 151s.). Cf. z.B. R. Hughes, der nach der (supra unter 5.3.2.3i, p. 298 bereits zitierten) Aussage «the usual American response to inequality is to rename it, in the hope that it will then go away» (1993, 17s.) mit einem vielzitierten Kommentar Orwells zur «political language» fortfährt (Orwell 1946, 265; cf. p. 386 n. 433). Doch überrascht dies insofern kaum, als R. Hughes von einer eigenen Form Politischer Korrektheit spricht, die der Rechten zu eigen sei: Patriotic Correctness, «designed to veil unwelcome truths» (1993, 28). Ein immer wiederkehrendes Thema, das im Sinne politischer und patriotischer Korrektheit diskutiert wird, sei z.B. der Multikulturalismus (1993, 83). Cf. hierzu auch Hahn: «An unnocuous example of a euphemism which uplifts humanity without creating any obvious danger is renaming garbage collectors sanitation engineers. While it may be rather strange semantics, the renaming brings with it no moral or ideological destructiveness» (1989, 114). Cf. zur Kategorie zwei: «when a member of a specialized group uses its jargon to communicate with a person outside the group, and uses it knowing that the nonmember does not understand such language» (Lutz 1989, 4) und zu drei:

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das burocratese in Italien besonders stark kritisiert wird (cf. supra p. 133s.). Dabei sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf den vieldiskutiertenen400 Hinweis an italienischen Mautstellen «La riscossione del pedaggio viene effettuata dal lato in cui opera l’esattore» verwiesen, dessen Kernaussagen an US-amerikanischen Highways durch einfaches «Pay here» wiedergegeben wird. In Kategorie vier wird «inflated language» beschrieben wird als «[…] designed to make the ordinary seem extraordinary; to make everyday things seem impressive; to give an air of importance to people, situations, or things that would not normally be considered important» (1989, 6).

Sie beinhaltet damit auch die von uns supra dargestellten aufwertenden Berufsbezeichnungen, die aus moralischer Perspektive von neutral bis positivsinnvoll zu werten sind, in der Regel aber keinen Schaden anrichten und wie z.B. dt. Parkettkosmetikerin ‘Putzfrau, Zugehfrau’ schlimmstenfalls Gelächter hervorrufen. Unter doublespeak fasst Lutz ferner auch den sogenannten AIDSpeak mit Bezeichnungen wie people with AIDS ‘AIDS victims’, sexually active ‘promiscuous’, bodily fluids ‘semen’ oder gar exposed ‘infected’, in denen Lutz primär den Aspekt der Irreleitung sieht. Dabei merkt er an, dass es mit dieser Wortwahl darum gehe, «never to offend the moral or political sensibilites of the public, politicians, and members of the gay community» (1989, 67),401 was sie aus der hier vertretenen Perspektive als rücksichtsvolle Ausdrücke werten lässt. Im Gegensatz hierzu kann «inflated language [...] to make the simple seem complex» in Täuschungsabsicht aber auch zu Gunsten einer hohen Preisgestaltung verwendet werden und ebenso sind weitere von Lutz in Kategorie vier angeführte Beispiele wie career alternative enhancement program ‘Massenkündigungen’, rapid oxidation ‘Feuer im Kernkraftwerk’ oder auch pre-emptive counterattack ‘Erstschlag der eigenen Truppen’ (1989, 6) durchaus der Verschleierung eines morallosen Verhaltenskodexes zuzurechnen, weswegen die spätere Behauptung, «inflated language» sei doublespeak «at its least offensive», überrascht (1989, 9).

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«such doublespeak [gobbledygook or bureaucratese] is simply a matter of piling on words, of overwhelming the audience with words, the bigger the words and the longer the sentence the better» (Lutz 1989, 5). Cf. (1994, 365), zitiert u.a. in Trifone (2006, 234) und Tosi (2001, 93) sowie ähnlichen Hinweis bereits in Baldini (1989, 112). Daher stellt sich hier die Frage des Widerspruchs mit der supra bereits zitierten Aussage: «When you use a euphemism because of your sensitivity for someone’s feelings or out of concern for a recognized social or cultural taboo, it is not doublespeak» (Lutz 1989, 2).

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5.4.1.3 Sprachtäuschung, Lüge und die Frage der Relation zwischen Bezeichnung und Realität Supra ist schon angeklungen, dass es bei den Euphemismen «ohne Moral» um eine bewusste Sprachtäuschung geht. Doch stellt sich die Frage, ob mit Euphemismen nicht generell eine gewisse Täuschungsabsicht verbunden ist. In Harald Weinrichs bekannter Abhandlung zur Linguistik der Lüge ist zu lesen, dass es sich bei Euphemismen, wie bei den meisten rhetorischen Figuren, streng genommen um sprachliche Lügen handle.402 Zu einem solchen Urteil kommt in gewisser Weise auch Gibson, wenn er Metaphern und Ironie unter doubleness aufführt,403 also unter einer Kategorie, bei der der Begriff der Lüge ebenfalls nahe liegt. White fürchtet gerade die «more subtle, pernicious, and pervasive power of singlespeak» (1989, 52), d.h. die Gefahr, die von einfach formulierten Wahrheiten ausgeht, die unter der «mask of rude virtue» der Verschleierung noch viel besser als doublespeak dienen (cf. supra p. 134 n. 36, zur Sprache von Politikern), und merkt den auf den ersten Blick bzw. durch Laien herstellbaren Zusammenhang zwischen doublespeak und Verfahren uneigentlichen Sprechens an: «To many of our students cursed with singlespeak, our admiration for such verbal reflections of complexity as irony, metaphor, and literature itself, appears to be admiration of doublespeak. Why can’t Swift just say what he means?» (1989, 49).

Doch steht einer Gleichsetzung von Euphemismen und Lüge die generelle Einsicht entgegen, dass Sprache selbst nicht zu lügen vermag, sondern nur der Sprecher lügen kann. Die Frage, ob es sich bei einer Aussage um eine Lüge handelt, kann demnach auch kaum auf Wortebene, sondern in der Regel nur unter Berücksichtigung des Kontextes der Wortverwendung, des Weltwissens der Beteiligten, der Motive des Sprechers und weiterer Faktoren entschieden werden.

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Cf. Weinrich: «Sprachliche Lügen aber sind, wenn man die Dinge genau nimmt, die meisten rhetorischen Figuren wie Euphemismen, Hyperbeln, Ellipsen, Amphibolien, die Formen und Formeln der Höflichkeit, Emphase, Ironie, Tabuwörter, Anthropomorphismen usw. Der Wahrheit bleibt in der Sprache nur eine schmale Gasse» (1974, 12). Dabei kann gerade mit Blick auf die Arbeit der Preziösen (cf. 5.2.2.2) der Ausdruck Lüge für die Verwendung von rhetorischen Figuren nicht zutreffen. Schließlich ging es den Frauen darum, die Quintessenz des zu Bezeichnenden herauszudestillieren. Die Arbitrarität der natürlichen Sprache vorausgesetzt, konnte das teilweise auch rhetorische Mittel heranziehende Vorgehen der Preziösen gerade die Verbindung zwischen Ausdruck und Bezeichnetem neu motivieren und damit den Wahrheitsgehalt der Sprache steigern. Cf.: «Doubleness […] is of course a familiar gambit in modern life, and it’s no doubt especially endemic among literary intellectuals. We treasure metaphor and irony for their balancing of different or opposing ideas in various relations of ambivalence and ambiguity» (Gibson 1989, 11).

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Was unterscheidet nun aber die Euphemismen «ohne Moral» von anderen? Nach Gibson sind zwar alle Euphemismen ungenau, manche aber harmlos, andere gefährlich.404 Damit trifft er eine Unterscheidung, deren Kriterium der «Gefahr» im Zweifelsfall schwer greifbar ist. Zur genaueren Differenzierung der beiden Typen von Euphemismen ist es hilfreich, den Begriff der Lüge selbst zu hinterfragen. Allgemeinsprachlich wird mit ihm eine Aussage bezeichnet, die zum einen der Wahrheit widerspricht und die der Sprecher zum anderen ganz bewusst mit der Absicht der Täuschung trifft.405 Dies ist bei den supra genannten Euphemismen nicht der Fall, bei denen der Hörer den Euphemismus in dem Sinne verstehen soll, in dem ihn der Sprecher verwendet hat; wohl aber bei den Euphemismen «ohne Moral», bei denen der Realitätsbezug des tabuisierten Ausdrucks verloren geht bzw. bewusst ausgeschaltet wird, da im Signifikat der neuen Bezeichnung ein anderer, für den Sprecher opportuner, aber den Hörer zumindest zunächst irreführender Realitätsbezug vorliegt. Dabei wird z.B. ein Geschehen oder ein Sachverhalt von einer anderen Warte aus beschrieben, wodurch unübliche Merkmale zur Bezeichnung ausgewählt werden. Während also andere Euphemismen den zu vermeidendenden Ausdruck formal verändern oder durch einen Perspektivenwechsel den Bezug zur nach wie vor erkennbaren Realität nur modifizieren, wird dieser in den diesem Kapitel zugeordneten Euphemismen aufgehoben. Sprachtäuschung besteht nach der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Definition somit nicht in der sprachlichen Neuperspektivierung eines darin noch erkennbaren tabuisiert Bezeichneten, sondern im Verlust dieser Erkennbarkeit, wodurch eine andere Realität als Bezugspunkt bewusst vorgetäuscht wird. Zwar könnte die Täuschungsabsicht in der Verwendung von Euphemismen generell in Frage gestellt werden, denn der Sprecher intendiere «ja mit seinem ‹anders› sagen sehr wohl, richtig, nur eben auf eine schonende Weise, verstanden zu werden» (Lebsanft 1997, 115), doch ist dieses Verstandenwerden beim «Euphemismus ohne Moral» durch den Bezug auf eine andere Realität nicht mehr prinzipiell gewährleistet. Wenn z.B. Hitler in einem Erlass (cf. L. Wolf 1977, 47) gegen die den Rassismus auf die Sprache übertragende Deutschtümelei, die Übersetzung aller Fremdwörter ins Deutsche (z.B. dt. Euthanasie), klar sagt, das Volk brauche Fremdwörter, so geht es hier unbestritten um die verschleiernde Funktion von Euphemismen. Dass dieses Verschleiern letztendlich nicht nur der Gesichtswahrung

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Cf.: «The problem is that euphemisms are inherently inaccurate, but inaccuracy is not inherently dangerous. An inaccuracy which leads us to act more humanely may be beneficial, while one that leads to an inappropriate solution is obviously harmful» (Gibson 1989, 113s.); cf. auch supra 2.2.2ii zu Funktionen des Euphemismus. Cf. z.B. PR: «assertion sciemment contraire à la vérité, faite dans l’intention de tromper» (s.v. mensonge).

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des Sprechers, sondern womöglich auch der Schonung des Hörers dienen kann, ändert nichts an der grundsätzlich präsenten Absicht der Täuschung des Adressaten. 5.4.1.4 «Ethik und Sozialpolitik» oder «Ethik ohne Moral» als Frage der Perspektive Unter der Prämisse, dass Sprache das Denken bis zu einem gewissen Grade beeinflusst (cf. 5.3.2.3ii), dienen zwar alle Euphemismen aus 5.3 und 5.4 dazu, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verändern. Doch konnte supra bereits gezeigt werden, dass es bei der Politischen Korrektheit um den Schutz von unbescholtenen Personen geht, bei «Ethik ohne Moral» hingegen um die Verschleierung von Erscheinungen, die gesamtgesellschaftlich negativ beurteilt werden und deren direkte Benennung daher zu einem Gesichtsverlust des Sprechers, seiner Institution, Firma oder Partei führen könnte. Nun gibt es, wie die folgenden Beispiele zeigen werden, aber Fälle, in denen ein Wort je nach Verwendungskontext entweder schützen oder auch verschleiern kann. (i) Armut Ein Bereich, in dem dieses Dilemma besonders hervortritt, ist das weite Feld der Armut, das besonders euphemismenreich ist:406 So steht zur Beschreibung von Obdachlosigkeit beispielsweise engl. residentially challenged (it. svantaggiato, -a da un punto di vista residenziale),407 underhoused, involuntary undomiciled (it. involontariamente privo, -a di domicilio). Zur Vermeidung von engl. slum oder ghetto kann inner city (it. centro storico) und substandard housing (it. case il cui standard è al di sotto della media) verwendet werden, der Arme selbst als engl. deprived (it. deprivato, -a) oder, gebildet nach dem hier völlig deplatzierten Modell des engl. differently abled, als differently advantaged (it. persona avvantaggiata in altri modi) beschrieben werden. Für das Französische ist économiquement faible anzuführen, ferner auch habitations à loyer modéré bzw. HLM oder achelem, wodurch das billiger und damit wertloser klingende habitations à bon marché abgelöst wurde (Corb 1985, 77). Habrekorn (1998, s.v. pauvre) nennt ebenso économiquement faible, zudem défavorisé, -ée, nouveau-pauvre, exclu, -ue (unmarkiert in PR), assisté, -ée (in PR als «péj.» markiert), érémiste (unmarkiert in PR); Boulanger nennt u.a. ci-

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Cf. Ayto: «The shame of poverty makes it a natural target for euphemism. Neither individuals nor nations like to admit that they haven’t enough money and cannot provide for themselves, and a range of alternative strategies has been evolved to avoid the dreaded word poor» (2000, 286). Die italienischen Ausdrücke sind hier wie infra Übersetzungen aus dem Englischen von Crisafulli (2004, 44), die im Italienischen in der jeweiligen Einzelbedeutung teilweise nur spärlich belegt sind.

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toyen socialement sinistré, gens économiquement désavantagés, personne confrontée à un défi économique, personne pécuniairement contrariée (2000, 323). Eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit erhielt der richtige Wortgebrauch in Deutschland in der im Oktober 2006 geführten Diskussion über die «Neue Armut» bzw. konkret über die Angemessenheit der Verwendung des Terminus Unterschicht. Doch wurde die Frage, wie über Armut gesprochen werden soll, schon lange zuvor thematisiert. Bei einem euphemisierenden Umgang mit dem Thema fällt die Stigmatisierung der Betroffenen weg, mit ihr aber gleichzeitig die Verbalisierung und damit Betonung ihres Leidens, was dieses gesellschaftlich akzeptabler erscheinen lässt und damit von einer Handlungsnotwendigkeit in gewisser Weise entbinden kann.408 Damit wird ein bestimmter Personenkreis einerseits geschützt, für den es andererseits durchaus hilfreich wäre, wenn das Dilemma seiner Existenz nicht verschleiert werden würde: «Così riusciremo a cancellare dalla nostra mente l’immagine degradante dell’uomo senza dignità. Se i sensi di colpa scompariranno, si potrà convivere tranquillamente con chi è, semplicemente, più sfortunato» (Crisafulli 2004, 45).

In diesem Zusammenhang sei auch auf die Benennung der in den Kriminalstatistiken auffälligen Banlieues als fr. quartiers sensibles verwiesen (cf. auch supra p. 306), bei der sensible ‘très délicat, qui recquiert une attention, des précautions particulières, à cause des réactions possibles’ eine Lehnbedeutung aus dem Englischen erhalten hat. PR nennt s.v. sensible die Beispiele dossier social sensible, banlieues sensibles, quartier sensible und verweist auf difficile, gibt aber keinen euphemistischen Markierungshinweis. Anders sehen dies z.B. Seguin/Teillard: «[…] quartier sensible. Qu’est-ce que ça veut dire, exactement, sensible? Que le moindre contact rend douloureux ou fait souffrir? Capable de sentiment, d’une vie affective intense? Non négligeable? Tout cela à la fois? Ou rien de tout cela: seulement un de ces euphémismes grotesques […]?» (Seguin/Teillard 1996, 164).

Im Unterschied zu den Euphemismen der ersten Gruppe entspringen diese Bezeichnungen also nicht zwangsweise der Rücksichtnahme auf die Betroffenen, sondern womöglich auch der Gewissensberuhigung der Nicht-Betroffenen oder dem Eigeninteresse von Politikern.409

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Cf. Hahn: «Most euphemisms are neither totally destructive nor totally uplifting. For example, it is more humane to call someone culturally deprived than ‹poor›. However, such a euphemism takes the blood out of the problem; ‹culturally deprived› takes the hunger out of poverty. Euphemisms may make problems more manageable […] but defining the suffering out of a situation may also make the problem more tolerable, thus lessening our inclination to act» (1989, 114). Lutz kritisiert die euphemisierende Sprache über Armut als doublespeak, «designed to distort reality and corrupt thought» (1989, 19), der kaum bemerkt werde oder gar zu Reaktionen führe: «Do you question politicians who don’t speak of

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(ii) Haftanstalt und Häftling Eine ähnliche Doppelfunktion haben manche Euphemismen aus dem Bereich «Haftanstalt und Häftling», die einerseits die Scham der Inhaftierten mindern können, andererseits aber auch die Scham der Gesellschaft über die von ihr teilweise selbst zu verantwortende Kriminalität in ihren eigenen Reihen.410 Crisafulli, der hier die zeitgenössischen Euphemismen engl. detention facility (it. struttura per la detenzione) oder engl. client of the correctional system (it. cliente del sistema penitenziario) anprangert, sieht in solchen Wörtern v.a. den zweiten Aspekt: «[…] tale proposta non mira a salvaguardare la dignità di chi finisce dietro le sbarre, cosa che non importa a nessuno, bensì a ‹normalizzare›, agli occhi del cittadino americano, una situazione allucinante: negli Usa i carcerati sono una moltitudine» (Crisafulli 2004, 45).

Diese Interpretation ist auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass der Rückgriff auf abschwächende Ausdrucksweisen hier bereits die Entstehung heutiger «Normalbezeichnungen» des Häftlings im Italienischen und Französischen kennzeichnet, die bekanntlich nicht auf lat. captivus zurückgehen, das sich in Italien zu it. cattivo, -a ‘böse’, in Frankreich wohl unter Einfluss der Augustinischen Gnadenlehre zu fr. chétif, -ve ‘erbärmlich’ entwickelt hat, sondern wie . detenu, -ue, it. detenuto, -a Entlehnungen von lat. detinere‘’ sind oder wie fr. delinquent, -ente, it. delinquente auf lat. delinquere ‘einen Fehler begehen’ zurückgehen. Als heutige Euphemismen im Französischen nennt Boulanger – entsprechend it. cliente del sistema penitenziario – fr. client, -e du système correctionnel, zudem bénéficiaire du système correctionnel und individu en voie de réinsertion sociale (2000, 323). (iii) Prostitution Die für die Bereiche «Armut» und «Haftanstalt, Häftling» diskutierte Sicht wird von manch einem auch auf die Prostitution angewandt. So führt sie Crisafulli dazu, den Ersatz von engl. prostitute durch sex care provider (it. fornitrice di servizi sessuali) im Sinne einer Gewissensberuhigung des Bürgertums zu interpretieren: «Questa definizione, che sostituisce whore o prostitute (puttana, battona, prostituta), non è stata messa in circolazione per difendere l’immagine di chi esercita il mestiere più antico del mondo, bensì per tacitare la coscienza dei benpensanti

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slums or ghettos but of the ‹inner city› or ‹substandard housing› where the ‹disadvantaged› live and thus avoid talking about the poor who have to live in filthy poorly heated, ramshackle appartments or houses?» (1989, 19s.). Cf.: «The word prison can be an embarrassment, not just to those who bear the stigma of imprisonment, but also for those in charge of the prison system, who perhaps find it too insistent a witness of the criminality in their society» (Ayto 2000, 20).

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borghesi: l’atto di vendere il proprio corpo, che è sommamente degradante, non è forse un lavoro qualunque nel settore dei servizi? Perché stigmatizzare una professione che ha una sua utilità sociale e che nessuno ha l’intenzione di mettere al bando, visto che ciò comporterebbe una severa critica di un certo modello di sviluppo economico-industriale?» (Crisafulli 2004, 45).

Doch sei hier auch auf die veränderte berufliche Stellung von Prostituierten verwiesen, die heute häufig aus der Illegalität heraus zu einem sozialen Sicherungssystem kamen, so dass mit der veränderten Bezeichnung auch ein veränderter gesellschaftlicher Status einhergeht. Zudem mag die sprachliche Aufwertung ihrer Arbeit als «normale Tätigkeit» manch einer Prostituierten den Beruf erträglicher werden lassen und sie vielleicht auch besser vor respektlosem Verhalten ihr gegenüber schützen, so dass auch in diesem Fall einige der supra unter 5.3.4.5iii genannten Überlegungen vorzubringen sind. Zusammen mit den anderen Beispielen unterstreicht dies, dass die Entscheidung darüber, ob ein bestimmter Euphemismus moralisch oder ohne Moral, unter Wahrung oder Verlust des Realitätsbezugs verwendet wird, teilweise nur im konkreten Einzelfall getroffen werden kann, also nur unter Berücksichtigung dessen, wer wem welche Realität mit welcher Absicht mitteilen möchte. Verbindet der Sprecher beispielsweise Prostitution mit Schande und verwendet dennoch engl. sex care provider, so verschleiert er damit seine persönliche Interpretation der Realität; gesteht er der Prostituierten hingegen Anstand und Selbstwertgefühl zu und möchte dies auch sprachlich zum Ausdruck bringen, so ist dieselbe Sprachverwendung durchaus als aufwertende Berufsbezeichnung im Sinne Politischer Korrektheit zu sehen. Ein Beispiel für die Abhängigkeit der Wertung einer Bezeichnung von der hinter ihr stehenden Realität ist auch dt. Seniorenresidenz. Der Ausdruck vermag es prinzipiell durchaus, die Lebensqualität der Bewohner eines entsprechend ausgestatteten, höheren Ansprüchen genügenden Wohnkomplexes zu steigern, die es nicht mit ihrem Selbstverständnis vereinbaren wollen, in einem Altersheim zu leben. Wird er jedoch für eine heruntergekomme, schlecht geführte Betreuungsstätte für ältere Menschen verwendet, um aus Sparzwängen dem Druck nach größeren Investitionen vorzubeugen, so nähert er sich wiederum den irreleitenden «Euphemismen ohne Moral». 5.4.2 Euphemismen ohne Moral unter thematischem Aspekt 5.4.2.1 Arbeit, Arbeitslosigkeit und die neue Wirtschaftsordnung (i) Kündigungen Wie gesehen ist die Abgrenzung zwischen der weitdefinierten Politischen Korrektheit und der Sprache der Politik nicht immer einfach. So kann die Darstellung des Arbeitslosen als Arbeitssuchenden in den Kontext einer dynamischeren Haltung gestellt werden, die Zuversicht vermitteln und das Sozialprestige erhöhen kann. Während diese Aspekte bei der Beschreibung 377

des Zustandes der Arbeitslosigkeit im Vordergrund stehen (5.3.4.5i), geht es bei der hier interessierenden verschleiernden Darstellungsweise des Verursachens von Arbeitslosigkeit primär darum, das schlechte Gewissen der Verantwortlichen zu beruhigen, ihren Gesichtsverlust zu vermeiden und die Akzeptanz der Maßnahme in der Bevölkerung zu erhöhen.411 Es kann nun nicht mehr von Rücksichtnahme gesprochen werden; vielmehr ist von einem eigennützigen Verhalten zu sprechen, wie im Falle der italienischen Beispiele esubero, piano di alleggerimento, manodopera disponibile: «L’imprenditore che intende licenziare degli operai, trasferirli o metterli in cassa integrazione, opta per esubero, modo neutro per indicare una eccedenza di manodopera. Per non dire ‹licenziamento› si dice piano di alleggerimento; per non parlare di ‹disoccupati› si parla di manodopera disponibile» (Beccaria 2006, 46).

Bei der Wahl der euphemistischen Bezeichnung für die Kündigung kann diese einerseits als ein Schritt dargestellt werden, der dem Arbeitnehmer die Entfaltung neuer Potenziale ermöglicht, andererseits die zukunftorientierte Umstrukturierung des Unternehmens in den Vordergrund gestellt werden, die als Nebenprodukt eben den Verlust von Arbeitsplätzen mit sich bringt.412 In diesem Sinne findet sich im Korpus fr. restructuration, das entsprechend engl. restructuring413 Massenentlassungen dissimuliert. Durch die ausweichende Benennung werden die Auswirkungen dieser Umstrukturierungsmaßnahme für die Arbeitnehmer verschleiert, so dass sich mit George Orwell feststellen lässt: «[…] one wants to name things without calling up mental pictures of them» (1946, 261s.). Im konkreten Fall sollen durch den Euphemismus also Gedanken an die existentiellen Folgen der Arbeitslosig-

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Diese kann natürlich auch durch eine neue Normierung des Ausdrucks Arbeitsloser geschehen. Teubert spricht dann von einem Vexierwort (1989, 53). Cf. Neaman/Silver: «[…] in these days of technocracy [...] workers are more likely to be told that they have lost their jobs because of internal reorganization, retrenchment or restructuring. They may be victims of a RIF (a U.S. federal government acronym for reduction in force), which notifies them that they have been dismissed and may then describe themselves as being between shows (involuntarily unemployed, from show business) […]. Unemployed professionals or managers would describe themselves as being between jobs, in a consultancy, freelancing or even resting» (1991, 295). Dessen Genese und «Karriere» beschreibt Lutz wie folgt: «Around 1987 the stock market learned to love a company that was ‹undergoing a radical restructuring›, and this newfound love for massiv unemployment ‹turned restructuring from a shame into a bracing embrace of change›. And the era of downsizing was born. Now what is interesting about this sudden change is that nothing really changed. That is, what companies were doing was no different from what they had done before. They were laying off workers, just as they had one in the past, only now the stock market decided this was a good thing and not a bad thing, so instead of selling the company’s stock people started to buy it» (1996, 120s.).

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keit vermieden werden, die deren direkte Nennung sofort evoziert hätte, was Crisafulli folgern lässt: «L’eufemismo non è, per definizione, ‹progressivo›: l’ambiguità e l’opacità eliminano lo stigma ma, al tempo stesso, occultano la sofferenza generata da un mercato del lavoro instabile e capriccioso» (2004, 46).

Doch ist die große Masse der Bevölkerung durch solche verschleiernde Euphemismen zumindest nicht sehr lange wirklich zu täuschen und deren Gebrauch somit kontraproduktiv, um auch nur mittelfristig Vertrauen aufzubauen: «Words must be connected to reality or they mean nothing. Doublespeak is always disconnected from reality, so people will quickly fill in the reality behind the doublespeak. Then they won’t trust the company that used the doublespeak because the company thought they were gullible enough to swallow it. Reality may be unpleasant, even frightening, but trying to avoid it by using doublespeak, especially a doublespeak so transparent, never works. Ask the people who were ‹reengineered›» (Lutz 1996, 123).

(ii) Das neue Prekariat Während die Notwendigkeit, bei kurzer vertraglicher Bindung zeitlich und räumlich höchstflexibel zu sein, auf den Arbeitsmärkten der westeuropäischen Demokratien in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs schlimmstenfalls die Unterschicht betraf, greift sie jüngst auf die Mittelschicht über und wird dadurch zum Diskussionsthema.414 Dieses wird («in gewagter Parallele zum Begriff Proletariat», Wittstock 2006) unter dem Stichwort der Prekarität behandelt, unter das alle Arbeitsverhältnisse fallen, die nicht den in den vergangenen Jahrzehnten als «normal» betrachteten, meist unbefristeten und relativ sicheren Arbeitsverhältnissen entsprechen. Anne und Marie Rambach, die den Ausdruck in Frankreich verbreitet haben, erklären: «Nous considérons comme ‹précaire› tous ceux qui ont été exclus ou se sont exclus des statuts qui tiennent lieu de règle dans leur domaine d’activité: le salariat en contrat à durée indéterminée, ou le fonctionnariat. Ils sont pigistes, auteurs, salariés en contrat à durée déterminée, en contrat emploi-solidarité, chercheurs indépendants, vacataires, ils travaillent au noir partiellement ou complètement» (Rambach/Rambach 2001, 15).

Die Existenz eines ähnlichen Dilemmas in Italien bezeugen u.a. Sergio Bolognas Thesen zur Neuen Selbständigkeit, in denen sich viele der von Rambach/

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Cf.: «Es war schon immer so, dass etwas politisch zum Thema wird, wenn auch die Mittelschicht betroffen wird. Umso mehr, als die Mittelschicht vorübergehend von einer hohen Sicherheit profitiert hatte. Wenngleich dies historisch gesehen eine kurze Phase war, vom Zweiten Weltkrieg bis etwa in die sechziger, siebziger Jahre. Aber es war eine Erfahrung von Sicherheit, die wir als dauerhaft angesehen haben» (Beck in Isler 2006, 21).

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Rambach beschriebenen Szenarien widerspiegeln.415 Insgesamt zeigt sich in der Prekarität, die nach Beck «für eine ganze Generation zur Voraussetzung» wird, «weil immer mehr junge Menschen überhaupt kein festes Arbeitsverhältnis bekommen» (in Bonstein/Theile 2006, 45), ein weltumspannendes Phänomen.416 In Italien wurde für diese Generation als Schutzpatron San Precario ernannt, «ein Märtyrer der Gegenwart, der unterbezahlte Arbeiten verrichtet, oft schwarz beschäftigt ist und einer unsicheren Zukunft entgegensieht» (Bonstein/Theile 2006, 45). «In Reaktion auf die Entsicherung des sozialen Lebens durch befristete Beschäftigung, Minijobs, Dauerpraktika, modernes Tagelöhnerwesen» (Gross 2006), in Becks Worten auch die «Gesellschaft des Weniger»,417 wird der traditionell von Gewerkschaftlern genutzte 1. Mai bei dieser Generation zum Euro Mayday und in zahlreichen europäischen Städten (u.a. Mailand und Paris) mit Kundgebungen neuer Art begangen. Wurde in den 1980er Jahren noch gegen das bestehende System demonstriert, haben jüngst deutsche Aktivisten der «Generation Praktikum», französische Demonstranten gegen die modifizierten Erstanstellungsverträge und italienische gegen 1000-Euro-Jobs es sich zum Ziel gesetzt, selbst Teil des Systems zu werden. Ulrich Beck unterscheidet hier zwischen einer ersten Moderne, in der es galt, die Massen durch Utopien zu mobilisieren, und einer zweiten, in der im Vordergrund steht, Dystopien zu verhindern.

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Entsprechungen in Anekdoten aus Rambach/Rambach (2001) haben z.B. «der hohe Anteil der relationalen Arbeit» als «unproduktive Komponente des Arbeitstages» (Bologna 2006, 13); «die domestication des Arbeitsplatzes» (2006, 14); die «Intensivierung der Arbeitszeit» durch «die Form der Entlohnung», die «nicht mehr nach Zeiteinheiten (Stunde, Monat) [...], sondern nach ‹Dienstleistung› rechnet» (2006, 21); «ein schrankenloser Arbeitstag»; das zu einem «Habitus, dessen herausragendes Merkmal die Unmöglichkeit, auf längere Sicht zu planen, ist» führende «immanente Risiko eines wirtschaftlichen Scheiterns» (2006, 22); «das Gefühl der Unsicherheit, verursacht durch die Marktmechanismen und das vollständige Fehlen einer Abfederung ökonomischer Schwierigkeiten» und daher «Verhaltensweisen der Vorsorge (des ‹Sparens für alle Fälle›), die die Selbständigen dazu bringen, immer mehr anhäufen zu wollen» (2006, 23); «die nicht mehr den Wert der Garantie der Subsistenz» beinhaltende Vergütung (2006, 27) und schließlich die Entschädigung «über die Wiederherstellung der beruflichen Identität» (2006, 28), die bei typischen Arbeitern der fordistischen Epoche verloren gegangen sei (2006, 27). Cf.: «Man kann von einer ‹Generation prekär› sprechen – und zwar in allen OECD-Ländern, also etwa auch in Mexiko. [...] Die Erfahrung der Unsicherheit ist eine Erfahrung, die sich weltweit durch die ganze Generation hindurchzieht. Das alte System der Berechenbarkeit ist vorbei» (Beck in Isler 2005, 20). Cf.: «Wir sind eine Gesellschaft des Weniger. Wir sind eine Gesellschaft von weniger Sicherheit. Das ist die Erfahrung. Und das wird als Abstieg erfahren. [...] Mit der Prekarisierung übernimmt der Westen Elemente der Sozialstruktur der sich entwickelnden Länder» (Beck in Isler, 21).

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Der Ausdruck précaire selbst wurde in den 1980er Jahren von französischen Soziologen zur Beschreibung temporärer und saisonaler Arbeitsverhältnisse verwendet. In den Gebrauch einer breiten Öffentlichkeit zur Beschreibung schlechter Arbeitsbedingungen von Intellektuellen bei gleichzeitig hohem Sozialprestige418 gelangte die Bezeichnung aber erst 2001, als Anne und Marie Rambach ihn in diesem Sinne in ihrem Beststeller Les intellos précaires verwendeten. Dies mag erklären, weshalb der Ausdruck in PR mit euphemistischer Markierungsangabe versehen ist, trotz vergleichbarer Brisanz des Phänomens in Italien nicht aber precario, -a in Z. Doch bleibt auch die Markierungsangabe im Französischen fraglich, zumal Prekarisierung in all ihren negativen Begleiterscheinungen419 diskutiert und offen angeklagt wird, so dass die negative Bedeutung vollständig in den Ausdruck integriert erscheint.420 Die Kennzeichnung als Euphemismus ist nur insofern einsichtig, als zunächst ein Wort mit nur vager Bedeutung (‘dont l’avenir, la durée ne sont pas assurés’) zur indirekten Bezeichnung einer speziellen Arbeitssituation herangezogen wurde, ohne dass daraus jedoch automatisch eine verschleiernde Funktion abgeleitet werden könnte. (iii) Finanzen. Von Teuerung bis Schmiergeld In 5.4.1.4i konnte schon gezeigt werden, dass auf ärmere Menschen durch entsprechende Ausdrucksweise Rücksicht genommen wird, gleichzeitig aber wurde darauf hingewiesen, dass dies auch geschickt von ihrer Armut ablenken und damit das schlechte Gewissen der Wohlhabenderen mildern bzw. den Verdacht eines Versagens der Politik verhindern kann. Doch ist das Reden über Geld ein zwar je nach Region unterschiedlich ausgeprägtes, wohl aber insofern generelles Tabu, als es nicht nur dann greift, wenn eine Person besonders wenig davon hat, sondern auch, wenn sie sehr viel besitzt oder auch

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Rambach/Rambach geben den September 1998 als Geburtsdatum des Begriffs der «intellos précaires» an: «Le magazine Technikart titre ce jour-là: ‹Précaires et branchés. Une génération invente la société de demain›. En guise d’illustration, un sandwich au gyros dans un papier gras rose et un téléphone portable» (2001, 102). Cf. z.B. die Feststellung, dass die zunehmend «prekäre Existenzform» (Gross 2006) einen Rückgang der Geburtenzahlen zur Folge hat («Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und Robert Bosch Stiftung; Generations and Gender Survey 2005, Befragung von in Partnerschaft lebenden 20- bis 49-Jährigen ohne Kinder». In: Bonstein/Theile 2006, 50). Doch cf. den Probanden, bei dem Rambach/Rambach das Paradoxon feststellen: «La précarité n’est pas nécessairement une forme de pauvreté ou d’exclusion, en tout cas pour certaines catégories. Enfin, il ose employer sans prendre de gants ou de baguettes le ‹gros mot› précarité en l’apposant au concept de génération. Revendiquer sa précarité comme on revendique sa négritude ou son homosexualité, voilà qui est nouveau» (2001, 104).

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verdient.421 Taktvoller, als über jemanden zu sagen, er sei reich, ist vornehmlich in Frankreich sicherlich eine Aussage wie Il est dans une situation assez comfortable, denn anders als z.B. in den USA ist Status hier internalisiert422 und das Thema «Geld» so tabuisiert, dass in allen gesellschaftlichen Schichten darüber geschwiegen wird, «als handle es sich um eine Peinlichkeit» (Wickert 2007, 194). Nicht zuletzt bestätigen dies die Umfrageergebnisse aus 4.2.2 (cf. supra p. 113s.), die gleichzeitig auf einen tabufreieren Umfang mit dem Thema in Italien hinweisen. Während die Art der Kommunikation des eigenen Finanzstatus also viel mit Stil, ethisch-ästhetischem Bewusstsein und kultureller Zugehörigkeit zu tun hat, geht es bei den eine größere Gruppe betreffenden finanziellen Erscheinungen teilweise auch um bewusste Manipulation. So gilt es insgesamt gerade in der öffentlichen Kommunikation von möglicherweise Verantwortlichen gegenüber den hiervon Betroffenen, wenig populäre Vorgänge, Erscheinungen und Maßnahmen in der Finanzwelt geschickt zu vermitteln. Unter den Vorgängen sei hier auf das Übervorteilen, unter den Erscheinungen auf Geldentwertung, wirtschaftliche Stagnation (cf. dt. Nullwachstum)423 und Teuerungen verwiesen, die durch zum Teil irreführende, weil verschleiernde Euphemismen wie it. manovra ( stangata), allineamento monetario, allineamento selettivo delle monete ( svalutazione), ritocchi alle tariffe, variazione dei prezzi, assestamento dei prezzi, lievitazione ( aumenti) umschrieben werden: «Ci sono settori che più di altri contemplano un lessico altamente eufemistico, per esempio la finanza, e il motivo si capisce: parlare di soldi, di tasse, toccare il portafoglio non piace a nessuno, per cui a stangata si preferisce talvolta manov-

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Cf. z.B. den Reichtums- und Vermögensforscher Thomas Druyen: «Reichtumsforschung gilt in Deutschland als tabuisiert. Über Geld, viel Geld zu sprechen, scheint ebenso heikel wie über die eigene Sexualität» (in Holzer 2007, 97). Cf. genauer Druyen (2007, 193–196). Cf. zum diesbezüglichen Vergleich zwischen England und den USA die Ausführung Halls: «The Englishman […] is still Lord – no matter where you find him, even if it is behind the counter in a fishmonger’s stall» (1966, 138). «In England, status is internalized; it has its manifestations and markers – the upper-class received English accent, for example. We in the United States, a relatively new country, externalize status. The American in England has some trouble placing people in the social system, while the English can place each other quite accurately by reading ranking cues» (1977, 62). Die weithin ausgebliebene Tabuisierung von Geld in den USA sticht denn auch den Autoren neuerer Anstandsbücher ins Auge; so generalisiert z.B. Sucher: «Allein in Amerika sind Sex und Geld nicht nur erlaubtes, sondern bevorzugtes Tischgespräch. […] Geldklatsch ist dort so beliebt wie Sexklatsch» (2007, 285, 138). Salamun betont am Beispiel von dt. Nullwachstum die «mehr oder weniger ausgeprägte positiv-emotionelle Sinnkomponente» dieser Euphemismen, die mit Wachstum selbst dann verbunden ist, wenn das Wachstum Null ist, nicht aber mit Stagnation (1981, 215).

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ra, a svalutazione si è preferito un meno doloroso allineamento monetario, o allineamento selettivo delle monete. La parola aumenti spaventa, di conseguenza si è talvolta optato per ritocchi alle tariffe, o variazione, o assestamento dei prezzi, magari lievitazione degli stessi, che trasforma una realtà spiacevole in un processo naturale» (Beccaria 1996, 47s.).

Zu den Maßnahmen zählen zweifelsohne der Abbau von Sozialleistungen und Steuererhöhungen, die auch in Form von Mautgebühren auftreten können. Mit it. shadow toll gibt Beccaria hier ein Beispiel für die euphemisierende Wirkung eines Anglizismus.424 In den Korpora findet sich nur der Euphemismus it. dazioni für Schmiergelder, der als möglichst generell gehaltener juristischer Fachterminus die illegale Handlung beschönigt: «Duilio Poggiolini, un illustre inquisito, chiamava le tangenti dazioni, usando un lecito termine giuridico per ridurre eufemisticamente l’illecito all’atto del ‹dare›, della consegna» (Beccaria 2006, 46).

Eine eigene Studie wert wäre unzweifelhaft der offizielle Diskurs über das eigentliche Ausmaß des im zweiten Halbjahr 2007 aufgetretenen und 2008 zur internationalen Finanzkrise mutierten Subprime-Debakels, dessen Kommunikation zumindest auf Seiten der Politik ebenso von der Absicht geprägt war, das Versagen der Aufsichtssysteme zu kaschieren, als auch davon, Nervosität aus den internationalen Finanzmärkten zu nehmen und dem Bürger Vertrauen in das Finanzsystem zu vermitteln und damit einen Bankenkollaps abzuwenden. 5.4.2.2 Kriegsereignisse und kriegerische Handlungen Neben den vorstehend angesprochenen Steuererhöhungen, Kürzungen im sozialen Bereich oder auch Fällen von Umweltverschmutzung ist es in der Regel das Kriegsgeschehen, das einen zentralen Bereich verschleiernder Euphemismen darstellt. Besonders Mißerfolge und Fehler der Kriegsführung sind davon betroffen, da sie bei direkter, wahrheitsgetreuer Nennung die Verantwortlichen in den Augen der Öffentlichkeit schnell das Gesicht verlieren lassen und aus diesem Grunde besondere sprachliche Aufmerksamkeit in der Berichterstattung beanspruchen.

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Cf. Beccaria: «La realtà viene edulcorata con una neutra verniciatina burocratica. Come successe quando il ministro Siniscalco, a proposito degli eventuali pedaggi da pagare su strade e superstrade, disse che se non direttamente quei pedaggi sarebbero stati pagati ugualmente, e li chiamò shadow toll ‘pedaggio ombra’ (maniera ermetica ed eufemistica di anglismo, che Gian Antonio Stella, in Cs 6.10.04, battezzò col termine ‹inglesorum›» (1996, 47).

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(i) Verschleierung als Konstante der Geschichte Dass die hohe Aufmerksamkeit, die dem Bild vom Selbst in der Gesellschaft oder – neudeutsch – den «Public Relations» zugeteilt wird, in diesem Bereich schon eine lange Tradition haben, zeigt z.B. ein Blick auf De bello gallico, ein Werk, in dem Caesar klug genug war, die blutige Unterwerfung der Gallier als Pazifizierung zu deklarieren. Die Durchschaubarkeit des römischen doublespeak thematisierte aber auch schon Tacitus in De vita Iulii Agricolae, worin er den Briten Calgacus in einer Rede den Kampfgeist seiner Truppe vor dem vorerst letzten Aufbegehren gegen die Römer anspornen lässt, indem er die Realität hinter der römischen Rhetorik enthüllt: «auferre trucidare rapere falsis nominibus imperium, atque ubi solitudinem faciunt, pacem appellant».425 Der Gedanke, Anstößiges und Unangenehmes durch entsprechende Formulierung akzeptabel werden zu lassen, ist in der Geschichte immer wieder belegt. So z.B. im «Machiavell des Privatlebens» (Taube 1986, 133), Baltasar Graciáns Oráculo Manual (1647), wenn dort über die Worte zu lesen ist, «bastan ellas desempeñar una imposibilidad», und dem Sprecher der Rat gegeben wird, «sempre se ha de llevar la bocca llena de azúcar para confitar palabras»,426 während dem Hörer nahegelegt wird, eventuelle Täuschungsabsichten zu durchschauen: «Arte era de artes saber discurrir; ya no basta: menester es adivinar, y más en desengaños» (Oráculo 25 – 1946, 10). Im 20. Jahrhundert waren besonders im Rahmen der nationalsozialistischen und faschistischen Ideologie viele Euphemismen zur Verschleierung von Tatsachen und zur Irreführung der Bevölkerung verbreitet.427 Der den tatsächlichen Massenmord als Lösung eines Problems darstellende Ausdruck dt. Endlösung,428 dessen jeweilige Entsprechung in vielen europäischen Spra-

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Agricola (30,4 – 1991, 48): «Wegschleppen, morden und rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft, und wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden» (Agricola – 1991, 49; cf. auch das Zitat auf p. 132 der vorliegenden Arbeit). Cf. Gracián: «Palabras de seda con suavidad de condición. Atraviesan el cuerpo las jaras, pero las malas palabras el alma. Una buena pasta hace que huela bien la boca. Gran sutileza del vivir saber vender el aire. Lo más se paga con palabras, y bastan ellas desempeñar una imposibilidad; negóciase en el aire con el aire, y alienta mucho el aliento soberano. Sempre se ha de llevar la boca llena de azúcar para confitar palabras, que saben bien a los mismos enemigos: es el único medio para ser amable el ser apacible» (Oráculo 268 – 1946, 93). Sullam Calimani sieht hier (wohl mit unter dem Eindruck der Grausamkeiten) auch den Gipfel sprachlicher Verschleierung erreicht: «In nessun altro Stato tuttavia si è finora verificato un divario così ampio tra le parole e la realtà terribile ad esse sottesa, nessuna società all’infuori di quella governata dal Terzo Reich è stata così profondamente compenetrata nel suo tessuto linguistico da una retorica tanto mistificatrice e da un simile lessico alterato e menzognero» (2001, 65). Cf.: «Endlösung may seem to have been intended as ironical, implying, as irony characteristically does, the opposite or at least a reversal of what it superficially

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chen Einzug fand (cf. z.B. fr. solution finale, heute unmarkiert in PR; it. soluzione finale, in Z nicht verzeichnet; cf. auch Sullam Calimani 2001, 54), ist nur eines der zahlreichen Beispiele für Bezeichnungen, mit denen die Verantwortlichen ihre Taten in unverfänglicher erscheinendes Licht zu rücken versuchten.429 Doch wurden manche dieser Euphemismen zumindest anfangs auch von den Betroffenen verwendet, um das eigene Leid zu mildern: «Nel narrare le loro esperienze i primi testimoni usarono, anche nei titoli delle loro opere, espressioni quali: deportazione, deportati, campo [...] e campo di concentramento o, in alternativa, i toponimi. Questi vocaboli e queste locuzioni, pur mantenendo una chiara funzione denotativa, assunsero anche una funzione connotative eufemistica: sostiuirono cioè vocaboli crudi, attenuando in qualche modo la tragedia che costituiva quasi sempre l’esito della deportazione, o, quantomeno, spostando l’attenzione dall’atto finale a quelli precedenti (l’allontanamento forzatto e la segregazione), forse psicologicamente più accettabile» (Sullam Calimani 2001, 36).

Bis heute ist umstritten, wie dieses grausame Verbrechen korrekt zu benennen ist. Nach Sullam Calimani überwiege im angelsächsischen Bereich engl. holocaust, während seine Äquivalente im romanischen Sprachraum fr. holocaust, it. olocausto umstritten seien430 und im gepflegten Sprachgebrauch durch den semantisch undurchsichtigen Hebräismus fr./it. shoah sowie durch

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affirms: it denotes a solution to a problem by proposing the destruction of the problem» (Lang 2003, 89). Doch: «For the audience who were in on the secret of the Nazi language rules, the term Endlösung denoted the extermination of the Jews – although even for them, it was meant at once to affirm and to obscure the referent» (2003, 90), weshalb er den Ausdruck als Lüge bezeichnet (2003, 91). Cf. Sullam Calimani: «Gli avversari non venivano uccisi ma ‹liquidati›, ‹eliminati›, o ‹puniti severamente›; gli ebrei deportati erano ‹evacuati› o ‹trasportati› e i massacri nei villaggi e nei ghetti venivano indicati come ‹operazioni›, mentre alle fucilazioni e alle gassazioni nei campi di sterminio veniva attribuito il nome di ‹trattamento speciale› (Sonderbehandlung); le camere a gas erano conosciute con il nome di ‹installazioni speciali› (Spezialeinrichtungen) o ‹bagni› (Badeanstalten), lo Zyklon B era definito ‹disinfettante›. Questo linguaggio era usato come strumento complementare della politica di sterminio, per ingannare e confondere le vittime e nascondere loro il vero significato delle espressioni usate. Tuttavia, sostiene Henry Friedländer, ogni vittima capiva il linguaggio in condice adottato dai nazisti e gli eufemismi che indicavano la morte» (2001, 64). Das im Spätlatein aus griechischen Elementen gebildete holocaustum ‘vollständig verbrannt’ erscheint häufig in der Vulgata in der Bedeutung ‘Opfer durch Verbrennung’ und in der Literatur im Sinn ‘Selbstopfer, Opfer’, cf. z.B. bei Dante Alighieri («a Dio feci olocausto», Divina Commedia, Paradiso XIV, 89 – 1980, 234) oder bei Ugo Foscolo («Ma quando tu sarai offerita dal padre tuo come olocausto di riconcilizaione sull’altare di Dio», Ultime Lettere II, Ventimiglia 19 e 20 Febbraro, 64,15–65,2 – 1970, 433). Daher erklärt Sullam Calimani: «Olocausto è nell’esperienza collettiva e nella tradizione letteraria una voce aulica che evoca un rito, un sacrificio»; die in Konzentrationslagern getöteten Juden waren hingegen unfreiwillige Opfer des Nazi-Regimes, in der Regel «né eroi né martiri» (2001, 85s., cf. auch 77–101).

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fr. génocide, it. genocidio, Auschwitz, sterminio ersetzt würden (2001, 108). Wenn auch in diesem Bereich Bezeichnungen für deutsche Einrichtungen und Geschehnisse nur noch in historischen Beschreibungen vorkommen, sind sie für entsprechende Phänomene weltweit doch nach wie vor auch in aktuellen Berichten zu finden. Einen ihrer traurigen Höhepunkte erlebten sie sicherlich in den Balkan-Kriegen der 1990er Jahre mit neuer Vitalität von Ausdrücken wie fr. urbicide, it. urbicidio oder fr. nettoyage ethnique, it. pulizia etnica.431 Sicherlich sind es auch diese Erfahrungen, die George Orwell nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, drei Jahre vor dem Erscheinen von Nineteen Eighty-Four (1949), für eine möglichst einfache Sprache, wie sie im klassischen englischen «plain style» auch eine gewisse Tradition hat,432 eintreten und dabei formulieren lassen, dass politische Sprache dazu diene, «to make lies sound truthful and murder respectable».433 Doch ist in der politischen Rhetorik auch nach Orwell 1946 und der von ihm in das Jahr 1984 verlegten Beschreibung einer durch Big Brother kontrollierten Gleichschaltung die Dissimilierung negativer Geschehnisse weiterhin zu finden. In absolutistischen Systemen wie im früheren Rumänien bedeutete z.B. reeducare in den 1950er Jahren «eine dauerhafte Folterung der Gefangenen in den Gefängnissen, bis die Opfer entweder starben oder akzeptierten, Folterer zu werden und die ‹Umerziehung› weiter zu treiben» (Papadima 2001, 523). Am Beispiel des Panama-Konflikts verdeutlicht Lutz: «[President Bush] conducted ‹efforts to support the democratic processes in Panama› or restore ‹the democratic process›, assured ‹the integrity of the Panama Canal›, created ‹an environment safe for American citizens›, but certainly didn’t invade Panama and start a war. […] In the nonwar Panamanian soldiers weren’t

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Cf. Bencini/Manetti: «Gli anni della disgregazione della Iugoslavia hanno lasciato in dote, assieme alla trasformazione della carta geografica della penisola balcanica, una serie di neologismi che evocano realtà a torto ritenute superate (campi di concentramento, deportazioni di massa, genocidi): gli esempi più drammatici sono espressioni come urbicidio e pulizia etnica» (2005, 5). Nur campo di concentramento und pulizia etnica sind in Z unmarkiert verzeichnet. Cf. ebenso das Eintreten für «plainness» in der englischen Aufklärung und Lockes Misstrauen gegenüber jeglicher Rhetorik (Human understanding III, X, § 34 – 1975, 508) wie die heutigen «plain language amendments» mancher US-amerikanischen Staaten und Stilempfehlungen («global stylistic maxims»), in denen angeraten wird, «to be clear, precise, definite, simple and brief, while avoiding obscurity, ambiguity, vagueness, abstraction [...]» (Cameron 2000, 64). Cf. Orwell: «If you simplify your English, you are freed from the worst follies of orthodoxy. You cannot speak any of the necessary dialects, and when you make a stupid remark its stupidity will be obvious, even to yourself. Political language – and with variations this is true of all political parties, from Conservatives to Anarchists – is designed to make lies sound truthful and murder respectable, and to give an appearance of solidity to pure wind. One cannot change all this in a moment, but one can at least change one’s own habits» (1946, 265).

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killed; they were ‹neutralized›. Panamanian soliders didn’t fight; they engaged in ‹armed terroristic activity›» (1996, 166).

Häufig verschleiert wird die Gefangennahme von Zivilen in Kriegszeiten.434 Das bekannteste Beispiel für einen solchen Euphemismus ist sicherlich dt. Konzentrationslager, ein Ausdruck, der schon in den Burenkriegen verwendet wurde und im Dritten Reich seine besondere, weit über die alleinige Konzentrierung hinausgehende Bedeutung erlangte. Im Wörterbuch eines Unmenschen wird dt. Lager als «ein Beispiel dafür, wie der Unmensch auch aus einem harmlosen, geselligen, ja man möchte sagen freiheitlichen Wort das schiere Gegenteil hervorbringt» angeführt (Sternberg/Storz/Süskind 1957, 63). Dass das Wort Krieg für Politiker Tabu ist, wenn es das militärische Vorgehen eigener Truppen oder der Truppen von Bündnispartnern auf fremden Territorien betrifft, zeigen ferner der in die Geschichte als Vietnam-Konflikt eingegangene Vietnam-Krieg, der als Polizeiaktion bezeichnete Korea-Krieg und der als Operation Wüstensturm (fr. operation tempête du désert bzw. it. operazione tempesta nel deserto) geführte Irak-Krieg, zu dem Lutz wieder mit vielen Beispielen ausführt: «During this ‹armed situation› massive bombing attacks became ‹efforts›. Thousands of war planes didn’t drop tons of bombs; ‹weapons systems› or ‹force pakkages› ‹visited a site›. These ‹weapons systems› didn’t drop their tons of bombs on buildings and human beings; they ‹hit› ‹hard› and ‹soft targets›. During their ‹visits›, these ‹weapons systems› ‹degraded›, ‹neutralized›, ‹attrited›, ‹suppressed›, ‹eliminated›, ‹cleansed›, ‹sanitized›, ‹impacted›, ‹decapitated›, or ‹took out› targets, they didn’t blow up planes, tanks, trucks, airfields, and the soldiers who were in them, nor did they blow up bridges, roads, factories, and other buildings and the people who happened to be there. A ‹healthy day of bombing› was achieved when more enemy ‹assets were destroyed than expected›. If the ‹weapons systems› didn’t achieve ‹effective results› (blow up their targets) during their first ‹visit› (bombing attack), as determined by a ‹damage assessments study› (figuring out if everything was completely destroyed), the ‹weapons systems› will ‹revisit the site› (bomb it again)» (Lutz 1996, 183s.).

(ii) Der heutige Umgang mit Krieg Diese Zunahme an Euphemismen erklärt Ayto mit der technologischen und damit besonders grausamen, da ausgesprochen effizienten Kriegsführung sowie mit dem immer direkteren Einfluss auf die Zivilbevölkerung435 und der

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Ayto führt noch weitere Verbindungen mit camp statt prison (z.B. dt. Arbeitslager) sowie assembly centrer oder relocation centre für die Gefangennahme von Japanern während des 2. Weltkriegs in den USA an (2000, 21). Cf. Ayto: «It may be that a combination of technological advances, which make it possible to kill many more of the enemy much more quickly and economically than in the past, and the greater impingement of war on civilian life, both via the television screen and by direct enemy action, has provided a much greater psy-

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zunehmenden Kommunikation von Kriegsereignissen über die Massenmedien, wie sie prinzipiell schon seit längerem beobachtet wird,436 im Zeitalter der Globalisierung aber potenziert ist und sich nicht zuletzt in Neologismen wie fr. téléguerre, it. teleguerra437 widerspiegelt. Stellvertretend für die unzähligen Beschönigungen aus dem Militärwesen sei hier das jüngst besonders stark diskutierte, aus dem Englischen in zahlreiche Sprachen entlehnte engl. collateral damage (fr. dégâts, dommages collatéraux; it. danni collaterali) betrachtet, in dem sich die Intention der Verschleierung besonders gut zeigt. Im Deutschen wurde der Ausdruck dt. Kollateralschäden, der «jene Verluste an zivilen Menschenleben und Gütern bezeichnet, die durch das Bombardement Serbiens und Montenegros durch die Nato im Frühjahr 1999 verursacht wurden»,438 zum Unwort des Jahres 1999 erklärt, d.h. zu einem Wort, dem ein «besonders krasses Missverhältnis zwischen Wort und bezeichneter Sache» zugrunde liegt (Schlosser in Herberg/Kinne/Steffens 2004, s.v.). «Zu Kollateralschäden ist es zugegebenermaßen bei einem Angriff auf die Stadt Surdulice gekommen. Ein westlicher Reporter sprach von ‹grauenhaften Szenen›, aber sein Grauen trägt man besser in die Kirche oder wischt es mit dreilagigen Worten wie Kollateralschaden restlos auf» (Berliner Zeitung 29.04.1999 in Herberg/ Kinne/Steffens 2004, s.v.).

Im Jahre 2006, fünf Jahrzehnte nach Orwells Kritik am Bestreben «to make [...] murder respectable» (1946, 265) ist die Suche nach «harmloseren»

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chological impetus than in former centuries to cover up our shaming deeds with mild words» (2000, 301). Ähnlich äußerte Aldous Huxley bereits 1962 (und damit vor den gegenwärtigen Entwicklungen von Medienkonzentration, Satellitenfernsehen und Internet) die Sorge, dass einerseits eine minimale Anzahl von Sprechern einer maximalen Anzahl von Hörern gegenübersteht und andererseits gefährliche Außenseitermeinungen besonders große Reichweite erlangen: «Never before, thanks to the techniques of mass communication, have so many listeners been so completely at the mercy of so few speakers. Never have misused words – those hideously efficient tools of all the tyrants, war-mongers, persecutors, and heresy-hunters – been so widely and disastrously influential as they are today» (Huxley 1962, 282) Cf. Bencini/Manetti: «Nell’era dell’informazione globale, il nome stesso con cui si definisce un’operazione militare assume un’importanza centrale. L’informazione sulla guerra (la copertura mediatica degli avvenimenti) e la propaganda sulla guerra (il modo in cui i militari e i governi presentano all’opinione pubblica le scelte e le operazioni belliche) hanno dato vita a un linguaggio specifico, il guerrese, e rivestono un’importanza centrale nell’orientare l’opinione pubblica internazionale. Un ruolo significativo è svolto al fronte dai reporter e dai fotografi di guerra (anzi, dagli anti war photographer, come alcuni di loro amano definirsi), testimoni, spesso scomodi, di quanto sta accadendo nelle guerre virtuali dei nostri tempi, nelle guerre aeree televisive, nelle teleguerre vissute e condivise attraverso le immagini televisive, spesso controllate e filtrate dagli stessi governi che prendono parte al conflitto» (2005, 8). Die tageszeitung 31.12.1999 (in Herberg/Kinne/Steffens 2004, s.v.).

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Wörtern für grausame Ereignisse also ungebrochen. Verändert hat sich aber die Sensibilisierung der Bevölkerung für einen solchen Sprachgebrauch und damit auch die Fähigkeit, ihn zu durchschauen. Doch obwohl sich die Mehrheit darüber im Klaren ist, was mit Kollateralschäden bezeichnet wird,439 ist das Bezeichnete unter diesem Ausdruck leichter zu übergehen und erregt weniger Anstoß und damit Opposition.440 Ähnlich im Kreuzfeuer der Kritik wie engl. collateral damage steht auch friendly grenade, friendly fire (fr. tir ami, it. fuoco amico)441 für das versehentliche Töten eigener Kameraden. Solche und ähnliche Wörter verschleiern Missgeschicke wie Schrecken moderner Kriegsführung und können damit als eine Manipulation der öffentlichen Meinung stigmatisiert werden. Zumindest am Rande muss aber auch gefragt werden, ob dieser Fachjargon es der Militärführung (ebenso wie dem einfachen Soldaten)442 nicht auch erlaubt, konzentrierter vorzugehen, als es durch den Gebrauch von Wörtern möglich wäre, die grausame Bilder gefallener Menschen hervorrufen. Dabei ist auch an die Reduktion der Ereignisse vom 11. September 2001 auf engl. 9/11 zu denken, das in seiner bestechenden Kürze davon absieht, die entstandenen

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Ähnlich Cameron, die feststellt: «[…] it is impossible to prevent speakers from engaging in metalinguistic speculation on the reasons why one term was chosen over other possibilities; that is, evaluating as well as simply interpreting phrases like ‹collateral damage›. One possible inference here is precisely that the allies, in describing a certain state of affairs as ‹collateral damage›, are trying to minimize what is happening and their own responsibility for it. And the moment such an inference is made, any attempt at concealment and disinformation has failed (2000, 73). So lässt sich für Tabus aus diesem Bereich ebenso wie für traditionelle feststellen, dass der euphemisierende Umgang mit ihnen sie eigentlich erst als Tabu kenntlich macht, d.h. dass Euphemismen auch hier mehr ausdrücken als sie verschweigen. Allerdings meint Cameron, dass andere Wörter für das hier Bezeichnete auch nicht neutraler sind: «If you find the allies’ strategy unjustifiable you will probably regard the nominalization ‹civilian deaths› as a euphemistic denial of agency which implicitly devalues Iraqi lives; if you believe that the strategy is regrettable but necessary you will probably find ‹murder› and ‹mass murder› overly emotive and biased against the allies. […] There is always a point of view in language, but we are apt to notice it only when it is not one we share. […] A plain representation is still a representation, but it aspires to make itself invisible, like the proverbial pane of glass. In consequence its ideological presuppositioons may also become invisible» (1995, 74). Der französische Ausdruck fehlt in PR; der italienische ist in Z unmarkiert mit der Bedeutung ‘nel linguaggio giornalistico, i colpi di arma da fuoco o le bombe che nel corso di un’operazione di guerra colpiscono per errore i soldati del proprio esercito o gli aleati’ aufgeführt. Der einfache Soldat hat nach Neaman/Silver aber auch «his own brand of linguistic minimalization. Motivated by fear of the horrors he faces, he resorts to gallows humor […] Enlisted men create a psychological support system for themselves by sentimentalizing or humanizing their weapons with names» (1991, 336).

389

Traumata zu verstärken, und damit auch dazu beiträgt, rationale Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Beispiele, bei denen ein ähnlich ausgeprägtes Missverhältnis zwischen Bezeichnung und Realität besteht wie bei engl. collateral damage oder in begrenztem Maße auch engl. friendly fire, sind in den Korpora kaum bis gar nicht verzeichnet. Am ehesten lässt sich – neben fr. dégâts, dommages collatéraux – événements anführen, das (entsprechend der obigen Ausführungen zum sprachlichen Einfluss auf das Denken, cf. 5.3.2.3ii) die Wahrnehmung des Algerien-Krieges sicherlich beeinflusste und den militärischen Charakter der «Ereignisse» verschleierte, wovon von offizieller Seite erst 1996 Abstand genommen wurde, als Jacques Chirac als erster Staatspräsident von guerre sprach (cf. Zitzmann 2005). Eine ähnliche Verschleierung des Kriegsgeschehens kann der schon im Lateinischen in diesem Sinne gebrauchte (cf. 5.4.2.2i) Ausdruck pacifier bewirken, bei dem der Umstand, dass die Wiederherstellung des Friedens in der Regel durch militärisches Eingreifen geschieht, nicht thematisiert wird. Im weiteren Sinne ist hier auch fr. reconduire (des immigrés à la frontière) anstelle von expulser zu nennen, da es sowohl die Unerwünschtheit der betroffenen Personen im ausweisenden Land, wie auch die für politische Flüchtlinge teilweise zu erwartenden existenzbedrohenden Folgen im Land, in das «rückgeführt» wird, verharmlost. Keine Beispiele gibt das italienische Korpus, obwohl hier natürlich auch viele Euphemismen aus diesem Bereich existieren, die jedoch lexikographisch (noch) nicht erfasst (wie danni collaterali oder ricondurre) oder (wie fuoco amico) nicht als solche markiert sind: «L’eufemismo talvolta cela un’informazione, di solito l’attenua, spesso la distorce: operazione di polizia internazionale in luogo di ‹guerra› sfugge il concetto, con l’intento fuorviante di alleviare la crudezza del significato, così come guerra umanitaria, o bombe intelligenti (non conosciamo in realtà che bombe assassine). I militari parlano in guerra del fuoco amico (calco di friendly fire), o in modo tecnologicamente asettico di inevitabili danni collaterali (calco di collateral damages) su obiettivi civili» (Beccaria 2006, 46).

5.4.3 Resümee Die unter «Ethik ohne Moral» behandelten Ausdrucksweisen unterscheiden sich grundlegend von den in «Ethik und Religion», «Ethik und Ästhetik», aber auch «Ethik und Sozialpolitik» verankerten Euphemismen. Ihre Sonderstellung erklärt sich damit, dass der sie verwendende Sprecher über ihr Signifikat bewusst eine Realität vorgibt, die nicht der des tabuisierten Ausdrucks entspricht, so dass die intendierte Verschleierung für den Adressaten zunächst nicht durchsichtig ist. Dabei kann die Abtrennung gegenüber Ausdrücken Politischer Korrektheit im konkreten Kontext leicht erfolgen, ist aber kontextunabhängig teilweise schwer zu vollziehen, da manche Euphemismen je nach tatsächlicher Intention des Sprechers und seiner per390

sönlichen Interpretation der Realität dem einen wie dem anderen Bereich zugewiesen werden können. So vermag z.B. eine vermeintlich rücksichtsvolle Bezeichnung einerseits Personen zu schützen, die unter Armut leiden, in Haft sind oder der Prostitution nachgehen, andererseits aber auch die jeweils zugrunde liegenden Phänomene zu verschleiern und die Gesellschaft damit von konkreten Handlungszwängen zu entbinden. Der zur Abgrenzung ebenfalls herangezogene Begriff des doublespeak erweist sich nur in einer seiner vier Konstituenten als inhaltlich weitgehend identisch mit dem Komplex «Ethik ohne Moral», der Ausdruck der «Lüge» gar nicht (5.4.1). Thematisch treten «Euphemismen ohne Moral» außer in irreleitender Werbung häufig zur Bezeichnung von Kündigungen, Preissteigerungen oder Schmiergeld auf und finden sich insbesondere in der Kriegsberichterstattung, in der diese Art von Euphemismen schon seit der Antike nachweislich verwendet wird und bis heute zur sprachlichen Verschleierung eigenverschuldeter Kriegsdramen hoch im Kurs steht (5.4.2).

391

6.

Schlussbetrachtungen

6.1

Rückblick: Lexikographische und kulturhistorische Ergebnisse

Im Hinblick auf die gestellte Aufgabe, die lexikographisch ausgewiesenen Euphemismen des Französischen und Italienischen semantisch zu sichten und als Ausdruck jeweiliger gesellschaftshistorischer und mentalitätsbedingter Tabuisierungen zu interpretieren, waren zunächst begriffliche Vorklärungen zum Tabubegriff und zur sprachlichen Tabuisierung vorzunehmen. Dabei wurde die zeichentheoretische Antwort auf die bisher immer wieder aufgeworfene und kontrovers diskutierte Frage nach dem Gegenstand der Tabuisierung gesucht und dieser in der im Signifikat des tabuisierten Sprachzeichens perspektivierten Realität gefunden, wie sie durch die Nennung des Signifikanten evoziert wird (2.1). Die daran anschließende Analyse gängiger Definitionen ließ einerseits unpräzise bis unzulässige Ausführungen feststellen, die von einer Tabuisierung des Referenten ausgehen, andererseits unzureichende Unterscheidungen von Ursachen, Motiven und Funktionen euphemistischer Sprachverwendung sowie die Vernachlässigung zentraler Bereiche ihres Auftretens erkennen. Als Teilziel der vorliegenden Arbeit legte diese Einsicht die Ausarbeitung einer umfassenden Definition nahe, wie sie im letzten Unterkapitel der Schlussbemerkungen zu entwickeln und abschließend zu formulieren ist. Auf die Klarstellung, dass Euphemismen grundsätzlich auf allen Ebenen der Sozialhierarchie vorkommen (2.2), folgte die nach Bereichen geordnete Präsentation der Materialien beider Korpora, die auf den zugrunde gelegten allgemeinsprachlichen Lexika Petit Robert und Zingarelli basieren (3). Die kritische Betrachtung der lexikographischen Praxis zeigte einige technische Inkohärenzen im Bezug auf die lexikographische Markierung von Euphemismen, wie z.B. unterschiedliche Kennzeichnungen bei mehrfacher Anführung des Ausdrucks, unklare Hinweise zur Reichweite von Markierungsangaben innerhalb eines Lemmas, unzureichend reflektierte Angaben zur bisweilen schwierigen Unterscheidung zwischen historischen und vitalen Euphemismen sowie fragliche Markierungshinweise, die im Hinblick auf lexikographische Klarheit zu überarbeiten sind (4.1.1). Ferner konnte die von der Evaluation soziolinguistischer Markierungsangaben bekannte in verschiedenen Lexika einer Sprache uneinheitliche Bewertung des Registers eines Ausdrucks auch für die Wertungsangabe Euphemismus bestätigt und mit 393

konkreten Zahlen unterlegt werden. Diese attestieren im Falle des prinzipiellen Vorkommens in jeweils beiden Lexika eine Übereinstimmung von insgesamt 47 % zwischen PR und TLF bzw. 40 % zwischen Z und GDLI, die im Bereich «Glaube, Aberglaube und Magie» am stärksten ausgeprägt ist, auf den im französischen Vergleich das Gebiet «Toilettengang und Toilette», im italienischen der Bereich «Körperteile» folgt. Des Weiteren ergab ein Blick auf die unterschiedliche lexikographische Bewertung linguistisch durchaus vergleichbarer Ausdrücke in PR und Z deutlich weniger in PR markierte Ausdrücke gegenüber in Z unmarkierten Entsprechungen als in Z markierte Euphemismen gegenüber in PR unmarkiert angeführten Äquivalenten, was insbesondere auf den Gebieten «Sterben und Tod» sowie «Prostitution» auffiel. Darüber hinaus konnte die in beiden Lexika vorherrschende Neutralität der Registerangabe euphemistisch markierter Einträge festgestellt werden, der einige wenige Fälle soziolinguistischer Markierungskennzeichnung gegenüberstehen, die im italienischen Korpus und dort wiederum fast ausschließlich im Bereich «Körperteile» als «pop.» erscheint, während «fam.» im italienischen Korpus in verschiedenen Bereichen vorkommt und im französischen Korpus wiederum auf die Gebiete «Körperteile» und «Toilettengang und Toilette» konzentriert ist. Gegenüber der Registerebene des vermiedenen Ausdrucks wird dem Euphemismus dabei meist, nicht aber generell, ein höheres Niveau zugewiesen (4.1.2). Im internen Abgleich beider Korpora zeigte sich eine etwaige quantitative Entsprechung innerhalb der Kategorien «Glaube, Aberglaube und Magie» sowie «Krankheiten und andere Einschränkungen» bei gleichzeitig insgesamt größerer Dimensionierung des italienischen Korpus. Dennoch erscheinen im französischen absolut und prozentual deutlich mehr Euphemismen aus den Bereichen «Toilettengang und Toilette» und «Eigenschaften und andere Verhaltensweisen» als im italienischen, während die italienischen Euphemismen umgekehrt auf den Gebieten «Sterben und Tod», «Körperteile» und in der Kategorie «Liebes- und Sexualleben» dominieren (4.2.1). Letztere belegt auch im Vergleich der absoluten Anzahl von Euphemismen im französischitalienischen Gesamtkorpus den ersten Platz, gefolgt von «Sterben und Tod», «Körperteile», «Glaube, Aberglaube und Magie» und dem Komplex «Toilettengang und Toilette», der wiederum in der Umfrage eines Psychologen zu Thementabus in Deutschland an erster Stelle liegt, während die Umfrage einer Soziologin das Gebiet «Sexualität» erstplatziert. Die Durchführung einer auf die Interessen der Arbeit spezifizierten eigenen Umfrage zu Thementabus ergab ebenfalls diesen Bereich als das am häufigsten genannte Tabuthema der befragten Franzosen und Italiener, gleichzeitig aber Unterschiede im Hinblick auf die von den Franzosen stärker tabuisierten Themen «Geld» und «Probleme im Privatleben» (4.2.2). Einige Anmerkungen zu in den Korpora nicht vorhandenen Bereichen trugen zu einer Abrundung des Gesamtbildes euphemistisch relevanter Themen beider Sprachgemeinschaften bei (4.2.3).

394

Die Analyse der unterschiedlichen Bildungsweisen von Euphemismen ergab ein Kontinuum, das von verschiedenen Arten der formalen Modifikation des tabuisierten Ausdrucks bis hin zu dessen semantischem Ersatz reicht. Bei den Deformationen fallen im italienischen Korpus vornehmlich diejenigen von Körperteilbezeichnungen unter Beibehaltung des Anlauts des ursprünglichen Ausdrucks auf, im französischen hingegen einige Modifikationen von merde und in beiden Sprachen religiös motivierte Euphemismen, die sich im Französischen mehrfach als kontrahierte Syntagmata mit umgebildetem Dieu erweisen. Mündet eine Deformation in einer Substitution, so stehen anstelle des Gottesnamens sinnentleerte französische Ausdrücke italienischen Namen antiker Gottheiten gegenüber (4.3.1). Beim lexikalischen Ersatz halten sich die Generalisierung, aber auch die Metonymie im Vergleich beider Korpora in absoluten Zahlen in etwa die Waage, wohingegen die innerhalb der italienischen Substitutionsarten dominierende Position der euphemistischen Verwendung der Metapher hervorzuheben ist, die im französischen Korpus weit dahinter zurückbleibt. Seltener fehlen Ersatzphänomene in einem Teilkorpus gänzlich, wie die andeutenden Umschreibungen und die höfliche Aufforderung in Z, was natürlich nicht sprachinhärent, sondern nur in unterschiedlichen Aufnahmerichtlinien der Redakteure begründet sein kann, oder die im Gegensatz zum belegten umgekehrten Vorgang ausfallende euphemistische Entlehnung des Französischen aus dem Italienischen, was die Unterschiede der mit den Einzelsprachen verbundenen Konnotationen unterstreicht (4.3.2). Auf die Darstellung der Arten euphemistischer Substitution folgten kulturelle und zivilisationsgeschichtliche Interpretationen und Erklärungen, die unter dem Vorzeichen der übergreifenden Themen «Ethik und Religion», «Ethik und Ästhetik», «Ethik und Sozialpolitik» sowie «Ethik ohne Moral» stehen, wobei Ethik im etymologischen Sinne des gr. ἦθος zu sehen ist. Unter der Thematik «Ethik und Religion» wurde das Vermeiden von Ausdrücken betrachtet, deren Tabuisierung auf einem magisch-religiösen Sprachdenken beruht, das Worten nicht nur onomasiologische Darstellungsfunktion, sondern auch Stellvertreterfunktion für den Bezeichneten oder das Bezeichnete beimisst. Eine solche Identifikation von Wort und Referent zieht neben der Tabuisierung auch die Versuchung des Tabubruchs nach sich, dessen jeweilige Ausprägung eng mit der Rolle der Kirche in der entsprechenden Gesellschaft verbunden ist. Mit der Darstellung des sprachphilosophischen und religionsgeschichtlichen Hintergrundes für das Entstehen von Euphemismen konnte daher die zunächst strenge Verfolgung blasphemischen Fluchens durch kirchliche wie weltliche Obrigkeiten erklärt werden; mit der psychologischen Interpretation des Fluchens die nachlassende Expressivität seiner religiösen Basis und die Notwendigkeit einer Ergänzung durch eine skatologische Komponente, wie sie in Frankreich mit dem mot de Cambronne verstärkt wurde, oder den Rückgriff auf intime Körperteile, wie er Italien kennzeichnet. Im Hinblick auf die sprachliche Euphemisierung von Krankheiten wird der 395

Glaube, sie durch direkte Nennung zu bekommen, ebenso durch die Angst erweitert, sozial isoliert zu werden, wie durch das Motiv der Scham, des SichSchämen-Müssens oder -Sollens, das nicht nur bei Geschlechtskrankheiten, sondern aufgrund der traditionellen Interpretation der Krankheit als «Strafe Gottes» auch generell nahelag und teilweise bis heute perpetuiert ist (5.1). Doch ist die Euphemisierung in den Bereichen «Krankheiten», «Sterben und Tod» heute v.a. in der Rücksichtnahme gegenüber dem Kranken bzw. Toten und seinen Angehörigen begründet, die manieren- und mentalitätshistorisch unter den Entwicklungsstrang «Ethik und Ästhetik» fällt. Interpretatorisch auf der Achtung anderer und der Selbstachtung basierend, wie sie sozialgeschichtlich mit der Frühen Neuzeit durch die neu zusammengesetzte Elite akzentuiert wurden, ist er in Europa engstens mit dem Renaissancehumanismus verbunden, der abgesehen von der pädagogischen Schrift des Erasmus von Italien ausging und über die bekannten Manierentraktate Baldassare Castigliones, Giovanni della Casas und Stefano Guazzos auch in Frankreich rezipiert wurde, wo er angesichts der offenen Kritik am «anstandslosen» Hofleben unter Heinrich IV. auf fruchtbaren Boden fiel und vor allem über den Salon de Rambouillet vorbildlich adaptiert wurde, um dann im ästhetischen Empfinden und dem allem Banalen abholden Sprachdenken der Preziösen auch in der Verwendung von Euphemismen einen Höhepunkt zu erreichen. Mit epochenspezifischen Schwankungen haben die frühneuzeitlich akzentuierten Verhaltensweisen bis in die Gegenwart Bestand, wenn es euphemistisch um die Gebiete «Liebes- und Sexualleben», «Nacktheit und Prüderie», «Weiblicher Lebenszyklus» und «Skatologie» geht, deren Tabuisierung zunächst auf dem Oktroyieren und im Laufe des 18. Jahrhunderts auf der Verinnerlichung eines Schamgefühls beruht, dessen Infragestellung erst im Laufe des 20. Jahrhunderts systematisch erfolgte (5.2). Wechselseitige Achtung und Selbstachtung haben ebenfalls einen sozialpolitischen Zweig, «Ethik und Sozialpolitik», der besonders in der neueren Tabuisierungswelle US-amerikanischer Herkunft zum Entstehen von Euphemismen im Sinne Politischer Korrektheit führte. Letztere löste eine kontroverse Diskussion über den Sinn solchen Sprachgebrauchs aus, die einerseits generelle Überlegungen zur Macht der Sprache und ihrer Ideologiebesetztheit anstellen ließ, andererseits eine Abwägung des Nutzens einer Sanktionierung sprachlicher Fehlhandlungen gegenüber der grundsätzlich angebrachten Verteidigung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung nahelegte, wie sie nicht nur die Sorge manch eines Vertreters der jeweiligen Mehrheit vor unbedachten sprachlichen Fehltritten mindern, sondern durch den entstandenen Dialog auch den Bedürfnissen der einzelnen Minderheiten dienlich sein kann. Dabei war ebenfalls an die Bedeutung der Sprache im Hinblick auf das Denken zu erinnern und die v.a. mit dem Argument typisch euphemistischer Ersatzspiralen bloße Spiegelfunktion der in der Philosophiegeschichte immer wieder thematisierten Modifikatorfunktion gegenüberzustellen. Der daran anschließende Einblick in die Rezeption Politischer 396

Korrektheit in Europa galt dem unterschiedlichen soziokulturellen Kontext sowie der häufig vollzogenen Ausweitung des im engeren Sinne auf rücksichtsvollen Umgang mit Minderheiten begrenzten Begriffs auf Bereiche wie «Ökologie» oder «Ökonomie» sowie seiner Verwendung zur Stigmatisierung einer generellen «pensée unique», eines Konformismus jedweder Couleur. In ihrer Entstehung und Entwicklung wurden daraufhin die Gebiete «Rasse», «Physische Einschränkungen», «Alter» und «Sexuelle Orientierung», aber auch das Phänomen der Aufwertung einfacher Berufe und ärmerer Länder skizziert (5.3). Im Gegensatz zu diesen in euphemistischer Hinsicht der wechselseitigen Achtung und der Selbstachtung verpflichteten Themen wurden unter dem Begriff «Ethik ohne Moral» jene Bereiche zusammengefasst, in denen der Sprecher euphemistische Ausdrucksweisen mit dem Ziel der Wahrung seines eigenen Gesichts oder desjenigen seiner Institution nicht zur respektvollen Nennung, sondern vielmehr zur respektlosen Umgehung der Realität verwendet. Da zu diesem Zweck im Signifikat des euphemisierenden Ausdrucks bewusst eine irreführende Realität perspektiviert wird, ist für den Adressaten die bei den sonstigen Euphemismen übliche Beziehung zum tabuisierten Ausdruck zumindest vorderhand nicht erkennbar. Die Abgrenzung zur Politischen Korrektheit, die Unterschiede zum weitergefassten doublespeak und das Problem der Sprachtäuschung und Lüge waren hier ebenso anzusprechen wie die Doppelfunktion mancher Euphemismen, die je nach Sprecherintention unterschiedlich zu werten sind, was am Beispiel von Bezeichnungen aus den Bereichen der Armut und des Strafvollzugs aufgezeigt wurde. Eine klare irreleitende Sprecherintention war demgegenüber bei den behandelten Ausdrücken aus der Wirtschafts- und Arbeitswelt zur Ankündigung von Entlassungen greifbar und erhält als fast schon universelles Phänomen eine besonders starke Ausprägung in der geschönten Kriegsberichterstattung (5.4). Insgesamt zeigt die Analyse des Spektrums euphemistischer Ausdrucksweisen, die in den zugrunde gelegten französischen und italienischen Lexika mit Markierungsangaben versehen sind, ebenso die Perpetuierung von Reaktionen auf historische Tabuisierungsschübe wie die Vitalität des Phänomens. Dabei reichen seine mannigfaltigen Erscheinungformen vom traditionellen gläubigen und abergläubischen Sprachdenken, wie es in Euphemismen bis heute greifbar ist, über die wechselseitige Achtung und Selbstachtung, die sozial- und zivilisationsgeschichtlich in Verbindung mit dem Renaissancehumanismus bis in die Gegenwart wegweisend akzentuiert wird, und über das neuere Phänomen der Politischen Korrektheit, das, insbesondere wenn es weniger präskriptiv als appellativ verstanden wird, als Weiterentwicklung einer bereits früh bezeugten Grundhaltung beschrieben werden kann, bis hin zu den in ihrem Grundcharakter wiederum seit dem Altertum bezeugten Ausdrucksweisen, die in der vorliegenden Arbeit unter «Ethik ohne Moral» subsumiert sind. Die Gewichtung der einzelnen Bereiche war im Laufe der Geschichte beider Kulturen unterschiedlich, so dass entsprechend der Wen397

dung «tempora mutantur, et nos mutamur in illis» in einem veränderten Euphemismengebrauch jeweils auch ein Wandel in der Geisteshaltung der entsprechenden Sprachgemeinschaften zum Ausdruck kommt.

6.2

Reflexe: Qualis homo, talis eius oratio?

Mit diesem Rückblick ist noch einmal deutlich geworden, dass Tabuisierungsund Euphemisierungsschübe Bestandteil der Zivilisationsgeschichte einer Gesellschaft sind und deren Mentalität und Raffinesse in der Entwicklung der sprachlichen wie nichtsprachlichen Manieren reflektieren. Denn angesichts des eminent sozialen Phänomens, das der Euphemismus darstellt, umgeht das Individuum in permanenter verinnerlichter oder auferlegter Selbstdisziplinierung Tabus als Ausdruck einer moralisch positiven oder negativen geistigen Kultur und sieht darin seinen diesbezüglichen Stellenwert im Sozialprestige verwirklicht. So kann die Analyse der verwendeten Euphemismen prinzipiell dazu beitragen, den Sprecher soziokulturell zu lokalisieren, wie es im Hinblick auf die Sprache generell in Aussagen aus der Antike wie «Sprich, damit ich Dich sehe» von Sokrates oder «Qualis homo, talis eius oratio» von Cicero zum Ausdruck kommt, aber auch in Stellen aus der Bibel wie «An der Rede erkennt man den Mann» oder in einem im weiteren, wenn auch nicht ursprünglichen Sinne Buffons verstandenen «Le style est l’homme même». Doch ist die Aussagekraft der euphemistischen Sprachverwendung im Hinblick auf den kulturellen Standort des Individuum nicht generell gegeben, sondern hängt von der Art der Verankerung des Euphemismus ab. Auf dem Gebiet «Ethik und Religion», das die im magisch-religiösen Sprachdenken von alters her angesiedelte und teilweise bis heute perpetuierte Euphemisierung umfasst, ist die Verwendung von Euphemismen im Kontext übernatürlicher Mächte zwar generell stark zurückgegangen, aber abgesehen von Fällen der Habitualisierung vor allem im Volksglauben und in abergläubischen Verhaltens- und Ausdrucksweisen vieler Zeitgenossen durchaus noch zu finden, auf dem Lande mehr als in der Stadt, bei weniger gebildeten mehr als bei rational aufgeklärten. Anders stellt sich die Situation in den Bereichen «Krankheiten» sowie «Sterben und Tod» dar, innerhalb derer schon die Art der Formulierung von Todesanzeigen dokumentiert, dass direkte Ausdrucksweisen zumindest kontextspezifisch von allen vermieden werden, was gegenwärtig insbesondere aus Rücksichtnahme erfolgt, aber auch generell aufgrund einer gewissen Scheu, das direkte Wort zu verwenden. Der Bereich «Ethik und Ästhetik» setzt mit dem Renaissancehumanismus durch die Rückbesinnung auf die antike urbanitas ein und ist inhaltlich mit der Akzentuierung wechselseitiger Achtung und Selbstachtung prinzipiell bis heute verinnerlicht geblieben. Hier erbringt die Verwendung von Euphemismen einen sprachlichen Beitrag zu einem angenehmen, weil zivilisierten Miteinander, denn Sprachqualität ist immer auch verbunden mit Lebensqua398

lität. Die natürlich hier anzuschließende Frage, welche soziale Gruppe am meisten zur Erhöhung der diesbezüglichen Lebensqualität beiträgt, muss auf die wenigen, bisher vorliegenden Erkenntnisse zur soziolinguistischen Differenzierung in der Verwendung euphemistischer Ausdrucksweisen rekurrieren, die belegen, dass z.B. im unteren Teil der Sozialhierarchie zwar eine Vielzahl von Bezeichnungen im sexuellen und skatologischen Bereich existiert, diese aber nicht mehrheitlich Euphemismen darstellen. Im oberen Teil der Hierarchie hingegen wird darüber eher das Schweigen vorgezogen, d.h. es liegen für diese Gebiete teilweise schon fast Thementabus vor. Demnach wäre zumindest in diesen beiden Bereichen die Verwendung von Euphemismen vorzugsweise auf das aufstiegsorientierte Bürgertum konzentriert, doch bedarf diese Hypothese unter Einbezug weiterer Bereiche noch der Überprüfung durch Beobachtung gesprochener Sprache, durch Enqueten und die Durchsicht von Textgattungen jedweder Art. Das Gebiet «Ethik und Sozialpolitik» US-amerikanischen Ursprungs fand in Europa unterschiedliche und eher zurückhaltende Resonanz, traf hier aber auch auf eigene Traditionen, wie sie seit dem Humanismus der Frühen Neuzeit mit neuem Akzent bezeugt sind. Die Verwendung von Euphemismen dieses Bereichs ist zunächst bei öffentlichen Auftritten von Personen zu finden, die eben auf tatsächliche oder vermeintliche Minderheiten Rücksicht zu nehmen haben, d.h. bei allen politisch tätigen und jenen, die im öffentlichen Leben stehen, und daher auch bei Journalisten in ihren Presseberichten. Es handelt sich hier also vor allem um situationsbedingte Verhaltensweisen, die zwar etwas über den Kontext der Äußerung auszusagen vermögen, nichts aber über den Charakter des Sprechers oder seine tatsächliche Haltung gegenüber Minderheiten. Inzwischen bürgert sich entsprechendes Sprachverhalten aber auch immer mehr im Privat-Gespräch ein, wo es ganz anders zu beurteilen ist, obwohl auch hier der eigene Distinktionswille eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen mag, denn schließlich lässt politisch korrektes Vokabular, gerechtfertigt oder auch nicht, auf die Rücksichtnahme des Sprechers gegenüber Schwächeren und somit auf einen guten Charakter schließen, so dass die Aufwertung der eigenen Umgebung letztendlich auch der Aufwertung der eigenen Person dient, in deren Sinne auch die soziale Höherwertigkeit der entsprechenden Bezeichnungen steht. Doch insgesamt entspringt letzten Endes auch hier das Verhalten der vermeintlichen oder tatsächlichen Achtung anderer und Selbstachtung im weiteren heute neuakzentuierten Kontext. Im «Ethik ohne Moral» titulierten Bereich ist die Verwendung von Euphemismen charakteristisch für Aufgabenträger wie Militärstrategen, Unternehmer oder Politiker, die mit dem Ziel der Gesichtswahrung von Institutionen Entscheidungen oder Mitteilungen gegenüber Betroffenen oder gegenüber der Allgemeinheit zu verkünden oder zu vertreten haben, aber auch für Werbefachleute, die andere unter Einbezug sprachlicher Realitätsumgehung dazu verleiten wollen, ein bestimmtes Produkt zu kaufen oder eine Reise zu buchen. 399

So trifft das Zitat im Kapiteltitel v.a. auf den zweiten Bereich «Achtung und Selbstachtung» zu, in dem tatsächlich das, was unter «Anstand» subsumiert werden kann, in Form von Euphemismen greifbar wird und insofern den Sprecher sprachethisch-ästhetisch und damit kulturell zu werten und einzuordnen vermag. Dies mag auch beim Vermeiden oder Umgehen sakraler Flüche und Interjektionen möglich sein sowie ferner bei Politischer Korrektheit, so sie auf tatsächlicher oder vorgegebener Anständigkeit und Rücksichtnahme beruht. Wenig aussagekräftig im Hinblick auf das allgemeine Kulturniveau des Sprechers sind die entsprechenden politisch korrekten Ausdrucksweisen aber, wenn es sich um ein z.B. von einem Unternehmen oktroyiertes Sprachverhalten handelt. Vor allem aber liegt mit der Verwendung von Euphemismen im Bereich «Ethik ohne Moral» ein primär oft berufsbedingt auferlegtes Rollenverhalten vor, das Rückschlüsse auf die Tätigkeit des Sprechers, nicht aber auf ihn als Individuum erlaubt.

6.3

Resümee: Das Phänomen Euphemismus

Nach diesen als Reflexe der vorangegangen Ausführungen entstandenen Anmerkungen zur Verbindung zwischen der Sprache und dem kulturellen Standort des Sprechers ist ausgehend von der Gliederung der Euphemismen aus den Korpora in semantische Einzelbereiche (3), deren Zusammenfassung und Analyse unter übergeordneten Gesichtspunkten (5) und unter Berücksichtigung der zeichentheoretischen Überlegungen zur Tabuisierung (2.1.3) ein gemeinsamer Nenner für die vielzähligen euphemistischen Erscheinungsformen anzuvisieren. Hierfür sind diese zunächst im Hinblick auf die Intention des Sprechers, die ethische Verankerung seiner Sprachwahl sowie die ihr zugrunde liegenden Ursachen, Motive und Funktionen zu kategorisieren und dabei zur Illustration Kernbereiche der Entstehung und Verwendung von Euphemismen sowie die sie primär konstituierenden Bildungsmechanismen aufzuzeigen, was im Folgenden dargelegt und in dem infra (p. 407) abgebildeten Organigramm synoptisch zusammengefasst wird. Dabei steht außer Frage, dass einzelne Aspekte auch in Kombination mit anderen mehrfach relevant sein können und Überschneidungen zwangsläufig nicht auszuschließen sind, zumal sich Sprache als Attribut des Menschen nie völlig in einem System exklusiver Oppositionen unterbringen lässt; ferner, dass aus Gründen der Übersichtlichkeit nur dominierende Ursachen, Motive und Funktionen sowie die in der Arbeit vertieft betrachteten semantischen Bereiche berücksichtigt werden. Dennoch erlaubt das so erstellte Raster prinzipiell die Integration weiterer Bereiche und berücksichtigt so die dem Phänomen eigene Vielfalt in ausreichendem Maße, um es abschließend einer möglichst umfassenden Definition zuzuführen. 1. Ebene: Die Bildung und der Gebrauch von Euphemismen stellen im Rahmen eines sprachlichen Verhaltenskodexes eine Vermeidungsstrategie 400

gegenüber Ausdrucksweisen dar, die epochen- und gesellschaftsbedingt in einem gegebenen Zivilisationsprozess oft schubweise tabuisiert und in der Folge möglicherweise, aber nicht zwangsläufig auch wieder enttabuisiert werden. Diese Tabuisierung von Ausdrucksweisen kann durch teilweise oktroyierte Verhaltensgebote erfolgen, wie aufgrund des Gebotes, nicht blasphemisch zu fluchen, das von den kirchlichen und zeitweise weltlichen Obrigkeiten sogar Verbotscharakter bekam und oft mit äußerst grausamen Strafen geahndet wurde. Eine weitere Tabuisierungsbasis liegt im ethisch-ästhetischen Empfinden und Selbstverständnis einer Gesellschaft und betrifft besonders im sexuellen und skatologischen Bereich die anstößige Direktheit der Bezeichnung, wie sie bei ordinärer Wortwahl oft vorliegt. Dabei geht es ebenso um generelle Rücksichtnahme wie bei der Vermeidung von Ausdrucksweisen, die Minderheiten oder sozial Schwächergestellte möglicherweise verletzen und heute neben traditionellen Werten zusätzlich durch Politische Korrektheit gebrandmarkt sind. Nicht zuletzt entsteht Tabuisierung auch aus der Kenntnis der gesellschaftlichen Inakzeptanz bestimmter Handlungen und Sachverhalte im (finanz)wirtschaftlichen oder militärischen Kontext. Zur Vermeidung solch tabuisierten Wortgebrauchs steht der Euphemismus zur Verfügung, der zunächst als formal oder semantisch indirekte Ausdrucksweise zu verstehen ist, die es ermöglicht, in einer gegebenen Kommunikationssituation sprachlich denotativ und/oder konnotativ als anstößig oder unangemessen gewertete Perspektivierungen sprachlicher Zeichen zu vermeiden, indem die tabuisierten Bezeichnungen durch andere ersetzt werden, die eine vom Hörer nachvollziehbare oder ihn auch gegebenenfalls irreleitende, in jedem Fall aber tabufreie Perspektivierung erbringen. Kulturhistorisch ist die Verwendung von Euphemismen als Bestandteil eines sprachlichen Verhaltenskodexes quantitativ und qualitativ vom Standort der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe im Zivilisationsprozess abhängig. Die quantitative Betrachtung, d.h. diejenige der Euphemismenanzahl, kann bei umsichtiger Interpretation im Verhältnis zur Frequenz des tabuisierten Ausdrucks tendenziell in direkter Relation zum jeweiligen qualitativen Stellenwert sprachethischer Verhaltensmuster gesehen werden, die wiederum als Spiegel soziokultureller Maßstäbe und Kodizes in den einzelnen Bereichen fungieren. Dies gilt somit sowohl im Umgang mit dem Glauben und Aberglauben als auch im Verhalten gegenüber dem Gesprächspartner, d.h. der wechselseitigen Achtung und der Selbstachtung, sowie für die Vermittlung gesellschaftlich wenig willkommener Realitäten. 2. Ebene: Im Hinblick auf die Intention des Sprechers ist zwischen Euphemismen zu unterscheiden, die den Realitätsbezug der tabuisierten Bezeichnung semantisch beibehalten, und solchen, mit denen dieser bewusst verdeckt werden soll. Möchte der Sprecher den Realitätsbezug wahren, wie er im direkten, wenn auch durch Konvention meist arbiträr gewordenen und nunmehr tabuisierten Ausdruck gewährleistet ist, so wählt er entweder eine euphemistische Deformation, deren lautliche Seite genügend formale Asso401

ziationspunkte zum tabuisierten Ausdruck enthält, um diesen unterschwellig präsent bleiben zu lassen, oder eine lexikalische Ersatzform, deren Signifikat mit demjenigen der zu ersetzenden Bezeichnung hinreichend denotativ oder konnotativ funktionelle Merkmale teilt, um den Realitätsbezug für den Hörer zu wahren, also sicherzustellen, «[que] par les adjoints & les circonstances, l’esprit entend bien ce qu’on a dessin de lui faire entendre» (Dumarsais 1756, 207). Liegt es hingegen im Interesse des Sprechers, dass der Euphemismus vom Adressaten zumindest zunächst unabhängig vom tabuisierten Ausdruck interpretiert wird, so verwendet er eine lexikalische Ersatzform, in deren Signifikat eine zunächst irreführende Realität perspektiviert ist. Da zum Erfassen der tatsächlich bezeichneten Realität erst ein teilweise vielleicht bitterer aufklärender Lernprozess nötig ist, kann dies konsequenterweise als Sprachmissbrauch oder als Manipulation mit Sprache gewertet werden. 3. Ebene: Die Unterscheidung zwischen der Wahrung und dem Verlust des Realitätsbezugs im Euphemismus ist in manchen Fällen nur bei Kenntnis der persönlichen Interpretation der Realität durch den Sprecher möglich, so dass einzelne Ausdrücke je nach Verwendungskontext unterschiedlich zu werten sind. Trotz solcher im Einzelfall nicht auszuschließender abweichender Interpretationsmöglichkeiten wird der Realitätsbezug in der Regel mit sprachlichen Verhaltensweisen bewahrt, die in religiöser oder allgemeiner Ethik verankert sind, wobei Letztere häufig eine deutliche und von ihr kaum zu trennende ästhetische, aber auch sozialpolitische Komponente aufweist. Die Verwendung von Ausdrucksweisen mangelhaften Realitätsbezugs entspringt hingegen einer «Ethik ohne Moral», was zur grundsätzlichen Unterscheidung von drei in (3a) religiöser, (3b) ästhetisch-sozialpolitischer und (3c) moralfreier Ethik verankerten Gruppen von Euphemismen führt. 4. Ebene: Die Verhaltenskodizes für diese drei Verwendungsweisen lassen die Euphemismen nach ihrer ursächlichen Begründung (4a) in eine erste Gruppe einteilen, der das mythisch-religiöse Sprachdenken oder Wortverständnis einer Glaubensethik zugrunde liegt, das durch die Identifikation von Name und Namensträger, von Bezeichnung und Bezeichnetem charakterisiert ist. Es verlangt bis heute z.B. den ehrfurchtsvollen Umgang mit dem Namen Gottes im Christentum oder bedingt teilweise noch die Euphemisierung der direkten Bezeichnung des Todes sowie bestimmter Krankheiten. (4b) Die Euphemismen der zweiten Gruppe werden durch die Kriterien der wechselseitigen Achtung und Selbstachtung verbunden. Diese sind seit dem Renaissancehumanismus mit epochenspezifisch unterschiedlich starker Akzentuierung zu einer durchgehenden ethisch-ästhetischen Basis für das Verhalten geworden, die besonders in Frankreich traditionell seit dem 17. Jahrhundert auch speziell in sprachlicher Hinsicht maßgebend ist und von der im 20. Jahrhundert neu aufgekommenen Politischen Korrektheit einen weiteren Impuls empfing. (4c) Die dritte Gruppe hat ihren Ursprung im Bewusstsein des Sprechers von der gesellschaftlichen Inakzeptanz nicht nur der direkten, sondern auch der indirekten Nennung der Realität, welche es daher mit einer 402

Bezeichnung zu umgehen gilt, die den Adressaten zumindest zunächst keine Verbindung zum direkten Ausdruck der Sache oder des Sachverhalts erkennen lassen soll. Im prinzipiellen Gegensatz zu allen anderen Euphemismen, die von Sprecher wie Hörer als solche identifiziert werden und damit den Dialog gewährleisten, ist sich hier zunächst nur der Sprecher, nicht aber der Adressat des irreleitenden Charakters seiner Ausdrucksweise bewusst, was massiv gegen den Dialogcharakter von Sprache verstößt. 5. Ebene: Die Motive für die Verwendung von Euphemismen können aus den in der vierten Ebene genannten ursächlichen Begründungen der Verhaltenskodizes abgeleitet werden. (5a) Sie ergeben sich beim mythischreligiösen Sprachdenken neben der Ehrfurcht vor dem Übernatürlichen aus der orthodox-religiösen Furcht vor Unglück, Krankheit und Tod als Strafen Gottes, aber auch aus der abergläubischen Furcht vor den unheilvollen Folgen direkter vermeintlich realitätskonstituierender Namensnennung oder Bezeichnung. Eine solche Furcht vor dem Auftreten von Krankheiten bereits aufgrund der Nennung ihrer Namen ist bis heute im Verschweigen der direkten Bezeichnung mancher Leiden perpetuiert, (5ba) auch wenn inzwischen weitere Gründe hinzugekommen sind wie die Angst vor sozialer Stigmatisierung und existentiellen Problemen, die Rücksicht gegenüber dem ästhetischen Empfinden der Gesunden bzw. auf Seiten der Gesunden die Rücksicht gegenüber dem Schamgefühl der Kranken, die in den Bereich wechselseitiger Achtung und Selbstachtung fallen, aus dem sich ebenso generelle Motive für euphemistische Ausdrucksweisen deduzieren lassen. Sie entspringen zunächst dem Erfordernis eines veränderten Umgangs miteinander, das sozialhistorisch in beiden Ländern durch die zu Beginn der Neuzeit erfolgte Neugestaltung der Elite bedingt ist und kulturgeschichtlich vom Renaissancehumanismus getragen wird. Die Umgangsformen entwickeln sich besonders in ästhetischer Hinsicht aus der tatsächlichen oder scheinbaren Rücksicht aufeinander und der damit verbundenen Selbstdisziplin, aber auch aus dem elitären Distinktionswillen. Es entsteht ein verstärktes Anstandsdenken, das vor allem über Manierentraktate Verbreitung findet und in einem ausgeprägten Takt- und Schamgefühl akzentuiert ist, das in der Folgezeit verinnerlicht wird und bis in die Gegenwart Bestand hat. (5bb) Auf demselben gemeinsamen Nenner von wechselseitiger Achtung und Selbstachtung steht auch die Rücksicht gegenüber Minderheiten im weitesten Sinne, wie sie ihren sprachlichen Niederschlag sozialpolitisch insbesondere in der teilweise sehr kontrovers diskutierten Politischen Korrektheit, in der Forderung nach Gleichbehandlung aller Gruppierungen und im Bestreben nach einer Verbesserung des Sozialprestiges Schwächerer findet. Eine solche Höflichkeit im Umgang miteinander kann zwar auch dem Sozialprestige eines Vertreters der jeweiligen Mehrheit dienen und mag in manchen Fällen oktroyiert erscheinen, ist aber prinzipiell als Motiv im positiven Sinne zu verstehen und nicht als taktisches Verhalten zum Erreichen verdeckter Ziele. (5c) Anders verhält es sich mit den Motiven, aus denen heraus Euphemismen zu er403

klären sind, die im Bewusstsein der generellen Inakzeptanz der benannten Fakten verwendet werden. Bei der Entscheidung über die Ausdruckswahl überwiegt hier die Sorge um den Gesichtsverlust politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Entscheidungsträger, die diesen aufgrund von Profitund Profilierungsdenken nicht hinnehmen wollen und einem gegen die eigenen Interessen gewandten individuellen oder gesellschaftlichen Widerstand vorzubeugen suchen. Zwar kann das Argument, den Adressaten nicht mit der unumwundenenen Nennung der Fakten konfrontieren und desillusionieren zu wollen, in Einzelfällen als moralische Hintertür fungieren, doch widerspricht die intendierte, durch den Verlust des Realitätsbezugs erreichte Irreführung des Adressaten hier eindeutig der Möglichkeit eines partnerschaftlichen Miteinanders, wie sie Sprache prinzipiell gewährleisten sollte. 6. Ebene: Ähnlich wie die auf der fünften Ebene behandelten Motive in den auf der vierten Ebene dargestellten Ursachen begründet sind, leiten sich die Funktionen des Euphemismus wiederum aus den Motiven ab. (6a) Bei Motiven wie Ehrfurcht und Furcht steht die vermeintliche Schutzfunktion der Euphemismen vor unheilbringenden Folgen der direkten Nennung von Übernatürlichem im Vordergrund, die einerseits den Schutz vor göttlichen Strafen, andererseits den Schutz vor dem Erscheinen des direkt benannten Referenten beinhaltet, (6ba) während bei den im Hinblick auf die indirekte Bezeichnung von Krankheiten genannten Motiven der Scham und der Angst vor existentiellen Problemen als Funktion des Euphemismus der erhoffte Schutz vor beruflicher Stigmatisierung und sozialer Isolation gegeben ist. Das seit Beginn der Neuzeit verstärkt entwickelte Gefühl für Sitte und Anstand findet sich sprachlich in denjenigen Euphemismen, deren indirekte und definitionsgemäß tabufreie Ausdrucksweise sowohl rücksichtsvoll und diszipliniert andere von allem Anstößigen verschonen kann, als auch als Ausdruck der ethisch-ästhetischen Distinguiertheit des Sprechers zum Kaschieren von Vulgärem und Banalem dient. (6bb) Minderheitenschutz, soziale Aufwertung, Gleichstellung Schwächerer und Gleichbehandlung aller sind sozialpolitische Ziele, zu deren Erreichen Euphemismen aufgrund der allgemeinen Funktion von Sprache, das Bewusstsein zu beeinflussen und zu schärfen, einen Beitrag leisten können. Auch die Aufwertung des eigenen Prestiges ist hier eingeschlossen. (6c) Der bewusst herbeigeführte Verlust des Realitätsbezugs im «Euphemismus ohne Moral» deklassiert den Adressaten vom Gesprächspartner zu einem Objekt, das aus den angeführten Motiven getäuscht, irregeleitet oder manipuliert werden soll. Damit liegt ein bewusster Sprachmissbrauch vor, der zunächst der Gesichtswahrung des Sprechers oder seiner Institution dient, sich aber letzten Endes als kontraproduktiv erweisen kann, sobald der Adressat die tatsächlich hinter dem Euphemismus stehende Realität erfährt. 7. Ebene: Nicht zuletzt können den einzelnen abstrakten Kategorisierungshierarchien konkrete euphemistisch relevante Bereiche zugeordnet werden. (7a) Zu «Ethik und Religion» gehört alles, was im Glauben und 404

Aberglauben übernatürlichem Walten zugeschrieben wird, wie natürlich der religiöse und sakrale Bereich mit entsprechenden Flüchen im engeren Sinne, aber teilweise auch die Gebiete «Krankheiten» sowie «Sterben und Tod», deren Euphemisierung heute aber v.a. aus Rücksicht gegenüber den Kranken, Sterbenden oder Toten und ihren Angehörigen erfolgt und damit in «Ethik und Ästhetik» verankert ist, (7ba) wo insbesondere die Bereiche «Sexualität», «Weiblicher Lebenszyklus», «Körperteile» und «Skatologie» zu sehen sind, Gebiete, auf denen sich die sprachliche Tabuisierung seit der Frühen Neuzeit im Rahmen verstärkt akzentuierter Umgangsformen ausbreitet und in verinnerlichter Form bis heute in euphemistischen Ausdrucksweisen perpetuiert ist. (7bb) Dem Streben nach wechselseitiger Achtung und Selbstachtung dienen auch Euphemismen aus der Sozialpolitik und dem Sozialwesen und damit der indirekte lexikalische Ersatz für direkte Bezeichnungen von Rasse, Behinderung, Alter, sexueller Identität und den unterschiedlichsten Facetten eines eingeschränkten Sozialprestiges, wie es Arbeitslosigkeit oder die geringe Qualifikation eines Menschen mit sich bringen können. (7c) Zentrale Beispiele für die unter «Ethik ohne Moral» zu stellenden, von einem moralischen Standpunkt aus kritisch zu betrachtenden Euphemismen stammen vorwiegend aus den Bereichen des Sprachgebrauchs in der Politik, der Wirtschaft, dem Finanzwesen und vor allem der militärpolitisch opportunen Kriegsberichterstattung. 8. Ebene: Anfügen ließe sich noch eine achte Ebene mit dem Hinweis auf die jeweilige in den einzelnen Bereichen dominierende Bildungsweise von Euphemismen. (8a) Diese ließe auf den Metaphernreichtum bei Euphemismen aus dem Gebiet des Sterbens verweisen und gleichzeitig zeigen, dass die Bereiche der Religion und der Magie besonders viele formale Deformationen tabuisierter Namen und Bezeichnungen aufweisen, (8ba) die ansonsten im italienischen Korpus insbesondere auf dem Gebiet der Körperteile, im französischen im Bereich der Skatologie gehäuft auftreten. (8bb) Eine solche Ebene würde auch die Dominanz von Generalisierungen auf dem Gebiet des Liebes- und Sexuallebens sowie ferner im Bereich «Toilettengang und Toilette» illustrieren und (8bb) im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Minderheiten eine leichte Tendenz zur Neuperspektivierung durch Litotes oder Umschreibung aufzeigen, (8c) während auf dem Gebiet von Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und Kriegsbericht wiederum die Generalisierung überwiegt. Die so ermöglichte Gesamtschau des Phänomens «Euphemismus» ist mit ihrem zivilisations- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund Ausdruck des interdisziplinären Charakters sprachwissenschaftlicher Interpretation, die Sprache als Teil des Menschseins und als Spiegelbild einer Gesellschaft versteht und daher von der linguistischen Bearbeitung des Sprachmaterials ausgehende Beiträge zu soziokulturellen Fragestellungen sucht. Diese Vorgehensweise erlaubt es, den Euphemismus abschließend als einen selbst tabufreien indirekten Ausdruck zu definieren, der eine Bezeichnung vermei405

den lässt, deren denotative und/oder konnotative Perspektivierung auf der ursächlichen Basis eines mythisch-religiösen Sprachdenkens, wechselseitiger Achtung und Selbstachtung oder der gesellschaftlichen Inakzeptanz der Realität einer Tabuisierung unterliegt, und der diese durch Modifikation oder lexikalischen Ersatz der Bezeichnung umgeht und dabei den Realitätsbezug in der Regel wahrt, wenn es dem Sprecher aus Motiven wie Ehrfurcht, Furcht, Angst, Rücksicht, Anstand, Takt- und Schamgefühl angebracht erscheint, sich vor übernatürlichen Kräften oder sozialer Stigmatisierung zu schützen, andere zu schonen oder aufzuwerten, ihnen respektvoll gegenüber zu treten oder auch die eigene Distinguiertheit zu unterstreichen, und den Realitätsbezug auflöst, wenn aus Motiven wie Profit- und Profilierungsdenken, zur Durchsetzung der eigenen Interessen und unter Ausschluss des eigenen Gesichtsverlustes der Adressat manipuliert oder getäuscht werden soll.

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407

7. Bereiche

6. Funktionen

5. Motive

4. Ursachen

3. Verankerung

2. Sprecherintention

1. Generalia

bb

Sexualität, Weiblicher Lebenszyklus, Körperteile, Skatologie

Rasse, Behinderung, Alter, Sexuelle Identität, Geringes Sozialprestige

Minderheitenschutz Soziale Aufwertung anderer und Selbstaufwertung

Schonung anderer, Ausdruck eigener Distinguiertheit, Schutz vor sozialer Stigmatisierung

Schutz vor übernatürlichen Kräften

Glaube, Aberglaube, Magie Krankheiten und Tod

Rücksicht, Stärkung von Sozialprestige, Politische Korrektheit

Rücksicht, Takt- und Schamgefühl, Distinktionswille, Angst

Ehrfurcht und Furcht

Politik, Wirtschaft, Finanzwesen Kriegsführung

Gesichtswahrung Täuschung und Manipulation

Profit- und Profilierungsdenken

Gesellschaftliche Inakzeptanz der Realität

Streben nach wechselseitiger Achtung und Selbstachtung

Mythisch-religiöses Sprachdenken ba

Ethik ohne Moral

Ethik und Ästhetik Sozialpolitik

Ethik und Religion

c

Verlust des Realitätsbezuges b

Wahrung des Realitätsbezuges

Euphemismus

a

Organigramm: Das Phänomen Euphemismus

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Wortregister

Deutsch Aids 186 Allerwertester 72 Altersheim 377 ältestes Gewerbe der Welt 64, 249 Arbeitgeber 11, 282, 305 Arbeitnehmer 11, 282, 305 Arbeitslager 387 Arbeitssuchende 362 Asylbewerber 30 ausländische Mitbürger 298 Bacchus huldigen 58 Bär 160, 183 befrieden 82 Burnout 187 Director Human Resources 362 diskutabel 61 Doppelleben 58 dreizehn 8 Dritte-Welt-Laden 271, 365 ein Kind erwarten 76 Einhorn 305 Einkommenslose 362 Endlösung 384 Engelmacherin 50 entschlafen 48 Entsorgung 30 Entwicklungsland 82, 365 Eskimo 270, 281 Euthanasie 143, 373 ewige Ruhe 51 Fahrerlaubnis 11 Farbige 30 Fixe Granate Boland Stern Element noch mal! 181 Freiheit 307

Freitod 304 Frieden 307 friedensschaffende Maßnahme 30 geflügelte Jahresendfigur 11, 282, 305 Geschäft 365 Gevatter Tod 51 Götz von Berlichingen! 148 guter Hoffnung sein 76 Haarglanzmittel 31 Hairstylist 28, 31 Hals- und Beinbruch! 140 Hepatitis 30 Herkules noch mal! 43 indisponiert 75 Inuit 270 Jedem das Seine! 15 jemandem zu Willen sein 62 Jugendsünden 58 Kartoffelbrei 15 Kartoffelpüree 15 Kartoffelstampf 15 Kartoffelstock 15 Kernenergie 30 Key Account Manager 362 Kollateralschaden 82, 388, 389 Konzentrationslager 387 kritische Tage 75 Krusta 11 Lager 387 Lebedame 65 missbrauchen 64 MitbürgerInnensteig 320 Mohrenkopf 310 nicht berühmt 59 Nullwachstum 382 Operation Wüstensturm 387 Parkettkosmetikerin 371

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Pazifikation 30 Pfui Deixel! 37, 45 Polizeiaktion 387 Preisanpassung 30 preiswert 31 Purchasing Manager 362 Regel 75 rückführen 82 Ruhestätte 51 Scheibenhonig! 80, 127 Schokoladenkuss 11, 310 Schöntierchen 47 sechs 232 Seniorenresidenz 377 Sensenmann 51 sich französisch verabschieden 269 Sie wissen schon… 61 siebzehn 8 Spreerosette 11 stark 57 starker Mann 82 stattlich 57 Tage 75 Tarifkorrektur 30 Thermotherapeut 31 Tumor 30, 54 Unterschicht 375 verflixt! 37, 181, 183 Vergasung 15 Verwaltungsassistent 31 vier 8 vier Buchstaben 58 Vietnam-Konflikt 387 vollschlank 57 Weltladen 271, 365 wenn mir etwas passieren sollte 47 wenn mir etwas zustoßen sollte 47

Englisch ableism 278 African-American 286, 296, 333, 336 Afro-American 281, 336 aged person 352 ageism 278 alphabetism 278 anti-ismizationism 278

444

aurally challenged 278 aurally inconvenienced 278 aurally-orally challenged 342 aurally-orally inconvenienced 342 bear 160, 183 black 281, 286, 296, 333, 334 blend 146 bodily fluids 371 borealocentrism 278 bureaucratese 370 callgirl 64, 145 career alternative enhancement program 371 change 307 chemically inconvenienced 278 chronologically gifted 298, 352 client of the correctional system 376 collateral damage 82, 388, 389, 390 college 30 colo(u)red 296, 336 Columbus Day 314 cosmetically different 279 crafted 146 cripple 296, 297 deprived 374 detention facility 376 developmentally challenged 279 developmentally inconvenienced 279 differently abled 279, 374 differently advantaged 279, 374 differently interesting 279 differently pleasured 279 differently sized 279 disabled 296 Discoverer’s Day 314 Discovery Day 314 diseasism 278 elderly 296 elderly person 352 employee 361 enceinte 235 engineer 30 experientially enhanced 298, 352 exposed 371 first nations 270 French leave 269 friendly fire 389, 390 friendly grenade 389

frog 318 froggy 318 fuck 143 gay 92, 358, 360 gobbledygook 370 golden ager 352 handicapped 296 harden’d Water 300 hearing impaired 342 heightism 278 holocaust 385 horizontally challenged 279 hygienism 278 Indigenous People’s Day 314 inner city 374 International Day of Solidarity with Indigenous People 314 involuntary undomiciled 374 kraut 318 liberty 306 lingerie 235 lookism 278 mature American 352 mentally challenged 279 mentally inconvenienced 279 middle-aged person 352 morally different 279 motivationally different 279 Native American Day 314 negro 268, 296, 333, 334, 335 nigger 296, 333, 334, 359 nonsighted 340 old timer 352 old-age pensioner 296 older American 352 optically challenged 341 optically inconvenienced 279 orthographically challenged 279 other visioned 341 people with AIDS 371 physically challenged 296 pre-emptive counterattack 371 queer 359 rapid oxidation 371 rectocentrism 278 residentially challenged 374 restructuring 378 retired person 352

senior citizen 296, 352 sex care provider 376, 377 sexually active 371 sinistromanualism 278 situation normal, all fucked up 123 snafu 123 standard 146 substandard housing 374 successism 278 technologically challenged 279 temporally challenged 279 terminally inconvenienced 279 tomorrow 120 underhoused 374 university 30 unwaged 362 vertically challenged 277, 279 vertically inconvenienced 279 visually impaired 340 visually inconvenienced 341 vocally challenged 279 zounds! 125

Französisch à vue de nez 341 absent, -ente 51, 95, 180 abstinence 63, 67, 97, 103, 131 abstinent, -ente 63, 67, 97, 103, 131 abuser 64, 68, 97, 103, 131 achelem 374 acte d’amour 41, 62, 67, 97, 132 adorateur, -trice de Bacchus 58 affaires 75 âge critique 76, 88, 99, 132 âge d’or 353 âgé, -ée 56, 304, 352 aimer 62, 67, 97, 131 aller au ciel 48, 52, 102 aller au paradis 48, 52, 102 aller faire un voyage en Cornouailles 127 ami, -e 62, 67, 97, 131 amour 62, 67, 97, 131 amour physique 62, 67, 132 amour tarifé 64, 68, 97, 132 amuse-bouche 15, 74, 105, 145

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amuse-gueule 15, 74, 105, 145 aphasique 342 assistante 80, 83, 140, 146, 304, 364 assisté, -ée 374 attendre famille 75 attendre un enfant 75 attouchement 63, 68, 97, 131, 146 attributs 69 avoir une coquetterie dans l’œil 54 baladeuse 66 bas du dos 72 bas-ventre 69, 73, 98, 132, 255 batteuse 66 battre le trottoir 66 belette 47, 140, 160 bénéficiaire du système correctionnel 376 béotien, -ienne 269 bernique! 80 besoin pressant 77, 79, 87, 99, 105, 132 besoins 78, 79, 103 bête comme (un) chou 57 bigre! 58, 60, 91, 97, 125 bitch! 143 blaque 58 bleu 126 boche 318 bon sang! 43 bonne 364 boutique du monde 365 brillant, -ante 60 bruit incongru 79, 80, 111, 132, 263 c… 124 ça 62 cabinet d’aisance 76 cabinet de toilette 76 cabinets 76 câlin 62, 67, 131 callipyge 256 camarde 51 câpre, -esse 337 carcinome 185 cas 231 casser les bonbons à qqn 70 casser les burettes à qqn 70 casserole 71 ce qu’on appelle 149 ce que je pense 78, 79, 99, 149

446

céoène 123 cesser de souffrir 108 cesser de vivre 49, 51 chabin, -ine 337 champ de repos 51 chienlit 243 chomage 362 chose 62, 67, 86, 97, 130, 131 choses 75 chou 57 cinq lettres 78, 79, 99, 105, 148, 149 citoyen expérimenté (chronologiquement) 352 citoyen socialement sinistré 374, 375 client, -e du système correctionnel 376 clis 125 coccys 72 cocotte 64, 68, 102 commerce équitable et solidaire 365 comprendre 231 compromettre 231 con 231, 255 confesser 124, 231 confiture 231 connaissance 63 connerie 243 convaincu, -ue 231 convertir 231 coolie 337 corbleu! 44 costume d’Adam 254 coucher avec qqn 67, 102 Couille(s) du pape 255 coupé 122 couple de même sexe 359 courtisane 250 cré bateau! 42 cré boire! 42 cré nom de nom! 42, 46, 87, 95, 123, 128 cré nom! 42 crébleu! 42 crédié! 42 crédieu! 42 cul 231 cultivateur 364 dame de petite vertu 65 décéder 48, 52, 90, 96, 137

découverte 314 défavorisé, -ée 93, 374 dégâts collatéraux 82, 83, 132, 388, 390 delinquent, -ente 376 demandeur, -euse d’emploi 362 demoiselle de petite vertu 65 département du Bas-Rhin 33 dépouille (mortelle) 117 dernier asile 51 descendre au tombeau 49 detenu, -ue 376 déviant, -ante 55, 56, 102 diantre! 45, 46, 91, 102, 181 Dieu l’a rappelé à lui 49, 52, 96, 103, 139, 191 disciple de Bacchus 58 discutable 60, 97, 131, 211 disparaître 48, 52, 95, 102 disparition 49 disparu, -ue 51 dispenser 59 Domien, -enne 314 dommages collatéraux 82, 83, 132, 388, 390 dormir (de) son dernier sommeil 51 dormir du sommeil éternel 51 double vie 58, 60, 102 dur, dure d’oreille 54, 56, 102 économiquement faible 374 écu 231 éliminer 50, 53, 78, 79, 102, 131 embarras 81 emmener 49 emmieller 79, 80, 99, 105, 127, 141 emploi précaire 81, 83, 86, 132, 135 employée de maison 364 emporter 49 enceinte 75 endormir dans la paix du Seigneur 108 enfant de Bacchus 58 enfant de l’amour 63, 67, 102 enfant naturel 63 enguirlander 42, 74, 98, 105, 127, 141 enlever 49 enquiquinant, -ante 79, 80, 99, 145 enquiquiner 79, 80, 99, 105, 145 enquiquineur, -euse 79, 80, 99, 145 entrecuisse 69, 73, 98, 135, 136, 255

érémiste 93, 374 erreur de jeunesse 58, 60, 102 espace herbu des non-mouvants 320 estéeuse 123 esti! 45 estile! 45 estique! 45 estomac paresseux 79, 80, 103 été des premières nations 270 être bien brave 57 être dans la gêne 81 être en (voie de) famille 75 étreinte (amoureuse) 62, 67, 97, 130, 135, 136 événements 82, 83, 131, 135, 146, 282 exclu, -ue 93, 374 expédier qqn dans l’autre monde 50 face du grand Turc 33, 229 faible d’esprit 57 faire 78, 79, 130, 131 faire des bêtises 58 faire l’amour 62, 67, 103, 130, 131 faire la chose 62 faire la vie 64 faire opérer 55, 56, 131 faire ses besoins 78, 79, 99, 130, 131 faiseuse d’anges 50 fatigué, -ée 188 Faucheuse 51 faute de jeunesse 58, 60, 102 femme de mauvaise vie 65 femme du monde 65 fermer les yeux (pour toujours) 108 filer à l’anglaise 269 fille de vie 65, 68, 102 fille des rues 65, 68, 102, 250 fille perdue 66, 68, 102 fille publique 65, 68, 102, 250 fin 49 folie de jeunesse 58, 60, 102 fort, forte 57, 60, 97, 140 Français d’origine immigrée 313 Français de souche 313 fuck! 143 galant, -ante 65 galanterie 65 gauche 142 gay 63, 91, 358, 360

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gêner 81 génocide 386 gens économiquement désavantagés 375 habitations à bon marché 374 habitations à loyer modéré 123, 374 handicapé, -ée 53, 56, 86, 97, 103, 144, 340 handicapé, -ée auditif, -ve 53 handicapé, -ée visuel, -elle 53 hétaïre 66 heure 49 hiver 57 HLM 123, 374 holocaust 385 homme fort 82, 83, 103 homophile 63, 67, 94, 102, 360 homophilie 63 hostie toastée (de deux bords)! 45 hottentot, -ote 268 immunodéprimé, -é 186 inadapté,-e 188 incident 82 inculquer 231 indélicat, -ate 58 indélicatesse 58 indisposée 75, 76, 99, 131, 260 indisposition 75, 76, 99, 131, 260 individu en voie de réinsertion sociale 376 ingénieure domestique 364 innocent du village 57 intacte 75, 76, 99, 131, 261 interruption volontaire de grossesse 193 interruption volontaire de vieillesse 117 intestin atone 80 inverti, -e 63, 358 IVG 193 jarni! 122 jarnicoton! 169 jarnidieu! 169 je ne suis pas raciste, mais... 60, 111, 148, 337 juif, -ve 268 jurer 141, 174 juron 175 kebla 337 l’avoir dans l’os 74, 98, 104, 105, 136 l’on 129

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lavabos 77, 79, 99, 129, 130, 135, 136 lavement 221, 240 le dernier asile 51 les 131 les Anglais ont débarqués 260 les casser 70, 73, 98, 105, 131 les pompiers sont arrivés 260 lesbienne 269 liboire 125 liquider 50 lombard, -e 269 m...! 124 macaroni 318 magasin 365 maison 64, 68, 102 maison close 64, 68, 102 maison de passe 250 maison de rendez-vous 64, 68, 102, 250 maison de santé 41, 55, 56,102 maison de tolérance 64, 68, 102, 250 maison publique 65 mal de Naples 54, 184 mal français 54, 184 mal napolitain 54, 184 malade 55, 56, 86, 131, 189 malade mental 55 maladie honteuse 54, 56, 93, 97, 132 , 185 malaise 82, 83, 99, 140, 146 mal-entendant, -ante 342 malheur 49, 53, 96, 103, 131, 190 manche 72 manquer à l’appel 51 marchande d’amour 66, 68, 102, 250 marchande de plaisir 66 mauvaises habitudes 63, 68, 97, 132 mercredi! 79, 80, 105, 127, 180, 263 mesuré, -ée 61 métis, -isse 337 miel! 79, 80, 99, 105, 127, 141, 180, 263 mince! 79, 80, 99, 105, 127, 152, 180, 263 minus habens 57, 60, 102, 189 miroirs de l’âme 227 modéré, -ée 61 modérément 61 mœurs spéciales 63, 67, 86, 93, 97, 132, 360

moins que brillant, -ante 60 mondaine 65 morbleu! 44, 46, 91, 95, 126, 176, 181 mordieu! 44 mot de Cambronne 78, 79, 99, 105, 148, 149, 176, 180, 263, 264, 395 mulâtre, -esse 337 n’en avoir plus pour longtemps 49 n’être plus de la première jeunesse 56, 60, 147, 304, 353 n’être plus (là) 51 ne pas être bien gras, grasse 57 ne pas être fort, forte 57 ne pas être très fûté, -ée 57 ne pas être mécontent, -ente 60 ne pas être un aigle 57 ne pas être une Vénus 60, 102 ne pas haïr 61, 67, 97, 147 ne rien avoir dans le chou 57 nécessités 77, 79, 103 nègre 310, 334 nettoyage ethnique 386 nettoyer au Kärcher 244 noirier 320 noirillon 320 noiritude 320 noiroïde 320 nom! 42, 46, 95, 122, 176 nom d’un chien! 43, 46, 95, 128, 176 nom d’un petit bonhomme! 43, 46, 95, 128, 176 nom d’une pipe! 43, 46, 95, 128, 176 nom de ça! 43 nom de deux! 43 non favorisé, -ée d’intelligence 189 non-entendant, -ante 342 non-non-voyants 341 non-parlant, -ante 342 non-voyant, -ante 41, 54, 56, 92, 97, 148, 341 normalisation 82 nouveau-pauvre 374 obligé, -ée 81, 83, 99 œniculteur 364 opération tempête du désert 387 ospite! 45 ostin! 45

ostination! 45 où je pense 72, 74, 78, 98, 149 pacifier 82, 83, 99, 141, 282 palsambleu! 43, 44, 46, 91, 96, 127, 174, 176, 181 parbleu! 44, 46, 91, 95, 126, 176 pardi! 44, 46, 96, 123 parties honteuses 54 parties intimes 69 partir 48, 52, 102 pas exactement 59, 60, 148, 211 pas fameux 59, 60, 97, 147, 211 pas précisément 59, 60, 147, 211 pas vraiment 59, 60, 97, 147, 211 passer 48, 52, 96, 137, 191 payer tribut à la nature 49, 52, 102 pays émergent 305 pays en voie de développement 82, 83, 94, 103, 305, 365 pays les moins-avancés 365 pays sous-développé 305, 365 péché de jeunesse 58, 60, 102 péripatéticienne 66 personne à mobilité réduite 93, 340 personne acoustiquement contrariée 342 personne âgée 56, 60, 86, 103, 132, 304, 352, 353 personne atteinte de déficience auditive 342 personne ayant un fonctionnement mental différent 189 personne ayant une déficience intellectuelle 189 personne ayant une limitation fonctionnelle 340 personne confrontée à un challenge physique 340 personne confrontée à un défi économique 375 personne confrontée à un défi oculaire 341 personne d’expérience 352 personne de couleur 336 personne différemment apte 340 personne différemment douée 189 personne dotée d’une audition alternative 342

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personne dotée de capacités différentes 340 personne exceptionnelle 340 personne handicapée auditive 342 personne handicapée des sens 342 personne handicapée visuelle 341 personne malade du sida 186 personne mentalement défiée 189 personne pécuniairement contrariée 375 personne physiquement défiée 340 personne souffrant d’inaptitude auditive 342 personne souffrant d’une déficience intellectuelle 189 personne souffrant de déficience auditive 342 personne visuellement contrariée 341 personne vivant avec le sida 186 personne vivant avec le VIH 186 personnes chronologiquement bien dotées 352 petit ami, petite amie 63, 67, 93, 97, 133 petit boulot 81 petit coin 76, 79, 99, 135, 136, 263 petit copain, petite copine 63, 67, 93, 133 petit endroit 76, 79, 99, 133, 263 petit non-blanc 320 plus vieux métier du monde 64, 68, 102, 249 plutôt 59, 60, 97, 105, 148, 211 P.M.A. 365 poils superflus 74, 132 point de vue 341 porter un enfant 76, 102 position intéressante 75, 76, 99, 132, 261 postérieur 72, 74, 102 précaire 381 premières nations 270 prendre ses précautions 77, 79, 88, 99, 105, 130, 131 prêtresse de Vénus 66, 68, 102 prier 59, 60, 97, 150 protecteur 66, 68, 97, 105, 140 , 146 Prussien 33 P.V.D. 365 quartier sensible 306, 375

450

quatrième âge 60, 88, 97, 132, 352, 353 que vous savez 60, 61, 97, 148, 149, 211 queer 359 quelque chose 131 quelque part 72, 74, 76, 79, 99, 105, 131 quitter la lumière 48 quitter la terre 48 quitter la vie 48 quitter ce monde 48, 52, 96, 137, 191 racaille 244 rapports (sexuels) 62, 67, 102 reconduire 82, 83, 131, 146, 390 règles 75 regrettable 60, 61, 131, 211 relations intimes 62, 67, 102 remède 221 rencontre des peuples 314 rendre l’âme 48, 52, 102 rendre l’esprit 48, 52, 102 renoi 337 repli 58, 60, 97, 137 repos 51, 53, 102 repos éternel 51, 53, 102 reposer en paix 41, 51, 53, 102 restructuration 81, 83, 118, 131, 135, 146 retour d’âge 76, 88, 138 rêver 120 ridicule 124, 231 rien à secouer 58, 60, 97, 105, 140 s’en aller 48 s’endormir dans la paix du Seigneur 48 s’endormir dans le Seigneur 48, 52, 102 s’endormir de son dernier sommeil 48 s’enficher 58 s’éteindre 49, 52, 96, 103, 138, 192 s’il m’arrive quelque chose 47, 52, 130, 131, 190 s’oublier 78, 79, 99, 131 sacrebleu! 44, 46, 91, 95, 126, 176 sacrer 171 salament 125 saletés 78, 79, 99, 131 sans-papiers 317 saperlipopette! 44, 46, 91, 96, 105, 126, 176, 181 saperlotte! 43 sarcome 185 satisfaire à un besoin naturel 78

satisfaire un besoin 78 scrogneugneu! 44, 46, 87, 96, 127, 176 se débarrasser de qqn 50, 53, 137, 193 se détruire 117 se les geler 73, 105, 131 se retenir 78, 79, 99, 131 sein 72, 74, 76, 102, 103, 229 senior 344, 352 sensible 375 sentir les contrecoups de l’amour permis 231 shit! 143 shoah 385 sida 186 sidaïque 186 sidatique 186 sidéen 186 sodomite 269 soi-disant 149 solution finale 385 sommeil éternel 51, 95 soucis matériels 81 sous-entendant, -ante 342 sti! 45 sui generis 57, 60, 97, 103, 144 suppôt de Bacchus 58 sybarite 269 tâche, tâchez 59, 60, 97, 150 tacite 342 technicien de surface 364 technicien du ravitaillement en combustible 364 téléguerre 388 terminer la vie 49 tête de nègre 310 Tétons de la Reine Margot 255 tiers-monde 364 tir ami 389 titi! 45 toilette intime 69 toilettes 77, 79, 99, 103, 129, 135, 136 travailleur précaire 81 trépas 48, 52, 90, 102 trépasser 48, 52, 90, 102 triple nom! 43 troisième âge 56, 60, 88, 97, 103, 132, 304, 353 troubler le repos des morts 51

tudieu! 44, 46, 96, 123 tumeur maligne 54, 185 une p... 124 urbicide 386 vent 79, 80, 103, 263 ventrebleu! 44, 46, 91, 95, 126, 174, 176, 181 ventre-saint-gris! 43, 46, 91, 95, 128, 169 vertubleu! 44, 46, 87, 91, 96, 126, 181 vertuchou 44 vespasiennes 263 vif, vive 60, 97, 140 vilaine maladie 54, 56, 97, 132, 185 violenter 64, 68, 97, 103, 131 visage 229 viticulteur 364 vous voyez 341 Waterloo 33 WC, W.-C. 123, 143 zizi 32 zone sensible 306 zut! 79, 80, 99, 105, 126

Griechisch αἰθίoψ 325 βάρβαρος 318 γέφυρις 250 δῆμος 250 ἑταίρα 249 εὐμενίδες 140 εὐφημεῖν 20, 160 ἦθος 368, 395 καλλίπυγοϛ 256 koιμητήkιoν 296 κοινή 250 λóγος 158 πόρνη 250 σποδησιλαύρα 250

Italienisch abusare 68, 103 accidempoli! 45, 46, 91, 96, 126, 182 acciderba! 45, 46, 91, 96, 126, 182 accipicchia! 45, 46, 96, 126

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addormentarsi nel (bacio del) Signore 48, 52, 96, 102, 136, 191 affettuosa amicizia 61s., 67, 132 afroamericano, -a 299, 338 aggregazione 307 aids 186 alleanza 307 allegro, -a 81, 83, 140, 146 allineamento monetario 382 allineamento selettivo delle monete 382 altro paese 45 amico, -a 62, 67, 97, 131, 146, 152 ammappalo! 50, 53, 125 ammappete! 50, 53, 125 amplesso (coniugale) 62, 67, 97, 130, 135, 136 andare a Carpi 127 andare a Cornazzaro 127 andare a Corneto 127 andare a Cornovaglia 127 andare a farsi frate 45, 46, 96, 137 andare a lavarsi le mani 76 andare a letto con qlcu. 62, 67, 97, 135, 136 andare a Patrasso 48, 50, 52, 96, 137, 191 andare di corpo 78, 79, 99, 137, 138 andare in bagno 76 andare sottoterra 49, 50, 52, 96, 137, 192, 341 andare tra di più 48 andarsene 48 anziano, -a 56, 60, 103, 352, 353 assente 51, 53, 97, 137, 180 assestamento dei prezzi 382 astinente 63, 67, 103 astinenza 63, 67, 103 atto d’amore 41 attributi 69, 73, 131 audioleso, -a 94, 342 aumenti 382 Auschwitz 386 averne piene le scatole 69, 73, 98, 139 baluba 268, 318 bassoventre 69, 73, 98, 132, 255 bastardello, -a 129 ben messo, -a 57 bene immortale 48, 52, 140, 191

452

beota 269 bidello 363, 364 bisogni 79, 99, 103, 129, 131 bisogno urgente 77, 79, 132 bottega del mondo 365 bruttino, -a 129 brutto male 54, 56, 97, 132, 185 buona donna 65 buscherare 63, 68, 97, 125, 269 buscherone 269 c...! 124 Ca 185 cacchiata 71, 73, 98, 104, 105, 127, 139 cacchio(!) 70, 73, 98, 127, 139, 255 callipigio, -a 256 capperi! 71, 73, 98, 105, 127, 139, 180, 255 cappero 71, 73, 105, 127, 139, 255 caramba! 71, 73, 127, 144, 255 casa chiusa 64, 68, 97, 102, 132 casa di appuntamenti 64, 68, 97, 102, 132, 250 casa di piacere 64 casa di salute 41, 55, 56, 102, 141, 189 casa di tolleranza 64, 68, 97, 102, 132, 250 casa equivoca 64, 68, 97, 132 casa pubblica 65 casa squillo 64, 68, 97, 132, 139 caspita! 71, 73, 91, 98, 126, 180, 255 cavolata 71, 73, 98, 127, 139 cavolo!57, 71,73, 98, 104, 105, 127, 139, 180, 255 cazzarola! 71, 73, 98, 104, 127, 144, 145 cazzeruola! 71 cazzica! 70, 73, 98, 104, 126, 180, 255 cazzini 255 centro storico 374 ce-o-co 123 cieli 129 cinque lettere 78, 148 cliente del sistema penitenziario 376 coalizione 307 cochon 144 cocotte 64, 68, 102, 144 cocottesco 64 cocottina 64 cocuzze! 71, 73, 127, 139

collaboratore scolastico 363 collaboratrice domestica 363 collaboratrice familiare 363 colf 94, 363 colpa di gioventù 58 coltivatore diretto 363 comare 51, 53, 54, 56, 89, 97, 104, 138, 152, 185 commercially correct 323 commercio equo e solidale 365 comodità 78, 79, 99, 131 contadino 363 corbelli! 70, 73, 98, 127, 139, 255 cordoni 69, 73, 98, 104, 127, 139, 255 Cornelio 127 corno 71, 73, 98, 104, 105, 127, 139, 255 corpo di bacco! 43, 46, 87, 95, 104, 128, 174, 176 cortegiana 65, 250 cose 75, 76, 105, 130, 131, 260 cose che non voglio dire 148 cosiddetti 70, 73, 127, 149, 152 cosiddetto, -a 149 costume di Adamo 254 crepi il lupo! 276, 277 cribbio! 44, 46, 91, 96, 126, 176 crucco, -a 318 culetto 129 danneggiato, -a con difficoltà d’udito 342 danneggiato, -a nell’udito 342 danneggiato, -a visualmente 340 danno collaterale 82, 388, 390 dazione 81, 83, 131, 135, 383 decedere 48 decesso 48 del Rubens 127 delinquente 376 deprivato, -a 374 detenuto, -a 376 deviante 55, 56, 102, 137, 138, 189 devoto, -a di Bacco 58 diacine! 45, 46, 91, 92, 96, 102, 126, 176 diamine! 45, 46, 92, 93, 96, 102, 125, 126, 176 diancine! 45, 46, 92, 93, 96, 102, 126 diantine! 45

diascolo 45, 46, 96, 102, 104, 126, 176 diascone! 45 diavoletto, -a 129 dimestichezza 62, 67, 97, 131 Dio l’ha chiamato a sé 49, 52, 103 Dio l’ha chiamato alla sua gloria 49 dipartenza 49, 53, 96, 137 dipartimento 49, 53, 96, 137 dipartire 48, 52, 96, 102, 137, 191 dipartita 49, 53, 96, 137 disabile 296, 297, 339 discutibile 61 disgrazia 49, 53, 103 disoccupazione 362 diversabile 54, 56, 126 diversamente abile 54, 56, 126, 148, 296, 297, 339, 340 diverso, -a 63, 67, 131, 360 domestichezza 62 donna allegra 65, 68, 132 donna da marciapiede 66 donna da prezzo 65, 66, 68, 98, 132, 138 donna da trivio 65, 68, 76, 97, 132 donna di facili costumi 250 donna di malaffare 65, 66, 68, 87, 98, 132, 138 donna di mondo 65 donna di partito 65 donna di piacere 66 donna di strada 65, 68, 97, 102, 132, 250 donna di vita 65, 68, 87, 102, 132 donna galante 65, 68, 98, 132, 146, 250 donna perduta 65, 66, 68, 87, 98, 102, 132 donna pubblica 65, 68, 98, 102, 132, 250 donnina 66, 68, 98, 133 donnina allegra 65, 66, 68, 98, 132, 250, 358 donnola 46, 47, 96, 133, 140, 141, 160, 183 doppia vita 58, 60, 90, 97, 102, 132 dormire il sonno eterno 51 dormire insieme 62, 67, 97, 102, 136 dotato, -a da un punto di vista cronologica 352 duro, -a d’orecchio 54, 56, 97, 102, 140, 342

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è arrivato il marchese 260 è mancato alla gioia dei suoi cari 47 ebreo -a 268 ecologicamente correct 323 ecologicamente corretto -a 323 effe 124 effetto collaterale 82 effetti di Bacco 58 eliminare 50, 53, 96, 102, 117, 137, 193 environmentally correct 322 errore di gioventù 58 esperienza 62, 67, 131 essere in attesa 75, 76, 130, 131 essere in dolce attesa 75, 76, 132, 261 essere sottoterra 51, 53, 96, 137 esubero 378 etera 65, 68, 98, 144, 145 eterno riposo 51, 53, 96, 102, 136, 192 etnicamente corretto, -a 322 eutanasia 143 extracomunitario, -a 298, 317 fabbrica degli angeli 50, 53, 139, 193 far girare le scatole a qlcu. 69, 73, 87, 98, 139 fare i propri bisogni 78, 79, 99, 130, 132 fare il mestiere 64, 68, 130, 131, 138, 250 fare l’amore con qlcu. 62, 67, 103 fare la vita 64, 68, 97, 130, 131, 250 fare trapasso 48, 52, 89, 102, 137 farlo 131 femmina di mondo 65, 211, 250 femmina di nome perduto 66 fessura 72, 73, 98, 139, 255 fidanzato, -a 63 figlio dell’amore 63, 67, 102, 132 figlio naturale 63 finire di tribolare 49, 52, 96, 105, 138, 191 fondoschiena 72, 74, 98, 104, 132, 256 fornitrice di servizi sessuali 376 frescaccia 72, 73, 98, 104, 105, 125 frescone 72, 73, 98, 104, 105, 125 frutto del suo seno 72 fuoco amico 94, 389, 390 gay 63, 289, 358, 360 genocidio 386

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giardino 77, 79, 99, 135, 136, 263 giorni critici 75, 76, 132 giramento di scatole 69, 73, 87, 05, 139 giurabbacco! 43, 46, 87, 95, 128 giuraddia! 43 giuraddiana! 43, 181 giuraddina! 43, 181 giuraddinci! 43, 181 handicappato, -a 54, 56, 103, 285, 296, 297, 339 heretically correct 323 immigrato, -a 317 impedito, -a nell’ascolto e nella parola 342 impianto termico 133 in bocca al lupo! 140, 277 inabile 339 incacchiarsi 42, 71, 73, 127, 139 incavolarsi 71, 73, 98, 105, 127, 139 incavolatura 71, 73, 98, 105, 127, 139 incinta 75 indisposizione 75, 260 indisposta 260 infausto, -a 55, 56, 97, 131 infermiere 363 inferno 45 infischiarsi 58, 60, 145 innocenza intatta 75 intellettualmente corretto, -a 323 intestino pigro 79, 80, 103, 136 intimo colloquio 62, 67, 97, 132 invalido, -a 296, 339 invertito, -a 358 invitare 150 involontariamente privo, -a di domicilio 374 ipocinetico, -a 296, 339 K 185 kaiser 71, 73, 98, 104, 105, 127, 145, 255 la 131 lavabo 77 lavoratore precario 81 lavoretto 81, 83, 133, 135, 147 leccargliela 131 lei 131 lesbica 269 lesioni ripetitive 185

lesioni secondarie 185 levarsi dalle scatole 73, 98, 139 libare a Bacco 58 libertà 306, 307 licet 77, 79, 99, 144 lievitazione 382 lingue meno diffuse 280 lingue meno usate 280 lo 131 locali dello scantinato 133 lontano, -a 45, 46, 96, 137, 138 lucciola 64, 68, 105, 139, 250 lui 131 madonnetta 129 madosca! 44, 46, 96, 126, 176 maison 64, 68, 102, 144 maîtresse 66, 68, 144 mal brutto 54 malato, -a di mente 55 male brutto 54 male dei Franchi 54, 184 male di Napoli 54 male di San Giobbe 54 male francese, malfrancese 54, 184 male spagnolo 54, 184 male universale 54 malorcia 82, 83, 99, 126 mancare 47, 49, 52, 96, 137, 192 mandare a Patrasso 50, 53, 96, 117, 137, 193 mandare sottoterra 50, 53, 96, 117, 137, 193 manico 72, 73, 139, 255 manodopera disponibile 378 manovra 382 menarselo 131 mercoledì! 80 meretrice 66 messere 72, 74, 98, 138, 256 minchiette 255 minus habens 57, 60, 97, 102, 144, 189 mizzica! 72, 73, 105, 126 mondana 65, 68, 98, 140, 146, 250 mondo immortale 48, 52, 140, 191 monnezzaro 363 moralmente corretto, -a 324 motuleso, -a 94, 340 movimento 307

mutandine 129 nave scuola 33 necessario 77, 79, 89, 99, 131 necessità 79, 99, 103, 131 necessità impellente 77, 79, 132 negozio 365 negro, -a 311, 334 nero, -a 299, 329, 334, 335, 338 netturbino 363 non deambulante 340 non è più tra noi 47 non esattamente 59 non essere più giovanissimo, -a 56 non essere più nella fiore della giovinezza 56 non essere una Venere 57, 60, 102, 147, 148 non precisamente 59 non proprio 59 non sentirsi bene 260 non stare bene 260 non udente 54, 56, 97, 147, 148, 320, 342 non vedente 41, 54, 56, 92, 97, 147, 148, 340, 341, 342 nuovo, -a 307 obbligato, -a 150 olocausto 385 omofilia 63, 67, 97, 145, 360 omofilo, -a 63, 67, 97, 102, 145, 360 omosessuale 358, 359 operatore carcerario 80, 83, 118, 132, 146, 364 operatore ecologico 94, 363 operatore sanitario 363 operazione tempesta nel deserto 387 osteria! 44, 176 ostrega! 44, 46, 96, 105, 127, 139 ottentotto, -a 268, 318 over 65 353 pacificare 82 paese emergente 305 paese in via di sviluppo 81, 83, 99, 103, 140, 305, 365 paese sottosviluppato 305, 365 paesi bassi 69 pagare il proprio tributo alla natura 49, 52, 96, 102, 139, 192

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paramedico 363 parti 69 parti basse 69, 73, 87, 98, 132, 255, 256 parti di sotto 69 parti disoneste 69 parti genitali 69 parti nascoste 69 parti pudibonde 69 parti utili 69 parti vergognose 54, 69 partito 307 partitocrazia 307 passamento 48, 52, 53, 96, 137 passare a Dio 48 passare a miglior vita 48, 52, 87, 96, 137, 191 passare al Signore 48 passare all’altra vita 48 passare all’altro mondo 48 passare di questa vita 48 passare di questo mondo 48 passare nel numero dei più 48, 52, 96, 137, 191, 192 passeggiatrice 65, 68, 93, 98, 140 passo doloroso 49, 53, 96, 137, 190 patto rete 307 pazzerello, -a 129 per bacco baccone! 43 per bacco! 43, 46, 95, 128, 176 per bacconaccio! 43 per baccone! 43 per Cristaccio! 129 per dindiriddio! 43 per dindirindina! 43, 46, 95, 128 per dirindina! 43, 46, 96, 128 per dirindindina! 43, 46, 128, 176, 182 per zio! 43, 46, 95, 126, 176 perdiana! 43, 46, 95, 127, 128, 176, 181 perdina! 43, 46, 95, 105, 127, 128, 176, 182 perdinci! 43, 46, 91, 95, 127, 176 perduta 66 peripatetica 66, 93, 250 persona anziana 352 persona avvantaggiata in altri modi 374 persona con deficit uditivo 342 persona con disturbi della vista 341 persona di colore 299, 334, 336, 338

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persona in cerca di lavoro 362 persone con abilità diverse 340 persone dotate di differenti capacità 340 persone fisicamente diverse 340 piano di alleggerimento 378 pisellino 32 piuttosto 59 pizzicore 62, 67, 97, 131 poffarbacco! 43, 46, 95, 128, 176, 181 poffardio! 42, 43, 181 poffare il zio! 42 poffare! 42, 46, 95, 122 poffareddina! 43 poffario! 43 poffarmio! 43 polentone 318 politically uncorrect 324 polo 307 portantino 363 portare un figlio in seno 72, 75, 76, 99, 103, 136, 261 portarsi a letto qlcu. 62, 67, 97, 135, 136 portatore, -trice di handicap 94, 296, 297, 339, 340 portoghese 269 posteriore 72, 74, 102, 131, 256 potenziato, -a dall’esperienza 352 precario, -a 381 pregare 59, 150 professione più antica del mondo 64, 68, 102, 132, 146, 249 professionista del sesso 66, 68, 98, 104, 132 protettore 66, 68, 98, 140, 146 pulizia etnica 386 quantitativo di prodotti vinicoli 133 quarto mondo 365 quattro lettere 148 queer 359 quel certo posto 77, 79, 131 quel paese 45, 46, 96, 131 quel posto 77, 79, 99, 131, 263 quell’altro paese 45 ragazza 65 ragazza allegra 65, 68, 98, 132 ragazza da marciapiede 65, 66 ragazza di nome perduto 66

ragazza di vita 65, 66, 68, 87, 89, 98, 102, 132 ragazza squillo 64, 139, 145 ragazzo di vita 66, 67, 68, 87, 89, 90, 98, 132 rapporti intimi 62, 67, 97, 102, 132 regole 75 rendere l’anima a Dio 48, 52, 87, 96, 102, 138, 191 rendere lo spirito a Dio 48, 52, 96, 102, 138, 191 ricondurre 390 riflessivo, -a 81, 83, 136, 146 riposare in pace 41, 50, 53, 96, 102, 136, 192 riposo 51, 53, 97, 102, 136 ristrutturazione 81 ritocco 81, 83, 99, 131, 135, 382 robusto, -a 57, 60, 97, 140, 146 rompere gli zebedei a qlcu. 70 rompere i corbelli a qlcu. 70, 73, 98, 127, 139 rompere i cordoni a qlcu. 69, 73, 98, 127, 139 rompere le scatole a qlcu. 69, 73, 89, 93, 98, 105, 139 rompere le tasche a qlcu. 69, 73, 93, 139 rompiscatole 69, 73, 98, 139 rompitasche 69, 73, 98, 105, 139 rovesciare 55, 56, 97, 137, 138 sacerdotessa d’amore 66 sacerdotessa di Venere 66, 68, 98, 102, 138 sacrificare a Bacco 58, 60, 97, 117, 138 sacrificare a Venere 58, 62, 67, 97, 138 salire al cielo 48, 52, 96, 102, 137, 191 salire in paradiso 48, 52, 96, 102, 137, 191 sans papiers 317 sbaglio di gioventù 58, 60, 102, 132 sbarazzarsi di qlcu. 50 scatole 69, 73, 98, 139 sciuscià 317 scomparire 48, 51, 52, 96, 102, 137, 191 scomparsa 49, 51, 53, 96, 137 scomparso, -a 51, 53, 97, 137 scopino 363

scorbellato, -a 70, 73, 98, 104, 127, 139 se dovesse capitarmi qlco. 47, 190 se volete scusarmi 76 secondino 364 sederino 129 seniore 353 seno 72, 74, 76, 98, 102, 103, 129, 136 servizio 78, 79, 99, 139 sessualmente corretto, -a 322 shadow toll 383 shoah 385 sibarita 269 signora delle pulizie 363 sodomita 269 sollevare 81, 83, 137, 138 soluzione finale 385 spandere 78, 79, 99, 105, 131 sparire 48 sparire dalla (faccia della) terra 48, 52, 137, 191 spazzino 363 spegnersi 49, 52, 103 spoglie mortali 117 stangata 382 stanzino 77, 79, 99, 133, 263 stato interessante 75, 76, 99, 132, 261 sterminio 386 strada 122 straniero, -a 298 struttura per la detenzione 376 sui generis 57, 60, 103 supercorretto, -a 324 svalutazione 382 svantaggiato, -a da un punto di vista residenziale 374 svantaggiato, -a nell’ascolto 342 svantaggiato, -a nella parola 342 tasche 69, 73, 139 teleguerra 388 terminare di soffrire 49, 52, 96, 138, 191 terminare la vita 49, 52, 96, 138 terrone 318 terza età 57, 60, 103, 353 terzo mondo 364 testa di cavolo 57, 60, 97, 139 testa di rapa 57, 60, 139 toccarsi 63, 68, 97, 131, 146

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togliersi dalle scatole 73, 98, 139 toilette 77, 79, 103 tombeur de femmes 144 torso di cavolo 57, 60, 97, 139 transire 48, 52, 90, 96, 137, 191 trapasso 48, 52, 89, 96, 102, 137 tubo 72, 73, 98, 104, 105, 139, 255 tumore (maligno) 54, 185 una di quelle 64, 68, 105, 131, 250 una p... 124 uomo d’onore 82, 83, 99, 118, 141 uomo di colore 336 uomo di rispetto 82, 83, 87, 118, 141 uomo forte 82, 83, 87, 103, 132 urbicidio 386 urca! 58, 60, 97, 123 uscire dal mondo 48, 52, 96, 137, 191 uscire dalla vita 48, 52, 96, 137, 192 vaffa! 74, 98, 105, 122, 256 variazione dei prezzi 382 vecchietta 129 venditrice d’amore 66, 68, 102, 139, 250 Venere 66 venere da marciapiede 66 venere pandemia 66 venere vagante 66 vento 79, 80, 99, 103, 131 violentare 64, 68, 103 vivaddio! 44, 46, 96, 141 vivo, -a 57 voglia 62, 67, 97, 131 volare alla gloria dei beati 48, 52, 96, 137, 191 volare in paradiso 48, 52, 96, 137, 191 volare in/al cielo 48, 52, 96, 137, 191 vucumprà 317 zebedei 70, 73, 98, 105, 138 zio 126 zulù 269, 318

Latein abire ad plures 48 Aethiops 325 benedicere 141 captivus 376

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conversatio 212 cum nobis 128, 231 cunnus 128, 231 decedere 192 delinquere 376 detinere 376 dies mali 8 ignotum 142 incingere 75 incincta 75 ire ad patres 48 lupa 250 membrum 253 mens sana in corpore sano 15, 339 meretrix 250 minus habens 57, 189 mos 368 mustela 160 niger 325 nobiscum 128, 231 prostituta 250 publica 250 requiescat in pace 51, 192 RIP 51 sinister 142 supplicium 91 suum cuique 15 ventum 263 via strata 122

Spanisch accidente 47 ¡ajo! 123 asistente administrativa 80 bicha 160 cabrito, -a 129 ¡caramba! 71 ¡caray! 71 casa de salud 55 comadreja 47, 160 cortesana 65 dama de buena voluntad 65 ¡demonche! 45 daño colateral 82 DEP 51 descanse en paz 51

descanso eterno 51 despedirse a la francesa 269 Día de la Diversidad Cultural Americana 314 Día de la Raza 314 Día de la Resistencia Indígena 314 Día de las Américas 314 Día del Descubrimiento 314 ¡diantre! 45 eliminar 50, 78 eme 124 estado interesante 75 Fiesta de la Hispanidad 314 grencho, -a 33 hacer el amor 62 hijo natural 63 indisposición 75 indispuesta 75 invertido, -a 63 irse 48 izquierdo, -a 142 lavabo 77 ¡mi hermana! 80 ¡miércoles! 80

morrito 129 mujer de la vida 65 mujer galante 65 mujer mundana 65 mujer perdida 66 mujer pública 65 no es exacto 147 operario 81 operador 80 ¡ostras! 44 pacificar 82 ¡pardiez! 44 pasar a mejor vida 48 perjuicio colateral 82 poco digno 147 poco honrado 147 regla 75 relaciones (íntimas) 62 siniestro, -a 142 tabernacos 171 tercera edad 57 uta 123 valija 33 volar al cielo 48

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